Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus: Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. 9783525369968, 9783647369969, 3525369964

Völkisch-religiöse Gruppierungen hofften, dass die 1933 freudig begrüßte Machtübernahme der Nationalsozialisten auch ein

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Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus: Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte.
 9783525369968, 9783647369969, 3525369964

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 47

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Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte Herausgegeben von Uwe Puschner und Clemens Vollnhals

2. Auflage

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36996-8 ISBN 978-3-647-36996-9 (E-Book) Umschlagabbildung: Fassadendetail am Haus Atlantis in Bremen Abbildung in: Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstrasse in Bremen, Bremen 1932, S. 107 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369968 — ISBN E-Book: 9783647369969

Vorwort Der Sammelband geht im Kern auf einen Workshop zurück, den das HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden vom 26. bis 28. November 2009 in Dresden veranstaltet hat. Um das zerklüftete Themenfeld der völkisch-religiösen Bewegung im Nationalsozialismus abzurunden, wurden zudem weitere Beiträge eingeworben. Die Herausgeber sind allen Autorinnen und Autoren für ihre bereitwillige Mitwirkung und die gute Zusammenarbeit herzlich zu Dank verpflichtet. Dank gebührt ferner Steffen Seidenkranz und vor allem Michael Thoß, die die Manuskripte Korrektur gelesen und bei der Anfertigung der Register mitgeholfen haben, sowie Stefan Noack für seine Unterstützung bei Recherchen und den Abbildungen. Dem bewährten Publikationsteam des HAIT, Christine Lehmann und Walter Heidenreich, gilt schließlich unser Dank für die Erstellung des druckreifen Manuskripts.

Dresden / Berlin im November 2011

Clemens Vollnhals Uwe Puschner

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Inhalt

I.

II.

Zur Abbildung auf dem Umschlag

11

Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Forschungs- und problemgeschichtliche Perspektiven Uwe Puschner / Clemens Vollnhals

13

Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion des Nationalsozialismus: Kontinuität oder neue Qualität? Klaus Vondung

29

Völkisch-pagane Gemeinschaften

43

„Wir lieben Balder, den Lichten ...“. Völkisch-religiöse Jugendbünde vom Wilhelminischen Reich zum „Dritten Reich“ Winfried Mogge

45

Die Deutsche Glaubensbewegung als ideologisches Zentrum der völkisch-religiösen Bewegung Horst Junginger

65

Vom „Deutschen Glauben“ der Sammlungsbewegung zur „Arischen Weltanschauung“ Ulrich Nanko

103

Die Ludendorff-Bewegung im Nationalsozialismus – Annäherung und Abgrenzungsversuche Bettina Amm

127

Völkisch-religiöse Einigungsversuche während des Zweiten Weltkrieges Christoph Knüppel

149

Völkisches Christentum

193

Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945 Martin Leutzsch

195

Völkisch-religiöse Strömungen im Deutschbund Gregor Hufenreuter

219

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8

III.

Inhalt

Diskurse, Bewegungen, Praxis: Völkisches Denken und Handeln bei den „Deutschen Christen“ Manfred Gailus

233

Rassismus und Christentum. Das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben Susannah Heschel

249

Germanentum als Überideologie. Deutsch-schwedischer Theologenaustausch unter dem Hakenkreuz Anders Gerdmar

265

„Spiegelbild des neuen organischen, erdnahen und blutvollen Lebensgefühls“. Die völkisch-religiösen Strömungen aus Sicht der Apologetischen Centrale Matthias Pöhlmann

285

Katholizismus und völkische Religion 1933–1945 Lucia Scherzberg

299

Der Nationalsozialismus und die völkisch-religiöse Bewegung

335

„Der Nationalsozialismus steht über allen Bekenntnissen“. Alfred Rosenberg und die völkisch-religiösen Erneuerungsbestrebungen Ernst Piper

337

„Niemals Jesuiten, niemals Sektierer“. Die Religionspolitik des SD gegenüber „Sekten“ und völkisch-religiösen Gruppen Wolfgang Dierker

355

Der völkische Antisemit Johann von Leers in den religionspolitischen Auseinandersetzungen 1933/34 Martin Finkenberger

375

In Erwartung der „Heiligen Wende“ – Herman Wirth im Kontext der völkisch-religösen Bewegung Ingo Wiwjorra

399

Grundzüge der Erforschung germanischer Religion in der Zeit des Nationalsozialismus Debora Dusse

417

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Inhalt

IV.

9

„Altes Wissen“ oder „Fremdkörper im deutschen Volksglauben“? Hexendeutungen im Nationalsozialismus zwischen Neuheidentum, Antiklerikalismus und Antisemitismus Felix Wiedemann

437

Völkisch-religiöse Runengymnastiker im Nationalsozialismus Bernd Wedemeyer-Kolwe

459

Der deutsche Geist am Scheideweg: Anthroposophen in Auseinandersetzung mit völkischer Bewegung und Nationalsozialismus Peter Staudenmaier

473

„... dass der Orden ein völkischer werden muss“. Anmerkungen zum Spannungsverhältnis von Freimaurerei, völkischer Bewegung und Nationalsozialismus Marcus Meyer

491

Im Zeichen der Hagal-Rune. „Arteigene“ Religion und nationalsozialistischer Aktivismus in Norwegen Terje Emberland

509

Der Chiemsee-Goldkessel – ein völkisch-religiöses Kultobjekt aus der NS-Zeit? The State of the Affairs Ulrich Linse

527

Anhang

569

Abkürzungsverzeichnis Personenregister Organisationenregister Autorinnen und Autoren

571 575 585 591

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Fassade am Haus Atlantis in Bremen

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Zur Abbildung auf dem Umschlag Im Rahmen seines Böttcherstraßen - Projektes hatte der Bremer Kaffee - HAG Unternehmer Ludwig Roselius, der dem Expressionismus ebenso zugetan war wie er der zeitgenössischen Germanenideologie anhing, in den Jahren 1930/31 unter dem Einfluss der kruden Ideenwelt des „Urreligionsforschers“ und späteren Mitbegründers des Ahnenerbes der SS Herman Wirth das Haus Atlantis errichten lassen. Der moderne architektonische und technische mit germanophilen Elementen verbindende, sakralgleiche Backsteinbau mit einem bogenförmigen Dachgerüst aus Stahl sollte nach Wirths Vorstellungen und Roselius’ Willen, wie er am 23. Juni 1931 in seiner Rede zur Eröffnung des Hauses bekundete, „zur Urgeschichte der Menschheit“ führen.1 Und „jeder Deutsche“ sollte sich dabei der seit grauer Vorzeit Europa beherrschenden und bis nach Ägypten reichenden kulturschöpferischen Kraft „der Männer des Nordens“ bewusst werden.2 An der Vorderfront ragte ein von dem expressionistischen Bildhauer und Architekten Bernhard Hoetger gestalteter eichener „Lebensbaum“ bis zum Dachfirst empor, mit dem er Wirths „Weltbild [...] in der Fassade des Atlantikhauses“ künstlerisch umsetzte.3 Roselius erklärt dessen Programmatik in seiner Eröffnungsrede : „Vergangenheit kündend, Gegenwart richtend, Zukunft verheißend erhebt sich in der Straße der Lebensbaum. Drei Nornen tragen die mächtigen Wurzeln, uralte Deutung geistigen Opfers weisend, umschlossen vom Kreis des ewigen Lebens, erhebend zum Himmel das Kreuz des Erlösers, das befreit vom Menschenbilde, nur der Sonne Wahrheitsschild trägt.“4 Das Zentrum des programmatischen Kunstwerkes bildet das auf dem Titelblatt abgebildete Jahresrad,5 dessen senkrechte Linie Winter- und Sommersonnenwende, die waagrechte Tag- und Nachtgleiche im Frühjahr und Herbst bezeichnet. Die Umschrift zitiert Strophe 138 aus den eddischen Hávamál über Odins Selbstopfer : „Ich weiss, dass ich hing am windigen Baum neun Nächte lang, vom Ger ver wundet, den Odin geweiht, ich selber mir selbst.“ Bei dem Gekreuzigten im inneren des Jahresrades handelt es sich um einen mit Odin gleichgesetzten sogenannten nordischen Christus, wegen dessen expressionistischer Gestaltung – einer Totemfigur nicht unähnlich – es zwischen Hoetger und Wirth zum Streit kam.6 1 2 3 4 5 6

Ludwig Roselius, Reden und Schriften zur Böttcherstrasse in Bremen, Bremen 1932, S. 103. Roselius zit. nach Arn Strohmeyer, Die Idee Atlantis und die Väterkunde. In Hans Tallasch (Hg.), Projekt Böttcherstraße, Delmenhorst 2002, S. 327–340, hier 335. Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 250. Roselius, Reden, S. 104. Ausschnitt aus der Abbildung in: Roselius, Reden, S. 107. Strohmeyer, Idee Atlantis, S. 333 f.

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12

Zur Abbildung auf dem Umschlag

Nach ersten erregten Stellungnahmen in der lokalen Presse gerieten Roselius’ Böttcherstraßen - Projekt, vor allem das Haus Atlantis, und besonders Bernhard Hoetger Mitte der 1930er Jahre ins Visier der nationalsozialistischen Machthaber.7 In der SS - Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ (26. 6. und 24.10. 1935) wurde Hoetger vorgeworfen, dass weder seine „Bauten bodenständig“ noch seine „Bildwerke nordisch“ seien, sondern vielmehr „artfremd“, namentlich die „schauerliche Odinsgestalt“.8 Ein Jahr später eskalierte die Kampagne, als Hitler in seiner kulturpolitischen Grundsatzrede auf dem Reichsparteitag am 9. September 1936 feststellte : „Wir haben nichts zu tun mit jenen Elementen, die den Nationalsozialismus nur vom Hören und Sagen her kennen und ihn daher nur zu leicht verwechseln mit undefinierbaren nordischen Phrasen, und die nun in irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis ihre Motivforschungen beginnen. Der Nationalsozialismus lehnt diese Art von Boettcher - Straßen - Kultur ab.“9 Einen Monat später verfügte er, „dass er die Bauwerke der Böttcherstraße erhalten möchte als ein abschreckendes Beispiel dafür, was in der Zeit vor unserer Machtübernahme als Kultur und Baukunst ausgegeben worden sei“.10 1937 ließ Albert Speer die Böttcherstraße als Beispiel für „entartete Kunst“ unter Denkmalschutz stellen.11 Während Roselius es verstand, obwohl zwei Aufnahmeanträge in die NSDAP abgelehnt wurden, sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren, und Wirth für kurze Zeit im SS - Ahnenerbe eine Schlüsselrolle einzunehmen vermochte, geriet Hoetger in die Fänge des Systems, wurde 1938 aus der NSDAP ausgeschlossen und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.12 Bei Luftangriffen 1944 bliebt das Haus Atlantis weitgehend verschont, während die Böttcherstraße erheblich zerstört wurde. Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg wurde jedoch auf die Errichtung des zum „Torso verkohlten“ Lebensbaumes verzichtet.13

7

Vgl. Arie Hartog, Eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln? Zur Ideengeschichte der Böttcherstraße bis 1945.I n: Tallasch (Hg.), Projekt Böttcherstraße, S. 341–357, bes. 349–353. 8 Zit. nach Strohmeyer, Mythos, S. 72. 9 Der Führer auf der Kulturtagung, in: Reden des Führers am Parteitag der Ehre, 3. Auflage München 1936, S. 25–39, hier 38; auch abgedruckt in: Adolf Hitler. Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933–1939. Hg. und kommentiert von Robert Eikmeyer mit einer Einführung von Boris Groys, Frankfurt a. M. 2004, S. 99–117, hier 114. 10 Zit. nach Strohmeyer, Mythos, S. 78. 11 Ebd., S. 79. 12 Arie Hartog, Gedanken-Nebelmeer. Einige Beobachtungen zu Bernhard Hoetger und Ludwig Roselius. In: Tallasch (Hg.), Projekt Böttcherstraße, S. 83–99, hier 99, Anm. 50; zu Wirth vgl. den Beitrag von Ingo Wiwjorra in diesem Band. 13 Strohmeyer, Mythos, S. 79.

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Die völkisch - religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Forschungs - und problemgeschichtliche Perspektiven Uwe Puschner / Clemens Vollnhals

1.

Forschungsgeschichte und - probleme

Die Forschungsgeschichte zur völkischen Bewegung ist jung. Noch vor dreißig Jahren wurde das Fehlen einer „umfassenden historisch - systematischen Darstellung der völkischen Bewegung“ beklagt.1 Die Situation hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Seit den 1990er Jahren erschien eine Vielzahl von Spezialstudien zu einzelnen völkischen Protagonisten, Organisationen und zur Ideologie, und es liegen mittlerweile grundlegende Darstellungen zu den Ursprüngen, zur Genese und zur Entwicklung von ihrer Formierungsphase im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zu ihrer Hochphase nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme vor.2 Eine Gesamtdarstellung der ideologisch wie organisatorisch und in ihren Zielen fragmentierten, von Gegenläufigkeiten und unüberbrückbaren, immer wieder in heftigen Kontroversen ausgetragenen Gegensätzen gekennzeichneten Bewegung bleibt vorerst ein Desiderat : Nur Teile der zahllosen völkischen Zusammenschlüsse sind bislang erfasst und erschlossen, nur wenige systematisch untersucht worden. Ihre Interaktionen mit parallelen zeitgenössischen Bewegungen sind insbesondere für die antisemitische und die ( Lebens - )Reform1 2

Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1 : Vorgeschichte und Zeit der Illusion 1918–1934, Frankfurt a. M. 1977, S. 94. Auf einen Nachweis der Spezialstudien muss aufgrund ihrer Vielzahl verzichtet werden, weswegen hier nur auf Darstellungen und Sammelbände mit Überblickscharakter in chronologischer Reihung verwiesen wird : George L. Mosse, Ein Volk, ein Reich, ein Gott. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königstein 1979; Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996; Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, 2. Auf lage Weinheim 1997; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001; Armin Mohler / Karlheinz Weissmann, Die Konser vative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6., völlig überarb. und erw. Auf lage Graz 2005; Walter Schmitz / Clemens Vollnhals ( Hg.), Völkische Bewegung, Konser vative Revolution, Nationalsozialismus, Dresden 2005; und die – epochenübergreifende – Deutung von Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008.

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Uwe Puschner / Clemens Vollnhals

bewegungen aufgezeigt worden.3 Auf die engen Beziehungen zu den alldeutschen und völkischen Kräften in der Habsburgermonarchie und im republikanischen Österreich wurde wiederholt hingewiesen,4 eine umfassende Transfergeschichte steht aber noch aus. Dasselbe gilt für die Verbindungen in andere europäische Staaten, namentlich in die skandinavischen Länder, vornehmlich nach Norwegen und Schweden.5 Dass die völkische Bewegung Teil der Vorgeschichte des Nationalsozialismus ist, ist in der Forschung unbestritten. Die personellen, organisatorischen und ideologischen Beziehungen, die seit Beginn der 1920er Jahre deutlich wahrnehmbaren, an Heftigkeit bald zunehmenden Rivalitäten und die nicht zuletzt auch strukturellen Unterschiede zwischen völkischer

3

4

5

Zu den Wechselbeziehungen zwischen völkischer und den ( Lebens - )Reformbewegungen vgl. die zahlreichen Hinweise bei Kai Buchholz / Rita Latocha / Hilke Peckmann / Klaus Wolbert ( Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Kunst und Leben um 1900, 2 Bände, Darmstadt 2001. Zum Verhältnis von organisiertem Antisemitismus und völkischer Bewegung und deren Genese aus dem Antisemitismus vgl. Breuer, Die Völkischen, S. 25–56, und demgegenüber relativierend Puschner, Völkische Bewegung, S. 51–66. Auf die nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung der österreichischen Alldeutschen für die Entstehung der völkischen Ideologie und Bewegung hat zuerst hingewiesen Günter Hartung, Völkische Ideologie. In : ders., Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Band 1: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Studien, Leipzig 2001, S. 75– 98, und im Anschluss daran die Hinweise bei Puschner, Völkische Bewegung. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vgl. jetzt die Studien : Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. und k. Monarchie, Wien 2005; Julia Schmidt, Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914, Frankfurt a. M. 2009. Die organisierte Zusammenarbeit begann im Ersten Weltkrieg mit der Germanen - Gilde und der von der Deutschgläubigen Gemeinschaft gelenkten Nachfolgeorganisation Germanen - Ring und verdichtete sich seit den 1920er Jahren und nach 1933 unter nationalsozialistischen Vorzeichen. Zu den beiden genannten Organisationen vgl. Uwe Puschner, Strukturmerkmale der völkischen Bewegung (1900–1945). In : Michel Grunewald/ Uwe Puschner ( Hg.), Das konser vative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2003, 445–468, hier 457. Zur folgenden Entwicklung Nicola Karcher, Schirmorganisation der Nordischen Bewegung: Der Nordische Ring und seine Repräsentanten. In : Nordeuropaforum, 1/2009, S. 7– 35; Birgitta Almgren / Jan Hecker - Stampehl / Ernst Piper, Alfred Rosenberg und die Nordische Gesellschaft. Der „nordische Gedanke“ in Theorie und Praxis. In : Nordeuropaforum, 2/2008, S. 7–51; Stefan Breuer, Die „Nordische Bewegung“ in der Weimarer Republik. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 57 (2009), S. 485–509; ders., Der Streit um den „nordischen Gedanken“ in der völkischen Bewegung. In : Zeitschrift für Religions - und Geistesgeschichte, 62 (2010), S. 1–27; Terje Emberland, Religion og rase. Nyhedenskap og nazisme i Norge 1933 –1945, Oslo 2003; ders./ Jorunn Sem Fure ( Hg.), Jakten på Germania : fra nordensvermeri til SS - arkeologi, Oslo 2009. Zu den geistes - und kulturgeschichtlichen Hintergründen seit dem 19. Jahrhundert vgl. Julia Zernack, Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich. In : Handbuch zur „völkischen Bewegung“, S. 482–511; Bernd Henningsen / Janine Klein / Helmut Müssener / Solfrid Söderlind ( Hg.), Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800 bis 1914, Berlin 1997; Astrid Arndt / Andreas Blödorn / David Fraesdorff / Annette Weisner/ Thomas Winkelmann ( Hg.), Imagologie des Nordens. Kulturelle Konstruktionen von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt a. M. 2004.

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Forschungs- und problemgeschichtliche Perspektiven

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und nationalsozialistischer Bewegung sind benannt, aber erst ansatzweise untersucht und systematisch analysiert worden.6 Gegenüber den Forschungsdefiziten der völkischen Gesamtbewegung er weist sich der Befund für die völkisch - religiöse Bewegung als vergleichsweise günstig. Sie erfuhr neben dem lebensreformerischen und insbesondere dem antisemitischen Flügel ( und der Bedeutung des Antisemitismus für die Entstehung der Bewegung und in der Ideologie ) seitens der interdisziplinären Forschung von den 1980er Jahren an erhöhte Aufmerksamkeit.7 Wie die Gesamtbewegung ist sie durch eine Vielzahl vorwiegend kleinerer und mitgliederschwacher, meist kurz - und nur vereinzelt längerlebiger, zeitweise verbündeter und meist konkurrierender Gemeinschaften charakterisiert,8 wobei neben marginalen Mischformen mit Deutschchristentum und dem zeitgenössisch so benannten Neuheidentum zwei Hauptrichtungen bestanden. Infolge ihrer intensiven, vor wiegend publizistischen Präsenz erregten die in den unmittelbaren Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gegründeten deutsch - und germanengläubigen Zusammenschlüsse und die – abgesehen von dem logenartigen Ordo Novi Templi des Ariosophen Adolf Lanz ( alias Jörg Lanz von Liebenfels )9 – erst am Beginn der 1920er Jahre sich formierenden Deutschchristen in der deutschen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit. Das Interesse galt in erster Linie den „Neuheiden“, die vornehmlich nach dem Ersten Weltkrieg und verstärkt seit 1933 von den beiden Großkirchen 6 7

8

9

Vgl. Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 146–161; aus Perspektive der völkischen Bewegung Puschner, Strukturmerkmale, S. 459–467. Vgl. als übergreifende Beitrage in Auswahl zur völkisch - religiösen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik : Ekkehard Hieronimus, Zur Religiosität der völkischen Bewegung. In : Hubert Cancik ( Hg.), Religions - und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 159–175; ders., Von der Germanen - Forschung zum Germanen - Glauben. Zur Religionsgeschichte des Präfaschismus. In : Richard Faber / Renate Schlesier ( Hg.), Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo - Paganismus, Würzburg 1986, S. 241–257; Stefanie von Schnurbein, Die Suche nach einer „arteigenen“ Religion in „germanisch“ - und „deutschgläubigen“ Gruppen. In : Handbuch zur „völkischen Bewegung“, S. 172–185; Justus H. Ulbricht, Deutschchristliche und deutschgläubige Gruppierungen. In : Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke ( Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 499–511; Uwe Puschner, Deutschchristentum. Über christlich - völkische Religiosität. In : Richard Faber / Gesine Palmer ( Hg.), Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur ?, Würzburg 2003, S. 91–12; ders., Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In : zeitenblicke, 5 (2006) 1, ( http ://www.zeitenblicke.de /2006/1/ Puschner / index_html ). Vgl. den Überblick von Ulrich Nanko, Das Spektrum völkisch - religiöser Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins „Dritte Reich“. In : von Schnurbein / Ulbricht (Hg.), Völkische Religiosität, S. 208–226. Zur zentralen Bedeutung von Gemeinschaft insbesondere im völkisch - religiösen Segement der Bewegung vgl. Uwe Puschner, Gemeinschaft – Annäherungen an einen Schlüsselbegriff im völkischen und völkischreligiösen Denken. In : Lucia Scherzberg ( Hg.), Gemeinschaftskonzepte im 20. Jahrhundert zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 2010, S. 97–114. Ekkehard Hieronimus, Lanz von Liebenfels. Eine Bibliographie, Toppenstedt 1991; Nicholas Goodrick - Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997, S. 83–109.

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Uwe Puschner / Clemens Vollnhals

– von evangelischer Seite durch die 1921 gegründete, in Berlin ansässige Apologetische Centrale10 – ins Visier genommen und als Symptom einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ ( Georg Lukács ) und als Teil „der religiösen Welle, die über unser Volk hinweggeht“, vor allem aber als Gefahr für den Bestand von Christentum, Kirchen und christlich fundierter Gesellschaft gesehen wurden.11 Die wie auch die „Neuheiden“ in ihrer überwiegenden Mehrheit aus dem Protestantismus kommenden Deutschchristen gerieten hingegen erst mit ihrer Sammlung seit Ende der 1920er Jahre, der Gründung der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ 1932 und ihrem Bekenntnis zum Nationalsozialismus in den engeren Blick.12 Die Forschung konzentrierte sich zunächst auf diesen in Hinblick auf die Anhängerschaft zahlenmäßig dominierenden Flügel der völkisch - religiösen Bewegung und in erster Linie auf die Jahre des sogenannten Kirchenkampfes, wobei die ideengeschichtliche Genese seit dem 18. Jahrhundert, sein im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstandenes nationalistisches und zunehmend antisemitisches Fundament und die im deutschen Kaiserreich seit den 1880er Jahren beginnende, in der wilhelminische Epoche vollzogene Integration in den ( hybriden ) Nationalismus vorerst im Hintergrund blieben.13 Ohne die für die völkischreligiösen Religionsentwürfe fundamentale Einbettung in den nationalistischen Diskurs ( vor allem um eine die Konfessionsspaltung über windende Nationalreligion auf evangelischer Grundlage ) und den Antisemitismus zu vernachlässigen, verortete die von den 1990er Jahren an forciert einsetzende interdisziplinäre Forschung das „Neuheidentum“ in den leidenschaftlichen akademischen, intellektuellen und öffentlichen Debatten über die – wie Ernst Troeltsch 1913

10 Matthias Pöhlmann, Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921–1937), Stuttgart 1998. Von katholischer Seite wurde keine Institution geschaffen, vielmehr sind hier Einzelinitiativen zu beobachten, die zu Beginn der 1920er Jahre Aufklärungsschriften von bedeutendem Quellenwert hervorgebracht haben wie : Alfons Steiger, Der neudeutsche Heide im Kampf gegen Christen und Juden, Berlin 1924 (1. Auf lage 1923 unter demTitel : Katholizismus und Judentum ); Erhard Schlund, Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland, München 1923 ( Nachdruck als H. 4 der Reihe „Irmin - Edition“, München 1976). Vgl. auch von Erhard Schlund, Modernes Gottglauben. Das Suchen der Gegenwart nach Gott und Religion, Regensburg 1939. 11 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Roman über die Formen der großen Epik, 2., verm. Auf lage Neuwied 1963, S. 35; Schlund, Neugermanisches Heidentum, S. 7 und 61. 12 Zur Forschung vgl. den Beitrag von Manfred Gailus in diesem Band. 13 Zu den Verbindungen von Religion und Nation vgl. die Fallstudien bei Gerd Krumeich/ Hartmut Lehmann ( Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000; Heinz - Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2004; Michael Geyer / Hartmut Lehmann ( Hg.), Religion und Nation, Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004; Manfred Gailus / Hartmut Lehmann ( Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005.

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Forschungs- und problemgeschichtliche Perspektiven

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fragte – „Bedeutung der Religion in unserer heutigen Kultur“ und in der religiösen Aufbruchstimmung in der Epoche der klassischen Moderne, die vor allem, aber nicht ausschließlich mit den „bildungsbürgerlichen Reformbewegungen verschränkt war“ ( insbesondere mit den verschiedenen Segmenten der Lebensreformbewegung ) und die ein breites religiöses alternatives Angebot zum Christentum hervorbrachte.14 Parallel dazu gingen von der Tübinger Religionswissenschaft, angeregt von Hubert Cancik und zunächst mit einem Schwerpunkt auf Jakob Wilhelm Hauer und die von ihm initiierte Deutsche Glaubensbewegung, nachhaltige Impulse für die Auseinandersetzung mit „Neuheiden und totalem Staat“ aus.15 Die NS-Forschung blendete diese Thematik keineswegs aus, im Vordergrund stand jedoch über lange Jahre hinweg die – zeitweise leidenschaftlich – kontrovers geführte Debatte um das durch Eric Voegelin populär gewordene Konzept der „Politischen Religion“, dessen Erklärungskraft für den Nationalsozialismus von Historikern immer wieder mit gewichtigen Argumenten angezweifelt wurde.16 So hat beispielsweise Hans Günter Hockerts u. a. 14

Ernst Troeltsch, Religion. In : David Sarason ( Hg.), Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig 1913, S. 533–549, hier 533; Justus H. Ulbricht, Religiosität und Spiritualität. In : Kerbs / Reulecke ( Hg.), Reformbewegungen, S. 495–498, hier 498. Zum Kontext vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 1, München 1990, bes. S. 507–528; Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religionen in der Moderne, München 2004, S. 133–160. Zu den Verbindungen mit den Reform - und Lebensreformbewegungen vgl. die Beiträge in Buchholz / Latocha / Peckmann / Wolbert ( Hg.), Lebensreform; ferner Claudia Bibo, Naturalismus als Weltanschauung ? Biologistische, theosophische und deutsch - völkische Bildlichkeit in der von Fidus illustrierten Lyrik (1893–1902). Mit einem Anhang : Organisationen der Deutschgläubigen Bewegung, Frankfurt a. M. 1995; Bernd Wedemeyer - Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Rita Panesar, Medien religiöser Sinnstiftung, Der „Volkserzieher“, die Zeitschriften des „Deutschen Monistenbundes“ und die „Neue Metaphysische Rundschau“ 1897–1936, Stuttgart 2006; Sandra Franz, Die Religion des Grals. Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensreform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871–1945), Münster 2009. Zu den völkisch - religiösen Jugendbünden vgl. den Beitrag von Winfried Mogge in diesem Band. 15 Hubert Cancik, „Neuheiden“ und totaler Staat. Völkische Religion am Ende der Weimarer Republik. In : ders., Religions - und Geistesgeschichte, S. 176–212. Zu Hauer und zur Deutschen Glaubensbewegung vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993; Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881– 1962), Marburg 2005; Hiroshi Kubota, Religionswissenschaftliche Religiosität und Religionsgründung. Jakob Wilhelm Hauer im Kontext des Freien Protestantismus, Frankfurt a. M. 2005; Horst Junginger, Von der philosophischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Köln 1999. 16 In Hinblick auf die Fülle der Beiträge und Studien vgl. hierzu unter Verweis auf die Forschungsliteratur und die kontroverse Debatte die kritischen Reflektionen von Hans Günter Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion ? Über die Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In : Klaus Hildebrand ( Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45–71; und von Jürgen Schreiber, Politische Religion. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven und Kritik eines interdisziplinären Konzepts zur Erfor-

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unter Verweis auf Hitlers „sozialsanitären Biologismus“ stattdessen den Terminus „politische Säkularreligion“ vorgeschlagen.17 Demgegenüber stellte Hans Buchheim die Ver wendung des Religionsbegriffs in einem provokanten Vergleich grundsätzlich in Frage : „Auch eine Ersatzreligion ist eine Religion, so wie ein Ersatzheer ein Heer. Dagegen ist Religionsersatz so wenig eine Religion wie Zichorie, also Kaffeeersatz Kaffee ist.“18

2.

Die völkisch - religiöse Bewegung und der Nationalsozialismus

Das nationalsozialistische „Jahrzwölft“ ( Werner Bergengruen ), insbesondere die Konsolidierungsphase von 1933/34 bis 1936/37, ist gekennzeichnet von „religiösen Pluralisierungen“, von einer komplexen „Konfliktkonstellation“ und „religiösen Wettbewerbssituation“.19 Die völkisch - religiöse Bewegung mit ihren rivalisierenden, häufig sich befehdenden, für kurze Zeit innerhalb der beiden Flügel wiederholt in unterschiedlichen Konstellationen sich verbündenden Führern ist wie auch die in konkurrierende „religionspolitische Gesinnungsfraktionen“ gespaltene NSDAP einer von mehreren Akteuren – Volks - und Freikirchen, nicht - christliche Gemeinschaften etc. – in dieser Gemengelage.20 Sie erfuhr in der Phase der nationalsozialistischen Machtkonsolidierung und der Vernichtung der Demokratie aufgrund ihres tatsächlichen bzw. in der Öffentlichkeit, namentlich von den Volkskirchen, so wahrgenommenen Bündnisses mit dem Nationalsozialismus und durch ihre öffentlichkeitswirksamen Auftritte in Großveranstaltungen ( wie von den Deutschen Christen und der Deutschen Glaubensbewegung im Berliner Sportpalast ) große Aufmerksamkeit und wurde schung des Nationalsozialismus, Marburg 2009. Vgl. demgegenüber den Beitrag von Klaus Vondung in diesem Band. 17 Hockerts, Nationalsozialismus, S. 56 und 71. 18 Hans Buchheim, Despotie, Ersatzreligion, Religionsersatz. In : Hans Maier ( Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religion“. Konzepte des Diktatur vergleichs, Band 1, Paderborn 1996, S. 260–263, hier 162. 19 Manfred Gailus, „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ ? Religiöse Pluralisierung in der NS - Weltanschauungsdiktatur. In : Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Große Kracht ( Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 247–268, hier 247. Vgl. auch Manfred Gailus / Armin Nolzen ( Hg.), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011; und die für die ältere Forschung einflussreiche Studie von Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich. Drei Kapitel nationalsozialistischer Religionspolitik, Stuttgart 1953; Werner Bergengruen, Dichtergehäuse. Aus den autobiographischen Aufzeichnungen, Zürich, München 1966, S. 110. 20 Vgl. Gailus, Volk, S. 255–258. Zur „Bekenntnisfreudigkeit“ in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft vgl. die dreibändige Dokumentation von Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933 ( Band 1), 1934 ( Band 2) und 1935 ( Band 3), Göttingen 1934–1936, die grundlegende Texte der verschiedenen völkisch - religiösen Richtungen und Gemeinschaften enthält; sowie den materialreichen Überblick von Schlund, Modernes Gottglauben.

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– insbesondere die in ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrem Einfluss überschätzten „Neuheiden“ – als Gefahr für Christentum, Kirchen und ( christliche) Gesellschaft angesehen.21 Die katholische Kirche sah gar einen neuen Kulturkampf heraufziehen – wie im übrigen auch die „Neuheiden“ infolge der öffentlichen Verlautbarungen und publizistischen Angriffe aus den Volkskirchen.22 In ihrem Selbstverständnis als Wegbereiter des Nationalsozialismus und der Machtübernahme glaubten sich die Völkischen mehrheitlich 1933 am Ziel, wie sie in gleichermaßen mahnenden wie fordernden Ergebenheitsadressen zum Ausdruck brachten.23 Max Robert Gerstenhauer, seit dem Ersten Weltkrieg Chef ideologe des Deutschbundes, formulierte im August 1933 das deutschchristliche Selbstbewusstsein und brachte den deutschchristlichen Flügel zugleich gegen die „Neuheiden“ in Stellung : „Das kämpferische Heer des völkischen Staates besteht hauptsächlich aus Anhängern des Deutsch - Christentums. Dagegen solche völkischen Gruppen, die im Gegensatz zum Christentum überhaupt, auch zum Deutsch - Christentum stehen, werden wohl kaum die Macht erringen, um das Leben und die Kultur des deutschen Volkes völlig umzugestalten, wie wir es wollen. Hierher gehört der Tannenbergbund des Ehepaars Ludendorff, hierher auch die ‚Hauer - Bewegung‘.“24 Unmittelbar nach der Machtübernahme hatte mit Alfred Conn ein Wortführer der Deutschgläubigen Gemeinschaft im März 1933 die nicht minder selbstbewusste Erwartungshaltung des „neuheidnischen“ Flügels der völkisch - religiösen Bewegung artikuliert : „Deutschland steht seit dem 30. Hartung [ Januar ] dieses Jahres unter dem Hakenkreuz. Das Hakenkreuz ist das Symbol des wesentlichen deutschen Reiches. Es bezeichnet daher die Abwehr alles Undeutschen, insonderheit des Orients. Wir hoffen, dass hinter dem völkischen Zeichen auch das völkische Wollen steht, dass es nicht etwa als Fassadenputz am Bau einer orientalischen Kirchenherrschaft missbraucht wird.“25 Conn gibt mit seiner Erklärung nicht nur dem Antisemitismus Ausdruck, den beide Flügel der völkisch - religiösen Bewegung teilten; sie ist vor allem ein weiterer Hinweis auf die Rivalitäten innerhalb dieser Bewegung und eine Kampfansage an die „Gegner“ aus dem deutschchristlichen Lager, denen er 1934 „schamlosen Gesin-

21 Zur Wahrnehmung durch die christlichen Kirchen vgl. die Beiträge von Matthias Pöhlmann und Lucia Scherzberg in diesem Band. 22 Vgl. Wolfgang Altgeld, Rassistische Ideologie und völkische Religiosität. In : Karl - Josef Hummel / Michael Kißner ( Hg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 2009, S. 63–82. Zu den „Neuheiden“ vgl. Bernhard Kummer, Germanenkunde im Kulturkampf. Beiträge zum Kampf um Wissenschaft, Theologie und Mythus des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1935. 23 Vgl. Puschner, Strukturmerkmale, S. 464 f. 24 Max Robert Gerstenhauer, Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft. Aus der Geschichte der völkischen Bewegung, Leipzig 1933, S. 161. Zu ihm und zum Deutschbund vgl. den Beitrag von Gregor Hufenreuter in diesem Band. 25 Alfred Conn, Was wir von einer völkischen Regierung erwarten. In : Widar. Deutschgläubiges Kampfblatt, 23 (1933), 15. Lenz [ März ] 1933, S. 4.

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nungsterror“ gegen die paganen Völkischen vorwarf 26 – und sie ist zugleich eine kaum verdeckte Kritik an der NSDAP und ihrem im Parteiprogramm von 1920 bekundeten Bekenntnis zu einem „positiven Christentum“.27 Die „Neuheiden“ forderten die „Glaubens - und Gewissensfreiheit“ im nationalsozialistischen Staat und strebten als Nahziel die staatliche Anerkennung des von ihren christlichen Gegnern als „dritte Konfession“ bezeichneten „Deutschen Glaubens“ an,28 wofür sich insbesondere die von Jakob Wilhelm Hauer 1933 ins Leben gerufene Deutsche Glaubensbewegung, eine Sammlung diverser paganer Gruppierungen und Meinungsführer, vehement einsetzte.29 Die von den „Neuheiden“ seit Jahrhundertbeginn angestrebte staatliche Anerkennung blieb ihnen indes auch im NS - Regime versagt. Rudolf Heß hatte zwar mit einem Parteierlass vom 13. Oktober 1933 solche Hoffnungen geschürt, in dem er verkündete : „Kein Nationalsozialist darf irgendwo benachteiligt werden, weil er sich zu einer bestimmten Glaubensrichtung oder Konfession oder weil er sich zu überhaupt keiner Konfession bekennt. Der Glaube ist eines jeden eigenste Angelegenheit, die er nur vor seinem Gewissen zu verantworten hat. Gewissenszwang darf nicht ausgeübt werden.“30 Das Reichsinnenministerium verfügte in Absprache mit dem „Stellvertreter des Führers“ und dem Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten in einem Runderlass vom 26. November 1936 an die Standesämter, dass bei Personenstandsangelegenheiten zwischen „Angehörigen einer Religionsgemeinschaft oder einer Weltanschauungsgemeinschaft“ sowie zwischen „Gottgläubigen“ und „Glaubenslosen“ zu unterscheiden sei. Damit war eine standesamtliche, vom Reichsinnenminister Anfang 1936 angeordnete und in einem Runderlass von September 1936 offiziell bestätigte Handhabung wieder hinfällig geworden, wonach zwar die „Sammelbezeichnung ‚Deutschgläubig‘ oder ‚Deutschgottgläubig‘“ untersagt, kurzzeitig es jedoch zulässig war, „auf Wunsch die besondere Weltanschauungsgemeinschaft zu nennen, z. B. ‚Deutsche Glaubensbewegung‘, ‚Deutschgläubige Gemeinschaft‘, 26 Alfred Conn, Sachlicher Kampf. In : Widar, 24 (1934), 15. Hornung [ Februar ] 1934, S. 34 f. 27 In : Wilhelm Mommsen ( Hg.), Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 550, Top 24. 28 Conn, Regierung, S. 4; Wilhelm Hauer, Was will die deutsche Glaubensbewegung ?, 3., von Herbert Grabert neubearb. Auf lage Stuttgart 1935, S. 20–23. Das Schlagwort „Dritte Konfession“ wurde in einer Reihe von protestantischen Aufklärungsschriften ver wendet, aber auch von völkisch - religiösen Protagonisten. Vgl. z. B. Rudolf Urban, Eine dritte Konfession ?, Gütersloh 1934; Die „dritte Konfession ?“. Materialsammlung über die nordisch - religiösen Bewegungen, Berlin 1934; von völkischer Seite Max Robert Gerstenhauer, Deutscher Glaube im Dritten Reich, Leipzig 1934, S. 56. 29 Vgl. Horst Junginger, Die deutsche Glaubensbewegung und der Mythos einer „dritten Konfession“. In : Gailus / Nolzen ( Hg.), „Volksgemeinschaft“, S. 180–203. 30 Zit. nach Hansgeorg Schroth ( Bearb.), Kirche und religiöse Bekenntnisse im Dritten Reich, Berlin 1934, S. 2. Der Erlass wurde von den völkisch - religiösen Gruppen wiederholt im Wortlaut zitiert, etwa in Widar. Deutschgläubiges Kampfblatt vom 15. Nebelung [ November ] 1933, S. 23; Gerstenhauer, Deutscher Glaube, S. 54; Hauer, Glaubensbewegung, S. 14 und 57; vgl. ferner die Reaktionen des „Reichswarts“ bei Scholder, Kirchen, Band 1, S. 669 f.

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‚Christlich - Deutsch - Nordische Religion‘“.31 Die „Neuheiden“ waren demnach im nationalsozialistischen Verständnis keine Religions - , sondern Weltanschauungsgemeinschaften.32 Die Hoffnungen auf Ver wirklichung der „ausschließlichen Deutschgläubigkeit“ im „Dritten Reich“, auf die sich die Deutschgläubige Gemeinschaft 1936 verpflichtete,33 entbehrten jeder Grundlage, zumal die NSDAP - Mitglieder wie die Deutschen mehrheitlich dem Christentum verbunden blieben.34

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Runderlasse „Erfragung der Religionszugehörigkeit zu statistischen Zwecken“ (14. 9. 1936) und „Bezeichnung religiöser Bekenntnisse“ (26. 11. 1936). In : Ministerialblatt des Reichs - und Preußischen Ministeriums des Innern 1936, S. 1239 und 1575. Zur Handhabung seit Anfang 1936 vgl. Religion : Deutsche Glaubensbewegung. In : Reichswart, 17 (1936), S. 5, und Vermerk der Religion in den Standesregistern ? In : Zeitschrift für Standesamtswesen – Personalstand, Erbrecht und Sippenforschung, 16 (1936) 8, vom 24. 4. 1936; vgl. hierzu die Erläuterungen und Ergänzungen bei Schlund, Modernes Gottglauben, S. 13–18. 32 Interessant ist in diesem Zusammenhang der fiskalpolitische Umgang mit den „Neuheiden“. Die Unterscheidung von Religions - und Weltanschauungsgemeinschaften folgte der Weimarer Reichsverfassung, in der den Religionsgesellschaften „Vereinigungen“ gleichgestellt wurden, „die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“ ( § 137). Des Weiteren hieß es, dass niemand verpflichtet sei, „seine religiöse Überzeugung zu offenbaren“; allerdings wurde den Behörden „so weit das Recht“ eingeräumt, „nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert“ ( § 136). Demnach war es gemäß einer Verfügung des Reichsfinanzministeriums „betr. Ausschreibung der Steuerkarte 1938“ vom 30. 8. 1937 zwingend notwendig, Angaben zum Religionsbekenntnis zu machen. Neben den christlichen Konfessionen bestanden die Kategorien : „vd = verschiedene ( Angehörige aller sonstiger Religions - Glaubens - und Weltanschauungsgemeinschaften )“, „gg = gottgläubig“, „gl = glaubenslos“. In den Erläuterungen zur Personenstandsaufnahme 1938 wurde zur Gruppe „Verschiedene“ ausgeführt : „Für die Angabe des Religionsbekenntnisses sind zu unterscheiden : Angehörige einer Religionsgesellschaft [...] und Angehörige einer Glaubens - oder Weltanschauungsgemeinschaft, Angehörige der evangelischen Freikirchen und Sekten, Mennoiten usw., Mitglieder des Kampfrings Deutscher Glaube und der Deutschen Gotterkenntnis ( Haus Ludendorff ), ferner Juden usw.“. Es bleibt zu prüfen, ob dieser Regelung zufolge auch die in den Erläuterungen nicht genannten „neuheidnischen“ Gemeinschaften unter die Kategorie „Glaubens - und Weltanschauungsgemeinschaft“ fielen und erfasst wurden, zumal sich die Mitglieder des Kampfrings Deutscher Glaube im Einvernehmen mit dem Reichsinnenministerium in amtlichen Verzeichnissen mit „gottgläubig“ eintragen durften, in der Volkszählung von 1939 in der Spalte „Religionsgemeinschaft“ gezählt, bei der Datenaufbereitung dann jedoch den „Gottgläubigen“ zugeordnet wurden. Vgl. Schlund, Moderner Gottglauben, S. 15 f. 33 „Über allem Meinen steht die zur Tat drängende Gesinnung“. Erklärung des Deutschgläubigen Reichstags zu Hohen Maien 1936 auf dem Ehrenberg zu Nindorf bei Hanstedt zum 25 - jährigen Bestehen der Deutschgläubigen Gemeinschaft. In : Widar, 27 (1936), 15. Brachet [ Juni ] 1936, S. 1. Zur Begründung hieß es im Anschluss : „Darum treten wir im Dritten Reich nicht neben andere Konfessionen, Lehren oder Philosophien, sondern einzig und ausschließlich auf deutschem Erbgrund, auf dem andere Religionen als Sekten ausländischen Ursprungs und Ziels für Deutsche unmöglich sein werden.“ 34 Vgl. Gailus, Volk, S. 256 und 258; sowie die Religionsstatistik im Beitrag von Horst Junginger in diesem Band.

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Daran konnten auch führende Nationalsozialen wie Richard Walther Darré, Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg nichts ändern, die mit den Überzeugungen der „Neuheiden“ sympathisierten.35 Hitler hatte ihnen „und radikalen religionspolitischen Zukunftsplänen im Sinne einer ‚Endlösung der religiösen Frage‘“36 in seiner Kulturrede auf dem Reichsparteitag 1938 eine unmissverständliche Absage erteilt : „Das Einschleichen mythisch veranlagter okkulter Jenseitsforscher darf [...] in der Bewegung nicht geduldet werden.“ Und er hatte festgestellt : „Sie sind nicht Nationalsozialisten, sondern irgend etwas anderes, auf jeden Fall aber etwas, was mit uns nichts zu tun hat.“37 Von Mitte der 1920er Jahre an – in „Mein Kampf“, in öffentlichen Reden und in einer Reihe monologisierender Gespräche – hatte Hitler sich scharf gegen das „Neuheidentum“ und vor allem gegen das völkische Paradigma ausgesprochen,38 dass die in der Rasse verwurzelte sogenannte arteigene Religion die „Krönung“ der völkischen ( auch der nationalsozialistischen ) Weltanschauung sei.39 Diese Grundüberzeugung ging einher mit der von ihren Ideologen kritisch kommentierten Herauslösung der NSDAP aus der völkischen Bewegung 1924/25,40 die auf ideologische und

35 Zu deren religiösen - weltanschaulichen Vorstellungen vgl. Hans - Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971; Anna Bramwell, Blood and soil. Richard Walther Darré and Hitler’s „Green Party“, Bowne End 1985; Frank Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, Berlin 2008, S. 265–308; sowie die Hinweise im Beitrag von Felix Wiedemann. Zu Rosenberg vgl. den Beitrag von Ernst Piper in diesem Band. Einen Aktivisten aus der zweiten Reihe stellt Martin Finkenberg in seinem Beitrag über Johann von Leers in diesem Band vor. Die Bedeutung „neuheidnischer“, okkulter und esoterischer Einflüsse auf Teile der NSund namentlich der SS - Elite oder gar auf Hitler wird nicht zuletzt infolge von Studien wie denjenigen von Winfried Daim ( Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Jörg Lanz von Liebenfels, 3., erw. und verb. Auf lage Wiesbaden 1994) oder Nicholas Goodrick - Clarke ( Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997) maßlos überschätzt und in jüngerer Zeit – historisch verfälschend und sensationsheischend – vor allem medial inszeniert und popularisiert, wie der Beitrag von Ulrich Linse in diesem Band zeigt. 36 Gailus, Volk, S. 257. 37 Der Führer auf der Kulturtagung. In : Reden des Führers am Parteitag Großdeutschland 1938, 2. Auf lage München 1938, S. 29–45, hier 40. Die Rede ist auch abgedruckt in : Adolf Hitler. Reden zur Kunst - und Kulturpolitik 1933–1939. Hg. und kommentiert von Robert Eikmeyer mit einer Einführung von Boris Groys, Frankfurt a. M. 2004, S. 145–169. Vgl. hierzu auch die weiteren Hinweise bei Hockerts, Nationalsozialismus, S. 60. 38 Vgl. die Zusammenstellung von Äußerungen Hitlers zur völkischen Religion bei Thomas Schirrmacher, Hitlers Kriegsreligion. Die Verankerung der Weltanschauung Hitlers in seiner religiösen Begriff lichkeit und seinem Gottesbild, Band 2, Bonn 2007, S. 585– 600; und die ( die Forschung resümierende ) Analyse in Band 1, S. 318–337. 39 So z. B. Gerstenhauer, Glaube, S. 5. Zu diesem Paradigma vgl. Puschner, Weltanschauung und Religion; und demgegenüber Breuer, Die Völkischen, S. 10. 40 Vgl. ausführlich Breuer, Die Völkischen, S. 236–251; ferner Puschner, Strukturmerkmale, S. 462–464; sowie die in Kürze erscheinende Studie von Stefanie Schrader, Die Völkischen im Reichstag. Eine Untersuchung zur parteipolitischen und parlamentarischen Partizipation der Völkischen in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschvölkischen Freiheitspartei / Deutschvölkischen Freiheitsbewegung.

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strategische Grundsatzentscheidungen Hitlers zurückging.41 Denn wie andere Zeitgenossen hatte auch Hitler die für die völkische Bewegung ( einschließlich ihres religiösen Flügels ) seit ihrer Entstehung um 1900 so charakteristischen Richtungs - und Flügelkämpfe und die Konflikte unter ihren, um Vorherrschaft und Deutungshoheit rivalisierenden Ideologen kritisch beobachtet.42 Hitler hatte deswegen im Zuge der Reorganisation der Partei die Altvölkischen, die Architekten der Ideologie und Gründer väter der Bewegung, wiederholt und scharf – gebündelt in „Mein Kampf“43 – attackiert. Sie bildeten auch nach 1933 zunächst einen steten Unruheherd und passten sich im Gegensatz zur jüngeren völkischen Generation, die seit den späten 1920er Jahren zum Nationalsozialismus überlief, dem Machtanspruch des NS - Regimes nur zögerlich an, unterwarfen sich ihm aber nie vollständig und zogen sich seit Mitte der 1930er Jahre in den Mikrokosmos ihrer Gesinnungsgemeinschaften zurück.44 Während im völkischen Denken der „Idealzustand“ erreicht war, wenn sich „Volksgemeinschaft und Glaubensgemeinschaft [...] decken“,45 betonte Hitler erstens, der Nationalsozialismus sei eine „kühle Wirklichkeitslehre schärfster wissenschaftlicher Erkenntnisse“ und „eine aus ausschließlich rassischen Erkenntnissen erwachsene völkisch - politische Lehre. In ihrem Sinne liegt kein mythischer Kult, sondern die Pflege und Führung des blutbestimmten Volkes.“46 Für die völkisch - religiösen Vorstellungen war insofern im nationalsozialistischen Staat ebenso wenig Platz wie für die von Hitler zurückgewiesene Bestrebungen von Goebbels und anderen, den Nationalsozialismus zu einer „Kultbewegung“ zu formen.47 Es ging Hitler, wie er wiederholt und ausführlich im Zuge des Parteiausschlussverfahrens von Artur Dinter 1928 betonte, zweitens darum, „reli41 Scholder, Kirchen, Band 1, S. 102 und 110–112. 42 Zur öffentlichen Wahrnehmung der völkischen Bewegung vgl. die kursorischen Beobachtungen bei Uwe Puschner, „Wildgeworden“ und „gefährlich“ ! Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Völkischen in ihrer Zeit. In : Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag. Hg. von Patrick Merziger/ Rudolf Stöber / Esther - Beate Körber / Jürgen Michael Schulz, Stuttgart 2010, S. 109–126. 43 Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, Band 1 : Eine Abrechnung, 711.– 715. Auf lage München 1942, S. 395–398. 44 Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass nur wenige führende altvölkische Aktivisten in die NSDAP eintraten oder wie z. B. Willibald Hentschel (1932) wieder austraten. Vgl. Puschner, Strukturmerkmale, S. 61; Breuer, Die Völkischen, S. 239, zum Konflikt zwischen Alt - und Jungvölkischen. 45 Gerstenhauer, Glaube, S. 63. 46 Der Führer auf der Kulturtagung (1938), S. 40. 47 Der Führer auf der Kulturtagung (1938), S. 39; Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hg. von Elke Fröhlich, Teil 1, Band 2/ III, München 2006, S. 242, wo Goebbels unter dem 7. 8. 1933 eine Gautagsrede Hitlers referierend und kommentierend notiert : „Scharf gegen die Kirchen. Wir werden selbst eine Kirche werden.“ Vgl. auch Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002, S. 207. Breuer, Die Völkischen, S. 251, kommt zu dem Ergebnis : „Ein Staat der Völkischen war er nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass Völkische in ihm eine herausragende Rolle gespielt hätten.“

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giöse Streitigkeiten“ in der NSDAP zu vermeiden, da sie die Partei „innerlich“ und in ihrem politischen Kampf schwächen würden.48 Der Parteiausschluss Dinters markierte „eine Grundsatzentscheidung über die zukünftige Kirchen - und Religionspolitik der Partei“, die im Bewusstsein gefällt wurde, „gegen das christliche Deutschland [...] keine Chance“ zu haben.49 Unabhängig von ihren persönlichen religiösen Überzeugungen, stand für Hitler wie auch für Goebbels das machtpolitische Kalkül im Vordergrund, das galt für die Kirchenpolitik ebenso wie für den Umgang mit den beiden völkisch - religiösen Flügeln.50 Insofern beruhte der politische Sieg des Nationalsozialismus „zu einem nicht geringen Teil darauf, dass es ihm gelang, sich seines völkisch - religiösen Bodensatzes zu entledigen, wie es umgekehrt die weltanschauliche Verschrobenheit der meisten ‚Neuheiden‘ verhinderte, dass die deutschgläubige Bewegung im Dritten Reich einen größeren Einfluss erlangen konnte“.51 Die Völkisch - Religiösen ließen sich zwar als „Schrittmacher“ in der Konsolidierungsphase 1933/34 benutzen, sie waren „Mittel zum Zweck“,52 nicht zuletzt als Disziplinierungsagenturen und Drohpotential gegenüber den christlichen Kirchen. Gleichzeitig aber waren sie auch ein ernst genommener Störfaktor für das totalitäre Herrschaftssystem. Sie standen deswegen – wie Anthroposophie, Theosophie, Astrologie, okkultistische und spiritistische „Sekten“ oder Freimaurer – „vom Standpunkt der Gegnerbekämpfung“ aus unter

48 So Hitler in dem Artikel „Zum Wiedererstehen unserer Bewegung“ ( Völkischer Beobachter vom 26. 2. 1925) und in einem Schreiben an Dinter vom 25. 7. 1928. In : Hitler. Reden, Schriften und Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, Band 1 : Die Wiedergründung der NSDAP Februar 1925 – Juni 1926. Hg. von Clemens Vollnhals, München 1992, S. 1–4, hier 3; und Band 3 : Zwischen den Reichstagswahlen Juli 1928 – September 1930, Teil 1 : Juli 1928 – Februar 1929. Hg. von Bärbel Dusik / Klaus A. Lankeit, München 1994, S. 23–26, hier 24. Vgl. auch die ausführliche, mit umfangreichen Zitaten aus dem „Völkischen Beobachter“ zu dem Konflikt und Hitlers Stellung zur Religionsfrage in der NSDAP angereicherte Reaktion von Artur Dinter, Religion und Nationalsozialismus. In : Das Geistchristentum. Monatsschrift zur Vollendung der Reformation durch Wiederherstellung der reinen Heilandslehre, 1 (1928), S. 273–286. Dinter stellte seinen Ausführungen eine Aussage Hitlers voran, die beispielhaft für den Konflikt zwischen Völkisch - Religiösen und Nationalsozialismus steht : „Keine Generation hat das Recht, auf den Kampf zu verzichten, weil vorangegangene Generationen diesen Kampf noch nicht siegreich zu Ende geführt haben.“ 49 Scholder, Kirchen, Band 1, S. 122 f. 50 Zu Hitlers und Goebbels’ ( sich wandelnden ) religiösen Überzeugungen vgl. Claus - Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS - Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998; Michael Rißmann, Hitlers Gott. Vorsehungsglaube und Sendungsbewusstsein des deutschen Diktator, Zürich 2001; Richard SteigmannGall, The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity 1919–1945, New York 2003; Rainer Bucher, Hitlers Theologie, Würzburg 2008. 51 Horst Junginger, Religionswissenschaft. In : Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen - Sikora ( Hg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 52– 86, hier 74. 52 Hans G. Grosse, Die falschen Götter. Vom Wesen des Nationalsozialismus, Heidelberg 1946, S. 97 f.

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Beobachtung des Sicherheitsdienstes der SS.53 Dieser sprach den „neuheidnischen“ Gruppen jedoch aufgrund ihrer „weltanschaulichen Ausrichtung und inneren Struktur [...] eine gewisse Bedeutung im Rahmen des antichristlichen Kampfes“ zu und beschränkte sich infolge ihrer mehr oder weniger positiven Stellung zum Nationalsozialismus vornehmlich auf eine intensive Überwachung mit Hilfe eingeschleuster „V - Männer“. Die deutschchristlichen Gruppen wurden hingegen aufgrund ihrer nationalsozialistischen Gesinnung als unbedenklich eingestuft, zumal sie den Primat der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ nicht in Frage stellten.54 Erhöhte geheimpolizeiliche Aufmerksamkeit erfuhren am Ende der 1930er Jahre lediglich der Kampfring Deutscher Glaube, eine Nachfolgeorganisation der Deutschen Glaubensbewegung, und der NSoppositionelle, die Zusammenarbeit mit den anderen völkisch - religiösen Zusammenschlüssen strikt ablehnende Bund für deutsche Gotterkenntnis von Ernst und Mathilde Ludendorff.55 In der Beurteilung des SD vom Sommer 1938 hatten zu diesem Zeitpunkt die „übrigen deutschgläubigen Organisationen [...] fast jede Bedeutung verloren und treten nach Außen kaum noch in Erscheinung“.56 Die Marginalisierung der Völkisch - Religiösen seit der Mitte der 1930er Jahre war nicht zuletzt eine Folge von religiösen mit persönlichen Führungsrivalitäten verschränkten Gegensätzen zwischen den verschiedenen Gruppierungen; sie war aber auch ein Resultat der Verkennung des kompromisslosen Machtanspruchs der NSDAP.57 Das gilt insbesondere für die Deutsche Glaubensbewegung58 und andere „neuheidnischen“ Gemeinschaften.59 Die Über wachung 53 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Dierker in diesem Band. Zu den vom SD überwachten Gruppierungen vgl. die Beiträge von Peter Staudenmaier ( Antroposophen ), Marcus Meyer ( Freimaurer ) und Bernd Wedemeyer - Kolwe ( Runengymnastiker ) in diesem Band. 54 Gerstenhauer, Glaube, S. 64. 55 Vgl. den Beitrag von Bettina Amm in diesem Band. 56 Arbeitsplan der Sachgebiete : „Völkisch - religiöse Gruppen“ sowie „Okkultistische u. spiritistische Sekten, Astrologie“ von Juni 1938( BArch, R /58/6074); dort auch die Arbeitsanweisungen 1937/38 mit der Einschätzung ( Top 9/5) der „deutsch - christlichen Gruppen“. 57 Vgl. den selbstkritischen, im Privatdruck erschienenen Rückblick von Norbert Seibertz, Lebensfragmente. Handschrift für Freunde und Verwandte 1958/59, S. 35–44. Seibertz war nach seinem Austritt aus der Deutschgläubigen Gemeinschaft seit den späten 1920er Jahren ein führender Kopf in den kurzlebigen Bündnissen der Nordischen Glaubensgemeinschaft und der Nordisch - Religiösen Arbeitsgemeinschaft, nach 1933 in der Nordischen Religionsgemeinschaft und in der Nordischen Glaubensgemeinschaft. Zu seiner Person und den genannten Organisationen vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 48 f., und die weiteren Hinweise in diesem Band. 58 Vgl. die Beiträge von Horst Junginger, Ulrich Nanko und Terje Emberland in diesem Band. 59 In einem in der von der Apologetischen Centrale herausgegeben Zeitschrift „Wort und Tat“ (3/1936) unter dem Titel „Wie sag ich’s meinem Kinde ?“ abgedruckten Beitrag heißt es zur Germanischen Glaubens - Gemeinschaft nach ihrem Rückzug aus der Deutschen Glaubensbewegung im Sommer 1935 : Sie „ist seitdem nicht in besonders auffälliger Weise öffentlich in Erscheinung getreten. Sie besitzt kein literarisches Organ, keine straffe Organisation, kaum eine eigenständige Literatur. Das einzige, was man in

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durch die Staats - und Parteiorganisationen und Repressionsmaßnahmen gegen Gruppen und Einzelpersonen verengten den Aktionsradius. Der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft z. B. waren seit 1936 auf Annordnung des Politischen Polizeikommandeurs der Länder nur noch „geschlossene Mitgliederversammlungen mit persönlich geladenen Gästen gestattet“ – und verdrängten die „Neuheiden“ aus der Öffentlichkeit,60 die nun – wie schon vor 1933 – auf ihre Milieus zurückgeworfen waren. Es gelang ihnen jedoch ihre Kommunikation und Struktur soweit aufrechtzuerhalten,61 um noch während des Zweiten Weltkrieges für die Zeit danach zu planen.62 Die Reorganisation noch bestehender bzw. wiederbelebter Vereinigungen begann unmittelbar nach Kriegsende.63 Mit dem Tod der altvölkischen, „mehr oder weniger charismatischen Solitäre“64 – die Gründer der Deutschgläubigen Gemeinschaft Otto Siegfried Reuter und Ludwig Fahrenkrog starben 1945 bzw. 1952 – übernahm nach dem Krieg sukzessive eine jüngere, bereits im Nationalsozialismus aktive und teils dort ideologisch sozialisierte Generation – z. B. Bernhard Kummer, Wilhelm Kusserow und Sigrid Hunke – die Führung. In diesen Gemeinschaften, die teilweise direkt an ihre Vorläuferorganisationen anschlossen, verbanden sich wiederholt „Neuheidentum“ mit Versatzstücken der völkisch - nationalsozialistischen Ideologie. Die Deutschen Christen zogen sich nach den spektakulären Masseninszenierungen 1933 auf Druck des NS - Regimes und der sich seit 1934 organisieren-

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längeren Abständen von ihr zu lesen bekommt, sind kleine dünne Flugschriften ‚Jung deutsche Religion‘“ ( Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, CA / AC - S 154 : Germanische Glaubens - Gemeinschaft 1930–1936). Vgl. auch die Selbsteinschätzung der Deutschgläubigen Gemeinschaft in : Deutschgläubig. Eine Geschichte der Deutschgläubigen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu den zeitgenössischen völkisch - religiösen Gründungen des XX. Jahrhunderts. Hg. von der Deutschgläubigen Gemeinschaft, Band 4 : 1928–1936, o. O. 1977, bes. S. 90–92. Das Schreiben des Reichsministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten ( mit der Anordnung ) vom 23. 3. 1936 ist faksimiliert abgedruckt bei Geza von Nemenyi, Heidentum und NS - Ideologie, Berlin 1999, S. 7. Dort werden ( S. 5–11) weitere Hinweise auf Maßnahmen des NS - Staates gegen die Germanische Glaubens - Gemeinschaft und ihren Gründer Ludwig Fahrenkrog aufgeführt, die in einer kruden Verschwörungstheorie münden ( S. 13–19). Nemenyi, Heidentum, S. 10 f., zitiert aus Briefen Ludwig Fahrenkrogs aus den Jahren nach 1945, in denen dieser über Hausdurchsuchungen berichtet. Fahrenkrog berichtete jedoch noch im Jahr 1942 anlässlich seines 75. Geburtstages von einem Glückwunschtelegramm Goebbels’. Vgl. Die 75–Jahrfeier Ludwig Fahrenkrogs von ihm selbst erzählt. In : Mitteilungen der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft e. V., o. D. (1942) ( Privatbesitz Uwe Puschner ). Vgl. den Beitrag von Christoph Knüppel in diesem Band. Vgl. hierzu und zum folgenden Ulrich Nanko, Religiöse Gruppenbildung vormaliger „Deutschgläubiger“ nach 1945. In : Hubert Cancik / Uwe Puschner ( Hg.), Anti - Semitism, Paganism, Voelkish Religion / Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion, München 2004, S. 121–134. Über die Aktivitäten in den verschiedenen Gruppen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gibt ein Konvolut von hektographierten Rundschreiben der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft aus dem Jahr 1947 Auskunft ( Privatbesitz Uwe Puschner). So Ingo Wiwjorra in seinem Beitrag in diesem Band.

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den innerkirchlichen Opposition in der Bekennenden Kirche schrittweise aus der Öffentlichkeit zurück und verloren – auch aufgrund interner Konflikte – ab Mitte der 1930er Jahre als Bewegung ebenfalls zunehmend an Bedeutung.65 Sie dominierten jedoch weiterhin in den meisten Landeskirchen bis 1945 die Kirchenleitungen und rechtfertigten die NS - Judenpolitik von der Entrechtung bis zur Deportation. Wie tief der völkische Rassismus in diesem Flügel des Protestantismus verankert war, zeigte sich exemplarisch 1939 mit der Gründung des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“.66 Auch an den staatlichen Universitäten wurden die Vertreter der Deutschen Christen im Gegensatz zu den „Neuheiden“ bei Neuberufungen bevorzugt, so dass „die meisten Evangelisch - theologischen Seminare [...] unter DC - Einfluss“ gerieten.67 Die deutschchristliche Bewegung ging mit dem Nationalsozialismus unter, ihre Protagonisten und Anhänger verblieben in der evangelischen Kirche.

3.

Resümee

Die Hoffnungen der Völkisch - Religiösen 1933 auf „die Heraufkunft eines neuen Deutschen Glaubensfrühling“ erwiesen sich bald als eine illusionäre Selbsttäuschung.68 Der deutschchristliche wie auch der konkurrierende „neuheidnische“ Flügel der völkisch - religiösen Bewegung scheiterten dabei nicht nur an ihrem Unvermögen, persönliche wie religiös - weltanschauliche Gegensätze zu überwinden und die divergierenden Strömungen und Interessen zu bündeln. Sie hatten vor allem ihre Handlungsspielräume über - und mehr noch das nationalsozialistische Machtkalkül unterschätzt, auch wenn einzelne Gruppierungen und Protagonisten von maßgeblichen Akteuren des polykratischen Systems zeit-

65 Vgl. den Beitrag von Manfred Gailus in diesem Band. 66 Vgl. den Beitrag von Susannah Heschel in diesem Band. In diesem Kontext sind auch die Beiträge von Martin Leutzsch zur Konstruktion eines „arischen“ Jesus sowie von Anders Gerdmar, der die Ausstrahlung des „Entjudungsinstituts“ nach Schweden belegt, zu nennen. Die kircheninterne Diskriminierung der „nichtarischen“ Christen dokumentieren beispielhaft Eberhard Röhm / Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, 7 Teilbände, Stuttgart 1990–2006. Zum radikalen DC - Flügel vgl. Peter von der Osten Sacken ( Hg.), Das missbrauchte Evangelium. Studien zur Theorie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002; Susanne Böhm, Deutsche Christen in der Thüringer Evangelischen Kirche (1927–1945), Leipzig 2008. 67 Junginger, Religionswissenschaft, S. 61; Leonore Siegele - Wenschkewitz / Carsten Nicolaisen ( Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993. Vgl. in diesem Zusammenhang und in Hinblick auf „neuheidnische“ Protagonisten an den Universitäten die Hinweise bei Horst Junginger, Völkische Religionswissenschaft. In : Ingo Haar / Michael Fahlbusch ( Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 704–713, bes. S. 710–712; und den Beitrag von Debora Dusse in diesem Band. 68 Vgl. z. B. Ludwig Dessel, Fahrenkrog und die Germanische Glaubens - Gemeinschaft. Ein Beitrag zur geschichtlichen Treue, Leipzig 1937, S. 63.

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weise Unterstützung erfuhren. Hitler hatte mit der Neugründung der NSDAP 1925 den ideologischen und religionspolitischen Kurs festgelegt, der der völkischen Überzeugung vom Vorrang der Religion vor der Ideologie, der religiösen Einigung des Volkes in einer „arteigenen“ Religion und dem von beiden Strömungen bündig formulierten Ziel – „ein Volk, ein Reich, ein Glaube“ – keinen Raum ließ.69 Mit ihrem Anspruch, im nationalsozialistischen Staat Träger der ihm konformen Kirche oder eines neuen Glaubens sein zu wollen, gerieten sie in Konflikt mit dem totalitären Herrschaftssystem und wurden durch systematische Repression von Partei - und Regierungsstellen innerhalb weniger Jahre marginalisiert. Die völkisch - religiöse Bewegung im Nationalsozialismus kann insofern als eine komplexe Beziehungs - , vornehmlich aber als eine Konfliktgeschichte charakterisiert werden. Sie ist zugleich ein fundamentaler Baustein der vielschichtigen Religionsgeschichte des „Dritten Reiches“ und des faschistischen Europas.70

69 Günther Weigel, Vorwort. In : Was ist Irrlehre ? Rede des Reichsobmanns der Glaubensbewegung „Deutsche Volkskirche“ Dr. R[ einhold ] Krause gehalten im Saalbau Friedrichshain, Berlin am 6. Dezember 1933, o. O., o. J., S. 2, oder von „neuheidnischer“ Seite Willo Mahr, Religiöse Richtsätze für völkische Deutsche. In : Die Sonne. Monatsschrift für Nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung, 10 (1933), S. 435. 70 Vgl. in diesem Zusammenhang Horst Junginger ( Hg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden 2008; ders./ Andreas Åkerlund ( Hg.), Nordic Ideology between Religion and Scholarship, Frankfurt a. M. 2012.

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Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion des Nationalsozialismus : Kontinuität oder neue Qualität ?* Klaus Vondung

Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich hat zahlreiche Spielarten einer neuen Religiosität hervorgebracht : Glaubensgemeinschaften, die das Christentum von seinem jüdischen Erbe „reinigen“ wollten, und solche, die sich von der christlichen Religion ganz abkehrten und neue „arteigene“ Religionen stiften wollten. Die völkische Bewegung stand ideologisch und zum Teil auch personell Pate für den Nationalsozialismus; Uwe Puschner stellte in seiner grundlegenden Untersuchung zur völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich fest : „Es ist unbestreitbar, dass Zusammenhänge zwischen dem Nationalsozialismus und der völkischen Bewegung bestehen.“1 Da außer bestimmten ideologischen Zusammenhängen wie vor allem dem Antisemitismus auch der Nationalsozialismus religionsähnliche Erscheinungen aufwies, drängt sich die Frage auf : Kann völkische Religiosität mit ihrer Vielfalt an Erscheinungsformen seit 1900 als Vorläufer dessen betrachtet werden, was man als die „politische Religion“ des Nationalsozialismus bezeichnet ? Gibt es Gemeinsamkeiten ? Gibt es Unterschiede ? Uwe Puschner hat die Spannweite deutsch - christlicher, deutschgläubiger und anderer neuheidnischer Religionen im wilhelminischen Kaiserreich sorgfältig ausgemessen und deren Unterschiede differenziert herausgearbeitet. Die geläufigsten Begriffe für Spielarten der neuen Religiosität sind „nationale Religion“, „völkische Religion“, „arteigene Religion“, „deutsche Religion“, „germanische Religion“. Diese Bezeichnungen sind primär Begriffe der Selbstinterpretation. *

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Veränderte Fassung eines Vortrags, den ich an der Université de Strasbourg am 17. Juni 2011 im Rahmen des internationalen Kolloquiums „La ‚Lebensreform‘ ou La dynamique sociale de l’impuissance politique“ gehalten habe und dessen ursprüngliche Fassung in einem aus diesem Kolloquium her vorgehenden französischen Sammelband erscheinen wird. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 9. Noch zugespitzter postuliert Stefan Breuer, „jede Rekonstruktion“ der völkischen Bewegung stehe „vor der Aufgabe, die völkische Bewegung auf den Nationalsozialismus zu beziehen“ ( Stefan Breuer : Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, 2. Auf lage Darmstadt 2010, S. 7). Allerdings will Breuer der religiösen Grundierung der völkischen Bewegung keine besondere Bedeutung beimessen, deshalb stehen die im Folgenden aufgeworfenen Fragen nicht im Zentrum seines Interesses ( ebd. S. 10 f.).

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Demgegenüber sind die Bezeichnungen „säkulare Religion“ und „politische Religion“ Begriffe der Fremdzuschreibung; sie treten mit dem Anspruch auf, analytische Kategorien zu sein, die das Wesen der angesprochenen Phänomene zu fassen vermögen. Die Begriffe der „säkularen“ oder „politischen Religion“ wurden während der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit den totalitären Regimen in die politische Diskussion eingeführt.2 Der Begriff „totalitär“ war seinerseits ein Neologismus, den der italienische Emigrant Luigi Sturzo in die englische Terminologie einbrachte und schon 1926 vom italienischen Faschismus auf den Bolschewismus übertrug. Nach 1933 gebrauchten englische Publizisten den Begriff dann auch für den Nationalsozialismus. Der Totalitarismus - Begriff sollte nicht nur die besondere staatliche Organisation der diktatorischen Regime bezeichnen, sondern vor allem die Tatsache, dass diese Regime über den „ganzen Menschen“ verfügen wollten. Die Feststellung, dass totalitäre Regime auch in die spirituellen Sinnbezüge des Einzelnen eingriffen und dadurch die Trennung von Religiösem und Säkularem aufhoben, legte den Grund für die Deutung, dass die totalitären Regime ihrerseits den Charakter einer Religion annahmen, einer „säkularen Religion“. In den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs wurde der Begriff der „säkularen Religion“ mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung gebraucht wie derjenige der „politischen Religion“, und zwar von Wissenschaftlern, die sich auch dem Deutungskonzept des Totalitarismus verschrieben hatten : Fritz Morstein Marx, Hans Kohn, Franz Borkenau, Sigmund Neumann, Raymond Aron und andere. Der italienische Historiker Emilio Gentile hat gezeigt, dass das Konzept der „politischen Religion“ nicht nur ein Instrument wissenschaftlicher Analyse war, sondern von den Feinden des Totalitarismus gebraucht wurde, um ein neuartiges und äußerst bedrohliches politisches Phänomen terminologisch dingfest zu machen, ein Phänomen, zu dessen Bezeichnung die Begriffe der traditionellen politischen Sprache – Ideologie, Diktatur, Tyrannei, Despotie – unzureichend erschienen.3 Die am weitesten reichende Folgewirkung für die Interpretation des Nationalsozialismus als politische Religion hatte Eric Voegelins Buch „Die politischen Religionen“ von 1938.4 Emilio Gentile hat zwar gezeigt, dass der Begriff schon 2

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Zur Geschichte dieser Begriffe vgl. Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs - und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999; Emilio Gentile, Le religioni della politica : Fra democrazie e totalitarismi, Rom 2001; engl. Übersetzung : Politics as Religion, Princeton 2006, bes. S. 1–4; ders., Political Religion : A Concept and its Critics – A Critical Survey.In : Totalitarian Movements and Political Religions, 6 (2005) 1, bes. S. 25–28; Clemens Vollnhals, Der Totalitarismusbegriff im Wandel des 20. Jahrhunderts. In : Bohemia, 49 (2009) 2, S. 385–398. Siehe auch meine entsprechenden Ausführungen zu den Begriffen „säkulare“ und „politische Religion“ in meinem Aufsatz „Debatten um den Holocaust und das Deutungskonzept der ‚politischen Religion‘“. In : Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 40 (2010) H. 157, S. 9–22, bes. 12 f. Gentile, Political Religion, S. 25 f. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938, 2. Auf lage Stockholm 1939.

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Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion

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früher erscheint,5 aber Voegelin war der erste, der den Begriff zu einem Konzept historischer, politikwissenschaftlicher und sogar psychologischer Analyse entwickelte. Die Interpretationsmöglichkeiten, die dieses Konzept eröffnete, erwiesen sich als fruchtbar und wurden während der vergangenen Jahrzehnte weiterentwickelt.6 Fassen wir die Ergebnisse ins Auge, die entsprechende Interpretationen gezeitigt haben, und vergleichen wir sie mit dem, was wir dank Uwe Puschner und anderen Erforschern der völkischen Religiosität im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik wissen, so können wir nun die Fragen nach Kontinuitäten, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden verfolgen. Betrachten wir zunächst die Unterschiede. Der wichtigste Unterschied wurde schon genannt : Die oben erwähnten Bezeichnungen der Selbstinterpretation völkischer religiöser Gruppierungen lassen erkennen, dass sich diese Gruppierungen selbst als religiös verstanden und sich dazu bekannten, eine Religion bzw. religiöse Bewegung zu sein. Uwe Puschner hat die Kontroversen und inhaltlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Glaubensbewegungen, was deren religiöses Selbstverständnis anlangt, sorgfältig herausgearbeitet, vor allem auch den grundsätzlichen Unterschied zwischen deutsch - christlichen Gemeinschaften, die an einem „arisierten“ Christentum festhielten, und neuheidnischen Gruppierungen, die sich vom Christentum völlig abwandten und eine germanische Religion wiederbeleben wollten.7 Doch ungeachtet dieser Unterschiede und weiterer Nuancen kommt Puschner zu dem Ergebnis, dass generell die Religion „der ‚archimedische Punkt‘ der völkischen Weltanschauung“ war.8

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Gentile, Politics as Religion, S. 2 ff., 55. Vgl. vor allem Michael Ley / Julius H. Schoeps ( Hg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997; Hans Maier ( Hg.), Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktatur vergleichs, Paderborn 1996; ders. / Michael Schäfer (Hg.), Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktatur vergleichs. Band 2, Paderborn 1997; ders. ( Hg.), Totalitarismus und politische Religionen. Band 3: Deutungsgeschichte und Theorie, Paterborn 2003; Claus - Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS - Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998, 2., vollst. überarb. Auf lage München 2002; Michael Ley / Heinrich Neisser / Gilbert Weiss ( Hg.), Politische Religion ? Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voegelin, München 2003; Roger Griffin / Robert Mallett / John Tortorice ( Hg.), The Sacred in Twentieth - Century Politics. Essays in Honour of Professor Stanley G. Payne, Houndmills 2008. Vgl. auch Gentile, Politics as Religion; Vondung, Debatten um den Holocaust; sowie die Zeitschrift „Totalitarian Movements and Political Religions“. Hg. von Michael Burleigh, Emilio Gentile und Robert Mallett, Milton Park, Abingdon 2000 ff. Neben Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, siehe vor allem auch ders., Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In : zeitenblicke, 5 (2006) 1 ( http ://www.zeitenblicke.de /2006/1/ Puschner / index.html; letzter Zugriff : 22. 6. 2011). Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, S. 17. Damit fügt sich die völkische Bewegung in die allgemeinen kulturpolitischen Diskurse der Zeit um 1900, in denen sich „keine kulturellen Phänomene oder menschlichen Lebensvollzüge

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Demgegenüber hat der Nationalsozialismus nicht für sich in Anspruch genommen, eine Religion zu sein oder auch nur religiösen Charakter zu haben. Hitler betonte schon in „Mein Kampf“, die Aufgabe der nationalsozialistischen Bewegung sei „nicht die einer religiösen Reformation, sondern die einer politischen Reorganisation unseres Volkes“;9 und er wandte sich gegen die Schwärmereien „deutschvölkischer Wanderscholaren“.10 Nach 1933 gaben sich die Führungsorgane der Partei Mühe, uner wünschte „NS - Religiosität“ auszumerzen. Wahrscheinlich waren es völkisch - religiöse Gruppierungen, die in der NSDAP aufgingen und in den ersten Jahren nach 1933 vaterländische Feierstunden als „Thing - “ oder „Weihehandlungen“ veranstalteten, „braune Taufen“ und andere „kultische Handlungen“ durchführten. Zunächst sah sich Goebbels veranlasst, gegen solche Erscheinungen vorzugehen. Bei der Propagandaleitertagung auf dem Reichsparteitag 1935 warnte er vor „falschem Übereifer“, „d. h. hier : in den luftleeren Raum hinein ‚kultische Handlungen‘ zu konstruieren und möglichst viel mit Begriffen wie ‚Kult‘, ‚Thinghandlung‘ usw. in Zeitungsartikeln um sich werfen“.11 Im selben Jahr noch wurden durch das Propagandaministerium und zugleich durch die Presseabteilung der Reichsregierung konkrete Sprachregelungen herausgegeben : „Aus der deutschen Presse müssen endlich die unklaren, mystischen Begriffe wie ‚Thing‘, ‚Kult‘, ‚kultisch‘ usw. verschwinden, soweit sie in Verbindung mit dem Wesen und der Idee des Nationalsozialismus gebracht werden.“12 Schließlich wurde das Problem durch Hitler selbst erledigt; auf der Kulturtagung des Reichsparteitages 1938 führte er aus : „Der Nationalsozialismus ist eben keine kultische Bewegung, sondern eine ausschließlich aus rassischen Erkenntnissen erwachsene völkisch - politische Lehre. In ihrem Sinne liegt kein mystischer Kult, sondern die Pflege und Führung des blutbestimmten Volkes.“13 Natürlich war dies eine Schutzbehauptung. Im „Dritten Reich“ gab es eine Vielfalt von kultischen Zelebrationen, deren Ritual z. T. von Hitler selbst festgelegt wurde. Dieser Kult und andere Charakteristiken der nationalsozialistischen Ideologie lassen es gerechtfertigt erscheinen, den Begriff der Religion auf den

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identifizieren [ lassen ], die nicht mit der Religionsthematik in Verbindung gebracht werden könnten“. So Friedrich Wilhelm Graf, Alter Geist und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900. In : Ute Frevert ( Hg.), Das neue Jahrhundert : Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 188. Adolf Hitler, Mein Kampf, 349.–351. Auf lage München 1938, S. 379. Ebd., S. 395 f. Vorschläge der Reichspropagandaleitung zur nationalsozialistischen Feiergestaltung. Nur für Dienststellen der Partei bestimmt. Gesamtverantwortlich : Fritz Kaiser, München Okt. 1935, 1/20. Zit. nach Cornelia Berning, Die Sprache des Nationalsozialismus. In : Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, 18. Band, 3. Band NF (1962), S. 166 f. Der Parteitag Großdeutschland vom 5.–12. September 1938. Offizieller Bericht über den Verlauf des Parteitages mit sämtlichen Kongressreden, München 1938, S. 81 ( Hervorhebung im Original gesperrt ). Weitere Nachweise siehe Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 42 f.

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Von der völkischen Religiosität zur politischen Religion

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Nationalsozialismus anzuwenden. Hitlers „politische Religion“ hatte jedoch mit der völkischen insofern nichts zu tun, als sie nicht rückwärtsgewandt war; auf dem Reichsparteitag 1934 wandte er sich noch einmal entschieden gegen die völkischen „Rückwärtse“.14 Rosenberg und Himmler, die mit ihrem Hang zur Mystik, zu Ordensvorstellungen und zur Verklärung germanischer Vergangenheit eher in der Tradition völkischer Religiosität standen, wurden in diesem Punkt von Hitler nicht ernst genommen und bestimmten – von der SS vielleicht abgesehen15 – nicht die sozialdominante politische Religion des „Dritten Reichs“. Diese Religion war, im Gegensatz zur völkischen, modern, zweckrational, instrumentell. Das heißt : die ideologische Indoktrination, die Unter werfung der Gefolgsleute unter den politischen Willen der Führer und die Verpflichtung zu bedingungslosem Gehorsam konnten in den Zelebrationen der nationalsozialistischen politischen Religion besonders effektiv verfolgt werden : Vereidigungen und die Weihe von Fahnen und Standarten fanden ihren Höhepunkt in „Glaubensbekenntnissen“; Massenversammlungen vermittelten das Gefühl, Glied einer großen Gemeinschaft Gleichgläubiger zu sein; nächtliche Feierstunden mit generalstabsmäßig geplantem Ritual und raffinierter Lichtregie – wie auf den Reichsparteitagen – wurden „wie eine große Andacht“ erlebt.16 Bevor ich nun nach den Gemeinsamkeiten mit völkischen Religionen frage, noch eine kurze Bemerkung zu einem weiteren Unterschied : Die deutschgläubigen, germanischen und ähnliche neuheidnische Glaubensgemeinschaften im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatten meist sehr kleine Mitgliederzahlen.17 Die Mitgliedschaft war freiwillig; die Mitglieder waren von ihrem neuen Glauben überzeugt. Selbstverständlich gab es auch unter den Nationalsozialisten „gläubige“ Anhänger, die aus Überzeugung der NSDAP beitraten, sogar in großer Zahl. Darüber hinaus jedoch war es das Ziel der nationalsozialistischen Führung, das ganze deutsche Volk zu indoktrinieren. Um dieses Ziel zu erreichen, konnten im „Dritten Reich“ die Machtmittel von Staat und Partei eingesetzt werden. Fürs erste wurden die Mitglieder der Partei und der Parteigliederungen bei allfälligen Vereidigungen und Verpflichtungsfeiern angehalten, „Bekenntnisse“ zum Nationalsozialismus abzulegen. Die Partei werde, so Hitler auf dem Reichsparteitag 1934, „einen Staat politischer Apos14

Der Kongreß zu Nürnberg vom 5. bis 10. September 1934. Offizieller Bericht über den Verlauf des Reichsparteitages mit sämtlichen Reden, München 1934, S. 103. 15 Vgl. hierzu Vondung, Magie und Manipulation, S. 59, 81, 85, 98 f.; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, 2. Auf lage München 2010, S. 265–308. 16 Bericht über den Appell der politischen Leiter auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am 10. 9. 1937 im „Niederelbischen Tageblatt“ vom 12. 9. 1937. Zit. nach Hans - Jochen Gamm, Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion. Ein Beitrag zur politischen Bildung, Hamburg 1962, S. 55 f. Grundsätzliches zum nationalsozialistischen Kult als Artikulationsform einer politischen Religion bei Vondung : Magie und Manipulation. 17 Nach Uwe Puschners Recherchen „zählte der nichtchristliche Flügel der völkischreligiösen Teilbewegung 1914 rund tausend Anhänger“, 1924 weniger als 5 000 Anhänger (Weltanschauung und Religion, S. 15).

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tel und Streiter ausbilden“, bis dann auch vom ganzen Volk die Ablegung des „Bekenntnisses : ‚Ich glaube‘“ verlangt werden könne.18 Das heißt also, dass die Absicht bestand, den Nationalsozialismus als politische Religion gleichsam zur Staatsreligion zu machen; bei einem siegreichen Kriegsende hätte dies auch machtpolitisch durchgesetzt werden können. So weit kam es bekanntlich nicht, aber die Intention bestand. Und in dieser Hinsicht kann man eine erste Gemeinsamkeit zwischen völkischen Religionen und politischer Religion des Nationalsozialismus feststellen : eine Gemeinsamkeit der Intention. Auch die Völkischen, sowohl die deutsch - christlichen wie die neuheidnischen Gemeinschaften, wollten die Religionsspaltung in Deutschland überwinden und strebten eine einige, gemeinsame Religion für alle Deutschen an. Schon Paul de Lagarde hatte eine deutsche „Nationalreligion“ propagiert, als Antwort auf die „tiefe Sehnsucht nach einem alle Deutschen tief innerlich bindenden und miteinander versöhnenden deutschen Glauben“.19 Die wichtigste inhaltliche Gemeinsamkeit von völkischer Religion und politischer Religion des Nationalsozialismus – und in diesem Punkt kann man nun sicher auch von Kontinuität sprechen – war die Erhebung des „Volks“ bzw. der „Rasse“ zu einer „heiligen“ Entität und zum zentralen Glaubensinhalt. Uwe Puschner hat an zahlreichen Beispielen gezeigt, dass – „wie alle Völkischen“ – „auch die Religionspropheten der Bewegung auf dem Boden von ‚Rasse und Blut‘“ standen und eine „Rassereligion“ propagierten.20 Der heilige Mittelpunkt der nationalsozialistischen politischen Religion war ebenfalls die Rasse bzw. das „Blut“, das sich im gleichfalls sakralisierten „Volk“ verkörpert. Diese Glaubenswahrheit wurde in Schriften und Ansprachen der nationalsozialistischen Führer und in den kultischen Veranstaltungen verkündet und zog entsprechende Glaubensbekenntnisse nach sich. In einer Verpflichtungsfeier für die HJ z. B. fordern Herolde dazu auf, die geschauten Glaubenswahrheiten zu verkünden : „Sprecht, was ihr saht, und kündet, was ihr glaubt, dass wir bekennen, was wir glauben sollen.“ Es folgen die Verkündigungen und anschließend das von allen gesprochene Glaubensbekenntnis : „Wir glauben an das Blut [...]. Wir glauben an das Volk.“21 Die Rassereligion sowohl der Völkischen wie der Nationalsozialisten war dezidiert antisemitisch. Es erübrigt sich fast zu sagen, welche Bedeutung im Nationalsozialismus dem „Glauben“ beigemessen wurde, von Hitler selbst schon in „Mein Kampf“ und in vielen seiner Ansprachen,22 und natürlich in den kultischen Zelebrationen, bei denen der Glaube bekannt wurde. Und selbstverständlich spielte der „Glaube“ auch in den völkischen Religionen eine wichtige Rolle, wie schon die Selbst18 19 20 21 22

Der Kongreß zu Nürnberg vom 5. bis 10. September 1934, S. 211. Zit. nach Graf, Alter Geist und neuer Mensch, S. 198. Puschner, Die völkische Bewegung im deutschen Kaiserreich, S. 17, 204–207. Eberhard Wolfgang Möller, Die Verpflichtung, Berlin 1936, S. 7, 8, 13. Hitler, Mein Kampf, S. 417 f.; vgl. die Ansprache auf dem Reichsparteitag 1934 in : Der Kongreß zu Nürnberg vom 5. bis 10. September 1934, S. 27.

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bezeichnungen vieler Gruppierungen verraten : Deutschgläubige Gemeinschaft, Germanische Glaubens - Gemeinschaft, Deutsche Glaubensbewegung. Ich komme zu einer weiteren Gemeinsamkeit, die zugleich ein grundlegendes Charakteristikum der säkularen Religionen ist; dieses Charakteristikum kann sogar die Entstehung der säkularen Religionen erklären. Ich meine das Erlösungsbedürfnis, das sich in allen diesen neuen religiösen Bewegungen ausdrückte, und ich meine die Erlösungsangebote, die sie in unterschiedlicher Weise machten. Zunächst ist festzuhalten, dass der Begriff „Erlösung“ immer wieder in einschlägigen Verlautbarungen auftaucht, sei es in Glaubensbekenntnissen wie dem der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft von 1913,23 sei es in Visionen vom Erlösung bringenden Führer, wie sie der nationalsozialistische Lyriker Gerhard Schumann in Verse brachte : „Die Millionen beugten sich ihm schweigend. Erlöst. Der Himmel flammte morgenbleich. Die Sonne wuchs. Und mit ihr wuchs das Reich.“24 Aber was ist mit „Erlösung“ gemeint ? Offensichtlich hatten die Adepten der neuen Religionen unterschiedliche Erlösungser wartungen. Gemeinsam war ihnen lediglich, dass die erhoffte Erlösung innerweltlich verstanden wurde und vielfach auch als Selbsterlösung. So notierte der einflussreiche Verleger Eugen Diederichs, „genialischer Vermarkter aller antibürgerlichen neuen religiösen Sinnsucher und - stifter“,25 1892 : „Der Mensch erlöst sich selbst, das ist die neue Religion.“26 Der Maler und Dichter Ludwig Fahrenkrog, Gründer der neuheidnischen Germanischen Glaubens - Gemeinschaft, proklamierte 1921 : „Ich künde Euch die Selbsterlösung.“27 Und wenn die Erlösung vom Führer Adolf Hitler erwartet wurde, so war dieser Erlöser doch der Repräsentant der Gemeinschaft, deren Mitglied man kraft gleichen Blutes selbst war. Von den zahlreichen Spielarten der Erlösungshoffnung seien die wichtigsten genannt. Die am weitesten reichende war wohl die Hoffnung auf „deutsche Wiedergeburt“, wie sie Ernst Hunkel, Miteigentümer der Zeitschrift „Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt“, vor dem Ersten Weltkrieg propagierte.28 Offensichtlich war unter „deutscher Wiedergeburt“ mehr zu verstehen als ein politisches Ziel; das Deutsche Reich präsentierte sich ja vor dem Ersten Weltkrieg in wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, militärischer und territorialer Hinsicht in nicht gerade schlechtem Zustand. Nach dem verlorenen Krieg war es

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Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, S. 251. Gerhard Schumann, Die Lieder vom Reich, München 1936, S. 20. Graf, Alter Geist und neuer Mensch, S. 218. Zit. nach Justus H. Ulbricht, „... in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit ...“ Aspekte einer Problemgeschichte „arteigener“ Religion um 1900. In : Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 23. 27 Zit. nach ebd., S. 27. 28 Zit. nach Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, S. 203.

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plausibler, auf „nationale Wiedergeburt“ zu hoffen.29 Und Gerhard Schumanns Hoffnung auf Erlösung in einem „wachsenden Reich“ war sicher ebenfalls politischer Natur. Doch in allen Fällen ging die Erlösungshoffnung über das Politische hinaus. Schlaglichtartig wird dies an dem Slogan des 1911 gegründeten Deutschen Schafferbundes deutlich : „Für deutschvölkische Einheit, Reinheit und Feinheit !“30 Die Hoffnung auf Einheit drückte wohl das Verlangen nach Überwindung von Klassenschranken, Parteigegensätzen und anderen Erscheinungen gesellschaftlicher Partikularisierung aus, aber auch nach einer einheitlichen, gemeinsamen Religion. Der Begriff „Reinheit“ ist mehrdeutig; die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten verweisen auf weitere Inhalte der Erlösungshoffnung. Da ist zunächst die sittliche Reinheit, die von moralischem Verfall und Dekadenz erlösen sollte. In diesem Sinne proklamierte z. B. Max Robert Gerstenhauer, nach dem Ersten Weltkrieg Bundesgroßmeister des völkischen Deutschbundes, die „geistig - sittliche Erneuerung und Wiedergeburt des deutschen Volkes“ auf der Grundlage einer „germanisch - religiösen Reform“.31 Wichtiger noch war zweifellos die rassische Reinheit, deren Vorstellung antisemitisch fundiert war. Das erlösende Ziel sollte durch eugenische Maßnahmen herbeigeführt werden, aber auch durch „reine“ Lebensführung. Und im Bereich der Lebensführung ver weist Reinheit auf Hygiene, Gesundheit, Körperkultur. In manchen völkischen Gruppierungen wie auch in Zirkeln der Lebensreformbewegung hatte die Körperkultur in ihren verschiedenen Ausprägungen – Freikörperkultur, Vegetarismus, Atemübungen, besondere Formen der Gymnastik wie „Runengymnastik“, etc. – durchaus den Stellenwert religiöser Selbsterlösung.32 Nur der Vollständigkeit halber : Die „Feinheit“ des Schafferbund - Slogans war wohl eher dem Reim geschuldet. Der Nationalsozialismus versprach, dieselben Erlösungshoffnungen zu befriedigen, wie sie die Völkischen gehegt hatten. „Einheit“ sollte hier durch die homogene „Volksgemeinschaft“ hergestellt werden – ein politisches Erlösungsangebot, das unverkennbar religiöse Obertöne aufwies. „Reinheit“ war – ebenso wie bei den Völkischen – die rassistisch verstandene Reinheit des Bluts; im „Dritten Reich“ konnten eugenische Maßnahmen, vor allem aber die „Ausmerzung“ der Juden machtpolitisch durchgesetzt werden. „Reinheit“ im Bereich der Körperkultur, durch Hygiene und Gymnastik, wurde besonders gepflegt im Werk „Glaube und Schönheit“ des Bundes deutscher Mädel ( BdM ) – im Titel dieses Werks klangen erneut die religiösen Obertöne an.

29 So der Alldeutsche und Antisemit Max Robert Gerstenhauer 1920. Zit. nach ebd. 30 Zit. nach ebd., S. 240, 242. 31 Max Robert Gerstenhauer, Was ist Deutsch - Christentum ?, 2. Auf lage Berlin - Schlachtensee 1930, S. 4. Zit. nach Puschner, Weltanschauung und Religion, S. 8. 32 Vgl. Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, S. 205, 232; Ulrich Linse, Mazdaznan – die Rassenreligion vom arischen Friedensreich. In : Schnurbein / Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne, S. 268–291, bes. 283; Bernd Wedemeyer, Runengymnastik : Zur Religiosität völkischer Körperkultur. In: ebd., S. 367–385.

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Bleibt die Bankettfrage : Woher kommt das Erlösungsbedürfnis der Propheten neuer Religionen und ihrer Anhänger ? Wie war es motiviert ? Die Ziele, auf die sich die Erlösungshoffnungen richteten, bzw. die Erlösungsangebote, die von den religiösen Führern gemacht wurden, erlauben Rückschlüsse auf die Defizienzerfahrungen, die das Verlangen nach Erlösung in Gang setzten. Solche Defizienzerfahrungen wurden von den Zeitgenossen auch expressis verbis genannt. Da war das Gefühl, „in einer verstandesnüchternen, sich realistisch nennenden Zeit der Gottverlassenheit“ zu leben, „mit instinktiver, unausgesprochener Sehnsucht nach religiöser Erneuerung“ – so Eugen Diederichs.33 Die Kirchen hatten mit ihren Sinnangeboten an Verbindlichkeit verloren; dies galt vor allem für den kirchlichen Protestantismus, aus dem sich die meisten Anhänger der neuen Religionen rekrutierten. Die „verstandesnüchterne Zeit“, Rationalismus also, sowie der Materialismus der modernen industrialisierten Gesellschaft veranlassten die Sehnsucht nach neuer Geborgenheit. Das Verlangen nach völkischer Einheit verrät die als Defizienz erfahrene Differenzierung und Partikularisierung der Gesellschaft. Das Streben nach Natürlichkeit und gesunder Lebensführung war Reaktion auf das Unbehagen, das Verstädterung und Technisierung hervorriefen. Justus H. Ulbricht hat den gesamten Motivationskomplex auf den Nenner eines „tief liegenden, pauschalen Unbehagens an der Modernität“ gebracht; dies grundlegende Unbehagen an der Moderne verweise auf ein „strukturelles Sinndefizit moderner Gesellschaften“.34 Andere Erforscher der völkischen Bewegung kommen zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen. Allerdings war die völkische Modernismus - Kritik insofern ambivalent, als sie bestimmte Erscheinungen der Moderne zur Voraussetzung hatte, gerade auch im Bereich der neuen Religiosität. Die Individualisierung der Frömmigkeit, vor allem im Protestantismus durch den Pietismus schon seit dem 18. Jahrhundert, eröffnete heterodoxe, schließlich nicht - christliche Wege der Heilssuche; zugleich machte die geschwundene Verbindlichkeit der Kirchen Platz für neue religiöse Gemeinschaften.35 Versuchen wir auf die Frage, wie denn das Erlösungsverlangen zustande kam, noch etwas konkretere Antworten zu bekommen. Die neuen säkularen Religionen waren überwiegend ein Intellektuellen - Phänomen, vor allem was die Propheten dieser Religionen anlangt. Es waren Intellektuelle, die das formulierten und propagierten, was Uwe Puschner „Erlösungslehre“ genannt hat.36 Diese Erlösungslehren waren – zumindest zu einem wichtigen Teil, so unterstelle ich – die Auslegungen und spekulativen Verarbeitungen motivierender Erfahrungsanlässe. Es wäre interessant, über diese Erfahrungsanlässe noch etwas mehr herauszubekommen. 33 Zit. nach Ulbricht, „... in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit ...“, S. 9. 34 Ebd., S. 10. 35 Vgl. auch Ulrich Linse, Säkularisierung oder neue Religiosität ? Zur religiösen Situation in Deutschland um 1900. In : Recherches Germaniques, 27 (1997), S. 117–141. 36 Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, S. 17; vgl. zu den „Religionsintellektuellen“ Graf, Alter Geist und neuer Mensch, S. 199.

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Max Weber hat über das spezifische Erlösungsverlangen der Intellektuellen aufschlussreiche Beobachtungen angestellt : „Stets ist die Erlösung, die der Intellektuelle sucht, eine Erlösung von ‚innerer Not‘ und daher einerseits lebensfremderen, andererseits prinzipielleren und systematischer erfassten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den nicht privilegierten Schichten eignet. Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden ‚Sinn‘ zu verleihen, also ‚Einheit‘ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der ‚Welt‘ als eines ‚Sinn‘ - Problems vollzieht.“37 Freilich ist die äußere Not, so ließe sich ergänzen, nicht nur materielle Not; es kann auch die Not der Nation sein, die viele Intellektuelle nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg verinnerlichten, gleichsam zur „inneren Not“ machten. Sie verquickten ihre persönliche Sinnsuche mit dem Sinn - Problem der Nation und legten diese Sinnsuche für sich selbst als religiöse Suchbewegung, als Erlösungsverlangen aus. Der Jugendbewegte und Laienspielführer Rudolf Mirbt z. B. führte 1923 in einem Vortrag vor dem Jugendring München aus : „Dass kein Volk ist, erfuhren junge Menschen ! [...] Dass kein Volk ist, und so keine Bindung, nicht zu Gott und nicht zu den Menschen. [...] Da wir Menschen einer ungläubigen, religionslosen, verkirchlichten Zeit sind, die das Beten verlernt hat, wollen wir uns nicht in Mysterien einlullen, die wir heute eben nicht verstehen. Wir wollen nach Gott schreien. Haben wir den Mut zu bekennen, dass uns da Kirche und Liturgie vielleicht von ihm fernhalten !“38 In ähnlicher Weise beklagte Eugen Diederichs 1929, „dass wir religiös, fast möchte ich sagen mitten in einem Nichts, in einem Katzenjammergefühl der Entwurzelung“ stehen. Er hoffte jedoch, dass die „Sehnsucht nach religiöser Erneuerung“ außerhalb der Kirchen ein neues „religiöses Ethos“ für die „kommende Volksgemeinschaft“ schaffen werde.39 Der Schriftsteller Hanns Johst formulierte 1928 besonders eindrucksvoll die innere Not des Intellektuellen : „Wir treiben alle im rasenden Wirbel unfassbaren Getriebes“, so seine Empfindung; er beklagte den „ununterbrochenen, aufreibenden täglichen und alltäglichen Existenzkampf“ und die „verzerrte Wirklichkeit des Tages“, und es verlangte ihn, in der „Gemeinschaft Gleichgesinnter, Gleichgestimmter, Gleichgläubiger“ aufzugehen.40 Sein Erlösungsverlangen extrapolierte er zum religiös ausgelegten Sinn - Problem der Nation : „Die Not, die Verzweif lung, das Elend unseres Volkes braucht Hilfe. Und Hilfe kommt letzten Endes und tiefsten Sinnes nicht aus Betteleien an Banknoten der Hoch-

37 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Auf lage, besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe Tübingen 1972, S. 307 f. 38 Rudolf Mirbt, Laienspiel. In : ders., Laienspiel und Laientheater. Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1923–1959, Kassel 1960, S. 9, 15. 39 Zit. nach Ulbricht, „... in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit ...“, S. 9. 40 Hanns Johst, Ich glaube ! Bekenntnisse, München 1928, S. 75.

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valuta, sondern die Hilfe kommt aus der Wiedergeburt einer Glaubensgemeinschaft.“41 Ähnlich wie Johst litt auch der junge Joseph Goebbels an innerer Not und der Unzulänglichkeit der Welt zugleich, wie er in seinen Tagebuchaufzeichnungen 1925/26 festhielt : „O, diese entsetzliche Welt !“ „Trostlose Einsamkeit. Ich stehe vor der Verzweif lung.“ „Alle sind Canaillen, ich eingeschlossen.“ Und dann das Verlangen nach Erlösung : „Wann werden wir erlöst werden ?“ „Wann werde ich armer Teufel erlöst !“42 Die Antwort entwarf Goebbels in seinem Roman „Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“; es ist das wohlbekannte Projekt der Selbsterlösung. Der Titelheld, hinter dem sich der Autor kaum verbirgt, proklamiert : „Ich bin ein Held, ein Gott, ein Erlöser.“ „Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin ein Titane. Ein Gott !“ „Ich habe mich selbst erlöst.“43 Im „Dritten Reich“ konnte Goebbels, gemeinsam mit seinem Führer, dieses Erlösungsprojekt für sich selbst und für das deutsche Volk durchsetzen, zumindest eine Zeitlang. Die „innere Not“ der Intellektuellen hat viele Facetten. Eine davon ist die Frustration über mangelnde Anerkennung. Alexandre Kojève sah – an Hegel anschließend – den maßgeblichen Antrieb menschlichen Handelns im Streben nach Anerkennung.44 Für Intellektuelle ist dieser Antrieb besonders stark; umso frustrierender ist die Erfahrung, wenn die Anerkennung ausbleibt. Diejenigen, deren Defizienzerfahrung stark genug ist, nehmen oft Zuflucht zu Projektionen, um sich größer zu machen, stilisieren sich vielleicht sogar zu Erlösern oder zumindest zu Führern und Propheten eines Erlösungsprojekts.45 Die Ariosophen Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels legten sich ihre Adelsprädikate selbst bei, sie konstruierten für sich Stammbäume, gründeten Orden mit ausgefeilter Hierarchie, um sich und ihre Anhänger von der Masse der Minderwertigen, vor allem der rassisch Minderwertigen abzusetzen.46 Auch bei Paul de Lagarde darf man als Motiv für den Namenswechsel das Verlangen nach Selbstveredelung vermuten. Erst mit 28 Jahren nahm er diesen Namen an, indem er sich von seiner Großtante mütterlicherseits adoptieren ließ.47 41 Ebd., S. 36. 42 Das Tagebuch von Joseph Goebbels 1925/26. Hg. von Helmut Heiber, 2. Auf lage Stuttgart 1961, S. 20, 25, 47, 83. 43 Joseph Goebbels, Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, 13. Auf lage München 1938, S. 116, 127, 147. Ausführlicher hierzu Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 465–468. 44 Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel, Séconde Édition Paris 1968, S. 434–437 ( Anm.); hierzu auch Martin Meyer, Ende der Geschichte ?, München 1993, S. 106; und generell Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. 45 Vgl. Ulbricht, „... in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit ...“, S. 17. 46 Zu Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels vgl. vor allem Nicholas Goodrick Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 2004, S. 36–48, 83–109. 47 Ina Ulrike Paul, Paul Anton de Lagarde. In : Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996,

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De Lagarde klang einfach vornehmer als Bötticher. Julius Langbehn legte sich zwar kein Adelsprädikat bei, aber sein Buch „Rembrandt als Erzieher“ kreist um ein diffuses Adelsideal, für das Rembrandt steht und das Langbehn gegen die Massengesellschaft seiner Zeit stellt. Hans Thoma, der Langbehn porträtierte, schrieb ihm einen „bis ins Starre gehenden Aristokratismus“ zu.48 Unter verletztem Stolz litt Langbehn außerdem wegen der ausbleibenden akademischen Anerkennung, ebenso wie Guido von List. Auch Lagarde hatte Schwierigkeiten, akademische Anerkennung zu gewinnen; nach seiner Habilitation dauerte es 18 Jahre bis zu seiner Berufung auf eine Universitätsprofessur für orientalische Sprachen. Unter den Propheten der nationalsozialistischen politischen Religion ist Joseph Goebbels ein Paradebeispiel für jemand, der geradezu süchtig war nach öffentlicher Anerkennung und der zugleich, als er Mitte der 1920er Jahre noch bar jeglicher Anerkennung war, nach Erlösung jammerte.49 Hanns Johst ist ein ähnlicher Fall : Vor 1933 ein drittklassiger Schriftsteller, der literarisch - religiöse Erlösungsprojekte entwarf, und der sich nach 1933 selbst erlöste, wenn man so will, als Preußischer Staatsrat, Präsident der Reichsschrifttumskammer, Präsident der Deutschen Akademie der Dichtung, Reichskultursenator und SS - Brigadeführer.50 Dass es Heinrich Himmler versagt blieb, zum Ende des Ersten Weltkriegs Offizier zu werden,51 war sicher Anlass für mancherlei Kompensationshandlungen. Adolf Hitler war zwar kein Intellektueller im strengen Sinn, doch die Frustration, nicht in die Wiener Kunstakademie aufgenommen zu werden, war ohne Zweifel ein Stachel mit Folgewirkung. Eric - Emmanuel Schmitt hat in Romanform darüber spekuliert, was geschehen wäre, wenn Hitler die Aufnahmeprüfung in die Kunstakademie bestanden hätte und wenn er anschließend auch noch in die Hände Sigmund Freuds gefallen wäre.52 Ein hübscher Einfall, aber eben eine Spekulation. Dies mahnt uns zur Vorsicht, wenn wir über die Zusammenhänge zwischen Erfahrungsanlässen und Erlösungsverlangen nachdenken. Mit hinreichender Sicherheit können wir aber doch als Resümee ziehen, dass Erlösungsverlangen – wenn auch unterschiedlicher Art – den neuen säkularen Religionen zugrunde lag und dass die entsprechenden Erlösungslehren auf dieses Verlangen antworteten, wiederum auf unterschiedliche Weise, doch alle mit innerweltlichen Erlösungsangeboten. Völkischen Religionen und der politischen

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S. 45–93; Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. Reinhard Osteroth, Der Rembrandtdeutsche. In : Die Zeit vom 5. 1. 1990, S. 29 f.; vgl. Berndt Berendt, August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. In : Puschner / Schmitz / Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, S. 94–113. Helmut Heiber, Joseph Goebbels, München 1965, bes. S. 27–39; Peter Longerich, Joseph Goebbels. Biographie; München, bes. S. 44–64. Rolf Düsterberg, Hanns Johst : Der Barde der SS. Karrieren eines deutschen Dichters, Paderborn 2004. Vgl. Longerich, Heinrich Himmler, S. 30–32. Eric - Emmanuel Schmitt, Adolf H. Zwei Leben, Zürich 2007.

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Religion des Nationalsozialismus gemeinsam war der zentrale Glaubensinhalt von Rasse und Blut, in Verbindung mit dezidiertem Antisemitismus. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden kann in der zweckrationalen, instrumentellen Ausrichtung der letzteren gesehen werden gegenüber der Tendenz der ersteren, germanische Vorzeit, Mittelalter und z. T. auch Mystik wiederzubeleben.

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I. Völkisch-pagane Gemeinschaften

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„Wir lieben Balder, den Lichten ...“. Völkisch - religiöse Jugendbünde vom Wilhelminischen Reich zum „Dritten Reich“ Winfried Mogge

„Wir wollen darum kämpfen, in uns und um uns, dass nordisch - germanische Wesensart in unserem Volke und all seinen Belangen wieder rein und kraftvoll zum Durchbruch komme. [...] Wir haben erkannt, dass unser tiefstes Erleben um Fahrt und Feuer wesensverwandt ist jenem gläubigen Naturgefühl, jener seherisch tiefen Weltanschauung, jenem herbtrotzigen Ich - Bewusstsein des unverbildeten nordischen Menschen, der uns seine Götter - und Heldenlieder gab. Wir fühlen es klar : In den Besten, im Allerbesten unseres Volkes lebt Balder - Sigfrid auch heute noch, sein sonnig - befreiendes Wesen ist unser aller Sehnsucht und Hochziel, und wer wollte bestreiten, dass auch der ewige Wanderer und faustische Erkenntnissucher Wodan, der grübelnde Ase, wie ihn die Edda nennt, heute wie einst im nordischen Menschen lebendig ist ?“1

In dieser programmatischen Erklärung der Nordungen – Junggermanischer Orden verweisen die Schlüsselbegriffe „Fahrt“ und „Feuer“, „Naturgefühl“ und „Wanderer“ auf die Nähe zur Wandervogel - Bewegung. Tatsächlich sind einige der völkisch - religiösen Gemeinschaften des 20. Jahrhunderts mit der bürgerlichen Jugendbewegung2 verwandt, und ihre Jüngerengruppen trugen Bezeichnungen wie Jungborn und Jungbund, Jungscharen und Wander vögel.3 Die Organisationsstrukturen dieser Religionsgemeinschaften und ihrer Jugendverbände sind angesichts häufiger Namensänderungen oder fast gleichlautender Bezeichnungen, kurzlebiger Vereinigungen und zahlreicher Abspaltungen schwer durchschaubar. Zu den jugendlichen Gruppierungen findet sich nur wenig Material in zeitgenössischen religionsgeschichtlichen und soziologischen 1

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Die Nordungen, 1./2. Folge, Heuert / Ernting 3724 n. St., S. 17. In : Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt, 1–2/1924. Ähnlich in : Der Zwiespruch. Zeitung der Jugendbewegung, Nachrichten - und Anzeigenblatt ihres wirtschaftlichen Lebens, 33/1924, S. 33. Fehlerhaft zit. in : Alfred Müller, Die neugermanischen Religionsbildungen der Gegenwart. Ihr Werden und Wesen, Bonn 1934, S. 24 f. Der Terminus „Bürgerliche Jugendbewegung“ ( für Wandervogel, Freideutsche Jugend und Bündische Jugend ) wird hier gebraucht als Abgrenzung zur Arbeiterjugendbewegung und zur konfessionellen ( katholischen, evangelischen, jüdischen ) Jugendbewegung in Deutschland. Vgl. Einladungen, Programmzettel und Werbeschriften in den Nachlässen Fahrenkrog und Schwaner ( wie Anm. 8); fortlaufende Berichte in den Zeitschriften ( wie Anm. 1, 12, 24).

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Arbeiten4 oder in der neueren Literatur zur völkischen Bewegung.5 Die Quellenedition „Dokumentation der Jugendbewegung“ verschweigt oder verharmlost systematisch die engen Verbindungen zwischen den jugendbewegten und den völkisch - religiösen Bünden.6 Zeitschriften, Flugblätter und sonstige Drucksachen sind in Spezialarchiven, ansonsten nur vereinzelt in öffentlichen Bibliotheken ausfindig zu machen,7 Dokumente und Korrespondenzen – wenn überhaupt erhalten – in Nachlässen verstreut.8 Eine Betrachtung der wichtigsten Gruppierungen kommt also ohne die Anstrengung der Organisationsgeschichte nicht aus; sie muss bei den Anfängen der Jugendbewegung in der wilhelminischen Gesellschaft ansetzen.

1.

Ausgangspunkt Jugendbewegung

Als Kern dieser Bewegung gilt der Wandervogel, beginnend mit Schülervereinen in den 1890er Jahren im Großraum Berlin, 1901 vereinsrechtlich verfasst als Wandervogel – Ausschuss für Schülerfahrten. Hinzu stoßen weitere Schülerund Studentenvereine, Heimat - und Wanderbünde, vorgeprägt von den älteren Bewegungen der Lebensreform sowie des Heimat - und Naturschutzes. Die schnell über das gesamte deutsche Sprachgebiet sich ausbreitende Jugendkultur erfreute sich der Förderung durch bildungsbürgerliche Reformkreise und profi4

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7 8

Vgl. vor allem Müller, Religionsbildungen ( christlich - apologetisch ); Heinz Bartsch, Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart, Leipzig 1938 ( nationalsozialistisch ). Außerdem ( konfus, aber quellenkundig ) Deutschgläubig. Eine Geschichte der Deutschgläubigen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu den zeitgenössischen völkisch - religiösen Gründungen des XX. Jahrhunderts. Hg. von der Deutschgläubigen Gemeinschaft e. V., 4 Bände, Gartenau 1968–1977. Vgl. vor allem Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996; Stefanie v. Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001. Auf Verweise zur Sekundärliteratur wird im folgenden in der Regel aus Platzgründen verzichtet. Dokumentation der Jugendbewegung. Hg. im Auftrage des Gemeinschaftswerkes „Archiv und Dokumentation der Jugendbewegung“ von Werner Kindt. Band I : Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963; Band II : Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968; Band III : Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf 1974. Vor allem Staatsbibliothek zu Berlin; Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, Witzenhausen. Für diesen Beitrag wurden benutzt : Nachlässe Karl Fischer ( WAB : Wandervogel - Archiv, Stadtbibliothek Steglitz - Zehlendorf, Berlin ); Ludwig Fahrenkrog ( GNM : Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, Nürnberg ); Wilhelm Schwaner ( LMB : Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Handschriftenabteilung, Kassel ). Für weitere Forschungen wären u. a. die Nachlässe Jakob Wilhelm Hauer ( BArch ) und Friedrich Wilhelm Fulda, Otger Gräff, Hugo Höppener gen. Fidus, Guntram Erich Pohl, Georg Stammler ( Archiv Burg Ludwigstein ) auszuwerten.

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tierte von dem allgemeinen Jugendmythos der wilhelminischen Zeit. Ihr Erfolg beruhte auf der emanzipatorisch wirkenden Ausweitung jugendlicher Spielräume neben der staatlichen Jugendpflege und dem Selbstverständnis als „Selbsterziehungsgemeinschaft“ in den Lebensformen von Gruppe und Bund. Ihre Geschichte entfaltet sich als eine Abfolge von Spaltungen und Wieder vereinigungen, die hier nicht darzustellen ist. Die Bündische Jugend der Weimarer Zeit differenziert sich weiter aus in ein Spektrum von etwa 80 bis 100 Bünden, die sich als Lebens - und Arbeitsgemeinschaften verstanden und in Projekten von Siedlungs - und Werkgemeinschaften, Zeitschriften und Schulversuchen modellhafte gesellschaftliche Alternativen erprobten. Das Erlebnis von Krieg und Revolution und der Eintritt der ersten Generationen der Jugendbewegung in das Erwachsenenalter radikalisierten und polarisierten die Bünde. Linke und linksliberale Gruppierungen gerieten alsbald in die Minderheitenposition gegenüber den völkisch orientierten Mehrheiten. Sie alle erlagen 1933 freiwillig oder gezwungen dem Monopolanspruch der Hitler - Jugend.9 Originelle politische oder religiöse Vorstellungen hatte diese Jugendbewegung nicht entwickelt. Es gab auch keine Prädisposition für ( oder Immunisierung gegen ) eine bestimmte weltanschauliche Richtung. Wohl aber war die bürgerliche Jugendbewegung von Beginn an stark beeinflusst von der völkischen Bewegung, speziell vom Alldeutschen Verband. Die in diesem Umfeld aktiven Pädagogen Ludwig Gurlitt (1855–1931) und Paul Förster (1844–1925) gehörten zu den Mentoren und ersten Vorständen der Wandervogelbünde, und schon die jungen Bundesführer der ersten Generation wie Karl Fischer (1881–1941), Hans Breuer (1883–1918) und Friedrich Wilhelm Fulda (1885–1945) sind mehrheitlich als völkische Autoren und Agitatoren zu identifizieren. So entstand bereits vor dem Ersten Weltkrieg in den Bünden eine neuromantische, antimoderne, völkisch - nationale, völkisch - religiöse, endlich den Krieg als Reinigung der verkommenen Zivilisation ersehnende Grundstimmung. „Deutschland“ und „Deutschtum“ wurden zu sakralen Begriffen aufgeladen, das „Wandern“ in der pantheistisch besetzten Natur wurde zu einer gottesdienstlichen Handlung, der Wander vogel zum Träger von Heils - und Erlösungshoffnungen.10 Auch dort, wo es keine Zuwendung zu germanischgläubigen Vorstellungen gab, war eine generelle Kirchenferne festzustellen – die christlichen Kirchen, erfahren als autoritäre Garanten der staatlichen Ordnung und Pädagogik, waren uninteressant geworden, die amtskirchliche Religion ersetzbar durch eine „gelebte“ Religiosität.11 9 Als Überblick ( mit Literaturhinweisen ) Winfried Mogge, Jugendbewegung. In : Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Hg. von Diethard Kerbs und Jürgen Reulecke, Wuppertal 1998, S. 181–196. 10 Vgl. Winfried Mogge, „Ihr Wander vögel in der Luft ...“. Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, Würzburg 2009, S. 24 ff., 95–119, 126 ff. 11 Vgl. ders., Religiöse Vorstellungen in der deutschen Jugendbewegung. In : Religions - und Geistesgeschichte der Weimarer Republik. Hg. von Hubert Cancik, Düsseldorf 1982, S. 90–103.

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Freilich waren die Vorstellungen, was denn „völkisch“ sei, in der Jugendbewegung sehr diffus.12 Auch die Entwürfe oder Übernahmen einer „germanischen“ oder „deutschen“ oder „völkischen“ Religion waren nicht auf einen Nenner zu bringen.13 Sowohl bei den rechten Bünden der Jugendbewegung als auch bei den Jüngerengruppen der völkisch - religiösen Organisationen gab es keine systematische Religionslehre. Will man sie einem „Glaubenstyp“ zuordnen, so war es der „allnordische“ mit germanophilen und rassezüchterischen Phantasien.14 Das heißt, es ging hier um die Rekonstruktion einer vorchristlichen „germanischen“ Religion als Vorbild für einen „wesensgemäßen“ Glauben der „nordisch - germanischen Menschenart“, nicht um die „Eindeutschung“ des Christentums – mithin um den „neuheidnischen“ Teil der vielgesichtigen völkisch - religiösen Bewegung.15 Das zeichnete sich schon bei den frühesten Diskussionen zum Thema „Religion“ in Kreisen der bürgerlichen Jugendbewegung ab. Hier wurde alles registriert und kommentiert, was an Religionsentwürfen auf dem Markt war.16 Eindeutig dominierten die Stimmen, welche für die Jugendbewegung einen „deutschen Glauben“ einforderten : „Der junge Wander vogel ersehnt, ‚unbewusst, rein gefühlsmäßig‘, die heilige Heimat. Und er hat das unsagbare Glück, dass er erleben darf. Er wird dieses Jugenderleben nie vergessen. Dem Jüngling aber muss nun bewusst werden, dass das Wander vogeltum ein unbewusstes Suchen der reinen deutschen Jugendseele nach dem verlorenen arisch - germanisch - deutschen Gottume war. Aus dem Jugenderleben muss nun das Lebensziel erwachsen : nun bringe deinem Volke das köstliche Kleinod, das du nach tausend Jahren wiedergefunden !“17 Die Diskussion begann 1913/14 in den Kreisen der jungen Erwachsenen, vor allem in der von Studenten dominierten Freideutschen Jugend (1913–23) und 12 Über den Begriff „völkisch“ wird in den Zeitschriften öfter kontrovers diskutiert, z. B. in : Freideutsche Jugend. Eine Monatsschrift für das junge Deutschland, 4–5/1918, 8/1918, 1/1920; Der Zwiespruch, 58–59/1924 S. 6 f. Vgl. auch Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 209– 221. 13 Vgl. Hubert Cancik, „Neuheiden“ und totaler Staat. Völkische Religion am Ende der Weimarer Republik. In : ders., Religions - und Geistesgeschichte, S. 176–212. 14 Vgl. Kurt Nowak, Deutschgläubige Bewegungen. In : Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Band VIII, Berlin 1981, S. 554–559, hier 557. 15 Vgl. zuletzt als Überblick Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993; ders., Das Spektrum völkisch religiöser Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins „Dritte Reich“. In : Schnurbein / Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion, S. 208–226; Uwe Puschner, Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In : zeitenblicke. Online - Journal Geschichtswissenschaften, 1/2006 ( mit umfangreichen Literaturangaben ). 16 Vgl. z. B. Freideutsche Jugend, 2 (1916) bis 5 (1919) passim. 17 Otger Gräff, Deutscher Glaube. In : Führer - Zeitung für die deutschen Wandervogelführer, 6/1918 S. 82–84, hier 82. Vgl. ders., Vom deutschen Glauben. In : Freideutsche Jugend, 4–5/1918 S. 159–163.

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in einem Bund der Landsgemeinden (1914–19). Der charismatische Offizier Otger Gräff (1893–1918), zuvor aktiver Wandervogelführer, und der Schriftsteller Adalbert Luntowski gen. Reinwald (1883–1934), Gründer einer Deutschen Siedlungsgemeinschaft, sammelten die zu völkischen Ideologien und Tatgemeinschaften tendierenden älteren Wandervögel ab etwa 20 Jahren in einem Greifenbund (1915).18 Dieser war strikt antisemitisch und verlangte von seinen Mitgliedern eine „Stellungnahme zur Rassenfrage“, nämlich die „schriftliche Erklärung und Begründung, dass die zu uns Wollenden nach bestem Wissen von nichtarischem Blute frei sowie von deutscher Gesinnung sind“.19 Die Führungsgruppe des Greifenbundes, der Greifenorden, schloss sich korporativ dem 1911 von dem Postdirektor und Schriftsteller Otto Sigfried Reuter (1876–1945) gegründeten Deutschen Orden an. Diese religiöse Gemeinschaft wollte „im Sinne völkischer Erneuerung auf allen Lebens - und Kulturgebieten“ wirken; sie verlangte von ihren Mitgliedern „arische Geburt“, aber nicht den Kirchenaustritt. Als innerer Kreis der „Kirchenfreien“ entstand gleichzeitig die Deutschreligiöse Gemeinschaft, die sich ab 1914 Deutschgläubige Gemeinschaft nannte. Im Unterschied zu anderen völkisch - religiösen Organisationen wurde hier kein System von Glaubenssätzen und Ritualen entwickelt, sondern „Lehre und Brauchtum sind frei und nur in die Verantwortung vor dem Antlitze der deutschen als einer geweihten, gottümlichen Gemeinschaft gebunden“.20 Das entsprach zweifellos auch den Bedürfnissen der religiös vagierenden Wandervögel. Einzelmitglieder aus diversen Bünden folgten den Greifen in den Deutschen Orden. Hier organisierten sich die Mitglieder aus der Jugendbewegung als Jungborn – Bund der Jungbornlauben Deutschen Ordens (1918), später umbenannt in Jungscharen Deutschen Ordens.21 Dieser wollte die Gesinnungsgenossen aus den Bünden sammeln und verstand sich als „enge Gemeinschaft derjenigen [...], die den völkischen oder jungdeutschen Gedanken in seiner religiösen Tiefe und Bedeutung erfasst haben“.22 Voraussetzung für die Aufnahme war das „Blutsbekenntnis“ : eine Erklärung zur „Reinheit des Blutes von jüdischem oder farbigem Einschlag“.23 Mit einer Beilage „Heiliger Frühling“ war die Gruppe an der

18 Kindt, Dokumentation, Band II, S. 949–1006; Band III, S. 1596 f. 19 Otger Gräff, Fünfter Rundbrief des Gildenmeisters. In : Alt - Wandervogel. Monatsschrift für Jugendwandern, 7/1916, S. 129. 20 Müller, Religionsbildungen, S. 21 ff., 29 ff. Zit. aus „Grundsatz der Deutschgläubigen Gemeinschaft“, S. 29; Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 15–24. 21 Müller, Religionsbildungen, S. 22, 24; Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 18 f. Als Greifenbund oder Greifenorden bezeichneten sich in der Folgezeit mehrere unbedeutende jugendbewegte Neugründungen, die keine Fortsetzungen des Gräff’schen Bundes waren. Der Jungborn ist nicht zu ver wechseln mit dem gleichnamigen katholischen abstinenten Jugendbund (1922–1933). 22 Der Zwiespruch, 14/1919, unpag; Rubrik „Von allen Bünden / Jungborn - Bund“ : „Aus völkischen Kreisen der Jugendbewegung heraus hat sich ein Jungborn - Bund gebildet.“ 23 Heiliger Frühling ( wie Anm. 24), 21/1919, S. 89 ff. In : Neues Leben, 4–5/1919.

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Zeitschrift „Neues Leben“ im Jungborn - Verlag des radikal - völkischen Schriftstellers Ernst Hunkel (1885–1936) beteiligt.24 Eine Berufsperspektive für zunächst 45, insgesamt mehrere Hundert junge Leute wurde die von Hunkel als „Ordenskanzler“ und „Jungbornmeister“ des Deutschen Ordens gegründete „Freiland - Siedlung Donnershag“ bei Sontra in Hessen (1919–1924). Hier sollte nicht nur genossenschaftlich gewirtschaftet und deutsch geglaubt, sondern „durch bewusste Sippenpflege und rassische Auslese“ auch „rassezüchterisch“ gelebt werden; von hier sollten künftig „Jungmannschaften“ ausziehen und das „heilige Land der Väter“ mit einem Netz von „deutschblütigen und deutschgläubigen Siedlungen“ überziehen. Ernst Hunkels Ehefrau Margarete gen. Margart (1887–1968) sammelte der weil Anhängerinnen in einer Deutschen Schwesterschaft (1917) als „Selbsthilfe deutscher Frauen und Mädchen zur Errettung von aller Volks - und Rassenentartung“.25 Donnershag war ein Beispiel für zahlreiche Siedlungsprojekte der Jugendbewegung und eine wichtige Schnittstelle zu den Völkisch - Religiösen.26 Die Grenzen zwischen der Bündischen Jugend und den Glaubensgemeinschaften blieben fließend. Eine Analyse unveröffentlichter Korrespondenzen und der Berichtsteile der Zeitschriften würde den Austausch mit zahlreichen Namen von Personen und Organisationen belegen,27 zum Beispiel : Der 1912 gegründete, stark antisemitische Wander vogel – Vaterländischer Bund für Jugendwandern, nach dem Krieg umbenannt in Wander vogel – Völkischer Bund, gab Mitglieder an die Völkisch - Religiösen ab. Desgleichen waren die Geusen – Jungvölkischer Bund, 1919 aus dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband hervorgegangen. Sie waren eng verknüpft mit dem linken Flügel der NSDAP und wurden deshalb am 17. Juni 1933 verboten.28 Der noch von Otger Gräff 1916 ins Leben gerufene Jungdeutsche Bund verstand sich als „Mittelstelle“ aller jungen völkischen Gruppierungen; unter Gräffs Nachfolger, dem späteren Reichstagsabgeordneten Frank Glatzel (1892–1958), verlor er seine 24 Heiliger Frühling. Blätter deutschvölkischer Jugend (1916–24). Beigabe zu Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Tüchtigkeit, 1914 : Monatsschrift für deutsche Kultur, ab 1915 : Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt (1905–1925). Eine Abspaltung davon ist : Frei - Deutschland. Monatsschrift für nordische Wiedergeburt – Des „Neuen Lebens“ neue Folge (1923–28). Nicht zu ver wechseln mit der Zeitschrift der Nordischen Glaubensgemeinschaft : Neues Leben. Monatsschrift für nordisch - deutsche Wiedergeburt (1928–1932); Fortsetzung als : Widar. Zeitschrift nordischen Glaubens (1933–1941). 25 Margart Hunkel, Deutsche Schwesterschaft, Berlin 1918; dies., Von deutscher Gottesmutterschaft, Sontra 1919. Zitat aus Werbeanzeigen in : Neues Leben, 12 (1917/18) und 13 (1918/19). 26 Vgl. Ulrich Linse ( Hg.), Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933, München 1983, S. 188–199. 27 Vgl. vorerst einige Hinweise bei Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 37–39, 43; Nanko, Glaubensbewegung, passim. Zahlreiche Materialien in : Der Zwiespruch. Unabhängige Zeitung für die Wanderbünde, Nachrichtenblatt der W.-V.-Ämter und Anzeiger unseres wirtschaftlichen Lebens ( fast jährlich wechselnde Untertitel ) 1919–1933, passim. 28 Kindt, Dokumentation, Band III, S. 813–827; Nanko, Glaubensbewegung, S. 68.

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Kampfrichtung gegen die christlichen Konfessionen und löste sich 1930 auf.29 Die rechtsextremen Adler und Falken, eine Gründung des Lehrers und Dichters Wilhelm Kotzde gen. Kottenrodt (1878–1948) von 1920, beteiligten sich 1933/34 aktiv an der Entstehung der Deutschen Glaubensbewegung (DG). Mit dem Lehrer und Schriftsteller Wilhelm Schloz (1894–1972) stellten sie dort ein maßgebliches Führungsmitglied, als Bund existierten sie noch bis zur Überführung in die Hitler - Jugend am 1. März 1936.30 Auch die Artamanen, eine 1924 aufgebrochene agrarromantische Siedlungsbewegung um Wilhelm Kotzde und die völkisch - rassistischen Ideologen Bruno Tanzmann (1878–1939) und Georg Stammler (1872–1948) zählten sich zur Jugendbewegung.31 Sie wurden am 7. Oktober 1934 feierlich in den „Landdienst“ der Hitler - Jugend übernommen.32 Zuvor waren prominente Mitglieder aus ihren Reihen bei der Gründung der Deutschen Glaubensbewegung dabei.33 Ein Deutscher Kreis, 1921 von dem Lehrer und Lyriker Johann Friedrich gen. Fritz Bühler (1899–1959) aus älteren Wandervereinen abgespalten, pflegte mystische Vorstellungen vom kommenden „Reich“, das durch den jugendbewegten „Bund“ vorbereitet werden sollte. Die Gruppe löste sich am 1. Juli 1933 selbst auf, beteiligte sich aber ebenfalls noch an der Deutschen Glaubensbewegung.34 Letzteres gilt auch für den Wander vogel – Deutscher Bund, eine kleine radikal - völkische Gruppierung, welche als eine von vielen Abspaltungen aus der Wander vogelbewegung 1930 um den späteren Architekten Erich Kulke (1908–1997) entstanden war und sich am 21. Juni 1933 selbst auflöste.35 Einen anderen Weg ging die 1931 von dem Artamanen-Führer und ehemaligen Wander vogel Fritz Hugo Hoffmann (1891–1965) gegründete Deutschjugend ( zunächst Deutsche Jugend). Hier pflegte man die „freigeistige bis freigläubige“ Tradition des Greifenbundes – so eine spätere Selbstdarstellung, die es unterlässt, von der Verbindung Hoffmanns und seiner Gruppe mit dem nationalistischen Deutschvolk und den wahnhaften Religionsstiftern Mathilde und Erich Ludendorff zu berichten.36 Die Deutschjugend sah sich selbst als Vollender der „Deutschen Revolution“ : „Wir haben anderen voraus die Gleichschaltung von Blut und Glaube vollzogen, die als die Folgerichtigkeit aus der Rasseerkenntnis die Grundlage für die neue Einheit des Deutschen Volkes bil29 Kindt, Dokumentation, Band I, S. 220–229, 564; Band II, S. 604 f., 949–1006; Band III, S. 323–334. 30 Ebd., Band III, S. 840–861; Nanko, Glaubensbewegung, S. 67 f., 143–149, 239 f.; Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 77 f. 31 Kindt, Dokumentation, Band III, S. 909–930. 32 Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, Teil 2, S. 701 ff. 33 Nanko, Glaubensbewegung, S. 66 f. 34 Kindt, Dokumentation, Band III, S. 828–839; Nanko, Glaubensbewegung, S. 65. 35 Kindt, Dokumentation, Band III, S. 249–251; Nanko, Glaubensbewegung, S. 69, 149. Der Bund ist nicht zu verwechseln mit dem Wandervogel. Deutscher Bund für Jugendwanderungen (1907–1913). 36 Kindt, Dokumentation, Band III, S. 251.

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det.“37 Sie gewann Mitglieder vor allem beim rechtsradikalen Flügel der Jugendbewegung in Deutschland und Österreich.38 Für seine Anhänger publizierte Hoffmann, ein unermüdlicher Produzent von Weihe - und Jahresfest - Gedichten, noch bis 1938 Zeitschriften und Schriftenreihen.39 Der Bund selbst, wegen seiner engen Beziehungen zur Ludendorff - Bewegung in Misskredit geraten, wurde am 29. April 1934 verboten.40

2.

Nordungen und Jung - Germanen

Aus der Szene der völkischen Religionen war neben der Deutschgläubigen Gemeinschaft vor allem die Germanische Glaubens - Gemeinschaft ( GGG ) attraktiv für jugendbewegte Kreise. Deren Prophet, der Maler - Dichter Ludwig Fahrenkrog (1867–1952), beschwor 1907/08 in der Zeitschrift „Der Volkserzieher“ seines Freundes Wilhelm Schwaner (1863–1944) die Vision einer „deutschen“ Religion, deren Anhänger ein neuartiges „Heiligtum“ schaffen würden.41 Beginnend mit einem Bund für Persönlichkeitskultur (1908) und – in Konkurrenz zu der gleichnamigen Organisation Reuters – einer Deutschreligiösen Gemeinschaft, bald umbenannt in Germanisch - deutschreligiöse Gemeinschaft (1912), entstand die endlich sogenannte Germanische Glaubens - Gemeinschaft (1913). Diese bekam Zulauf etlicher älterer Organisationen und entwickelte eine ausgefeilte Dogmatik.42 Prominente Autoren und Künstler schlossen sich an, so der in der gesamten Jugendbewegung verehrte Hugo Höppener gen. Fidus (1868–1948).43 Auch aus den völkischen Fraktionen des Wandervogels kamen öffentlich wirksame Mitglieder hinzu, so die Schriftsteller und Verleger Guntram Erich Pohl (1891–1956), Karl Müller - Hagemann (1903– ?) und Lorenz Spindler (1896–1969).44 37 Blätter vom schöpferischen Leben. Monatsschrift der Deutschjugend (1932/33), 6/1933, S. 96. 38 Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 80 f.; Nanko, Glaubensbewegung, S. 50 f., 129. 39 Blätter vom schöpferischen Leben. Monatsschrift der Deutschjugend (1932/33); Deutschjugend (1932–1934); Heiho. Beilage zur Monatsschrift „Deutschjugend“ (1933–1935). Dazu Fritz Hugo Hoffmann ( Hg.), Um Gott und Volk ( u. a. Deutsche Weihenacht, Sommersonnenwende, Heimat und Weite, Schwert und Pflug, Wehrhaft Volk), Frankfurt / Oder 1934–1935; Deutschjugend - Schriftenreihe, Landsberg / Warthe 1935–1938. 40 Vorschriftenhandbuch der Hitler - Jugend ( VHB.HJ ), 1. Ausgabe vom 1. 1. 1942, Band II, S. 1071. 41 Ludwig Fahrenkrog, Germanentempel. In : Der Volkserzieher. Blatt für Familie, Schule und öffentliches Leben, 6/1907, S. 42 f.; 6/1908, S. 41; 10/1908, S. 77 f. 42 NL Fahrenkrog ( GNM, I B 48, 57–59); NL Schwaner, Korrespondenz ( LMB, unsigniert). Vgl. Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 14 f., 24–31. 43 Janos Frecot / Johann Friedrich Geist / Diethart Krebs, Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, erw. Neuauflage Hamburg 1997, S. 23, 157, 223. 44 Deutschgläubig, Band 2, S. 64, 90. Pohl, Müller und Spindler gehörten zunächst zum Wander vogel. Vaterländischer Bund. Pohl trat der Deutschgläubigen Gemeinschaft

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Fahrenkrog bot mit seiner pantheistischen, anthropozentrischen, antisemitischen und antichristlichen Ideologie ein den radikal - völkischen Gruppierungen der bürgerlichen Jugendbewegung entgegenkommendes Programm. Als Grundannahme existierte eine „germanische“ Rasse, die im deutschen Volk weiterlebe, aber vom Judentum und Christentum verdorben worden sei; diese gelte es wiederherzustellen, was einen „arteigenen“ Glauben verlange. Die naturreligiösen Vorstellungen, die Arbeitsweise in Kleingruppen, die Naturfeste und Wanderungen sowie die Gemeinschaftsideologie der GGG waren deutlich von der Jugendbewegung beeinflusst. Folgerichtig nannten sich die separat zusammengeschlossenen jugendlichen Mitglieder Jungscharen und Wandervögel. Bei den sorgfältig inszenierten Festen der GGG fielen sie neben den überwiegend Alten mit ihrer jugendbewegten Kostümierung auf : die Mädchen in langen fließenden Kleidern mit Blumenkränzen im Haar, die Jungen in Kniebundhosen und Wanderkitteln oder Hemden mit offenen „Schillerkragen“. Das real existierende, 1912 eingeweihte „Feuerheiligtum“ bei Rattlar im waldeckischen Upland wurde auch zu ihrem Pilgerort, und der utopische Plan der GGG, einen gewaltigen „Deutschen Dom“ mit einem eigenen „Bergtheater“ zu bauen, rückte in den Jahren 1924/25 – im nordhessischen Witzenhausen in Sichtweite der „Jugendburg“ Ludwigstein – in greifbare Nähe.45 1924 war ein Wendejahr für die beiden oben genannten Gemeinschaften und ihre Jugendverbände. Die Deutschgläubige Gemeinschaft und die Germanische Glaubens - Gemeinschaft bemühten sich vergebens um ihre Fusion, und nach internen Generationenbrüchen wanderten die eigenen Jüngerenorganisationen größtenteils ab. Greifenorden und Jungborn hier, Jungscharen und Wandervögel dort schlossen sich zusammen und gründeten die Nordungen – Junggermanischer Orden.46 Leiter dieses neuen Verbandes wurde der spätere Berliner Stadtamtmann Arthur G. Lahn (1891– ?), religiöser Führer der rätselhaft unbekannte Leipziger Dichter Hildulf Rudolf Flurschütz (1878–1948), der seine (Reuter ) bei, wechselte zur Germanischen Glaubens - Bewegung ( Fahrenkrog ) und bezeichnete sich selbst stets als „Nordung“. Pohl gründete den Mittgart - Verlag ( Hochdahl ), Müller erwarb und leitete den Verlag Wolf Heyer ( Ückermünde, dann Berlin ), Spindler gründete den gleichnamigen Verlag ( Nürnberg ). 45 Vgl. Winfried Mogge, Ludwig Fahrenkrog und die Germanische Glaubens - Gemeinschaft. In : Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Hg. von Kai Buchholz / Rita Latocha / Hilke Pechmann / Klaus Wolbert, Darmstadt 2001, Band I, S. 429–432 ( mit Abbildungen ). 46 Der Weihwart, 4/1924, S. 32. Vgl. Müller, Religionsbildungen, S. 23 ff.; Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 28, 31–34. Ihren Namen erklären die Nordungen als „Kinder des Nord“ ( gleich Njörd gleich Odin ); vgl. Nordungen, 6/1924 S. 91 f. Die Germanische Glaubens - Gemeinschaft behielt trotz der Abspaltungen ein „Jungscharenamt“, Leiter Hans Neumann ( Leipzig ), das zumindest noch 1925 in Erscheinung trat. Vgl. Weihwart, 1/1925, 2. Umschlagseite; 4–5/1925, S. 46 f.; 6/1925, S. 59; Der Zwiespruch, 30– 31/1925, S. 3; 43/1925, S. 7 f. Die Gruppen nannten sich Jungscharen in der G. G. G. und Bund nordischer Wandervögel in der G. G. G. Den internen Generationenkonflikt beschreibt ( mit ver worrenen Bezeichnungen der Organisationen ) Rudolf Flurschütz, Vom Greifenring ( Germanische Glaubensgemeinschaft ). In : Der Zwiespruch, 33/1924 S. 33.

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Gemeinde mit Weihesprüchen, Liedern und Grundsatzschriften versorgte.47 Mit den unterschiedlichen Traditionen der Herkunftsverbände hatte man offensichtlich keine Probleme. Flurschütz, der eigentliche Prophet der völkisch- religiösen Jugend, bemühte sich zwar auch, wie viele andere, um die Ableitung einer „eddischen“ Religion aus literarischen Texten; erfolgreich war er jedoch, weil er „das blutwarme Leben in mitschwingender Gemeinschaft“ und „das Neuland der Seele“ besang.48 Dabei wurde er nicht müde, die Herkunft seiner Gruppe aus der Jugendbewegung und den „Wandervogelgeist“ als den „Götterboten“ einer neuen Kultur des deutschen Volkes zu beschwören.49 Die Nordungen, emanzipiert von den Bünden der Älteren, besetzten in den folgenden Jahren die Rolle der jugendlichen völkischen Religionsgemeinschaft. Mit der „Steinkirche“, einer vorgeschichtlich bewohnten, im Mittelalter zu einer christlichen Kapelle ausgebauten, nun zur „altgermanischen Weihestätte“ erklärten Höhle bei Scharzfeld im Harz fanden sie den Ort für ihr jährliches „Allthing“.50 Die traditionelle jugendbewegte Naturverbundenheit führten sie fort zur religiösen Verehrung der sichtbaren und unsichtbaren Naturkräfte; die Nordungen wurden so zu Spezialisten für die Gestaltung der Feiern im „germanischen“ Festjahr. Unter Berufung auf die „Seherschaft“ der Priester alter „arischer“ Völker näherten sie sich auch parapsychologischen Lehren und okkulten Praktiken.51 Ihr „Weihwart“ Flurschütz stellte in der Art eines Schamanen mit ekstatischen Tänzen die Verbindung zu den „Göttern der Ahnen“ her.52 Mit Schriftenreihen im Selbstverlag pflegten die Nordungen die Kommunikation 47 Hildulf R. Flurschütz, Von der Neugeburt nordischer Religion aus dem Geiste der Jugendbewegung, Woltersdorf 1925; ders., Vom Wesen und Werden junggermanischen Glaubens, Berlin - Lichterfelde 1926; ders., Neugeburt nordischen Naturglaubens, Berlin- Köpenick 1928; ders., Urreligion als Lebensgrundlage, Berlin - Neutempelhof 1932; ders., Das ewige Erbe der Deutschen. Deutsch - Nordischer Glaube, Berlin - Lichterfelde 1933. Im Liederheft der Nordungen, Woltersdorf 1927, stammen 23 von 34 Titeln von Flurschütz. Eine Arbeit über Flurschütz ( der sich 1924 den Vornamen „Hildulf“ zulegte ) liegt nicht vor. Biografische Daten in : Die Nordungen, Sendbrief - Folge 69, Nov./ Dez. 3778 (= 1978), S. 2 f. ( masch. vervielfältigt ). 48 ( Arthur Lahn ), Hildulf R. Flurschütz. In : Rig. Blätter für germanisches Weistum, 6/1928; Beiblatt Nordungenblätter, o. Nr., S. 26 f. Gedichte von Flurschütz finden sich heute wieder in Zeitschriften und auf Internet - Seiten neuheidnischer, okkultistischer und neonazistischer Gruppierungen; Texte liegen in Neuausgaben vor ( z. B. bei dem Grazer Verlag Edition Geheimes Wissen ). 49 Hildulf R. Flurschütz, Alte Götter und junge Menschen, Freiberg 1928, S. 5 f., 11; ders., Vom Wesen, S. 50, 56, 77 ff., 87 f.; ders., Neugeburt nordischer Religion, unpag. Vgl. Rudolf Flurschütz, Germanische Religion. In : Der Zwiespruch, 9/1923, S. 3. 50 Ev. Kirche Scharzfeld, Pfarrarchiv ( Material zur Chronik bis 1937). Der Scharzfelder Kult wurde von der SS fortgeführt, die hier zu Sonnenwendfeuern antrat und 1937 die Höhle „Steinkirche“ pachtete, um Ausgrabungen durchzuführen. Vgl. Annette Susanne List, Ortschronik Höhlendorf Scharzfeld. Vom Neandertaler bis zum Jubiläumsjahr 2002, Herzberg 2003, S. 79–90. 51 Flurschütz, Vom Wesen, S. 33, 55, 51; ders., Neugeburt nordischen Naturglaubens, S. 9–12, 21–28. 52 Vgl. Hildulf R. Flurschütz, Tanzende Götter und göttlicher Tanz. ( Porta coeli paganorum ), Freiberg / Sachsen 1929. Auch in : Rig, 4/1926, S. 98–103; ebenso in : Der Zwiespruch, 81–82/1926, S. 586 f.

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nach innen und Missionierung nach außen;53 außerdem beteiligten sie sich mit einer Rubrik „Die Nordungen“ an der Zeitschrift „Neues Leben“,54 und später mit „Nordungenblätter“ an „Rig“.55 Auch in den die völkischen Bünde der Jugendbewegung umgreifenden Nachrichtenblättern „Der Zwiespruch“56 und „Die Kommenden“57 kamen sie zu Wort; das heißt, sie wurden seinerzeit selbstverständlich zur „Bündischen Jugend“ gezählt. Mit dem rechten Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung arbeiteten die völkisch - religiösen Jugendbünde nahtlos zusammen. Das – und die zielgruppenbewusste Vermarktung der völkischen Künstler - Propheten in diesen Kreisen – bewährte sich bei einem großen Ausstellungsprojekt „Deutsche Kunstschau und Messe“ (1924 und erneut 1925 in Berlin ). Veranstalter war der Ring deutscher Jugend, dem auch die Nordungen und die Jung - Germanen korporativ angehörten.58 Im Berliner Petri - Gemeindehaus wurden künstlerische, kunstgewerbliche und handwerkliche Produkte gezeigt und eine Buchmesse organisiert mit dem Ziel, „das der [...] nordischen Rasse Wesenhafte in Wirtschaft, Schule, Volkserziehung, Forstwesen ( Naturschutz ), Berufsleben, Rechtswesen, Staatsaufbau, in der Kunst und [...] in religiösem Erkennen und Gestalten“ durchzusetzen. Fahrenkrog, „Ehren - Hochmeister“ des Ringes deutscher Jugend, beschickte ebenso wie sein Freund und Bundesbruder Fidus diese Kunstausstellungen mit zahlreichen Werken.59 „Uns ist das Erlebnis der deutschen Jugendbewegung, besonders des Wandervogels, Ursprung und Grundlage unserer Entwicklung“, heißt es 1925 in einer Grundsatzerklärung der Nordungen. 53 Schriftenreihe der Nordungen, Flugschriftenreihe der Nordungen, Irminsul - Schriftenreihe; mit Titeln von Flurschütz, Frank - Michel Hildebrandt, Emil Hubricht, Marie Adelheid Konopath Prinzessin zur Lippe, Rudolf Viergutz und Harm Zeeuwe. 54 Die Nordungen. Junggermanischer Orden (1924/25). Beiblatt zu Neues Leben. 55 Nordungenblätter (1925–34). Beiblatt zu Rig. Blätter für germanisches Weistum, ab 1932 : Vierteljahrsschrift für deutschen Gottglauben (1925–1934). 56 Der Zwiespruch, 78/1924, S. 3; Jg. 1925 und 1926 passim ( Selbstdarstellungen der Nordungen und Kontroversen über ihre religiösen Vorstellungen ). 57 Die Kommenden. Überbündische Wochenschrift der deutschen Jugend, 15/1932 ( Themenheft : Nordische Jugend, nordischer Glaube, nordischer Staat; mit Beiträgen von Rudolf Viergutz und Hildulf R. Flurschütz ). Vgl. auch Stefan Breuer / Ines Schmidt, Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933), Schwalbach / Ts. 2010. 58 Nicht zu verwechseln mit dem Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände (1919– 1933) und den örtlichen und regionalen Ringen des Reichsjugendringes (1920–1925). Der 1923 gegründete Berliner Ring deutscher Jugend war eine regionale Arbeitsgemeinschaft völkischer Bünde mit umfangreichem Veranstaltungsprogramm. Aufnahmekriterien waren „deutsch - germanische Artung der Mitglieder, Lebenserneuerung, jungvölkische, d. i. für uns jungdeutsche, junggermanische Weltanschauung“. Vgl. Der Zwiespruch, 85/1924, S. 3; 88/1924, S. 1 f.; 52/1925, S. 3. Ringführer und „Hauptarbeitsamt“ war Arthur G. Lahn, der Leiter der Nordungen ( Woltersdorf bei Berlin, Haus Baldershag ). 59 Ring Deutscher Jugend, Deutsche Kunstschau und Messe. 15. bis 29. im Nebelung (November ) 1924, Berlin 1924, S. 5; ders., Deutsche Erneuerung. Zweite Deutsche Kunstschau und Messe, Leipzig 1925.

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„Aus einem zuerst unbewussten, aus unseren Seelenkräften befohlenen Müssen, zündeten wir in der Heide und auf Bergen unsere Sonnwendfeuer und hielten wir unter alten Maleichen und an Hünengräbern stille Einkehr. Dann wurde es uns klar, dass in uns eine Entwicklung neu anhebt, die einst in dem lebensfrohen und lebenssicheren Lichtglauben unserer germanisch - nordischen Vorfahren ihren vollendet volkstümlichen und durchgeistigten Ausdruck gefunden hatte, aber durch das mit Mord und Marter vordringende Christentum gewaltsam unterbrochen wurde. Wir bejahen bewusst und freudig diese uns schicksalmäßig auferlegte Neugeburt der uns allein wesensgemäßen Glaubenswelt und weihen uns dieser hohen Aufgabe. Wir stellen über unseren Glauben keine Lehrsätze auf, sondern lassen die Stimme unseres Herzens reden und bekennen uns zu freier Entwicklung aus innerstem Erleben und aus den Quellen nordischer Artung. Wir lieben Balder, den Lichten, und geloben, ihn zu lösen aus dem Banne des Reiches der Hel, als die wir die seelenmordende Zivilisation unserer Zeit erkennen.“60

In den konstitutiven Texten geht es dann immer wieder um die historische Zerstörung der „altgermanischen“ Naturreligion durch die „Wüstengeister aus Palästina“ und die Schaffung eines „junggermanischen“ Glaubens als Rettung vor der modernen Menschheitsbedrohung durch „Kirche, Kapital und Kanonen“.61 Solche Formulierungen zeigen das Bestreben, die völkisch - religiösen Jugendgemeinschaften nicht als antiquierte Germanen - Schwärmerei, sondern als Antwort auf akute Zeitfragen vorzustellen. Mehrere Namensänderungen sorgten nachträglich für Ver wirrung. Unter dem Vereinsnamen Orden der Nordungen gehörte der Bund korporativ zu dem (1919 gegründeten, am 17. Juni 1933 vom Reichsjugendführer liquidierten) Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände. Und zwar in der Abteilung Bündische Jugend, zu der sich rund fünfzig kleinere Gruppierungen aus der Jugendbewegung zusammengeschlossen hatten.62 1932 nannte man sich Volkschaft der Nordungen, im folgenden Jahr Die Nordungen – Deutsch - Nordische Glaubensbewegung.63 Die Nordungen waren eingebunden in das Netzwerk der Nordischen Bewegung, einer Sammlung von Gruppierungen, die einer „nordischen“ Rasse und Kultur in Deutschland zur Herrschaft verhelfen wollten.64 So gehörten sie der 1926 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Nordischer Ring an. Sie waren auch beteiligt an dessen Zentrale Nordisches Haus in Berlin - Tempelhof, einem beliebten Veranstaltungsort und Treffpunkt zahlreicher germanophiler Gruppierungen.65 Vorsitzender des Nordischen Ringes war der völkische Multifunktionär 60 Hildulf R. Flurschütz ( ohne Titel ). In : Der Zwiespruch, 70/1925, S. 151; ebenso in : 12/1926, S. 91. Mit kleinen Änderungen auch in : Flurschütz, Vom Wesen, S. 87. 61 Flurschütz, Vom Wesen, S. 8. 62 Kleines Handbuch der Jugendverbände. Hg. vom Deutschen Archiv für Jugendwohlfahrt, Berlin 1931, S. 47. 63 Selbstanzeigen in der Schriftenreihe und den Zeitschriften ( wie Anm. 47, 52, 55, 67). 64 Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 101–108. 65 Vgl. Nicola Karcher, Schirmorganisation der Nordischen Bewegung : Der Nordische Ring und seine Repräsentanten in Norwegen. In : Nordeuropaforum. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur ( Online ), 1/2009, S. 7–35, hier 13 f., 19 f. Das „Nordische Haus“ ( Berlin - Neutempelhof, Wiesener Str. 27) war Zentrale des Nordischen Ringes und Bundessitz der Nordungen. Eigentümer bzw. Bewohner der Häuser Wiesener

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und Rassetheoretiker Friedrich Kurt gen. Hanno Konopath (1882–1962). Dessen damalige Ehefrau Marie Adelheid Prinzessin zur Lippe - Biesterfeld, dann Prinzessin Reuß zur Lippe (1895–1993), veröffentlichte im Verlag der Nordungen Traktate über die naturgemäße Pflicht der „nordischen Frau“ zur Mutterschaft und Aufzucht „artrechter Kinder“.66 An den periodisch wiederkehrenden Bemühungen um einen Zusammenschluss völkisch - religiöser Bünde waren die Nordungen stets beteiligt. 1927/28 wurden sie aktiv bei der Wiedervereinigung mit der Deutschgläubigen Gemeinschaft, der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft und weiterer Gruppen zu einer Nordischen Glaubensgemeinschaft – Deutschgermanischer Ring. Der als großer Dachverband der heidnisch - nordischen Glaubensbewegung angekündigte Ring zerbrach alsbald; die Bündnispartner arbeiteten getrennt weiter.67 Um die stets unter heftigen Glaubensstreitigkeiten und Führungskämpfen ablaufende Organisationengeschichte zu vervollständigen : 1932 kam eine neue Nordische Glaubensgemeinschaft hinzu, geleitet von dem Kapitän a. D. Ernst Mysing (1874–1940) und dem Amtsrat Friedbert Schultze (1883– ?), einem ehemaligen Wander vogel. Die im Jahr zuvor gegründete Nordisch - Religiöse Arbeitsgemeinschaft unter der Leitung des Juristen Norbert Seibertz (1889– 1964) und des Lehrers Wilhelm Kusserow (1901–1983) war der letzte Versuch der Weimarer Zeit, die neuheidnischen Gruppen als „Kampfbund“ zusammenzufassen; auch hier waren die Nordungen wiederum beteiligt.68 1933 hatte man sich bei den Nordungen auf die neue politische Situation rasch eingestellt, glaubte aber weiter an die eigene Mission : „Das Deutsche Erwachen, welches im Dritten Reiche seinen politischen Ausdruck findet, hatte Vorläufer und Wegbereiter in der deutschen Jugendbewegung, in der deutschen Romantik, im Luthertume, in der deutschen Mystik, bis hinauf zur Widerstandsbewegung des Sachsenherzogs Widukind. Die Quelle dieses Strebens zur Selbstver wirklichung ist die germanische Seele, deren Träger, als Blutserbe, auch wir sind. Damit ist unsere Verpflichtung gegeben und die Richtung unseres Weges gewiesen. Der Weg zur Str. 27 und 28 waren M. A. Konopath und Ministerialrat i. R. H. Konopath ( Berliner Adreßbuch, 1926–1933). 66 Marie Adelheid Konopath Prinzessin zur Lippe, Entscheidungsstunde der nordischen Frau, Berlin - Köpenick ( ca. 1930). Vgl. Lionel Gossman, Brownshirt Princess. A Study of the „Nazi Conscience“, Cambridge 2009. 67 Nordische Glaubensgemeinschaft – Deutschgermanischer Ring, Flugblätter 1929 (Archiv Burg Ludwigstein, NL Pohl ); vgl. Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 34–36. In einer Eigenanzeige aus dieser Phase heißt es : „Die Wegsucher und Wegwisser zu den reinen Quellen, aus der Tiefe der Heimat des Leibes, Geistes und der Seele, fanden und sammelten sich in der Nordischen Glaubensgemeinschaft, und wer von der Erlebnisgrundlage der deutschen Jugendbewegung ausgeht, der findet Fahrt - und Kampfgenossen bei dem Orden der Nordungen, e. V.“. Flurschütz, Neugeburt nordischen Naturglaubens, S. 31. 68 Nordische Zeitung. Kampfblatt der Nordisch - heidnischen Freiheitsbewegung, ab 1934: Kampfblatt der Nordischen Glaubensbewegung, ab 1939 : Zeitschrift für das Gesamtgebiet des nordischen Gedankens (1931–1940), passim. Vgl. Müller, Religionsbildungen, S. 25; Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 34–37, 97–101; Norbert Seibertz, Lebensfragmente. Handschrift für Freunde und Verwandte, o. O. (1959), S. 28 f.

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Volks - und Artseele führt nicht über ein irdisches oder himmlisches Jerusalem, sondern zu unserer eignen Heimat Art und Erbe, zu Blut und Boden. Hier ist das Feld unseres völkischen Befreiungskampfes.“69

Mit den Nordungen nicht zu ver wechseln sind die 1923 gegründeten Jung Germanen – Bund nordischer Jugend, 1926 umbenannt in Jungnordischer Bund.70 Dieser Jüngerenbund entstand unabhängig von den bisher genannten Organisationen. Auch er hatte Zulauf aus der bürgerlichen Jugendbewegung und war in der Abteilung „Bündische Jugend“ ebenfalls korporatives Mitglied des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände.71 Die Jung - Germanen gehörten auch zum Nordischen Ring. Gründer und erster Leiter war der Geologe und spätere Rassenbiologe Kurt Holler (1901–1967), ein ehemaliger Adler und Falke; die Zentrale in Rostock wurde geführt von dem Lehrer Rudolf Tack (1906–1943), der später das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP tragen sollte.72 Chef ideologe wurde der streitbare Germanist Bernhard Kummer (1897–1962), der unentwegt Studien über nordische Dichtung und germanischen Mythos produzierte.73 Als prominenter Vertreter des Jungnordischen Bundes war dann Friedrich Wilhelm Prinz zur Lippe - Biesterfeld (1890–1938) an der Gründung der Deutschen Glaubensbewegung maßgeblich beteiligt.74 In der bundeseigenen Zeitschrift „Jung - Germanische Blätter“, später „Nordische Blätter“, meldete sich diese radikal rassistische Gruppe zu Wort.75 Thematisch kreiste man in Publikationen und bei Tagungen fast ausschließlich um „Rassenkunde“ und die „Wiedervernordnung Mitteleuropas“; wegweisender Autor war der nationalsozialistische Chef - Anthropologe Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968).76

69 Fünf Grundsätze der Nordungen. In : Flurschütz, Erbe, S. 105. 70 Beide Bünde sind nicht zu ver wechseln mit etlichen ähnlich benannten, meist kurzlebigen Wander vogelbünden. Allgemein als Junggermanen bezeichneten sich auch Mitglieder anderer völkischer Organisationen, und „junggermanisch“ oder „nordisch“ wurde im Sinne von „neopagan“ verwendet. 71 Kleines Handbuch der Jugendverbände, S. 46. 72 Personalakten Rudolf Tack, NSDAP - Mitgl. Nr. 95 979 vom 1. 8. 1928 ( BArch, BDC ). 73 Vgl. vor allem Bernhard Kummer, Midgards Untergang. Germanischer Kult und Glaube in den letzten heidnischen Jahrhunderten, Leipzig 1927; ders., Herd und Altar. Wandlungen altnordischer Sittlichkeit im Glaubenswechsel, Leipzig 1933–1939. Dazu zahlreiche Kleinschriften und Aufsätze; vgl. die Anzeigen in den Zeitschriften ( wie Anm. 75). 74 Nanko, Glaubensbewegung, S. 134, 143, 147. 75 Jung - Germanische Blätter. Zeitschrift für nordisch - arische Kultur, ab 1926 : Nordische Blätter. Zeitschrift für nordisches Leben (1924–1931). Unter Trennung vom Jungnordischen Bund fortgeführt als : Nordische Stimmen. Zeitschrift für deutsche Rassen - und Seelenkunde, ab 1933 : Zeitschrift für nordisches Wesen und Gewissen (1931–1941). 76 Jung - Germanische Blätter, passim. Vgl. Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 101 f.

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Fortleben im Nationalsozialismus

Die meisten völkisch - religiösen Bünde suchten und fanden Mitte 1933 den Anschluss an die von dem Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) initiierte Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung. Hier wollte man im – generell akzeptierten und begrüßten – nationalsozialistischen System überleben und gemeinsam für die staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft kämpfen. Mit dabei waren die Nordungen und etliche weitere Gruppierungen aus der Bündischen Jugend.77 So nahm Hauer Teile des ursprünglich christlichen Bundes der Köngener, den er 1920 als junger Mann aus den evangelischen Bibelkreisen herausgelöst und bis 1933 geführt hatte, als seine Kerntruppe in die Glaubensbewegung mit.78 Wer bei dieser großen Sammlungsbewegung mitmachte, zahlte den Preis der Selbstauf lösung zugunsten der geeinten und autoritär geführten Deutschen Glaubensbewegung. Das war die Beschlusslage bei der Gründungsversammlung Pfingsten 1934 in Scharzfeld,79 bei der die Nordungen ein „Maien - Spiel“ vor der „Steinkirche“ gestalteten.80 Mehrere Zeitschriften gingen in der neuen Monatsschrift „Deutscher Glaube“ auf.81 Doch bald schon zerbrach die Einigung an internen Generationenkonflikten und ideologischen Streitigkeiten. Vor allem aber wurde sie in der nationalsozialistischen Religionspolitik nicht mehr gebraucht : Die aus völkisch - religiösen Bünden und Geheimgesellschaften entstandene NS - Bewegung war nun selbst die große „faschistische Religion“ aus „Blut, Rasse und Germanentum“.82 Aufgespalten und umgewandelt in eine nationalsozialistische Kampforganisation, bestand die Glaubensbewegung mit anderen Namen, doch ohne maßgebliche Rolle im politischen und kirchlichen System noch bis zum Ende des „Dritten Reiches“.83 77 Nanko, Glaubensbewegung, S. 143 ff. 78 Kindt, Dokumentation, Band III, S. 180–210; Nanko, Glaubensbewegung, S. 57–61, 84–114. Vgl. Kommende Gemeinde (1928–1933), aufgegangen in Deutscher Glaube (wie Anm. 81). Der Freundeskreis der Kommenden Gemeinde ging entgegen der Beschreibung bei Bartsch ( Wirklichkeitsmacht, S. 47 ff.) nicht mit Hauer in die Deutsche Glaubensgemeinschaft, sondern setzte unabhängig davon den am 7. 5. 1933 aufgelösten Bund der Köngener fort. 79 Nanko, Glaubensbewegung, S. 64 f., 148 f., 236–241. 80 Ernst Precht, Vom Werden Deutschen Glaubens. Scharzfeld 1934, Berlin - Lichterfelde (1934), S. 21. Auf den Bildbeigaben zu diesem Heft sind u. a. Fahrenkrog, Flurschütz (in schwarzem Gewand mit einer Art Hirtenstab vor der Scharzfelder Höhle ), Hauer, Lahn, Lippe - Biesterfeld, Reuter, Stammler und Zapp zu erkennen. 81 Deutscher Glaube. Monatsschrift der Deutschen Glaubensbewegung, ab 1936 : Zeitschrift für arteigene Lebensgestaltung, Weltschau und Frömmigkeit, ab 1942 : Zeitschrift für arteigene Lebensgestaltung, Weltschau und Frömmigkeit in den germanischen Ländern (1934–1944). Fortsetzung von Kommende Gemeinde, Rig, Nordischer Glaube. Dazu neuerdings Clemens Vollnhals, Deutscher Glaube. Eine Zeitschrift für den gebildeten NS - Glaubenskrieger. In : Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963). Hg. Michel Grunewald und Uwe Puschner, Bern 2008, S. 483–502. 82 Cancik, Neuheiden, S. 195 ff., hier 206. 83 Nanko, Glaubensbewegung, S. 29 f., 53, 79 ff., 125 ff., 143 ff., 251 ff.

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Die alten Verbände mit ihren altgewordenen Führern und Propheten traten also 1934 erneut an, pflegten ihr Gemeindeleben, feierten ihre Feste, gaben ihre Zeitschriften und Programmschriften heraus. Die „nordischen“ Glaubensbünde – mit Ausnahme der Nordungen – kamen in einer Nordischen Glaubensgemeinschaft wieder zusammen und bauten nun eine scharfe Frontstellung gegen die Deutsche Glaubensbewegung auf.84 Zwar nicht als „dritte Konfession“ staatlich anerkannt, wurden sie doch als „religiöse Glaubensgemeinschaften“ vom Regime toleriert. Das galt auch für ihre Jugendgruppen, sofern diese sich auf rein „religiöse Betätigungen“ beschränkten, das heißt auf „politische“ Aktivitäten, öffentliche Veranstaltungen, Uniformen und Symbole verzichteten. Die Reichsjugendführung wies in vertraulichen Anordnungen ihre im Kampf gegen religiöse Verbände oft übereifrigen Funktionäre wiederholt auf diese zurückhaltende Politik der Parteiführung hin. Freilich durfte der „Pflichtdienst“ in der Hitler - Jugend durch die Ausübung einer „konfessionellen Betätigung“ nicht beeinträchtigt werden, auch war die Mitgliedschaft von HJ - Führern in der Deutschen Glaubensbewegung „nicht erwünscht“.85 So wurden die betroffenen Verbände systematisch von möglichem Nachwuchs abgeschnitten. Als einziger der alten völkisch - religiösen Bünde blieben die Nordungen auch nach 1934 bei der Deutschen Glaubensbewegung. Zu Beginn, bei den ersten Schritten hin zur euphorisch erwarteten „Millionenbewegung“, beteiligten sie sich an der Gründung eines „Jugendwerkes“, das als Deutsche Glaubensbewegung – Jungmitglieder für Glaubensunter weisung und Brauchtum zuständig sein sollte.86 Das heißt, die den Religionsgemeinschaften vom Regime zugestandenen Betätigungsmöglichkeiten wollte man voll ausschöpfen. Führer der Jungmitglieder war der schon im Bund der Köngener bewährte Geschäftsführer der DG, der später als Kriegsverbrecher verurteilte Paul Zapp (1904– ?).87 Ob und 84 Nordische Zeitung, 3 (1934) bis 6 (1937) passim, bes. 11/1934 ( unpag.). Vgl. Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 58–68, 97–101; Seibertz, Lebensfragmente, S. 38–42. 85 Vorschriftenhandbuch, Band II, S. 1104 f.; Verordnungsblatt der Reichsjugendführung ( Hitlerjugend ), III /10 vom 14. 3. 1935, S. 6, und V /14 vom 18. 6. 1937, S. 217 ff. Grundlage der Tolerierung ist die Verfügung 34/33 des „Stellvertreters des Führers“ vom 13. 10. 1933 : „Im Anschluss an die Erklärung des Reichsbischofs Müller, wonach keinem Pfarrer dadurch Schaden erwächst, dass er nicht der Glaubensbewegung der ‚Deutschen Christen‘ angehört, verfüge ich : Kein Nationalsozialist darf irgendwie benachteiligt werden, weil er sich nicht zu einer bestimmten Glaubensrichtung oder Konfession oder weil er sich zu überhaupt keiner Konfession bekennt. Der Glaube ist eines jeden eigenste Angelegenheit, die er nur vor seinem Gewissen zu verantworten hat. Gewissenszwang darf nicht ausgeübt werden“ ( Verordnungsblatt der Reichsleitung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter - Partei, Folge 58/1933, S. 125). 86 Die Bezeichnung „Jugendwerk“ wurde Ende 1934 aufgegeben, an die Stelle trat Deutsche Glaubensbewegung – Jungmitglieder. Sporadisch erschien 1934/35 in Wille zum Reich. Eine Zeitschrift aus dem Geiste deutscher Jugend eine Rubrik „Jugend - Zeitschrift der Deutschen Glaubensbewegung“. 87 Vgl. Konrad Kwiet, Paul Zapp – Vordenker und Vollstrecker der Judenvernichtung. In: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Hg. von Klaus - Michael Mallmann und Gerhard Paul, Darmstadt 2004, S. 252–263 ( auch hier ohne Feststellung des Todesdatums ).

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wie weit diese als „Stoß - und Kerntrupp der Bewegung in dem Kampf gegen die geistigen und geistlichen Fremdmächte“ angetretene Jugendarbeit noch gediehen ist, lässt sich nicht feststellen.88 In den Zeitschriften der Deutschen Glaubensbewegung, die sich gelegentlich mit Aufrufen und Werbeaktionen an die „Deutsche Jugend“ wandte, spielten die Nordungen bald keine Rolle mehr.89 Anfangs prägte noch Hildulf Rudolf Flurschütz mit genau ausgearbeiteten Vorgaben für „Jahrlauffeste“ und „Jungvolkweihen“ die Festkultur der gesamten DG.90 Ende 1935 wurde er, wohl nach interner Kritik an seinem übertrieben „germanischen“ Auftreten und unter Verdacht des „Wodankultes“, aus der Öffentlichkeit gezogen.91 Im folgenden Jahr wurde Arthur G. Lahn, nach wie vor Führer der Nordungen, Leiter eines neu eingerichteten Hauptamtes für Fest, Feier und Brauchtum.92 Die Deutsche Glaubensbewegung bzw. ihre Nachfolgeorganisationen veranstalteten in den Großstädten, namentlich in Berlin, „Jugendfeiern“ mit großem Zulauf.93 Als diese Anfang 1942 als „überflüssig geworden“ verboten wurden, ging der Bewegung eine zentrale Aktivität verloren. Für außerkirchliche „Jugendweihen“, offiziell „Verpflichtung der Jugend“ genannt, war nun allein die Hitler - Jugend zuständig.94 Ob die Nordungen ihre Treue zur Deutschen Glaubensbewegung, den Rücktritt Hauers als deren „Führer“ (1936) und die Umwandlung in einen Kampfring Deutscher Glaube (1938) noch lange überdauert haben, ist eher unwahrscheinlich. Beim offiziellen Verbot der DG durch die Alliierten im Jahr 1946 wurden sie nicht eigens erwähnt.95 Nach dem Krieg fanden sie in einem Freundeskreis ehemaliger Nordungen neu zusammen und pflegten die Legende von ihrer Selbstauf lösung im Jahr 1934, angeblich um der Vereinnahmung durch die Hitler - Jugend zu entgehen. Seit 1964 bis zu ihrem biologischen Ende kamen sie alljährlich in Scharzfeld zusammen oder trafen sich mit den ebenfalls wiedergegründeten Freundeskreisen der alten Adler und Falken ( nun Dörnberg-

88 Vgl. Paul Zapp, Die Aufgaben der Deutschen Glaubensbewegung. In : Deutscher Glaube, 11/1934, S. 501–505, hier 504. 89 Vgl. Wille zum Reich, 9/1934 ( Titelseite : Christentum und deutsche Jugend ); Durchbruch. Kampfblatt für deutschen Glauben, Rasse und Volkstum, 27/1935, unpag. (Jugend an die Front ! / Der Deutschen Jugend den Deutschen Glauben !); 39/1935 ( Beiblatt : Zum Ringen der Weltanschauungen / Der Deutschen Jugend ). 90 Deutscher Glaube, 1 (1934) und 2 (1935), passim. 91 Mitteilung von Dr. Ulrich Nanko ( Markgröningen ). 92 Vgl. Durchbruch, 34/1936 ( Nachrichtendienst ); Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 76. 93 Vgl. Durchbruch, 1 (1934) ff., passim ( Berichte der Landsgemeinden ); Deutscher Glaube, 4/1940, S. 71 f.; 5/1941, S. 151 f. 94 Vorschriftenhandbuch, Band II, S. 1105; vgl. Buddrus, Totale Erziehung, Teil 1, S. 292– 296. 95 Vgl. Johannes Priese / Karl Pokorny, Kommentar zum Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, Frankfurt a. M. 1946, S. 15, 436 f. Die Deutsche Glaubensbewegung wurde unter „sonstige Naziorganisationen“ und „Gruppe derjenigen Personen, die mit besonderer Sorgfalt zu prüfen sind“, eingeordnet.

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bund) und Artamanen zur Beschwörung der deutschen Wiedergeburt im Zeichen der „Weltesche Igdrasil“.96 Über den weiteren Weg der Jung - Germanen nach 1933 konnte ebenfalls nichts ermittelt werden. Sie blieben dem Nordischen Ring verbunden; der wiederum wurde 1936 „gleichgeschaltet“, das heißt konkret : in die von Alfred Rosenberg okkupierte Nordische Gesellschaft und somit in das Außenpolitische Amt der NSDAP überführt.97 Bis zum Auffinden anderslautender Informationen wird man damit auch das Ende der Jung - Germanen als Organisation ansetzen können. Auch die Unterlagen der nationalsozialistischen Über wachungsbehörden geben nichts her für das Ende der völkisch - religiösen Jugendbünde. Selbstverständlich standen sie wie alle Religionsgemeinschaften unter Beobachtung. In die Berichte des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS und der Geheimen Staatspolizei fanden aber nur die Deutsche Glaubensbewegung und anfangs noch ihre Mitgliedsverbände Eingang; die sonstigen Gruppen ( außer der Ludendorff - Bewegung ) und viele kleine Neugründungen wurden offensichtlich nicht ernstgenommen und schon gar nicht als „Gegner“ identifiziert. Bei allen beobachtete und beschrieb man spätestens 1939 nur noch das Erlahmen ihrer Aktivitäten.98 Die Völkisch - Religiösen sorgten durch fortwährende interne Flügelkämpfe vor allem selbst für ihre Erosion.99 Mit Kriegsbeginn und mit der allgemeinen Zerstreuung der Männer auf die europäischen Kriegsschauplätze werden diese Gemeinschaften ihre Mitglieder und Strukturen verloren haben. Das könnte eine Erklärung für ihr nahezu spurenloses Vergehen – auch ohne Auf lösung oder Verbot – sein.

96 Freundeskreis ehemaliger Nordungen, Sendbriefe, 1963 ff.; Julius Siegert, Betrachtungen über den Orden der Nordungen. In : Sendbrief, 1/37 vom 8.1. 3774 (= 1974), S. 4–6 ( masch. vervielfältigt; mit irrigen Daten ). 97 Vgl. Birgitta Almgren u. a., Alfred Rosenberg und die Nordische Gesellschaft. Der „nordische Gedanke“ in Theorie und Praxis. In : Nordeuropaforum, 2/2008, S. 7–51. Die Reichstagungen der Nordischen Gesellschaft fanden mit großer Beteiligung der „Jugend des Dritten Reiches“ ( d. h. der Hitler - Jugend ) und einer „Reichssonnwendfeier der deutschen Jugend“ statt, von den Jung - Germanen ist jedoch nicht mehr die Rede. Vgl. Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung, 7–8/1935, S. 302 ff. 98 Reichsführer SS / Chef des Sicherheitsamtes, Lagebericht von Mai / Juni 1934, S. 43 f.; Heinz Boberach ( Bearb.), Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934–1944, Mainz 1971, S. 61 ff., 78, 83, 235 f., 278, 327, 346, 753, 902, 907 f., 924 ff. 99 Vgl. Nordischer Glaube. Freie und fromme Blätter der Germanischen Glaubens Gemeinschaft, ab 1940 : Germanen - Glaube. Blätter für Jung - germanische Religion (1930–1945), passim. Dazu Norbert Seibertz, Lebensfragmente. Handschrift für Freunde und Verwandte, o. O. (1959), S. 38–44.

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Völkisch-religiöse Jugendbünde

4.

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Zahlen und Karrieren

Mitgliederzahlen und Statistiken für die Jugendverbände ( wie überhaupt für die völkisch - religiösen Gemeinschaften ) sind nicht überliefert; solche Interna wurden strikt geheimgehalten. Der Jungborn berichtete 1922 über neun „Lauben“ ( regionale oder lokale Gruppen ).100 Die Nordungen nannten einmal (für 1925) 300 Mitglieder, die sich wohl auf Berlin und Leipzig konzentrierten.101 Weitere Ortsgruppen oder „Gaue“ sind in Sachsen, Bayern und im Rheinland bezeugt, mit einer grotesken Vielzahl von „Ämtern“ und einer jährlich in Scharzfeld tagenden „Waltherrenschaft“ als eine Art Aufsichtsrat für Glaubens - und Brauchtumsfragen.102 Die Jugendbünde werden jeweils einige Hundert Mitglieder nie überschritten haben.103 Die Quantität besagt jedoch wenig über tatsächliche und potenzielle Wirkungen dieser Gruppen, die sich als Elitetruppen mit strengen Auslesekriterien verstanden. Die Bezeichnung „Jugend“ ist nicht allzu eng zu nehmen. Beim Jungborn betrug das Durchschnittsalter 20 bis 22 Jahre, das Höchstalter für die Aufnahme lag bei 28 Jahren, mit 35 wechselte man in den Deutschen Orden über.104 Vor der Gründung der Nordungen hieß es, man sammle alle „wesentlich Jungen“ und ziehe keine Altersgrenze; später wurde einmal 40 Jahre als Obergrenze genannt.105 Ähnlich dürfte es bei den anderen Gruppierungen gewesen sein. Für das Führungspersonal galt offensichtlich kein Höchstalter. Was wurde aus den leitenden Personen der völkisch - religiösen Jugendgemeinschaften nach 1933 ? Es gibt keinen aussagefähigen Korpus an Biografien.106

100 Neues Leben, 1/1922, S. 15. 101 Stadtarchiv Witzenhausen, Spezial - Akten der Stadtver waltung 1 005 ( Germanische Glaubensgemeinschaft ), Bl. 59. Vgl. Günther Ehrenthal, Die deutschen Jugendbünde. Ein Handbuch ihrer Organisation und ihrer Bestrebungen, Berlin 1929, S. 52. Die dortige Angabe „etwa 1 000 Jugendliche“ hat keinerlei Anhaltspunkt. 102 Siegert, Betrachtungen, S. 4 f.; Orden der Nordungen und Nordische Glaubensgemeinschaft, Flugblätter o. D. und Korrespondenzen 1928–31 ( Archiv Burg Ludwigstein, NL Pohl und A 2–72). Anschriften und Briefbögen haben die Nordungen u. a. für : Herzog, Weihwart, Kanzler des Inneren und des Äußeren, Hauptarbeitsamt, Gauämter, Pressestelle, Herold, Gesundheitswart, Rechts - und Wirtschaftsamt, Siedlungsamt, Schatzamt, Naturschutzamt, Kulturamt, Nordlandamt, Lichtbildamt. Abzeichen ( auf Fahnen, Koppelschlössern, Briefbögen, Drucksachen ) ist der doppelte Trifos ( Dreifuß ), bei farbiger Ausführung gold auf blau, beim Freundeskreis der Nordungen dann die Irminsul. 103 Einzelne Funde bei Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 18, 24, 26, 29, 34, 71, 80 f. Ein Indiz für die geringen Zahlen ist die Aufnahme der Nordungen und der Jung - Germanen in den Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände, die mindestens 50 Ortsgruppen und 1 000 Mitglieder zwischen 14 und 25 Jahren voraussetzte. Mit dem Zusammenschluss als Bündische Jugend haben zahlreiche kleinere Vereine diese Hürde übersprungen. Vgl. Kleines Handbuch der Jugendverbände, S. 40–49, 72. 104 Deutschgläubig, Band 2, S. 117. 105 Flurschütz, Vom Greifenring; Stadtarchiv Witzenhausen, Spezial - Akten der Stadtver waltung 1 005. 106 Wichtige Hinweise verdanke ich Dr. Michael Buddrus ( Berlin ) und Dr. Ulrich Nanko (Markgröningen ).

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Schon nach einer ersten Recherche zeichnet sich jedoch ab, dass diese Männer ( und in der zweiten Reihe auch Frauen ) keine Sammlung skurriler Wandervögel darstellten, sondern eine extrem rassistische, „rassenaristokratische“, menschenverachtende und in der Konsequenz menschenvernichtende Bewegung repräsentierten und ungeachtet aller Bemühungen um den Erhalt der eigenen Organisationen in den Nationalsozialismus führten. Die Älteren, die Gründerväter und Propheten, wurden im „Dritten Reich“ zwar noch halbherzig geehrt, aber doch nicht mehr gebraucht.107 Die Jüngeren hingegen stützten zielstrebig ihre beruf lichen Karrieren durch Beitritte zur NSDAP; einige betätigten sich in führenden Positionen in der SS und setzten hier ihre in den völkisch - religiösen Bünden entwickelten Rassetheorien in die politische Praxis um.108

107 Vgl. die Klagen Ludwig Fahrenkrogs über sein „Lebendigbegrabenwerden“ nach 1933 ( GNM, NL Fahrenkrog, I A 2, I C 31, I C 304). 108 Beispiele, sofern mit Personalakten aus dem Bundesarchiv / Berlin Document Center (NSDAP - Mitgliedskartei, NSLB - Kartei, PK, RK, RS, DS, SSO ) zu belegen : Kurt Holler ( NSDAP - Mitglied Nr. 2 290 322 vom 1. 5. 1933), Professor, Lektor im Rassenpolitischen Amt der NSDAP, Oberscharführer im Rasse - und Siedlungshauptamt SS. Bernhard Kummer ( Mitgl. Nr. 87 841 vom 1. 5. 1928, dann Nr. 1 927141 vom 1. 5. 1933), Professor, Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Arthur Lahn ( Mitgl. Nr. 1441153 vom 1. 2. 1933), Stadtoberinspektor. Wilhelm Schloz ( Mitgl. 1923–1926, dann Nr. 3 222 086 vom 1. 5. 1933), Gewerbeschulrat. Rudolf Tack ( Mitgl. Nr. 95 979 vom 1. 8. 1928), Hauptsturmführer im Rasse - und Siedlungshauptamt SS, Untersturmführer in der Leibstandarte SS „Adolf Hitler“. Paul Zapp ( Mitgl. Nr. 4 583 288 vom 1. 5. 1937), SS - Sturmbannführer, Abteilungsleiter und Stabsführer im Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Führer des Sonderkommandos 11a der Einsatzgruppe D.

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Die Deutsche Glaubensbewegung als ideologisches Zentrum der völkisch - religiösen Bewegung Horst Junginger

1.

Definitionsprobleme und die Kategorie des Völkischen als Gattungsbegriff

Die an Pfingsten 1934 ins Leben gerufene Deutsche Glaubensbewegung war die bedeutendste Religionsgründung des „Dritten Reiches“. Ihre Führer sahen in ihr die Speerspitze eines neuen paganen Glaubens, von dem sie sich erhofften, dass er in nicht allzu ferner Zukunft das Christentum ablösen und an seiner Stelle zur weltanschaulichen Grundlage des nationalsozialistischen Staates werden würde. Weil sie sich dabei aber durchaus der Tatsache bewusst waren, nicht das gesamte völkisch - religiöse Lager zu repräsentieren, musste ihnen als erstes daran gelegen sein, die religiöse Meinungsführerschaft in diesem Bereich zu erlangen, um im nächsten Schritt den christlichen Kirchen auf gleicher Augenhöhe entgegentreten zu können. Nur wenn es gelang, der neuen Religion eine inhaltliche und organisatorische Kohärenz zu verleihen, konnte die Deutsche Glaubensbewegung überhaupt darauf hoffen, vom Staat als eigenständige „dritte“ Konfession anerkannt zu werden und dadurch Anspruch auf die gleichen Rechte und Privilegien wie die beiden christlichen Kirchen zu haben. Die angestrebte Vereinheitlichung des deutschgläubigen Aufbruchs gestaltete sich jedoch außerordentlich schwierig und längst nicht alle Religionsgemeinschaften mit einem wie auch immer definierten heidnischen Programm schlossen sich der Deutschen Glaubensbewegung an. So verweigerte sich mit den Ludendorffern die zahlenmäßig stärkste pagane Gruppierung des „Dritten Reiches“ von Beginn an.1 Andere, wie die 1934 in Deutsche Volkskirche umbenannte Geistchristliche Religionsgemeinschaft Artur Dinters oder die Nordisch - religiöse Arbeitsgemeinschaft von Norbert Seibertz, zogen sich rasch wieder zurück, als sie feststellen mussten, dass sie sich mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen konnten. Ungeachtet der inhaltlichen Differenzen unter den paganen Religionsführern, die mit variierender Schwerpunktsetzung Adjektive wie deutschgläubig, germanengläubig, gottgläubig, nordisch, arisch oder indogermanisch für sich rekla1

Siehe zu den Ludendorffern besonders den Beitrag von Bettina Amm in diesem Band.

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mierten oder auch nur als Epitheton ornans im Namen führten, lassen sich drei weltanschauliche Gemeinsamkeiten einer völkisch - religiösen Programmatik erkennen : erstens die Gegnerschaft zu den christlichen Kirchen, zweitens die positive Berufung auf eine vor - oder außerchristliche religiöse Tradition, die vorzugsweise mit den Germanen oder Indogermanen in Verbindung gebracht wurde, und drittens die Bezugnahme auf den Rassegedanken. Die Verbindung von Rasse und Religion suggerierte nicht nur eine besondere Verankerung in der deutschen Geschichte, sondern auch die Übereinstimmung mit den Prinzipien der modernen Wissenschaft, deren Fehlen dem christlichen Offenbarungs - und Wunderglauben als entscheidendes Manko angekreidet wurde. Zudem konnte man das Christentum mit rassischen Argumenten als jüdisch und fremdvölkisch denunzieren und sich so auf Kosten der Kirchen profilieren. Eine allgemeine Bestimmung völkisch - paganer Religiosität über die inhaltlichen Stellungnahmen ihrer Führer erweist sich aber wegen der großen Heterogenität ihrer religiösen Bekenntnisse als überaus vertrackt. Real - oder Wesensdefinitionen bewegen sich in der Religionsgeschichte generell auf schwankendem Grund, weil ihr Definiendum weit davon entfernt ist, eine feststehende oder auch nur klar umrissene Größe zu sein. Es unterliegt einer Vielzahl religiöser und nichtreligiöser Einflussfaktoren und verfestigt sich auch bei den sogenannten Offenbarungsreligionen erst im Laufe heftiger weltanschaulicher Auseinandersetzungen, deren Resultate selbst wiederum angezweifelt und modifiziert werden. Glaubensaussagen stehen deshalb zwar im Mittelpunkt jeder theologischen Systematik, taugen jedoch nur sehr bedingt dazu, als Kriterium einer religionswissenschaftlichen Kategorienbildung zu dienen. Wie sollen neue Religionen wie die Deutsche Glaubensbewegung anhand der religiösen Inhalte beurteilt und klassifiziert werden, wenn selbst ihre Anhänger nur sehr verschwommene und häufig disparate Vorstellungen darüber hatten, worin ihr eigener Glaube bestand ? Aber auch Nominaldefinitionen sind wegen der über viele Jahrhunderte hinweg ausgebildeten Dominanz einer christlich geprägten Sprache schwer anwendbar. So eignet sich beispielsweise weder der christliche Gottesbegriff zum allgemeinen Muster des religionsgeschichtlichen Vergleichs, noch lassen sich die für das Christentum essentiellen Sünden - und Erlösungsvorstellungen ohne Weiteres auf andere religiöse Traditionen übertragen.2 Religiöse Begriffe und Zuschreibungen folgen nicht per se dem Kriterium der wissenschaftlichen Angemessenheit. Im Allgemeinen ist es eine Frage der politischen Macht, welche Religion und religiöse Terminologie sich durchsetzt. Religionsauffassungen abseits eines christlichen Weltbildes als gottlos und heidnisch zu kennzeichnen, war in der Geschichte des Abendlandes lange die Regel und einer der wichtigsten Gründe für die Entstehung eines sich selbst bewusst werdenden Paganentums. Subjektive Glaubensäußerungen über die Wahrheit oder Falschheit einer 2

Die Frage der Verallgemeinerbarkeit einer religionswissenschaftlichen im Unterschied zu einer religiösen Terminologie bildet den Ausgangspunkt des fünfbändigen Handbuchs religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hg. von Hubert Cancik / Burkhard Gladigow/ Matthias Laubscher / Karl - Heinz Kohl, Stuttgart 1988–2001.

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Die Deutsche Glaubensbewegung als ideologisches Zentrum

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Religion sind als Grundlage der religionswissenschaftlichen Systematik prinzipiell ungeeignet. Die religionshistorische Einordnung der völkisch - religiösen Bewegung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass sich diese sehr stark über die Abgrenzung vom Christentum definierte, aber noch in der Negation erkennen lässt, wie sehr ihre Programmatik durch christliche oder parachristliche Elemente geprägt wurde. Jede neue Religion ist zu Beginn darauf angewiesen, Anleihen bei bereits bestehenden Religionsformen zu machen mit dem Ergebnis schwer zu differenzierender Mischbildungen und Synkretismen. Abgesehen von dem subjektiven Wahrheitsbegriff aller Religionen, beruhte die völkische Instrumentalisierung der germanischen oder indogermanischen Religionsgeschichte aber auch in starkem Maße auf objektiven Irrtümern und Missdeutungen, die weder die taciteische Interpretatio Romana, noch den Mangel an paganer Authentizität einer durch christliche Mönche geprägten Quellenüberlieferung zur Kenntnis nehmen wollte.3 Insofern lässt sich die nur wenige Jahre bestehende Deutsche Glaubensbewegung als Paradebeispiel einer „invented tradition“ bezeichnen.4 Die Religionsgeschichte des „Dritten Reiches“ stellt keinen Sonderfall des allgemeinen Musters hegemonialer Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über religiöse Begriffe und Konzepte dar. Der Streit über den neu auszutarierenden Status der christlichen Kirchen im nationalsozialistischen Staat wurde nur zum Teil entlang der religiösen Konfliktlinien zwischen Christen - und Heidentum geführt. Er betraf auch innerkirchliche Problemstellungen und den alles andere als neuen Anspruch des Staates, den Einfluss der Kirchen auf den Bereich des Religiösen zu begrenzen. Eine fundierte Analyse dieser Kämpfe um die für das nationalsozialistische Deutschland am besten geeignete Religion steht vor allem deswegen noch aus, weil es bislang weder der Geschichts - noch der Religionswissenschaft gelungen ist, das Phänomen der völkischen Religiosität in seiner Bedeutung für den Nationalsozialismus angemessen zu beurteilen. Zwar hat sich mittler weile eine differenziertere Betrachtung der katholischen und evangelischen Kirche Geltung verschaffen können. Doch im Hinblick auf die nichtchristliche Religionsgeschichte wird das Bild noch weithin durch die simplifizierende und die früheren Auseinandersetzungen mehr fortschreibende als analysierende Darstellung des sogenannten Kirchenkampfes bestimmt. Verwendet man die Kategorie des Völkischen als Ober - oder Gattungsbegriff für die paganen Religionsgemeinschaften des „Dritten Reiches“, bedarf es einer genauen Darlegung dessen, was unter dem Ausdruck „völkisch“ zu verstehen ist und wie man in diesem Kontext die Deutschen Christen zu beurteilen hat, die eben3 4

Vgl. hierzu den informativen Sammelband von Heinrich Beck u. a. ( Hg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch - deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin 2004. Bei dem von Eric Hobsbawm und Terence Ranger in die Diskussion eingeführten Konzept der „Erfindung einer Tradition“ ist zu berücksichtigen, dass der englische Ausdruck „invention“ weniger den Aspekt der betrügerischen Absicht, sondern den der kreativen Imagination betont. Es geht hier um das phantasiebegabte Finden oder Auffinden neuer Religionsformen und nicht um eine bewusste Erfindung im Sinne der alten Priestertrugstheorie.

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falls eine rassische Verabsolutierung des deutschen Volkes unter religiösen Vorzeichen anstrebten. Wird das Gewicht dabei zu sehr auf den Gesichtspunkt kontroverstheologischer Inhalte gelegt, lässt sich die völkische Dimension der Glaubensbewegung Deutsche Christen und der Deutschen Glaubensbewegung nicht auf der gleichen Strukturebene abhandeln. Es kommt deswegen entscheidend darauf an, von allen religiösen Wesensaussagen Abstand zu nehmen und einen empirisch gehaltvolleren Religionsbegriff zur Anwendung zu bringen, der sowohl substantielle als auch funktionale Aspekte berücksichtigt.5 Wirklich interessant und anspruchsvoll wird die wissenschaftliche Erforschung der völkischreligiösen Bewegung an ihren Rändern und in den Grenzbereichen hin zu liberalen, freireligiösen oder wertkonservativen Milieus. Das gilt besonders für die Schnittstelle zwischen einer völkischen und freigeistigen Weltsicht, auf die am Beispiel Ernst Bergmanns im folgenden Abschnitt näher eingegangen wird. Solche Überlappungen und die zum Teil fließenden Übergänge sollten Ansporn dazu sein, die Problematik einer sachgerechten Klassifikation nicht aus den Augen zu verlieren und die Stringenz der vorgenommenen Einteilung im Licht des jeweils neuesten Forschungsstandes kritisch zu hinterfragen. Das hohe Niveau, das mittlerweile in der Diskussion über die Angemessenheit des Konzepts der „Konservativen Revolution“ erreicht wurde, ist ein gutes Beispiel für den Erkenntnisgewinn, den eine fakten - und diskursorientierte Vorgehensweise jenseits ideologischer Voreingenommenheit bietet. Auch die völkische Bewegung stellt eine besondere Herausforderung für die wissenschaftliche Typenbildung dar, die nicht zuletzt aus Mangel an einer zuverlässigen Materialgrundlage für die Zeit nach 1933 bislang nur in ersten Ansätzen in Angriff genommen wurde. Jeder, der sich intensiver mit der völkischen Bewegung beschäftigt, weiß um die Schwierigkeit, die Spezifik des Wortes „völkisch“ genau zu erfassen.6 Es handelt sich bei dem Ausdruck „völkisch“ nicht lediglich um ein neutrales Beziehungswort oder um ein Adjektiv von Volk im Sinne von „volkhaft“ oder „volklich“, sondern um ein hochgradig aufgeladenes Mythologem, dessen Aufkommen eng mit der politischen Entwicklung Deutschlands in Zusammenhang steht. Die für das völkische Denken charakteristische Überhöhung der Volksidee hatte nicht zuletzt die Funktion, die im Vergleich zu anderen europäischen Staaten erst sehr spät erfolgte Nationalstaatsbildung Deutschlands ideologisch zu kompensieren. Das deutsche Volk wurde dabei als eine den politischen Macht - und Vertragsgedanken transzendierende Einheit aufgefasst, deren ideelle Ziele angeblich im Gegensatz zu den niederen, lediglich materiellen Interessen standen, von denen sich andere Nationen leiten ließen. Im Gefolge des Deutsch 5 6

Zum Problem einer angemessenen Religionsbestimmung vgl. Günter Kehrer, Religion, Definition der. In : Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band 4, Stuttgart 1998, S. 418–425. Ich schließe im Folgenden an meine Ausführungen in dem Artikel „Völkische Religionswissenschaft“ in : Ingo Haar / Michael Fahlbusch ( Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 204–213, an.

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Französischen Krieges erhielt die völkische Ideologie ihre spezifische Ausprägung eines geistigen Hypernationalismus, dessen Zusammengehörigkeitsgefühl sich zunehmend auf rassische Vorstellungen stützte, die am Ende des 19. Jahrhunderts an Einfluss gewannen. Der das völkische Denken kennzeichnende ideologische Überschuss speiste sich aus der Vorstellung einer Volksgemeinschaft gleichen Blutes. Er lässt sich mit den Kategorien eines gewöhnlichen Nationalismus nur ungenau beschreiben. Das ist auch der Grund dafür, warum das Wort „völkisch“ nicht adäquat ins Englische, Französische oder eine andere europäische Sprache übersetzt werden kann. Gleiches gilt für viele andere Begriffe aus dem Wortfeld des Völkischen, für die es ebenfalls keine angemessenen fremdsprachlichen Äquivalente gibt. Zu denken ist hier an die Volksbücherei, die Volksdeutschen, den Volksfeind, die Volksgemeinschaft, den Volksgenossen, den Volksgerichtshof, die Volkskirche, die Volksschule, das Volkstum oder die Volkswohlfahrt. Die sich dafür etwa im Englischen oder Französischen anbietenden Umschreibungen mit ethnic / ethnic, national / national oder people / peuple geben das vom Wort „völkisch“ Gemeinte nur unzureichend wider. Residuen völkischen Denkens haben sich in der deutschen Sprache bis heute erhalten. So suggeriert die Automarke „Volkswagen“ noch immer eine volkliche Einheit jenseits der Grenzen von Stand und Klassenzugehörigkeit.7 Obwohl die völkische Ideologie in der kriegerischen Auseinandersetzung ihre eigentliche Erfüllung findet und das friedliche Nebeneinander mehrerer völkischer Einheiten ein Widerspruch in sich wäre, darf nicht vergessen werden, dass der um 1800 zu einem politischen Schlüsselbegriff werdende Ausdruck „Volk“ am Anfang eine deutlich demokratische Komponente enthielt und auf eine stärkere Einbeziehung des sogenannten niederen Volkes abzielte. Die ursprüngliche Nobilitierung des Volksbegriffs, wie sie etwa bei Herder zu finden ist, verlieh einem politischen Freiheitsideal Ausdruck, in dem die Kollektivpersönlichkeit des Volkes als eine Einheit von Gleichberechtigten gedacht wurde. Noch frei von einem völkischen Chauvinismus und der Abwertung anderer Nationen, beinhaltete das frühe Volksdenken die Inklusion des „gemeinen Volkes“ und konstituierte sich in der Abgrenzung gegen den sich durch Dekadenz und Verschwendungssucht auszeichnenden deutschen Adel. „Noch gestern Brüder, wart ihr nur ein Haufen; ein Volk o Brüder seid ihr heut“, heißt es etwa 1858 bei Ferdinand Freiligrath.8 Die freiheitliche Ausrichtung einer ehedem ständestaat7

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Dass sich der Oberklassewagen Phaeton, der hierauf keinen Bezug nimmt oder sogar bewusst dagegen verstößt, nur schlecht verkaufen lässt, ist deswegen nicht verwunderlich. Die Parallelisierung zwischen Volks - und Wolfswagen bzw. Wolfsburg ( Hitlers Spitzname war „Wolf“) bedürfte einer fundierteren Darstellung als bei Hans - Jörg Wohlfromm/ Gisela Wohlfromm, Deckname Wolf. Hitlers letzter Sieg, Berlin 2001. Der Kübelwagen oder VW Typ 82 als militärische Variante des Volkswagens, der wie ein Wolf läuft und läuft und seine Opfer durch die Weiten Russlands jagt, ist augenfälliges Symbol einer sich im Krieg erfüllenden völkischen Volksidee. Zitiert nach dem umfangreichen Artikel von Reinhart Koselleck, „Volk, Nation, Masse“. In : Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck ( Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch - sozialen Sprache in Deutschland, Band 7, Stuttgart 1992, S. 141–431, hier 147.

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lichen Volksidee und die Politisierung eines vorstaatlichen Nationsbegriffs erhielten nach der gescheiterten Revolution von 1848 freilich eine antidemokratische und nach dem Krieg gegen Frankreich eine stark nationalistische Einfärbung.9 Kurz nach Kriegsbeginn verfasste Freiligrath, ehemaliges Mitglied im Bund der Kommunisten, im patriotischen Überschwang sein bekanntes Gedicht „Hurra, Germania !“ und wurde so zum Wortgeber für den deutschen Hurrapatriotismus.10 Die Kaiserproklamation in Versailles und der fünf Wochen später am 26. Februar 1871 ebenfalls in Versailles geschlossene Präliminarfriede sind die entscheidenden politischen Ereignisse, die den Übergang der demokratischen Volksidee zur antiegalitären und antiparlamentarischen Ideologie der völkischen Bewegung markieren. Mit dem Aufkommen der modernen Rassentheorie bot sich dem völkischen Denken am Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, die fehlende Teilhabe des Volkes an der politischen Macht durch die Zugehörigkeit zu einer virtuellen Machtelite der Rasse ideologisch zu kompensieren. Über den Gedanken der ideellen Gleichheit aller Angehörigen gleicher Rasse konnte die auf politischer Ungleichheit beruhende kaiserliche Monarchie kritisiert und gewissermaßen „demokratisiert“ werden, indem die Elitekonzeption des Blutadels popularisiert und von den deutschen Fürstenhäusern auf das gesamte deutsche Volk übertragen wurde. Das von der völkischen Ideologie nicht erfundene sondern nur verbreiterte Konzept einer Herrschaftslegitimation durch Geburt und Abstammung ermöglichte es allen Mitgliedern der gleichen Rasse, sich unabhängig vom tatsächlichen gesellschaftlichen Stand als Teil einer gemeinsamen Werte - und Machtelite zu verstehen. Die Propagierung eines besonderen Adels der Rasse bedeutete deshalb keine Kritik am Modell der politischen Ungleichheit, sondern die Übertragung traditioneller Adelsvorstellungen auf die Neoaristokratie der Volksgemeinschaft gleichen Blutes.11 Der politische Impuls der völkischen Bewegung richtete sich aus diesem Grund nicht primär gegen die alten Eliten. Vielmehr teilte er mit ihnen die gleichen Feindbilder wie das „internationale Judentum“ oder den „volkszerstörerischen Bolschewismus“ und manifestierte sich im Kampf gegen alles Un - oder Außer völkische. Die meisten Völkischen wollten sich von den Niederungen der Parteipolitik fernhalten und sahen ihre Aufgabe in erster Linie auf weltanschaulichem Gebiet. Von daher wird verständlich, warum in der völkischen Bewegung die Begründung für eine rassische Höherwertigkeit des deutschen Volkes mit zahlreichen Entwürfen zur „Aufartung“, 9 Ich folge hier Kosellecks Ausführungen, ebd., S. 388 f. 10 „Schwaben und Preußen Hand in Hand; Der Nord, der Süd ein Heer ! Was ist des Deutschen Vaterland – Wir fragen’s heut nicht mehr ! [...] Für deutsche Sitt’ und Art – Für jeden heil’gen Hort, Hurra ! Zur Kriegsfahrt ! Hurra, hurra, hurra ! Hurra Germania !“ Ferdinand Freiligrath, Hurra, Germania ! (25. 7.1870). In : Paul Zaunert ( Hg.), Freiligraths Werke, Band 2, Leipzig 1912, S. 146–148. 11 Zur Vorstellung des Rassenadels vgl. besonders Alexandra Gerstner, Rassenadel und Sozialaristokratie. Adelsvorstellungen in der völkischen Bewegung. 1890–1914, 2., korr. Auf lage Berlin 2006; dies., Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008.

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„Aufnordung“ oder „Aufrassung“ einherging, die sich je nach Geschmack und Neigung diesen oder jenen Lebensbereich zum Aktionsfeld erkoren. Dem völkischen Denken war das deutsche Volk weniger politisches Subjekt und das Resultat profaner geschichtlicher Entwicklungen, als der nur äußerliche Ausdruck eines im Metaphysischen wurzelnden Volksgeistes, dem es entweder gelang, in der Welt Gestalt anzunehmen, oder der von bösen Mächten an seiner Entfaltung gehindert wurde. So wie von einem völkischen Blickwinkel aus das Vorhandensein dieser mythischen Tiefendimension das Wesen des deutschen Volkes charakterisierte, so ihr Fehlen das der anderen Völker. Aus völkischer Sicht bestand die Mission der Deutschen darin, das Banner wirklicher Ideale gegen die Vergötzung des Materiellen und Ökonomischen aufzupflanzen, um auf diese Weise seiner ihm vom Schicksal zugewiesenen Rolle in Europa gerecht zu werden. Die völkische Vorstellung von Deutschland als dem auserwählten Volk der Geschichte löste die Idee des christlichen Volksstaates ab, die dem Deutschen Reich davor die Aufgabe zugesprochen hatte, als populus electi und neues Israel eine besondere geschichtliche Bestimmung zu erfüllen. Doch im 19. Jahrhundert hatten sich die äußeren Bedingungen für eine religiös imaginierte politische Heilsgeschichte so gravierend verändert, dass die christliche Grundlage des Deutschtums und seiner Mission in der Welt zunehmend in Frage gestellt wurde. Von einer stetig wachsenden Zahl an Menschen wurde der religiöse Alleinvertretungsanspruch der etablierten Kirchen nicht mehr so ohne Weiteres hingenommen. Viele erachteten das Angebot christlicher Sekten oder neu in Erscheinung tretender Glaubensgemeinschaften gänzlich ohne Bezug zum Christentum als attraktive Alternative zu traditionellen Formen der Kirchlichkeit, die nicht mehr mit den Anforderungen einer modernen Lebensführung in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Vor allem in der Arbeiterschaft und unter bürgerlichen Intellektuellen nahm der Anteil derjenigen dramatisch zu, die sich ganz vom Christentum abkehrten. Parallel zu einer stärkeren Pluralisierung der religiösen Verhältnisse gewann die Anschauung Oberhand, dass die christliche Religion keine Antwort auf die drängenden Probleme der Zeit zu geben vermochte, ja dass diese vielleicht sogar auf ihr Schuldkonto zu setzen seien. Die völkische Bewegung nahm deshalb bereits im Kaiserreich eine antikirchliche und zum Teil auch fundamental antichristliche Form an. Ihr Kampf musste sich zwangsläufig gegen eine Staatskirche richten, die als Teil der politischen Reaktion und des gesellschaftlichen Establishments galt und von der keine zukunftsweisenden Impulse für eine Erneuerung Deutschlands zu erwarten waren. Darüber darf nicht vergessen werden, dass der völkische Impuls auch innerhalb des Christentums eine besondere Dynamik entfaltete. Indem das Volk als eigenständige Größe in den Vordergrund der theologischen Diskussionen trat, erhielten diese einen völkischen Einschlag, der über volksmissionarische oder sozialethische Fragestellungen weit hinausging und der nicht selten auch eine biologistische Komponente beinhaltete. Volk und Volkstum wurden dabei zu Trägern des Geschichtswillens Gottes und zu einem natürlichen Bestandteil der

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göttlichen Schöpfungsordnung erklärt. Beispielsweise entwickelte der völkische Publizist Wilhelm Stapel im Anschluss an Houston Stewart Chamberlain eine spezielle Volksnomostheologie, deren „Volksnomos“ er als religiöses Artgesetz bezeichnete, dem man sich nicht ohne gravierende Folgen entziehen konnte. Den herkömmlichen Nationalismus der kaiserlichen Monarchie und die ihn charakterisierende Verbindung von Deutschtum und Christentum hinter sich lassend, veröffentlichte Stapel in der liberalprotestantischen Zeitschrift „Die Christliche Welt“ während des Ersten Weltkriegs einen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Warum ich nicht zu Gott, sondern zum deutschen Gott bete“, in dem er die von ihm unter betont antiuniversalistischen Gesichtspunkten entwickelten Begriffe der Volkheit, des Volkswillens und der Volksseele in den Rang göttlicher Gesetze erhob.12 Diese Aufwertung des deutschen Volk zu einer zentralen Instanz im Heilsplan Gottes musste auch eine neue Interpretation des gekreuzigten Messias nach sich ziehen. Konsequenterweise wandelte sich die Vorstellung vom leidenden Erlöser dabei in eine des heldenhaften Kämpfers und kulminierte in einem Teil der völkischen Bewegung zur Gestalt des „arischen Krist“.13 So mit dem germanischen Erbgut des deutschen Volkes in Verbindung gebracht, verkörperte der christliche Gottessohn die sieghafte Überwindung des Bösen, wie es durch die Juden, einem Volk aus dem Orient, in die Welt gebracht wurde. Selbst viele „Neuheiden“ hielten an einem auf diese Weise germanisierten Christusbild fest und hatten Mühe, sich mit solchen Vertretern der völkischreligiösen Bewegung zu verständigen, die eine aggressiv antichristliche Haltung vertraten und die in ihrem Kampf gegen das jüdische Christentum seinen Stifter keinesfalls ausnehmen wollten. Ungeachtet aller religiösen Gegensätze konnte der völkische Aufbruch sowohl eine christliche wie eine antichristliche Form annehmen. In beiden Fällen stand die Bezugnahme auf den Rassegedanken im Zentrum der Überlegungen; und in beiden Fällen bezog die Verknüpfung von religiöser und politischer Heilsgeschichte ihre imaginative Kraft aus der Vorstellung der gemeinsamen Abstammung und des gemeinsamen Blutes. Ob die Verbindung von Rasse und Religion unter christlichen oder unter paganen Vorzeichen gedacht wurde, war dabei zweitrangig. Mochten sich die religiösen Ansprüche der Deutsch - und Germanischgläubigen und der Deutschen Christen auch fundamental widersprechen, so wurde die Idee der Rasse doch in beiden Lagern zum Dreh - und Angelpunkt für all diejenigen, die an eine religiöse Erneuerung auf völkischer Grundlage glaubten. In beiden Varianten völkisch - religiösen Denkens kam dem „volks- und rassefremden“ Judentum die Funktion eines ideologischen Gegenmodells zu, an dem sich die eigene Position eines arischen Christentums bzw. arischen Paganentums entwickeln ließ. Dabei gilt es aber zu beachten, dass sich der Antisemitismus der Deutschen Christen durch eine heilsgeschichtliche 12 Vgl. Thomas Martin Schneider, Volksnomostheologie. In : Haar / Fahlbusch ( Hg.), Handbuch völkischer Wissenschaften, S. 721–729, hier 724 f. 13 Siehe hierzu besonders den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band.

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Dimension auszeichnete, die bei den Deutschgläubigen fehlte. Diese sahen in den Juden in erster Linie ein politisches und kein religiöses Problem, das etwa dazu angetan gewesen wäre, ihr eigenes Seelenheil zu gefährden. Aus Sicht der Deutschen Christen hatte das jüdische Volk den Messias und Erlöser der Welt ermordet und mit dem Deizid das schwerstmögliche aller nur denkbaren Verbrechen begangen. Seit annähernd 2000 Jahren verkörperten die Juden das negative Prinzip und schlechthin Böse im christlichen Heilsgeschehen. Bei den Deutschgläubigen war das nicht der Fall. Ihren religiösen Zielen und politischen Ansprüchen an den Staat stand die christliche Kirche im Weg, nicht das jüdische Volk. Was die Deutsche Glaubensbewegung und die Glaubensbewegung Deutsche Christen hingegen miteinander verband, war ein sich religiös artikulierendes Auser wähltheitsdenken, das auf der Annahme einer gemeinsamen Bluts - und Abstammungsgemeinschaft basierte. Der Glaube an Deutschland als dem von der Geschichte und den göttlichen Mächten für besondere Aufgaben vorgesehenen Volk sprach dem „Blut“ eine magische Kraft zu, die es dem Deutschen Reich ermöglichen würde, einen Platz an der Spitze der europäischen Nationen einzunehmen.

2.

Ernst Bergmann als führender Theoretiker und Ideologe der deutschgläubigen Bewegung

Der seit 1916 an der Universität Leipzig als außerplanmäßiger Philosophieprofessor lehrende Ernst Bergmann ist in vieler Hinsicht ein typischer Vertreter der deutschgläubigen Bewegung. Aufgrund seines weltanschaulichen Schrifttums und wegen seiner Mitgliedschaft im Führerrat der im Juli 1933 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung ( ADG ) galt er als einer der Hauptintellektuellen des völkischen Paganentums. Am 7. Februar 1934 wurde sein Buch „Die deutsche Nationalkirche“ von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt. Der genauere Blick auf seine weltanschauliche Entwicklung und auf seine nicht unproblematische Beziehung zur Deutschen Glaubensbewegung lässt erkennen, mit welchen ideologischen und organisatorischen Schwierigkeiten die wichtigste Religionsgemeinschaft aus dem Spektrum des „Neuheidentums“ während des „Dritten Reiches“ konfrontiert war. Als Sohn eines promovierten evangelischen Pfarrers wuchs Bergmann im Pfarrhaus zu Großröhrsdorf in der Nähe Dresdens auf und machte nach dem Schulbesuch in der Meißener Fürstenschule St. Afra am humanistischen Gymnasium in Dresden - Neustadt das Abitur. Ursprünglich wollte er wie sein Vater eine kirchliche Laufbahn einschlagen und Pfarrer werden. Doch dann begann er an der Universität Leipzig zu studieren, wo er 1905 promoviert wurde und 1910 habilitierte. Während des Ersten Weltkriegs meldete sich Bergmann freiwillig zum Kriegseinsatz. 1916 verletzte er sich jedoch bei einem Unfall in der Militärfliegerschule Leipzig - Mockau so schwer, dass er als frontuntauglich ein-

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gestuft wurde.14 Noch im selben Jahr erhielt er an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig eine Stelle als nicht beamteter außerplanmäßiger Professor für die Geschichte der neueren Philosophie. Von 1917 bis 1921 war Bergmann mit der Tochter eines angesehenen jüdischen Anwalts verheiratet. Die sich über einen längeren Zeitraum hinziehende Scheidung hinterließ tiefe Spuren bei ihm und verstärkte seine bereits bestehenden antisemitischen Ressentiments noch weiter.15 Aus der Ehe gingen zwei Söhne her vor, die in der Obhut Bergmanns blieben und bis zu seiner Wieder verheiratung im Juni 1927 von einer Hausdame betreut wurden. Seine zweite Frau, die Tochter eines Leipziger Verlagsbuchhändlers, hatte Bergmann 1926 in seinem Kolleg an der Universität Leipzig kennengelernt. Ein gemeinsamer Sohn starb bereits nach einem Jahr. Wie extrem Bergmanns Antisemitismus schon in den zwanziger Jahren war, macht ein Brief deutlich, mit dem er sich am 29. Oktober 1923 an den Führer der noch jungen nationalsozialistischen Bewegung wandte. Bergmann ermahnte Hitler dringend, an der antisemitischen Ausrichtung des Nationalsozialismus und seinem Abwehrkampf gegen das Judentum festzuhalten. Auch er selbst habe „seit der Revolution Übermenschliches zu leiden gehabt unter der Herrschaft des Judaismus“. Ein Aufschwung Deutschlands sei unter den gegebenen Umständen nur schwer möglich und bedürfe einschneidender Maßnahmen. Voraussetzung dafür sei „die völlige Ausrottung des Judentums in Deutschland mit Feuer und Schwert. Ja, verehrter Führer, wenn Sie hier eine Konzession machen, auch nur die leiseste, meine Gefolgschaft, so unbedeutend sie sein mag, hätten Sie für immer verloren.“16 Alle jüdischen Zeitungen sollten verboten und das gesamte jüdische Eigentum beschlagnahmt werden. Bergmann verlangte überdies, dass die schlimmsten jüdischen Verbrecher durch ein Volksgericht an den Galgen zu bringen seien. Wenn Hitler wolle, könne er ihm gleich eine Liste der Schuldigen zusenden. Das Überleben Deutschlands hänge davon ab, ob es

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Vgl. Christian Tilitzki, Die Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Berlin 2002, S. 74. Über Bergmanns Leben finden sich Informationen bei Louise Bergmann, Ernst Bergmann, Schicksal und Charakter. In : Carl Peter ( Hg.), Ernst Bergmann und seine Lehre, Leipzig 1941, S. 67–89; Karl - Heinrich Hunsche, Ernst Bergmann, sein Leben und sein Werk, Breslau 1936; Peter Bahn, Ernst Bergmann. Von der deutschen Philosophie zur „Deutschen Volksreligion“. In : Jahrbuch zur Konservativen Revolution, Köln 1994, S. 231–250; sowie in seiner Personalakte im Universitätsarchiv Leipzig ( Nr. 306 bzw. Film Nr. 1339). 15 Während des Eheprozesses sei sein Antisemitismus von der Gegenseite sogar als Scheidungsgrund angeführt worden, schrieb Bergmann am 24. 5. 1937 in seiner Antwort auf ein Rundschreiben des Reichserziehungsministeriums vom 19. 4. 1937, bei dem es um die Frage der „jüdischen Versippung“ von Beamten ging ( HStA Dresden, 10283/3, fol. 15, in Abschrift ). Ein Ehrengericht der NSDAP hatte am 9. 9. 1934 entschieden, dass Bergmann weiter in der Partei, der er seit dem 30. 8. 1930 angehörte, bleiben konnte (ebd.). 16 Bergmann an Hitler vom 29. 10. 1923 ( Institut für Zeitgeschichte, MA 731; sowie auch in BArch, NS 26). Unterstreichung im Original. Bergmann benützte die Gelegenheit auch, um Hitler einen in der Zeitschrift „Der Tag“ ( Nr. 259, Berlin 1919) von ihm erschienenen Artikel über das Kloster Meinleben beizulegen.

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gelinge, sich der Juden zu entledigen. Er selbst sei bereit, alles für die Wiederaufrichtung Deutschlands zu opfern, seine Professur und auch sein Hab und Gut. „So schreibt Ihnen einer, den die Juden auch ans Kreuz geschlagen haben, wie unser ganzes Volk, der durch vier Jahre namenlose Martern erduldet. Alles Nähere ist für Sie jetzt unwichtig. Leben Sie wohl und kommen Sie nach Burg Saaleck !“17 Hitlers Reaktion auf Bergmanns Appell ist nicht bekannt. Er befand sich in der unmittelbaren Vorbereitung des Münchener Putsches und konnte sich dadurch nur bestätigt fühlen. Bei dem Schreiben an Hitler handelte sich nicht lediglich um die Wichtigtuerei eines überspannten Professors. Bergmann meinte es durchaus ernst, als er schrieb, Hitler solle an die Gräber von Saaleck kommen und mit „uns“ Verbindung aufnehmen, auch wenn er nicht erläuterte, wer sich hinter dem „uns“ verbarg. Auf dem Saalecker Friedhof lagen die beiden Attentäter Erwin Kern und Hermann Fischer begraben, die am 24. Juni 1922 in Berlin den deutschen Außenminister Walther Rathenau ermordet hatten. Danach waren beide auf die Burg Saaleck geflüchtet und dort am 17. Juli 1922 von der Polizei gestellt worden. Kern kam bei dem dabei geführten Schusswechsel ums Leben, Fischer beging Selbstmord. Beide Attentäter gehörten der rechtsterroristischen Organisation Consul an, die schon etliche Morde begangen hatte, um die Weimarer Republik zu destabilisieren.18 Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass Bergmann dem Umfeld angehörte, das es Kern und Fischer ermöglichte, sich auf der Saalecker Burg zu verstecken. Sein Wohnort lag nur wenige Kilometer von der südwestlich von Bad Kösen gelegenen Burg Saaleck entfernt. Schon 1917 hatte er sich in einem Weinberg im Naumburger Saaletal gegenüber der Fürstenschule Schulpforta, in der Friedrich Nietzsche von 1858 bis 1864 Schüler gewesen war, ein Haus gekauft. Ob Bergmann auch in konkrete Aktionen involviert war, müsste noch eruiert werden. Allem Anschein nach gehörte er zum Umfeld des Architekten Paul Schultze - Naumburg, der seit 1901 in Saaleck lebte und der 1904 zusammen mit Fritz Koegel die lebensreformerisch ausgerichteten und bis 1930 bestehenden Saalecker Werkstätten gegründet hatte. Das rasch prosperierende Unternehmen plante und übernahm den Bau von Häusern, Gärten, Parkanlagen und architektonischen Inneneinrichtungen im konservativen Heimatstil.19 1929 gründete Schultze - Naumburg einen nationalsozialistischen Freundeskreis, den Saalecker Kreis, der Kontakte mit führenden Politikern der NS - Bewegung pflegte. Sowohl Hitler, als auch Himmler und Goebbels kamen mehrfach zu Besuch nach Saaleck. Der spätere Reichsbauernführer Richard Walther Darré verfasste auf Schultze - Naumburgs herrschaft17 Ebd. 18 Vgl. Martin Sabrow, Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau - Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt a. M. 1999. Später wurden Kern und Fischer als Vorkämpfer der nationalen Erhebung gefeiert. Der auf dem Saalecker Friedhof im Oktober 1933 für sie errichtete Gedenkstein wurde im Jahr 2000 entfernt, nachdem Rechtsextreme aus dem Friedhof einen Wallfahrtsort gemacht hatten. 19 Vgl. www.saaleck - werkstätten.de ( letzter Aufruf am 31. 7. 2010).

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lichem Anwesen sein agrarideologisches Hauptwerk „Neuadel aus Blut und Boden“.20 Infolge einer schweren Augenkrankheit konnte Bergmann seiner wissenschaftlichen Arbeit an der Universität Leipzig nur noch eingeschränkt nachgehen. Wie Louise Bergmann schrieb, sei er 1930 erst in dem Augenblick in die NSDAP eingetreten, als sich herausstellte, dass seine bei einem Züricher Arzt erlangte Genesung von Dauer sein würde. Dabei habe er das Gelübde abgelegt, „das neu gewonnene Geschenk seines Lebens und seiner Gesundheit am Altar der Reichsidee darzubringen“.21 Bergmanns Gattin sprach der Abgeschiedenheit seiner geliebten Einsiedelei auf dem Höllenberg einen besonderen Einfluss zu, dass sich „das Wunder seiner Auferstehung“ vollziehen konnte.22 Hier empfing Bergmann zahlreiche Besucher, die sich einerseits von der Schönheit der Aussicht über das Saaletal und andererseits von der Persönlichkeit Bergmanns beeindrucken ließen. Zu den Besuchern gehörte unter anderem die völkische Schriftstellerin Sophie Rogge - Börner und der antisemitische Publizist Johann von Leers, der sich am 31. Juli 1933, am Tag nach der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung in Eisenach, mit einem eher peinlichen als poetischen Gedicht in das Hausbuch eintrug.23 Dort verfasste Bergmann auch seine Hauptwerke : „Die Entsinkung in Weiselose. Seelengeschichte eines modernen Mystikers“ ( Breslau 1932), „Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter“ ( Breslau 1932), „Deutschland das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie“ (Breslau 1933), „Die deutsche Nationalkirche“ ( Breslau 1933), „Die 25 Thesen der Deutschreligion. Ein Katechismus“ ( Breslau 1934) und „Die natürliche Geistlehre. System einer deutsch - nordischen Weltsinndeutung“ ( Stuttgart 1937).24

20 Darré ehelichte 1931 Schultze - Naumburgs Sekretärin. Dessen Frau heiratete nach der Scheidung 1934 den Reichsinnenminister Wilhelm Frick. Zu den regelmäßigen Gästen Schultze - Naumburgs zählten u. a. die Rassentheoretiker Hans F. K. Günther und Alfred Ploetz sowie der Gründer des Nordischen Rings und Schriftleiter der Monatszeitschrift für nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung „Die Sonne“ Hanno Konopacki Konopath. Im Juli 1933 nahm Konopacki - Konopath für die Nordische Glaubensgemeinschaft an der Eisenacher Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung teil. 21 Louise Bergmann, Ernst Bergmann, S. 73. 22 Ebd., S. 78. 23 „Wer nah an Wolken, Winden, Himmelslicht, / Das glitzernd sich in tausend Blüten bricht, / Wer über weitem Lande wohnt, / Wer auf dem Höllenberg so nah am Himmel thront, / Wie sollte der im hellen Sonnenschein / Nicht auch der Himmelswelten Bergmann sein / Und finden in des Geistes tiefem Schacht / Das ‚Neue Wort‘, das Suchens Ende macht, / Und bauen aufwärts zu den Sonnehöhn / Der deutschen Seele Dom, zu dem wir gehen ?“ Hunsche, Ernst Bergmann, S. 22. 24 Bergmanns vollständiges Schriftenverzeichnis findet sich am Ende des Buches von Rudolf Neuwinger, Die Philosophie Ernst Bergmanns, Stuttgart 1938, und wurde von Peter Bahn daraus in seinen bereits erwähnten, gleichermaßen affirmativen Beitrag übernommen ( ebd., S. 341–358).

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In dem 1932 veröffentlichten Buch „Erkenntnisgeist und Muttergeist“ vertrat Bergmann Ansichten, die ihn in ganz Deutschland bekannt machten, wenn auch in negativer Weise. Anstoß erregte Bergmann weniger wegen seiner religiösen Ideen. Weitaus stärker stieß seine Kritik an der bürgerlichen Ehemoral und seine Propagierung einer angeblich von der Natur selbst verlangten Promiskuität auf allgemeinen Widerspruch. Durch seine Beobachtung der Natur und die Übertragung der von ihm dort entdeckten Lehren der „Tiersoziologie“ auf den Bereich des menschlichen Zusammenlebens folgerte Bergmann die Widernatürlichkeit und Artschädlichkeit der monogamen Einehe.25 Die im Tierreich herrschende natürliche Promiskuität sei auf das Fortpflanzungsverhalten des Menschen zu übertragen. Nur dadurch werde seine biologische Höherentwicklung gewährleistet. Die Tierehe sei nun einmal eine Saisonehe und die Polyginie die natürliche Form des geschlechtlichen Beisammenlebens, die den Samen des jeweils stärksten Vertreters seiner Art zur Fortpflanzung bringe. Die Natur wolle die Vielehe, die zudem dem männlichen „Such - , Wander - und Abwechslungstrieb“ am besten entspreche.26 Das Nützliche mit dem Angenehmen verbindend, bezeichnete Bergmann den Mann als ein sexuelles Erkenntnistier, als ein „animal sexualis cognoscientiae“, der durch die Erhöhung seiner Sexualkontakte eine Steigerung seiner Erkenntnis erzielen könne.27 Der fünfzigjährige Leipziger Philosophieprofessor sprach deshalb vielleicht auch pro domo, als er den Geschlechtsakt zur höheren Form der Erkenntnis erklärte und die Monogamie als das dem männlichen Universalwillen am stärksten zuwiderlaufende Prinzip brandmarkte. Auf den Wildesel Nubiens mit seinen zahlreichen Stuten Bezug nehmend, kulminierten Bergmanns Ansichten in dem seinerzeit bekanntesten und wohl auch am öftesten zitierten Satz von jenem flotten Burschen, der problemlos zehn bis zwanzig Mädchen zu begatten in der Lage sei.28 Den Gegenpart in dieser von männlichen Phantasien allzu deutlich geprägten Sexualtheorie spielte die Mutter als Gebärerin und Volkserhalterin, die Bergmann in den Mittelpunkt einer völkischen Matriarchatslehre stellte. Selbstverständlich ging es ihm dabei nicht um die politische Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Vielmehr findet sich bei Bergmann die zeittypische Verklärung eines für urdeutsch gehaltenen Weiblichkeitsideals, das zu einem guten Teil auf die taciteische „Germania“ zurückging und das auch von anderen völkischen 25 Ernst Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932, S. 387. Zum Hintergrund vgl. Gregor Hufenreuter, Zwischen Liebe, Zweck und Zucht. Völkische Ehe - Vorstellungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. In : Ariadne. Forum für Frauen - und Geschlechtergeschichte 2005, H. 48, S. 16–25. 26 Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 381–383. „Die möglichst breite Ausstreuung des Samens ist ja der Naturzweck des männlichen Prinzips“ ( ebd., S. 388). 27 Ebd., S. 389. 28 „Zur Begattung der vorhandenen Frauen und Mädchen finden sich willige und fleißige Männer und Jünglinge genug, und glücklicherweise genügt ein flotter Bursch für 10– 20 Mädchen, die – gibt es noch solche ? – den Willen zum Kinde noch nicht in sich ertötet haben, bestünde nur nicht der naturwidrige Kulturunsinn der monogamen Dauerehe“ ( ebd., S. 406).

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Theoretikern wie Bernhard Kummer und Herman Wirth propagiert wurde.29 Auch Bergmann ging es darum, die vom Christentum und seiner lebensfeindlichen Sündenmoral zerstörte natürliche Ordnung wiederherzustellen, in der Mann und Frau den ihnen entsprechenden Platz einnehmen würden. Dass sich sogar einzelne Frauen wie Sophie Rogge - Börner darauf einließen,30 konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Vertreter eines germanischen „Frauenrechts“ auch in der völkischen Bewegung nicht durchsetzen konnten, weil ihre Ansichten im Gegensatz zu traditionellen Moral - und Weiblichkeitsvorstellungen standen. Bergmann sprach aber nicht nur vom Recht, sondern auch von der Pflicht der deutschen Frau zum Muttertum. Notfalls müssten die Frauen dazu gezwungen werden, ihren Mutterpflichten für das Wohl des Volksganzen nachzukommen. Am allerschlimmsten waren für ihn solche Frauen, die sich ihrer natürlichen Bestimmung verweigerten und zu Feministinnen wurden.31 In Bergmanns Theorie einer völkischen Gynaikokratie hatte die verbale Überhöhung der Frau zur Muttergöttin die Funktion, der politischen Gleichberechtigung der Geschlechter ein religiöses Gegenmodell entgegenzustellen, das vorgab, den Status der Frau in einer ihrem Wesen entsprechenden Weise aufzuwerten. Daraus entwickelte Bergmann einen heidnisch pansophistischen Marienkult, den er in das religiöse Zentrum einer freilich erst noch zu verwirklichenden deutschen Nationalkirche stellte. Bergmanns mutterreligiöse Vorstellungen einschließlich seiner völkischen Sexuallehre bezogen ihre Kraft und Dynamik aus dem Gedanken der biologischen Auslese und der rassischen Aufartung des Menschen. Die von ihm auf das menschliche Zusammenleben übertragene und religiös ausgedeutete Interpretation der „natürlichen“ Ordnung führte ihn zum Postulat der künstlichen Zuchtwahl, das gewissermaßen die Idee der Freiheit in ein von der Natur vor29 Eine Kritik an diesem Frauenbild findet sich bei Julia Zernack, „Germanin im Hauskleid“. Bemerkungen zu einem Frauenideal deutscher Gelehrter. In : Richard Faber / Susanne Lanwerd ( Hg.), Kybele – Prophetin – Hexe. Religiöse Frauenbilder und Weiblichkeitskonzeptionen, Würzburg 1997, S. 213–232; und Irmgard Weyrather, Die „deutsche Frau“ als „Priesterin des Lebens“. Muttermystifizierung und Nationalsozialismus. In : ebd., S. 233–247. Vgl. zum allgemeinen Kontext Uwe Puschner, „Völkische Diskurse zum Ideologem ‚Frau‘“. In : Walter Schmitz / Clemens Vollnhals ( Hg.), Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus, Dresden 2005, S. 45–75. 30 Vgl. Eva - Maria Ziege / Sophie Rogge - Börner. Wegbereiterin der Nazi - Dikatur und völkische Sektiererin im Abseits. In : Kirsten Heinsohn / Barbara Vogel / Ulrike Weckel (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a. M. 1997, S. 44–77; Ilse Korotin / Barbara Serloth ( Hg.), Gebrochene Kontinuitäten ? Zur Rolle und Bedeutung des Geschlechterverhältnisses in der Entwicklung des Nationalsozialismus, Innsbruck 2000, S. 15 und 163 ff. 31 Sie bezeichnete Bergmann als „unnatürliche Zwitter wesen, in denen die gesunde Lebenskraft, deren wir zur Gründung des ‚dritten Reiches‘ der Menschheit bedürfen, erloschen ist. Sie sind, was bei den Männern die Homosexuellen sind, Entartete und Kranke, ja schlimmer noch als diese, denn ihre Triebverirrung ist meist bewusst und gewollt. Das beste wäre, sie zwangsweise zu begatten, um sie zu kurieren, müsste man nicht fürchten, dass sie ihre Entartung auf die Nachkommenschaft vererben.“ Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 404.

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gegebenes Entwicklungsschema einfügte. Doch sowohl die positiven wie die negativen Aspekte dieser Theorie einer rassenbiologisch steuerbaren Höherentwicklung des Menschen unterlagen einem mechanistischen Weltbild, das dem Philosophen auch von sonst wohlmeinender Seite den Vorwurf einbrachte, noch dem Rationalismus des 19. Jahrhunderts verhaftet zu sein. Die positiven Elemente in Bergmanns Aufartungsmodell betrafen vor allem erzieherische Maßnahmen eines seinem rassischen Erbe verpflichteten Staatswesens. Der negative Part konzentrierte sich hingegen auf die Ausmerze artverschlechternder Faktoren, das heißt besonders auf die „Unfruchtbarmachung schlechter Erbträger aus arthygienischen und sozialen Gründen“.32 Es sei falsch, lebensunwertes Leben zu dulden, wo doch im Ersten Weltkrieg mit zehn Millionen Toten das „edelste männliche Zuchtmaterial der jungen Völker“ geopfert wurde. Erst diese Form der negativen Auslese habe das „Untermenschentum“ bei den Völkern Europas her vorgebracht. Wenn der europäische Mensch „nicht die Kraft zu einem Weltkrieg gegen die Idioten, Kretins, Schwachsinnigen, Gewohnheitsverbrecher und sonst wie Degenerierten und Verseuchten, gegen den Menschenkehricht der Großstädte“ habe, von dem „getrost eine Million beiseitegeschaufelt werden könnte“, sei mit einer Besserung der Lage nicht zu rechnen.33 Der extreme Sozialdarwinismus Bergmanns richtete sich in erster Linie gegen das politische System von Weimar, das sich in natur widriger Weise anmaße, alle Menschen auf die gleiche Stufe zu stellen. Ein solches Gleichheitsdenken und die mit ihm verbundene Missachtung jeder natürlichen Ordnung mit ihren fest gefügten Hierarchieverhältnissen musste aus Bergmanns Sicht zum Nieder - und schließlich Untergang des Deutschen Reiches führen.34 Anfang 1933 erschien Bergmanns religiöse Programmschrift „Die deutsche Nationalkirche“, die seinem Anspruch, als intellektuelle Führergestalt der deutschgläubigen Bewegung wahrgenommen zu werden, Nachdruck verlieh. Dass sie im Jahr darauf zusammen mit Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ auf den Index gesetzt wurde, adelte ihren Verfasser als aufrechten Kämpfer gegen die katholische Papstkirche. Auch dieses Buch ist in dem Bergmann eigenen weitschweifigen Stil geschrieben, der wissenschaftlicher Fußnoten nicht bedurfte, dafür aber jeden Aspekt eines Themas beliebig ausmalen konnte. Es wäre eine lohnende Untersuchung, die weltanschauliche Ausrichtung und soziale Schichtung derjenigen zu untersuchen, die sich mit seinen Publikationen zu identifizieren vermochten. Seine größten Erfolge erzielte Bergmann nicht in nationalsozialistischen Kreisen, sondern in einem bestimmten Segment der freireligiösen Bewegung, in dem seine Publikationen als Offenbarung tiefer Geheimnisse aufgefasst wurden. „Die deutsche Nationalkirche“ lebte überwiegend von der Kritik an den bekannten Defiziten des Kirchenchristentums. Originäre Ideen oder Ansätze für ein innovatives Modell paganer Religiosität finden sich dage32 Ebd., S. 429. 33 Ebd., S. 431; Wortsperrung im Original. 34 Ebd., S. 447.

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gen nur sporadisch. Das von Bergmann als Confessio germanica ausgegebene deutschreligiöse Credo lautete schlicht : „Ich glaube an den Gott der Deutschreligion. Es gibt für einen rechten Deutschen kein anderes Bekenntnis. Und das Bekenntnis bedarf auch nicht der vielen Worte, es genügt eine Zeile. Denn wir haben zu handeln und nicht zu reden.“35 Dem fügte er die programmatisch gemeinten Sätze hinzu : „Ich glaube an den Gott der Deutschreligion, der in der Natur, im hohen Menschengeist und in der Kraft meines Volkes wirkt. Die Deutschreligion ist eine Naturreligion im Goetheschen Sinne ( kein Supranaturalismus ). Sie ist ferner Hohe - Geist - Religion im Kant Fichteschen Sinne ( kein Geistabsolutismus ). Und sie ist endlich Erlebnisreligion im Eckhart - Lutherischen Sinne ( kein Jenseits - und Erlösungsdogmatismus ). Damit zugleich ist sie Volksreligion. Will man die Bekenntnisformel der Deutschreligion noch weiter und im Sinne eines Deutschchristentums, wie die Deutschkirchler fordern, ver vollständigen, so kann man hinzufügen : Ich glaube an den Nothelfer Krist, der um die Edelkeit der Menschenseele kämpft.“36

Ein solches Wirr warr philosophischer und religiöser Gedankengänge in eine pagane Religion überzuleiten, die dem Christentum Konkurrenz machen sollte, konnten selbst die treuesten Anhänger Bergmanns nicht erwarten. Auffallend ist bei Bergmann auch die enge Anlehnung an christliche Themen und Motive, die von ihm einfach einem deutschkirchlichen Denkschema unterworfen werden. Genuin Heidnisches ist in der Deutschreligion nicht viel enthalten. Die von Bergmann zu einem authentischen deutschkirchlichen Erkenntnisakt stilisierte religiöse Erfahrung lehnte sich eng an die Theologie Friedrich Schleiermachers an.37 So wie Bergmanns heidnisches Kirchenjahr lediglich die Abfolge der christlichen Feiertage widerspiegelte, so entsprach das Verhältnis von Staat und Deutschreligion dem Staatskirchenmodell der Zeit vor der Weimarer Reichsverfassung. Selbst die Möglichkeit des Kirchenaustritts wollte Bergmann wieder rückgängig machen.38 Wie Bergmann im Mai 1933 an den kurz darauf zum Führer der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung ernannten Jakob Wilhelm Hauer schrieb, sei er von den Lesern der „Deutschen Nationalkirche“ dazu gedrängt worden, sich in religiöser Hinsicht stärker zu betätigen und den Kontakt zur deutschgläubigen Bewegung zu suchen.39 Dem Wunsch seiner Anhänger nach einem stärkeren öffentlichen Engagement gab Bergmann umso lieber nach, als er im nationalsozialistischen Deutschland eine Staatsform zur Macht kommen sah, die seinen politischen Zielvorstellungen entsprach. 35 Bergmann, Die deutsche Nationalkirche, S. 266 f. 36 Ebd. Ein weiterer Glaubensartikel – „Ich glaube an Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit“ – entstammte der gleichnamigen Schrift Bergmanns, die 1933 ebenfalls bei Hirt in Breslau erschien. 37 Bergmann, Die deutsche Nationalkirche, S. 221 f. 38 „Die Deutschreligion ist Staatsreligion. Private Religionsgesellschaften und religiöse Vereine sowie deren Verbände bestehen nicht. Der Austritt aus der deutschen Staatskirche ist für einen deutschen Staatsbürger unmöglich“ ( ebd., S. 275). 39 So Bergmann an Hauer vom 7. 5. 1933 ( BArch, NL Hauer, Band 52, fol. 25). Zit. nach Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, S. 73 f.

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Die Geburt und der frühe Tod einer neuen Religion : die Deutsche Glaubensbewegung

Je nachdem, ob man die Schaffung eines deutschgläubigen Dachverbands im Juli 1933 in Eisenach oder das Scharzfelder Gründungstreffen vom Mai 1934 als Ausgangspunkt nimmt, beläuft sich die Lebensdauer der bis zum Frühjahr 1936 bestehenden Deutschen Glaubensbewegung auf zwei oder auf drei Jahre. Das ist kein Zeitraum, in dem es einer neuen Religion hätte gelingen können, sich zu stabilisieren und eine größere Außenwirkung zu entfalten. Zwei Monate vor dem Eisenacher Treffen schrieb Hauer am 2. Juni 1933 an Bergmann, dass es höchste Zeit sei, mit der „Sammlung einer deutschgläubigen Gemeinschaft“ zu beginnen, um ein Gegengewicht gegen die Annäherung zwischen Staat und Kirche zu schaffen, wie sie im März 1933 am Tag von Potsdam und dann im Konkordat mit der katholischen Kirche bzw. der nationalsozialistischen Unterstützung für die Deutschen Christen deutlichen Ausdruck gefunden hatte. Hauer hoffte bis zur letzten Minute, dass sich der von ihm angestrebten religiösen Volksgemeinschaft deutscher Nation auch die Vertreter eines freien Protestantismus anschließen würden. „Ich weiß aber nicht, ob sie innerlich und äußerlich kräftig dazu sind. Wir, die wir nicht kirchlich dogmatisch an das Christentum gebunden sind, müssen jedenfalls jetzt versuchen, eine gemeinsame Front zu bilden.“40 An frühere Kontakte mit Vertretern der „junggermanischen Bewegung“ anknüpfend, verschickte Hauer am 17. Juni 1933 an etwa vierzig Personen die Bitte, ihren Namen für den Aufruf zur Abhaltung einer „germanisch deutschen Tagung“ zur Verfügung zu stellen.41 Dem schließlich am 15. Juli versandten Einladungsschreiben folgten ca. 200 Personen, die sich am Monatsende auf der Eisenacher Wartburg einfanden. Unter ihnen befanden sich die Delegierten von etwa zehn religiösen Gemeinschaften, darunter die Nordisch Religiöse Arbeitsgemeinschaft ( Wilhelm Kusserow, Norbert Seibertz ), die Germanische Glaubensgemeinschaft ( Ludwig Fahrenkrog ), die Deutschgläubige Gemeinschaft ( Otto Siegfried Reuter ), die Nordische Glaubensgemeinschaft (Hanno Konopath ), die Nordungen ( Hildulf Flurschütz ), der Freundeskreis der Kommenden Gemeinde ( Herrmann Buddensieg, Herbert Grabert, Fritz von Graevenitz, Jakob Wilhelm Hauer, Werner Hülle, Paul Zapp ), die Freireligiösen ( Georg Elling, Ludwig Keibel, Georg Kramer, Carl Peter, Georg Pick, Clemens Taesler, Erich Tschirn, Rudolf Walbaum ), die Adler und Falken ( Lothar Stengel von Rutkowski, Matthes Ziegler ), die Stille Front ( Margarete Müller - Senftenberg ) und die Edda Gesellschaft ( Karl Maria Wiligut ).42 Mit Ausnahme der Frei40 Hauer an Bergmann vom 2. 6. 1933 ( BArch, NL Hauer, Band 52, fol. 24). Zit. nach Nanko, Glaubensbewegung, S. 128. 41 Hauer schrieb dabei u. a. auch an Alfred Rosenberg, der jedoch dankend ablehnte. Vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 132 f. 42 Nach der von Nanko zusammengestellten Anwesenheitsliste ( ebd., S. 332–342). Allerdings fehlen in ihr einige der tatsächlich Anwesenden wie z. B. Artur Dinter und Friedrich Muck Lamberty.

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religiösen handelte es sich dabei um Gruppierungen, deren Mitgliedszahlen im zwei - bis dreistelligen Bereich lagen. Viele Teilnehmer der Eisenacher Tagung gehörten überhaupt keiner Gemeinschaft an, sondern waren als geistige Führerpersönlichkeiten eingeladen worden, neben Ernst Bergmann etwa noch der Rassenseelenkundler Ludwig Ferdinand Clauß, der Verleger Niels Diederichs, der antisemitische Autor Johann von Leers, Friedrich Wilhelm Prinz zur Lippe, der Historiker Kleo Pleyer, der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete Ernst Graf zu Reventlow, die evangelischen Theologen Kurt Leese, Hermann Mandel und Friedrich Solger, der Schriftsteller Wilhelm Schloz, der Philosophieprofessor Wolfgang Schmied - Kowarzik, der Architekt, Kunsttheoretiker und NS- Politiker Paul Schultze - Naumburg, der Dichter Georg Stammler und Herman Wirth, der Leiter des Forschungsinstituts für Geistesurgeschichte in Bad Doberan.43 Der vom 29. bis 30. Juli auf der Eisenacher Wartburg zusammengekommene Personenkreis stellte alles andere als eine deutschgläubige Einheit dar. Bei der zahlenmäßig zweitstärksten Gruppe, dem Freundeskreis der Kommenden Gemeinde, war das protestantische Element unübersehbar, und dass die sie an Teilnehmern noch übertreffenden Freireligiösen eine völkisch pagane Entwicklung nehmen würden, stand ebenfalls nicht in Aussicht. Da man sich noch ganz im Prozess des tastenden Suchens befand, wurde zunächst versucht, sich auf einige wenige Minimalziele zu konzentrieren, die einen stärkeren organisatorischen Zusammenschluss und die Klärung des Verhältnisses zum Staat und seinem Führer zum Gegenstand hatten. Dass sich an den inhaltlichen und organisatorischen Knackpunkten heftige Kontroversen entzündeten, ließ sich freilich nicht vermeiden. Vor allem die Frage eines obligatorischen Kirchenaustritts erhitzte die Gemüter. Die prononcierten „Neuheiden“ wollten eine Doppelmitgliedschaft ganz ausschließen. Allein der Gedanke, dass Theologieprofessoren und kirchliche Amtsträger in einer deutschgläubigen Religionsgemeinschaft eine besondere Funktion übernehmen könnten, war ihnen unerträglich. Genauso wenig konnte eine am Nationalsozialismus ausgerichtete Religionsgemeinschaft Mitglieder in ihren Reihen dulden, die – wie nicht wenige Freireligiöse – ein Parteibuch der SPD besaßen und staatlicherseits verfolgt wurden. Was dieses heterogene Konglomerat unterschiedlicher Interessen einte, war die gemeinsame Ablehnung des religiösen Alleinvertretungsanspruchs durch ein Staatskirchentum evangelischer oder katholischer Provenienz und der Wunsch nach einer neuen, wie auch immer gearteten, religiösen Gemeinschaftsbildung. Ungeachtet aller ideologischen Meinungsverschiedenheiten, entwickelte die Tagung in Eisenach eine psychologische Eigendynamik, von der die Teilnehmer mitgerissen wurden und die alle Gegensätze für den Augenblick in den Hintergrund treten ließ. Man einigte sich schließlich darauf, eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben zu rufen, um mit dieser relativ lockeren Organisationsform weiteren Einigungsbemühungen den Weg zu ebnen. In Analogie zum nationalsozialisti43 Ebd.

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schen Führerstaat wurde ein Führerrat mit Hauer an der Spitze gebildet. Ihm gehörten Ernst Bergmann ( ohne Gemeinschaft ), Arthur Drews ( Verband der Freireligiösen Gemeinden Deutschlands ), Wolfgang Elbert ( Deutschgläubige Gemeinschaft ), Georg Elling ( Verband der Freireligiösen Gemeinden Deutschlands ), Ludwig Fahrenkrog ( Germanische Glaubensgemeinschaft ), Hans F. K. Günther ( ohne Gemeinschaft ), Werner Kulz ( Artamanen ), Friedrich Wilhelm Prinz zur Lippe ( Jungnordischer Bund ), Margarete Müller - Senftenberg ( Stille Front ), Franziska von Porembski ( NS - Rednerin ), Otto Siegfried Reuter (Deutschgläubige Gemeinschaft ), Graf Ernst zu Reventlow ( ohne Gemeinschaft), Friedbert Schultze ( Nordische Glaubensgemeinschaft ), Norbert Seibertz ( Nordisch - religiöse Arbeitsgemeinschaft ), Lothar Stengel von Rutkowski ( Adler und Falken ), Matthes Ziegler ( Adler und Falken ) sowie Herman Wirth ( ohne Gemeinschaft ) an.44 Hans F. K. Günter und Johann von Leers seien es gewesen, die „unter Hinweis auf die Ablehnung durch Minister Darré“ die Aufnahme von Sophie Rogge - Börner in den Führerrat verhindert hätten.45 Wie der äußere bestand auch der dreiköpfige „innere Führerrat“ ( Hauer, Bergmann, Reventlow ) zu zwei Dritteln aus NSDAP - Mitgliedern. Hauer selbst trat erst 1937 in die Partei ein, weil er sich mit deren ausdrücklicher Bezugnahme auf ein „positives Christentum“ nicht einverstanden erklären konnte.46 Jener berühmte Paragraph 24 des NSDAP - Parteiprogramms – „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.“ – lief dem Anliegen der Deutschgläubigen diametral zuwider. Dem ersten ADG - Rundschreiben vom 1. August 1933 zufolge bestand die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung am Anfang aus der Deutschgläubigen Gemeinschaft, dem Freundeskreis der Kommenden Gemeinde, der Nordisch - Religiöse Arbeitsgemeinschaft, der Nordischen Glaubensgemeinschaft und der Volkschaft der Nordungen. Einige kleinere Gruppierungen betrachteten sich als in einem Arbeitsverhältnis zur ADG stehend, ohne einen korporativen Beitritt in Erwägung zu ziehen.47 Diese waren aber zum Teil so klein, dass sie selbst innerhalb der ADG kaum jemand kannte. 44 Nanko, Glaubensbewegung, S. 147; Heinz Bartsch, Die Wirklichkeitsmacht der allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung, Breslau 1938, S. 47. 45 Nanko, Glaubensbewegung, S. 147. 46 Zu Hauers Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reichs, Stuttgart 1999, S. 124–144. 47 Bartsch nennt den Arbeitskreis für biozentrische Forschung ( der sich den Ideen von Ludwig Klages verpflichtet fühlte ), die Braunen Falken ( Opfergruppe der Bundesschwestern der Sturmsoldaten ), die Deutschkatholisch - freireligiöse Gemeinde, den Deutschreligiösen Bund ( O. Michel, Berlin ), die Gefährten im Dritten Reich ( H. Klaus, Kirchheim/ Teck ), die Gemeinschaft Deutscher Erkenntnis ( K. F. Lemcke, Gauting bei München ), den Germanischen Gottesglauben ( J. Michel, Hamburg ) sowie den Bund „Runa“ für germanischen Urglauben ( S. A. Kummer, Dresden ). So Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 47 f. Den Rig - Kreis Georg Krohs zählte Bartsch zu den korporativ Beigetretenen ( ebd.).

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Über eine mögliche Aufnahme der Freireligiösen sollte erst noch entschieden werden. Andere Gemeinschaften wie die Adler und Falken, die Artamanen, die Edda - Gesellschaft, der Deutsche Bund oder die Stille Front waren durch Einzelmitglieder vertreten. Für diejenigen, die sich noch der Kirche zugehörig fühlten, richtete man einen Freundeskreis der ADG ein, der unter der Leitung von Hermann Mandel stand, der in Kiel den Lehrstuhl für Systematische Theologie innehatte. Die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung bedeutete einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine stärkere Konsolidierung des völkisch paganen Lagers. Im Weiteren musste es darum gehen, die auf der Wartburg - Tagung gefundene Struktur zu verfestigen und mit religiösem Inhalt zu füllen. Erst danach konnte daran gedacht werden, sich mit entsprechenden Ansprüchen an den Staat zu wenden. Hauer war in Eisenach beauftragt worden, mit der Regierung in Verhandlungen einzutreten, um die staatliche Anerkennung voranzutreiben. Zwischen Reventlow und Rudolf Heß, dem Stellvertreter des „Führers“, gab es schon seit längerem Kontakte, die man weiter ausbauen wollte.48 Dass sich eine Änderung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche andeutete, schien sich besonders im sogenannten Heß - Erlass vom 13. Oktober 1933 zu bestätigen, der die religiöse Gleichbehandlung aller Deutschen verlangte. Kein Nationalsozialist dürfe benachteiligt werden, „weil er sich nicht zu einer bestimmten Glaubensrichtung oder Konfession oder weil er sich zu überhaupt keiner Konfession bekennt.“49 Verständlicher weise suchte die ADG den Kirchenstreit für sich auszunutzen und intensivierte ihre Öffentlichkeitsarbeit. Über den Leipziger Radiosender, der von dem Schriftsteller und ADG - Mitglied Kurt Eggers geleitet wurde, konnte Hauer Ende Januar 1934 zum ersten Mal im Rundfunk sprechen. Neben Reventlows „Reichswart“, in dem der ADG eine eigene Beilage eingeräumt wurde, schuf Hauer mit der Zeitschrift „Deutscher Glaube“ Anfang 1934 ein eigenes Organ, das eine wichtige Funktion bei der internen Kommunikation erfüllte. Zur Klärung der inhaltlichen und organisatorischen Fragen wurden zehn thematische Arbeitskreise gebildet. Ein parallel dazu eingerichtetes Werbe - und Presseamt diente dazu, die Aktivitäten der Einzelgemeinden besser in der Öffentlichkeit darzustellen. Mit dem von Herbert Grabert geleiteten Hochschulamt suchte man größeren Einfluss auf die Universitäten und die studentische Jugend zu gewinnen. Hauers Mitarbeiter Paul Zapp 48 Heß, seit dem 21. 4. 1933 Stellvertreter des Führers, wurde am 2. 12. 1933 zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich ernannt. Im Vorfeld der Eisenach - Tagung hatte Reventlow am 14. 7. 1933 ein längeres Gespräch mit ihm geführt. Vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 136. 49 Der Erlass ist u. a. abgedruckt bei Wilhelm Hauer, Was will die deutsche Glaubensbewegung ? ( Flugschriften zum geistigen und religiösen Durchbruch der Deutschen Revolution, H. 5), 2. Auf lage Stuttgart 1935, S. 14 und 57. Welch enthusiastische Reaktionen der Erlass bei den Völkisch - Religiösen auslöste, zeigen die von Klaus Scholder aus dem Reichswart wiedergegebenen Zitate : Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1 : Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M. 1986 (1. Auf lage 1977), S. 669 f.

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wurde die Leitung der Tübinger Geschäftsstelle übertragen, die den Aufbau einer größer werdenden Zahl an Orts - , Kreis - und Landesgemeinden koordinieren sollte. Im Frühjahr 1934 existierten ca. 200 Ortsgemeinden, von denen allerdings mehr als 150 den Freireligiösen angehörten. Im März gleichen Jahres konnte man dem Reichsinnenministerium sogar einen Lehrplanentwurf für einen deutschgläubigen Religionsunterricht vorlegen.50 Das Wachstum der ADG konnte allerdings nur äußerlich darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und Personen zum Teil noch immer gravierende Spannungen herrschten und dass elementare Probleme im Hinblick auf die Organisationsstruktur, die religiösen Inhalte oder die zu entwickelnden Rituale noch ungeklärt waren. Wer entschied über die äußere Form der religiösen Kulthandlungen und wer zeigte sich imstande, diesen oder jenen für deutschgläubig gehaltenen Text als normativ durchzusetzen ? Wie sollte mit Eintrittswilligen verfahren werden, die sich zwar der ADG, nicht aber einer der Einzelgemeinschaften anschließen wollten ? Wie viel Eigenständigkeit waren die Einzelgemeinden bereit auf - und an eine sich verselbständigende Reichsgeschäftsleitung abzugeben ? Um das weitere Vorgehen zu besprechen und solchen für die Entstehung neuer Religionen oft lebensbedrohlichen Schwierigkeiten zu begegnen, wurde zu Pfingsten 1934 eine allgemeine Arbeitswoche anberaumt. Als sich zu diesem Zweck etwa 500 Mitglieder und Freunde der ADG vom 18. bis 21. Mai in Scharzfeld im Südharz versammelten, ahnte kaum einer der Teilnehmer, dass diese Zusammenkunft zur Geburtsstunde einer neuen Religion werden würde. Die Scharzfeld - Tagung entwickelte eine ähnliche Eigendynamik wie das Vorjahrestreffen in Eisenach. Alles Trennende wurde ausgeblendet und durch das Gemeinschaftserlebnis beiseite gedrängt. Am letzten Tag ging Ludwig Fahrenkrog so weit, die Selbstauf lösung der von ihm 1912/13 gegründeten Germanischen Glaubensgemeinschaft zu erklären. Damit gab er das Startsignal zur Schaffung einer neuen deutschgläubigen Religion. Nach Fahrenkrog sprach Hauer über die Grundhaltung eines indogermanischen Glaubens, was in einer emotional aufgeladenen Stimmung zu spontanen Äußerungen führte, die darin gipfelten, ihn zum Führer der Deutschen Glaubensbewegung auszurufen.51 Hauer legte daraufhin die Versammlungsleitung nieder und verkündete die Auf lösung des Führerrats und der die ADG konstituierenden Bünde.52 Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch ein bereits religiöse Züge tragendes Weihespiel, das am Pfingstsonntag vor einer bei Scharzfeld gelegenen Höhle, dem Hauptheiligtum der Gemeinschaft der Nordungen, stattgefunden hatte. Die Mitglieder der Deutschen Glaubensbewegung hatten eine eidesstattliche Versicherung abzugeben, dass sie a ) frei von jüdischem und farbigem Blutein50 Nanko, Glaubensbewegung, S. 224. 51 Die Dramatik der Situation wird gut geschildert bei Nanko, Glaubensbewegung, S. 239. 52 „Die einzelnen Gemeinschaften haben sich aufgelöst. Es gibt nur noch ‚Die Deutsche Glaubensbewegung‘ unter meiner Führung. Der Führerrat ist aufgelöst.“ Zit. nach Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 60.

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schlag waren, b ) weder dem Jesuitenorden, einer Freimaurerloge oder einem Geheimbund und c ) auch keiner anderen Glaubensgemeinschaft angehörten. Die noch nicht aus der Kirche Ausgetretenen erhielten lediglich den Status von „fördernden Mitgliedern“ und durften sich nicht als Deutschgläubige bezeichnen.53 Als Symbol der neuen Religion wurde das goldene Sonnenrad auf blauem Grund gewählt. Nicht aus Zufall handelte es sich dabei um ein in Drehung befindliches Hakenkreuz, denn der Nationalsozialismus bildete den entscheidenden politischen und weltanschaulichen Bezugspunkt, an dem sich die Deutsche Glaubensbewegung orientierte. Als eine Art Glaubensbekenntnis dienten drei von der Deutschgläubigen Gemeinschaft formulierten Leitsätze : „1. Die Deutsche Glaubensbewegung will die religiöse Erneuerung des Volkes aus dem Erbgrund der deutschen Art; 2. die deutsche Art ist in ihrem göttlichen Auftrag aus dem Ewigen, dem wir gehorsam sind; 3. in diesen Auftrag allein sind Wort und Brauchtum gebunden. Ihm gehorchen, heißt sein Leben deutsch führen.“54 Hauer war sich im Klaren darüber, dass derart allgemeine Glaubensgrundsätze unterschiedlichsten Interpretationen Tür und Tor öffneten und dass es zu den ersten Aufgaben der Deutschen Glaubensbewegung gehören musste, ihr religiöses Programm genauer zu fassen und die divergierenden Kräfte auf einen gemeinsamen inhaltlichen Fokus hin auszurichten. Unter Hintanstellung seiner akademischen Pflichten konzentrierte er seine Arbeitskraft deshalb auf die zielgerichtete Ausgestaltung der Zeitschrift „Deutscher Glaube“ und die Ausarbeitung einer deutschgläubigen Programmschrift, die noch 1934 im Stuttgarter Gutbrod Verlag unter dem Titel „Deutsche Gottschau. Grundzüge eines deutschen Glaubens“ erschien. Im Anschluss an die Scharzfeld - Tagung wurde zudem ein eigenes Jugendwerk gegründet, das in Abgrenzung zu den christlich konfessionellen Jugendverbänden seine Zuständigkeit allein auf die Glaubensunterweisung und das religiöse Brauchtum beschränken und die nationalpolitische Erziehung der Jugend ganz den staatlichen Organen überlassen wollte.55 Zum unbestrittenen Höhepunkt in der Entwicklung der Deutschen Glaubensbewegung wurde eine am Freitagabend des 26. April 1935 mit etwa 20 000 Teilnehmern im Berliner Sportpalast abgehaltene Kundgebung. In dem bis auf den letzten Platz gefüllten Sportpalast hielt Hauer einen Vortrag zum Thema „Fremder Glaube oder deutsche Art“ und Reventlow sprach über die Entwicklung der

53 Ebd., S. 61. 54 Zit. nach Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 61. 55 Das von Paul Zapp geführte Jugendwerk hieß „Deutsche Glaubensbewegung : Jungmitglieder“ und verfügte von November 1934 bis zum März 1935 in der Zeitschrift „Wille zum Reich“ über eine regelmäßige Beilage ( ebd., S. 62). Die Mitglieder des Jugendwerks mussten zugleich der Hitler - Jugend angehören.

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Deutschen Glaubensbewegung in den vorausgegangenen zwanzig Monaten.56 Die Veranstaltung im Sportpalast wurde zu einem Riesenerfolg und machte die Deutsche Glaubensbewegung weithin bekannt. Darauf aufbauend setzte Hauer seine Rednertätigkeit in unverminderter Intensität fort und scheute sich nicht, in den Hochburgen des Katholizismus zu sprechen, wo es, wie in Münster, zu heftigen Protesten von katholischer Seite kam. Wie bei den meisten neuen Religionen üblich, übertrieb auch die Deutsche Glaubensbewegung die Zahl ihrer Mitglieder und den Grad ihrer Verbreitung so stark als möglich. Heß gegenüber hatte Reventlow im Oktober 1933 von 200 000, Hauer beim Reichsinnenministerium im Januar 1934 sogar von 500 000 Mitgliedern gesprochen.57 Indem man zwischen wirklichen und potentiellen Mitgliedern keinen Unterschied mehr machte, ließen sich die Zahlen noch weiter in die Höhe treiben. So bezifferte Reventlow die erklärten Anhänger der Deutschen Glaubensbewegung auf zweieinhalb Millionen.58 Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass deren tatsächlicher Eintritt unmittelbar bevorstehe und nur durch den noch immer übermäßigen Einfluss der Kirchen verhindert werde. Und natürlich hatte auch die kirchliche Gegenseite ein besonderes Interesse daran, die Deutsche Glaubensbewegung möglichst groß erscheinen zu lassen, um die von ihr für das Christentum ausgehende Bedrohung so dramatisch als möglich schildern zu können. Dieser Trend zur Überzeichnung setzte sich in der Kirchenkampfgeschichtsschreibung fort und verwandelte die Deutsche Glaubensbewegung trotz ihrer relativ bescheidenen Größe in eine die Fundamente der christlichen Staatsordnung unterminierende Schreckgestalt. Nüchtern betrachtet hatte die Deutsche Glaubensbewegung aber nie mehr als fünf - , maximal zehntausend Mitglieder.59 Die im engeren Sinn Nordischen kamen vielleicht auf zweitausend Personen. Allerdings hatten Hauer und Reventlow keine Skrupel, auch die etwa 60–90 000 Freireligiösen der Deutschen Glaubensbewegung zuzuschlagen. Doch seriöser Weise können diese selbst bei großzügigster Auslegung eines „deutschen“ Glaubens nicht zur ihren Mitgliedern oder Anhängern gerechnet werden. Aufgrund vielfältiger Querverbindungen zu den Freidenkern und Sozialdemokraten geriet der Versuch ihrer Eingliederung rasch zur Farce. Sogar im engeren Kreis der Deutschen Glaubensbewegung kam es sehr schnell zu einem Auseinanderdriften der einzelnen Gemeinschaften, die alle Einigungsbemühungen ins Leere laufen ließ. Nach der Deutschen Volkskirche und der Nordisch - religiösen Arbeitsgemeinschaft zogen sich im Februar 1934 die Adler und Falken und im Februar 1935 die Deutschgläubige Gemeinschaft

56 Beide Vorträge sind wiedergegeben in der Zeitschrift „Durchbruch. Kampfblatt für deutschen Glauben, Rasse und Volkstum“ vom 8. 5. 1935 ( S. 1–6). Auch der Reichswart berichtete am 5. 5. 1935 ausführlich darüber. 57 Nanko, Glaubensbewegung, S. 179. 58 Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 71. 59 Nanko, Glaubensbewegung, S. 179 f.

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wieder zurück. Noch gravierendere Folgen hatte der ideologische Streit über eine mehr oder weniger offensive Abgrenzung vom Christentum, der sich dahingehend zuspitzte, dass Ende 1935 eine Riege jugendlicher Frondeure gegen die alte Führung aufbegehrte. Hauer und Reventlow sahen sich gezwungen, Ende 1936 ihre Ämter niederzulegen, da sie die von den jungen Kräften um Herbert Grabert, Hans Kurth und Paul Orlowsky verlangte Verlagerung des Kampfes vom Metaphysischen ins Politische nicht mittragen wollten. Ein am 5. April 1936 in Berlin abgehaltenes Krisentreffen aller Landesringleiter endete mit einer Erklärung der neuen Führung, die versprach, alle Lauheit in der Auseinandersetzung mit dem Christentum abzulegen.60 Mit der gleichzeitigen Verlautbarung, dass die Deutsche Glaubensbewegung in der nationalsozialistischen Bewegung aufgehen solle, weil das „Dritte Reich“ keiner eigenständigen religiöse Sphäre mehr bedürfe, wurde das eigene Ende bereits vorweggenommen. In dem anschließenden Streit um die Neuausrichtung der Deutschen Glaubensbewegung ging zunächst Walther von Lingelsheim als Führer her vor. Er wurde im Februar 1937 von dem Rechtsanwalt Bernd Wiedenhöft abgelöst, wobei in den reichlich verworrenen Interimsverhältnissen zwischenzeitlich beide als Führer auftraten. Der als Ketzer von Magdeburg bekannte Paul Orlowsky war nach internen Streitigkeiten ausgebootet worden. Andere wie Herbert Grabert und der von den Ludendorffern kommende Hans Kurth zogen sich freiwillig zurück.61 Übrig blieben letztlich nur einige Splittergruppen, die vom SD argwöhnisch beobachtet wurden. Der völkische Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus hatte das Anliegen der Deutschen Glaubensbewegung mitsamt ihren Mitgliedern in sich aufgesogen.

4.

Der fehlgeschlagene Versuch, die Freireligiösen in die Deutsche Glaubensbewegung einzugliedern

Die Geschichte der Freireligiösen in der Zeit des „Dritten Reiches“ erscheint nicht nur für Außenstehende unübersichtlich und schwer zu durchschauen. Von jeher hatten die vielen unterschiedlichen Zuflüsse, aus denen sich der breite Strom der freireligiösen Bewegung speiste, das Zustandekommen einer einheitlichen Organisationsstruktur verhindert. Dass die atheistischen Freidenker 1933 sofort verboten wurden, lag auf der Hand. Doch bei den Freireligiösen, die Freiheit nicht von, sondern in der Religion anstrebten, führte der nationalsozialisti60 Unterzeichnet wurde die Erklärung von Walther von Lingelsheim, dem Landesringleiter Mecklenburgs, von Paul Orlowsky, dem Landesringleiter Groß - Berlins, und vom Leiter des Haupt - , Organisations - , Werbe - und Presseamts Wilhelm Heßberg. Vgl. Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 74. 61 Kurth stand der Ludendorffbewegung nahe und hatte Anfang 1936 die Schriftleitung des „Durchbruch“ von Ernst Precht übernommen. Ihm gelang es, die Auf lagenhöhe des „Durchbruch“ von 7 000 Exemplaren auf 17 000 zu steigern ( ebd., S. 72 f ). In der von Januar 1934 bis Mai 1938 erscheinenden Zeitschrift spielten religiöse Inhalte jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielte.

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sche Machtwechsel zu einem Verhalten, das einerseits durch die Angst vor der Verfolgung, andererseits aber auch von dem Wunsch geprägt wurde, sich in das neue politische System einzufügen. Bereits vor 1914 hatte sich schon eine „germanophile Sonderform der Freidenkerei“ angedeutet, die allerdings keinen bestimmenden Einfluss in der freireligiösen Bewegung entfalten konnte.62 Eine Erneuerung des religiösen Lebens durch die Bezugnahme auf die alten Germanen oder Arier blieb ein Randphänomen und trat nur bei Einzelnen in Erscheinung.63 Als Hauer im Sommer 1933 den Versuch unternahm, die Freireligiösen in die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung einzugliedern, unterschätzte er nicht nur die inhaltlichen Unterschiede, sondern auch die für die freireligiöse Bewegung charakteristische Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden. Beides zusammengenommen ließ ihre Gleichschaltung zu einem aussichtlosen Unterfangen werden. Dessen ungeachtet hegten auch einige Freireligiöse den Wunsch, sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren oder sogar zu seiner religiösen Ausgestaltung beizutragen. Fundierte Urteile über ein solches Anpassungsverhalten sind beim derzeitigen Forschungsstand allerdings ebenso wenig möglich wie eine Darstellung der freireligiösen Bewegung im „Dritten Reich“ insgesamt. Erst in jüngster Zeit hat man bei den Freireligiösen vorsichtige und in vielem noch ungenügende Schritte eingeleitet, sich dieses Themas anzunehmen und die eigene Geschichte nicht länger nur unter dem Aspekt der Unterdrückung durch den Nationalsozialismus zu sehen.64 Allem Anschein nach ging die Initiative für eine Kontaktaufnahme zwischen den Freireligiösen und Hauer von Rudolf Walbaum, dem Prediger der Freireligiösen Gemeinde Worms, und von Georg Pick, dem freireligiösen Pfarrer in Mainz und Vorstand des Verbandes freireligiöser Gemeinden Deutschland, aus.65 Pick lud Hauer zu einer Ende Mai 1933 stattfindenden Verbandstagung 62 So Horst Groschopp, Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997, S. 407. Vgl. zum allgemeinen Kontext außerdem Jochen - Christoph Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981; Frank Simon - Ritz, Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistigen Bewegungen im Wilhelminischen Deutschland, Gütersloh 1997. 63 Etwa bei dem freireligiösen Prediger Erich Schramm, der im August 1933 die freireligiöse Bewegung als eine Weiterentwicklung alter germanischer Religion auf der Grundlage der Blutsverbundenheit deutete. Vgl. Matthias Pilger - Strohl, Eine deutsche Religion ? Die freireligiöse Bewegung – Aspekte ihrer Beziehung zum völkischen Milieu. In : Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 342–366, hier 350 f. 64 Hier ist in erster Linie die vom Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands in Auftrag gegebene Magisterarbeit von Christian Langenbach, Freireligiöse im Nationalsozialismus. Die Selbstdarstellung freireligiöser Organisationen in Deutschland 1933 bis 1945, Marburg 2008, zu nennen. Dass in einem die Ergebnisse der Arbeit relativierenden Vorwort Kritikpunkte aus dem internen Universitätsgutachten zitiert werden, zeigt aber, wie weit man noch von einer seriösen wissenschaftlichen Aufarbeitung entfernt ist. 65 Zu Walbaum und Pick vgl. Eckhart Pilick ( Hg.), Lexikon freireligiöser Personen, Rohrbach / Pfalz 1997, S. 172 und 122–125.

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nach Rüdesheim ein, um die Frage eines „Zusammenschlusses aller religiösen Bestrebungen, die sich nicht an das Christentum binden wollen“, zu sondieren.66 Die Freireligiösen machten sich große Sorgen wegen der kirchenfreundlichen Politik des NS - Regimes und weil gegen etliche ihrer Mitglieder Verfolgungsmaßnahmen in die Wege geleitet worden waren. Dass Hauer unter diesen Umständen, wie er wenige Wochen später an Paul Zapp schrieb, tatsächlich daran dachte, sich selbst den Freireligiösen anzuschließen, ist ziemlich unwahrscheinlich.67 Doch zweifellos beabsichtigte er eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Freireligiösen, die von ihm deswegen auch zu der Tagung Ende Juli nach Eisenach eingeladen wurden. Mit ihnen hätte die Deutsche Glaubensbewegung noch ganz anders auftreten können. Die zahlenmäßig größte Organisation der Freireligiösen bildete der 1924 gegründete Volksbund für Geistesfreiheit ( VfG), dem etwa 60 000 Mitglieder in 150 Gemeinden angehörten.68 Um dem drohenden Verbot zu entgehen, nahm der Volksbund für Geistesfreiheit mehrere Umbenennungen vor, jedoch ohne Erfolg. Unter dem am 4. Juni 1933 angenommenen Namen Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands ( BFGD ) wurde er anderthalb Jahre später am 20. November 1934 durch einen Erlass Görings in Preußen aufgelöst. Carl Peter, der Leipziger Geschäftsführer des nunmehrigen BFGD, wandte sich am 13. Juli 1933 ebenfalls an Hauer, um ein Zusammengehen aller kirchlich nicht gebundenen religiösen Kräfte zu sondieren.69 Verstärkte Repressalien gegen Freireligiöse veranlassten Peter, sich nach möglichen Verbündeten umzusehen. Nur wenige Wochen vorher hatte die sächsische Regierung unter Martin Mutschmann den obligatorischen Religionsunterricht wieder eingeführt, den auch die nichtchristlichen Kinder sogenannter Dissidenten besuchen mussten. Bei der Eisenacher Tagung der ADG nahmen sowohl Carl Peter vom BFGD als auch Georg Pick vom Verband freireligiöser Gemeinden Deutschlands teil. Die Freireligiösen stellten mit zwanzig Personen sogar die größte Gruppe auf der Wartburg, gefolgt vom Freundeskreis der Kommenden Gemeinde mit fünfzehn 66 Pick an Hauer vom 15. 5. 1933 ( BArch, NL Hauer, Band 52, fol. 295). Zit. nach Nanko, Glaubensbewegung, S. 119. 67 Hauer an Zapp vom 2. 6. 1933 ( BArch, NL Hauer, Band 16, fol. 236), zitiert nach Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung, S. 121. 68 Der VfG entstand 1924 aus dem Zusammenschluss des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands ( BFGD ) mit dem Deutschen Freidenkerbund. Mehrere freireligiöse Gemeinden in Südwestdeutschland um Georg Pick lehnten die Verbindung jedoch wegen der atheistischen Neigungen der Freidenker ab und schieden aus dem BFGD aus bzw. schlossen sich mit der Landesgemeinde Baden zum Verband freireligiöser Gemeinden Deutschlands zusammen. Die Zahl der Mitglieder des vor allem die Gemeinden in Frankfurt, Offenbach, Mainz und München umfassenden Verbandes betrug etwa 20 000 Personen. Eine dritte Hauptströmung neben Verband und Volksbund bildete die Freireligiöse Landesgemeinde in Baden, der die Gemeinden in Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Pforzheim, Freiburg und Konstanz angehörten. Vgl. Langenbach, Freireligiöse im Nationalsozialismus, S. 27 f. 69 Peter an Hauer vom 13. 7. 1933 ( BArch, NL Hauer, Band 52, fol. 276–278). Zit. nach Nanko, Glaubensbewegung, S. 122.

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Teilnehmern.70 Der Verband freireligiöser Gemeinden Deutschlands, der sich noch in Eisenach der ADG angeschlossen hatte, widerrief seine Entscheidung jedoch wenige Tage später am 4. August 1933.71 Obwohl Hauer noch einige Monate mit dem Verband verhandelte, blieb dieser bei seiner Ablehnung. Mit dem Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands kam es dagegen zu einer näheren Beziehung zwischen Deutschgläubigen und Freireligiösen. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Eisenachtagung hatte Carl Peter Hauer am 31. Juli 1933 seine Bereitschaft signalisiert, aktiv am nationalsozialistischen Staatsaufbau mitzuwirken. Wie Hauer dachte auch Peter ähnlich positiv über einen strikt nationalen Sozialismus und verstand sich wie dieser als ein gegen marxistische Dogmen eingestellter Sozialist. Im „Dritten Reich“ sah Peter die sozialistische Idee zu neuem Leben erwachen.72 Hauer teilte dem BFGD - Vorsitzenden und früheren SPD - Mitglied Georg Kramer am 7. September 1933 mit, dass er sich den Kampf gegen die marxistischen Elemente bei den Freireligiösen zum Ziel gesetzte habe.73 Drei Tage später übernahm Hauer auf der BFGD - Tagung in Leipzig selbst den Vorsitz des Bundes, der sich nun aber in Bund der Gemeinden deutschen Glaubens umbenannte. Der ideologische Schwenk des früheren Volksbundes für Geistesfreiheit wurde von einer gewissen Dramatik begleitet, weil ein von Kramers Sohn in Leipzig verteiltes Flugblatt Ermittlungen der Gestapo nach sich zog. Carl Peter und später auch Georg Kramer wurden verhaftet und die Bundeskasse beschlagnahmt. Sogar bei Hauer in Tübingen wurde während seiner Abwesenheit eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Hauer setzte sich daraufhin mit dem Leipziger Polizeipräsidium und mit der Berliner Gestapo ins Benehmen, um die Freilassung der Inhaftierten zu erreichen. Das Flugblatt bezeichnete er als Missverständnis und als Einzelaktion eines Außenseiters. Er werde alles unternehmen, um die Freireligiösen dem Nationalsozialismus zuzuführen, und es zu verhindern wissen, dass „staatsfeindliche Elemente“ bei den Freireligiösen Unterschlupf fänden. Besonderes Augenmerk werde er auf die Überprüfung ihrer „staatstreuen Gesinnung“ und ihr Bekenntnis zum „Dritten Reich“ legen.74 Am 70 An dritter Stelle rangierten die Adler und Falken mit neun und an vierter Stelle die Nordungen und die Edda - Gesellschaft, die jeweils acht Vertreter nach Eisenach entsandt hatten. Vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 342. 71 Der Eintritt in die ADG war am 2. 8. 1933 auf einer Verbandstagung in Mainz heftig kritisiert worden. Bemängelt wurde nicht nur die Anwendung des Arierparagrafen, sondern insbesondere auch, dass die Freireligiösen unter Wert behandelt worden seien und keinen Vertreter in den Führerrat delegieren konnten. Vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 185 f.; Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 52. 72 Peter an Hauer vom 31. 7. 1933 ( BArch, NL Hauer, Band 53, fol. 367 f.); Junginger, Religionswissenschaft, S. 134. 73 „Ich stehe auf dem Standpunkt, dass der materialistische und im zerstörerischen Sinne atheistische Marxismus undeutsch ist und darum vom Standpunkt des deutschen Reiches und des Volkes aus bekämpft werden muss.“ So Hauer an Kramer vom 7. 9. 1933 ( ebd., Band 54, fol. 242). Zit. nach Junginger, Religionswissenschaft, S. 134. 74 Hauer an das Polizeipräsidium in Leipzig vom 27. 9. 1933 und an die Gestapo in Berlin vom 7. 11. 1933 ( ebd., Band 54, fol. 195 und Band 55, fol. 1–3). Zit. nach ebd., S. 134.

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3. Oktober 1933 vertraute er Reventlow an : „Wer sich von den Marxisten nicht einfügen kann, der soll fallen, man soll ihn meinetwegen aufhängen. Aber die andern darf man nicht so in die Fremde von Volk und Gemeinschaft treiben.“75 Sechs Wochen später erhielt Hauer am 19. November ein Schreiben von Werner Best, dem Leiter des SD - Oberabschnitts Süd - West, in dem dieser um Informationen über die ADG und die Freireligiösen bat.76 Daraus entwickelte sich eine enge Arbeitsbeziehung zwischen Hauer und dem Sicherheitsdienst der SS, die Hauer zum Denunzianten und Zuträger von Informationen werden ließ, die der polizeilichen Unterdrückung des für nichtintegrierbar gehaltenen Teils der Freireligiösen Vorschub leisteten oder diese vielleicht sogar erst ermöglichten. Am 29. Januar 1934 wurde Best in den Führerrat der ADG aufgenommen und am 17. April 1934 fand eine erste Begegnung zwischen Himmler, Heydrich und Hauer in München statt. Hauer, der im Juni 1934 in die SS und den SD eintrat, teilte Himmler am 7. Mai mit, dass er sich diesem persönlich für die Gleichschaltung der Freireligiösen und für „die Durchdringung dieser Gemeinden mit nationalsozialistischem Geiste“ verantwortlich fühle.77 Am 9. Mai folgte die Zusage, dass er Georg Kramer ersetzen werde, falls Himmler dies wünsche.78 Wenig später begann am 18. Mai die Tagung in Scharzfeld, auf der Freireligiöse aber schon nicht mehr in Erscheinung traten. Am 17. Juni 1934 legte Hauer den Vorsitz des Bundes der Gemeinden deutschen Glaubens nieder, der daraufhin kommissarisch von Carl Peter übernommen wurde.79 Fünf Monate später folgte der Verbotserlass durch den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, an den sich weitere staatliche Maßnahmen anschlossen, so die Auf lösung des Bundes für Geistesfreiheit in Nürnberg und der Freireligiösen Landesgemeinde in Bayern im Dezember 1934. Auf der anderen Seite lässt sich nicht übersehen, dass Teile der freireligiösen Bewegung mit dem völkischen Gedanken oder sogar mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Die am 13. Mai 1934 aus dem Zusammenschluss des Verbandes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands und der Freireligiösen Landesgemeinde Baden her vorgegangene Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands (FRD ) legte sich schon am 21. Juli 1935 darauf fest, dass Gemeindebeamten und Mitglieder des Gemeindevorstandes arischer Abstammung zu sein hatten.80 75 Hauer an Reventlow vom 3. 10. 1933 ( ebd., Band 94, fol. 162). Zit. nach ebd., S. 135. 76 Best an Hauer vom 19. 11. 1933 ( ebd., Band 55, fol. 66). Zit. nach ebd., S. 135. 77 Hauer an Himmler vom 7. 5. 1934 ( ebd., Band 82, fol. 143 f.). Zit. nach ebd., S. 135. Bereits am 26. 4. 1933 hatte Hauer Himmler gegenüber seine Kooperationsbereitschaft bekundet ( ebd., S. 135, und NL Hauer, Band 82, fol. 150). 78 Hauer an Himmler vom 9. 5. 1934 ( BArch, NL Hauer, Band 82, fol. 142). Zit. nach Junginger, Religionswissenschaft, S. 134. 79 Vgl. Langenbach, Freireligiöse im Nationalsozialismus, S. 38 f. Als neuen Namen wählte man nun Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands. 80 Vgl. ebd., S. 65 f. Die Badener Landesgemeinde ( mit Ausnahme der Gemeinde in Karlsruhe ) verließ die FRD 1935 wieder. Dagegen schlossen sich über die südwestdeutschen Gemeinden hinaus auch noch die Freireligiösen Gemeinden in Nordhausen und in Hamburg sowie die Freiprotestanten in Rheinhessen der FRD an ( ebd., S. 39–41).

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In Anlehnung an die Nürnberger Gesetze wurde auf einer Gemeinschaftstagung am 21. Mai 1939 in Offenbach überdies entschieden, dass auch normale Mitglieder den Anforderungen des Reichsbürgerrechts genügen, das heißt deutschen oder artver wandten Blutes sein mussten. Dieser Beschluss „bedeutete somit nichts weniger, als dass sämtliche Mitglieder jüdischer Abstammung aus den Gemeinden der FRD ausgeschlossen wurden“.81 Noch deutlicher kam der völkische Impuls in der am 29. August 1937 gegründeten Gemeinschaft Deutsche Volksreligion ( GDV ), der Nachfolgeorganisation des Bundes für Geistesfreiheit, zum Ausdruck. Zum GDV - Vorsitzenden wurde Ernst Bergmann ernannt, die Geschäftsführung übernahm wieder einmal Carl Peter. Die neue Gemeinschaft, über die noch wenig geforscht wurde, verfügte 1942 bereits wieder über vierzig Gemeinden.82 1944 besaß sie etwa 18 000 Mitglieder und übertraf die Größe der früheren Deutschen Glaubensbewegung bei weitem. Dass nun ausgerechnet Bergmann die Führung der Gemeinschaft Deutsche Volkskirche übernahm, ist ein nachdrücklicher Beleg für das ideologische Durcheinander bei den Völkisch - Religiösen. Offenbar hatte die Deutsche Glaubensbewegung hier nur sehr bedingt und nur für kurze Zeit stabilisierend wirken können. Obwohl Bergmann als einer der maßgeblichen intellektuellen Führergestalten der Deutschgläubigen in Erscheinung trat, war er bereits am 29. Januar 1934 aus dem inneren Führerrat der ADG wieder ausgeschieden.83 Der eigentliche Grund für dieses Verhalten blieb der Öffentlichkeit unbekannt. So gut wie niemand wusste, dass Hauer Bergmann zum Verlassen gedrängt hatte, weil er in erster Ehe mit einer Jüdin verheiratet gewesen war. Wahrscheinlich wurde Hauer im Anschluss an die Eisenach - Tagung vom SD über diesen Sachverhalt in Kenntnis gesetzt. Hauers Dilemma bestand darin, dass er schlecht die vorbehaltlose Anerkennung der staatlichen Ariergesetzgebung propagieren und gleichzeitig einen „jüdisch versippten“ Intellektuellen in führender Position belassen konnte. Es entbehrte dabei nicht der Komik – aus der Sicht Hauers und Bergmanns der Tragik –, dass ein notorischer Antisemit unter dem Arierparagrafen zu leiden hatte. Bergmanns zweite Ehefrau beschwerte sich am 7. Juni 1934 in bitteren Worten bei Hauer, auch wenn sie selbst die Ausscheidung der Juden grundsätzlich befürwortete. Im Falle ihres Mannes sei es jedoch absurd, „einem reinen Arier seine Arierschaft“ abzusprechen. Ein an sich richtiger Gedanke schlage in sein Gegenteil um.84 Hauer antwortete eine Woche später, um sein Bedauern auszusprechen. Indes, die Maßnahme sei unumgänglich.85 In einer von Carl Peter 1941 zu Bergmanns 60. Geburtstag herausgegebenen Festschrift ließ Louise Bergmann ihrer Empörung über den „schmählichsten 81 82 83 84

Ebd., S. 65. Ebd., S. 39. Vgl. Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 88. Louise Bergmann an Hauer vom 7. 6. 1934 ( BArch, NL Hauer, Band 60, fol. 65). Zit. nach Junginger, Religionswissenschaft, S. 184. 85 Hauer an Louise Bergmann vom 14. 6. 1934 ( ebd., Band 60, fol. 64). Zit. nach ebd., S. 184.

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Verrat an einem Volksgenossen, der tapfer und in treuer Gefolgschaft zum Führer am geistigen Aufbau Germaniens“ mitarbeitete, freien Lauf.86 Augenscheinlich habe man es in der ADG nicht ertragen, dass sich ihr Mann „im Kampf gegen Rom und den Fremdglauben“ eigene Meriten erworben habe. Weil er sich an dem „beschämenden Schauspiel des Bruderzwists und der Selbstzerfleischung im Angesicht der christlichen Einheitsfront“ nicht länger beteiligen wollte, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich zurückzuziehen.87 „Angewidert durch die Vorgänge innerhalb der verschiedenen völkisch - religiösen Kampfgruppen hatte er sich schließlich seine eigene Religionsgemeinschaft gegründet, die ‚Gemeinschaft Deutsche Volksreligion‘, die heute über ganz Deutschland verbreitet ist und wohl als die am meisten innerlich gefestigte und von der klarsten Zielsetzung erfüllte völkische Religionsgemeinschaft gelten kann, die es zur Zeit in Deutschland gibt.“ Dem fügte Louise Bergmann noch die Bemerkung hinzu, dass die Gründung der Gemeinschaft Deutsche Volksreligion unter ausdrücklicher Billigung der Geheimen Staatspolizei erfolgt sei und dass sich die Zusammenarbeit zwischen ihrem Mann und Carl Peter als außerordentlich fruchtbar erwiesen habe.88 Eine geistige Nähe zum Werk Bergmanns war von manchen Freireligiösen schon sehr früh entdeckt worden. In einer Nummer der Zeitschrift „Geistesfreiheit“ stand zu lesen, dass Bergmann der freireligiösen Weltanschauung „ganz nahe“ stehe.89 Als Hauer am 10. September 1933 in Leipzig den Vorsitz des Bundes der Gemeinden Deutschen Glaubens übernahm, wurde Bergmann das Amt eines allerdings nicht näher definierten „geistigen Beraters“ übertragen.90 Im Anschluss an seinen Rücktritt aus dem Führerrat der ADG unternahm Bergmann ausgedehnte Vortragsreisen bei freireligiösen Gemeinden in Deutschland, die ihn besonders nach Sachsen, Schlesien und in das Rheinland führten. Für die ehemalige Zeitschrift „Geistesfreiheit“, die jetzt „Deutsche Glaubenswarte“ hieß, verfasste der Leipziger Philosoph die maßgeblichen Artikel programmatischen Inhalts. Als die „Deutsche Glaubenswarte“ im Vollzug des Göring - Erlasses ihr Erscheinen einstellte, sprang die Zeitschrift „Deutsches Werden“ der Gesellschaft für nordische Kultur, ab Juli 1935 „Zeitschrift für Deutsche Volksreligion und den nordischen Gedanken“, ein. In der jetzt vom Fahrenkrog - Verlag herausgegebenen Zeitschrift fungierte Bergmann als Schriftleiter. Die enge Beziehung zwischen Bergmann, Fahrenkrog und Peter zeigt sich schon daran, dass der Verlag der Fahrenkrog - Gesellschaft im November 1934 seinen Dienstsitz nach Leipzig verlegte und Carl Peter neuer Inhaber wurde.91 86 Louise Bergmann, Ernst Bergmann, S. 86. 87 Ebd., S. 86. Auch Bergmann selbst kritisierte in einer Zeitschrift der Freireligiösen, dass die Deutsche Glaubensbewegung durch ihre Führer in ein Trümmerfeld ver wandelt worden sei : Deutsches Werden, Nr. 11, 1936, S. 3. Zit. nach Langenbach, Freireligiöse im Nationalsozialismus, S. 111 f. 88 Ebd., S. 87 f. 89 Die Geistesfreiheit 8, 1933. Zit. nach Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 88. 90 Ebd., S. 53 und 89. 91 Ebd., S. 89.

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Einerseits betrachtete Hauer das Ausscheiden Bergmanns als einen herben Verlust für die Deutsche Glaubensbewegung. Andererseits bedeutete sein Rückzug eine spürbare Entlastung, denn Bergmanns Veröffentlichungen, die selbst in NS - Kreisen hochgradig umstritten waren, boten den kirchlichen Gegnern eine ideale Angriffsfläche. So gut wie alle kirchlichen Verlautbarungen über das „Neuheidentum“ nahmen Anstoß an Bergmanns völkischer Sexuallehre, die in der Tat dazu angetan war, die Deutsche Glaubensbewegung dem Gespött preiszugeben. Man brauchte keine Zeile von Bergmann gelesen zu haben, um jene Passagen seiner Bücher zu kennen, die vom nubischen Wildesel mit seinen zwanzig Stuten oder dem fleißigen germanischen Jüngling handelten, der allein mit der Kraft seiner Lenden die Sache der arischen Rasse voranbringen konnte. Der Kieler Theologe Helmuth Schreiner nannte Bergmann denn auch einen „Gestütsdirektor für Volksaufzucht“.92 Die Deutschen Christen nahmen ebenfalls Anstoß an Bergmann und rückten ihn mitsamt der Deutschen Glaubensbewegung in die Nähe des Materialismus und des freidenkerischen Gottlosentums. „Neu ist nur, dass dies Freidenkertum nun auch im Braunhemd auftritt, dass es vom Blut und von der Rasse aus projiziert und sich radikal völkisch gebärdet.“93 In Reventlows „Reichswart“ erschien im Februar 1933 eine kritische Stellungnahme zu Bergmann, die ihm vor warf, „weltanschaulicher Materialist“ zu sein.94 Und im Januar 1934 wandte sich Reventlow an Hauer, wie wichtig es sei, genügend Abstand zu Bergmann zu wahren, um den Ruf der Deutschen Glaubensbewegung nicht zu gefährden.95 Wenn sich schon die völkische Konkurrenz derart missbilligend ausließ, war es nicht ver wunderlich, dass Bergmann im akademischen Umfeld einen noch schwereren Stand hatte. Der bekannte Leipziger Philosoph und Pädagoge Theodor Litt bezeichnete ihn als einen philosophischen Denker ohne Bedeutung.96 Er sei eine für die Uni92 Louise Bergmann, Ernst Bergmann, S. 84. 93 Walter Grundmann, Totale Kirche im totalen Staat, Dresden 1934, S. 6; zu Bergmann bes. S. 42–77. 94 Bartsch, Wirklichkeitsmacht, S. 59. In die gleiche Kerbe hieb auch der deutschgläubige Religionsphilosoph und Leiter des philosophisch - religiösen Arbeitskreises der ADG, Hermann Schwarz ( ebd.). 95 Reventlow an Hauer vom 31. 1. 1934 ( BArch, NL Hauer, Band 115, fol. 119). Zit. nach Nanko, Glaubensbewegung, S. 326. Noch deutlicher wurde Reventlow am 12. 3. 1934: „Leider muss ich immer wieder auf Bergmann zurückkommen, der uns in Wort und Schrift ständig schadet. Ich denke, Sie werden heute mit mir einer Ansicht darin sein, dass er sich nicht ändert, auch nicht den Willen zur Zurückhaltung im Sinne der A. D. G. hat, im Gegenteil ! Ich verkenne natürlich nicht, dass ein Krach, wenn nicht notwendig, vermieden werden muss. Aber es ist doch eine bedenkliche Sache, dass die christlichen Blätter an Bergmanns Reden exemplifizieren, dass die A. D. G. nur eine neue Auf lage des alten Freidenkertums sei und gleichzeitig dabei auf die intensive Betätigung Bergmanns in den freireligiösen Organisationen hinweisen.“. Zit. nach ebd., S. 328 ( BArch, NL Hauer Band 115, fol. 82 f.). 96 So Litt in einem handschriftlichen Gutachten, das einen Eingangsstempel der Philosophischen Fakultät vom 16. 10. 1933 trägt ( Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. 39, fol. 95). In seiner Eigenschaft als Fachberater für Hochschulfragen des Nationalsozia-

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versität Leipzig beschämende Figur, urteilte Litts Kollege Felix Krueger.97 Selbst ein dezidierter Nationalsozialist wie der Dekan der Philosophischen Fakultät, Helmut Berve, äußerte sich ausgesprochen negativ über Bergmann, dessen literarische Produktion die Grenzen des guten Geschmacks des Öfteren verletze. Man frage sich, wie ein Mann von so geringem wissenschaftlichen Verantwortungsgefühl an der Universität Leipzig Vorlesungen halten könne.98 Rosenbergs Hausphilosoph Afred Baeumler nannte Bergmann einen „Wirrkopf“ und lehnte seine Aufnahme in die deutsche Delegation für den Internationalen Philosophenkongress in Paris 1937 strikt ab.99 Auch im Sicherheitsdienst der SS machte man sich Gedanken über Bergmann. In einem Philosophen - Dossier des SD heißt es, dass der Reichsführer SS zwar etwas positiver als Rosenberg zu Bergmann stehe.100 Doch seien trotz gewisser Berührungspunkte wesentliche Abweichungen zwischen der Philosophie Bergmanns und der Weltanschauung des Nationalsozialismus festzustellen. Insbesondere sei eine Distanzierung von Bergmanns deutschgläubigen Theorien angebracht, um dem politischen Gegner nicht in die Hände zu spielen.101 Heydrich schrieb am 3. Juni 1937 an Himmler, dass man Bergmann zwar nicht unbedingt wie einen „Gegner und Staatsfeind“ behandeln solle. Seine Ansichten seien jedoch mit aufklärerischen und freidenkerischen Gedankengängen in einer Weise durchsetzt, dass man nicht umhin könne, sich von ihm zu distanzieren.102

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listischen Deutschen Lehrerbundes hatte Bergmann am 11. 7. 1933 an die Stabsleitung des NSLB geschrieben, dass er sich darüber wundere, warum ein Gegner des Nationalsozialismus wie Litt noch immer nicht beurlaubt sei ( HStA Dresden, 10210/8, fol. 38). Bergmanns Fichtebuch sei „nationaler Kitsch“. So Krüger in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät am 12. 3. 1934. Zit. nach Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 695. „Dass Prof. Bergmanns Wirken in Vorträgen und literarischen Veröffentlichungen die Grenzen überschreitet, welche das wissenschaftliche Verantwortungsgefühl einem Universitäts - Professor setzen muss, wird von Herrn Krüger hervorgehoben, ist mir auch von zahlreichen anderen Kollegen bestätigt worden und wird selbst bei einer flüchtigen Lektüre der letzen Bücher Prof. Bergmanns jedem wissenschaftlichen Leser rasch ersichtlich. Dass dabei auch die Grenzen des moralisch Erträglichen überschritten und sittliche Dinge in einem Geiste behandelt werden, der den Bestrebungen des neuen Staates, wie ich glaube, krass widerspricht, sei an einem Beispiel dargetan, auf das in der Göttinger Zeitung vom 1. 12. 1933 hingewiesen wurde.“ So Ber ve an das Sächsische Volksbildungsministerium vom 23. 3. 1934 ( Universitätsarchiv Leipzig, Personalakte Bergmann, Nr. 306, fol. 79–81 bzw. Film Nr. 1339, fol. 558 f.). Das Zitat ist auch abgedruckt bei Carsten Heinze, Die Pädagogik an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, Bad Heilbrunn 2001, S. 159. Vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 695. Das undatierte SD - Dossier findet sich im REM - Bestand des Bundesarchivs (49.01/ 124444); bzw. daraus wiedergegeben : http ://homepages.uni - tuebingen.de / gerd.simon/ philosophendossiers.pdf. Ebd. Zit. nach Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 766.

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Die Deutsche Glaubensbewegung und das „Dritte Reich“

Auch ohne die Übernahme der Freireligiösen stellte die Deutsche Glaubensbewegung den bei weitem erfolgreichsten Versuch dar, das heterogene Spektrum völkisch - religiöser Ideen stärker zu vereinheitlichen. Den Charakter einer bloßen Bewegung und den Bereich eines disparaten kultischen Milieus rasch hinter sich lassend, gelang es der Deutschen Glaubensbewegung nicht nur, die Vielzahl vagierender Vorstellungen hinsichtlich einer paganen Alternative zum Christentum besser zu strukturieren, sondern auch ein Stück weit zu institutionalisieren. Das theologische Konstrukt eines deutschen Glaubens entfaltete eine in der völkischen Bewegung bis dato unbekannte Attraktionskraft und zog wie ein Magnet die Wünsche und Phantasien vieler religiös Suchender an, um sie durcheinanderliegenden Eisenspänen gleich auf einen gemeinsamen Zielpunkt hin auszurichten. Von daher kann man durchaus sagen, dass die Deutsche Glaubensbewegung, zumindest für kurze Zeit, das ideologische Zentrum der völkisch - religiösen Bewegung bildete. Hätte Deutschland den Krieg gewonnen und wären ihr statt zwei oder drei zwanzig oder 200 Lebensjahre beschieden gewesen, hätte sich das pagane Milieu weiter konsolidiert. Möglicher weise wären dann auch die Teile der freireligiösen Bewegung hinzugekommen, die sich einer völkischen Neuausrichtung bislang noch ver weigerten. Dieser unbestreitbare Erfolg bei der ideologischen Gleichrichtung des völkisch - religiösen Lagers sollte aber nicht zu dem Missverständnis verleiten, dass die Deutsche Glaubensbewegung oder irgendeine andere pagane Religionsgemeinschaft der ins Religiöse verlängerte Arm des Nationalsozialismus gewesen wäre. So wenig es der Deutschen Glaubensbewegung gelang, auch nur die Mehrheit der Völkisch - Religiösen hinter sich zu scharen, so aussichtslos blieb ihr Bemühen, in die inneren Strukturen und Institutionen des Staates einzudringen. Obwohl sich die NS Führung die Chance nicht entgehen ließ, das „Neuheidentum“ als Druckmittel gegenüber den Kirchen einzusetzen, achtete sie sehr darauf, seine Anführer und Organisationen von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. Hitlers Missbilligung aller Versuche, die germanischen Götter wiederauferstehen zu lassen, ist bekannt. Eine besondere Sympathie für das deutschgläubige Anliegen war weder bei ihm noch bei der überwiegenden Mehrheit der nationalsozialistischen Führer zu erkennen. Geradezu abfällig äußerte sich Joseph Goebbels über die Deutsche Glaubensbewegung. Kurz nach dem Rücktritt von Hauer und Reventlow notierte er am 25. April 1936 in sein „Tagebuch“ : „Reventlow erzählt mir von den neuen Religionsgründern, Hauer etc. Ein Konglomerat aus Schwätzern, Intriganten, böswilligen Gesinnungsschiebern. Nein, so entstehen keine Religionen. Und so stürzt man auch nicht das Christentum.“103 Alle Anstrengungen Hauers, Einfluss auf die SS, die NSDAP und andere Parteiinstanzen zu nehmen, oder in eine nähere Beziehung zu Himmler und ande103 Elke Fröhlich ( Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, T. 1, Band 2, München 1987, S. 605.

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ren hochrangigen NS - Funktionären zu kommen, waren vergeblich gewesen. Gerne bediente man sich seiner als V - Mann und Gutachter bei der weltanschaulichen Gegnerbekämpfung, etwa bei der Verfolgung der Anthroposophie oder anderer „Okkultgruppen“, doch gleichzeitig hielt man ausreichend Abstand zu ihm und seinen mit prophetischem Eifer verfolgten religiösen Zielen. In einem Aktenvermerk des SS - Anthropologen Bruno Beger für seinen Vorgesetzten Ernst Schäfer, den Leiter des Sven - Hedin - Instituts für Innerasienforschung, heißt es im September 1942 über ein Gespräch, das Beger mit Hauers Schüler Hans Endres führte : „Den Namen Hauer hat Endres klugerweise nicht erwähnt, denn der Reichsführer - SS sowohl, als auch Standartenführer Wüst stehen gegen denselben.“104 Im Vergleich mit den beiden Kirchen hatte die deutschgläubige Bewegung viel zuwenig Mitglieder, um als politischer Faktor nennenswert ins Gewicht zu fallen. Wie extrem niedrig die Mitgliedszahlen der Deutschen Glaubensbewegung waren, zeigt sich besonders dann, wenn man sie dem organisierten Christentum gegenüberstellt, dem am Anfang so gut wie am Ende der nationalsozialistischen Herrschaft 95 Prozent aller Deutschen angehörten. Die am 17. Mai 1939 durchgeführte Volkszählung bestätigt dieses Zahlenverhältnis in eindrucksvoller Weise. Bedauerlicherweise hat es die historische Forschung bislang versäumt, auf das hierbei erhobene statistische Material näher einzugehen beziehungsweise es überhaupt erst zur Kenntnis zu nehmen. Wahrscheinlich wurde das Ergebnis der Volkszählung auch deswegen „übersehen“, weil es das Argumentationsschema des Kirchenkampfes gesprengt hätte. Außerdem trug der wenige Monate nach der Volkszählung begonnene Krieg seinen Teil dazu bei, dass eine genaue Analyse ihrer Resultate unterblieb. Viele der mit der Volkszählung befassten Mitarbeiter wurden eingezogen und standen für eine Auswertung nicht mehr zur Verfügung. Im Juli 1941 fiel zudem die Zentralstelle für kirchliche Statistik der katholischen Kirche in Köln einem Brand zum Opfer, wobei wichtige Unterlagen verloren gingen. Auf einen kurzen Nenner gebracht, lässt sich das religionsstatistische Ergebnis der Volkszählung vom Mai 1939 wie in Tabelle 1 darstellen . Bei einer Gesamtbevölkerung von 79,4 Millionen ergab die Volkszählung vom Mai 1939, dass mit 75,4 Millionen exakt 95 Prozent aller zu diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet des Deutschen Reiches lebender Deutscher einer der beiden christlichen Kirchen angehörte.105 Von den restlichen vier Millionen oder 104 Aktenvermerk Bruno Begers vom 23. 9. 1942 ( BArch, R135, Band 48, fol. 164012). Zu Endres vgl. Junginger, Religionswissenschaft, S. 268–288; zu Wüst ders., From Buddha to Adolf Hitler : Walther Wüst and the Aryan Tradition. In : Horst Junginger ( Hg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden 2008, S. 107–177. 105 Im Unterschied zur Volkszählung des Jahres 1933 wurden 1939 die Freikirchen mit der evangelischen Kirche zusammengefasst. Die Angehörigen der übrigen „christlichen“ Religionsgemeinschaften – etwa die Adventisten oder die Neuapostolische Kirche – wurden jetzt der Rubrik „andere Christen“ zugeordnet. Vgl. Wissenschaft und Statistik, 1. Mai - Heft 1939, S. 174. Zahlenmäßig fallen die Christen außerhalb der beiden Hauptkonfessionen jedoch nicht ins Gewicht.

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Tabelle 1: Die Religionsgliederung des Deutschen Reiches nach der Volkszählung vom 17. 5.1939 Personen insgesamt Angehörige einer Kirche, Religionsgesellschaft oder religiös-weltanschaulichen Gemeinschaft und zwar: Angehörige der evangelischen Landesund Freikirchen Angehörige der römisch-katholischen Kirche Übrige Christen Glaubensjuden Angehörige sonstiger nichtchristlicher Religionsgesellschaften und religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften Gottgläubige Glaubenslose Ohne Angabe Summe insgesamt:

in Zahlen: 75 393 799

in Prozent: 95,0

42 636 218

53,7

31943 932

40,3

419 612 307 614 86 423

0,5 0,4 0,1

2 745 893 1 208 005 27 584 79 375 281

3,5 1,5 0,0 100,0

Quelle : Statistisches Reichsamt ( Hg.), Wissenschaft und Statistik, Nr. 9, 1. Mai - Heft, 1939, S. 173. Berechnungsgrundlage ist die Wohnbevölkerung des Reichsgebiets Mitte 1939 ohne das Memelland.

fünf Prozent der Reichsbürger bezeichneten sich 2,75 Millionen oder 3,5 Prozent als gottgläubig. Etwa 1,2 Millionen, das heißt 1,5 Prozent der Deutschen, waren glaubenslos und nur 0,1 Prozent (86.423 Personen ) rechnete sich der Gruppe „Angehörige einer Kirche, Religionsgesellschaft oder religiös - weltanschaulichen Gemeinschaft“ zu. Hierunter fielen auch die Mitglieder der Deutschen Glaubensbewegung. Selbst wenn die Deutschgläubigen in dieser Gruppe die Mehrheit gestellt hätten, wäre ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung noch immer weit unter einem Tausendstel gelegen. Das heißt, die Deutsche Glaubensbewegung war im Mai 1939 auf eine Größe bar jeder statistischen Relevanz geschrumpft. Eine genauere Aufschlüsselung des nichtchristlichen Bevölkerungsteils ergibt, dass sich dieser vor allem auf die großen Städte und die bereits vor 1933 einschlägig bekannten Verwaltungszentren verteilte.106 In allen ande106 Nur in Städten wie Berlin, Braunschweig, Dresden, Hamburg, Leipzig oder Wien ging er über fünf Prozent hinaus. Vgl. die Sonderbeilage der Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“ : „Die Bevölkerung des Reichs, der Reichsteile, der größeren und kleineren Verwaltungsbezirke, der Gaue der NSDAP, sowie der Großstädte nach der Religionszugehörigkeit auf Grund der Volkszählung vom 17. Mai 1939“ ( ebd., 21 Jg., 1941, Nr. 8, S. 3–15).

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ren Landesteilen erreichten Deutsch - und Gottgläubige nicht einmal zusammengenommen die Fünfprozentmarke. Die noch während des Krieges einsetzende Auswertung der Volkszählung von katholischen und evangelischen Stellen unterstreicht diesen Befund, auch wenn bei beiden Kirchen die Tendenz unübersehbar ist, die eigene Konfession durch einen spezifischen Blickwinkel oder die Modifizierung der Bezugsgröße in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen. Beispielsweise wurde auf katholischer Seite geltend gemacht, dass sich die Religionsverteilung nach Kriegsausbruch erheblich zu den eigenen Gunsten entwickelt habe, weil in den dem Deutschen Reich nach und nach einverleibten Gebieten überproportional viele Katholiken lebten. Dem „Kirchlichen Handbuch für das katholische Deutschland“ aus dem Jahr 1943 zufolge waren von den nunmehr 96 Millionen Einwohnern „Groß - Deutschlands“ jetzt über fünfzig Prozent katholisch. Bei Einrechnung der neun Millionen Katholiken des Generalgouvernements sowie der katholischen Bevölkerung Elsaß - Lothringens und Luxemburgs hätte sich die Verteilung noch deutlicher zugunsten der katholischen Kirche verschoben.107 Ziehe man bei den „Neuheiden“ die großen Städte ab, sei die von ihnen ausgehende Gefahr weitaus geringer einzuschätzen. Mit Genugtuung stellte man abschließend fest, dass die Deutschgläubigen nicht einmal in den Großstädten einen nennenswerten Erfolg erzielen und nirgends auch nur ein Prozent der Bevölkerung für sich gewinnen konnten. Das erleichterte Fazit lautete deshalb : „Um die Professoren - Bekenntnisse hat sich also das deutsche Volk sehr wenig gekümmert.“108 Betrachtet man die evangelische Kirchenstatistik, springt als erstes die nach dem nationalsozialistischen Machtwechsel einsetzende Rückkehr welle ins Auge.109 Ein evangelischer Autor nannte die Zahl von 230 000 Personen, die sich aus dem Gottlosen - und Freidenkerlager wieder der Kirche zugewandt hätten. Allein in Berlin seien es 60 000 gewesen.110 Somit überstieg allein die Zahl derjenigen, die zu Beginn des „Dritten Reiches“ in den Schoß der evangelischen Kirche zurückkehrten, die Mitgliedszahlen der Deutschen Glaubensbewegung um ein Vielfaches. Um die Jahreswende 1935/36 kam es allerdings zu einer Trendwende, die bis zum Jahr 1939 zu einer Umkehrung der Ein - und Austritts-

107 „So viel ist aber schon jetzt sicher, dass im großdeutschen Raum die Katholiken stark überwiegen, und dass sich das im Altreich vor den Angliederungen bestehende zahlenmäßige Verhältnis der Konfessionen von Grund aus geändert hat.“ Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland, 22 (1943), Köln 1943, S. 159. 108 Ebd., S. 305. 109 Eine Auswertung der Volkszählung vom Mai 1939 findet sich besonders in dem von Joachim Beckmann herausgegebenen Kirchlichen Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1949–1951, Gütersloh 1950, S. 530–573; 1951, S. 425–468; und 1952, S. 335–362. 110 Ernst Eberhard, Die Kirchlichkeit im Dritten Reich im Spiegel der Statistik. In : Deutsches Pfarrerblatt 52 (1952), S. 690–692, hier 691; ders., Statistik der kirchlichen Lebensäußerungen. In : Kirchliches Jahrbuch 1950, S. 464.

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zahlen führte.111 Inwieweit es sich bei der Zunahme der Austritte um eine neue, dem Nationalsozialismus geschuldete Entwicklung handelte, oder ob sich hier nicht auch ein schon vor 1933 bestehender Trend fortsetzte, müsste erst noch überprüft werden. Nimmt man die relevanten Parameter aktiver Kirchlichkeit (Gottesdienstbesuch, Taufziffer, Trauungen, Teilnahme am Abendmahl ) als Maßstab, gewinnt die Annahme einer longue durée weiter an Plausibilität. Beim Abendmahl bedeutete der Teilnahmerückgang von 25 Prozent im Jahr 1932/1933 auf 15 Prozent im Jahr 1939/1940 die Fortsetzung einer Entwicklung, die bereits im 19. Jahrhundert ihren Ausgang genommen hatte und die, wie Ernst Eberhard selbstkritisch anmerkte, auch dem im Bereich der Kirche stattgegebenen Einfluss von Aufklärung und Rationalismus zugerechnet werden müsse.112 Mit dem Krieg habe sich die Lage für die Kirchen aber wieder stabilisiert. Eberhard ist deshalb in seiner Folgerung zustimmen, dass es dem Nationalsozialismus trotz aller Anstrengungen nicht gelungen sei, „den Bestand wie die Lebensäußerungen der Kirche in ihrer Gesamtheit ernsthaft zu gefährden. Auch nicht der Charakter der Volkskirche ist ihr verlorengegangen.“113 Im Kirchlichen Jahrbuch von 1949 hatte es schon geheißen, dass sich der Protestantismus trotz aller Schläge, von denen die evangelische Kirche getroffen wurde, seine „überragende Vorherrschaft im ganzen deutschen Gebiet bewahrt“ habe.114 Das Postulat einer vom „Neuheidentum“ für die Kirche ausgehenden Existenzbedrohung kann angesichts der Volkszählungsergebnisse des Jahres 1939 nicht aufrechterhalten werden. Bei der Deutschen Glaubensbewegung, als dem bedeutendsten Zusammenschluss paganer Religionsgemeinschaften, handelte es sich um eine so kleine Größe, dass sie weder religionsstatistisch noch religionspolitisch nennenswert zu Buche schlägt. Die Überzeichnung des „Neuheidentums“ beruht denn auch nicht auf objektiven Zahlen, sondern geht auf die hohe Wellen schlagenden weltanschaulichen Kontroversen zurück, die das Auftreten von Gruppen wie der Deutschen Glaubensbewegung in der Öffentlichkeit auslöste. Nur unter Missachtung der tatsächlichen Verhältnisse ist es möglich, aus dem „Neuheidentum“ eine den Bestand der Kirchen in Frage stellende Erscheinung zu machen. Auch der von Hauer im ersten Überschwang an den Tag gelegte Optimismus, mit der Deutschen Glaubensbewegung über kurz oder lang die etablierten Kirchen abzulösen, kann kaum anders als eine maßlose Phantasie angesehen werden, der jeder Realitätsbezug abhanden gekommen war. Leider haben auch viele geschichtswissenschaftliche Studien die Vorstellung eines finalen Endkampfes zwischen Christentum und „Neuheidentum“ übernommen oder zumindest als uneingestandene Voraussetzung akzeptiert

111 Die Kurve der Eintritte sank von 320 000 auf 21 000 ab, dafür stieg die der Austritte von 29 000 auf 380 000 an. Vgl. Eberhard, Kirchlichkeit, S. 691. 112 Ebd., S. 691; ders., Statistik der kirchlichen Lebensäußerungen. In : Kirchliches Jahrbuch 1950, Gütersloh 1951, S. 450. 113 Eberhard, Kirchlichkeit, S. 692. 114 Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1949, S. 532.

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und so dazu beigetragen, die Deutsche Glaubensbewegung zu einem Popanz zu machen, der noch in der nachträglichen Betrachtung Schauder auslöst. Mit der tatsächlichen religionsgeschichtlichen Situation lässt sich eine solche Sicht der Dinge nicht in Einklang bringen. Mit Blick auf die allgemeine Religionsgeschichte kann man generell sagen, dass die Überbewertung des ideologischen Faktors gerade beim Auftreten neuer religiöser Bewegungen so gut wie immer zu einem Zerrbild der Wirklichkeit führt. Je nachdem, von welcher Perspektive aus man die Deutsche Glaubensbewegung betrachtet, lässt sich ihr Auftreten als grandioser Erfolg oder als klägliches Scheitern interpretieren. Tatsächlich war sie die wichtigste heidnische Organisation des „Dritten Reiches“, der es erstmals in der Geschichte gelang, größere Teile des paganen Religionsspektrums zu vereinheitlichen. Doch bezogen auf die Gesamtbevölkerung und die allgemeine politische Entwicklung Deutschlands handelte es sich bei der deutschgläubigen Religionsbildung des Jahres 1933/34 um einen von viel ideologischem Getöse begleiteten Sturm im Wasserglas. Eine auch nur minimale Änderung der Religionsverhältnisse im Deutschen Reich hat sich daraus nicht ergeben. Das eigentlich relevante Ergebnis der Volkszählung vom Mai 1939 sind nicht die organisierten „Neuheiden“, sondern die nichtorganisierten Gottgläubigen, die es auf immerhin 3,5 Prozent oder 2,76 Millionen Anhänger brachten. Sie sind Ausdruck eines signifikanten religiösen Wandels, auch wenn sich dieser weit unterhalb der Fünfprozentmarke ereignete. Die Möglichkeit, sich gottgläubig zu nennen, bestand erst seit einem Erlass des Reichsinnenministeriums vom 26. November 1936, wonach in den Personalpapieren und in den Melde - und Personalbögen der Einwohnermeldeämter von nun an der Begriff „gottgläubig“ eingetragen werden konnte. Der Terminus „gottgläubig“ avancierte rasch zur Standardbezeichnung für alle diejenigen, die sich nicht länger der Kirche zugehörig fühlten, sich aber auch keiner anderen religiösen Gemeinschaft anschließen wollten. Da zu dem Themenkomplex der „Gottgläubigkeit“ noch keine Forschung betrieben wurde, muss einstweilen offen bleiben, welches die Motive und Umstände waren, die eine zunehmende Zahl an Menschen veranlasste, bei der Volkszählung im Mai 1939 die Rubrik „gottgläubig“ zu wählen. Insbesondere wäre es interessant zu sehen, ob sich in dieser Zunahme nichtorganisierter Religiosität bereits ein modernes Religionsverständnis des „believing without belonging“ abzeichnete und inwieweit sich mit ihr eine Pluralisierung der Religionsverhältnisse in Deutschland verband. Dass sich die Zahl der Kirchenmitglieder von 96,4 Prozent im Jahr 1950 ohne irgendeinen Einfluss der Deutschgläubigen oder des Nationalsozialismus um über 35 Prozent auf heute unter 60 Prozent verringerte, deutet darauf hin.

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Vom „Deutschen Glauben“ der Sammlungsbewegung zur „Arischen Weltanschauung“ Ulrich Nanko

Stefan Breuer lässt in seinem Buch „Die Völkischen in Deutschland“ die völkische Bewegung mit der Ludendorff - Bewegung und der Deutschen Glaubensbewegung ausklingen.1 Der Ludendorff - Bewegung gesteht er zu, dass sie durch die am 19. Juni 1937 erfolgte Anerkennung des Bundes für Deutsche Gotterkenntnis als Religionsgemeinschaft „als einer der wenigen Ausläufer der völkischen Bewegung, die nationalsozialistische Herrschaft“ überlebt hat.2 Für die Deutsche Glaubensbewegung ( DG ) hält er den März 1936 als entscheidend, weil zu diesem Zeitpunkt die „Isolation“ von ihren Führern Jakob Wilhelm Hauer und Ernst von Reventlow „soweit gediehen“ sei, „dass Hauer und Reventlow keine Chance zur Durchsetzung ihrer Ideen in der DG mehr sehen und ihre Ämter niederlegen. Wenngleich die DG noch bis zum Ende des Dritten Reiches existiert, ist damit ihre Geschichte als Teil der völkischen Bewegung abgeschlossen.“3 Diese Einschätzung steht im Widerspruch zu seiner Kapitelüberschrift, wonach die Ludendorff - Bewegung wie die DG „Ausläufer der völkischen Bewegung“ seien. Breuer folgt hier dem Phasenmodell von Hubert Cancik. Cancik unterteilt die völkisch - religiöse Bewegung in drei Phasen : In der altvölkischen Phase vor 1933 laufen nationalliberal protestantische Strömungen neben den isolierten un - und antichristlichen Gruppen. Die zweite, die völkischrevolutionäre Phase von 1933 bis 1936 nennt er die Sammlungsbewegung von nicht - und antichristlichen Gruppen. Die dritte Phase bezeichnet Cancik als die nationalsozialistische Phase, die er mit den Rücktritten der völkisch - religiösen Führer 1936 ansetzt. Sie ist durch Zerfall der Sammlungsbewegung in Völkische, Freireligiöse, „Liberale“ etc. charakterisiert. Die organisierte Deutsche Glaubensbewegung wird durch die nationalsozialistische Bewegung aufgesaugt.4 Cancik spricht hier aber vom „Ende der Weimarer Republik“, sieht das Ende 1 2 3 4

Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. Kapitel 10 lautet : „Ausklang der völkischen Bewegung : Ludendorff Bewegung und Deutsche Glaubensbewegung“, S. 252–264. Ebd., S. 259. Ebd., S. 264. Hubert Cancik, „Neuheiden“ und totaler Staat. Völkische Religion am Ende der Weimarer Republik. In : ders. ( Hg.), Religions - und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 176–212, hier 207 f.

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der Sammlungsbewegung als ein Indiz für die Veränderung im Staat. Die Sammlungsbewegung stellt er in ein Konkurrenzverhältnis zur nationalsozialistischen Bewegung, der er eine religiöse Fundierung zugesteht, weshalb er vorschlägt, von „nationalsozialistischer Religion“ im Kontrast zur „völkischen Religion“ der Sammlungsbewegung von Eisenach zu sprechen.5 Cancik stellt das Scheitern der DG in den Rahmen der machtpolitischen Strategien der NS - Führer und wirft die rhetorische Frage auf, was die Deutschgläubigen gegenüber den Nationalsozialisten ideologisch mehr zu bieten hätten : „Deutsches Blut“, das „Sittlichkeits - und Moralgefühl der germanischen Rasse“ und der Antisemitismus seien schon zu Beginn der Weimarer Republik im Programm der NSDAP festgeschrieben gewesen. Beide, Nationalsozialismus und Völkisch - Religiöse, entstammten der völkischen Bewegung, nur dass Hitler sich aus machtpolitischer Option heraus von diesen Wurzeln getrennt habe. Die Deutsche Glaubensbewegung erscheint insofern als „Spielball“ im politischen Ränkespiel, als passiv. Cancik führt in seinem Beitrag einen Begriff ein, der meines Erachtens noch zu wenig Berücksichtigung gefunden hat : den der „Professorenreligion“. Mit diesem Begriff weist er auf den hohen Anteil von Professoren und Akademikern in der Sammlungsbewegung hin. Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Deutschen Glaubensbewegung vom Sommer 1932 bis zur Gründung in Eisenach im Juli 1933 spielen Professoren zum Teil eine wichtige Rolle : Hauer als Organisator, Ernst Bergmann, Ludwig Ferdinand Clauss, Ludwig Fahrenkrog, Hans F. K. Günther, Hermann Mandel, Gustav Neckel oder Paul Schultze Naumburg. Ihre Einbindung in universitäre Strukturen bedeutet für den Deutschen Glauben die Wirkung in die Gesellschaft hinein. Sie ist auf diese Weise Teil der Bildungsgeschichte. Am Beispiel Hauers ist dies gezeigt worden. Über solche Anbindung kann gezeigt werden, dass die deutschgläubigen Professoren aktiv an der Verbreitung deutschgläubiger Ideen mitwirkten. Für den Umschlag der völkischen in die nationalsozialistische Religion ist darüber hinaus die Verbindung zur NS - Bewegung ausschlaggebend. Bei einer Person wie Hans F. K. Günther ist dies schon lange bekannt und auch untersucht. Andere, wie Ernst Bergmann oder Hermann Mandel, sind bislang vergessen worden. Eine nachfolgende wissenschaftliche Elite, die aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit auf Universitätsstellen gelangte, ist erst zum Teil erforscht worden; vor allem bleibt die Zugehörigkeit zu deutschgläubigen oder allgemein zu völkischreligiösen Organisationen unbeachtet. Im Folgenden soll anhand der Vorgänge um die Berufung Hauers auf einen Lehrstuhl für „Arische Weltanschauung“ an der Universität Jena gezeigt werden, wie beides miteinander verbunden ist. Dass diese Berufung nie über das Stadium der Planung hinauskam, ist wohl auch der Grund, weshalb dieser Sachverhalt nie Gegenstand universitätshistorischer Untersuchungen wurde. Dokumentiert ist er im Briefwechsel der Jahre 1936/37 zwischen Hauer und Lothar Stengel - von Rutkowski von der Universität Jena. Er steht im Zusammenhang mit der Besetzungspolitik an der Universität Jena. 5

Ebd., S. 205 f.

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Lothar Stengel - von Rutkowski und der Jenaer Kreis um Karl Astel

Bislang tauchte der Name Lothar Stengel - von Rutkowski in der religionswissenschaftlichen Literatur vor allem als Mitglied des „Führerrats“ der Deutschen Glaubensbewegung und als Sekretär der Freien Akademie auf, die nach 1945 im rechten politischen Lager verortet war.6 Erst langsam gelangte er in das Blickfeld der Wissenschaftsgeschichte, zuerst in der Medizin7 und der Biologie,8 ohne dass dies von der Religionswissenschaft oder der Geschichtswissenschaft zu Nationalsozialismus und völkischer Bewegung zur Kenntnis genommen wurde. Insbesondere die Arbeiten Uwe Hoßfelds zeigen, welche Bedeutung Stengel - von Rutkowski im Aufbau des Vernichtungsapparats des Nationalsozialismus vor allem in der Tschechoslowakei hatte. An seiner Person lässt sich exemplarisch zeigen, was Eva - Maria Ziege in ihrer Studie „Mythische Kohärenz“ über die Rezeption und Produktion völkischer antisemitischer Literatur im völkischen Diskurs als den Radikalisierungsprozess zur Vernichtung aufgezeigt hat.9 Lothar Stengel - von Rutkowski wurde am 3. September 1908 in Hofzumberge in Kurland, dem heutigen Tervete / Lettland, als Sohn des evangelischen Pastors Arnold von Rutkowski und seiner Ehefrau Elisabeth ( geb. von Bahder ) geboren. Mit acht Jahren musste er 1917 die Ermordung der Eltern durch Bolschewiki miterleben.10 Er floh zusammen mit seinem Bruder nach Deutschland und kam nach Marburg, wo beide von dem Professor für mittlere und neuere Geschichte Edmund Stengel (1879–1968) adoptiert wurden. Seither trägt er den 6 Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993; Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Philologie. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches. Stuttgart 1999; Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881– 1962), Marburg 2005. Zur Freien Akademie vgl. Ulrich Nanko, Von „Deutsch“ nach „Frei“ und zurück ? Jakob Wilhelm Hauer und die Frühgeschichte der Freien Akademie. In : Rainer Lächele / Jörg Thierfelder ( Hg.), Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau, Stuttgart 1995, S. 214–233. 7 Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, New York 1993. 8 Uwe Hoßfeld, Nationalsozialistische Wissenschaftsinstrumentalisierung : Die Rolle von Karl Astel und Lothar Stengel von Rutkowski bei der Genese des Buches von Ernst Haeckels Bluts - und Geisteserbe (1936). In : Erika Krauße ( Hg.), Der Brief als wissenschaftshistorische Quelle, Berlin 2005, S. 171–194; Uwe Hoßfeld, „Rasse“ potenziert : Rassenkunde und Rassenhygiene an der Universität Jena im Dritten Reich In : Karen Bayer / Frank Sparing / Wolfgang Woelk ( Hg.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 197–218; Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse - und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003. 9 Eva - Maria Ziege, Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz 2002, S. 41–122. 10 Interview mit Dr. habil. Lothar Stengel - von Rutkowski vom 17. 5. 1984. Stengel war Professor für Geschichte mit dem Spezialgebiet des Verhältnisses des Deutschen Reichs zu Rom.

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Namen Stengel als Zusatz zum Geburtsnamen. Etwa 1926 entdeckte Lothar Stengel - von Rutkowski Hans F. K. Günthers „Rassengeschichte des deutschen Volkes“, das der nationalistisch gesonnene Stiefvater zu lesen empfohlen hatte. Nach der Lektüre diskutierte er mit Klassenkameraden darüber und fragte, wo man mehr darüber erfahren könne. Man empfahl ihm den völkischen Jugendbund Adler und Falken der Ortsgruppe Marburg, der er sich dann anschloss. Später wurde er Mitglied in der Gilde Werdandi.11 Um sich einen Rat für sein Studium zu holen, machte Lothar Stengel - von Rutkowski nach dem Abitur eine Radtour nach Jena zu Hans F. K. Günther, der ihm das Studium der Medizin empfahl. Diesem Rat folgte er und studierte in München bei Theodor Mollison (1874–1952), Fritz Lenz (1887–1976) und Bruno Kurt Schultz (1901– ?).12 In seinem Medizinstudium legte er den Schwerpunkt auf Rassenhygiene und Eugenik.13 Sein Studium der Medizin setzte er später in Wien und Marburg fort, wo er es auch abschloss. Aus dieser kurzen Biographie Stengel - von Rutkowskis sind im Blick auf seinen weiteren Werdegang folgende Aspekte von besonderer Bedeutung : die Erfahrung von Gewalt, der Verlust der Heimat, das nationalistische Milieu zu Hause und in der Schule, die bündischen Adler und Falken sowie die Begeisterung für die „populäre Bibel“, Günthers „Rassenkunde des deutschen Volkes“. Speziell der persönliche Kontakt zu Günther sollte für ihn in seiner Zeit in Jena wichtig werden. Über die völkischen Adler und Falken bekam er Kontakte zu Persönlichkeiten, wie Darré und Himmler, die im Nationalsozialismus zu wichtigen Trägern des Systems wurden, beide waren Mitglieder der Artamanen, einer Organisation, die den Adler und Falken nahe stand. München war für Stengel - von Rutkowski ein wichtiger Ort : Am 1. April 1930 wurde er, 22 - jährig, in die SS aufgenommen14 und hielt Wache am Braunen Haus.15 Ein Jahr später, am 31. März 1931, wurde er bereits Abteilungsleiter im Amt Rassenhygiene der SS.16 Bei den Adler und Falken fungierte er 1932 als Herausgeber der „Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Rasse - und Erbpflege“.17 Seine Freunde gehörten sowohl der SS als auch den Adler und Fal11 12

13 14 15 16 17

Interview mit Dr. habil. Lothar Stengel - von Rutkowski. Ob es sich bei der Gilde um den Werdandi - Bund, gegründet 1907, oder eine andere, eigenständige Organisation handelt, ist nicht klar. Vgl. Hans - Christian Harten / Uwe Neirich / Matthias Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reiches, Berlin 2006, S. 467. Schultz hatte in Wien Anthropologie studiert und anschließend in Leipzig, Wien und München als Assistent gearbeitet. 1934 wurde er in München habilitiert. Interview mit Dr. habil. Lothar Stengel - von Rutkowski. Mitgliedsnr. 3 683. Vgl. Uwe Hoßfeld / Michal Šimůnek, Die Kooperation der FriedrichSchiller - Universität Jena und Deutschen Karls - Universität Prag im Bereich der „Rassenlehre“ 1933–1945, Erfurt 2008, S. 58. Interview mit Dr. habil. Lothar Stengel - von Rutkowski. Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 58, mit Anm. 108 Literaturhinweis : Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Mitteilungen Nr. 1 der Arbeitsgemeinschaft ( Archiv der deutschen Jugendbewegung, Adler und Falken, A2–80/2).

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ken an. Einer von ihnen war Matthes Ziegler, mit dem er ein Leben lang befreundet blieb. Mit ihm konnte er als einzigem über nichtchristliche Religionen diskutieren.18 Die anderen SS - Kameraden interessierten sich entweder nicht für Religion oder waren christlich. Über Ziegler kam er in Kontakt mit Rudolf Heß, der die Anliegen der Bündischen Jugend in der NSDAP vertrat und der nicht den „Schwenk zum Christentum“ mitmachte, wie Stengel - von Rutkowski im Inter view her vorhob.19 In München trat er auch dem Nordischen Ring20 bei, dem viele Rassenhygieniker angehörten. Im Jahr 1933 begann Stengel - von Rutkowski zu publizieren und Referate auf Schulungskursen für Lehrer, Ärzte, Juristen zu halten, die vom Thüringischen Landesamt für Rassewesen organisiert wurden.21 Ende Juli 1933 war er bei der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung auf der „Wartburgtagung“ in Eisenach zugegen. Ihr Zustandekommen war maßgeblich Professor Hans F. K. Günther zu verdanken, der sich dafür bei der Landesregierung verwandt hatte. Stengel - von Rutkowski wurde in den Führerrat gewählt. Er verlas in der Versammlung die Erklärung, wonach SS und SA ausdrücklich vertreten sein müssten.22 Damals gehörte er zu jenen „strammen, jungen Nationalsozialisten“, die die Opponenten Hauers auf der Versammlung waren. Um sich auf sein Abschlussexamen an der Universität Marburg vorbereiten zu können, das er im Wintersemester 1933/34 machte,23 wurde er für 1933 und 1934 vom „Rassen - und Siedlungsamt“ beurlaubt.24 Nach bestandener Staatsprüfung am 30. Januar 1934 schloss sich ein praktisches Jahr an der Psychiatrischen - und Nervenklinik in Jena an.25 Im selben Jahr heiratete er. Mit der Wiedereinstellung am Rasse - und Siedlungsamt der SS am 24. März 1934 wurde er auf beson-

18 Interview mit Dr. habil. Lothar Stengel - von Rutkowski. 19 Ebd. 20 Als Gründungsdaten des Nordischen Rings kursieren sowohl 1924 als auch 1926. Hanno Konopath (1882–1962) gründete ihn nach dem Vorbild des Rings der Norda. Mitglieder konnten sowohl deutsche als auch ausländische „Nordischgesinnte“ werden. Ab 1934 wurde der Ring von NS - Parteistellen gefördert. Inzwischen war Professor Paul Schultze - Naumburg (1864–1949) Leiter und Falk Ruttke (1894–1955) sein Geschäftsführer. 1936 ging der Nordische Ring in der 1921 in Lübeck gegründeten Nordischen Gesellschaft auf, die seit ihrer Gleichschaltung den außenpolitischen Zielen der NS Regierung im Ostseeraum diente. Das Organ dieser Gesellschaft war die NS - Monatsschrift „Rasse. Monatsschrift der Nordischen Bewegung“, hg. von Richard von Hoff im Auftrag des Nordischen Ringes in Verb. mit L. F. Clauß und H. F. K. Günther, Leipzig 1934–1944. Zu den Mitgliedern zählten Ernst von Reventlow (1869–1943), Alfred Rosenberg (1893–1946) und Professor Gustaf Kossinna (1858–1931). Vgl. Heinz Bartsch, Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart, Breslau 1938; Hans - Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971. 21 Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 62. 22 Protokoll der Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung (29.–30. Juli 1933) ( BArch, NL Hauer 63, 31–38). 23 BArch, NL Hauer 54, 552. 24 Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 59. 25 Ebd., S. 60.

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deren Wunsch Himmlers und des Reichsbauernführer Darré, dem er direkt unterstellt war, zum Untersturmführer der SS ernannt. Zu seinen Sonderaufträgen gehörten „Feiergestaltung“ und „Rassenkunde“26 – Aufgabengebiete, mit denen er schon aus seiner Zeit bei den Adler und Falken vertraut gewesen war. Am 30. Juni 1934, dem Tag der Ermordung der gesamten SA - Führung, wurde Stengel - von Rutkowski Träger des SS - Totenkopfrings.27

2.

Die Vereinnahmung Ernst Haeckels für die völkische und nationalsozialistische Bewegung

Mit dem Jahr 1934 begannen sowohl der Einstieg des 26 - jährigen Stengel - von Rutkowski in wissenschaftliche Institutionen als auch seine aktive Einflussnahme auf den Fortgang wissenschaftlicher Arbeiten. Ab November leitete er die Abteilung „Lehre und Forschung“ der Außenstelle des Thüringer Landesamtes für Rassewesen an der Universität Jena. Dessen Präsident war Karl Astel (1900– 1945), Mediziner und SS - Standartenführer, mit dem Stengel - von Rutkowski in der folgenden Zeit noch viel und eng zusammenarbeiten sollte. Gleichzeitig arbeitete er an der thüringischen Zweigstelle des Rasse - und Siedlungsamtes der SS, dem späteren Amt für Rassenpolitik der NSDAP.28 Im Wintersemester 1934/35 regten Astel und Stengel - von Rutkowski bei der neu errichteten Anstalt für Menschliche Züchtungslehre und Vererbungsforschung, der späteren Universitätsanstalt für Menschliche Erbforschung und Rassenpolitik, die Erstellung der neuen „Erbbiographie“ Ernst Haeckels an. Man wollte „sippen - und erbkundliche Erhebungen über die Herkunft Ernst Haeckels“ durchführen. Ziel war es, eine Kontinuität der nationalsozialistischen Weltanschauung mit der Lehre Haeckels herzustellen, d. h. zu konstruieren. Haeckel sollte auf diese Weise als ein zentraler Vorkämpfer einer biologistischen Staatsauffassung dargestellt werden. Ergebnis des Projekts war das von cand. biol. Heinz Brücher (1915–1991) verfasste Buch „Ernst Haeckels Bluts - und Geisteserbe“, das 1936 im Druck erschien. Stengel - von Rutkowski hatte Brücher bei dieser Arbeit nicht nur betreut, es bestand auch eine freundschaftliche Verbindung zwischen beiden Männern.29 Von Anfang an war allen am Projekt Beteiligten klar, dass das Haeckel - Buch nur im J. F. Lehmanns Verlag zu erscheinen habe und zwar neben den Büchern von Hans F. K. Günther, Ludwig Ferdinand Clauß und Richard Walther Darré.30 Dieser Verlag war der einschlägige Verlag für rassehygienische Bücher, so wurde dort das Standardwerk der Rassenhygiene, der „Bauer 26 27 28 29

Ebd., S. 59. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 63. Zur Freundschaft beider vgl. Interview mit Dr. habil. Lothar Stengel - von Rutkowski. 30 Uwe Hoßfeld, absolute Ernst Haeckel. Herausgegeben und mit einem biographischen Essay versehen von Uwe Hoßfeld, Freiburg 2010, S. 206 f.

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Fischer- Lenz“, verlegt.31 Das Haeckel - Buch sollte der Anfang der Reihe „Erbbiologische Monographien“ sein , es blieb aber das einzige. Buch und Projekt erfuhren unterschiedliche Resonanz : Der Referent des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP im Rasse - und Siedlungshauptamt der SS, Günther Hecht, wie auch der damals sehr einflussreiche Heidelberger völkische Pädagoge Ernst Krieck32 sahen keine Vereinbarkeit zwischen den lamarckistischen, materialistischen und atheistischen Positionen Ernst Haeckels und dem Nationalsozialismus.33 Das Hauptamt Wissenschaft, unter der Leitung Alfred Rosenbergs, wies diese Angriffe Kriecks scharf zurück. Nicht auszuschließen ist, dass hinter der Rosenbergischen Kritik Stengel - von Rutkowski über seinen Freund Matthes Ziegler steckte, der zu diesem Zeitpunkt bereits im Amt Rosenberg tätig war. Stengel - von Rutkowski hatte am 7. Dezember 1936 ein internes „Gutachten“ an Rosenberg geschickt, in dem er Kriecks „völkisch - politische Anthropologie“ als „eine auf ständischen und bündischen Ideologien fußende Soziologie, die ohne innere Begründung mit dem Wort Rasse [...] ausgeschmückt ist“, beschrieb.34 Stengel - von Rutkowski, damals verantwortlich für die Pressearbeit des Nationalsozialistischen deutschen Dozentenbunds ( NSDDB ), begegnete den Angriffen Kriecks durch gezielte Werbung für Brüchers Buch. So rezensierte er das Buch – es erschien Ende des Jahres – noch 1936 in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“.35 In der Monatsschrift „Deutscher Glaube“ wurde ein Buchausschnitt unter der Überschrift „Ernst Haeckel als Kulturbiologe“ den Lesern zur Lektüre empfohlen.36 Im Vorspann empfahl die Schriftleitung, für die Herbert Grabert (1901– 1978)37 verantwortlich zeichnete, den beigelegten Prospekt „zur besonderen Beachtung“. Grabert nahm darin Bezug auf die Kritik in „einer führenden Zeitschrift“, in der „Haeckel als ein Vertreter der wilhelminischen Epoche schroff abgelehnt“ wurde, „womit deutlich die Notwendigkeit aufgezeigt ist, das Leben und Werk des großen Naturforschers von einer neuen Sicht aus darzustellen und zu begreifen“.38 Im selben Heft wurde allerdings auch die völ31 32 33 34 35 36 37

38

Zur Bedeutung des Lehmanns - Verlags für den völkischen antisemitischen Diskurs vgl. Ziege, Kohärenz, S. 91–98. Ernst Krieck (1882–1947) stand in der Weimarer Republik in Kontakt mit Hauer und dem Bund der Köngener. Hoßfeld, absolute, S. 206 mit der Literaturangabe : Günther Hecht, Biologie und Nationalsozialismus. In : Zeitschrift für die gesamte Wissenschaft, Halle 1937/38. Robert Döpp, „Jena - Plan“ im Nationalsozialismus. In : Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth / Rüdiger Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003, S. 804. Nationalsozialistischen Monatshefte, 7 (1936), S. 1155–1156. Deutscher Glaube, 12/1936, S. 556–561. Zu Grabert vgl. Horst Junginger, Herbert Grabert. In : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen. Hg. von Ingo Haar / Michael Fahlbusch unter Mitarb. von Matthias Berg, München 2008, S. 203–209; Martin Finkenberger / Horst Junginger ( Hg.), Im Dienste der Lügen. Herbert Grabert (1901–1978) und seine Verlage, Aschaffenburg 2004. Ernst Haeckel als Kulturbiologe. In : Deutscher Glaube, 12/1936, S. 556.

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kisch- politische Anthropologie von Brüchers Kritiker Ernst Krieck wohlwollend rezensiert,39 was aus diskursanalytischer Sicht keine Überraschung ist. Zu den Herausgebern des „Deutschen Glaubens“ zählten unter anderem auch Hans F. K. Günther, Ludwig Ferdinand Clauß und Herman Wirth. 1936 kam Stengel - von Rutkowski und 1937 mit Theodor Scheffer (1872–1945) ein weiterer „Jenenser“ hinzu, ein alter völkischer Vorkämpfer, der 1937 durch die Unterstützung von Astel, Günther und nicht zuletzt Himmler seinen Lehrauftrag für Erziehungswissenschaft an der Universität Jena erhielt.40 Mit dem Herausgeber des „Deutschen Glaubens“, Jakob Wilhelm Hauer, stand Stengel von Rutkowski zu jener Zeit in der Frage des Wechsels an die Universität Jena in regem Austausch. Da der abgedruckte Text im „Deutschen Glauben“ mit Genehmigung des Verlags erscheinen durfte, ist die Genese der Drucklegung und Erscheinung aufschlussreich, denn sie zeigt, wie und wie schnell an der Verbreitung gearbeitet wurde. Stengel - von Rutkowski hielt die Korrekturbögen von Brüchers Buch Anfang September in den Händen,41 Astel sandte aber erst Mitte Oktober sein Geleitwort an den Verlag. Gegen Ende Oktober wollte Stengel - von Rutkowski bei Rosenberg sein, wie er am 17. Oktober 1936 an Brücher schrieb. Weiter teilte er mit : „Übrigens gehört zu unserer weltanschaulichen Front neuerdings voll und ganz der Reichswissenschaftsminister Rust“,42 der bisher die Berufung Scheffers verhindert hatte. Rust, per Amt zuständig für die Stellenbesetzungen an Universitäten, war dafür bekannt, dass er ein Förderer des Heidelberger Pädagogen Ernst Krieck war, gegen dessen Einfluss der Kreis um Astel und Stengel - von Rutkowski seine Stellenbesetzung richtete. Stengel - von Rutkowski empfahl seinem Freund und Schüler Brücher, sowohl Rust, dem Reichsstatthalter Fritz Sauckel (1894–1946), Rosenberg, Darré, Himmler als auch dem Theologen und Volkskundler im Amt Weltanschauliche Information, Matthes Ziegler, ein Exemplar seiner Arbeit zukommen zu lassen.43 39 Rezension von Ottokar Beyer zu Ernst Krieck, Völkisch - politische Anthropologie, I. Teil: Die Wirklichkeit. Armanen - Verlag, Leipzig 1936. In : Deutscher Glaube, 12/1936, S. 574. 40 Justus H. Ulbricht, „Goethe - Schiller - Universität Jena - Weimar“ ? In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 321–360, hier 344. Scheffer gründete 1922 in Bad Berka die Deutsche Heimatschule, die zugleich den Artamanen als Schulungsstätte diente. Am 9. Mai 1934 beantragte der Pädagoge Peter Petersen mit Unterstützung durch Hans F. K. Günther einen Lehrauftrag für Scheffer. Auch die Anträge von Februar 1935 und vom 23. Januar 1936 blieben erfolglos. Erst als sich Himmler, ein Artamane, 1937 für ihn einsetzte, wurde Scheffer Dozent für Politische Pädagogik in Jena. Vgl. Justus H. Ulbricht, Die Heimat als Quelle der Bildung. Konzeption und Geschichte regional und völkisch orientierter Erwachsenenbildung in Thüringen in den Jahren 1933–1945. In : 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule in Jena, S. 183–217. 41 Stengel - von Rutkowski an Franz vom 3. 9. 1936. Zit. nach Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 64. 42 Stengel - von Rutkowski an Brücher vom 17. 10. 1936. Zit. nach ebd., S. 64. 43 Ebd.

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Der Hinweis auf Darré und Himmler überrascht nicht, denn zu beiden bestanden Beziehungen. So verdankte Stengel - von Rutkowski seine Wiederanstellung am Rasse - und Siedlungsamt der SS am 24. März 1934 dem besonderen Wunsch dieser beiden, die er von den Adler und Falken und der SS her kannte. Früher war er Reichsbauernführer Darré direkt unterstellt worden. Zu seiner bisherigen Arbeit kamen nun Sonderaufträge für „Feiergestaltung“ und „Rassenkunde“ hinzu.44 Matthes Ziegler war zu diesem Zeitpunkt noch unbedeutend, da er im Amt Rosenberg tätig und zudem SS - Mann war, spielte er eine zunehmend wichtigere Rolle. Später avancierte er zum Begründer der nationalsozialistischen Volkskunde. Bereits ab Oktober 1933 war er, 22 - jährig, im Stabsamt der Reichsbauernführung tätig, seit Mai 1934 verantwortlicher Schriftleiter der „Nationalsozialistischen Monatshefte“ und zugleich Verbindungsführer des Reichsleiters zum SD- Hauptamt.45 Außerdem gehörte Ziegler zu Stengel - von Rutkowskis Freundeskreis. Die Freundschaft beider resultierte aus der gemeinsamen Zeit bei den Adler und Falken sowie der SS und überdauerte die NS - Zeit. Stengel - von Rutkowski erklärt sie damit, dass er mit Ziegler als einzigem in der SS über nichtchristliche Religion reden konnte; die anderen SS - Männer interessierten sich überhaupt nicht für Religion oder waren christlich. Beide waren Mitglieder des Führerrats der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung, worüber beide in Kontakt mit Hauer kamen. Ziegler war Reichshauptstellenleiter des Archivs für kirchenpolitische Fragen des Amtes Rosenberg46 und konnte sowohl mit Himmler als auch mit Rosenberg gut zusammenarbeiten. Am 17. November 1936, also etwa zu der Zeit, in der Brüchers Buch „vermarktet“ wurde, wurde Ziegler in Greifswald im Fach Deutsche Philologie mit der Arbeit „Die Frau im Märchen“ promoviert. Was verbanden die Personen um Karl Astel mit diesem Buch ? Astel nannte im Vorwort vier Ziele : Erstens die Begründung, warum man sich mit Haeckel beschäftigt, zweitens die Rechtfertigung des am 14. Juli 1933 verkündeten „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch Haeckel - Argumente, drittens den Kampf gegen das „Judentum“, die Kirche und den Bolschewismus und schließlich die Etablierung und Postulierung der Jenaer biologischen Argumentation in Selektions - und Darwinismusfragen.47 Von daher erschien es 44 Vgl. Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 59. 45 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 290, Anm. 51; Esther Gajek, „Feiergestaltung“ – Zur planmäßigen Entwicklung eines „aus nationalsozialistischer Weltanschauung geborenen, neuen arteigenen Brauchtums“ im Amt Rosenberg. In : Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 386–408, hier 389. 46 Dieses Archiv, am 24. 1. 1934 auf Führerbefehl gegründet, wurde 1937 in Amt Weltanschauliche Information umbenannt. Ziegler amtierte seit Juni 1934 als Reichshauptstellenleiter. Vgl. Bollmus, Amt Rosenberg, S. 69; Gajek, „Feiergestaltung“, S. 389. 47 Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 64.

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passend, das Buch bei der Amtseinführung Johann von Leers’ und Bernhard Kummers in ihre neuen Stellen an der Universität Jena vorzustellen. Es bestand inhaltlich tatsächlich eine Verbindung : Mit Johann von Leers kam ein antisemitischer Agitator, ein glühender Antisemit und Antibolschewist auf den Lehrstuhl für „Rechts - , Wirtschafts - und politische Geschichte auf rassischer Grundlage“;48 und mit Kummer verpflichtete man für das Ressort „Altnordische Überlieferung und germanische Weltanschauungskunde“49 einen wichtigen Repräsentanten und Förderer des Nordischen Gedankens. Letzterer stand zudem in weltanschaulicher Nähe zu Rosenberg. Er verlegte in seiner Schriftenreihe „Reden und Aufsätze zum nordischen Gedanken“ u. a. Matthes Zieglers Schrift „Kirche und Reich im Ringen der jungen Generation“.50 Zudem zählte er zu den Gegnern der Männerbundthese des Ahnenerbes, mit dem er wenig später in Konflikt kommen sollte.

3.

Hintergründe bei der Berufung Kummers und von Leers’ : der Astel - Kreis

Mit Kummer und von Leers kamen zwei Personen auf eine Universitätsstelle, die der organisierten völkischen und deutschgläubigen Bewegung angehörten. Kummer, obwohl seit 1930 nicht mehr Parteimitglied,51 zählte als feste Größe im Netz der nordischen Bewegung. Er hatte sich dort durch Publikationen einen Namen erworben und stand dem Jungnordischen Bund,52 dem Bund für deutsche Art,53 dem Nordischen Kampfring54 und dem Nordischen Ring55 nahe. 48 St. v. R. ( Stengel - von Rutkowski ), Dr. Johann v. Leers und Dr. Bernhard Kummer durch Reichsminister Rust und Reichsstatthalter Sauckel auf die Thüringische Landeshochschule nach Jena berufen. In : Deutscher Glaube, 11/1936, S. 511–513. 49 Ebd. 50 Vgl. Bollmus, Amt Rosenberg, S. 290, Anm. 51. Diese Schrift war für Rosenberg Anlass, Ziegler in seinem Amt anzustellen. Dieser verwendet hier die Bezeichnung „Nordisches Reich deutscher Nation“, wohl eine Anspielung auf Römisches Reich Deutscher Nation. Vgl. Gajek, „Feiergestaltung“, S. 386. 51 Erst im April 1944 gelang Kummer die Wiederaufnahme in die NSDAP, nachdem er sich darum intensiv bemüht hatte. Am 6. 4. 1944 gab Bormann die Zustimmung. Vgl. Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Rüdiger Stutz, Zum Profilwandel der Jenaer Universität in der NS - Zeit. In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 80; Carsten Klingemann, Soziologie an der Universität Jena 1933 bis 1945. In : ebd., S. 696. 52 Gegründet 1923 in Halle von Dr. Kurt Holler als Bund Jung - Germanen, Bund nordischer Jugend. Die Umbenennung erfolgte 1926. Anfangs nur auf die Jugendbewegung beschränkt, kamen bald Mitglieder aus der gesamten nordischen und jungnationalen Bewegung hinzu. Der Bund gehörte dem Nordischen Ring an. 1924 wurde das Bundesorgan „Junggermanische Blätter“ gegründet, das 1926 in „Nordische Blätter“ ( Schriftleiter : Karl Richard Ganzer [1909–1943], der später zum Mitarbeiterkreis um Walter Frank zählte ) umbenannt wurde. 1930 spalteten sich die Radikalen um Kummer und den Leipziger Adolf Klein - Verlag ab und näherten sich dem Bund für deutsche Kirche an. Eine Arbeitsgemeinschaft bestand mit dem Bund für nordische Kulturarbeit und Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur. Ziel war die „Wiederaufnordung“ des Vol-

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Leers war Mitglied bei den Adler und Falken,56 in der Gesellschaft für germanische Ur - und Frühgeschichte und stand dem Bund völkischer Europäer / Alliance Raciste Européenne, Abt. Deutschland ( Sitz Berlin )57 als Präsident vor. Seit 1929 fungierte er als Bundesschulungsleiter des Nationalsozialistischen deutschen Studentenbunds ( NSDStB ),58 Hauptschriftleiter der NS - Zeitschrift „Wille und Weg“59 und arbeitete in der Redaktion von Goebbels Zeitschrift „Der Angriff“ mit.60 Seine Schriften charakterisieren ihn als entschiedenen Antisemiten und Nationalsozialisten, wie zwei seiner zahlreichen Bücher und Aufsätze belegen : „Blut und Rasse in der Gesetzgebung. Ein Gang durch die Völkergeschichte“ (1936) sowie „Juden sehen Dich an“ (1933, 61936). Gegenüber der Öffentlichkeit wurden die beiden Ernennungen als Erfolg dargestellt. In der in Weimar erscheinenden Thüringer Gauzeitung war am 12. Oktober 1936 zu lesen, dass den Vorschlag zur Ernennung Gauleiter Fritz Sauckel gemacht und Reichsminister Bernhard Rust beide „berufen“ habe.61 Die Darstellung im „Deutschen Glauben“ ist von Stengel - von Rutkowski verfasst und entspricht im Wortlaut dem Zeitungsartikel, unterscheidet sich aber in der Reihenfolge der einzelnen Abschnitte.62 Die private Korrespondenz zeigt jedoch

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kes auf der Grundlage der Rassenideologie von Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß. Vgl. Bartsch, Die Wirklichkeitsmacht. Gegründet 1932 von Horst Posern. Es handelte sich dabei um einen Dachverband für alle „arteigenen“ deutschvölkischen Gemeinschaften. Er war eine Erweiterung der Edelgarten - Buchgemeinschaft, einer Lesegemeinschaft, die Posern 1928 aus den Lesern des Schrifttums seines Edelgarten - Verlages gebildet hatte. Zum Schrifttum gehörte der „Sonnensieg - Jahrweiser für die Freunde deutschen Gottglaubens“, „Neue Ausfahrt. Kampfblatt für deutsche Geistesbefreiung“, die ab 1933 in Verbindung mit der Zeitschrift „Hakenkreuz“ von Heinrich Pudor (1865–1943) herausgegeben wurde. Es gab auch eine eigene Frauenzeitschrift, „Frigga“. Zu den Verlagsautoren zählten neben Kummer Ernst Bergmann (1881–1945) und Walther Darré (1895–1953). Gegründet im Herbst 1932 von Friedrich Wilhelm Prinz zur Lippe ( ? - 1938) als Gegengründung zu Konopaths Nordischem Ring. Er war eine radikale Gruppe des Jungnordischen Bunds, die nahe Beziehung zum Bund für deutsche Kirche ablehnte. Kummers „Nordische Stimmen“ fungierte als ihr Organ. Zu den engagierten Mitgliedern zählten u. a. Marie Eckert und Sophie Rogge - Börner (1878–1955), die beide in der Deutschen Glaubensbewegung aktiv waren. Ziel war die „Aufnordung“ der gesamten Kultur. Der Kampfring stand in Verbindung mit dem Adolf Klein Verlag in Leipzig. Vgl. Bartsch, Die Wirklichkeitsmacht. Gegründet 1924 oder 1926 von Hanno Konopath nach dem Vorbild des Rings der Norda. Vgl. Anm. 20. Vgl. Der Falke, 1/1934, S. 17. Vgl. Der Reichswart vom 7. 1. 1934. Personalakte Johann von Leers, SS - Stammkarte vom 9. 11. 1938 ( BArch, BDC - 550 Leers, Johann v. Nr. : 64 000–25 846); Hermann Weiß ( Hg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. Weiß, ( Hg.), Biographisches Lexikon. BArch, BDC - Hauptarchiv Johann v. Leers, 827000 0092 B327 ( Bericht über Leers Gerichtsverfahren ), Bl. 1, handschriftliche Datierung auf 19. 9. 1931. Dr. v. Leers und Dr. Kummer an die Universität Jena berufen ( BArch, NS 20/ 132–1). St. v. R. ( Stengel - von Rutkowski ), Dr. Johann v. Leers, S. 511–513; Thüringer Gauzeitung, Weimar, Dr. v. Leers und Dr. Kummer an die Universität Jena berufen ( BArch,

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ein anderes Bild : In einem Brief an Heinz Brücher betonte Stengel - von Rutkowski, dass „das Verwirklichen der Berufung von Leers und Kummer ein ungeahntes Maß an Energie gefordert hat“. Geplant sei, das Ordinariat auf Ostern 1937 durchzusetzen, was „mindestens ebensoviel noch kosten“ werde.63 Leers wurde tatsächlich erst im September 1939 zum Professor ernannt, als sein Lehrauftrag für „Deutsche Rechts - , Wirtschafts - und politische Geschichte auf rassischer Grundlage“ in einen Lehrstuhl umgewandelt wurde.64 Der Ernennung ging die Aufnahme in die SS am 14. Mai unter der Nummer 276 586 voraus. Leers wurde trotz einiger gesundheitlicher Schwierigkeiten zum SS - Untersturmführer ernannt und dem „Rasse und Siedlungshauptamt, F. b. Stab“ zugeordnet.65 Vom 15. Oktober 1936 ist ein Glückwunsch zum a.o. Professor von dem Leipziger Professor für Philosophie Ernst Bergmann erhalten.66 Im Falle Bernhard Kummers sollte die Ernennung zum ordentlichen Professor bis zum Juli 1942 dauern.67 Hinderlich war dabei sein Streit mit verschiedenen Professoren, etwa mit dem Münchner Indogermanisten Walther Wüst, der aufgrund seiner guten Beziehung zu Himmler und das Ahnenerbe seine Aufnahme in die NSDAP verhinderte. Sauckel und Astel verwandten sich für Kummer bei Himmler. In diesem Streit ging es um seine Leugnung von männerbündischen Wehrbünden bei den Germanen, wodurch die Existenzberechtigung der SS gegenüber der Wehrmacht in Frage gestellt wurde.68 Kummer zählte zu den Mutterrechtlern, das Ahnenerbe favorisierte dagegen die Männerbundthese.69 Dieser Streit zwang ihn auch, 1937 die Schriftleitung der „Nordischen Stimmen“ niederzulegen.70 Beide Berufungsvorgänge gehörten zur Berufungspolitik von Abraham Esau und Karl Astel der Jahre 1933 bis 1936, die Uwe Hoßfeld zur „eruptiven ‚Gleichschaltungs‘ - Periode“ zählt und der Astel selbst seine Berufung verdankte.

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NS 20/ 132–2). Nach Gisela Lienau - Kummer, Lebensweg und Lebenswerk unseres Vaters. In : Bernhard Kummer zum Gedächtnis. Forschungsfragen unserer Zeit, 10. Jg., Lieferung 1–2, S. 6–23, hier 11, hat ihr Vater 1936 nur einen Lehrauftrag für Altisländisch mit der Zusicherung der ordentlichen Professur erhalten, die aber bis 1942 hinausgezögert wurde. Uwe Hoßfeld, Von der Rassenkunde zur Theorie der Evolution. In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 553 f.; Stengel - von Rutkowski an Brücher vom 9. 11. 1936 ( Archiv des Ernst - Haeckel - Hauses, NL Franz ). Annett Hamann, Die 1945 geschlossenen NS - Institute der Universität Jena. In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 210; BArch, NS 20/ 132–2. SS - Personalhauptamt, Dienstlaufbahn des Dr. v. Leers, Johann, o. D. ( nach 20. 4. 1939); Urkunde vom 8. 6. 1936, Unterschrift : Kürzel HH ( BArch, BDC - 550 Leers, Johann v. Nr. : 64 000–25 846). BArch, NS 20/ 132–1. Hamann, geschlossene NS - Institute. In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 209. Dabei gab es mehrere nachträgliche Rückdatierungen vgl. ebd., Anm. 87. Hamann, geschlossene NS - Institute, S. 209 f., Anm. 88 und 93. Vgl. Ziege, Kohärenz, S. 123–169. Lienau - Kummer, Lebensweg, S. 12.

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In dieser Phase sollten die traditionellen Strukturen aufgebrochen werden. Dabei erlangten akademische Außenseiter universitäre Ehren.71 Besonders deutlich ist dies an Kummer zu sehen, auch wenn er zum Zeitpunkt seiner Berufung kein Mitglied der NSDAP war und ihr nur zwischen 1929 und 1930 angehört hatte. In seinem Artikel im „Deutschen Glauben“ betonte Stengel - von Rutkowski, dass Kummer „zu den wenigen Wissenschaftlern“ gehört habe, „die niemals ein offenes Eintreten für die nationalsozialistische Weltanschauung und Bewegung in Wort und Schrift gescheut haben“.72 Er richtete diese Botschaft auch an jene völkischen Leser der Monatsschrift, die nicht in der Partei waren. Der Lehrauftrag von Dr. jur. Johann von Leers war mit „Rechts - , Wirtschaftsund politische Geschichte auf rassischer Grundlage“ deutlich definiert. Diese Stellenbesetzung ist nicht nur als Jenenser Ereignis zu sehen, sondern muss auch im Zusammenhang mit der Einrichtung des antisemitischen Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands betrachtet werden, das das Reichswissenschaftsministerium rückwirkend zum 1. Juli am 4. Oktober 1935 gegründet hatte. Als Präsident des Instituts, welches sich die „Erarbeitung des Rassebegriffs für die Geistesgeschichte“ zum Ziel setzte, fungierte Walter Frank, der im Amt Rosenberg arbeitete und zum Stab seines Studienfreundes Rudolf Heß gehörte. Den Anstoß für die Institutsgründung hatte der Vorschlag des jüdischen Historikers Adolf Kober (1879–1958) gegeben, der die Schaffung einer historischen Kommission für die Geschichte der Juden in Deutschland gefordert hatte. Durch die nationalsozialistische Gegengründung wurde dieses Anliegen in sein antisemitisches Gegenteil gekehrt. Das neugeschaffene Reichsinstitut richtete sich aber auch gegen die universitär organisierte Geschichtswissenschaft.73 Eine ähnliche Wissenschaftspolitik verfolgte auch der Rassenhygieniker Karl Astel in Jena. Seine Ausgangswissenschaft war die Medizin, seine Institution die Medizinische Fakultät. Im Gegensatz zum Historiker Frank, der sich Rassekundler suchen musste, benötigte er Geisteswissenschaftler. Zu Astels Konzeption eines „rassischen Aufbaus“ gehörte die Institutionalisierung der Fächer Rassenkunde und - hygiene mit den vier Forschungsinhalten : 1. Rassenkunde mit Anthropologie und antijüdischem Rassismus, 2. Rassenhygiene, „Volksgesundheit“ und menschliche Erblehre, 3. Biologische Erbstatistik sowie 4. Rassenpolitik, Rassenphilosophie und Kulturbiologie.74 Zu letzterem sah sich Stengel - von Rutkowski berufen. 1940 sollte er bei Astel und Gerhard Heberer zum Thema : „Was ist ein Volk ? Der biologische Volksbegriff, eine kulturbiologische Untersuchung seiner Definition und seiner Bedeutung für Wissenschaft, Weltanschauung und Politik“ habilitieren.75 Im selben Jahr erhielt er den Lehrauftrag für die 71 Hoßfeld / John / Stutz, Zum Profilwandel, S. 81. 72 St. v. R. ( Stengel - von Rutkowski ), Dr. Johann v. Leers, S. 511–513. 73 Vgl. Matthias Berg, Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands. In : Ingo Haar ( Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 168–178. Ausführlich Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966. 74 Vgl. Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 84. 75 Erfurt 1943.

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Fächer Rassenhygiene, Kulturbiologie und rassenhygienische Philosophie. Doch beschäftigte er sich nicht nur mit Kulturbiologie, sondern untersuchte auch die Fortpflanzung von 20 000 thüringischen Bauern.76 Bereits 1934 hatte er zusammen mit seinem Freund und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung Hein Schröder die „Grundzüge der Erbkunde und Rassenpflege“ herausgegeben. Hein Schröder wurde 1936 in Jena mit der Arbeit „Die Sippschaft der mongoloiden Idiotie“ promoviert.77 Als Geisteswissenschaftler außerhalb der Medizinischen Fakultät, die von ihm abhängig waren, hatte Astel 1936/37 in Leers einen studierten Juristen und in Kummer einen Historiker für germanische Religion und Kultur und Philologen für Nordische Sprachen, durchgesetzt. Für das Indogermanische stand seit 1935 der Sprachwissenschaftler Walter Porzig (1895–1961) zur Verfügung, der im NS - Dozentenbund als Berater für Philosophie und allgemeine Religionswissenschaften fungierte; ein Religionshistoriker war er jedoch nicht. Insofern ist der Plan Stengel - von Rutkowskis, mit Hauer eine solche Stelle zu besetzen, leicht nachvollziehbar. In München, wo das Franksche Institut angegliedert war, gab es mit Walther Wüst bereits eine solche Stelle, wie in Tübingen mit Hauer oder in Kiel mit Hermann Mandel. Hauers indogermanische arteigene Glaubensgeschichte hätte Stengel - von Rutkowskis Kulturbiologie ergänzt.

4.

Zum Plan der Errichtung eines Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Universität Jena

Wie aus dem Brief vom 10. August 1937 hervorgeht, hatte Stengel - von Rutkowski schon im Herbst 1936 bei Hauer vertraulich angefragt, ob dieser nicht im Herbst – offen bleibt, ob 1936 oder 1937 – einen Lehrstuhl in Jena übernehmen wolle. Hauer hatte damals abgelehnt.78 Dies geschah etwa zeitgleich mit der Erteilung der Lehraufträge an Kummer und von Leers. Es steht zu vermu-

76 Lothar Stengel - von Rutkowski, Die unterschiedliche Fortpflanzung : Untersuchung über die Fortpflanzung von 20 000 thüringischen Bauern. In : Schriftenreihe Politische Biologie, H. 10, München 1939. 77 Zu Schröder gibt es noch keine biographischen Angaben. Aus seinem Briefwechsel mit Hauer ergeben sich folgende Daten : 1926 trat er der NSDAP bei, war 1933 in München wohnhaft ( BArch, NL Hauer 54, 547). Im September 1933 wurde er Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung ( vgl. Hauer an Schröder vom 17. 10. 1933; NL Hauer 54, 552). Für diese wurde er von seinem Freund Stengel - von Rutkowski empfohlen. Zusätzlich bot sich Schröder für Abwehrdienste der „Arbeitsgemeinschaft“ an. Weiterhin verfügte er über gute Kontakte zu Darré ( vgl. Schröder an Hauer vom 10. 10. 1933; ebd.). Schröder arbeitete im Sinne der Arbeitsgemeinschaft in der Nordisch - Religiösen Arbeitsgemeinschaft ( vgl. Schröder an Hauer vom 6. 12. 1933; NL Hauer 55, 290). Außerdem war er im Rasse - und Siedlungsamt SS in Berlin tätig (vgl. Schröder an Hauer vom 23. 11. 1933; NL Hauer 55, 292). 78 Hauer an Stengel - von Rutkowski vom 10. 8. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 375).

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ten, dass in Jena im Kreis um Astel auch die Einrichtung eines Lehrstuhls für Religionswissenschaft bzw. Arische Weltanschauung erörtert wurde. Der Plan der Errichtung einer Lehrstelle für Religionswissenschaft an der Universität Jena ist bislang nicht untersucht worden, stand aber mit Sicherheit im Zusammenhang mit Vorgängen in der Evangelisch - Theologischen Fakultät, die immer mehr von Mitgliedern der Kirchenbewegung Deutsche Christen dominiert wurde, und somit mit der Umstrukturierung der Universität Jena. Es ging um zwei Konzepte : Der deutschchristliche Theologe Wolf Meyer - Erlach (1891–1982), der weder promoviert noch habilitierter Professor für Praktische Theologie war, wollte eine „völkisch - politische Universität“ als „Waffenschmiede des Dritten Reiches“, die auf völkischer Theologie, Erziehung und Geisteswissenschaft aufbauen sollte. Sein Gegenpart, Karl Astel, Sauckels Jugendfreund, setzte dem die „rassehygienisch - ‚lebensgesetzliche‘“ Universität entgegen.79 Astel hatte gegenüber Himmler am 8. Mai 1935 erklärt : „Alle meine Bestrebungen in Thüringen haben das Ziel, Thüringen als Fort in vorderster Linie des SSKampfes gegen alle überstaatliche Mächte einschließlich des Christentums und für die Durchdringung des Volkes mit lebensgesetzlichen Denken auszubauen.“ Es ging ihm um den Umbau der Universität Jena zur „SS - Universität“.80 Ansetzen wollte er an der Medizinischen Fakultät, der er selbst angehörte. Die Ausgangslage war dort günstig, da sie fast gänzlich mit Hochschullehrern besetzt war, die einer NS - Organisation angehörten. Die Frage nach dem Stellenwert religiöser Unterweisung und damit auch der Ausbildung von Lehrern an der Universität wurde im Sommer 1936 mit der Aufhebung der Verpflichtung zur Teilnahme am Religionsunterricht an Schulen aktuell.81 Zur gleichen Zeit, da die Lehrstuhlbesetzungen für Kummer und von Leers stattfanden, standen auch in der Theologischen Fakultät Neubesetzungen an. Hier bot sich die Durchsetzung der Meyer - Erlach’schen Konzeption an, deutschchristliche Professoren zu berufen. Nach längeren Querelen hatte der deutschchristliche Neutestamentler Erich Fascher seine Stelle aufgegeben und war im April 1937 nach Halle gewechselt. Zu seinem Nachfolger hatte man Walter Grundmann ausersehen und ihm für das Wintersemester 1936/37 auch einen Lehrauftrag für „Völkische Theologie“ erteilt.82 Mit Grundmann, der erst 1938 zum Ordinarius erhoben wurde, kam ein Theologe, der die nichtjüdische Wurzel Jesu behauptete und damit dessen arische Herkunft, den „arischen Jesus“ postulierte.83 Der deutschgläubige Religionsforscher Hauer vertrat dagegen wie das traditionelle Christentum die jüdische Herkunft Jesu, die er später 79 Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 70 f. 80 Astel an Himmler vom 8. 5. 1935. Zit. nach ebd., S. 82. 81 Vgl. Roland Deines, Jesus der Galiläer. In : Roland Deines / Volker Leppin / Karl - Wilhelm Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007, S. 43–131, hier 100, Anm. 163. 82 Vgl. Susanne Heschel, Die Theologische Fakultät der Universität Jena als „Bastion des Nationalsozialismus“. In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 171. 83 Ausführlich dazu Deines, Jesus der Galiläer, S. 43–131.

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in dem Traktat „Ein arischer Christus ?“ publizierte.84 Im Mai 1939 sollte Grundmann das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben gründen, dem er als Direktor vorstand. Gegner dieser Entwicklung war nicht zuletzt wegen des theologischen Hintergrundes Rektor Karl Astel.85 Nach dem Tode des Systematischen Theologen Heinrich Weinel am 29. September 1936 musste auch dessen Lehrstuhl neu besetzt werden. Sein Nachfolger wurde schließlich Heinz Erich Eisenhuth (1903–1983), ein Deutscher Christ. Der Favorit Karl Heussis (1877–1961) war jedoch Kurt Leese (1887– 1965) gewesen. Heussi begründete dies damit, dass Leese eine Antwort auf Wilhelm Hauers neugermanische Bewegung darstelle.86 Zur Wahl Eisenhuths führte die Fakultätsmehrheit an, sie müsse „bei Neuberufungen auch nationalsozialistische Zuverlässigkeit in 1. Linie“ berücksichtigen und in Jena solle eine „Theologische Fakultät aufgebaut werden, die im Gegensatz zu den meisten Fakultäten ganz bewusst den Nationalsozialismus bejaht“.87 Auf der Gründungsversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung in Eisenach war Leese, den Hauer in der Zeit der Weimarer Republik sehr schätzte und ihn auch zu Veranstaltungen seines Bundes der Kögener eingeladen hatte, als Vertreter des Freien Protestantismus anwesend. Eine engere Zusammenarbeit ergab sich jedoch nicht, da die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung bald antikirchliche und - christliche Positionen vertrat, die Leese nicht mittragen konnte. 1935 kritisierte er Hauers Buch „Deutsche Gottschau“.88 Die oben genannten Stellenbesetzungen sind der Hintergrund, um den Briefwechsel zwischen Stengel - von Rutkowski und Hauer wegen der Besetzung eines Lehrstuhls der Vergleichenden Religionswissenschaft in den Jahren 1937 und 1938 einordnen zu können. Stengel - von Rutkowski war damals Pressereferent des NSDDB.89 Am 5. August 1937 kündigte Hauer gegenüber Stengel - von Rutkowski an, ihm seine Rezension zu Christel Matthias Schröders Buch „Rasse und Religion“90 zuzuschicken, mit der er jenen „erledigt“ zu haben glaubte, und bat um ihre Verbreitung, etwa im NS - Kurier. Matthes Ziegler habe er auch eine 84 Z. B. : Der arische Christus I. In : Deutscher Glaube, 9/1938, S. 410–419; Der arische Christus II–IV. In : ebd., 2/1939, S. 47–59; 3/1939, S. 99–116; 4/1939, S. 154–174. Auch als gesonderte Broschüre erschienen : Ein arischer Christus ? Eine Besinnung über deutsches Wesen und Christentum, Karlsruhe 1939. 85 Vgl. Heschel, Theologische Fakultät, S. 176–179. 86 Ebd., S. 172. 87 Ebd., S. 173 f. 88 Zu Leeses Zusamenarbeit vgl. Nanko, Deutsche Glaubensbewegung, S. 56, 126 f., 132. Zur Kritik Leeses an Hauer vgl. seine Rezension zu W. Hauer, Deutsche Gottschau. In: Christliche Welt, 1935, Sp.877 ff.; Sp. 929 ff.; Kurt Leese, Rasse - Religion - Ethos, Gotha 1934; ders., Das Problem des „Arteigenen“ in der Religion. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Deutschen Glaubensbewegung, Tübingen 1935. 89 Willy Schilling, NS - Dozentenschaft und Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund. In : Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 192. 90 Christel Matthias Schröder, Rasse und Religion : eine rassen - und religionswissenschaftliche Untersuchung, München 1937.

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Rezension zugeschickt. Unter demselben Titel wollte er 1938 selbst ein Buch herausbringen.91 In seinem Antwortschreiben, in dem sich Stengel - von Rutkowski von der Rezension angetan zeigte und die Weiter verbreitung versprach, wandte er sich einer anderen Angelegenheit zu, die „ganz besonders vertraulich“ zu behandeln sei : „Durch eine Umgruppierung in der Leitung der Dozentenbundsführung bekommt der alte Plan, eine der christlichen Monopolstellung entzogene Professur für vergleichende Religionswissenschaft in Jena zu begründen, wieder eine gewisse, wenn nicht feste Verwirklichungsmöglichkeit. So weit ich sehe, kommen für die Besetzung dieses Lehrstuhls Sie oder Herr Prof. Mandel – Kiel in Frage. Ihrem Brief vom 16.10. 36 zufolge würde der Entschluss, einem etwaigen Ruf nach Jena Folge zu leisten, Ihnen zwar nicht leicht fallen, aber doch im Bereich der Möglichkeiten liegen. Heinz Brücher hat mir bei seinem letzten Hiersein Andeutungen gemacht, als ob Ihre Neigung, Jena mit Tübingen zu vertauschen, inzwischen eher größer als kleiner geworden sei.“ Seinen Brief schloss Stengel - von Rutkowski mit den Worten : „Ich bin der Überzeugung, dass es tatsächlich nur dann gelingt, das neue Wollen in der Wissenschaft auf die Dauer in neue Form zu gießen, wenn an einer deutschen Universität wenigstens alle Fachgebiete einheitlich durch Männer vertreten sind, die tatsächlich von Grund auf von dem neuen Wertmaßstab durchdrungen ihre Arbeit aufbauen.“92 Das sollte die Universität Jena sein, und Karl Astel mit seinem Mitarbeiterkreis war die treibende Kraft. Inzwischen arbeitete Brücher an der Universität Tübingen und pflegte Kontakt zu Hauer. Am selben Tag – die Briefe überkreuzten sich – teilte Hauer, erst 1937 Mitglied der NSDAP geworden, seine Bereitschaft mit, nach Jena wechseln zu wollen. Als Bedingung nannte er einen Lehrstuhl für arische Weltanschauung mit der Möglichkeit, Sanskrit zu unterrichten und an seinen indoarischen Forschungen weiterarbeiten zu können. Den „Gesamtbereich des Indogermanischen“ wollte er „unter dem Gesichtspunkt der Religionsgeschichte und der Weltanschauung“ als seinen Schwerpunkt betrachten. Mit Kummers Gebiet würde es keine Kollisionen geben, da er, Hauer, „in erster Linie auch vom Religiösen her arbeite“. Hauer dachte sich den Lehrstuhl als „den Anfang in einem umfassenden Plan, der darauf ausgeht, an sämtlichen deutschen Universitäten die theologischen Lehrstühle durch solche Lehrstühle für arische Weltanschauung zu ersetzen“. Er werde „in allernächster Zeit auf Grund einer Aussprache mit einem Herrn des Kultministeriums in Württemberg eine Denkschrift ausarbeiten“, die er an den Reichskultminister und an sämtliche Landesministerien schicken wolle. In ihr werde er darlegen, „wie von der Volksschule an durch die höhere Schule bis zur Universität auf Grund der Urkunden und Gestalten arischer Gott - und Weltschau und Lebensgestaltung von den Märchen an bis zu 91 Hauer an Stengel - von Rutkowski vom 5. 8. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 376). Vgl. auch Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999, S. 171–174. 92 Stengel - von Rutkowski an Hauer vom 10. 8. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 373 f.). Her vorhebung im Original.

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unseren großen Philosophen der unerschöpf liche Reichtum arischer Geistesart in das Volk hineingetragen werden soll“.93 Hauer hatte für Stengel - von Rutkowski im Brief vom 15. September 1937 eine Beurteilung über zwei Bücher des deutschchristlichen Theologen Friedrich Weinrich – „Der religiös - utopische Charakter der ‚prophetischen Politik“ und „Die Liebe im Buddhismus und im Christentum“ – verfasst. Am Ende seiner Kritik formulierte Hauer die Hoffung, „dass niemand daran gedacht hat, Weinrich für die Stelle in Jena vorzuschlagen. Sie würden sonst den Bock zum Gärtner setzen.“ Diese Bemerkung könnte sich auf etwaige Überlegungen in Jena beziehen, Weinrich als Indienkenner einen Lehrstuhl für Religionswissenschaft anzutragen. Beide Bücher gehörten nach Hauer zur theologischen Schule, die von Rudolf Otto ausgehe und mit neuen Mitteln das Christentum verteidige. Über das Buch zu den israelitischen Propheten bemerkte er, dass die vorderasiatisch - semitische Religiosität der Propheten dem arischen Denken entgegengesetzt sei, und beim Buddhismus - Buch kritisierte er, dass Weinrich den „letzthinig indoarischen Charakter des Buddhismus“ nicht erkannt habe.94 Bemerkenswert ist Hauers negatives Urteil über Otto, denn in den 1920er Jahren hatte er mit ihm zusammen den liberalen Religiösen Menschheitsbund geleitet und zwischen 1925 und 1927 an der Universität Marburg zusammengearbeitet. Zu Beginn der nationalsozialistischen Regierung hatte er mit Otto – und Leese – zusammen noch eine „Deutsche Glaubensbewegung“ unter Einschluss von liberalen religiösen Menschen gründen wollen.95 Mit seinem Brief vom 21. Oktober 1937 bewarb sich Hauer gewissermaßen um die Stelle für die Religionswissenschaft, indem er den von Stengel - von Rutkowski gewünschten Lebenslauf beilegte. Er versicherte, dass er trotz seiner guten Position in Tübingen nach Jena kommen wolle, weil es ihn locke, an eine andere Universität zu gehen, von der er erhoffe, „dass dort der Durchbruch zu einem Neuen geschieht“. Er wiederholte seine alten Forderungen bezüglich des Lehrstuhls, der dem in Tübingen entsprechen sollte. Auskünfte sollten für die Indologie bei Walter Wüst in München und Richard Schmidt in Münster, für die Religionsgeschichte bei Otto Weinreich in Tübingen und Friedrich Pfister in Würzburg eingeholt werden, die beide Herausgeber des „Archivs für Religionswissenschaft“ waren96 und in dem auch Hauers Rezension zu Christel Matthias Schröders Buch „Rasse und Religion“ erschienen war. Hauer nannte zwar noch Hermann Mandel aus Kiel, doch riet er von ihm ab, da er vom Gaudozentenführer in Jena die Aufforderung erhalten hatte, seinerseits über Mandel zu gutachten.97 Das lässt darauf schließen, dass man auch den Systematischen Theologen und Rassenkundler Hermann Mandel als Kandidaten in Erwägung gezogen hat. Die Aussichten schienen wohl günstig für die Religionswissen93 94 95 96 97

Hauer an Stengel - von Rutkowski vom 10. 8. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 375). Hauer an Stengel - von Rutkowski vom 15. 9. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 368). Vgl. Nanko, Deutsche Glaubensbewegung, S. 155. Hauer an Stengel - von Rutkowski vom 21. 10. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 365). Ebd.

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schaft, denn im Machtkampf in der thüringischen Regierung hatte sich Fritz Sauckel gegen den Volksbildungsminister Wächtler durchgesetzt, der die Konzeption der „völkischen Theologie“ unterstützte: Er setzte Meyer - Erlach als Rektor ab und am 1. November 1937 Esau ein. Die Astel - Gruppe wusste nun Sauckel und den neuen Rektor Esau hinter sich, der Rückendeckung vom Reich hatte und mit der SS zusammenarbeitete.98 Eine Berufung Hauers fand genau wie im Fall Herman Mandels niemals statt.

5.

Neuanfänge

Im erwähnten Brief vom 21. Oktober 1937 teilte Hauer mit, dass er seine Zeitschrift „Deutscher Glaube“ zu einer für arische Weltanschauung und Religionsgeschichte umbauen und sich nicht mehr polemisch mit dem Christentum auseinandersetzen wolle. Er hätte sie gern im Diederichs Verlag herausgegeben.99 Vorausgegangen waren einige Artikel zur „Aussprache“ über die Begriffe Religion, Glaube und Weltanschauung im „Deutschen Glauben“ von 1936 und 1937. Hauer verstand „Rasse“ als Grundlage von Volk, Sprache und Religion. Unverkennbar ist seine Konzeption von religiösem Erlebnis, wie er es 1923 in seinem Buch „Die Religionen“100 dargelegt hatte, nun aber rassistisch gewendet. Statt des „Fremdworts“ Religion bevorzugte er „Glaube“. „Das Ringen um Weltanschauung ist ein dem Menschen angeborenes Muss und zugleich Fortsetzung des Kampfes mit geistigen Mitteln. Weltanschauung ist sowohl eine theoretische Betrachtung der Welt, wie auch Kraft im Kampf ums Dasein auf der geistigen Ebene, von der dann wieder Kräfte in den biologischen Untergrund hinunterdrängen.“ Und : „Weltanschauung, tief genug erlebt und erfasst, ist Glaube und wird so zu Religion. Religion, weltwirklich genug erlebt, wird Weltanschauung.“101 Stengel - von Rutkowski antwortete darauf im Februarheft des „Deutschen Glauben“. „Religion“ ordnet er dem Dogma „( vorderasiatisch - erlösungstypisch)“ bzw. dem Bekenntnis „( orientalisch - offenbarungstypisch )“ zu, die beide die „Seele in Grenzen und Fessel schlagende[ n ] Wesen[ s ]“ seien. Weltanschauung ist ihm dagegen „das der nordischen Rasse entsprechende Wort für ‚Religion‘“. Er versteht Glaube biologistisch als „Instinkt“ und trennte davon die „Weltanschauung“ ab, die er für „Reflexion“ hält. „Weltanschauung und Christentum schließen sich ebenso aus wie Dogma und Heidentum, oder mit anderen Worten : Was für jüdisch - orientalisches Christentum das Wort ‚Religion‘ umfasst, 98 Vgl. Hoßfeld / John / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 74. 99 Hauer an Stengel - von Rutkowski vom 21. 10. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 365). 100 Jakob Wilhelm Hauer, Die Religionen. Ihr Werden, ihr Sinn, ihre Wahrheit, Stuttgart 1923. 101 Wilhelm Hauer, Zur Aussprache : Weltanschauung und Religion. In : Deutscher Glaube, 9/1936, S. 383–386. Der Aufsatz geht auf einen ganz ähnlichen Aufsatz von ihm in der Württembergischen Studentenzeitschrift von Dezember 1935 zurück.

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umfasst für nordisch - indogermanisches Heidentum das Wort ‚Weltanschauung‘.“102 Dieser Begriff schloss an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch an und wurde durch ihn rassenbiologisch im Sinne der Rassenhygiene gefüllt. Auch Hauer verwandte zu dieser Zeit gern den Begriff der Weltanschauung. Im Anschluss an die „Aussprache“ erscheint der Aufsatz des dänischen Theologen Kjeld Jensen mit dem Titel : „Das Alte Testament der Germanen muss geschaffen werden.“ Die Schriftleitung, in Person von Ewald Schaper,103 distanzierte sich vom Inhalt mit der Bemerkung : „Zudem zeigt auch dieser Beitrag [...] deutlich, wie stark doch noch im nordischen Bereich die Überzeugung herrscht, dass eine Vereinigung von Germanentum und Christentum möglich ist.“104 Jensen wünschte eine „in die Tiefe“ gehende „Germanenrenaissance“ und die Ersetzung der „jüdisch - evangelischen“ Bibel durch die „deutsch - evangelische“.105 Diese Position war eine deutschchristliche, wie sie sich um die Jahrhundertwende ausgebildet hatte; stellvertretend sei hier Wilhelm Schwaners „Germanen - Bibel“ genannt. Einige deutschchristliche Mitglieder gehörten anfangs der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung an. Hauer hatte bereits schon 1934 eine andere Richtung eingeschlagen. In seinem Buch „Deutsche Gottschau“ arbeitete er mit dem Gegensatzpaar „vorderasiatisch - semitisch“ und „indogermanisch“. Sein Einleitungskapitel ist überschrieben mit: „Der Kampf zwischen der vorder - asiatischen und der indogermanischen Glaubenswelt“ – 1957 wurde daraus : „Das Ringen des abendländischen Menschen um Selbstverständnis und Selbstver wirklichung in seinem eigenen biotischen und seelisch - geistigen Raum“.106 1936/37 verstärkte sich dies, vielleicht aufgrund der Auseinandersetzung mit Stengel - von Rutkowski, sicherlich aber, weil seine Zeitschrift unter Beobachtung der Politischen Polizei stand.107 Die neue Ausrichtung des „Deutschen Glaubens“ hing mit Hauers Rücktritt im April 1936 von der Führung der Deutschen Glaubensbewegung zusammen. Seit der Aprilausgabe 1936 trug die Zeitschrift den Untertitel „Zeitschrift für arteigene Lebensgestaltung, Weltschau und Frömmigkeit“, davor hatte sie den Zusatz „Monatsschrift der Deutschen Glaubensbewegung“. Damit ist die Dis102 Lothar Stengel - von Rutkowskis Beitrag unter „Aussprache : Weltanschauung und Religion. In : Deutscher Glaube, 2/1937, S. 82 f. : „Weltanschauung ist Reflexion, Glaube in diesem Sinne Instinkt.“ 103 Schaper gelangte etwa im Juni 1936 in die Schriftleitung, als Herbert Grabert ausschied. Vgl. Truckenmüller an Hauer vom 19. 6. 1936 ( BArch, NL Hauer 78, 541). 104 Kjeld Jensen „Das Alte Testament der Germanen muss geschaffen werden“. In : Deutscher Glaube, 2/1937, S. 86–92, hier 86. 105 Jensen, Das Alte Testament, S. 92. 106 Jakob Wilhelm Hauer, Das Ringen des abendländischen Menschen um Selbstverständnis und Selbstverwirklichung in seinem eigenen biotischen und seelisch - geistigen Raum. In: Wirklichkeit und Wahrheit. Blätter für die Freunde der Freien Akademie e. V., 3. und 4. Jahresrundbrief von Dezember 1957, S. 7–58. 107 Hauer an Truckenmüller vom 12. 6. 1937 ( BArch, NL Hauer 78, 504). Hauer hatte sich, nachdem Truckenmüller über Schwierigkeiten mit dem Juli - Heft berichtet hatte, sogleich an Werner Best gewandt. Zudem hatte er zuvor schon das Heft einem SD Mann vorgelegt, der es nicht beanstandet hatte.

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tanzierung Hauers zur Organisation dokumentiert, was ihm auch Kritik einbrachte, etwa von dem Verleger Georg Truckenmüller, der selbst noch dort organisiert war. In einem Brief vom 2. Dezember 1936 bedauerte dieser die Absetzbewegung.108 Anlass des Briefes war Hauers Stellungnahme zum Erlass des Reichsinnenministers, der auch im Namen des Stellvertreters des Führers und des Reichsministers für die kirchlichen Angelegenheiten tätig war. In diesem Erlass wurde der alte Begriff „Dissident“ abgelöst durch den des „Gottgläubigen“ bzw. des „Gottlosen“. Hauer begrüßte diese Änderung, weil er den Begriff „Dissident“ für zu unpräzise hielt und dieser im allgemeinen Bewusstsein mit der Gottlosigkeit und der Religionsleugnung insbesondere der Freidenker identifiziert werde. Er bevorzugte „Gottgläubige“, weil dieser Begriff in amtlichen Dokumenten all jene berücksichtige, die keiner organisierten Religions - oder Weltanschauungsgemeinschaft angehören wollten. „Gottgläubig“ war der weiter gefasste Begriff gegenüber dem öfter benutzten „deutschgläubig“. Hauer führt hier die Bezeichnung „Kameradschaft arteigenen Glaubens“ ein, womit er jene meinte, die die arteigene, d. h. die rassegebundene, Religion wollten, gleichgültig, ob und wo sie organisiert waren.109 Die Gründung fiel ins Jahr 1937.110 Inzwischen hatte sich der Herausgeberkreis des „Deutschen Glaubens“ verändert.111 Unter anderem kamen die Jenenser Stengel - von Rutkowski und Theodor Scheffer zum Herausgeberkreis hinzu, und der Jenenser Gerhard Heberer sagte seine Mitarbeit zu. Hauer war zu dieser Zeit sehr aktiv : 1937 erschien seine „Glaubensgeschichte der Indogermanen“, 1938 erhielt er vom Ahnenerbe den Auftrag, eine „Stoffsammlung aus der germanisch - deutschen Glaubensgeschichte für den weltanschaulichen Unterricht in Schulen“ zu erstellen.112 Sehr wahrscheinlich wurde sie als „Urkunden und Gestalten der germanisch - deutschen Glaubensgeschichte“ ab 1940 gedruckt. In der Vorbemerkung nannte sie Hauer „unser Beitrag zu einer inneren Wehrhaftigkeit“; gedacht war sie für den Schulgebrauch.113 108 Truckenmüller an Hauer vom 2. 12. 1936 ( BArch, NL Hauer 78, 518). 109 Jakob Wilhem Hauer, Neuregelung in der Bezeichnung der religiösen Bekenntnisse. In: Deutscher Glaube, 12/1936, S. 567–569. 110 Hauer bevorzugte wohl eher die Bezeichnung „Kameradschaft arttreuen Glaubens“. Vgl. autorisiertes Protokoll des Interviews Hans Buchheims mit Hauer, o. D., S. 1–12, hier 7 ( BArch, NL Hauer 79, 52–63); Truckenmüller an Hauer vom 2. 12. 1936 ( NL Hauer 78, 518), in dem er die Formulierung der Textpassage im Deutschen Glauben (12/1936, S. 568) „Kameradschaft arteigenen Glaubens“ in Kameradschaft arttreuen Glaubens“ korrigierte, was aber nicht in die Druckfassung kam. 111 Vgl. Clemens Vollnhals, Deutscher Glaube. Eine Zeitschrift für den gebildeten NS - Glaubenskrieger. In : Michel Grunewald / Uwe Puschner ( Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Frankfurt a. M. 2008, S. 483–502, hier 493. 112 Vgl. Harten / Neirich / Schwerendt, Rassenhygiene, S. 29, Anm. 91. Die Autoren vermuten, dass das Werk nie in den Druck gegangen ist. 113 Klappentext des 1. Heftes des 1. Bandes von Jakob Wilhelm Hauer ( Hg.), Urkunden und Gestalten der germanisch - deutschen Glaubensgeschichte, Stuttgart o. J. ( während der großen Flandernschlacht 1940).

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Zeitgleich arbeitete Hauer auch an einem anderen Buchprojekt für die Schule, „Der deutsche Born“, das aber erst 1952 realisiert wurde.114 Hauer präzisierte die Frage nach Rasse und Religion auf Tagungen und in Publikationen. Die Lehrerweiterung auf Arische Weltanschauung an der Tübinger Universität erreichte Hauer aber erst im April 1940, dazu trennte er das neu errichtete Arische Seminar vom bisherigen Orientalischen Seminar ab.115

6.

Fazit

Die Ersetzung des Dissidentenbegriffs steht in einer längeren Tradition freireligiöser und freidenkerischer Forderungen aus dem 19. Jahrhundert, deren Ziel die Trennung von Staat und Religion war. Hauer behauptete von sich, dass er Heinrich Himmler die „radikale Trennung von Kirche und Staat“ empfohlen habe, der aber nicht in dieser Richtung aktiv geworden sei.116 Hauers Vorstellung der Trennung unterschied sich maßgeblich von jener der Freidenker. Er stand der Konzeption der Freireligiösen und mehr noch der Deutschgläubigen Gemeinschaft von 1911/12 näher. Seine Alternative zur christlichen Religion war die rassistisch - arische Weltanschauung, die durch Erziehung allerdings erst noch gepflegt werden musste. Daher sind die Vorgänge um die Bildungseinrichtungen so wichtig : Schon mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung 1933 begann die Radikalisierung des Deutschen Glaubens in Richtung der nationalsozialistischen Rasseideologie. Die Arbeitsgemeinschaften zu Rassefragen und zur religiösen Unterweisung stießen auf größtes Interesse. Dabei befanden sich die Propagandisten der nationalsozialistischen Rassenideologie in den eigenen Reihen. Insbesondere die Freunde um Lothar Stengel - von Rutkowski und vor allem Hauer selbst sind hier zu nennen. Die Auseinandersetzung mit den Kirchen während der Jahre 1933 bis 1935, vor allem mit der deutschchristlichen Richtung im Protestantismus spiegelte sich in den Kräfteverhältnissen bei der Einflussnahme der Gruppe um Astel und Stengel - von Rutkowski an der Universität Jena wider. Dort beherrschte der völkisch - antisemitsche Diskurs das religiöse Feld. Durchgesetzt hat sich die deutschchristliche Variante. Anders sah es auf dem Felde der Medizin aus : Hier dominierte der eliminatorische Rassismus. An dem weiteren Lebensweg Stengel - von Rutkowskis lässt sich das Ausmaß zeigen : Während des Krieges sollte er in Prag eine Stelle zur Herausarbeitung der „rassisch wesentlichen Merkmale und Unterschiede der europäischen Völker und Stämme“ bzw. ein „Archiv zur

114 Dazu wie auch zu den Kontinuitäten und Brüchen in der Biographie vgl. Ulrich Nanko, Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962). In : Rainer Lächele / Jörg Thierfelder ( Hg.), Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg, Stuttgart 1998, S. 61–76. 115 Vgl. Junginger, Von der philologischen, S. 159 f. 116 Protokoll des Interviews Hans Buchheims, S. 10 ( BArch, NL Hauer 79, 52–63).

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Geschichte der Rassenidee“ gründen. Dort war er eingebunden in die „rassische Selektion“.117 Die Niederlage beendete diese Arbeit, nicht jedoch die Verbindungen. Seit 1948 sammelte Hauer alte Weggefährten in der Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie, die 1957 in die Freie Akademie umgewandelt wurde. Mit dabei waren u. a. Stengel - von Rutkowski und Gerhard Heberer.118 Bernhard Kummer, der sich mehr dem nordischen Milieu zuwandte, schloss sich der Akademie nicht an, während Matthes Ziegler als evangelischer Pfarrer in der hessischen Landeskirche wirkte.

117 Vgl. Hoßfeld / Šimůnek, Kooperation, S. 83–87. 118 Vgl. Ulrich Nanko, Religiöse Gruppenbildung vormaliger ‚Deutschgläubiger‘ nach 1945. In : Hubert Cancik / Uwe Puschner ( Hg.), Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion, München 2004, S. 121–134.

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Die Ludendorff - Bewegung im Nationalsozialismus – Annäherung und Abgrenzungsversuche Bettina Amm

1.

Vor dem Verbot 1927–1933

Die Ludendorff - Bewegung entstand 1925 zunächst als reine Dachorganisation verschiedener militärisch geprägter Kampfbünde mit dem Namen TannenbergBund, welcher von Konstantin Hierl geleitet wurde. Erst als 1927 Erich Ludendorff selbst aktiv die weitere Entwicklung und vor allem die weltanschauliche Ausrichtung der Organisation beeinflusste, vollzog sich ein tiefgreifender Wandel im Tannenberg - Bund. Denn nachdem etliche Mitglieder des Tannenberg - Bundes Kontakte zur NSDAP aufgenommen hatten, sorgte sich Erich Ludendorff um den weiteren Fortbestand „seiner“ Organisation und grenzte sie deshalb stärker von der NSDAP ab. Unter der Federführung von Mathilde Ludendorff wurde eine Neuredaktion der „Kampfziele“ von 1925 vorgenommen : hier vollzog sich eine klare Abkehr von den Zielen des Nationalsozialismus, die nie die seinen gewesen waren, sowie der bisherigen Organisationsform, die ihm zu wenig Einflussmöglichkeit ließ. Ludendorff verabschiedete sich ferner von der Idee der Kampfbünde, da er sie als überlebt ansah. Gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Mathilde ( geborene Spieß, verwitwete von Kemnitz, geschiedene Kleine ) Ludendorff bekannte er sich zur „völkischen Bewegung“. Die Besonderheit der Ludendorff ’schen Ziele war die Vorstellung von einer „völkischen Kulturpolitik“, denn Kultur sei das „Werk des Gottglaubens“.1 Kultur umfasste, nach Mathilde Ludendorff, alle Bereiche der Wissenschaft, der Kunst sowie des Erziehungswesens. Bereiche, zu denen sie auch einen persönlichen Bezug hatte durch ihre eigene Ausbildung in Wissenschaft und Erziehungswesen sowie durch ihre künstlerisch tätigen Schwestern. Nun spricht Erich Ludendorff in den neu formulierten „Kampfzielen“ von „Blutsbewusstsein und Rassestolz“, „Reinheit der Rasse ist Heiliges Gesetz der Erhaltung der Volksseele“, „Mischung mit Fremdblut ist Volksvergiftung“, „Gesundheitspflege der Rasse ist Notwendigkeit der Arterhaltung“, „Deutscher 1

Manfred Nebelin, Erich Ludendorff. Ein völkischer Prophet. In : Revue d’Allemagne et de Pays de Langue Allemande, 32 (2000), S. 245–256, hier 251.

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Gottglaube und die sittlichen Ideale sind gestaltet aus dem Blute. Zu ihnen zurückzufinden ist Rettung des Volkes vor Entartung“.2 Die Folge dieser Eröffnungen war ein schwerer Bruch innerhalb der Organisation. Die Leitung des Tannenberg - Bundes unter Konstantin Hierl sagte sich von Ludendorff los und ebenso viele Gruppen sowie Einzelpersonen. Der nächste Schritt war 1930 die Gründung des Vereins Deutschvolk innerhalb des Tannenberg - Bundes, eine rein religiöse Organisation unter der Federführung von Mathilde Ludendorff. Hier gab es gar keine Strukturen mehr, nur noch die „Philosophin“, wie sie selbst sich bezeichnete, und das Einzelmitglied – so sollte der Entstehung einer „Priesterschaft“ und festen Strukturen vorgebeugt werden. Im Vereinsregister waren beide Ludendorffs als Gründer eingetragen, denn auch hier diente Erich Ludendorff als Legitimation. Es wurde zunächst kein Zwang ausgeübt, diesem religiösen Verein beizutreten; Ludendorff ließ allerdings wenig Zweifel aufkommen, dass er kein Verständnis dafür hatte, dass noch nicht alle Mitglieder des Tannenberg - Bundes aus der Kirche ausgetreten waren, so wie er selbst, und sich rückhaltlos zur „Deutschen Gotterkenntnis“ bekennen wollten und dies idealer weise im Verein Deutschvolk.3 Erst ab 1932 war das Verbot der gleichzeitigen Mitgliedschaft im Tannenberg - Bund und einer Kirche verbindlich. Zwischenzeitlich hatte Ludendorff die Mitglieder immer wieder „zum Austritt aus der evangelischen - bzw. katholischen Kirche aufgefordert“; sie sollten unterschreiben, dass „meine Kinder nicht getauft werden, jedenfalls am christlichen Religionsunterricht nicht teilnehmen“.4 Ganz deutlich tritt der Sektencharakter der neuen Ludendorff - Bewegung hervor – eine starke Abschottung nach außen, eine autoritäre Führungsstruktur, in der die „Macht“ des „Führers“ nicht durch religiöse Schriften beschränkt wird, die Unvereinbarkeit einer Kirchenmitgliedschaft, die Unbedingtheit der Ludendorff’schen Lehren, die Willkür im „Aufstiegsweg“ und Unberechenbarkeit des Hauses Ludendorff waren ein völliger Gegensatz zur vorigen Organisation.5 Erich Ludendorff unternahm wenig, um die Mitgliederzahlen zu erhöhen, vielmehr galt das Bestreben, die Verkaufszahlen und Erlöse zu steigern – wovon jedoch so gut wie nichts der Organisation zugute kam. Es wurde vielmehr erwartet, dass die Mitglieder für den „Heidenschatz“, die finanzielle Reser ve der

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Erich Ludendorff, Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär, Band II, München 1941, S. 85. Deutsche Wochenschau vom 11. 12. 1927, S. 1. LKA Stuttgart, Hutten - Sammlung, Film 179; Frank Schnoor, Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Weimarer Republik und des NS Staates, Egelsbach 2001, S. 208. Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehre der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1994 ( Nachdruck von 1912), S. 663 ff.; Bettina Amm, Die Ludendorff - Bewegung – zwischen nationalsozialistischem Kampfbund und völkischer Weltanschauungssekte, Hamburg 2006, S. 228 ff.

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Organisation, spendeten.6 Er verbat sich, wenn Mitglieder sich in seine, vornehmlich finanziellen, Angelegenheiten einmischen wollten.7 Die ersten Werke allerdings, die der „neue“ Ludendorff 1927 herausbrachte, wie „Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse“ oder „Die überstaatlichen Mächte im letzten Jahr des Weltkrieges“ bescherten nicht den gewünschten Erfolg, sondern allenfalls Nichtachtung oder sogar Häme.

2.

Verbotszeit 1933–1937

Das Haus Ludendorff konnte sich nicht enthalten, zahlreiche Schmähschriften gegen die NSDAP und auch Hitler zu veröffentlichen wie „Hitlers Verrat der Deutschen an den römischen Papst“ oder „Heraus aus dem braunen Sumpf“, letztere insbesondere mit Anspielungen auf die Homosexualität Röhms und seines Kreises, oder die Titulierung Hitlers als „schwarzer Adolf“ und als „Neuer Christus“.8 Natürlich hatte dies unliebsame Folgen. Die Nationalsozialisten rächten sich durch eingeschlagene Scheiben bei Ludendorff - Buchhandlungen, tätliche Übergriffe oder sprengten Veranstaltungen mit dem Ruf „Ludendorff verrecke !“. Aber das brachte das Haus Ludendorff nicht dazu, hiermit aufzuhören. Sicher war Erich Ludendorff nicht blind für die Folgen solcher Aktionen und nach der Machtübernahme 1933 war er sich darüber im Klaren, dass ein Organisationsverbot bevorstand.9 Statt jedoch das Verhalten zu ändern, bereitete er sich auf ein solches Verbot vor : Er transferierte die gesamte Organisation in den „Ludendorffs Volkswarte“ Verlag. Aus Landes - oder Gauleitern wurden Handelsvertreter, denen Ludendorff einschärfte, stets die rechtliche Trennung von Bund und Verlag zu betonen. Die Zahlungen wurden auf ein Deckkonto transferiert, um eventuellen Kontensperrungen zuvorzukommen, die Zielsetzung in eine rein propagandistische umgemünzt sowie eine Lockerung der „dichten Schützenlinien“ gegenüber dem Einzelkämpfer propagiert.10 Vor dem Verbot waren mehrfach Warnungen von Seiten des Innenministeriums ausgesprochen worden,11 durchgeführt wurde dies allerdings zu unterschiedlichen Zeiten in den einzelnen Ländern. Als der Tannenberg - Bund und

6 Der „Heidenschatz“ hieß vor dem Organisationsverbot 1933 „Kampfschatz“. Was letztlich aus ihm wurde ist unbekannt. 7 Vgl. Ludendorff an Nagati vom 31. 3. 1932 ( BArch, NL Holtzmann, 1079, 28). 8 Ludendorffs Volkswarte vom 24. 7. 1932, S. 1. 9 Vgl. Bronsart ( Bundesführer ) an alle Landes - und Gauführer vom 16. 12. 1931 ( BArch, NL Holtzmann, 1079, 2). 10 Gert Borst, Die Ludendorff - Bewegung 1919–1961, München 1969, S. 219 : Merkblatt Nr. 1 vom 1. 7. 1933. 11 Vgl. Preußischer Minister des Inneren an Ludendorff vom 6. 7. 1933 ( BArch, NL Lindner, 1245, 34).

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die Zeitschrift „Ludendorffs Volkswarte“ sowie der Verein Deutschvolk und auch alle anderen Nebenorganisationen zum Jahresende 1933 endgültig verboten worden waren, hatte Erich Ludendorff seine publizistische Arbeit schon längst auf das ehemalige „Deutschvolk“ - Organ „Am Heiligen Quell Deutscher Kraft“ umgelenkt, das jetzt alle vierzehn Tage anstatt wie bisher monatlich erschien. Auch die Vortragstätigkeit, jetzt in „Werbeveranstaltungen“ umbenannt, war weiterhin möglich. Abgesehen vom Verbot einzelner Bücher, konnten Erich und Mathilde Ludendorff zahllose Broschüren sowie Erzeugnisse von Verlagsmitarbeitern weiter ungehindert in den Ludendorff Buchhandlungen vertreiben. Obwohl die Ludendorff - Bewegung durch diese geschickten Manöver des „Feldherrn“ das Verbot relativ unbeschadet überstanden hat, war doch die rechtliche Situation eine völlig andere. Anstelle von gesetzten Normen existierte nun allein der wandelbare „Führerwille“, dessen Kenntnis nun um so wichtiger wurde. Die weitere Existenz der Bewegung hing allein davon ab, ob sie sich innerhalb dieses „Führerwillens“ bewegte oder nicht. Dies zeigte sich an den nachlassenden Schmähungen des Hauses Ludendorff gegen die Nationalsozialisten und Hitler. Jetzt bemühte sich Erich Ludendorff um einen moderateren Kurs.12 Er verlegte sich stattdessen auf seine sehr häufig verletzte Ehre – sei es wegen Veröffentlichungen über den Ersten Weltkrieg, die nicht in seinem Sinne waren, oder wie sein Geburtstag begannen wurde, auch Äußerungen von Goebbels gegen seine Frau Mathilde waren ihm ein stetiges Ärgernis. Gleichwohl versuchten die Nationalsozialisten, trotz des Verbots, die Gunst des Feldherrn zu gewinnen und organisierten zu seinem siebzigsten Geburtstag eine offizielle Feier. Ludendorff wünschte keinen persönlichen Besuch Hitlers, ließ sich jedoch gern eine stilvolle Feier ausrichten, die er ohne Dank entgegennahm – „ein Deutscher 2. Klasse dankt nicht !“13 Als Erfolg verbuchte Ludendorff schließlich das Zugeständnis, dass der „Quell“ bereits ab 1935 wieder in den Kasernen ausgelegt werden durfte. Ansonsten konnte vorerst nichts Entscheidendes erreicht werden – das Verbot blieb bestehen ! Trotzdem unterhielt Ludendorff einen relativ engen Kontakt über seinen zeitweiligen Vertrauten, Major Robert Holtzmann, zu Führungskreisen der Wehrmacht. Diese Beziehung diente nach dem Zweiten Weltkrieg dem versuchten Aufbau eines Widerstands - Mythos : Ludendorff wurde in die Nähe der Hitler- Attentäter gerückt, geradezu zum „geistigen Vater“ des versuchten Attentats hochstilisiert.14 12 Vgl. Amm, Ludendorff - Bewegung, S. 180. 13 Ebd., S. 181. 14 Vgl. Bebenburg in einer Sendung des NWDR vom 5. 5. 1952 ( BArch, NL Holtzmann, 1079, 21) und Eidesstattliche Erklärung MathildeLudendorffs vom 1. 3. 1949 ( BArch, NL Lindner, 1245, 33) : „Bereits in den Jahren ’34–’36 versuchten von Fritsch und Beck unter teilweiser Mithilfe von Blomberg, zumindest aber unter dessen Duldung und Mitwisserschaft, mit mir zusammen den damals einzig gangbaren Weg zur Herbeiführung einer Änderung des Nazisystems zu beschreiten : Es war die Absicht, den Mann, vor dem Hitler allein noch Respekt hatte, vor den Wagen der Wehrmacht zu spannen und auf diese Weise eine Änderung herbeizuführen. Dieser Mann war der General Luden-

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3.

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„Deutsche Gotterkenntnis“ gegen das Christentum

Die Nationalsozialisten behielten sich in ihrem Parteiprogramm einen weiten Spielraum in ihrem Verhältnis zum Christentum vor. Die Ludendorff - Bewegung legte sich in ihren „Kampfzielen“ auf eine dogmatische, antichristliche Haltung fest. Um die Jahreswende 1932/33 vollzog das Haus Ludendorff eine Neuredaktion der „Kampfziele“ von 1927. Dabei wandten sich die beiden Protagonisten gegen die Neigung der Nationalsozialisten, zwar alle Glaubensbekenntnisse abzulehnen, die nicht dem „Moralgefühl der nordischen Rasse“ entsprächen, jedoch sich zu einem „positiven Christentum“ zu bekennen. Hitlers taktisch kluge Distanzierung von Vertretern der völkischen, nichtchristlichen Glaubensrichtungen wie Arthur Dinter oder anderen, ließ vieles in der Schwebe. Innerhalb der NS - Bewegung gab es eben auch andere Stimmen, die sich nicht vom christlichen Glauben lossagen wollten.15 Das veranlasste das Haus Ludendorff noch kurz vor dem Verbot zu zahlreichen Schmähungen.16 Es schien, als ob Hitler anfänglich wirklich eine kirchenfreundliche Politik betreiben wollte, für diese Annahme sprach das Reichskonkordat vom Juli 1933 zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan. Nach dessen Ratifikation im September war das Verbot des Tannenberg - Bundes bereits auf das ganze Reich ausgedehnt worden. So wollten die Nationalsozialisten die Behauptung widerlegen, sie seien kirchenfeindlich. In dem Verbots - Erlass des Preußischen Innenministers wird deutlich die Verbreitung antireligiöser Themen hervorgehoben, die trotz eingehender Warnungen immer noch gepflegt wurde. Diese Präzisierung des Verbotes zeigte den Ludendorffern deutlich, wo ihre Grenzen lagen. Der Verlag stellte daraufhin seine Polemik rigoros um, die nächsten Nummern des „Quell“ enthielten nicht mehr mit die sonst üblichen Verunglimpfungen Hitlers und der NSDAP, insbesondere in Verbindung mit der katholischen Kirche. Stattdessen beschränkten sich die Themen auf die Kriegserinnerungen des Generals und den Kampf des „Hauses Ludendorff“ gegen die überstaatlichen Mächte sowie die Verbreitung deren Weltanschauung. Das Haus Ludendorff hatte innerhalb bestimmter Grenzen seine Lektion gelernt.17

dorff, der an seinem 70. Geburtstag 1935 es ablehnte, das Staatsoberhaupt zu empfangen, der kurz zuvor den Empfang des Feldmarschallstabes verweigert hatte.“ 15 Vgl. Clemens Vollnhals, Völkisches Christentum oder Deutscher Glaube : Deutsche Christen und Deutsche Glaubensbewegung. In : Revue d’Allemagne, 32 (2000), S. 205– 217, hier 209 f. 16 Vgl. Volkswarte vom 13. 3. 1932, S. 1 f. 17 Vgl. Heydrich an Hauptmann von Unruh vom 16. 11. 1933 ( BArch, NL Lindner, 1245, 27) : „Da der Tannenberg - Bund weiterhin bei seiner Propaganda immer wieder systematisch hervorhebt, der Nationalsozialismus sei in seiner Politik von Rom abhängig, ist es ihm teilweise sogar gelungen, mit dem Schlagwort dieser sogenannten ‚Romhörigkeit‘ einen Keil zwischen evangelische und katholische Volkskreise zu treiben und so die Einheit des Volkes zu untergraben.“

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Die Nationalsozialisten duldeten dennoch eine Menge antikatholischer Polemik, selbst von allerhöchster Stelle schirmte man die Tätigkeit des Ludendorff Verlages gegen „einzelne untergeordnete Persönlichkeiten“ der Partei ab, die aus „persönlicher Verärgerung“ in ihren Maßnahmen gegen frühere Tannenberger „vorbeigehauen“ hätten, was sich auf Inhaftierungen und Angriffe auf Mitglieder der Ludendorff - Bewegung bezog. In einen Gespräch mit dem damaligen Schriftleiter Hans Kurth erklärte Himmler, es dürften alle Themen behandelt werden – wie Rom, Juda, Freimaurerei, Christentum und Deutsche Gotterkenntnis. Sollten Schwierigkeiten entstehen, bat er, ihm davon Mitteilung zu machen.18 Diese Haltung gegenüber der Propaganda des Ludendorff - Verlages lässt auch den wahren Grund für das Verbot des Tannenberg - Bundes erkennen – die Auf lösung der Organisation sollte dafür sorgen, dass die politische Polemik gegen „romhörige“ Nationalsozialisten einschließlich sonstiger beleidigender Äußerungen unterbunden würde – keineswegs sollte der „Kulturkampf“ des Hauses Ludendorff davon betroffen sein ! Abgedrängt in das weltanschauliche Gebiet fiel die Rubrik „Die Hand der überstaatlichen Mächte“ weg, in der Ludendorff allwöchentlich die aktuellen politischen Ereignisse kommentiert hatte. Anstelle dieser Rubrik trat die „Glaubensbewegung“, in der ab Oktober 1933 regelmäßig Artikel von Erich Ludendorff erschienen.19 Auch im „Tannenberg - Jahr weiser“ widmete man sich nun fast ausschließlich kulturellen Inhalten, wie deutsche Sitten und Feste, Brauchtum, „nordisches Erleben“ oder wissenschaftlichen Themen. Das Thema „Antichristentum“ wurde nun viel vorsichtiger behandelt. Am deutlichsten trat dies in den Anzeigen des „Quell“ zutage, vor dem endgültigen Verbot warb die Folge 5/1933 für folgende Bücher : „Erlösung von Jesu Christo“, „Der Trug vom Sinai“, „Ein Priester ruft : Los von Rom !“, nun verlegte man sich auf die Bewerbung der „philosophischen Schriften“ von Mathilde Ludendorff oder die Kriegserinnerungen des „Feldherrn“. Solange das Konkordat Bestand hatte, beachtete das Haus Ludendorff diese Beschränkungen auch peinlich genau – jedoch bereits im Frühjahr 1934 waren die Konkordatsbestimmungen soweit aufgeweicht, dass sich der Heilige Stuhl an die Reichsregierung wandte und beklagte, der katholische Klerus in Deutschland sei in der Ausübung seiner seelsorgerischen Tätigkeiten so eingeschränkt, dass er den Pflichten seines Amtes kaum genügen könne. Die Diffamierung der katholischen Kirche erreichte im Sommer 1935 mit den „Schau - Devisenprozessen“ gegen katholische Ordensmitglieder einen ersten Höhepunkt. Der „Quell“ nutzte diese Entwicklung für seine Propaganda. Zunächst versteckt in der Rubrik „Glaubensbewegung“, in der Erich Ludendorff immer wieder politische Kommentare abgab. In der Ausgabe des „Quell“ vom 5. Juli 1935 wurden angebliche Verbindungen zwischen der Danziger Devisenbewirtschaftung und der Teilnahme des Danziger Senats an der Fronleichnamsprozession 18 Vgl. Hess an Holtzmann vom 23. 2. 1932 ( BArch, NL Holtzmann, 1079, 28). 19 Vgl. Amm, Ludendorff - Bewegung, S. 189.

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der katholischen Kirche hergestellt.20 Offenbar wurde dies von offiziellen Stellen geduldet, solange nicht Hitler oder die NSDAP direkt angegriffen wurden. Der Kampf des NS - Regimes gegen die katholische Kirche gab der Ludendorff - Bewegung einen ungeahnten Auftrieb. Innerhalb von weniger als zwei Jahren, vom Sommer 1933 bis zum April 1935, stieg die Auf lage der Halbmonatsschrift „Am Heiligen Quell Deutscher Kraft“ von 5 000 auf mehr als 50 000 Exemplare.21 Zusätzlich wurde ab dem 1. Oktober 1934 noch die „Schriftenreihe“ herausgegeben; sie brachte monatlich zwei geschlossene Abhandlungen, die wegen des Umfanges nicht für den „Quell“ geeignet waren. Da sich das Haus Ludendorff nicht offiziell mit den „Devisenprozessen“ befassen konnte, beschränkte es sich darauf, in der besagten „Schriftenreihe“ einen immer heftigeren antikatholischen Ton anzuschlagen. In völliger Übereinstimmung befanden sich der „Völkische Beobachter“ und Ludendorffs „Quell“ in der Beurteilung der „Devisenverschiebungen“ katholischer Ordensmitglieder. Er beklagte anlässlich der ersten Hauptverhandlung im Mai 1935 das Ausmaß an Verworfenheit der sittlichen Grundanschauung der Angeklagten sowie eine niederträchtige Einstellung zu den einfachsten Geboten der Sittlichkeit und stellte fest, wieweit diese Kreise doch von „germanischem Sittlichkeitsempfinden“ entfernt seien. Auf diese Weise konnte sich der Ludendorff - Verlag durch das Zitieren des „Völkischen Beobachters“ an der „sittlichen“ Empörung lebhaft beteiligen.22 Dieses Verhalten mochte den Plänen der Reichsführung und der Wehrmachtsführung dienlich gewesen sein, so dass der „Quell“ wieder in den Kasernen ausgelegt werden durfte. Durch dieses Zeichen des Wohlwollens angeregt, wagte sich Ludendorff auch politisch wieder weiter vor. Kennzeichnend ist einerseits die an Zügellosigkeit kaum zu überbietende Hetzpropaganda gegen die katholische Kirche und andererseits die Wiederaufnahme der Rubrik „Die Hand der überstaatlichen Mächte“, in der sich Ludendorff jedoch vorsichtshalber auf die Kommentierung internationaler Ereignisse beschränkte. Auch der Hauskarikaturist Hans Strick zierte wieder die Rückseiten des „Quell“ mit seinen Bilderfolgen, die sich satirisch über „Untaten“ der katholischen Kirche und der Juden ausließen. Diese verschärfte antichristliche und vor allem antikatholische Propaganda des Hauses Ludendorff passte so her vorragend zu der ebenfalls verschärften Haltung der Nationalsozialisten gegen die katholische Kirche.23 Unter dem Schlagwort „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ wurde versucht, den christlichen Kirchen ihre bisherige öffentliche Wirkungsmöglichkeit zu nehmen und sie auf eine rein seelsorgerische Tätigkeit zu beschränken. Um aber jedem Widerstand der christlichen Bevölkerung vorzubeugen, mäßigten die Nationalsozialisten ihren öffentlichen Kampf, was dazu 20 21 22 23

Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 7. 1935, S. 279. Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 9. 1935, S. 195. Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 6. 1935, S. 196. Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 1. 1936 und 5. 11. 1936.

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führte, dass die Prozesse gegen katholische Geistliche vorerst zurückgestellt wurden. Völlig unvorbereitet traf daher den Ludendorff - Verlag das Verbot seiner öffentlichen Veranstaltung im November 1935 durch die Preußische Geheime Staatspolizei. Erich Ludendorff war sich seiner Sache wieder einmal zu sicher gewesen. Die Prozesse waren jedoch nur zurück - , nicht aber eingestellt worden. Die Vortragsveranstaltung des Ludendorff - Verlages war nicht endgültig, sondern nur „bis auf Weiteres“ verboten worden – aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, nicht etwa aus inhaltlichen Gründen.24 So ließ sich auch der Ludendorff - Verlag von diesem Verbot nicht beeindrucken, sondern führte seinen publizistischen Kampf unbeirrt fort. Ludendorff ließ es sich nicht nehmen, im „Quell“ weiterhin Beispiele zu bringen, wie „die aus dem Judentum stammende Christenlehre auf Deutschblütige“ wirke25. Mathilde Ludendorff fügte dem noch die Schrift „Christliche Grausamkeiten an deutschen Frauen“ mit dem Anhang „Die Folterung der sogenannten Hexen nach Protokollen“ bei. Als Krönung folgte das Werk „Das große Entsetzen – Die Bibel nicht Gottes Wort“, worin sie erneut nachzuweisen versuchte, dass die Bibel aus jüdischen und vorderasiatischen Quellen stamme. Sie erntete nur Spott, denn selbst Rosenberg erkannte in ihren „sensationellen Enthüllungen“ nur „alte Hüte“.26 Ermutigt wurde Ludendorff jedoch durch ein Urteil des Amtsgerichtes Neustadt, das im März 1936 feststellte, dass „das Gericht keinen Anlass hat, die von Ludendorff begründete Glaubensrichtung des sogenannten Gottglaubens als in irgendeiner Weise in Widerspruch zur nationalsozialistischen Staatsauffassung stehend, als den Lebensinteressen des deutschen Volkes widerstreitend, als gegen das Sittlichkeitsgefühl verstoßend oder irgendwie staatsgefährlich anzusehen“.27 Der „Quell“ verbreitete sensationelle „Enthüllungen“ wie : „Die Hölle als Bestandteil der Kindererziehung“; „Schützt eure Kinder vor solchen Wahnvorstellungen ! Erkennt die furchtbaren Auswirkungen einer artfremden Glaubenslehre“.28 Die Einschnürung der katholischen Kirche führte nicht nur zu Protesten der deutschen Bischöfe. Auch Papst Pius XI. befasste sich in der Enzyklika „Mit brennder Sorge“ im März 1937 eingehend mit der Lage der katholischen Kirche und schrieb, dass er „mit brennender Sorge und steigenden Befremden seit geraumer Zeit den Leidensweg der Kirche, die wachsende Bedrängnis der ihr in Gesinnung und Tat treu bleibenden Bekenner und Bekennerinnen inmitten des Landes und Volkes beobachte.“29 Die Nationalsozialisten reagierten hierauf 24 Vgl. Rundschreiben Nr. 35 vom 30. 11. 1935 ( BArch, NL Holtzmann, 1079, 27). 25 Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 8. 1935, S. 354. 26 Vgl. Alfred Rosenberg, Der Fall Ludendorff. In : Nationalsozialistische Monatshefte, 2 (1931), S. 290–336, hier 298. 27 Am Heiligen Quell vom 20. 5. 1936, S. 170. 28 Vgl. Am Heiligen Quell vom 20. 5. 1936, S. 170. 29 Vgl. Heinz - Albert Raem, Pius XI. und der Nationalsozialismus – die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937, Paderborn 1979; Hans Günter Hockerts, Die

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mit heftiger Abwehr. Sie sahen in dieser Verlautbarung „hochverräterische Angriffe gegen den nationalsozialistischen Staat“ und „schwere Angriffe auf das Wohl und Interesse des deutschen Staatswesens“. Alle Rücksichten wurden fallengelassen und die nur vertagten Prozesse wieder hervorgeholt. Goebbels übernahm diesmal selbst mit seinem Ministerium die Inszenierung der „Sittlichkeitsprozesse“, die diesmal nicht „Devisenvergehen“ ahnden sollten, sondern sich in die Niederungen des „moralischen Sumpfes Sexualverbrechen“ begaben, dessen die katholischen Geistlichen beschuldigt wurden. In dieser Atmosphäre schien es Hitler günstig, nochmals einen Versöhnungsanlauf zu wagen. Am 30. März 1937 kam es deshalb zu einer geheimen Unterredung zwischen „Führer“ und „Feldherr“. Triumphierend veröffentlichte Ludendorff im „Quell“ das Ergebnis dieses Gespräches : „Der Führer und Reichskanzler hat die Beschränkungen aufgehoben, denen bisher mein und meines Hauses weltanschauliches Wirken begegnete.“30 Endlich war das Ziel erreicht. Wie weit die Verständigung ging, zeigt ein Erlass des Reichministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, der in Form einer geheimen Anweisung an die Presse ging : „Es wird ersucht, nach Rücksprache zwischen dem Führer und General Ludendorff alle Angriffe gegen den General auch in Kirchenblättern zu unterlassen.“31 Am 19. Juni 1937 ließ Ludendorff schließlich den Bund für Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) e. V. beim Amtsgericht München ins Vereinsregister eintragen.32 Mathilde Ludendorff versammelte daraufhin in der Zeit vom 29. Juli bis zum 5. August 1937 rund dreihundert ausgewählte Anhänger der „Deutschen Gotterkenntnis“ in Tutzing, um ihnen als zukünftige Redner und Erzieher die Richtlinien zu verkünden, nach denen sie künftig ihre Vortrags und Erziehungstätigkeit auszurichten hätten.33 Zwischenzeitlich hatte der „Quell“ eine Auf lagenhöhe von 86 000 Exemplaren erreicht, was deutlich dokumentiert, wie sehr der Ludendorff - Verlag von der Verbotsaufhebung profitierte.34

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Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971. Am Heiligen Quell vom 29. 4. 1937, S. 62. Franz Freiherr Karg von Bebenburg, Stenografischer Bericht über das Spruchkammerverfahren gegen Frau Dr. Mathilde Ludendorff, Stuttgart 1950, S. 46. Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 7. 1937, S. 278. Vgl. Am Heiligen Quell vom 20. 8. 1937, S. 383, und 5. 9. 1937, S. 446. Die steigende Auf lagenzahl des „Quell“ war zunächst mit einer steigenden Mitgliederzahl verbunden, wie die „Morning Post“ am 16. 8. 1937 feststellt. Der Münchner Korrespondent schrieb unter der Überschrift „Deutschlands Vorbereitung für einen neuen Gott. Ludendorffs Nazi - Religion“ : „Obwohl die Ludendorff - Bewegung keine Kirchen hat, da sie ja den Anspruch erhebt, ein wissenschaftlicher Glaube zu sein, der eine ‚Deutsche Gottheit‘ erkennt, bekommt sie eine immer wachsende Zahl von Anhängern, besonders im Heer und in den Schulen. Zeitungsstände in Deutschland verkaufen die Halbmonatsschrift ‚Am Heiligen Quell Deutscher Kraft‘ und das Münchner LudendorffVerlagshaus hat gerade seine Verkaufsräume vergrößert. Die Germanische Bibel wird

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Der „Feldherr“ hatte nicht viel Zeit, den großen Erfolg, den der Bund für Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) für sich verbuchen konnte und den damit verbundenen wirtschaftlichen Erfolg zu genießen. Das trifft allerdings auch auf Mathilde Ludendorff zu, die die Bewegung auch nach dem Tode Erich Ludendorff im Dezember 1937 weiterführte. Nach dem Begräbnis des „Feldherrn“ zeigte sich allmählich immer deutlicher, dass er allein der Anziehungspunkt des Hauses Ludendorff gewesen war. Trotz aller Bemühungen und Berufungen auf den „Feldherrn“ gelang es Mathilde Ludendorff nicht, den stetigen Abwärtstrend aufzuhalten. Zwischen Dezember 1937 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 sank die Auf lage des „Quell“ von 86 000 auf 64 000 Exemplare.35 Noch folgenschwerer wirkte sich der Kriegsbeginn auf den Verlag aus. Aus Gründen der „nationalen Geschlossenheit“ machte der „Führer“ dem bis dahin immer noch tobenden Kirchenkampf ein Ende. Das führte zum Papierentzug für den Verlag, der dadurch sein Pflichtorgan verlor. Die Zahl der Anhänger des Hauses Ludendorff sank weiterhin stetig, nicht einmal Buchgeschenke an Bibliotheken mit den wesentlichen Werken des Verlages konnten den Niedergang aufhalten. Wegen des erlassenen Vortragsverbotes und der zusätzlichen Untersagung, selbst in geschlossenen Veranstaltungen über „Deutsche Gotterkenntnis“ zu sprechen, nahmen die Erzieher verstärkt den noch erlaubten Lebenskunde - Unterricht wahr, um wenigstens an den Schulen im Sinne der Ludendorff’schen Weltanschauung wirken zu können.36 Mathilde Ludendorff war, ihres Organs beraubt, darauf angewiesen, mit ihren Mitgliedern brief lich zu verkehren und Reisen in die einzelnen Bezirke zu unternehmen, um durch persönliche Gespräche den Kontakt aufrecht zu erhalten. So gelang es ihr immerhin, bis zum Kriegsende mit einem Teil ihrer Anhängerschaft in Kontakt zu bleiben. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Verlag völlig verstummt wäre – ganz im Gegenteil, der „laufende Schriftenbezug“ erschien auch nach Kriegsbeginn weiter und Bücher wurden ebenfalls veröffentlicht. Der Verlag hielt die alte Hetzpropaganda weiterhin aufrecht, wie die Publikationen deutlich zeigen. Von einzelnen Verboten abgesehen, entsprach dies offenbar der Politik der NSDAP und zwar so sehr, dass der Chef der Sicherheitspolizei im April 1941 in einem Schreiben an ein führendes Mitglied des Bundes, den Landgerichtsrat Wilhelm Prothmann, fragte, was eigentlich die tatsächlichen Hinderungsgründe seien, weshalb die Ludendorffer nicht der NSDAP beitreten würden. Prothmann äußerte, dass höchst wirksam in den Schulen verbreitet, denn viele Lehrer, besonders in Württemberg, sind seine Anhänger geworden. Obwohl die weltlichen Schulen des Reiches nicht den Ludendorff - Glauben als solches in den Stunden, die für Religion vorgesehen sind, lehren, sind diese Anhänger ermutigt worden, ihren Geschichts - und Natur wissenschaftsstunden einen Ludendorff - Anstrich zu geben. Es wurde ihnen sogar ein Handbuch gegeben mit dem Titel ‚Plan für den Unterricht junger Gläubiger an den Deutschen Gott‘“ (zit. nach Am Heiligen Quell vom 5. 9. 1937, S. 448 f.). 35 Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 9. 1939, S. 510. 36 Vgl. Beilage zum laufenden Schriftenbezug, Heft 1 von April 1940.

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es im Wesentlichen die Stellungnahme der NSDAP nach der Machtübernahme zu religiösen Fragen gewesen sei, die nicht im Sinne der Deutschen Gotterkenntnis gewesen wäre.37 Nicht erwähnt wurde die dogmatische Haltung der Ludendorffer, die jedes „Zusammengehen“ mit der NSDAP oder anderen völkisch - religiösen Gruppen kategorisch abgelehnten und stattdessen die Unterschiede betonten. Um den eigenen Anspruch der Exklusivität zu wahren, wurde jede Kooperation verweigert und die Lehre mit allerlei Ballast befrachtet. Wissenschaften jeder Disziplin, große Philosophen wurden bemüht, um das Glaubensgebilde aufzuwerten. Die „Schöpferin“, Mathilde Ludendorff, stellte sich gleich über diese geschichtlichen Größen mit dem Ziel, die eigene Bedeutung zu steigern. Ein direkter Vergleich, wie beispielsweise mit Hauers Deutscher Glaubensbewegung wurde strikt abgelehnt.

4.

Das Haus Ludendorff und die Deutsche Glaubensbewegung

Ein Hauptgrund für die heftige, andauernde Rivalität der beiden neureligiösen Bewegungen lag mit Sicherheit in der Tatsache begründet, dass der TannenbergBund und seine Nebenorganisationen sowie das Bundesorgan „Ludendorffs Volkswarte“ verboten wurden, während die Deutsche Glaubensbewegung Hauers zunächst keinerlei Beschränkung unterworfen war.38 Aus der Sicht Ludendorffs hat Hauer die Inhalte seiner Glaubensgemeinschaft den Interessen des 37 Vgl. Spruchkammerakten, Verfahren Mathilde Ludendorff, Akte 1. Chef der Sicherheitspolizei und des SD ( Akt. - ZN B2–Nr. 304/415) : „Was hindert ihrer Ansicht nach die Anhänger der Deutschen Gotterkenntnis ( Ludendorff ) daran, sich in die Partei aufnehmen zu lassen und damit eine evtl. Anwartschaft auf führende Stellungen im Großdeutschen Reich zu erhalten ?“ Antwort Prothmanns : „Die Anhänger der Deutschen Gotterkenntnis begrüßten diese Wendung [ die Aufhebung aller Beschränkungen nach der Unterredung Hitler - Ludendorff ] aus vollem Herzen. Sie konnten und können das Parteiprogramm mit Ausnahme des Satzes 2 des Punktes 24, dass die Partei als solche den Standpunkt eines positiven Christentums vertreten, unterschreiben. Auch General Ludendorff selbst hat am 9. 11. 1923 dafür gekämpft, und mit Gregor Strasser und von Graefe zusammen die Partei während der Inhaftierung Adolf Hitlers geführt und am Leben erhalten. Die nun folgende Entwicklung zeigte aber, dass die Partei nach der Machtergreifung nicht ganz umhin konnte, zu religiösen Fragen Stellung zu nehmen. Da dies nicht im Sinne ‚Deutscher Gotterkenntnis‘ war, so ergab sich von selbst eine Zurückhaltung der Anhänger der D. G. in Bezug auf den Eintritt in die Partei.“ 38 Vgl. Ludendorff an Holtzmann vom 3. 7. 1935 ( BArch, NL Holtzmann, 1079, 11) : „gestern versuchten Herr Himmler und Herr Heydrich auf anderem Wege eine Besprechung mit Hauer zu erreichen. Ich lehnte natürlich ab, aus sachlichen und persönlichen Gründen. Die ersten bestehen darin, dass es für mich zwecklos ist mit einem Menschen zu reden, der dem Schicksalsglauben huldigt und an Wiedergeburten glaubt, Yoga verherrlicht usw. Hier steht Wasser gegen Feuer; sie lassen sich nicht vereinigen. Die persönlichen Gründe bestehen in den Schmähungen Hauers über meine Frau und deren Kampfweise und in dem Verbot vom Deutschvolk. [...] Nochmals : wir wollen die kalte Schulter zeigen.“

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nationalsozialistischen Staates angepasst und er verdächtigte die Deutsche Glaubensbewegung, nach wie vor an der Bildung einer Nationalkirche zu arbeiten, die nach Hauers Vorstellungen allmählich die christlichen Kirchen ablösen sollte. Die Deutsche Glaubensbewegung bestand selbst aus einem Konglomerat verschiedener Glaubensgemeinschaften, die eines gemeinsam hatten : sie waren eine „nordische“ Religion, „artgemäße“ Glaubensbekenntnisse. Zur Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung ( ADG ) gehörten nach dem 30. Juli 1933 folgende Gruppierungen : die Nordisch - religiöse Arbeitsgemeinschaft mit ihren drei Gruppen, die 1913 von Fahrenkrog gegründete Germanische Glaubens - Gemeinschaft, die Volksgemeinschaft der Nordungen, die Deutschgläubige Gemeinschaft, der Rig - Kreis und der Bund Freireligiöser Gemeinden. Zwei Mitgliederstarke Gemeinschaften schlossen sich Hauers ADG nicht an; dies waren der Bund für Gotterkenntnis Ludendorff und der Verband freireligiöser Gemeinden. Letztere begründeten ihre Ablehnung damit, dass sie die Befürchtung hätten, dass der „Reichtum der lebendigen Wirklichkeit“ eingeengt werde und damit die Möglichkeit eines „freien Christentums“ beschnitten wäre. Das Haus Ludendorff unterstellte Hauer seinerseits eine „okkulte Neigung“, offensichtlich in völliger Unkenntnis seiner Werke.39 Es existierten noch weitere Gründe für die gegenseitige Ablehnung – bereits vor der Eisenacher Glaubenstagung hatte Ludendorff den Vorschlag in die Welt gesetzt, einen Rechtsschutzverband freier, nicht christlicher Glaubensrichtungen zu gründen. Natürlich wollte Ludendorff den Vorsitz übernehmen. Sein Plan war offenbar, so dem Aufruf zur Wartburg - Tagung zuvorkommen, der bereits seit dem 17. Juni 1933 kursierte.40 Die Gründung des Rechtsschutzverbandes erfolgte in Anknüpfung an einen Artikel Reventlows und Johann von Leers im „Reichswart“ im Juli 1933. Mathilde Ludendorff hatte diese Tatsache Reventlow selbst in einem Brief mitgeteilt und ihn gebeten beizutreten. Keine der Organisationen des ADG folgte dieser Aufforderung, vielmehr entschied man sich nach längeren Überlegungen, ganz auf die Beteiligung der Ludendorff - Bewegung zu verzichten. Gegen eine solche Beteiligung an der Eisenacher Tagung gab es eine breite Front, zu der neben Reventlow auch Hauer selbst gehörte. Als Grund führte Reventlow die zahlreichen Attacken an, die Ludendorff gegen die NSDAP und Hitler führte. Außerdem misstraute man ihm und befürchtete, dass er die Leitung der Bewegung an sich reißen wollte.41 Ludendorff selbst war nur an einer Bewegung unter seiner Führung interessiert, daher auch der Vorschlag eines Rechtsschutzverbandes. Außerdem hatte er in einem Artikel in „Ludendorffs Volkswarte“, sehr zum Ärger Hauers,

39 Vgl. Ludendorff an Holtzmann vom 29. 6. 1935 ( ebd.). 40 Vgl. Am Heiligen Quell vom 5. 3. 1934, S. 567. 41 Vgl. Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung, Marburg 1993, S. 133.

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bereits am 17. Juni über einen Aufruf an Vertreter der unterschiedlichsten Verbände und germanisch - religiöser Gruppen berichtet, worin um ihre Unterschrift zur Einberufung einer germanisch - deutschen Tagung gebeten wurde. Dies ganz im Gegensatz zu Hauer, der damit vorerst nicht an die Öffentlichkeit gehen wollte. An das Haus Ludendorff ist offenbar keine solche Einladung zur Unterschrift ergangen, aber aus der beschriebenen Reaktion kann geschlossen werden, dass ihm dieses Schriftstück bekannt war. Wenn auch die Organisatoren der Eisenacher Tagung befanden, dass das Haus Ludendorff eine Belastung für sie darstelle und sie deshalb auf deren Teilnahme verzichteten, hatte doch die Veröffentlichung Ludendorffs eine für ihn unbegreif lichen Nebeneffekt: einige seiner Anhänger wandten sich interessiert an die Organisatoren der Tagung.42 Auf der Eisenacher Tagung am 29. Juli 1933 legten sich die Teilnehmer auf eine allgemeine Ablehnung der Mitgliedschaft von Christen in der neuen Gemeinschaft fest. Offenbar aus Rivalität öffnete Ludendorff seinen Rechtsschutzverband auch Christen, die sich noch „ein reines, nicht von Fremdlehren verschüttetes Rasseerbgut“ bewahrt hätten. Ludendorff erklärte allerdings nicht, wie dies nach den Lehren der „Deutschen Gotterkenntnis“ möglich sein sollte, da ja das Bekenntnis zum christlichen Glauben das äußere, sichtbare Zeichen für jene „Verschüttung des Rasseerbgutes“ sein sollte.43 Viele Ludendorffer fanden ihre neue geistige Heimat zunächst bei der ADG und später, nach dem Zweiten Weltkrieg, beim Deutschen Volksbund für Geistesfreiheit e. V., bei dem sich ehemals führende Mitglieder der Ludendorff - Bewegung wiederfanden, nun jedoch in völliger Gegnerschaft zum Haus Ludendorff. Ein weiteres Ärgernis für die Ludendorff - Bewegung stellten Hauers fundierte Kenntnisse der Indologie dar. Als ordentlicher Professor für Indologie ab 1927 in Tübingen akkreditiert, hatte er Kenntnisse in indischen Sprachen, älterer indischer Literatur und allgemeine theologische Kenntnisse. Er war ebenfalls des Lateinischen und Altgriechischen mächtig und somit an Fachkenntnissen Mathilde Ludendorff weit überlegen. Seine Kritik an den Werken des Hauses Ludendorff war somit fundiert, was diese jedoch nicht wahrhaben wollten.44

5.

Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) : Weltanschauung oder völkische Religion ?

Eine völkische Grundüberzeugung war, dass verantwortungsvolles Handeln im Sinne der Rasse ein ethisches, religiös geleitetes Handeln voraussetze, da der Feststellung eines völkischen Ideologen zufolge „Religion Rasse und Rasse Reli-

42 Ebd.; vgl. auch Am Heiligen Quell vom 20. 2. 1935, S. 904. 43 Vgl. Am Heiligen Quell vom 15. 12. 1933, S. 375. 44 Vgl. Evangelischer Presseverband für Württemberg, Apologetische Beilage Nr. 1 vom 24. 2. 1932 ( LKA Stuttgart, Hutten - Sammlung, Tannenbergbund ).

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gion ist“.45 Nach völkischem Verständnis war Religion der Garant für die sittliche, völkische und damit auch für die proklamierte rassische Erneuerung. Daher wurde in Anlehnung an die zeitgenössische Debatte über die um sich greifende Säkularisierung der Gesellschaft im „Verlust der Religion im Volke“ eine elementare Gefahr für den „gesellschaftlichen und staatlichen Bestand“ gesehen.46 Vor diesem Hintergrund und aus diesen Überzeugungen heraus entstand das Konstrukt der sogenannten arteigenen Religion, d. h. einer Religion, die der Rasse innewohnend und ihr angeboren sei, folglich eine Rassereligion sein muss: „Die Rasse ist nebst meiner Religion das Höchste und Heiligste, was ich besitze. Ja, meine Religion besitze ich nur durch meine Rasse, denn nur meine Rasse ist es, die mir meine Religion möglich macht und mir das tief innerliche Verständnis für sie erschließt. Rasse und Religion sind eins !“47 Die Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) schwankt zwischen einem fundamentalistischen und progressiven Weltbild, wie dies überwiegend bei den Völkischen anzutreffen ist. Das völkische Denken präsentiert sich demnach als Hybridisation progressiver und regressiver Tendenzen die sämtliche Bereiche wie Kultur und Zivilisation, Blut und Boden ebenso wie Religion oder Antisemitismus durchziehen.48 Die Vorstellungen von einer arteigenen Religion waren im Lager der völkischen Bewegung sehr unterschiedlich. Die verschiedenen Religionsentwürfe enthielten jedoch gemeinsame Grundsätze wie : eine deutliche Diesseitsorientierung ging einher mit einer Ablehnung des Christentums als einer Religion des „absteigenden Lebens“. Die Völkischen setzten auf die „Leibesrettung“, die zugleich eine „Seelenrettung“ sein sollte, was sich auf die Vorstellung einer „völkischen Rassenerneuerung“ bezog,49 die vor allem lebensreformerische und eugenische Konzepte enthielt und im radikalen Flügel ganz deutliche rassenzüchterische Ideen. Nur in einem reinrassigen Volk könnten die „natürlichen Wesenseigenschaften und Anlagen“ zur vollkommenen Entfaltung gelangen. Dies bedürfe natürlich einer spezifisch „deutschen Religion“, denn der „Mangel einer wahrhaftigen, unserer eigenen Art entsprossenen und entsprechenden

45 Thomas Westerich, Orplid das heilige Land. Das Mysterium der Reinheit, Stade 1923, S. 12. 46 Zur Religions - Frage. In : Hammer. Blätter für deutschen Sinn, 1910, Nr. 188, S. 197– 201, Nr. 191, S. 281–284, hier 281. 47 Artur Dinter, Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, 16. Auf lage Leipzig 1921, Nachwort zur 1., 2. und 3. Auf lage, S. 344. Alle Zitate nach Uwe Puschner, Weltanschauung und Religion, Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In : zeitenblicke, 5 (2006), Nr. 1 [ http ://www.zeitenblicke.de /2006/1/ Puschner / index_html ]. 48 Vgl. Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 296 ff. 49 Zur Religions - Frage. In : Hammer. Blätter für deutschen Sinn, 1910, Nr. 188, S. 197– 201, Nr. 191, S. 281–284, hier 200.

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Religion“ sei „die größte Gefahr für die Zukunft der Germanen; das ist seine Achillesferse; wer ihn dort trifft, wird ihn fällen“.50 Mathilde Ludendorff ist insofern eine typische Vertreterin der völkischen Bewegung, als sie zwischen Ablehnung der modernen Welt wie die Großstadt, der Internationalisierung und deren Auswirkungen schwankt und andererseits eine Verfechterin der Errungenschaften moderner Wissenschaften ist, zumindest was sie darunter versteht. Sie begriff das Volk, speziell das deutsche Volk, vor allem als eine psychische Größe. Nicht nur durch Blutmischungen könne ein Volk zerstört werden, sondern vor allem durch das Aufpfropfen einer „artfremden“ Religion. So werde das deutsche Volk vor allem durch das Christentum seelisch vernichtet.51 Im Mittelpunkt der völkischen Weltanschauung steht die Religion, denn eine „geistig - sittliche Erneuerung und Wiedergeburt des deutschen Volkes“ sowie die Errichtung eines völkischen Gemeinwesens konnte nur erreicht werden, wenn sie die Religion mit umfasst !52 Eine „germanisch - religiöse“ Reform sollte die Antwort auf das Christentum sein. Eine Religion, die „als tiefste seelische Äußerung eines Volkes schlechthin das wertvollste Kulturgut“ und speziell bei „Ariern und Germanen [...] geradezu Grundzug ihres Wesens und damit ihrer Kultur“ sei.53 Besonders her vorgehoben wird durch Mathilde Ludendorff immer wieder der „kulturstiftende“ Aspekt des „Gottglaubens“, der alle Kunst - und Wissenszweige sowie das ganze Bildungswesen durchdringe; Bereiche, die ihr vor allen anderen am Herzen lagen, denen sie fundamentale Bedeutung zumaß, insbesondere, da sie ihrem Erfahrungshorizont entstammten. Vordergründig der Wissenschaft und ihren Erkenntnissen zugewandt, stellte Mathilde Ludendorff jedoch den Anspruch, nur ihre eigene Gotterkenntnis habe das Recht, die Grundfragen der Menschheit zu beantworten, alle früheren Versuche von Philosophen seien „Frevel am Göttlichen“ gewesen. Allein ihre Erkenntnis, die eine Einheit aus Forschung und Gotterleben bilde und mit dem Tatsächlichen in Einklang stehe, dürfe sich an das Gebiet des Göttlichen wagen! 54 Offenkundig erfüllt die Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) sehr wohl die Anforderungen, eine Religion zu sein, auch wenn Mathilde Ludendorff dies vehement bestreitet. Sie verkennt, dass Religionen auch existieren können ohne Symbolsysteme, Kulte oder Rituale. Religionen können ebenso auch auf philosophischen Systemen basieren. Klare Abgrenzungen sind kaum möglich. Erich 50 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhundert, Band 2, 5. Auf lage München 1904, S. 750. 51 Vgl. Breuer, Ordnungen, S. 298 f. 52 Max Robert Gerstenhauer, Was ist Deutsch - Christentum ?, 2. Auf lage Berlin 1930, S. 4. 53 [ Joachim ] Kurd Niedlich, Jahwe oder Jesus ? Die Quelle unserer Entartung, 2. Auf lage Leipzig 1925, S. 9. 54 Vgl. Mathilde Ludendorff, Das Gottlied der Völker. Eine Philosophie der Kulturen, München 1936, S. 323.

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Ludendorff spricht ausschließlich von einer „Weltanschauung“, wobei die Deutsche Gotterkenntnis selbst auf einer religiösen Einstellung basiert. Eine nähere Betrachtung des Ludendorff’schen religiösen Weltbildes soll hier Klarheit schaffen, sofern dies überhaupt möglich ist. Mathilde Ludendorff postuliert religiöses Empfinden als empirisch und rational nicht nachvollziehbares individuelles Erleben einer zum „Göttlichen hin offenen Seele“. Gottglauben ist nach ihrer Darstellung nicht oder nur unvollkommen möglich innerhalb eines festgefügten religiösen Glaubenssystems. Nur das „gottwache“ Einzelwesen kann Gott erahnen ! Die Religion jedoch versuche mit Vernunft das Göttliche zu begreifen und in vernünftigen, also menschlichen und daher unvollkommenen Kategorien zu erfassen. Gott, und damit das Göttliche sei jedoch Vollkommen ! Daher müsse zwangsläufig jeder Versuch, es in den menschlichen Verstand und daher unvollkommene Kriterien zu pressen, in die Katastrophe führen ! Dies seien „seelische Entartung“, Zerstörung der „arteigenen Volksseele“ und somit „arteigenen Fähigkeit, Gott zu erfassen“, was nur rein intuitiv erfolgen könne. Mathilde Ludendorff geht von einer religionslosen Urzeit aus, in der Menschen das Gotterleben und dessen Ausstrahlung in der Kultur kannten. Sie setzten keine Vernunft ein zum wahren „Gotterkennen“. Die Religion jedoch stelle gerade den Versuch dar, Gotterkennen mit der Fähigkeit der Vernunft zu erreichen. Grundsätzlich sei dies ein Weg, der von Gott entfernt, denn er widerspreche dem göttlichen Wesen. Die Geschichte der Religionen ist nach Mathilde Ludendorff daher ein Weg des „Abfalls“ vom Göttlichen, das heißt ein Absinken in „Gottferne“. Sie beschreibt fünf Stufen dieses sogenannten Abfalls vom wahren Gotterleben. Die erste Stufe betrifft die Entstehung der Mythen : Sie hätten nur eine geringe negative Wirkung auf die Volksseele ausgeübt, da der Mythos sei noch wesensverwandt mit dem Erbgut des Volkes sei und noch nicht als unantastbare Wahrheit verbreitet wurde. Jedoch allein Erkenntnis biete Erlösung, nur Forschung und Gotterleben im Einklang können zur Wahrheit dringen. Der Tag komme, da den Menschenseelen eine Antwort geschenkt werde, die mit der Tatsächlichkeit im Einklang stehe.55 Die zweite Stufe dieses „Abfalls“ sei das Entstehen von Religionen, denn diese stellten über das Göttliche Lehren und Vorschriften auf. Religionen seien dem Ursprung nach also ein „Lehrgebäude“ auf die zentralen Fragen der Menschen nach Gott oder den Göttern und der Beziehung zu ihm oder ihnen, allein entsprungen der menschlichen Vernunft.56 Grundlage von „Mythos“ und „Religion“ ist für Mathilde Ludendorff eine – wie sie es ausdrückt – „Weisheit“, dass der zentrale Sinn menschlichen Lebens darin bestehe, Einklang zwischen dem Menschen und dem Göttlichen zu schaffen, eine „Weisheit“, die sie auch als Grundlage ihrer Gotterkenntnis ansieht.57 55 Vgl. Ludendorff, Gottlied, S. 331. 56 Vgl. ebd., S. 333. 57 Vgl. ebd., S. 349.

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Die dritte Stufe des „Abfalls“ manifestieren die sogenannte Leidangst und Lustgier der unvollkommenen Menschen, die von Gott weg hin zum Nichtigen abgeirrt seien, als Folge des „lustversklavten Selbsterhaltungswillens“ in der bewussten Einzelseele. Die Religionen hätten nun versucht, Gläubige mit „Strafandrohungen“ und „Lohnverheißungen“ fester an die Religionen zu binden. Das Ergebnis zeige aber, gerade „gottferne“ Menschen seien Anhänger der Religion geworden und hätte diese nur noch weiter nach unten gezogen. „Wie unwesentlich werden bei der Wesensverkennung des Göttlichen, bei so tiefem Sturze vom Gotterleben hinweg, der Grad der Gottferne der einzelnen Religionen, die Plumpheit, mit der das Glück verheißen, das Unglück angedroht werden, und die Grausamkeit, mit der die Höllenqualen nach dem Tode geschildert sind. So furchtbar die Wirkung der Gottferne auch sein mag, der Absturz vom Wesen des Gotterlebens, das hier mit Füßen getreten wird, ist das Schlimmste des Unheils.“58 Die vierte Stufe des „Abfalls“ sei die Wahnvorstellung, dass Gotterleben exklusiv und in unmittelbarer Enthüllung einzelnen „gottbegnadeten“ Menschen, also Offenbarungsempfängern, geschenkt sei. Dies sei das Stadium der Entwicklung der Religionen, bei dem Wahnvorstellungen bei den Anhängern auftreten sowie geistige Erkrankungen, so dass Einzelne meinten, selbst Gottesoffenbarungen empfangen zu haben. Die fünfte Stufe umfasse schließlich den Aufstieg der Priesterkasten, die Religion allein als Machtinstrument benutzen, vornehmlich für eigene Machtinteressen. Mathilde Ludendorff sieht in den Religionen grundsätzlich einen Gegner der von ihr positiv bewerteten Größen „individuelles Gotterleben“ und „Kultur“, weil die Religion den Menschen nicht zur Vollkommenheit führe, sondern im Gegenteil „Kerkerseelen“ entstehen lasse. Durch ein völliges Verkennen des Göttlichen, welches in ein von der Vernunft „ersonnenes“, nach Lust und Leid konstruiertes und Zwecken dienendes System gepresst werde und die Menschen normiere, statt Hilfestellung zum jeweils individuellen „Aufstieg des Ich zur Gotteinheit“ zu geben.59 Mathilde Ludendorff schert aber nicht alle Religionen über einen Kamm : Sie unterscheidet zwischen „Volksreligionen“ und „Fremdreligionen“. Erstere wirkten generell geschichtlich und kulturell stabilisierend wegen einer innigen Verbundenheit des „Nationalgottes“ mit dem Volk. Die völkische Dimension stehe damit im Einklang mit dem „Selbsterhaltungswillen der Volksseele“. „Artgemäße“ Tugenden würden bei diesem Religionstyp auch als solche gelehrt. Die Volksreligionen könnten grundsätzlich auf andere Völker übertragen werden, allerdings mit einer Einschränkung : „Lichtreligionen“ wie die der nordischen Völker ( hierzu zählt nach Mathilde Ludendorff auch das deutsche Volk ) könnten nicht einmal einzelne Elemente einer „Schachtreligion“ aufnehmen, ohne 58 Ebd., S. 334. 59 Vgl. Schnoor, Mathilde Ludendorff, S. 115.

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auf Dauer daran zugrunde zu gehen. Allerdings könnten „Schachtvölker“ unter Umständen durch einen generationenlangen Prozess diejenigen Elemente aufnehmen, die deren Rasseerbgut am ehesten entsprächen, alles andere würde mit der Zeit wieder verdrängt.60 Weltreligionen, wie das Christentum, das Judentum, der Islam usw., könnten grundsätzlich nicht assimiliert werden – da, wie Mathilde Ludendorff ausführt – gerade völkische Eigenarten als für das Heil irrelevant oder schädlich angesehen werden und deren Beseitigung bewusst oder unbewusst erstrebt werde.61 Erschüttert worden seien die Religionen hingegen durch die Wissenschaften und ihre Vertreter, die von Mathilde Ludendorff als die Forscher nach einer objektiv erkennbaren Wahrheit geschildert werden. Die Religionen hätten auf diese Bedrohung ihres Wahrheitsmonopols mit Hass reagiert und die Wissenschaft mit „Verfolgung“ und „Morden“ aufzuhalten versucht. Dieser massive Vor wurf gegen die „Religionen“ wird allerdings mit keinem einzigen Beispiel belegt.62 Neben dem Schüren von Vorurteilen sollen solche Behauptungen auch die Entstehung einer weltlichen, nicht ausgesprochen religiös orientierten „Kultur“ begründen, die Mathilde Ludendorff als Reaktion der „Kulturträger“ auf die Verfolgung der Wissenschaften durch die „Religion“ darstellt. Die Ablöseprozesse der Wissenschaft und der Kunst von der „Religion“ seien die notwendige Voraussetzung für die Entstehung der „Deutschen Gotterkenntnis“ gewesen, die die „Religion“ in ihren Grundlagen widerlege. Da diese Prozesse beim deutschen Volk besonders weit fortgeschritten seien, sei es hier zum Durchbruch gekommen, nachdem sich das weibliche Element mit seinen spezifischen Stärken zur vorher männlich geprägten Wissenschaft gesellt habe.63 Mathilde Ludendorff sieht die eigene Gegenwart als eine Zeit der „Weltenwende“, in der die bisherige Dominanz der „Religion“ und ihres „frevlerischen“ Versuchs, die existenziellen Fragen nach Gott und dem Lebenssinn allein aus den Kräften der Vernunft beantworten zu wollen, abgelöst werde durch die dem Bereich der „Kultur“ angehörenden „Gotterkenntnis“. So stellt sie nun an die Geschichte die Forderung, die Freiheit dieser „Gotterkenntnis“ zu hüten. Mathilde Ludendorff prangert die „Seelenschädigung durch Wahnlehren“ an und fordert die NS - Machthaber auf, gegen die Religionen vorzugehen und die „Kultur“ – und damit natürlich vor allem ihre eigene Lehre – an die bisher der „Religion“ vorbehaltenen Position zu setzen, was zur „Umwertung der Werte“

60 Vgl. ebd., S. 116. 61 Vgl. ebd., sowie Mathilde Ludendorff, Die Volksseele und ihre Machtgestalter, München 1936, S. 422 : „An die Stelle der tieferlebten, echten und kraftvollen rassetümlichen Feiern des Volkes tritt krankhafte Ekstase suggestierter und hypnotisierter Massen, tritt Lärmen und Schreien als trauriger Scheinersatz. Die wenigen in einem solchen Volke, die sich trotz der Weltreligion die Volksseele noch wach erhielten, fühlen sich denn auch nirgends und niemals in ihrem Leben so einsam, als bei den religiösen und den Volksfeiern, die den Stempel der Fremdreligion tragen.“ 62 Vgl. Schnoor, Mathilde Ludendorff, S. 121. 63 Vgl. ebd., S. 121 f.

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mit den entsprechenden Folgen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens führen werde.64 Wenn auch die Fähigkeit, Gott zu erkennen, zu „erahnen“ oder sich zur göttlichen Vollkommenheit „umzuschöpfen“, prinzipiell jedem Individuum möglich sein soll, vorzugsweise den nordischen Völkern, so schreibt Mathilde Ludendorff sich doch selbst das Verdienst zu, exklusiv zur wahren „Gotterkenntnis“ gelangt zu sein. Erst seitdem Forschung, Wissenschaft und Philosophie den gegenwärtigen Wissenstand erreicht hätten, sei dies möglich. Dennoch erlebt sie ihre „Gotterkenntnis“ wie eine religiöse Erweckung : „meine über wache Seele erlebte mit unbeschreiblicher, erhabener Schönheit und Kraft den Sinn des Lebens aller bewussten Seelen. – Schlicht und klar stand er in meiner Seele und ich enträtselte mir selbst all das, worüber ich so manches Mal gegrübelt hatte.“65 Überwältigt von diesem Erleben, schildert sie weiter : „Ich sprach zu mir selbst all die Worte, die ich später in der Dichtung der Ahne in dem Sange ‚Das heilige Lied‘ in den Mund legte. Als ich nun ‚heimkehrte‘, hatte ich das, was ich im ‚Triumph des Unsterblichkeitswillens‘ in Worte gestaltet habe, klar erschaut und schreib es von da ab in den nächsten vier Wochen ‚in unbeschreiblicher Innererfülltheit und Weltabgewandtheit nieder.“66 Hinter all dem stehen der Wille Gottes zur Entstehung des gesamten Weltalls mit allem Leben und der Wille zur Bewusstheit des Menschen als höchster Entwicklungsstufe. Dadurch sei sie allein auserkoren, dieses visionäre Wissen auch zu verkünden.67 Dies war die „Offenbarung“ der Mathilde Ludendorff, die selbst gestellte Aufgabe, ihre quasi „heilige Pflicht“, dem deutschen Volk den Willen Gottes zu „künden“ und darauf hinzuwirken, dass das germanische deutsche Volk zur Rassereinheit zurückkehre und damit auch zu einem „artgemäßen Glauben“, der sich dann, da genetisch verankert, von selbst wieder einstelle. Und ganz im Sinne dieser Offenbarung, als wollte sie die Bedeutung ihrer Person mit Moses gleichsetzen, verfasste sie „Deutsche Mahnworte statt Gesetze vom Sinai“.68 Sie versucht, ihre durch „Ahnungen“ und „überwache“ Zustände gewonnenen „Erkenntnisse“ wissenschaftlich zu unterlegen. Sie bemüht einerseits Haeckel und Darwin, um die entwicklungsgeschichtlichen Aspekte zu stützen, zieht auch die Astrophysik hinzu, wobei sie sich hier auf den Astrophysiker Hans Ludendorff, den Bruder Erich Ludendorffs, stützte. Zugleich scheute sie auch

64 Vgl. Ludendorff, Gottlied, S. 374. 65 Mathilde Ludendorff, Statt Heiligenschein und Hexenzeichen – Mein Leben, Band 1, München 1939, S. 84. 66 Ludendorff, Statt Heiligenschein, Band 4, S. 84. 67 Vgl. Ludendorff, Statt Heiligenschein, Band 3, S. 97 : „Zugleich aber wurde mir in tiefster Bewegung bewusst, dass dieses klare Erkennen auch verpflichtet, unheimlich verpflichtet. Ich fühlte die Verantwortung auf mir lasten, die Kultur der Völker zu retten, als sei ich allein da, um dies zu tun, und als könne und werde mir nicht ein einziger dabei helfen, wohl aber sicher eine Welt von Feinden wider mich erheben.“ 68 Vgl. Ludendorff, Statt Heiligenschein, Band 2, S. 173.

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vor obskuren Lehren nicht zurück, wie der Welteislehre Hanns Hörbigers, welche von Himmler innerhalb des Ahnenerbes gefördert wurde.69 Mathilde Ludendorff rückte sich selbst in die Nähe einer Seherin, einer der Nornen, ja sogar einer „Künderin“ von legendärer Dimension. Im „Triumph des Unsterblichkeitswillens“ bezeichnet sie ihre Verse als „Sänge“ in Anlehnung an die Edda - Gesänge und Sagas. Damit möchte sie die „fundamentale“ Bedeutung ihrer Werke darstellen. Sie will nicht nur für das deutsche Volk, sondern für alle Völker und Kulturen die „Wahrheit erschaut“ haben. Somit sei ihr Werk für die ganze Menschheit maßgebend. Einzig ihrem Ehemann und ihren Anhängern sei die immense Bedeutung ihrer Person zum Bewusstsein gekommen. Dadurch „legitimiert“ sie sich sozusagen als „Religionsstifterin“ des Glaubensbekenntnisses Deutsche Gotterkenntnis, dem ab 1937 noch der Zusatz „Ludendorff“ in Klammern hinzugefügt wurde. Erich Ludendorff urteilte über seine Frau : „Die Philosophie Mathilde Ludendorffs wurde Gotterkenntnis. Sie ist das große Geschenk, das die Deutsche Frau, Mathilde Ludendorff, Menschen und Völkern gibt, das größte was immer überhaupt werden kann. Die Tatsächlichkeit dieser Gotterkenntnis ist unerschütterlich wie das Gesetz der Schwerkraft; aber da die Erkenntnis das Wesen aller Erscheinungen ist, lehnt sie jede Frage auf das Gotterleben nicht nur ab, sondern verurteilt sie. Frei ist das Gotterleben des Menschen ! Gewaltiges ist damit gegeben, nur für die nicht verständlich, die den Wahnlehren der Religionen glauben an einen von der Vernunft begriffenen, persönlichen, schicksalsgestaltenden Gott und an ein Leben nach dem Tode fordern und Gotterleben unter Zwang gestalten. Gott ist jenseits von Zeit, Raum und Ursächlichkeit [...]. In eigenem Suchen und Ringen war ich Mathilde Ludendorff zur Seite getreten und vertrat ihr Werk mit meinem Namen und Willen aus ernstester Überzeugung. Ich bereicherte mich selbst in diesem Ringen, das weitgehend ein gemeinsames wurde. Mir gab es die Schlüssel zur Weltgeschichte und klares Wissen der Grundlage zur Erhaltung des wehrhaften, freien, unsterblichen deutschen Volkes. Aber ich bereicherte auch Mathilde Ludendorff durch mein Wissen und meine Lebensund Kampferfahrung und förderte ihr Werk auch durch meine Art der Volkserziehung“.70

In seinen Ideen passte sich das Haus Ludendorff vollkommen in die Welt der völkischen Vorstellungen von Religion und Religiosität ein. Mehr oder weniger sämtliche Elemente einer „arteigenen Religion“ sind vorhanden – bis auf den Umstand, dass Mathilde Ludendorff sich vehement dem Begriff „Religion“ verweigerte. Sie argumentierte, dass alle Religionen das Werk der Menschen und allein deshalb abzulehnen seien, weil menschlich sein bedeutet, unvollkommen zu sein. Gott jedoch ist vollkommen. Es sei die Aufgabe aller „gottwachen“ Menschen, die göttliche Vollkommenheit zu erkennen und sich selbst als freiwilligen Akt, selbst zur göttlichen Vollkommenheit „umzuschöpfen“. Dieser Akt der „Umschöpfung“, theoretisch jedem Menschen möglich, gelinge aber nur wenigen, die, sicherlich begünstigt vom richtigen ( dem nordischen) 69 Vgl. Brigitte Nagel, Die Welteislehre. Ihre Geschichte und Rolle im „Dritten Reich“, 2. Auf lage Stuttgart 2000. 70 Erich Ludendorff ( Hg.), Mathilde Ludendorff – Ihr Werk und Wirken, München 1937, S. 317 f.

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Die Ludendorff-Bewegung im Nationalsozialismus

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Rasseerbgut, dazu in der Lage seien. Anderen Völkern, insbesondere den „niederrassigen“, fehle dieser Unabhängigkeitswille. Einmal am Ziel der „Selbstschöpfung“ zur göttlichen Vollkommenheit angekommen, gebe es kein Zurück mehr – man habe sich für immer von den übrigen Menschen abgesondert, in die Einsamkeit der Vollkommenheit : „Unvollkommene Taten und Worte sind für immer zur Unmöglichkeit geworden“.71 Mathilde Ludendorff schrieb sich selbst das Verdienst zu, den wertvollsten Teil der „nordischen Genetik“ entdeckt zu haben – die „genetisch verankerte“ Fähigkeit zur Vollkommenheit durch vollkommene „Gotterkenntnis“. Sie stellte damit die Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) über alle Religionen als das einzig heilbringende Werkzeug zur „seelischen Gesundung“ aller Völker. Hier hätten Priester und Gemeinden nichts zu suchen, sie störten nur den individuellen Weg des Einzelwesens, Gott zu erkennen. Denn dies müsse jeder ganz allein für sich erleben, ohne irgendwelche Vorschrift, wie dies zu geschehen habe. Allerdings verfügte Mathilde Ludendorff ihrer Ansicht nach allein über das entsprechende „know how“, da es nur ihr gelungen sei, in diese tiefsten Schichten der „Gotterkenntnis“ vorzustoßen. Alle anderen seien auf ihre Schriften angewiesen, die nicht einfach gelesen, sondern „aufgenommen“ werden müssten. Diese Religiosität ist ein fester, entscheidender Bestandteil der Ludendorff’schen Weltanschauung. Beide Protagonisten nahmen eine „geschlechtsspezifische Aufgabenteilung“ vor. Erich Ludendorff verkörperte den „männlich“ politischen Part und äußerte sich zu militärischen Fragen, „undeutschen Zeitkrankheiten“ wie Parlamentarismus und Bürokratie oder einer Umorganisation des Rechts - und Wirtschaftslebens, damit es „deutscher Sittlichkeit und deutscher Lebensauffassung“ entspreche.72 Mathilde Ludendorff dagegen befasste sich ausschließlich mit dem „weiblichen Part“ wie kulturellen Fragen, der Wissenschaft und Kunst oder dem Erziehungswesen, nicht zuletzt mit der speziellen „Gotterkenntnis“ des „Hauses Ludendorff“. Dies wurde von beiden als der wichtigste Teil ihrer Weltanschauung aufgefasst. Erich Ludendorff schrieb dazu : „Meine Frau hätte ihr Werk ohne mich schaffen können; ich konnte das Ihrige nur verbreiten helfen. Die letzte Ausgestaltung meines Werkes konnte nur auf den Grundlagen erfolgen, die mir meine Frau geschaffen hat.“73

71

Mathilde Ludendorff, Der Seele Ursprung und Wesen. Band 1 : Schöpfungsgeschichte, München 1927, S. 94. 72 Vgl. Nebelin, Ludendorff, S. 250. 73 Ludendorff ( Hg.), Mathilde Ludendorff, S. 318.

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Völkisch - religiöse Einigungsversuche während des Zweiten Weltkrieges Christoph Knüppel

„Ist unsere Religion nun das, was der Führer anstrebt ? Dass er über kurz oder lang eine Vereinheitlichung wünscht, ist zu erwarten; das Gefühl werde ich nicht los, dass nur ein auch in religiöser Beziehung einheitliches Volk auf die Dauer Großes leisten wird.“1 Diese Sätze richtet der Freireligiöse Franz Rupp im Sommer 1941 nach einem Kriegseinsatz an der Ostfront an Pfarrer Georg Pick (1892–1972), den Vorsteher der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands. Der Briefverfasser stellt hier eine Frage, die alle Anhänger völkischer Religionsgemeinschaften nach der Konsolidierung des NS - Staates umtrieb, formulierte aber auch deren höchst fragwürdige Voraussetzung. Das schärfere Vorgehen des Regimes gegen die etablierten christlichen Kirchen wurde von den Völkischen gemeinhin als Signal für die Vorbereitung einer einheitlichen „deutschen“ Religion gedeutet. Dass der „Führer“ ganz auf eine religiöse Überhöhung oder Flankierung der nationalsozialistischen Bewegung verzichten könnte, kam nur wenigen in den Sinn. Anders gesagt : Dass der Nationalsozialismus totalitär war und dies implizierte, dass er auch „Weltanschauung“ produzieren und „Religionsersatz“ sein wollte, wurde den meisten Völkischen erst sehr spät oder überhaupt nicht bewusst.2 Sucht man nach den Gründen für die Hartnäckigkeit, mit der sie ihren Bestrebungen folgten, kann man im Einzelfall sicherlich ein Sendungsbewusstsein konstatieren, das bis zur Ausblendung oder Leugnung der religionspolitischen Realitäten führt. Außerdem war für die Altersgruppe der „völkischen Vorkämpfer“ ein völkischer Staat ohne religiöse Bindung und verbindliche Religion kaum vorstellbar. Man sollte jedoch auch bedenken, dass innerhalb der NSDAP selbst –

1

2

Georg Pick, Die Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands in der religiösen Entwicklung der deutschen Gegenwart. In : Freie Religion, 20 (1941), S. 93–98, hier 94. Es handelt sich um den Auszug aus einer Rede, die Pick auf dem Gemeinschaftstag der Freien Religionsgemeinschaft am 6. 9. 1941 in Mainz gehalten hatte. Vgl. Uwe Puschner, Deutschchristentum. Eine völkisch - christliche Weltanschauungsreligion. In : Richard Faber / Gesine Palmer ( Hg.), Der Protestantismus – Ideologie, Konfession oder Kultur ?, Würzburg 2003, S. 93–122, hier 121 : „Deutschchristen wie ‚Neuheiden‘ verkannten, dass der Nationalsozialismus [...] Bestrebungen fernstand, eine – deutschchristliche und / oder ‚neuheidnische‘ – ‚arteigene Religion‘ zu etablieren.“

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wie Manfred Gailus dies zutreffend beschreibt3 – mindestens drei „informelle Gesinnungsfraktionen“ bestanden und Vertreter der „gottgläubigen“ Fraktion, die teilweise selbst aus der völkischen Bewegung stammten, solchen ungleichzeitigen Vorstellungen mit Verständnis oder kaum verhohlener Zustimmung begegneten. Und endlich kann aus meiner Sicht kein Zweifel daran bestehen, dass man viele als ungefährlich eingestufte Aktivitäten duldete, um sich die prinzipielle Loyalität jener völkischen „Schwarmgeister“ zu sichern, wodurch letztere sich wiederum in ihren fragwürdigen Annahmen bestätigt fühlen konnten. Für die Erfahrung, dass der NS - Staat auch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs nichts unternahm, um eine deutsche Religion zu etablieren, hatten die Völkischen eine plausible Erklärung parat : Weil die militärische Schlacht alle Kräfte fordert, müssen die weltanschaulichen Schlachten und Entscheidungen aufgeschoben werden. Auch könne der Nationalsozialismus jetzt nicht noch das „Odium des Antichristentums“ auf sich nehmen, ohne seine „Weltstellung“ zu erschweren.4 Manche, vor allem ältere und nicht mehr kriegstaugliche Männer, zogen daraus für sich den Schluss, dass sie selbst ihre Glaubenslehre entsprechend den vermeintlichen Erwartungen des NS - Regimes modifizieren und ihre Glaubensgemeinschaft unbedingt aufrechterhalten oder gar ausbauen müssten, um so für die Zeit nach dem „Endsieg“ gerüstet zu sein. Die eigene Glaubenslehre wird also als „Schubladenreligion“ betrachtet.5 In diesem Sinne agierten nach Kriegsausbruch auch Friedrich Schöll (1874–1967) und Karl Strünckmann (1872–1953), die beide schon vor und während des Ersten Weltkriegs in der völkischen Bewegung auftraten und nun die Überzeugung teilten, dass die „völkisch - politische Einigung der Deutschen“ durch eine kirchlich - religiöse Einigung „gekrönt“ werden müsse.6 So erklärt Schöll 1941 in einem Schreiben an das

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Manfred Gailus, „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ ? Religiöse Pluralisierungen in der NS - Weltanschauungsdiktatur. In : Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Große Kracht ( Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 247–268. William Wauer an Joseph Goebbels vom 15. 8. 1941 ( BArch, NS 18/1145). Vgl. Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962), Marburg 2005, S. 77, im Anschluss an eine Formulierung von Rudolf J. Mund, Der Rasputin Himmlers. Die Wiligut - Saga, Wien 1982, S. 147 ff. Zu Schölls politisch - pädagogischen Aktivitäten in der Zeit der Weimarer Republik, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. Christoph Knüppel, „Vorarbeiten zu einer geistigen Einheit des deutschen Volkes“. Friedrich Schöll als Leiter der Württembergischen Bauernhochschule und der Arbeitsgemeinschaft Vogelhof. In : Paul Ciupke / Klaus Heuer / Franz - Josef Jelich / Justus H. Ulbricht ( Hg.), „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonser vative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 187–215. Zu dem völkischen Lebensreformer und Arzt Karl Strünckmann vgl. Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983, passim; Bernd Wedemeyer - Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, passim; Oliver M. Piecha, Das Weltbild eines deutschen Diätarztes. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Lebensreform und völkischem Fundamentalismus. In : Von Ascona bis Eden. Alternative Lebensformen. Hg. von der Erich - Mühsam - Gesellschaft e. V., Lübeck 2006, S. 118–158; Gregor Hufenreuter / Christoph Knüppel ( Hg.), Wilhelm Schwaner – Wal-

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Hauptschulungsamt der NSDAP : „Es ist ja wohl damit zu rechnen, dass die Glaubensfrage nach dem siegreichen Abschluss des Krieges ernstlich in Fluss kommt, und dann dürfte es willkommen sein, wenn positive Unterlager für die neue Formulierung [ eines nordischen Glaubens ] schon zur Hand sind.“7 Im Zentrum der folgenden Darstellung sollen zwei Tagungen bzw. „Aussprachen“ stehen, die sie vorbereitet haben und die im Jahr 1941 kurz nacheinander stattfanden.8 Vom 26. bis 29. August 1941 trafen sich in dem Dorf Erbsen am Solling – unweit von Göttingen – zwölf Personen, darunter Schöll und Strünckmann, um über die Grundlage für einen „deutschen Volksglauben“ zu beraten.9 Zu dem gleichen Zweck kamen, unter der Leitung des Pfarrers Gustav Adolf Bloch und Strünckmanns, vom 4. bis 7. September 1941 in Frankfurt am Main ebenfalls zwölf Personen zusammen. In beiden Fällen waren die Teilnehmer 50–70 - jährige Männer, die zum Teil bereits in der Weimarer Republik, zum Teil aber auch erst seit wenigen Jahren das Ziel einer religiösen Einigung des deutschen Volkes verfolgten. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus bedeutete das in den Worten Strünckmanns : „Wir müssen einsehen, dass neben dem geschlossenen, autoritären Totalstaat auch nur eine geschlossene, autoritäre Totalkirche bestehen sollte.“10 Einen Grund dafür, dass solche Einigungsversuche ausgerechnet nach Kriegsbeginn Konjunktur hatten, lieferte Wilhelm Kusserow, der im Frühjahr 1941 in einem Brief schrieb : „Es wäre ein Unglück, wenn die Partei sich der religiösen Sache bemächtigte, wie sie es leider schon gelegentlich tut. Daher müssen wir die Einigung zu einer Zeit bewerkstelligen, wo andere Organe dafür gar nicht in Frage kommen, d. h. im Kriege.“11 Anton Krenn, ein ehemaliger Ordenspriester und Mitglied des „Verdener Kreises“, wies ferner darauf hin, dass die dogmatischen Abgrenzungen und Verwerfungen unter den „Gottgläubigen“ auf Dauer dazu führen würden, dass diese sich vor den Kirchen und dem Staat „lächerlich“ machen würden.12 Dabei spielt

7 8

9 10 11 12

ther Rathenau. Eine Freundschaft im Widerspruch. Der Briefwechsel 1913–1922, Berlin 2008, S. 221 f.; Stefan Breuer / Ina Schmidt, Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933), Schwalbach 2010, S. 421 f. Strünckmann war in den lebensreformerischen, insbesondere naturheilkundlichen, neureligiösen und nationalrevolutionären Zeitschriften der Weimarer Republik allgegenwärtig. Friedrich Schöll an Hauptschulungsamt der NSDAP vom 5. 3. 1941 ( NL Schöll, Privatbesitz Knüppel ). Die Darstellung stützt sich in der Hauptsache auf völkisch - religiöse Zeitschriften und Zeitungen, die häufig nur an einem Bibliotheksstandort vorhanden sind, auf Dokumente aus dem schriftlichen Nachlass von Friedrich Schöll sowie auf ausgewählte Akten des Bundesarchivs Berlin. Tagungslokal war das Gast - und Pensionshaus „Zum Jägerheim“ von August Klages (Werbeblatt im NL Schöll ). Karl Strünckmann, Das letzte Ziel : Ein Volk ! Ein Glaube ! Eine Kirche !, 2. Auf lage, Blankenburg ( Harz ) 1936, S. 17. Die erste Auf lage dieser Schrift war 1935 erschienen. Wilhelm Kusserow an Friedrich Schöll vom 19. 3. 1941 ( NL Schöll ). Anton Krenn, Bekenntnis oder nicht ... In : Germanen - Glaube, Folge 5 ( Gilbhart 1941), unpag. Ähnlich wie der eingangs zitierte Freireligiöse Rupp schreibt Krenn, der 1940/41 „Feldpostbriefe für gottgläubige Soldaten“ herausgab, in seinem Beitrag : „Ich stehe mitten im Leben, zu mir kommen Briefe aus allen Gauen und von allen Fronten, und alle

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natürlich auch die Feststellung eine Rolle, dass sich die Menschen angesichts steigender Kontingenzerfahrungen wieder verstärkt den bestehenden Kirchen zuwandten.13 Gerhard Bednarski schließlich, der stellvertretende Leiter des Verdener Kreises, hob ergänzend hervor, dass sich seit dem Scheitern von Hauers Deutscher Glaubensbewegung ein „Klärungs - und Läuterungsprozess“ vollzogen habe und der Meinungsstreit unter den völkisch - religiösen Protagonisten einer „inneren Annäherung“ gewichen sei. „Alle völkisch - religiösen Gruppen haben seitdem einen Ausleseprozess durchgemacht. Fantasten, Schwarmgeister, Mitläufer, radikale Freidenker und Christenhasser [...] wurden ausgeschieden, und dadurch gewannen alle Bewegungen an innerer Einheit und vor allem an Zielklarheit und positivem Wollen. Jegliche Eigeninteressen haben der alleinigen Anerkennung der nationalsozialistischen Weltanschauung Platz gemacht (von wenigen Ausnahmen abgesehen ).“14

1.

Völkische Religionsgemeinschaften zu Beginn des Zweiten Weltkrieges

Bevor auf die Vorgeschichte, die Teilnehmer und die Resultate der beiden Tagungen eingegangen wird, sollen hier aber zunächst die Organisationen kurz vorgestellt werden, die nach zahlreichen Umbenennungen, Fusionen und Verboten im Jahre 1940 – also nach Kriegsbeginn – noch bestanden und die dem völkischen Spektrum zuzurechnen sind. Dies erscheint notwendig, weil die historischen Untersuchungen der außerkirchlichen Religionsgemeinschaften selten über das Jahr 1939 hinausreichen, was nicht zuletzt der schwierigen, teilweise äußerst dürftigen Quellenlage geschuldet ist. Auch die letzte zeitgenössische Übersicht aus der Feder des Franziskaners Erhard Schlund endet im Mai 1939.15 Nicht nur, aber ganz besonders mit Bezug auf die völkischen Religionsgemeinschaften lässt sich feststellen, dass „die Kriegszeit religionsgeschichtlich als auffallend untererforscht gelten“ muss.16 Die Reihenfolge der nachstehend dargestellten Organisationen ist durch ihre Nähe bzw. Distanz zum Christentum der bestehenden Großkirchen bestimmt. Nicht aufgenommen wurden informelle Freundeskreise, Religionsgemeinschaften, die nur auf dem Papier existierfragen und bestürmen mich, wohin sollen wir uns wenden, welche Gruppe ist denn die richtige ? Die Frontsoldaten vertröste ich auf die Zeit nach dem Kriege, da sich die Fronten bis dahin irgendwie geklärt haben werden. Wie soll ich aber die Anhänger und Suchenden der Heimat unterrichten ? Wer hat recht ? GGG oder NG oder DR oder KDG oder RR und wie die netten Abkürzungen alle lauten. Und dazu beinahe täglich die Stimmen aus der Partei : Alles überflüssig ! Das macht alles die Partei !“ 13 Vgl. Gailus, „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ ?, S. 265. 14 Gerhard Bednarski, Einigung der artgläubigen Deutschen ! In : Germanen - Glaube, Folge 1 ( Hartung 1941), unpag. 15 Erhard Schlund, Modernes Gottglauben. Das Suchen der Gegenwart nach Gott und Religion, Regensburg 1939. 16 Gailus, „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ ?, S. 263.

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ten, und solche, deren Verbreitung auf einen bestimmten Ort oder eine Region beschränkt war. Nationalkirchliche Einung ( Deutsche Christen )17 Die Nationalkirchliche Einung ( Deutsche Christen ) war am 6. Juni 1937 als Nationalkirchliche Bewegung ( Deutsche Christen ) in Weimar gegründet worden. 18 Damit hatte sich innerhalb der Deutschen Christen die radikale Thüringer Richtung durchgesetzt. „Die nationalkirchliche Einung stellte den größten Zusammenschluss aller deutsch - christlichen in Deutschland dar und breitete sich über das gesamte Reichsgebiet mit insgesamt 30 Gaugemeinden aus.“19 Erstrebt wurde ein artgemäßes „deutsches Christentum“, wobei Christus als „Todfeind und Überwinder“ des Judentums galt. Man bekannte sich vorbehaltlos zur nationalsozialistischen Weltanschauung und versprach Hitler bedingungslose Gefolgschaft. Eine ideologisch wichtige Rolle spielte der völkische Pfarrer Arthur Bonus, der eine „Germanisierung des Christentums“ gefordert hatte und als Ehrenmitglied am 9. April 1941 starb. Zu den Protagonisten gehörten die Pfarrer Siegfried Leff ler, Julius Leutheuser, Wolf Meyer - Erlach, Martin Sasse, Paul Lehmann, Heinz Dungs, Walter Grundmann und Hugo Rönck sowie der Lehrer Wilhelm Bauer. 1938 schloss sich die unten erwähnte Katholisch Nationalkirchliche Bewegung als Körperschaft der Nationalkirchlichen Bewegung an. Katholisch - Nationalkirchlicher Volksverein e. V.20 Der Katholisch - Nationalkirchliche Volksverein e. V. wurde als Katholisch - Nationalkirchliche Bewegung im April 1934 von dem altkatholischen Pfarrer und Nationalsozialisten Heinrich Hütwohl ( Essen ) gegründet. Matthias Ring, der die Geschichte dieser Gruppierung detailliert erforscht hat, gibt für 1939 rund

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Organe : Die Nationalkirche. Briefe an deutsche Christen, 6 (1937) bis 10 (1941), Nr. 21 (1. Juni ); Deutsches Christentum. Wochenzeitung der Nationalkirchlichen Einung Deutsche Christen, 1(1937) bis 6 (1941), Nr. 16; Deutsche Frömmigkeit, 5 (1937) bis 9 (1941), Nr. 4/5 ( April / Mai ). 18 Neben der Nationalkirchlichen Einung bestanden noch einige kleinere deutschchristliche Organisationen, die hier aus Platzgründen nicht aufgeführt werden, insbesondere die Kommende Kirche des Bremer Landesbischofs Heinz Weidemann. Vgl. dazu Reijo E. Heinonen, Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945, Göttingen 1978. 19 Susanne Böhm, Deutsche Christen in der Thüringer evangelischen Kirche (1927–1945), Leipzig 2008, S. 123. 20 Organ : Der romfreie Katholik. Zeitschrift des „Katholisch - Nationalkirchlichen Volksvereins“ e. V., 24 (1935) bis 30 (1941), Nr. 10 (16. Mai ).

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3 350 Mitglieder an.21 Die meisten von ihnen kamen aus der Altkatholischen Kirche. Erstrebt wurde eine „deutsche katholische Nationalkirche“, die sich aus ihrer „volksfremden römischen Bindung“ gelöst hat.

Houston Stewart Chamberlain - Vereinigung zur Versöhnung von Germanentum und Christentum22 Bei der Ostern 1940 in Dresden gegründeten Chamberlain - Vereinigung handelte es sich um eine Nachfolgeorganisation der Deutschen Volkskirche e. V. des Schriftstellers Artur Dinter, die am 9. Juni 1937 durch die Gestapo verboten worden war.23 Gründer und Leiter war Felix Eichler, ehedem Landrat in Cottbus und zuletzt 1933 bis 1934 kommissarischer Regierungspräsident in Frankfurt an der Oder. Eichler war zeitweise stellvertretender Reichsleiter der Deutschen Volkskirche e. V. gewesen und erstrebte einen „Christusglauben deutscher Art“, der den Nationalsozialismus untermauern müsse. Unterstützt wurde Eichler von dem Berliner Oberlehrer und Schriftsteller Kurt Leo Walter als Schriftführer und Eberhard Dennert, dem einstigen Gründer des Keplerbundes und Schriftleiter der Zeitschrift „Leben und Weltanschauung“, als Ehrenvorsitzendem. Die Chamberlain - Vereinigung, die seit Oktober 1941 den Zusatz „Bund für germanisches Christentum“ im Namen führte, hatte 1942 nur um die 100 Mitglieder, darunter viele Lehrer und ( ehemalige ) protestantische Pfarrer. Auf Grund dieser quantitativen Bedeutungslosigkeit wurde auf ein Verbot verzichtet. Gemeinsam mit Gustaf Hildebrant hatte Eichler 1935/36 eine kurzlebige Thomas - Westerich - Gemeinde ins Leben gerufen, die das damals ungenutzte Festspielhaus der Gartenstadt Hellerau bei Dresden zu einer „völkischen Weihebühne“ für die Dramen Westerichs machen wollte. Eichler war Vorsitzender der Förderungsgemeinschaft Deutsche Weihebühne Hellerau.24

21 Matthias Ring, „Katholisch und deutsch“. Die alt - katholische Kirche Deutschlands und der Nationalsozialismus, Bonn 2008, S. 707. 22 Organ : Beilagen der H. St. Chamberlain - Vereinigung zu : Leben und Weltanschauung. Monatsschrift für christliche Lebensgestaltung und deutsche Weltschau, 15 (1940), Nr. 4 ( April ) bis 16 (1941), Nr. 12 ( Dezember ). 23 Zur Chamberlain - Vereinigung vgl. BArch Berlin, NS 18/6; ferner Ulrich Nanko, Das Spektrum völkisch - religiöser Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins „Dritte Reich“. In : Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 22; zu Dinter und seinen religiösen Bestrebungen Claudia Witte, Artur Dinter. Die Karriere eines professionellen Antisemiten. In : Barbara Danckworth / Thorsten Querg / Claudia Schöningh ( Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologen – Täter – Opfer, Hamburg 1995, S. 113–151. 24 Vgl. Gründung einer Westerich - Weihebühne. In : Hammer, Nr. 812 ( August 1936), S. 314; Eine Thomas - Westerich - Bühne. In : Hammer, Nr. 815 ( November 1936), S. 426; allgemein Simon Lorenz, Thomas Westerich. Heimatdichtung und völkische Dramatik, unveröff. Staatsarbeit Berlin 2006, S. 62 ff.

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Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands e. V.25 Die Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands e. V. ( FRD ) wurde unter der Führung von Pfarrer Georg Pick ( Mainz ) im Mai 1934 gegründet.26 Ihr gehörten – neben Einzelmitgliedern – die freireligiösen Gemeinden in Mainz, Wiesbaden, Ingelheim, Rüdesheim, Oberstein, Essenheim, Nauheim, Kelsterbach, Offenbach, Hanau und Worms sowie – als Körperschaft – die Religionsgemeinschaft Freier Protestanten e. V. mit Sitz in Alzey an. Als Sprecher traten die freireligiösen Pfarrer Georg Pick, Max Gehrmann ( Offenbach ), Clemens Taesler ( Frankfurt a. M.) und Rudolf Walbaum ( Alzey ) in Erscheinung. Die Mitgliederzahl dürfte bei rund 3 000 Personen gelegen haben; in der Religionsgemeinschaft Freier Protestanten waren 1914 laut eigenen Angaben 3 000 weitere Personen in 18 Einzelgemeinden organisiert.27 Eine programmatische Grundlegung stellte Picks Buch „Die Religion der freien Deutschen. Eine Deutung des Weltgeschehens“ dar, das zuerst 1937 im Waldemar Hoffmann Verlag und dann 1941 in einer Neuausgabe im völkisch - religiösen Verlag von Georg Truckenmüller erschienen war. Vorläufer der FRD war der Verband freireligiöser Gemeinden Süd - und Westdeutschlands, der sich im Gegensatz zum Bund Freireligiöser Gemeinden 1922 nicht dem freidenkerischen Volksbund für Geistesfreiheit angeschlossen hatte (und 1934 auch nicht verboten wurde ). Sowohl die Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands als auch die Religionsgemeinschaft Freier Protestanten – nun mit dem Zusatz „Deutsche Unitarier“ – bestanden nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Letztere war an der Konstitution der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft im April 1948 auf dem Klüt bei Hameln beteiligt. Gemeinschaft Deutsche Volksreligion e. V.28 Die Gemeinschaft Deutsche Volksreligion e. V. ( GDV ) mit Sitz in Leipzig wurde am 29. August 1937 gegründet, versammelte viele ehemalige Freireligiöse und war ganz auf ihren Gründer und Vorsteher Ernst Bergmann, einen Leipzi25 Organe : Freie Religion. Für Befreiung und Vertiefung religiöser Kultur, 13 (1934) bis 20 (1941), Nr. 7 (31. Oktober ); Mitteilungsblatt der freien Religionsgemeinschaft Deutschlands, 1 (1940) bis 3 (1942), Nr. 2 ( Februar ). 26 Die Affinität dieser freireligiösen Organisation zur völkischen Ideologie wird erstmals herausgearbeitet von Christian Langenbach, Freireligiöse im Nationalsozialismus. Die Selbstdarstellung freireligiöser Organisationen in Deutschland 1933 bis 1945, Marburg 2008. Hinweise bietet auch schon Gregor Batz, Gegen die Widerstandslegenden. Kirchen – Freigeister – Nationalsozialismus – Antisemitismus. In : Aufklärung und Kritik, 12 (2002), S. 199–210. 27 Max Henning ( Hg.), Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, Frankfurt a. M. 1914, S. 145. 28 Organ : Deutsches Werden. Zeitschrift für deutsche Volksreligion, 1 (1933) bis 13 (1941), Nr. 9 ( September ).

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ger Philosophieprofessor und überzeugten Nationalsozialisten, ausgerichtet. Bergmann erstrebte eine nichtchristliche „deutsche Nationalkirche“, weil man Kirche nur durch Kirche besiegen könne, war jedoch militanter Atheist und vertrat eine „natürliche Religion“ der Selbsterlösung. Matthias Pilger - Strohl gibt an, dass 1942 rund 17 000 Mitglieder in vierzig Gemeinden und zahlreichen „Stützpunkten“ organisiert waren.29 Die Mitglieder bezeichneten sich – ausgehend von Bergmanns Katechismus „Die 25 Thesen der Deutschreligion“ (1934) – als „deutschreligiös“. Eine Arbeitsgemeinschaft bestand seit 1940 mit der Deutschen Gottgläubigen Kampfgemeinschaft.30 Bergmann nahm sich am 16. April 1945 in seinem damaligen Wohnort Naumburg das Leben. Kampfring Deutscher Glaube e. V.31 Der Kampfring Deutscher Glaube e. V. war am 6. Mai 1938 aus der Deutschen Glaubensbewegung hervorgegangen und reichsweit in 24 Landesringe untergliedert. Ulrich Nanko kommt zu dem Ergebnis, dass der Kampfring der „verlängerte Arm der SS im Kampf gegen die Kirchen“ gewesen sei.32 Auch in einem zeitgenössischen Dokument heißt es, dass der Kampfring den weltanschaulichen Kampf gegen die Kirchenlehre führen solle, während die Partei den politischen Kampf gegen die Kirche führe.33 Erhard Schlund nennt für 1939 eine Mitgliederzahl von 12 000 bis 14 000 Personen. Anstelle des zum Wehrdienst einberufenen Bernhard Wiedenhöft ( Berlin ) wurde am 14. September 1941 bei einem Berliner „Thing“ Wolfgang Kumm ( Duisburg ) zum Leiter des „Kampfrings“ bestimmt. An sich war Reinhold Krause für dieses Amt vorgesehen, der bereits im Juli 1941 die kommissarische Leitung übernommen hatte. Die Parteistellen versagten ihm jedoch die erforderliche Genehmigung.34 Obwohl Wilhelm 29 Matthias Pilger - Strohl, Eine deutsche Religion ? Die freireligiöse Bewegung – Aspekte ihrer Beziehung zum völkischen Milieu. In : Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne, S. 342–366, hier 345. 30 Vgl. Dietrich Bronder, Die Geschichte des Bundes Freireligiöser Gemeinden bis 1945. In : Die Freireligiöse Bewegung – Wesen und Auftrag, hg. vom Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands, Mainz 1959, S. 67–88, hier 87. 31 Organe : Kampfring Deutscher Glaube. Reichsnachrichtenblatt, 1 (1939) bis 3 (1941), Nr. 7 ( September ), kein Standort nachweisbar; Sigrune. Zeitschrift für nordisches Wesen und Gewissen, 1 (1933) bis 11 (1943), Nr. 11/12 ( November / Dezember ); Deutscher Glaube. Zeitschrift für arteigene Lebensgestaltung, Weltschau und Frömmigkeit in den germanischen Ländern, 1 (1934) bis 11 (1944), Nr. 7/9 ( September ). 32 Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, S. 281. 33 So Camilla Neupert, damals Vorsitzende des Landesringes Württemberg, nach dem Besuch des Berliner „Things“ in einem Brief an Friedrich Schöll vom 23. 9.1941 (NL Schöll ). 34 Dies geht aus dem bereits zitierten Brief von Camilla Neupert an Friedrich Schöll vom 23. 9.1941 ( NL Schöll ) her vor. Neupert geht davon aus, dass Krause auch weiterhin „der Geist über den Wassern“ sein wird, der die Aktivitäten des Kampfrings bestimmt, ohne nach außen in Erscheinung zu treten. Vgl. hierzu auch Reinhold Krause, Ein Volk

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Hauer im März 1936 als Führer der Deutschen Glaubensbewegung zurückgetreten war, wurde – nach dem Verbot des „Durchbruch“ – von vielen Mitgliedern dessen Zeitschrift „Deutscher Glaube“ – die ehemalige Monatsschrift der Deutschen Glaubensbewegung – gelesen.35 Auch seine Vorträge, die er u. a. im Auftrag des Rassenpolitischen Amtes hält, wurden von Mitgliedern des Kampfrings besucht. Deutsche Gottgläubige Kampfgemeinschaft e. V.36 Die Deutsche Gottgläubige Kampfgemeinschaft e. V. ( DGK ) war offenbar eine 1940 entstandene Nachfolgeorganisation des Reichsringes der gottgläubigen Deutschen. Dieser hatte sich im Dezember 1938 vom Kampfring Deutscher Glaube abgespalten und am 8. Februar 1939 unter der Führung von Willi Greiner in Breslau konstituiert. Als Leiter der Kampfgemeinschaft werden C. Kaerner in Frankfurt am Main und Walter Oettel in Reichenbach im Vogtland ( vormals in Leipzig ) angegeben.37 Oettel war noch im Frühjahr 1938 als Redner des Kampfrings Deutscher Glaube aufgetreten. Eine Arbeitsgemeinschaft bestand mit Bergmanns Gemeinschaft Deutsche Volksreligion. Nordische Glaubensgemeinschaft e. V.38 Die Nordische Glaubensgemeinschaft e. V. wurde bereits 1927 gegründet und im Oktober 1934 unter der Führung von Norbert Seibertz und Wilhelm Kusserow ( Freienwalde / Oder ) reorganisiert. Nachdem sich 1938 die Deutschgläubige Gemeinschaft unter Alfred Conn ( Hamburg ) der Nordischen Glaubensgemeinschaft angeschlossen hatte, wurde Kusserow deren Leiter und Conn sein Stellvertreter. Weitere Vorstandsmitglieder waren Otto Eichler ( Potsdam ), Erika Maschewski ( Berlin ), Anneliese Degebrodt ( Berlin ), Friedrich Schrader ( Frankfurt am Main ), Robert Reuleaux ( Berlin ) und Arno Berger ( Berlin ). Weltanschauliche Grundlage war Kusserows „Nordisches Artbekenntnis“ (1934). Die Nordische Glaubensgemeinschaft war in Landesgefährtschaften untergliedert, von denen 1941 noch zehn aktiv waren. Die Zeitschrift „Widar“ war bis zum

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– ein Reich – ein Glaube. Die Lebenserinnerungen. Hg. und kommentiert von Olaf Kühl- Freudenstein, Nordhausen 2006, S. 126. Zum „Deutschen Glauben“ vgl. Clemens Vollnhals, Deutscher Glaube. Eine Zeitschrift für den gebildeten NS - Glaubenskrieger. In : Michel Grunewald / Uwe Puschner ( Hg.), Das Evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2008, S. 483–502. Organ : DGK - Rundbriefe, kein Standort nachweisbar. In Anzeigen in der Zeitschrift „Sigrune“ 9/11 (1942). Organe : Nordische Zeitung. Zeitschrift für das Gesamtgebiet des nordischen Gedankens, 1 (1933) bis 9 (1940), Nr. 8 ( Dezember ); Widar. Zeitschrift Nordischen Glaubens, 28 (1938) bis 31 (1941), Nr. 9/10/11 ( September / Oktober ).

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erwähnten Zusammenschluss ein „deutschgläubiges Kampfblatt“ gewesen. Die Nordische Glaubensgemeinschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Kusserow als ( rechtsextreme ) Artgemeinschaft e. V. weitergeführt und existiert bis heute. Germanische Glaubens - Gemeinschaft e. V.39 Die Germanische Glaubens - Gemeinschaft e. V. ( GGG ) wurde bereits 1913 gegründet und orientierte sich an den Schriften ihres Mitbegründers und „Hochwarts“ Ludwig Fahrenkrog. Weitere Vorstandsmitglieder waren Erich Uhlig (Waldenburg in Schlesien, früher Heidelberg ), Ludwig Dessel ( Dortmund ), Karl Alfred Strohbach ( Leipzig ), Max Retzlaff ( Hamburg, früher Struppen bei Pirna) und Karl Weißleder ( Hamburg ). Verantwortlicher Schriftleiter war Fahrenkrogs Sohn Rolf Ludwig Fahrenkrog ( Berlin ). Die Germanische Glaubens - Gemeinschaft war 1941 in neun Landesgemeinden untergliedert. Daniel Junker nimmt an, dass die Gemeinschaft „in guten Zeiten“ höchstens 200 bis 400 Mitglieder gehabt und nach 1934 nur noch aus einem „kleinen Kreis von Fahrenkrog Getreuen“ bestanden habe.40 Zumindest die letzte Annahme halte ich jedoch nach Auswertung ihres Organs für eine deutliche Unterschätzung. Um 1940 scheint sich auch Arno Schmieder ( Leipzig ) mit seiner Gesellschaft für nordische Kultur der Gemeinschaft angeschlossen zu haben. Die Zeitschrift „Germanen - Glaube“, die seit 1940 erscheint, wird als 30. Jahrgang des „Amtlichen Anzeigers der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft“ ( unter diesem Titel nicht nachweisbar ) ausgegeben. Ihre Vorgänger, die meist jedoch auch anderen Gruppierungen als Forum dienten, waren : „Der Volkserzieher“ (1913), „Die Nornen“ (1914; 1917–1920), „Die Lebensschule“ (1921), „Der Weihwart“ (1922– 1926), „Der Deutsche Dom“ (1926–1928), „Nordische Kultur - Arbeit“ (1928– 1929) und „Nordischer Glaube“ (1930–1933; 1935–1939). Die Germanische Glaubens - Gemeinschaft bestand nach dem Zweiten Weltkrieg weiter; die Zeitschrift „Germanen - Glaube“ wurde von etwa 1950 bis 1958 fortgesetzt und 1990 wiederbelebt. Verdener Kreis41 Der Verdener Kreis wurde 1940 von Karl Alfred Strohbach ( Leipzig ) gegründet und war laut eigener Aussage „ein Zusammenschluss artgläubiger deutscher 39 Organ : Germanen - Glaube. Blätter für Jung - Germanische Religion, [1] (1940) bis [6] (1945), Nr. 1 ( März ). 40 Daniel Junker, Gott in uns ! Die Germanische Glaubens - Gemeinschaft. Ein Beitrag zur Geschichte völkischer Religiosität in der Weimarer Republik, Hamburg 2002, S. 60 und 96. 41 Organ : Blätter im Geiste Nietzsches, 1 (1937) bis 6 (1942), Nr. 56/57 ( Oktober / November ), mehr nicht nachweisbar.

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Menschen, die auf den Gebieten des Schrifttums, der Musik oder der bildenden Kunst schöpferisch sind“.42 Sein Vorgänger, der bis zum Mai 1939 bestand, war ein Nietzsche - Kreis.43 Der Name verdankte sich ideologisch der Errichtung des Verdener Sachsenhains zur Erinnerung an den Sachsenherzog Widukind, pragmatisch dem Wohnort des Verlegers Friedrich Mahnke, der 1939 offenbar den Nordischen Verlag von Ernst Precht ( Berlin ) übernommen hatte44 und u. a. die „Nordische Zeitung“ herausgab, später auch „Germanen - Glaube“, das Organ der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft. Neben Strohbach waren Gerhard Bednarski ( Königsberg ), Guntram Erich Pohl ( Gruiten ), Karl Müller - Hagemann ( Berlin ), Ernst Wachler ( Weimar ), Fritz Hugo Hoffmann ( Planegg bei München), Hermann Schauenfels ( München ), Ludwig Dessel ( Dortmund ), Gerhard Kilian, Otto Karl Düpow ( Hamburg ), Kurt Knote ( Weimar ), Adolf August ten Hompel ( Münster ), Gustav Engelkes ( Norden ), Georg Trenkelbach ( Hamburg), Adolf Schlawing ( Vietze ), Franz Lysk ( Wenningsen / Deister ), Klara Mühlhäuser ( Westerburg ), Anton Krenn ( Pseud. Kurt Aufrecht, München bzw. Wien ) und Marcel van de Velde ( Hilversum ) Mitglieder des Verdener Kreises. Als Schriftsteller bzw. Kunstmaler galten sie bereits im „Dritten Reich“ als zweitrangig. Die meisten von ihnen kamen aus der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft, einige auch aus der Nordischen Glaubensgemeinschaft. Strohbach leitete ab Juni 1941 das neu errichtete Amt für Kunst und Kultur der Germanischen Glaubens- Gemeinschaft.45 Karl Müller - Hagemann leitete einen Otger Gräff Kreis. Eine erste Dichterlesung des Verdener Kreises, bei der Bednarski Gedichte und Erzählungen seiner Mitglieder vortrug, fand am 12. Mai 1941 in Königsberg statt.46 Der Kreis, mit Mahnke als Verleger und Versandbuchhändler, bestand bis Kriegsende.47

42 Blätter im Geiste Nietzsches, 6 (1942), Nr. 49/50, S. 1. Zum Verdener Kreis – dort auch als „Dichterkreis“ bezeichnet – vgl. erstmals Justus H. Ulbricht, „Heil Dir, Wittekinds Stamm“. Verden, der Sachsenhain und die Geschichte völkischer Religiosität in Deutschland ( Teil 2). In : Heimatkalender für den Landkreis Verden 1996, S. 224–267; ferner Richard Frank Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist. Band 3 : Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, Berlin 1998, S. 650 ff. 43 Zum Nietzsche - Kreis vgl. auch Thomas Mittmann, Vom „Günstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche - Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Würzburg 2006, S. 141. 44 Zu Precht vgl. Ulbricht, „Heil Dir“ ( Teil 2), S. 245 ff. 45 Auftrag an Karl Alfred Strohbach. In : Germanen - Glaube, Folge 3 ( Brachet 1941). 46 Aus Arbeit und Bewegung : Erste Dichterlesung des „Verdener Kreises“. In : GermanenGlaube, Folge 4 ( Ernting 1941), unpag. 47 Eine von Mahnke herausgegebene 16–seitige Gedenkschrift zum Tod von Magda Harder, eines späten Mitglieds des Verdener Kreises, erschien im Januar 1945 ( NL Schöll).

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Bund für deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ) e. V.48 Der am 19. Juni 1937 gegründete Bund für deutsche Gotterkenntnis von Erich und Mathilde Ludendorff muss hier wegen seines völkischen Hintergrunds erwähnt werden, obwohl er alle Züge einer esoterischen Sekte trug und auf jegliche Kommunikation oder gar Kooperation mit anderen Gruppierungen verzichtete. Geht man von der Auf lagenhöhe der Zeitschrift aus, hatte der Bund 1939 rund 64 000 Mitglieder und Anhänger.49 Neben den angeführten Zeitschriften dieser Vereinigungen existierten auch zu Beginn und während des Zweiten Weltkriegs noch weitere völkisch - religiöse Blätter, die sich primär dem Kampf gegen das ( konfessionelle ) Christentum widmeten, mit denen aber keine feste Organisation verbunden war. Hier sind etwa „Nordland“ (1933–1941), „Wille zum Reich“ (1934–1941) oder „Der Reichswart“ (1920–1944) zu nennen. Die mit Kriegsbeginn eingeführte Papierzuteilung wurde – wie man den jeweiligen Angaben entnehmen kann – für die kirchlichen und damit auch die deutschchristlichen Organe im Juni 1941, für die übrigen religiösen Organe im September 1941 aufgehoben. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass die Reichspressekammer bei den Zeitschriften „Sigrune“, „Deutscher Glaube“, „Germanen - Glaube“ und wohl auch den „Blättern im Geiste Nietzsches“ nicht von diesem Steuerungsinstrument Gebrauch machte. Während dies im Falle des Kampfring - Organs und der Hauer - Zeitschrift die Annahme einer SS - Verbindung bestätigt, muss die Begründung bezüglich der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft offenbleiben. Dass sie – wie Junker behauptet – aus Sicht der Machthaber keine Bedrohung darstellte, kann jedenfalls kein hinreichender Grund sein.

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Zur Vorgeschichte und zu den Teilnehmern der Erbsener Tagung

Zur Vorgeschichte der Erbsener Tagung gehören Artikel von Gerhard Bednarski in der „Nordischen Zeitung“ und von Ludwig Fahrenkrog in „Germanen Glaube“, die im Juni bzw. Oktober 1940 erstmals nach dem gescheiterten Versuch der Deutschen Glaubensbewegung zu einer „Einheitsfront aller artgläubigen Deutschen“ aufriefen. Gemeint waren damit freilich nur die nicht - christlichen Deutschen. In seiner Reaktion auf die „an sich löbliche Absicht“ Bednarskis stellte Fahrenkrog zwar zunächst die vor wurfsvolle Frage : „Was denn bewog – am Anfang des Geschehens – die Anhänger eines arteigenen Glaubens sich nicht ohne weiteres der schon bestehenden ‚Germanischen Glau48 Organ : Am heiligen Quell deutscher Kraft. Ludendorffs Halbmonatsschrift, 4 (1933/34) bis 10 (1939), Nr. 12 ( Dezember ). 49 Bettina Amm, Die Ludendorff - Bewegung. Vom nationalistischen Kampfbund zur völkischen Weltanschauungssekte, Hamburg 2006, S. 197.

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bens - Gemeinschaft‘ anzuschließen und immer noch einen neuen Verein zu gründen ?“ Außerdem warnte Fahrenkrog nachdrücklich vor einer „Vereinigung auf verwaschenem Grund“, wie dies bei der Deutschen Glaubensbewegung der Fall gewesen sei. Auch er freute sich jedoch darüber, dass die „Massen im Fluss“ seien, und schlug daher vor, dass sich die bestehenden Glaubensgemeinschaften zu einem Bund für arteigene Religion zusammenschließen und in dessen Vorstand jeweils einen Vertreter ihrer Organisation entsenden. Aus taktischen Gründen – nämlich „allen fremdgläubigen Gewalten gegenüber“ – wäre ein solcher Zusammenschluss sinnvoll.50 Bedingung für den Beitritt zu diesem Bund soll die Annahme der Programmsätze „Frei von Fremdblut“, „Frei vom Fremdglauben“ und „Wille zu Deutscher Religion“ sein, die auf einen Ariernachweis, den Kirchenaustritt und die Formulierung eines eigenen nichtchristlichen Bekenntnisses zielten. Neben der Schaffung eines gemeinsamen Organs sah Fahrenkrog als Aufgabe eines solchen Bundes die Errichtung eines „Deutschen Doms“, der allen Organisationen für ihre Feste und Weihen zur Verfügung stünde.51 In der nachfolgenden Nummer des „Germanen - Glaubens“ berichtete Fahrenkrog über zahlreiche freundliche bis zustimmende Rückmeldungen auf seine Vorschläge und nannte dabei die Namen von Gustav Frenssen, Ernst Graf zu Reventlow, Ernst Bergmann, Johannes von Leers, Karl Alfred Strohbach und Paul Schultze - Naumburg („ein führender Mann deutscher Baukunst“).52 Nach dieser ersten Euphorie, die durch Artikel von Strohbach und Bednarski befeuert wurde, zeigte sich jedoch, dass die Führungsansprüche der jeweiligen Glaubensgemeinschaften einen solchen Zusammenschluss sabotierten. Auch Fahrenkrogs Sohn Rolf Fahrenkrog vertrat als Schriftleiter des „Germanen - Glaube“ nun die Position, dass sich die anderen Organisationen der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft anschließen sollten : „Wenn es den anderen Bünden mit der großen Einheit wirklich ernst ist, finden sie in der GGG stets einen verhandlungsbereiten und aufnahmewilligen Partner.“53 Unmittelbar nach Bednarski und Fahrenkrog war es dann der ehemalige Lehrer, Publizist und Siedler Friedrich Schöll, seit 1936 fester Mitarbeiter der Zeitschrift „Wille zum Reich“, der am 15. November 1940 mit einem gedruckten „Rundschreiben vom Vogelhof“ dazu aufrief, in einem „Arbeitskreis für einen deutschen Volksglauben“ an der Formulierung und Etablierung eines solchen gemeinsamen Glaubens mitzuarbeiten.54 Dieser Arbeitskreis wolle selbst weder 50 Ludwig Fahrenkrog, „Geradezu stoßen die Adler“. In : Germanen - Glaube, Folge 4 (Gilbhard 1940), unpag. 51 Ludwig Fahrenkrog, Einfügen ins Ganze ! ! ! Vorrede und Vorschläge zum SammlungsAufruf. In : Germanen - Glaube, Folge 4 ( Gilbhard 1940), unpag. Mit der Idee eines „Deutschen Doms“ griff Fahrenkrog Pläne aus den Jahren 1924/25 auf. Vgl. Junker, Gott in uns !, S. 79–81. 52 Ludwig Fahrenkrog, Vorbericht. In : Germanen - Glaube, Folge 5 ( Julmond 1940), unpag. 53 Rolf L. Fahrenkrog, Bekenntnis oder nicht ... In : Germanen - Glaube, Folge 6 ( Julmond 1941), unpag. Der Verfasser antwortet hier auf eine Anfrage von Anton Krenn, der nach wie vor für die Vereinigung zu einer „gottgläubigen Front“ plädiert. 54 Dieses erste Rundschreiben, auf das sich bis zum Februar 1941 rund 100 Personen für Schölls Arbeitskreis vormerken ließen, wurde von Erich Röth in einer Auf lage von über

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Verein noch Glaubensgemeinschaft sein, sondern „klärende und aufbauende Arbeit“ leisten und für bestehende Glaubensgemeinschaften „Brücken“ bauen.55 Zwei weitere Rundschreiben folgten Ende Januar und Ende Februar 1941. Im zweiten Rundschreiben zeigte sich, dass es Schöll vor allem darum ging, eine „Brücke“ zu bauen zwischen der Gruppe der „Christen der Konfessionen, Reformkirchen und kleinen Gemeinschaften“ und der Gruppe der Nationalsozialisten, die „nur zum politischen Glauben und zur völkischen Weltanschauung“ stehen. Eine solche Brücke sah Schöll in der deutschen Mystik mit ihrer Rede von der „Geburt Gottes in der Seele“. Diese interpretierte er so, dass nicht nur Jesus Christus, sondern allen Gläubigen das Prädikat „wahrer Mensch und wahrer Gott“ verliehen werde. Das Glaubensbekenntnis des deutschen Volksglaubens müsse daher lauten : „Das Göttliche wird in jedem Deutschen als Berufung zu einer Lebensaufgabe in seinem Volk geboren.“56 Eine ähnliche Auffassung finde man mit Bezugnahme auf Meister Eckhart auch bei Alfred Rosenberg. Das dritte Rundschreiben erläuterte hauptsächlich die Forderung „Los vom Judentum im Glauben“, die freilich das kirchliche Christentum gleichermaßen trifft. An die Stelle eines personalen Gottes, einer historischen Erlösergestalt und eines ewigen Lebens der Einzelperson müssten „Allgöttlichkeit, Erlöseraufgabe des kämpferischen Menschen und Ewigkeit von Leben und Volk“ treten.57 Schölls alleinige Bezugnahme auf die deutsche Mystik und deren Christologie stieß jedoch, wie nicht anders zu erwarten, bei manchen Adressaten – darunter Wilhelm Kusserow – auf Widerspruch, so dass er sich am Ende gezwungen sah, das gemeinsame Glaubensbekenntnis neu zu formulieren : Das deutsche Volk soll nun als „Gottesoffenbarung in vielen Formen“ verstanden werden. „Das eine bindende Glaubensbekenntnis – Volk als Gottesoffenbarung – darf keinesfalls und niemals verraten werden. Das würde unseren Tod bedeuten. Denn wenn ‚Gott‘, das ewig unpersönliche Heilige, [...] nicht mehr als Gotteskraft in uns mächtig ist, dann sind wir leer, machtlos und verloren.“58 Damit war Schölls Arbeitskreis in der Tat zumindest theoretisch für alle völkisch - religiösen Gruppierungen anschlussfähig.

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5 000 Exemplaren gedruckt und versandt. Die Adressen dafür entnahm Röth einer Adressenkartei des Deutschvölkischen Schutz - und Trutzbundes, die ihm Alfred Roth überlassen hatte, und Adressverzeichnissen von Bünden der Jugendbewegung, etwa der Adler und Falken. Schöll steuerte 1 000 Namen von aktuellen Mitgliedern des Deutschbundes bei. Darüber hinaus wurden gezielt die Führer der völkischen Religionsgemeinschaften angeschrieben. Die weiteren Rundschreiben hatten eine wesentlich geringere Auf lage, weil sie nur noch den Interessenten zugeleitet wurden. Alle Angaben nach Briefwechsel zwischen Friedrich Schöll und Erich Röth, 1940/41 ( NL Schöll). Friedrich Schöll, Rundschreiben vom Vogelhof, 15. Nebelungs / November 1940 (NL Schöll ). Friedrich Schöll, 2. Rundschreiben vom Vogelhof, Ende Hartungs / Januar 1941 ( ebd.). Friedrich Schöll, 3. Rundbrief vom Vogelhof, Ende Hornungs 1941 ( ebd.). Friedrich Schöll, Ein Wort an alle als Nachklang zu den bisherigen Rundbriefen !, 26. Hornungs 1941 ( ebd.). Hervorhebung im Original.

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Dass Schöll selbst aus der völkischen Bewegung kam und hier mittlerweile dem nordischen Flügel zuzurechnen war, machte der Verfasser gleich im ersten Rundschreiben unmissverständlich klar. Seit mehr als dreißig Jahren, so heißt es dort, arbeite er an einer Glaubenserneuerung des deutschen Volkes, „erst als einer unter vielen Einzelnen, dann im ‚Bund für deutsche Kirche‘, im ‚Hammerbund‘ und im ‚Deutschvölkischen Schutz - und Trutzbund‘, im ‚Bund völkischer Lehrer‘, im ‚Deutschbund‘, in der ‚Deutschen Glaubensbewegung‘59 und in den Kreisen für biologische Lebensführung. Seit zwanzig Jahren diene ich schriftstellerisch der Aufgabe der Glaubenserneuerung, erst in der Hoffnung, eine deutschgeartete Umstellung des Christentums erreichen zu können, dann mehr und mehr aus der Unmittelbarkeit des deutschen Wesens heraus unter besonderer Ver wertung von Märchen, Sagen, Volkskunde, Brauchtum und Vorgeschichte.“ Im Januar 1941 trat Schöll auch – offensichtlich primär aus taktischen Gründen – dem Kampfring Deutscher Glaube60 und der Nordischen Glaubensgemeinschaft bei. Dessen ungeachtet fand Schöll mit seinem programmatischen Einigungsversuch bei keiner der oben angeführten völkisch - religiösen Gruppierungen öffentliche Zustimmung. Allenfalls einzelne Funktionsträger wie Marie Eckert von der Nordischen Glaubensgemeinschaft, Camilla Neupert vom Kampfring Deutschen Glaubens oder der altkatholische Pfarrer Anton Maschek - Gruber vom Katholisch - Nationalkirchlichen Volksverein, mit dem sich ein umfangreicher theologisch - politischer Briefwechsel entwickelte, begrüßten grundsätzlich sein Vorhaben. Stellvertretend sei hier auf die Reaktion Wilhelm Kusserows, des Leiters der Nordischen Glaubensgemeinschaft, eingegangen. Auch Kusserow glaubte, dass man gegenwärtig „in der Zeit der großen Sammlung“ stehe. Diese Sammlung könne jedoch nicht durch einen völkischen Minimalkonsens und eine „milde Zusammenarbeit“ erreicht werden, sondern nur durch „eine Einigung auch der Organisationen“, und zwar auf der Grundlage „unserer Nordischen Weltanschauung“. Dies bedeutete für Kusserow : auf der Grundlage seines „Nordischen Artbekenntnisses“, das er als ein „Geschenk des Schicksals“ pries und gar mit Hitlers Parteiprogramm verglich. Die besten Aussichten für eine derartige Einigung sah Kusserow beim Kampfring Deutschen Glaubens. Die einzige Alternative hierzu sei „schärfster Kampf, bis sich entscheidet, wer der innerlich Stärkere ist. Und das wird sich schon bald erweisen.“ Wenn Schölls Arbeitskreis sich ihnen anschließe, werde Kusserow dessen Mitgliedern Möglichkeiten bie-

59 Schöll hatte 1933/34 der Deutschen Glaubensbewegung angehört und dabei an den „Grundlinien einer deutschen Glaubensunterweisung“ (1934) mitgearbeitet. Er zog sich dann – genauso wie Strünckmann – aus Unzufriedenheit mit Hauers Kurs zurück. 60 Im November 1941 hielt Schöll im Landesring Württemberg des Kampfrings zwei Vorträge über „Alter und neuer Glaube. Irrtümer der Vergangenheit, Richtlinien für die Zukunft“ und „Die Tragweite der nationalsozialistischen Weltanschauung“ ( NL Schöll). 1942 folgten weitere Vorträge.

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ten, „an der großen Arbeit der Gemeinschaft und ihren steigenden Fortschritten teilzunehmen“.61 Vor diesem Hintergrund ver wundert es nicht, dass an der Erbsener Zusammenkunft fast nur völkisch - religiöse Sektierer teilnahmen, auch wenn sich diese selbst teilweise als „führende Köpfe der religiösen Bewegung“62 betrachteten. Als Teilnehmer, die sich auf Schölls erstes Rundschreiben gemeldet hatten, konnten Martin Bechthum, Georg Heinrich Davin, Friedrich Grünwald, Hermann Hegenwald, Hugo Petersen, Heinrich Roggenthien, Friedrich Schöll, Karl Strünckmann, Rudolf Walbaum und William Wauer nachgewiesen werden. Eingeladen waren außerdem Georg Casper, Johannes Resch, Theodor Scheffer,63 Aloys Wöll und der oben erwähnte Leiter der Chamberlain - Vereinigung, Felix Eichler. Der evangelische Pfarrer Dr. phil. Martin Bechthum (1907–1949)64 hatte nach dem Besuch des Städtischen Gymnasiums in Göttingen von 1929 bis 1933 dort und in Jena Theologie studiert. Von 1935 bis 1937 war er in verschiedenen Ortschaften in Thüringen als Vikar tätig. Im März 1937 trat Bechthum eine Stelle als Hilfspfarrer bzw. Pfarrer in Serba an. Im Juni 1941 wurde er mit einer Arbeit über „Beweggründe und Bedeutung des Vagantentums in der lateinischen Kirche des Mittelalters“ an der Universität Jena promoviert. Bechthum leitete 1934/35 die Göttinger Ortsgruppe der Volkskirchlichen Deutschen Glaubensbewegung ( Krause - Bewegung ) und sprach auf einer Tagung des Gaus Südhannover - Braunschweig über „Unsere Bewegung und die ‚heilige Schrift‘“.65 Später wurde er Mitglied im antisemitischen Bund für Deutsches Christentum, der die kirchenpolitischen Interessen der Nationalkirchlichen Bewegung verfolgte, und war 1942/43 für diesen Bund in Hannover tätig. Der Ingenieur Georg Heinrich Davin (1880–1970)66 aus Bremen hatte sich in den 1920er Jahren – damals noch in Kassel – der Deutschen Werkgemein61

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Wilhelm Kusserow an Friedrich Schöll vom 19. 3. 1941 ( NL Schöll ). Kusserow verweist in diesem Zusammenhang auf den zurückliegenden Anschluss von „500 Freireligiösen“, „die sich gut eingelebt haben, wenn sie auch noch eine Art verhältnismäßig selbständige Gemeinschaft mit gewissen Reservatrechten bilden“. So William Wauer an Friedrich Schöll vom 8. 5. 1941 ( NL Schöll ). Zu dem mit Schöll befreundeten Theodor Scheffer, der dem „Deutschen Orden“ angehört hatte und damals an der Universität Jena „pädagogisch - politische Vorlesungen“ hielt, vgl. Justus H. Ulbricht, „Die Heimat als Quelle der Bildung“. Konzeption und Geschichte regional und völkisch orientierter Erwachsenenbildung in Thüringen in den Jahren 1933 bis 1945. In : 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule Jena. Hg. von der Volkshochschule Jena, Rudolstadt 1994, S. 183–217; Bettina Irina Reimers, Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933, Essen 2003, S. 228–233. Angaben nach Landeskirchenarchiv Eisenach, Thüringer Pfarrerkartei; Archiv der Friedrich - Schiller - Universität Jena, Studentenkartei. Die umfangreiche Personalakte zu Bechthum im Landeskirchenarchiv Eisenach ( G 1700) konnte nicht ausgewertet werden. Vgl. hierzu die Angaben in der Zeitschrift „Vollendung“, 11 (1934), passim. Angaben nach Meldekartei und Mitteilungen des Staatsarchivs Bremen vom 12. 2. 2010. Eine von Davin selbst dem Staatsarchiv Bremen übergebene umfangreiche Mappe (9, S3 : G. H. Davin ) konnte nur punktuell ausgewertet werden.

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schaft Otto Dickels angeschlossen und dann nach dem Vorbild Dickels67 in Bremen eine Ausgleichskasse gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte Davin die Deutsche Werkgemeinschaft bis zu seinem Tod als Freundeskreis weiter. Dickels Werkgemeinschaft hatte 1924/25 vorübergehend der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft angehört68 und in ihren Zeitungen – „Volk Freiheit Vaterland“ (1923–1935) und „Deutsche Freiheit“ (1932–1938) – scharfe Angriffe gegen das Christentum gerichtet. Davin vertrat jedoch eine esoterische Variante des Christentums und betrachtete in seinem Erbsener Vortrag ein neues Verständnis der Taufe als Ziel der Glaubenseinigung : „Die Taufe zu einer Einrichtung zu machen, die mehr ist als [...] eine unverstandene Zeremonie, zu etwas zu machen, das den Menschen das ganze Leben hindurch als ein Segen begleitet, das ist eine Gemeinschaftsarbeit, die unseren Bestrebungen, eine deutsche Glaubenseinung herbeizuführen, die richtige Weihe und Kraft geben wird. Dass die Erforschung der Geschichte der Taufe die eigentlichen Quellen des Christentums aufdecken wird und dass ein neues Licht auf das Wesen der Religion fallen wird, das sei hier nur am Rande vermerkt.“69 Grünwald (1882–1976) und Wöll (1892–1970), beide aus Essen, kamen offenbar aus der bereits 1935 von den Nationalsozialisten aufgelösten lebensreformerischen Neugeistbewegung – dem Kreis um die Zeitschrift „Die weiße Fahne“, in der auch Strünckmann publiziert hatte.70 Der Autodidakt Grünwald schrieb Schöll, er habe sich seit dreißig Jahren als „Wahrheitssucher“ betätigt und zeitweise eine Gesellschaft für Geistwissenschaft geleitet.71 Alle Tagungsteilnehmer erhielten von ihm ein Manuskript mit dem Titel „Das Geheimnis unseres Daseins“. Ebenfalls aus Essen kam Georg Casper (1878–1956), ein ehemaliger katholischer Priester ( zuletzt Kaplan in Berlin - Tegel ), der um 1906 aus der Kirche ausgetreten war und seitdem als Redakteur der Nachrichtenagentur Wolffs Telegraphisches Bureau ( W.T.B.) tätig war. Casper hatte, nachdem im Frühjahr 1921 „die Erkenntnis“ über ihn gekommen war, im Johannes Baum Verlag die Schrift „Der Weg zu Gott. Das Wissen von Gott“ (1925) veröffentlicht und war mit Strünckmann befreundet. 1942 unternahm der „Alt - Parteige-

67 Vgl. Otto Dickel, Arbeitsbeschaffung durch Ausgleichskassen, München 1932. 68 Vgl. hierzu die Hinweise in Der Weihwart, 3 (1924) und 4 (1925). Nach ihrem Pfingsten 1925 erfolgten Ausschluss gründeten Dickels Anhänger eine Germanische Glaubens- Gemeinschaft Südmark e. V. Eine historische Untersuchung zur Deutschen Werkgemeinschaft wäre dringend geboten. 69 Georg Heinrich Davin, Meine lieben Freunde, 2. 9. 1941 ( NL Schöll ). 70 Vgl. etwa Karl Strünckmann, Was will werden ? In : Die weiße Fahne, 3 (1930), Nr. 11 (März ). Obwohl die 1922 gegründete deutsche Neugeistbewegung sehr viele Anhänger fand und eine wichtige Rolle innerhalb der Lebensreformbewegung spielte, liegt über sie noch keine historische Darstellung vor. Zur völkischen Ideologie der deutschen Neugeist - Bewegung vgl. immerhin Wolfgang R. Krabbe, „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreform - Bewegung ist der Nationalsozialismus“. Zur Gleichschaltung einer Alternativströmung im Dritten Reich. In : Archiv für Kulturgeschichte, 71 (1989), S. 431–461. 71 Friedrich Grünwald an Friedrich Schöll vom 14. 10. 1941 ( NL Schöll ).

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nosse“ den Versuch, seine ungedruckte Schrift „Nostea, die Lehre vom Erkennen des Wahren und vom richtigen Handeln“ Hitler zu übermitteln.72 Der Chemiker und Ingenieur Hugo Petersen (1863–1957)73 aus Berlin - Steglitz hatte 1932 in einem lyrisch gefassten „Weckruf“ für den Aufbau einer christlichen Deutschen Volksgemeinde plädiert, die sich von „Rom und Juda“ gelöst, den „Bruderkampf“ zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten im Geiste Christi überwunden, die Planwirtschaft eingeführt und mit Frankreich und Russland versöhnt hat. Von den deutschen Juden wird in diesem Staat eine Aufgabe ihrer Religion erwartet : „Und ihr vom Volke Israel, befreit euch von dem Judentum. Schließt eure Synagogen ! Wandelt euch !“74 Die Broschüre enthält auch den Entwurf eines monumentalen deutschen „Doms“, in dem die aus regionalen „Ratsgemeinden“ und ihren „Kanzlern“ bestehende Führung des Volkes Platz finden sollte. 1935 lieferte Petersen mit „Der Weltgott. Ein Bekenntnis“ einen eigenen Glaubensentwurf, der eine durchaus moderne, nämlich mystisch geprägte, dabei aber naturwissenschaftlich haltbare Gottesvorstellung verkündete, die in einer christlich - pazifistischen Tradition stand und keinerlei völkische Züge aufwies. Diese Schrift fand damals besonders bei Freireligiösen wie Walbaum Anklang. 1941 war Petersen mit einer „Umarbeitung“ seines Buches beschäftigt, die davon ausging, dass das Christentum in einer künftigen „deutschen Religion“ keine Rolle mehr spielen werde. In einem Brief erklärte er, dass er sich nach 1933 erst von Jesus Christus und zuletzt auch von Gott freigemacht habe, und berichtete von einer „kurzen Abhandlung“, die nach dem Krieg unter dem Titel „Welt ohne Gott“ erscheinen sollte.75 Eine Neuausgabe von „Der Weltgott“ kam erst 1955, kurz vor Petersens Tod, unter dem Titel „Wesen und Sinn der Welt. Der neue Lebensglaube“ zustande.76 Erwähnt werden sollte 72 Akten der Partei - Kanzlei der NSDAP Teil 1, Band 1. Bearb. von Helmut Heiber, München 1983, S. 720. 73 Hugo Petersen hatte nach dem Besuch des Gymnasiums in Rendsburg Chemie studiert. Um 1886 wurde er Chemiker und später Betriebsleiter der Lazyhütte des Montanindustriellen Hugo Graf Henckel von Donnersmarck in Radzionkau ( Oberschlesien ). 1906 gründete er in Berlin ein Ingenieurbüro für die chemische und metallurgische Industrie, das vor allem im Anlagenbau zur Herstellung von Schwefelsäure und Oleum tätig war. 1900 erschien sein offenbar von Grabbe inspiriertes Trauerspiel „Herzog Gothland“, 1908 das gegen die preußischen Kriegervereine und das Reserveoffizierwesen gerichtete Schauspiel „Kulturfeinde“. Petersens Vater war der ehemalige Landwirt und Ökonomierat Carl Petersen (1835–1909), der als „Förderer der deutschen Landwirtschaft“ bekannt wurde. Vgl. Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearb. von Franz Brümmer, 6. Auf lage Leipzig o. J. (1913), Band 5, S. 261; Otto Rönnpag, Geheimer Ökonomierat Carl Petersen, Eutin – Förderer der deutschen Landwirtschaft. In : Jahrbuch für Heimatkunde Eutin, 33 (1999), S. 118–123. 74 Hugo Petersen, Weckruf, Berlin 1932, S. 25. 75 Hugo Petersen an William Wauer vom 12. 8. 1941 ( NL Schöll ). Das achtseitige Schreiben Petersens wurde mit dem Vermerk „Streng vertraulich !“ offenbar auch den anderen Mitgliedern des Bundes Deutsche Glaubenseinung zugeleitet. 76 Als Verfasser der Schrift wird Friedrich Wilhelm Petersen angegeben; hinter diesem Namen verbirgt sich jedoch Hugo Petersen, der offenbar verhindern wollte, dass man die Verbindung zu der Schrift „Der Weltgott“ aus der NS - Zeit erkannte.

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noch, dass Petersen, eigenen Angaben zufolge, nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied der Sozialisierungskommission der USPD und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Techniker gewesen war. Im Verlag von Adolph Hoffmann, dem damaligen Vorsitzenden der Berliner Freireligiösen Gemeinde und preußischen Kultusminister, veröffentlichte er die Broschüre „Die deutsche Räterepublik. Ein Vorschlag für ihre Verfassung“ (1919), wenig später erschien „Die Voraussetzungen für die Diktatur des Proletariats. Ein Mahnwort an Arbeiterschaft und Bürgertum“ (1920). Eine interessante Gestalt ist der ehemalige Studienrat Johannes Resch (1875– 1961), Sohn eines thüringischen Kirchenrats und Oberpfarrers.77 Resch hatte 1919 zunächst die Remscheider Volkshochschule und 1922 die Freie Proletarische Volkshochschule begründet und zusammen mit seinen Kursteilnehmern überregional beachtete Volksfeste mit Theater - und Gesangsaufführungen, Tanzspielen, Kunstausstellungen, Vorträgen und „freien Aussprachen“ organisiert. Beteiligt daran waren u. a. Kurt Kläber, Heinrich Vogeler, Friedrich Wolf, Friedrich Muck - Lamberty und Max Schulze - Sölde sowie die religiösen Sozialisten Emil Fuchs und Hans Hartmann. Resch war 1920 zunächst der USPD und im Folgejahr der KPD beigetreten. Nach seinem 1928 erfolgten Umzug nach Berlin war Resch von Januar 1929 bis Mai 1932 als Studienrat am Sophien - Gymnasium tätig, engagierte sich aber weiterhin für die KPD, etwa als Dozent der Marxistischen Arbeiter - Schule ( Masch ) und als Mitarbeiter der KPD - Zeitschrift „Der rote Aufbau“. Für 1933/34 ist seine Mitarbeit an illegalen Druckschriften des BB - Apparats („Klub der Geistesarbeiter“) der KPD belegt. Danach tauchte Resch angeblich unter, wurde jedoch im Januar 1936 verhaftet und für zehn Wochen in Schutzhaft genommen. Ein Strafverfahren gegen ihn musste eingestellt werden, weil keine gerichtsverwertbaren Unterlagen über seine illegalen Aktivitäten beizubringen waren. Nach der Haft beschloss der gesundheitlich labile Resch, sich in das historische „Geschehen“ und den „kulturellen Aufbau der Gegenwart“ tätig einzuordnen, und unternahm erste schriftstellerische Versuche. In einem Aufsatz „Zum Kampf um die neue Tragödie“, den er im Januar 1941 in der „Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie“ publizierte, lässt er ausgehend von dem „durch und durch unchristlichen“ und „von der Kirche durchaus zu Recht verfolgten“ Meister Eckhart seine Sympathie für eine „ger77 Zu Resch vgl. Erhard Lucas, Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung, Basel 1983, S. 133–162; Wolfgang Fey, Volksfeste und Kulturtage in der Volksbildungsbewegung Remscheids und ihre Bedeutung für die Freie Proletarische Volkshochschule Remscheid 1922 bis 1927, Diplomarbeit Wuppertal 1984; ders., Krisengefühl und Aufbruchsstimmung. Die Remscheider Volkshochschulbewegung um Johannes Resch, Teo Otto und die „Gemeinschaft“ 1920–1922. In : Teo Otto (1904–1968). Der Bühnenbildner, der Maler, der Lehrer. Hg. von der Stadt Remscheid, Bottrop 2000, S. 66–81; ders., Friedrich Wolfs Abschied von Remscheid. In : Einspruch, 10 (2002), S. 27–38; Werner Lauff, Johannes Resch und die Freie Proletarische Volkshochschule Remscheid. Hg. vom Bergischen Geschichtsverein Abt. Remscheid, Remscheid 2006. Von den genannten Arbeiten geht allerdings nur Lauff, Johannes Resch, auf die Aktivitäten von Resch nach 1927 ein.

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manisch - deutsche Volksreligion“ erkennen.78 Resch arbeitete zu dieser Zeit – von Berlin aus – als Lektor für den Alemannen Verlag ( Albert Jauß ) und den Tazzelwurm–Verlag ( Albert Jauß ) in Stuttgart79 und veröffentlichte im Alemannen Verlag selbst Lebensbilder von Großadmiral Alfred von Tirpitz, Rainald von Dassel und Freiherr vom Stein, die der „Wehrbetreuung“ der Luftwaffensoldaten dienen sollen.80 Zum 1. April 1941 wurde er in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen. Im Auftrag des Reichswerkes Buch und Volk unternahm Resch noch bis Januar 1945 mehrere Vortragsreisen. Ähnlich wechselhaft ist die Biografie des Theater - und Filmregisseurs, Filmproduzenten, Kunstmalers und Bildhauers William Wauer (1866–1962), der ebenfalls einen Pfarrer zum Vater hatte und der bereits 1891 unter dem Pseudonym Wilhelm Pförtner die gegen das Christentum gerichtete Schrift „Die Lösung des Welträthsels. Ein Aufruf zum Kampf“ verfasst hatte.81 Wauer hatte sich seit 1913 und besonders in der Weimarer Republik einen Namen als fortschrittlicher Filmemacher und expressionistischer, später kubistischer Künstler gemacht. Bekannt wurden etwa seine Porträtbüsten von Her warth Walden, Albert Bassermann, Friedrich Ebert und Hindenburg. Er arbeitete als Lehrer an der Sturm - Kunstschule und verfasste zusammen mit Her warth Walden den revolutionären Aufruf „Die Lösung der Rätefrage. Bericht der Rätekommission des Arbeitsbundes für sofortige Sozialisierung“ (1919). Seine künstlerischen Werke wurden von den Nationalsozialisten zur „entarteten Kunst“ gerechnet. Als ehemaliger „Sturm“ - Mitarbeiter wurde Wauer 1941 von der Reichskulturkammer mit einem Arbeitsverbot belegt; einige seiner Werke wurden beschlagnahmt. Bereits 1940 begann jedoch eine Phase in seinem Leben, die Wauer nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich verschwieg und die auch seinen Biographen bis heute unbekannt blieb. In diesem Jahr gründete Wauer in Berlin eine esoterische Arbeitsgemeinschaft Deutsches Urtum,82 die durch Schulungskurse eine 78 Hans Resch, Zum Kampf um die neue Tragödie. In : Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie, 7 (1941), S. 63–73. Der Aufsatz behandelt vornehmlich die Dramen von Curt Langenbeck und Ernst Bacmeister. 79 Schöll hatte im Februar 1941 nach der Schließung des Verlags von Erich Röth ins Auge gefasst, seine ungedruckten Schriften im Tazzelwurm - Verlag erscheinen zu lassen, und Resch vermutlich in diesem Zusammenhang kennen gelernt. Vgl. den Briefwechsel zwischen Schöll und Röth von 1941 ( NL Schöll ). 80 Hans Resch, Großadmiral Alfred von Tirpitz. Lebensbild und Aufruf. Hg. vom Luftwaffenführungsstab Ic / VIII, Stuttgart o. J. (1942); Gestalter des Reiches. Rainald von Dassel, Friedrich Karl vom Stein, Otto von Bismarck. Hg. von der Wehrbetreuung der Luftwaffe, Stuttgart o. J. (1943). Da Lauff, Johannes Resch, nicht beachtet, dass Johannes Resch während des Zweiten Weltkriegs unter dem Namen Hans Resch veröffentlichte, ignoriert er dessen Publikationen. 81 Zu Wauer vgl. den Ausstellungskatalog William Wauer. Skulpturen und Gemälde, Basel 1979; ferner sehr kenntnisreich Jerzy Masnicki, William Wauer – Regisseur, Autor, Produzent ( www.cinegraph.de / lexikon / Wauer_William / biografie.html, 18. 10. 2010 – mit weiteren Literaturhinweisen ). 82 Die Arbeitsgemeinschaft „Deutsches Urtum“ ist erstmals durch eine Anzeige in der Nordischen Zeitung, 9. Jg., Folge 7 ( Neblung 1940), S. 13, belegt. Darin werden „aktive Mitarbeiter aus der völkisch - religiösen Bewegung“ gesucht.

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völkische Religion zu verbreiten suchte und dabei den transzendenten Gottesbegriff durch den immanenten Begriff „Ur“ ersetzte. Ihr Geschäftsführer war der Verleger Friedrich Mahnke in Verden.83 „Ur“ wurde von Wauer als „die schöpferische Kraft und Fähigkeit, die jeder Mensch in sich fühlt“ oder auch als „das Göttliche in uns, das sich zu sich selbst entwickeln will“ definiert. Das „deutsche Urtum“ sei „nordischer Artung“ und jeder Volksgenosse habe die Pflicht, diese Erbanlagen auszuleben.84 Jesus Christus wurde von Wauer als kindliche „Märchenfigur“ und „Judenmessias“ ver worfen, Hitler dagegen als neuer Heiland gepriesen, der dem Volk „deutsches Urtum“ beispielhaft vorlebe: „Eine wahre frohe Botschaft, die frohe Botschaft, die uns Adolf Hitler kündet, lautet : ‚Werde, was du bist, ein wahrer Deutscher, und Du bist beglückt !‘ Wir sollen werden wie unser Führer, der ein Gottmensch ist, ein Heiland, ein Lichtmensch ! Wie eine Offenbarung letzter deutscher Heilserkenntnis warf Adolf Hitler seine Kündung in unsere Herzen und Hirne ! Er ist uns Prophet, Erzpriester und leuchtendes Vorbild als Prototyp deutschen Urtums, das er uns vorlebt. Er ist unser Heiland ! Unser Retter und Nothelfer! Seien wir seine Jünger, sein Gefolge, wie wir sein Volk sind ! Er muss der Mittelpunkt auch unseres religiösen Denkens werden, wie er der Mittelpunkt unseres politischen Denkens ist. Adolf Hitler ist sich seiner religiösen Sendung und Bedeutsamkeit nicht bewusst. Aber Jesus, der christliche Heiland, wusste ja auch nichts vom Christentum ! Unser Führer hat sich seinem Volke als Heiland bewiesen. Wir haben ihn als solchen erkannt und lieben und verehren ihn nach unserer Erkenntnis : er ist ein Wundertäter, wie es von jedem Heiland behauptet wird. Millionen, die mit Blindheit geschlagen waren, hat er wieder sehend gemacht. [...] Das größte Wunder ist er selbst!“85

Passend dazu malt Wauer nun Hitler - Aquarelle.86 Angesichts solcher Elogen überrascht es nicht, wenn Wauer sich 1941 zuerst an Hitler und dann – nach83 Als solcher erscheint Mahnke in den gedruckten Briefköpfen von Wauers Arbeitsgemeinschaft ( NL Schöll ). 84 So in W[ illiam ] Wauer, Eine neue Lehre steht auf ! Eine Darstellung der Lehre vom Ur, Manuskriptdruck, Berlin o. J. (1941). Das einzige Exemplar dieser 32–seitigen Broschüre, das nachgewiesen werden konnte, befindet sich im Institut für Zeitgeschichte München und weist eine Widmung des Verfassers an Reichsleiter Walter Buch auf, den Leiter des Obersten Parteigerichts der NSDAP. Auf dem Titelblatt ist angegeben, dass die Broschüre demnächst im Verlag Friedrich Mahnke ( Verden ) erscheinen werde. Die Verlagspublikation wurde jedoch verboten, weil Wauer in seiner Schrift unter der Überschrift „Und also kündet Adolf Hitler die Lehre von Ur“ den „Führer“ in die religiöse Auseinandersetzung hineingezogen hatte. Um 1959 veröffentlichte Wauer ein von seinen nationalsozialistischen Lobpreisungen gereinigtes „Buch von Ur“ als 300 - seitiges Typoskript im Selbstverlag. Dieses Buch muss aber zumindest als Manuskript bereits 1940 vorgelegen haben, da Wauer in seiner Broschüre und in den „Arbeitsblättern“ seiner Arbeitsgemeinschaft wiederholt Passagen daraus abdruckt und Schöll im Mai 1941 vorübergehend ein Exemplar zur Verfügung gestellt hat. Nach eigenem Bekunden hat Wauer das „Buch von Ur“ im Wesentlichen bereits 1922/23 verfasst, was allerdings höchst zweifelhaft erscheint. Wahrscheinlicher ist, dass Wauer in den 1920er Jahren (laut Masnicki nach einem Deutschlandbesuch von Rabindranath Tagore 1926) mit der Niederschrift begann und das Manuskript dann nach 1933 immer wieder erweitert und verändert hat. 85 Arbeitsgemeinschaft „Deutsches Urtum“, 16. Arbeitsblatt, Berlin - Tempelhof o. J. ( um 1941) ( Privatbesitz Knüppel ). Hervorhebungen im Original. 86 William Wauer an Friedrich Schöll vom 8.5 1941 ( NL Schöll ).

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dem er keiner Antwort gewürdigt wurde – an Goebbels persönlich mit der Bitte wandte, das Propagandaministerium möge die „Schulung der Nichtchristen“ durch die Arbeitsgemeinschaft Deutsches Urtum – also durch ihn – inoffiziell unterstützen. „Es wird leicht sein, die gottgläubigen Bewegungen alle in der Lehre von Ur zu einen, da ein Teil der Führerschaft sich der Lehre von Ur bereits anschließt. [...] Ein wohlwollendes Verhalten des Propagandaministeriums würde genügen, diese Einigung sehr bald und vollständig herbeizuführen. ( Die gottgläubigen Bewegungen berufen sich alle auf eine heimliche Zustimmung zu ihren Bestrebungen seitens Partei und Regierung.)“87 Das Propagandaministerium wies diese „plumpe Zumutung“ umgehend zurück. In einer letzten Mitteilung an den Sicherheitsdienst vom 10. Februar 1942 heißt es : „Da dieses ‚Urtum‘ unbelehrt trotzdem weiter seine Propaganda treibt, erscheint es angebracht, um größeren Schaden zu verhüten, diesen Verein aufzulösen.“88 Dieser Empfehlung ist man jedoch nicht gefolgt, wie aus einem Brief Wauers vom 21. März 1943 hervorgeht, in dem es heißt, dass er mit seiner „Arbeitsgemeinschafts - Korrespondenz kaum mehr fertig“ werde. „Aber es macht Freude, wenn die Lehre von Ur so ihren Weg macht.“89 Anfang Mai 1941 hatte Wauer, der von den Tagungsteilnehmern vor allem Petersen auf seiner Seite wähnte, das Ehepaar Schöll auf dem Vogelhof besucht und sich mit Schöll ausgesprochen;90 danach setzte eine umfangreiche Korrespondenz über den Wahrheitsgehalt seiner Ur - Lehre ein. Im Folgenden soll ausgehend von den Kurzbiografien und politisch - religiösen Aktivitäten der drei – neben Schöll – wichtigsten Tagungsteilnehmer die Vorgeschichte der Erbsener „Aussprache“ betrachtet werden. Heinrich Roggenthien (1889–1944), Sohn eines Landwirts aus Engelbostel bei Hannover, studierte von 1910 bis 1914 in Göttingen Theologie und meldete sich bei Kriegsausbruch als Freiwilliger.91 Er brachte es zum Leutnant der Reser ve und erhielt u. a. das Ehrenkreuz 1. und 2. Klasse. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Roggenthien Pastor der evangelischen Landeskirche Hannovers. Als solcher war er dann in Fallersleben ( heute zu Wolfsburg ), Bremervörde, Kuhstedt und zuletzt in Schiffdorf bei Bremerhaven tätig. Als Kriegsbeschädigter – Roggenthien hatte u. a. vor Verdun eine Hand verloren – wurde er auf eigenen Antrag im Oktober 1933 vorzeitig emeritiert und zog daraufhin mit seiner Familie nach Göttingen. Roggenthien war nach eigenen Angaben seit 1922 Mitglied der NSDAP und schloss sich 1932 den Deutschen Christen an. Nach dessen antisemitischer Rede

87 88 89 90

William Wauer an Joseph Goebbels vom 15 8 1941 ( Abschrift; BArch, NS 18/1145). Propagandaministerium an SD vom 10. 2. 1942 ( Abschrift; ebd.). William Wauer an Friedrich Schöll vom 21. 3. 1943 ( NL Schöll ). William Wauer an Friedrich Schöll vom 8. 5. 1941 ( NL Schöll ). Dem Brief zufolge hatte sich Wauer mehrere Tage auf dem Vogelhof aufgehalten. 91 Angaben nach Verzeichnis zu den Personalakten der Pastoren ( LKA Hannover ); Stadtarchiv Göttingen, Meldekarte Roggenthien und Sterberegister; Todesanzeige in der Südhannoverschen Zeitung vom 19. 8. 1944. Die Personalakten im Landeskirchlichen Archiv Hannover sind leider 1943 verbrannt.

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im Berliner Sportpalast schlug er sich auf die Seite des Studienrats Reinhold Krause und wurde im März 1934 Obmann des Gaus Südhannover - Braunschweig der Volkskirchlichen Deutschen Glaubensbewegung ( Krause - Bewegung), die sich damals formierte. Roggenthien schrieb nun regelmäßig für die „Vollendung“, ursprünglich ein Organ des Wehr wolfs mit Fritz Kloppe als Schriftleiter, jetzt das „Reichsblatt“ der Glaubensbewegung.92 Nach einem entsprechenden Beschluss der ersten Reichsführertagung der Glaubensbewegung wurde Roggenthien im Oktober 1934 Verleger der „Deutschen Volkskirche“, die die „Vollendung“ als „Reichsblatt“ der Glaubensbewegung ablöste. Als die Zeitschrift zum 3. Februar 1935 in „Unsere Volkskirche“ umbenannt wurde – mit dem Untertitel „Kampfblatt für eine wahre deutsche volkskirchliche Erneuerung, für deutsche Art und deutschen Glauben, für religiöse Freiheit, gegen biblischen Zwangsdogmatismus und kirchliche Unduldsamkeit“ – stellte man Roggenthien mit Dr. phil. Erich Mascke aus Göttingen einen zweiten Verlagseigner an die Seite, der ihn außerdem als Gauobmann ablöste. Für die Zeitschrift schrieben neben Roggenthien die ehemaligen Pfarrer Hans Falck ( vormals Bund für deutsche Kirche ),93 Franz Otto Hennecke, Erich Hentschel und Rudolf Holland, ferner der Volksschullehrer Karl Laucke aus Görsbach bei Nordhausen, Dr. phil. Leonard Galley aus Schnega bei Uelzen, Friedrich W. Ivers aus Hamburg, der Göttinger Volkswirt und Bundesführer der Volksdeutschen Gemeinschaft Karl Nüse oder auch Johannes von Leers. Möglicherweise hatte Roggenthiens allmähliche Distanzierung auch damit zu tun, dass er inzwischen nicht mehr Krause, sondern den Kieler Theologen Hermann Mandel, der sich, aus dem Bund für deutsche Kirche kommend, mit seinen Anhängern der Volkskirchlichen Deutschen Glaubensbewegung angeschlossen hatte, als „geistigen Führer unseres Kampfblattes“ und sogar „einer wahren deutschen Glaubensbewegung überhaupt“ betrachtete. Trotz mancher Affinitäten folgte Roggenthien jedenfalls Krause nicht, als dieser sich im November 1935 der Deutschen Glaubensbewegung Wilhelm Hauers anschloss, sondern gründete alsbald eine eigene Kampfgemeinschaft für deutsche christliche Kirche, die er als rechtmäßige Nachfolgeorganisation der Volkskirchlichen Deutschen Glaubensbewegung betrachtete und als deren „Reichsleiter“ er auftrat.94 Gleichzeitig verbündete er sich mit dem freiprotestantischen Pfarrer Rudolf Walbaum aus 92 Zur Verbindung zwischen dem Wehrwolf und der Deutschen Glaubensbewegung, später der Volkskirchlichen Deutschen Glaubensbewegung vgl. Dietrolf Berg, Der Wehrwolf 1923–1933. Vom Wehr verband zur nationalpolitischen Bewegung, Toppenstedt 2008, S. 367 ff. 93 Falck hatte für die 33. Auf lage (1933) des von Theodor Fritsch herausgegebenen „Handbuchs der Judenfrage“ das Kapitel über „Die deutsch - religiösen Bestrebungen der neueren Zeit“ verfasst. 94 Vgl. hierzu Kurt Hutten, Sonstige nationalkirchliche Bestrebungen II. Mit christlichem Einschlag. In : Materialdienst, 8 (1936), Sp. 173–180, hier 173 f. Strünckmann zufolge stand die Kampfgemeinschaft für deutsche christliche Kirche auch mit dem westpreußischen NS - Pfarrer Julius Kuptsch in Verbindung. Vgl. Strünckmann, Das letzte Ziel, S. 5.

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Alzey, der seit Jahren darum bemüht war, seine Religionsgemeinschaft Freier Protestanten auf das gesamte Reichsgebiet auszudehnen, und zu diesem Zweck einen Freien Freundeskreis dieser Religionsgemeinschaft ins Leben gerufen hatte. Während Walbaum sich nun „geistlicher Reichsleiter“ seiner Religionsgemeinschaft nannte, fungierte Roggenthien als „geistlicher Leiter“ des Freundeskreises.95 Gemeinsam begründeten Walbaum, Roggenthien und der „Priesterarzt“ und Schöll - Freund Karl Strünckmann96 im Mai 1936 die Wochenschrift „Deutsche Glaubensfreiheit“ mit dem Untertitel „Ohne Juda, ohne Rom – bauen wir den deutschen Dom. Sammelruf zur deutschen Kirche arteigenen, überkonfessionellen positiven Christentums“,97 die ausdrücklich als „neue Folge“ von „Unsere Volkskirche“ und Walbaums Organ „Der Freiprotestant. Deutschunitarische Blätter“, das zuletzt für 1930 nachgewiesen werden kann, erschien. Das neue Blatt übernahm auch die Jahrgangszählung des „Freiprotestant“. Roggenthien wurde Herausgeber der Wochenschrift; als Hauptschriftleiter wird im Impressum der Verleger Gustav Sauerbrey aus Clausthal - Zellerfeld genannt, während Walbaum lediglich als „Sachbearbeiter des Textteiles“ angeführt wird. Faktisch wurde die Wochenschrift jedoch von Walbaum redigiert, was dieser später auch Schöll mitteilte. Entweder wollte sich Walbaum mit Rücksicht auf seine Gemeindemitglieder nicht stärker exponieren – oder aber man befürchtete polizeiliche und juristische Verfolgungsmaßnahmen und wählte aus diesem Grund einen unverdächtigen Strohmann als Schriftleiter. Sauerbrey jedenfalls, Inhaber der Pieperschen Buchdruckerei und Verlagsanstalt, verfasste keinen einzigen Beitrag für das von ihm verlegte Blatt. Zu den Mitarbeitern der Zeitschrift, von der bis zum 27. September 1936 fünfzehn Nummern erschienen, gehörten neben Walbaum, Roggenthien und Strünckmann erneut Karl Laucke, Friedrich W. Ivers und Leonard Galley, ferner die freireligiösen Pfarrer Clemens Taesler und Max Gehrmann, die evangelischen Pfarrer Joachim Fründt aus Lübz ( Mecklenburg ), Wolf Goegginger aus Riga98 und Hugo Rönck aus Weimar, der im Fol95 Vgl. Deutsche Glaubensfreiheit, Jg. 7, Nr. 1 (30. 5. 1936). Walbaums Biografie und die Geschichte der Religionsgemeinschaft Freier Protestanten, die Walbaum fast 40 Jahre lang geleitet hat, sind bislang nicht ernsthaft untersucht worden. Einige Hinweise liefern Blankertz, Rudolf Walbaum zum Gedächtnis. In : Glaube und Tat vom 1. Juni 1948, S. 1 ( Exemplar im Archiv der Deutschen Unitarier, Kassel ); Herbert Todt, „Wir wollen unitarische Religion neu begründen !“. Zum 100. Geburtstag von Rudolf Walbaum. In: Unitarisches Mitteilungsblatt, Nr. 1 von Februar / März 1970, S. 1–5; Stephan Kalk, Vernunft und Freiheit. 125 Jahre Freie Religion in Alzey, Alzey 2001. 96 Dass Strünckmann zu den Mitbegründern der Wochenschrift gehörte, geht hervor aus Rudolf Walbaum, Erläuterungen zum Traum der religiösen Einigung unseres Volkes. In: Mitteilungsblatt der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands vom 1. 6. 1941, unpag. 97 Den Slogan „Ohne Juda, ohne Rom – bauen wir den deutschen Dom“ hatten die Zeitungsgründer von dem österreichischen Politiker Georg von Schönerer übernommen. 98 Der begeisterte Nationalsozialist Goegginger (1911–1999), der sich 1931 der NSDAP und im Folgejahr den Deutschen Christen angeschlossen hatte, wurde im Juni 1940 zum Prediger der freireligiösen Gemeinde Mannheim gewählt, trat sein Amt dort aber erst 1946 an, weil er zunächst mit Unterstützung des Ahnenerbes in Heidelberg promovierte und dann zur Waffen - SS einberufen wurde. Von 1952 bis 1978 war Gögginger als

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gejahr zum Leiter der Abteilung Jugend der Nationalkirchlichen Einung avancierte und sich 1943 zum Präsidenten der Thüringer evangelischen Kirche küren ließ, der bereits erwähnte Hugo Petersen sowie der Lebensreformer und Schriftleiter der „Neuform - Rundschau“ Werner Altpeter aus Berlin. Eine weitere Verbindung zu Schöll stellte der Wagner - Forscher Dr. phil. Rudolf Grisson dar, der 1935/36 als Lehrer an der Hellaufschule Vogelhof tätig war und in seinem Beitrag die „religiöse Wiedergeburt durch den Parsifalmenschen“ erhoffte.99 Von besonderer Bedeutung ist ein äußerst positiver Bericht Strünckmanns über eine Arbeitstagung der Thüringer Deutschen Christen im Juni 1936 in Weimar, an der u. a. Siegfried Leff ler, Hans Hohlwein, Walter Grundmann und Richard Barth teilnahmen.100 Strünckmann glaubte, hier eine religiöse Zukunftsperspektive zu entdecken, und ausgehend von dessen Bericht bot Walbaum den Thüringer Deutschen Christen den Raum seiner „Deutschen Glaubensfreiheit“ an. Aufschlussreich für die Haltung Walbaums und der süddeutschen Freireligiösen ist auch die Ankündigung einer Arbeitstagung der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands, die im August 1936 in Ober - Ingelheim stattfand und bei der die freireligiösen Pfarrer Georg Pick, Max Gehrmann, Clemens Taesler und Walbaum sowie der Volksschullehrer Jakob Koch aus Ober - Ingelheim und der Architekt Hugo Brosius aus Dornholzhausen bei Bad Homburg, der dort die Siedlung „Neuland“ ins Leben gerufen hatte, als Redner auftraten. Die Leitidee der Arbeitstagung lautete : „Religion aus Blut und Boden und die positiven Werte des Christentums.“ Das Ziel müsse der „Aufbau einer deutschen Kirche der Zukunft“ sein. Rudolf Walbaum (1869–1948), Sohn eines Landpfarrers aus Egestorf in der Lüneburger Heide, hatte in Leipzig, Greifswald und Göttingen Theologie studiert und war zunächst als Hilfsprediger in der Provinz Hannover tätig. 1901 übernahm er eine Stelle als Vikar in Wiener Neustadt ( Niederösterreich ), um dort Georg von Schönerers Los von Rom - Bewegung zu unterstützen.101 1903 wurde er Pfarrer in Haida ( Nordböhmen ). 1909 bewarb er sich dann erfolgreich für das Predigeramt der Religionsgemeinschaft Freier Protestanten in Alzey. Walbaum hatte spätestens seit 1930 gezielt Verbindungen zu völkischen Kreisen gesucht. So besuchte er im April 1930 die von Max Schulze - Sölde veranstaltete „Religiöse Woche“ in Hildburghausen ( Thüringen ), die eine neue Pfarrer von deutschen evangelischen Gemeinden in Toronto und Detroit tätig. Vgl. Wolf Goegginger, Mein Weg zu Hitler. In : Vollendung, Jg. 11, Nr. 30 (29. 7. 1934); Karl Weiß, 125 Jahre Kampf um freie Religion. Dargestellt an der geschichtlichen Entwicklung der Freireligiösen Landesgemeinde Baden, Mannheim 1970, S. 197 und 205; Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reichs, München 2006, S. 286 ff. 99 Rudolf Grisson, Die religiöse Wiedergeburt durch den Parsifalmenschen. In : Deutsche Glaubensfreiheit, Jg. 7, Nr. 9 (16. 8. 1936). 100 Karl Strünckmann, Was lehrt uns Weimar ? ( Juni 1936). In : Deutsche Glaubensfreiheit, Jg. 7, Nr. 3 (5. 7. 1936), und Nr. 4 (12. 7. 1936). 101 Zur Los von Rom - Bewegung vgl. Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u. k. Monarchie, Wien 2005, S. 428 ff.

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Religion als „Synthese der deutschen Volksseele“ vorbereiten und „die reine Christus - Idee in den Mittelpunkt der deutschen Wiedergeburt“ stellen wollte. Zu den Rednern gehörten hier Georg Groh, Maria Groener, Friedrich Muck Lamberty und Karl Strünckmann.102 Im August 1932 hatte Walbaum mit seiner Tochter, der Kindergärtnerin Liselotte Walbaum, und dem freireligiösen Prediger Georg Elling, einem ehemaligen Priester, der wenig später der SS beitrat und Kirchenreferent im SD - Hauptamt wurde,103 an der Arbeitsgemeinschaft Vogelhof teilgenommen.104 Diese Arbeitsgemeinschaft, auf der u. a. Ludwig Fahrenkrog, Wilhelm Hauer, Paul Krannhals, Theodor Scheffer, Wilhelm Schloz und Georg Stammler sprachen, gab vermutlich den Anstoß zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung im Folgejahr. Im April 1933 war Walbaum unter den Teilnehmern der vierten „Biologischen Woche“ in Blankenburg ( Harz ), die unter dem Titel „Boden und Brot in ihrer Bedeutung für Deutschlands Neuaufbau“ von Karl Strünckmann geleitet wurde. Bei dieser Zusammenkunft wurde ein erst im Januar 1933 gegründeter Ring religiöser Revolutionäre unter Hinweis auf die durch die Machtübernahme Hitlers erfolgte politische Revolution aufgelöst und zur Stillen Front – Pioniere der dritten Kirche umgebildet.105 Die Führung dieser Stillen Front, die eine kirchlich - religiöse Einheit des deutschen Volkes anstrebte, wurde laut Strünckmann Walbaum „anvertraut“.106 Auch an der Eisenacher Gründungstagung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung im August 1933 nahmen Margarete MüllerSenftenberg,107 Strünckmann und Walbaum als Vertreter der Stillen Front teil. Als Strünckmann und der Blankenburger Kaufmann und Philosoph Johannes Weigle Weihnachten 1933 zu „religiösen Gesprächen“ einluden und dabei schon wieder eine neue Vereinigung namens Heil - Land – Nordisch - evangelischkatholische Arbeitsgemeinschaft ins Leben riefen, bestand die Stille Front unter Walbaums Führung zunächst weiter. Allerdings wird sie in der „Deutschen Glaubensfreiheit“ nicht mehr erwähnt, weshalb zu vermuten ist, dass sie das Jahr 1935 nicht überdauert hat. Einig waren sich Strünckmann und Walbaum vor

102 Vgl. Ulrich Linse, Barfüßige Propheten, S. 145 ff; ferner den Bericht von Georg Groh, Nordisch - Germanischer Glaube in der Öffentlichkeit. In : Rig, 5 (1930), S. 64 f. 103 Während des Krieges war Elling für den deutschen Auslandsnachrichtendienst tätig und wurde zuletzt als „Nazi - Spion“ im Vatikan eingesetzt. 104 Gästebuch Siedlung Vogelhof ( NL Schöll ). 105 Hintergrund des Namens war Friedrich Lienhards Schrift „Die Stillen im Lande – sind auch die Starken“ (1928). Lienhard hatte allerdings schon 1914 im Mottogedicht seines Manifests „Deutschlands europäische Sendung“ „die Stillen im lauten Land“ gegrüßt. Vgl. Justus H. Ulbricht, „Deutsche Renaissance“. Weimar und die Hoffnung auf die kulturelle Regeneration Deutschlands zwischen 1900 und 1933. In : Jürgen John / Volker Wahl ( Hg.), Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Jena - Weimar, Weimar 1995, S. 191–208, hier 206. 106 Karl Strünckmann, „Heil - Land“. In : Heil - Land, Jg. 1, Nr. 1 (1. 2. 1934), unpag. ( Exemplar im NL Alfons Paquet, UB Frankfurt a. M.). 107 Zu Margarete Müller - Senftenberg vgl. Fabio Ricci, Ritter, Tod und Eros. Die Kunst Elisàr von Kupffers (1872–1942), Köln 2007, S. 254 ff.

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allem in ihrer Kritik, dass Hauers Deutsche Glaubensbewegung nicht nur antikirchlich, sondern antichristlich ausgerichtet war und daher nicht geeignet erschien, kirchenfernen oder kirchenkritischen Christen eine Heimat zu bieten. So schrieb Strünckmann 1935 über die Deutsche Glaubensbewegung : „Der National - Sozialismus bekennt sich laut Ziffer 24 des Programms nach wie vor zum positiven Christentum. Daher kann die a - und antichristlich eingestellte ‚Deutsche Glaubensbewegung‘ nicht die Erfüllung der deutschen Sehnsüchte sein, denen ein Eckehart, ein Suso [ Heinrich Seuse ], ein Jakob Böhme, ein Angelus Silesius, ein Luther, ein Paul Gerhard, ein Sebastian Bach und viele andere beredten Ausdruck verliehen. Die ‚Deutsche Glaubensbewegung‘ trägt in die Massen des deutschen Volkes nur Halb - Wahrheiten hinein. Und außerdem ist festzustellen : Statt zu der so dringend notwendigen Einheit auf religiös - kirchlicher Ebene zu führen, hat die ‚Deutsche Glaubensbewegung‘ die Spaltung in der deutschen Volksseele vertieft; zu den bisherigen zwei Konfessionen hat sie noch eine dritte Konfession hinzugefügt.“108

Deshalb forderte Strünckmann in Analogie zum „dritten Reich“ eine „dritte Kirche“, die ein „deutschgläubiges Christentum“ verkündet und die bestehenden Kirchen überwindet. Als Vorbereiter einer solchen „dritten Kirche“ betrachtete Strünckmann – neben bestimmten Einzelpersonen – die Kampfgemeinschaft für deutsche christliche Kirche, die völkisch - protestantische Christliche Kampfschar des deutsch - baltischen Freiherrn Friedrich von der Ropp, die deutsche Gemeinschaft der Freunde ( Quäker ), den Bund für Deutsche Kirche, die anthroposophische Christengemeinschaft, die Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands unter der Führung von Pick und Walbaum und die Katholisch Nationalkirchliche Bewegung.109 Walbaum erhoffte 1940 unter Berufung auf Strünckmann einen „Deutschen Dom“ als Gemeinschaft, in der eine „überkonfessionelle deutsche, d.h. kristgermanische Frömmigkeit“ praktiziert wird. Ähnliches werde, wenngleich „einseitiger christentumsgegnerisch“, von Schöll, Fahrenkrog und Petersen erstrebt.110 Nachdem sich Roggenthiens Kampfgemeinschaft für deutsche christliche Kirche im Herbst 1936, nach der Einstellung der „Deutschen Glaubensfreiheit“, der Kommenden Kirche des deutschchristlichen Landesbischofs Heinz Weidemann in Bremen angeschlossen hatte,111 trennten sich die Wege von Roggenthien und Walbaum vorübergehend. Dies ändert sich erst, als Roggenthien und der Göttinger Studienrat Dr. phil. Hermann Hegenwald 1940 einen Bund Deutsche Glaubenseinung ( BDG ) gründeten und dieser Bund im Dezember 1940 mit Schölls Arbeitskreis für einen deutschen Volksglauben und Walbaums Freiem Freundeskreis – der zwischenzeitlich eingeschlafen und 1940 unter

108 Strünckmann, Das letzte Ziel, S. 38. 109 Ebd., S. 5. 110 Rudolf Walbaum, Das ganze Volk zu Beginn des neuen Jahres eine einzige stille Frontkameradschaft. In : Mitteilungsblatt der freien Religionsgemeinschaft Deutschlands vom 1. 1. 1941, unpag. 111 Vgl. Hutten, Sonstige nationalkirchliche Bestrebungen, Sp. 174.

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Strünckmanns Führung wiederbelebt worden war112 – in Verbindung trat.113 Als erster Vorsitzender des Bundes Deutsche Glaubenseinung war polizeilich der bereits erwähnte Ingenieur Hugo Petersen gemeldet; faktisch übte dieses Amt jedoch Hegenwald aus. Roggenthien war Geschäftsführer des Bundes. Hermann Hegenwald (1884–1964) hatte das Realgymnasium St. Johann in Danzig besucht und von 1904 bis 1907 in Marburg, Berlin, Königsberg und Greifswald neuere Philologie, Theologie und Philosophie studiert.114 1907 wurde er mit einer Arbeit zur Kant - Rezeption promoviert. Anschließend war Hegenwald in Danzig und Königsberg als Lehrer tätig. 1913 wurde er Direktor des Städtischen Lyzeums in Sondershausen ( Thüringen ), 1916 Direktor des Städtischen Lyzeums – der vormaligen Höheren Mädchenschule – in Herford und 1918 Direktor der Königin - Auguste - Viktoria - Schule in Bielefeld. 1918 gehörte er mit Johannes Erich Heyde, Sophus Hochfeld, Kurt Gassen, Friedrich Karl Schumann und Dimitri Michaltschew zu den Begründern der Johannes Rehmke - Gesellschaft, die bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs die Philosophie seines Greifswalder Hochschullehrers zu verbreiten suchte und alljährlich die philosophische Zeitschrift „Grundwissenschaft“ herausgab. Außerdem gab Hegenwald von 1918 bis 1920 die „Philosophischen Mitteilungen. Monatsschrift zur Förderung philosophischer Bildung und Kultur“ heraus, deren dritter und letzter Jahrgang als Jahrbuch der Ravensberger Philosophischen Gesellschaft erschien. Zu einem Bruch in seiner beruf lichen Laufbahn kam es im Frühjahr 1922, nachdem sich ein Konflikt mit den Lehrerinnen und der Elternschaft des Bielefelder Lyzeums – die vor seinem Amtsantritt eine weibliche Schulleiterin favorisiert hatten – dermaßen zugespitzt hatte, dass man ihn durch eine letztlich haltlose Beschwerde beim Provinzial - Schulkollegium Münster zu beseitigen trachtete. Hegenwald, der im Juli 1922 vorläufig beurlaubt worden war, erklärte sich daraufhin bereit, seine Stellung als Schulleiter aufzugeben, wenn ihm eine Studienratsstelle an einer Knabenschule in einer Universitätsstadt angeboten würde. Eine solche Stelle fand sich dann zum April 1923 am Städtischen Gymnasium in Göttingen. Hier unterrichtete Hegenwald bis 1945, zuletzt als Studiendirektor. Seine Hoffnung, eine Professur für Philosophie an der Göttinger Universität zu erlangen, erfüllte sich jedoch nicht. In der völkischen Bewegung war Hegenwald vor 1933 nicht in Erscheinung getreten. Eine auch heute noch lesenswerte theologische Abhandlung über „Gott in wissenschaftlicher Erkenntnis“ aus dem Jahr 1932 weist keinerlei Bezüge zu völkischen Glaubenssystemen 112 Nach Walbaum, Das ganze Volk, unpag. 113 Ob dieser Bund Deutsche Glaubenseinung mit dem bei Schlund erwähnten, 1938 von Alois Brücker ( Köln ) und dem ehemaligen Priester und politischen Publizisten Paul Nieborowski ( Breslau ) gegründeten Bund Deutsche Glaubens - Einigung ( BDG ) zusammenhing oder gar dessen Fortsetzung war, ließ sich nicht ermitteln. Vgl. Schlund, Modernes Gottglauben, S. 134–136. 114 Das Folgende hauptsächlich nach Stadtarchiv Bielefeld, 103,4/ Personalakten, Nr. C 437; Stadtarchiv Göttingen, Meldekarte Hegenwald; Mitteilungen des Stadtarchivs Königstein im Taunus vom 17. 2. 2010.

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auf, sondern kritisiert vielmehr den fanatisierten „neuheidnischen Polytheismus“ der Gegenwart, der das zukünftige Heil von bestimmten ökonomischen oder politischen Ideologien erwarte.115 Auch sind keine Hinweise darauf zu finden, dass Hegenwald – wie dies etwa Hans Lüthje und Bernhard Hecke unternahmen – nach 1933 die „innere“ Übereinstimmung der Philosophie Rehmkes mit dem Nationalsozialismus nachzuweisen suchte. Dass Hegenwald sich dennoch völkischem Gedankengut zuwandte und sich im Dezember 1933 der Deutschen Glaubensbewegung bzw. später dem Kampfring Deutscher Glaube anschloss,116 könnte bis zu einem gewissen Grad seinem nationalsozialistischen Schwiegersohn Johannes Blümke geschuldet sein, der seit etwa 1930 in Bobbin ( Rügen ) als Pfarrer und NSDAP - Ortsgruppenleiter tätig war. Abgesehen von der Disparatheit der religiösen Überzeugungen der Teilnehmer gestaltete sich die Vorbereitung der Erbsener Tagung aus zwei weiteren Gründen als schwierig. Zum einen wurde Schölls Verleger und Drucker, Erich Röth, in Eisenach zum 1. Februar 1941 zur Wehrmacht einberufen, was den Druck und Versand weiterer Rundschreiben erschwerte117 und zur Folge hatte, dass die Zeitschrift „Wille zum Reich“, die Schöll ursprünglich als Organ des Arbeitskreises für einen deutschen Volksglauben vorgesehen hatte, eingestellt werden musste.118 Anfang April 1941 wurden von der Gestapo ohne Angabe von Gründen Röths Wohn - und Verlagsräume durchsucht und der Verlag endgültig geschlossen. Gleichzeitig verbot die Gestapo Schöll die Versendung weiterer Rundschreiben. Einen Monat später wurde Röth aus der Front verhaftet, nach Berlin transportiert und in Untersuchungshaft genommen. Das Verfahren gegen ihn wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Vergehens gegen das Gesetz zum Verbot der Bündischen Jugend endete mit der Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe wegen „Fahrlässigkeit“, die mit der Untersuchungshaft abgegolten war. Die Verlagsräume wurden inzwischen für einen Rüstungsbetrieb beschlagnahmt. Alle weiteren Mitteilungen Schölls an seine Mitstreiter konnten daher seit April 1941 nur noch brief lich – bei mehreren Adressaten behelfsweise mit Durchschlägen – erfolgen. Außerdem fanden damit vorläufig seine Bemühungen ein Ende, vom Hauptschulungsamt der NSDAP als Schriftsteller in der „weltanschaulichen Schulung“ eingesetzt zu werden.119 Zum anderen hatten sich die ehemaligen Freunde Schöll und Strünckmann im Vorfeld der Erbsener Aussprache dermaßen zerstritten, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit 115 Hermann Hegenwald, Gott in wissenschaftlicher Erkenntnis. Ein erster Entwurf. In : Grundwissenschaft, 11 (1932), S. 58–102. 116 So Hermann Hegenwald an Friedrich Schöll vom 3. 9. 1941 ( NL Schöll ). 117 Bereits den 3. Rundbrief und „Ein Wort an Alle“ musste Schöll auf eigene Kosten in einer Druckerei in Winnenden bei Stuttgart herstellen lassen. 118 Hierzu und zum Folgenden der Briefwechsel zwischen Friedrich Schöll und Erich Röth 1941/42 ( NL Schöll ). Zu den Hintergründen – wenn auch mit fehlerhaften Datierungen – vgl. Stefan Breuer / Ina Schmidt, Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926–1933), Schwalbach 2010, S. 122 ff. 119 Schöll hatte sich mit dieser Bitte zuletzt am 5. 3. 1941 an das Hauptschulungsamt in München gewandt ( NL Schöll ). Eine Antwort ist nicht erhalten.

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nicht mehr denkbar war. Inhaltlich verurteilte Strünckmann in seinen Briefen, in denen er sich als allwissender Psychotherapeut aufspielte, Schölls Kampf gegen das Christentum, mit dem dieser sich „am deutschen Volk“ versündige, weil dadurch „zu der bereits bestehenden Klüftung von evangelisch und katholisch noch die neue Trennung in Kristen und Nichtkristen“ gefördert werde.120 Schöll konterte, dass Strünckmann „einseitig vom christlichen Standpunkt aus“ argumentiere und nicht erkannt habe, dass die Grundlage einer Glaubenseinigung der Nationalsozialismus sein müsse. Bei der Glaubenseinigung gehe es überhaupt nicht um Weltanschauungen, sondern darum, dass man die Göttlichkeit des „deutschen Blutes“ und der „deutschen Natur“ erfasse.121

3.

Zum Verlauf und zur Nachgeschichte der Erbsener Tagung

Die brief liche Einladung zu der vor allem von Hegenwald und Schöll forcierten Aussprache in Erbsen am Solling erging im Namen des Bundes Deutsche Glaubenseinung erst im Juli 1941. Dies hatte zur Folge, dass sich die Einladenden mehrere Absagen einhandelten. Auf der Tagung selbst hielten die Teilnehmer etwa halbstündige Referate, in denen – zumindest dem Plan nach – die inhaltlichen Konturen eines künftigen „deutschen Volksglaubens“, seine Organisationsform und seine propagandistischen und pädagogischen Vermittlungsmöglichkeiten behandelt werden sollten. Am Ende wurde über eine neue Satzung des Bundes beraten. Hegenwald und Schöll legten danach einen Entwurf vor, der hier in Auszügen wiedergegeben werden soll : „1. Die Aufgabe des Bundes geht dahin, den Wunsch und Gedanken einer deutschen Glaubenseinung auf dem Boden der Gottgläubigkeit in weiten Kreisen unseres Volkes zu wecken, den einzelnen Volksgenossen von der Größe und Bedeutung dieses Gedankens auch für die innere Festigung der deutschen Volksgemeinschaft zu überzeugen und ihn zum tätigen Einsatz auf dieses Ziel hin anzuregen. 2. Die Aufgabe des Bundes ist insbesondere darauf gerichtet, für die kommende Glaubenseinung die notwendigen Gesichtspunkte und Formulierungen aus einer klaren Grundüberzeugung zu finden, diese bei sich selbst in persönlicher Lebenshaltung zu verwirklichen und so dem deutschen Volksgenossen durch Unter weisung und lebendiges Beispiel zu vermitteln. 3. Schon bestehende Gemeinschaften und einzelne deutsche Männer und Frauen können sich anschließen. Auf diesem Wege erstrebt der Bund den Zusammenschluss aller derjenigen Glaubensverbände in Deutschland, die eine klare Grundhaltung auf dem 120 Karl Strünckmann an Friedrich Schöll vom 21. 5. 1941 ( NL Schöll ). In einem Brief vom 24. 4. 1941 ( NL Schöll ) schreibt Strünckmann die Sätze : „Noch musst Du stärker in die Isolierung, in die Einsamkeit des Ich, in die Konzentration. Auch durch die Gestapo spricht Gott zu Dir, ruft er Dir das schwere Nein zu, dessen Tiefen Du noch gar nicht erfasst hast. Dir gegenüber lässt Gott diese indirekte Form der Konzentration zu, weil Dir angemessen, sie ist eben kein absolutes Ja und kein absolutes Nein für Dich, während manch anderer die absolute Form des Nein im KZ erleben muss.“ 121 Friedrich Schöll, Meine Stellungnahme zu dem Bericht von Dr. Strünckmann über die Ergebnisse des ersten Jahres betr. Glaubenseinigung vom 12. 8. 1941 ( NL Schöll ).

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Boden der im Führer verkörperten nationalsozialistischen Weltanschauung pflegen, so wie jeder Glaube in einer bestimmten Weltanschauung wurzelt.“122

Ein Tagungsbericht wurde zwar in Auftrag gegeben, kam jedoch nicht zustande. Grünwald beklagte – wohl zu Recht – die unklare Zielsetzung und geringe Effektivität der Aussprache : „Mir allerdings ist es unverständlich, warum wir überhaupt in Erbsen zusammengekommen sind, denn über alles andere wurden Vorträge und Besprechungen gehalten, nur nicht über den Zusammenschluss zum ‚Bund Deutscher Glaubenseinung‘. Darum ja auch in Erbsen meine Verstimmung und Zurückhaltung.“123 Der scheinbare Konsens der Teilnehmer, der insbesondere darin bestand, dass die gemeinsamen Bestrebungen innerhalb des – polizeilich gemeldeten – Bundes Deutsche Glaubenseinung verfolgt werden sollten, hielt nur wenige Wochen. Strünckmann kritisierte den Verlauf der Tagung in seinen Rundschreiben; Roggenthien erwies sich als unzuverlässig, was die Durchführung der von ihm übernommenen Aufgaben anging, und betrachtete den Bund als sein Kind, über das er allein zu verfügen hätte; und Petersen, Wauer und Casper waren nicht bereit, sich bezüglich einer Satzung auf Kompromisse einzulassen, sondern versuchten stattdessen, ihre privaten Glaubenssysteme durchzusetzen. Gleichzeitig gelang es Hegenwald und Schöll nicht, Petersen und Roggenthien aus der Leitung des Bundes zu verdrängen. Als Hegenwald dann noch in Erfahrung brachte, dass Roggenthien wegen „betrügerischer Manipulationen“ angeklagt war und das Gericht beschlossen hatte, ihn zwecks Begutachtung seines Geisteszustandes einer Anstalt zu über weisen,124 traten Hegenwald und Schöll, der in Erbsen zum zweiten Vorsitzenden des Bundes auserkoren worden war, demonstrativ aus dem Bund Deutsche Glaubenseinung aus. Hegenwald, Schöll und Walbaum ließen sich von diesem Misserfolg allerdings nicht beirren und wollten zunächst weiterhin einen dreiköpfigen Arbeitskreis bilden. Hegenwald machte den wenig realistischen Vorschlag, diesen Arbeitskreis der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft oder der Nordischen Glaubensgemeinschaft anzugliedern, was für Walbaum jedoch nicht in Frage kam, weil er dadurch seine „Verpflichtungen“ gegenüber der eigenen Religionsgemeinschaft verletzen würde.125 Eher widerwillig nahmen Hegenwald und Schöll daraufhin Walbaums Offerte an, sich als Arbeitskreis innerhalb des Freien Freundeskreises der Religionsgemeinschaft Freier Protestanten zu verstehen,

122 Vorschlag für die Satzung des Bundes deutsche Glaubenseinung oder eines Arbeitskreises für deutschen Gottglauben vom 15. 9. 1941 ( NL Schöll ). 123 Friedrich Grünwald an Friedrich Schöll vom 8. 10. 1941 ( NL Schöll ). 124 Hermann Hegenwald an Friedrich Schöll vom 9. 10. 1941 ( NL Schöll ). Hegenwald fuhr fort : „Jetzt verstehe ich jene Warnungen besser, die darauf hinausgingen, dass man eine solche Sache nicht mit ihm verbinden dürfe; sie würde mit ihm immer scheitern, wie es bei all seinen bisherigen Unternehmungen der Fall war.“ Angeblich verhinderte Roggenthiens Schwager, der Biologe und SS - Führer Walter Greite (1907–1984), seine Verurteilung. Greite leitete damals im „Ahnenerbe“ die Forschungsstelle für Biologie. 125 Rudolf Walbaum an Friedrich Schöll vom 24. 9. 1941 ( NL Schöll ).

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dem auch Strünckmann angehörte.126 Unabhängig davon wollte man sich weiterhin freundschaftlich über Glaubensfragen austauschen. Eine neue Situation entstand, nachdem Schöll im Oktober und November 1941 mit den Leitern des Stuttgarter Verlags Georg Truckenmüller127 – in dem mittlerweile offenbar NSFunktionäre das Sagen hatten – und dem württembergischen Gauschulungsleiter Eugen Klett Gespräche über die religionspolitischen Planungen der NS Behörden und die etwaige Drucklegung seiner Glaubensschriften geführt hatte. Zur Erläuterung schrieb Schöll vor seiner Abreise : „Dieser Verlag [...] steht heute im Mittelpunkt der ganzen Glaubensbewegung. Um ihn müssen wir uns gruppieren, umso mehr, als er auch in unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Gauschulungsamt und mit dem Kultministerium steht. Durch ihn und den Gauschulungsleiter hoffe ich auch den Weg nach Berlin leichter zu finden, wenn unsere Sache genügend gereift ist.“128 Über die Ergebnisse seiner Gespräche informierte Schöll Hegenwald und Walbaum in vertraulichen Briefen. Zur „Organisationsfrage“, so Schöll, sei mit aller Entschlossenheit betont worden, „dass bei den maßgebenden Stellen keinerlei Art von Organisation mehr anerkannt und die bestehenden ( Kampfring usw.) nur vorerst weiter geduldet, eines Tages aber auch ausgeschaltet werden.“ Alles müsse von der Partei ausgehen, und zwar im Namen der „Volksgemeinschaft“, nicht von „Sondergemeinschaften“. Dafür, dass seine Schriften – die Ausarbeitung seines Erbsener Vortrag und eine religiöse Schulungsschrift – rasch der Parteiamtlichen Prüfungskommission unterbreitet werden, wurde von Schöll verlangt, auf jede weitere Organisationstätigkeit zu verzichten.129 Ganz im Sinne von Schöll reagierte Hegenwald auf diese Nachrichten mit der Feststellung, dass die bisherigen Organisationsversuche „verfehlt“ gewesen seien. Nur über die Partei, „die das Volk in seiner tätigen und lebensnotwendigen Ganzheit vertritt“, und die nationalsozialistische Weltanschauung könne eine „entschiedene Lösung“ der Organisationsfrage erreicht werden. „Nur hier kann in neuer gewachsener Ordnung die Pflege und genauere Ausgestaltung des Gottglaubens, der Frömmigkeit und der religiösen Feier in unserm Volk in Angriff genommen werden. Der Name für diese organisatorische Stelle ist weniger wichtig, mag es sich um ein neues Amt für Religion, Glaube und Feier oder um eine Art Religionskammer in ferner 126 Friedrich Schöll an Rudolf Walbaum vom 24. 9. 1941; Schöll an Walbaum vom 6. 10. 1941; Walbaum an Schöll vom 10. 10. 1941 ( alle NL Schöll ). 127 Truckenmüller hatte vor 1933 den Stuttgarter Bund der Wandervögel und Kronacher geleitet, schloss sich dann der Deutschen Glaubensbewegung an und verlegte die Zeitung „Durchbruch. Kampfblatt für deutschen Glauben, Rasse und Volkstum“ (1934– 1938). Zu den späteren Verlagsautoren gehörten Ernst Bergmann, Kurt Eggers, Fritz Gericke, Herbert Grabert, Hermann Hirsch, Wilhelm Schloz, Friedbert Schultze, Friedrich Franz von Unruh und Max Wegner. Zum einzigen Bestseller wurde das 1936 aus dem deutschgläubigen Verlag von Karl Gutbrod übernommene Buch „Der Glaube der Nordmark“ von Gustav Frenssen. 128 Friedrich Schöll an Rudolf Walbaum vom 11. 10. 1941 ( NL Schöll ). 129 Friedrich Schöll an Hermann Hegenwald und Rudolf Walbaum vom 19. 10. 1941; Schöll an Hegenwald vom 8. 12. 1941 ( ebd.).

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Parallele zur Kulturkammer usw. handeln. Wichtig ist nur, dass damit das Zeitalter des Liberalismus auch an dieser gefährlichen, nämlich der religiösen Stelle zu Ende geht.“130 Walbaum dagegen fragte sorgenvoll, ob die Partei es wagen werde, die gesamte religiöse Volksbetreuung von sich aus zu organisieren. Auch wenn er seine Schreiben nun meist mit den Worten „Heil Hitler ! Es lebe das Vaterland !“ beschloss, zeigte Walbaum wiederholt eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus und hielt an der prinzipiellen Autonomie des Religiösen fest : „Jedenfalls wird’s für mich in Glaubenssachen nie ausschließlich darauf ankommen, die Anerkennung der Parteistellen zu gewinnen.“131 Schölls Verzicht auf weitere Organisationsversuche führte dazu, dass er im Juli 1942 beim Verlag Georg Truckenmüller eine Stelle als „Mitarbeiter für Weltanschauungs und Glaubensfragen“ antreten konnte. Wie er an Röth schrieb, sollte er dort „ein Archiv für das Gesamtgebiet der weltanschaulichen und Glaubensfragen aufbauen : Bücherei, Spruchsammlung, Lied und Bild“ sowie die Verlagsredaktion der „Arbeitsblätter für weltanschaulichen Unterricht“ übernehmen, die das württembergische Kultministerium künftig herausgeben sollte.132 Ursprünglich war der Korntaler Gewerbeschulrat und ehemalige Freund Schölls Wilhelm Schloz, der erst Gauführer und 1936/37 stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Glaubensbewegung gewesen war, für diese Stelle vorgesehen; er hatte jedoch abgelehnt. Im Januar 1943 wurde Schöll dann als „Gasterzieher“ an die Adolf - Hitler - Schulen, die in der Ordensburg Vogelsang untergebracht waren, berufen. Dort setzte er neben seiner Unterrichtstätigkeit die Arbeit für den Verlag Truckenmüller fort und erstellte – unter Zuhilfenahme des umfangreichen Bibliotheksbestandes der Ordensburg – einen religiösen „Schrifttumsweiser“. Außerdem verfasste er noch im Sommer 1943 eine „Denkschrift über das Verhältnis von Weltanschauung und Glauben“, die eine Zusammenfassung seines Werks „Nationalsozialistische Weltanschauung und deutscher Volksglaube“ darstellte, das bei Truckenmüller erscheinen sollte, und wiederum auf die Schaffung eines einheitlichen Glaubens zielte.133 In seinem Gutachten bezeichnete das NS - Hauptschulungsamt Schölls Denkschrift als „wertvollen Beitrag“, der „höchste Aktualität“ beanspruchen dürfe. Allerdings könne die Einführung eines neuen Volksglaubens unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht gut in Angriff genommen werden. Außerdem seien Schölls Gedanken vorerst nur dem 130 Hermann Hegenwald an Friedrich Schöll und Rudolf Walbaum vom 28. 10. 1941 ( ebd.). 131 Rudolf Walbaum an Friedrich Schöll vom 21. 10. 1941 ( ebd.). 132 Friedrich Schöll an Erich Röth vom 11. 6. 1942 ( ebd.). Von den „Arbeitsblättern für weltanschaulichen Unterricht“ sind von Mai 1942 bis Oktober 1944 fünfzehn Lieferungen im Verlag Georg Truckenmüller erschienen. In ihnen werden historische Gewährsmänner der völkischen Weltanschauung wie Lagarde, Nietzsche, Fichte, Chamberlain, Ernst Moritz Arndt, Meister Eckhart und Ulrich von Hutten neben symbolischen Elementen wie dem „Deutschen Gruß“, der „Deutschen Fahne“ und dem Hakenkreuz behandelt. Die letzte Lieferung trug den Titel „Bis zum letzten Mann“. Die Mehrzahl der ungezeichneten Aufsätze stammt offenbar von Friedrich Schöll. 133 Sowohl die Denkschrift als auch das ms. Buchmanuskript (235 Blätter ) sind im NL Schöll vorhanden.

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„kleineren Kreis“ jener Parteigenossen zugänglich, die von der nationalsozialistischen Weltanschauung „innerlich durchdrungen“ sind. „Immerhin können die Gedanken zur Grundlage von Feierstunden gemacht werden, was zweifellos eine Bereicherung bedeuten würde.“134 Daraufhin wandte sich Schöll mit seiner Denkschrift an Hellmut Stellrecht, den Stabsleiter im Amt Rosenberg,135 und versuchte ihn auch im persönlichen Gespräch davon zu überzeugen, dass – natürlich mit Hitlers Zustimmung – unverzüglich ein Reichsbund deutscher Gottgläubigkeit geschaffen werden müsse, der nach dem Krieg in die Öffentlichkeit treten, aber schon jetzt im Stillen mit der „Sammlung seiner Bekenner“ beginnen solle.136 Im März 1944 hielt Schöll fest : „Vom Amt Rosenberg ( Stellrecht ) habe ich gestern [...] Urteil über die Denkschrift bekommen. Im ganzen zustimmend. Im einzelnen manches eingewendet, gefragt, nicht verstanden. Ich werde darauf antworten.“137

4.

Die Frankfurter Tagung

Die Grundlage der Frankfurter Tagung bildete eine Schrift, die im Frühjahr 1935 ohne Verfasserangabe unter dem Titel „Der neue Glaube oder Die religiöse Weltanschauung der Gegenwart“ im Straßburger Verlag Heitz & Co. erschienen war. Die Entstehungsgeschichte dieser Schrift liegt weitgehend im Dunkeln.138 Die Herausgeber nennen sich Theologische Arbeitsgemeinschaft 134 Abschrift des Gutachtens zu der Denkschrift von Friedrich Schöll, o. D. ( September 1943; NL Schöll ). Die Datierung ergibt sich aus einem Brief Friedrich Schölls an seinen Sohn Walther vom 11. 9. 1943 ( ebd.). Das Hauptschulungsamt unterstand dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Robert Ley, und wurde damals von Heinrich Bruhn geleitet, der früher ebenfalls an der Ordensburg Vogelsang als Lehrer tätig war. Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, 2. Auf lage München 2006, S. 137. 135 Zu Stellrecht und seinen Aktivitäten im Amt Rosenberg vgl. Bollmus, Amt Rosenberg, S. 135 ff. 136 Friedrich Schöll, Für die Aussprache beim Stabsleiter des Reichsleiters Alfred Rosenberg, Pg. Dr. Hellmut Stellrecht, o. J. (1943; NL Schöll ). 137 Friedrich Schöll an Walther Schöll vom 25. 3. 1944 ( ebd.). Sein Buchmanuskript „Nationalsozialistische Weltanschauung und deutscher Volksglaube“ hatte Schöll dem SS Hauptamt vorgelegt. Das Amt kam zu dem Ergebnis, dass Schölls Schrift einen „recht bedeutsamen Versuch“ darstelle, Wege zur Überwindung der geistig - seelischen Krise aufzuweisen, und befür wortete, dass sie einem „besonders empfänglichen Kreis“ zugänglich gemacht werde. Vgl. Dr. Reich, Gutachten des SS - Hauptamtes zu der Schrift „Nationalsozialistische Weltanschauung und deutscher Volksglaube“, o. D. (1943; Abschrift in NL Schöll ). 138 Über den Verlag Heitz & Co. und dessen Verlagsarchiv teilt der Verlag Valentin Koerner in Baden - Baden als Rechtsnachfolger mit : „Das Archiv des Heitz - Verlags gilt als verschollen. Weil Paul Henri Heitz in der Zeit des NS - Regimes noch weit länger auch jüdische Autoren verlegte, als dies anderswo im Deutschen Reich möglich gewesen wäre, geriet der Verleger ins Visier der Gestapo, die ihn 1944 zu Befragungen abholte. Als er am nächsten Tag wieder in den Verlag kam, soll es dort einen Brand gegeben haben und es war deutlich, dass Etliches fehlte. Schon vorher waren durch Bomben Teile des Archivs verbrannt.“ ( Mitteilung von Tobias Koerner vom 13. 10. 2010).

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Meister Eckhart und diese Arbeitsgemeinschaft tritt auch als Veranstalter der Frankfurter Tagung in Erscheinung. Im Vorwort wird die Entstehung der Schrift auf die Zeit des Ersten Weltkriegs datiert : „Die Hauptstücke des Neuen Glaubens, die auf den folgenden Blättern dargeboten werden, sind vor 20 Jahren entstanden und zusammengestellt worden in einem Kreis von Theologen, welche die Nötigung zu völliger Klarstellung ihrer religiösen Gedankenwelt empfanden. Aus dem Versuch einer folgerichtigen Entwickelung der Gedanken entstand der Aufbau einer religiösen Weltanschauung, der durch seine Geschlossenheit und Einheitlichkeit nicht nur das Denken befriedigt, sondern auch dem ganzen Dasein Sinn und Ziel zu geben vermag.“139 Diese Arbeitsgemeinschaft „deutscher Theologen“ sei durch das Ende des Ersten Weltkriegs „auseinandergesprengt“ worden, habe sich aber jetzt wieder zusammengefunden und entschlossen, ihre Arbeit zu publizieren. Weil der „Neue Glaube“ das Ergebnis einer Arbeitsgemeinschaft sei, wolle man nicht den Namen eines Einzelnen als Verfasser oder Herausgeber nennen. Ein Mitverfasser der Schrift war zweifellos der evangelisch - reformierte Pfarrer Gustav Adolf Bloch, der in Frankfurt den Auftrag erhielt, eine Neuausgabe des „Neuen Glaubens“ vorzubereiten. Bloch, geboren 1879 in Dieuze ( Lothringen ) als Sohn des Pfarrers Octave Bloch, hatte nach dem Besuch des Lyzeums in Metz an der Straßburger Kaiser - Wilhelms - Universität Theologie studiert und wurde 1904 zum Pfarrer ordiniert.140 Von 1906 bis 1914 war er Hilfspfarrer in Alberschweiler ( Lothringen ). Während des Ersten Weltkriegs war er zunächst als Lazarettpfarrer in Mörchingen ( Lothringen ), später dann als Felddivisionspfarrer der 121. Infanterie - Division tätig. 1919 übernahm er eine Pfarrstelle in Montigny - Sablon, einem Vorort von Metz. Wegen seiner „deutschen Gesinnung“ hatte die französische Regierung schon 1922 vergeblich seine Absetzung verlangt. Der 1928 erfolgten Wahl zum Präsidenten des Metzer Konsistoriums verweigerte die französische Regierung ihre Bestätigung. Im Mai 1940 wurde Bloch nach Nîmes ausgewiesen, konnte jedoch nach dem Waffenstillstand mit Deutschland nach Metz zurückkehren und wurde hier sogleich zum Dekan des reformierten Konsistoriums Metz ernannt. Im November 1944 musste Bloch mit seiner Ehefrau und seiner Tochter überstürzt aus Metz fliehen. 1947 wurde er vom Oberkirchenrat in Stuttgart erneut im Pfarrdienst eingesetzt und zog aus diesem Grund nach Murrhardt ( Württemberg ). Dem Inhalt des Buches nach zu urteilen, könnten auch Pfarrer aus der freireligiösen Bewegung unter den Mitverfassern gewesen sein, möglicher weise bereits Rudolf Walbaum, den man in Frankfurt mit der Abfassung eines Kommentars beauftragte. Der „Neue Glaube“ stellt keine theologische Abhandlung 139 Der neue Glaube oder Die religiöse Weltanschauung der Gegenwart, Leipzig 1935, S. VIII. 140 Angaben nach Gustav Adolf Bloch an den Vorsitzenden der Brüderlichen Fürsorge der Württembergischen Evangelischen Pfarrerschaft Horn ( mit Beilage : Lebenslauf ) vom 9. 12. 1948 ( LKA Stuttgart, A 127, Nr. 371); Mitteilungen des Stadtarchivs Murrhardt vom 18. 8. 2010.

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dar, sondern einen leicht verständlichen Katechismus in Frage - und Antwortform, der in zwölf Kapitel unterteilt ist. Gott wird darin nicht als Person, sondern als „allumfassender Geist“ verstanden, den es in der Seele zu ergreifen gilt; Jesus Christus spielt als „Sinnbild der Christenheit“ nur eine Nebenrolle. Die religiöse Weltanschauung, die hier propagiert und in die Tradition der deutschen Mystik gestellt wird, läuft auf eine enthistorisierte und entkonfessionalisierte „Gottesfreundschaft“ hinaus. Dazu heißt es im Vor wort : „Was in der Gegenwart auf religiösem Gebiet am Bittersten not tut, ist eine Besinnung auf die Grundlagen allen religiösen Glaubens, eine neue, klare Fassung der Wahrheiten des Glaubens ohne jede Bindung und ohne Rücksicht auf ihre geschichtliche Herkunft und Entwickelung, lediglich im Hinblick auf den religiösen Gedanken, der darin enthalten und ausgedrückt ist. Jedes Zurückgehen auf den geschichtlichen Ursprung eines Gedankens muss zu endlosen und religiös völlig unfruchtbaren Auseinandersetzungen führen [...]. Ausschlaggebend und wichtig ist lediglich der Gedanke selbst und sein Gehalt an ewiger Wahrheit.“141 Unmittelbar völkische Ideologeme werden lediglich im dritten Gebot einer Neufassung des Dekalogs manifest. Dieses Gebot, das im Ersten Testament die Heiligung des Sabbats vorschreibt, wird nun folgendermaßen formuliert : „Du sollst bereit sein, dem Vaterlande alles Irdische zum Opfer zu bringen.“ In der Erläuterung schreiben die Verfasser : „Was heißt das ? Wir sollen erkennen, dass unser Volk und Vaterland diejenige menschliche Gemeinschaft ist, in welcher wir hier auf Erden für Gottes Ziele zu wirken haben. Daher ist die äußere und innere Förderung unseres Volkes und Vaterlandes die Aufgabe, für welche wir alles andere irdische Gut, auch Leib und Leben opfern müssen, sobald es von uns verlangt wird.“142 Bezüge zur aktuellen Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus sind an keiner Stelle zu entdecken, weshalb man davon ausgehen darf, dass die Angaben zur Entstehungszeit der Schrift den Tatsachen entsprechen. Strünckmann hatte nun – vermutlich schon 1940 – empfohlen, dass man sich auf den Inhalt dieses Buches vereinen sollte.143 Der von ihm verfasste Bericht über die Frankfurter Tagung beginnt allerdings mit der Aussage, dass der „Neue Glaube“ einer „völligen Überarbeitung“ bedürfe und ganz auf das „Volk“ eingestellt werden müsse.144 Nachfolgend werden inkonsistent und oberflächlich die Leitlinien einer solchen Überarbeitung aufgeführt, die offenbar maßgeblich durch den „Krist - Germanen“ Strünckmann vorgegeben wurden : die Abkehr vom Materialismus und die Überwindung des Dogmatismus, der „Kristos“ als 141 Der neue Glaube, S. VII. 142 Ebd., S. 297. 143 Nach Rudolf Walbaum, Deutsch - unitarisches Korrespondenzblatt, Rundbrief Nr. 2, Alzey o. J. (1940 ?), S. 2 ( NL Schöll ). In diesem hektographierten Rundbrief legte Walbaum auch ausführlich seine eigene Position zur Einigungsfrage dar. Der Text wurde auf jeden Fall vor den beiden Tagungen geschrieben, aber mit Sicherheit nicht vor 1940. Genannt werden die Namen von Strünckmann, Schöll, Georg Casper, Johannes Ude und Athanasius Grün. 144 Dies und die folgenden Zitate aus Karl Christoph Strünckmann, Bericht über Frankfurt a. M., 4. bis 7. 9. 1941 ( NL Schöll ).

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kosmische und überpersönliche Idee, die indischen Vorstellungen von Karma und Reinkarnation, der in der Edda angekündigte Übergang von der „Beilzeit“ zur „Heilzeit“ sowie eine „biologisch - natürliche Lebensführung“, durch die der Leib wieder zu einem „Tempel Gottes“ werden solle. Volle Übereinstimmung habe in Bezug auf das „nationalsozialistischen Fundament“ des Biologischen – gemeint sind Rassenlehre und Lebensreform – geherrscht. Zusammenfassend wurde Strünckmann zufolge formuliert : „Der gewaltigen extravertierten, dynamischen Leistung unseres Volkes nach außen muss jetzt unbedingt eine gleich große introvertierte, dynamische Leistung im Innern, in der Stille folgen. Sie wird gerade in unserem deutschen Volke mit einer naturnotwendigen Zwangsläufigkeit erfolgen, dessen sind wir sicher. Sie kann nicht ‚gemacht‘ werden, sie wird auf deutschem Boden ganz natürlich wachsen. Wir haben nur [...] fein zu horchen auf das, was aus Gott werden will und dann zu gehorchen. So werden wir Pioniere und Wegbereiter für die kommende religiöse Dynamik.“ Unterzeichnet ist der Bericht mit „Karl Christoph Strünckmann“. Christoph war kein echter Vorname Strünckmanns,145 sondern sollte ihn zum Christophoros, zum priesterlichen „Christusträger“ stilisieren. Von 1938 bis 1948 benutzte Strünckmann diesen Beinamen in seinen religiösen Rundbriefen. Als weitere Teilnehmer an der Frankfurter Tagung – neben den Leitern Bloch und Strünckmann – lassen sich der Frankfurter Lebensreformer Richard Büchter,146 der ehemalige Neugeist - Anhänger und Lebensreformer Dr. sc. pol. Franz Hering,147 der Nürnberger Religionsgründer Hans Mailer,148 der Kunstmaler Max Schulze - Sölde, der Schriftsteller und Quäker Alfons Paquet sowie der bereits erwähnte freiprotestantische Pfarrer Rudolf Walbaum aus dem Bericht ermitteln. Aller Wahrscheinlichkeit nach war auch der Frankfurter Pfarrer Friedrich Manz (1872–1957) anwesend, der einem Freundeskreis bzw. Bund für entschiedenen Protestantismus vorstand und 1948 zusammen mit Erich Meyer und Walter Bülck zu den Gründern des Deutschen Bundes für freies Christentum 145 Dies nehmen Breuer / Schmidt, Die Kommenden, S. 421, fälschlich an. 146 Büchter hatte die Schriften „Lerne wieder rhythmisch atmen“ (1936) und „Lerne leben ohne zu leiden“ (1937) veröffentlicht und war offenbar Mitinhaber des Diät - und Reformhauses Peil in Frankfurt a. M. Möglicherweise war dies auch das Tagungslokal. 147 Franz Hering hatte im Johannes Baum - bzw. Prana - Verlag vor 1933 Schriften wie „Die Bedeutung und Ver wendung der Vitamine für Leben und Ernährung“ ( o. J.) und „Naturwissenschaft und Christentum als Grundlagen für Frieden und Gedeihen in und zwischen den Völkern“ ( o. J.) veröffentlicht und war Mitarbeiter der „Weißen Fahne“. 1936 erschien im Leipziger Verlag von Wilhelm Hartung, der schon den Weihwart verlegt hatte und auch die Schriften Ludwig Fahrenkrogs verlegte, seine Broschüre „Religion und Volk. Zeitnot - wendige Hinweise zur Entwicklung des deutschen Menschen“. Um 1942 trat Hering vermutlich der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft bei ( Artikel in der Zeitschrift „Germanen - Glaube“). 148 Der städtische Arbeiter Hans Mailer hatte mit einigen Anhängern eine Kirche der Neuen Erde gegründet. Er war 1936 wegen Schizophrenie und religiösen Wahns vorzeitig pensioniert und 1937 zwangssterilisiert worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat er weiterhin im Namen seiner „Kirche“ und einer Internationalen Metaphysischen Friedensbewegung auf ( Mitteilungen des Stadtarchivs Nürnberg vom 18. 10. 2010).

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gehörte.149 Manz hatte kurz zuvor in einem Vortrag über „Das planetarische Gesetz in der Gott - Mensch - Beziehung“ für einen überkonfessionellen Zusammenschluss christlicher und nichtchristlicher Gottgläubiger auf der Grundlage eines arisch - christlichen „Gottesmythos“ plädiert und sich dabei auf Ernst Graf von Reventlow berufen.150 Mit dem ehemaligen Anarchisten Schulze - Sölde, der mittler weile in Günne bei Soest – Strünckmanns Geburtsort – lebte, war Strünckmann seit den Tagen des „Christrevolutionärs“ (1921) befreundet. Über dessen Auftritt in Frankfurt schrieb er : „Den Höhep[ un ]kt der Zusammenkunft bildete m. E. der Vortrag von Fr[ eun ]d Schulze - Sölde, der ein glühendes Bekenntnis zum Kristos ablegte. Nach Beendigung seiner Ausführungen streckten sich ihm viele Hände impulsiv entgegen. Tief ergriffen war auch Fr[ eun ]d Paquet, der zweimal unter uns weilte und in sehr warmherziger Weise die Ausführungen von Fr[ eun ]d Schulze - Sölde unterstrich und ergänzte.“ Alfons Paquet, damals Feuilletonredakteur der „Frankfurter Zeitung“, war Mitglied der deutschen Gesellschaft der Freunde ( Quäker ), zugleich aber auch mit Friedrich Rittelmeyer und Emil Bock befreundet und begleitete mit „warmer Positivität“ das Wirken der anthroposophischen Christengemeinschaft. Auch Paquet stand seit 1921 mit Strünckmann und den „Christrevolutionären“ in Verbindung.151 Über seine religiöse Suche schrieb Alfred Schütze in einer Würdigung : „Man hätte ihn für einen religiösen Eklektiker halten können, der sich das Beste aus den einzelnen Kirchen heraussuchte. Aber es war etwas ganz Anderes, worauf es ihm ankam. [...] Er hielt Ausschau nach den Repräsentanten der unsichtbaren Kirche Christi ohne Rücksicht auf konfessionelle Schranken. Wie ein Seismograph auf die leiseste Bewegung im Erdinnern eingestellt ist und darauf anspricht, so lauschte Alfons Paquet auf die religiösen Bewegungen des Jahrhunderts, um ihren geistigen Ort zu bestimmen und Den zu finden, den er hin149 Darauf deutet ein Brief Paquets an Friedrich Manz vom 1. 2. 1942 hin ( Privatbesitz Jean Paquet ). Über die spätere Gründungsveranstaltung des Deutschen Bundes für freies Christentum liegt ein ausführlicher Bericht Schölls vor. Vgl. Friedrich Schöll, Bericht über den Kongress für freies Christentum in Frankfurt a. M. In : Die Schau ins Licht, Jg. 1, Werbenummer A ( November 1948), S. 13–14; ders., Randbemerkungen zum Kongress für freies Christentum. In : Die Schau ins Licht, Jg. 1, Ausgabe B ( Dezember 1948), S. 26–27. Die übrigen drei Teilnehmer könnten ebenfalls christliche oder freireligiöse Pfarrer gewesen sein, da Strünckmann in seinem Bericht mehrfach eine Gruppe von theologischen „Gelehrten“ bzw. „Geisteswissenschaftlern“ erwähnt. Bereits an seinen Blankenburger Wochen und einem Metabiologischen Kongress (1933) waren die Pfarrer Friedrich Ebbinghaus ( Nierenhof ), Franz Federhofer ( Altötting ), Otto Kaiser ( Volkertshausen ) und Paul - Gerhard Stosch ( Wienrode bei Blankenburg ) als Referenten beteiligt. 150 Friedrich Manz : Das planetare Gesetz in der Gott - Mensch - Beziehung, Frankfurt a. M. 1940. 151 Paquet war – ebenso wie Schöll – im Dezember 1921 unter den Teilnehmern der von Strünckmann veranstalteten christrevolutionären „Aufbauwoche“ in Erfurt. Vgl. Karl Strünckmann, Von der Aufbau - Woche in Erfurt / Weimar. In : Weltwende ( Stuttgart ), 3 (1922) 1, unpag.; Alfons Paquet, Welt - Wende. In : Weltwende ( Stuttgart ), 2 (1921) 9/12, S. 45 f.; ferner die Briefe Strünckmanns im NL Alfons Paquet ( UB Frankfurt a. M.).

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ter allen verspürte. Er ahnte, ja er wusste etwas von dem Geheimnis der geistigen Wiederkunft Christi, deren Morgenröte unser dunkles Zeitalter erhellen will.“152 Paquet distanzierte sich allerdings nach seinen Erlebnissen im Januar 1942 von einigen der Gesprächspartner Strünckmanns. Möglicher weise mit Blick auf den Bund Deutsche Glaubenseinung schrieb er an ihn : „Die Auslegung des Völkischen, die da mit so heftigen Ansprüchen auftritt, empfiehlt sich sehr wenig für ein Zusammenleben, bei dem ein Volk gedeihen kann. Hier, meine ich, sollte auch Ihr gut gemeinter Versuch zu einer religiösen Synthese ein Ende haben. Es ist mir schon bei mancher der Strömungen, die sich unter Ihrem Dach zusammenfinden nicht geheuer. [...] Es gibt heute mancherlei, was sich Glaube nennt und nichts anderes als ein Auftrumpfen oder gar die Lust an der Persiflage ist, wenn nicht reine Verzweif lung.“153 Wie schon in den 1920er und 1930er Jahren wollten Strünckmann und seine Mitstreiter auch 1941 die „religiöse Front“ sammeln und organisieren. Das „metaphysische Bedürfnis“ der Deutschen sei zwar gegenwärtig oftmals überlagert oder werde bestritten, die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Meister Eckhart wüssten jedoch, dass in allen der „göttliche Funken“ Eckharts schlummere. Dieser solle durch die Neuausgabe des „Neuen Glaubens“ geweckt und wieder belebt werden. Einen Seitenhieb auf die zurückliegende Tagung in Erbsen konnte sich Strünckmann nicht verkneifen : Weil die Frankfurter Tagung dort angeknüpft habe, wo Erbsen stehen geblieben sei, habe man eine „höhere metaphysisch - religiöse Ebene“ erreicht, als dies zuvor möglich gewesen sei.154 Schöll monierte daraufhin in einem Kommentar zu Strünckmanns Bericht, dass man die „religiöse Tragweite“ der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht klar genug herausgearbeitet habe. „Für uns ist heute entscheidend das unmittelbare Ausgehen von Blut, Wesen und Volk und der unmittelbare Weg vom Deutschsein zum Göttlichsein.“155 Ein greifbares Ergebnis scheint jedoch auch die Frankfurter Tagung nicht gehabt zu haben. Zu einer mit der NS - Ideologie kompatiblen und „vertieften“ Neuausgabe des „Neuen Glaubens“ kam es ebenso wenig wie zu einem von Walbaum verfassten Kommentar. Nachdem Walbaum noch im Juni 1941 im „Mitteilungsblatt der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands“ die Vorstellungen Strünckmanns und der Arbeitsgemeinschaft Meister Eckhart ausführlich refe152 Alfred Schütze, Alfons Paquet. Zum Gedächtnis eines Weltchristen. In : Die Christengemeinschaft, 27 (1955), S. 208–210, hier 209 f. Zu Paquet vgl. Sabine Brenner / Gertrude Cepl - Kaufmann / Martina Thöne, Ich liebe nichts so sehr wie die Städte ... Alfons Paquet als Schriftsteller, Europäer, Weltreisender, Frankfurt a. M. 2001; Oliver M. Piecha / Sabine Brenner ( Hg.), „In der ganzen Welt zu Hause“. Tagungsband Alfons Paquet, Düsseldorf 2003; Claus Bernet, Quäker aus Politik, Wissenschaft und Kunst. 20. Jahrhundert. Ein biographisches Lexikon, Nordhausen 2007, S. 121–127. 153 Alfons Paquet an Karl Strünckmann vom 17. 1. 1942 ( Privatbesitz Jean Paquet, Frankfurt a. M.). 154 Strünckmann, Bericht über Frankfurt a. M., 4. bis 7. 9. 1941 ( NL Schöll ). 155 Friedrich Schöll, Bemerkungen zu dem Bericht über die Frankfurter Aussprache der Freunde um Meister Eckhart, o. D. (1941; NL Schöll ).

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rierte und als Weg zu einer „religiösen Einigung unseres ganzen Volkes“ im Sinne einer „deutschen Licht - und Lebensreligiosität“ gerühmt hatte,156 musste er bereits in der Folgenummer hinnehmen, dass sich die Führung der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands von seinen Sonderbestrebungen abgrenzte und gegen den befürchteten Bedeutungsverlust der eigenen Glaubensgemeinschaft Einspruch einlegte. Georg Pick sah sich zu der folgenden Richtigstellung veranlasst : „Die Ausführungen von Pfarrer Walbaum über die religiöse Einigung unseres Volkes im Juniblatt sind verschiedenen Missverständnissen begegnet. [...] Der Verfasser verfolgte [...] die Absicht, auf einen ihm nahestehenden Kreis aufmerksam zu machen, dem die religiöse Einigung unseres Volkes am Herzen liegt. Es handelt sich hier um eine verhältnismäßig kleine Gruppe, der wir natürlich nicht etwa einzuordnen sind, und die weder an Zahl der Mitglieder noch an Klarheit der Idee mit der FRD gleichzustellen ist. Uns ist und bleibt der auch dort anerkannte Gedanke religiöser Freiheit der Weg, der über die Enge der Konfessionen hinausführt und um den [...] sich die Bestrebungen werden sammeln müssen, die eine Erneuerung der Religion in unserem Volke zum Ziele haben.“157 Nach dieser Kritik tauchte Walbaum nicht mehr als Beiträger in den „Mitteilungsblättern der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands“ auf. Der „Krist - Germane“158 Strünckmann wandte sich jedoch unmittelbar nach der Tagung mit der Entscheidungsfrage „völkische Gottesauffassung oder übervölkische Gottesoffenbarung ?“ an die Germanische Glaubens - Gemeinschaft und forderte diese auf, sich „über die primitive Gottes - Auffassung völkischer Prägung hinaus zu einer übervölkischen Gottes - Erkenntnis“ durchzuarbeiten.159 Die Beschränkung auf eine bloß völkische Gottes - Auffassung stelle eine atavistische Rückkehr in die Vorstellungswelt des Naturmenschen dar. Er selbst favorisierte demgegenüber die „übervölkische Kristos - Idee“ : „Der Kristos, vom Allvater ausgegangen und gesandt, ist der Wegbereiter des Gottesreiches auf Erden für alle Völker.“ Ludwig Fahrenkrog ver wies in seiner ablehnenden Antwort zunächst auf das aktuelle Bekenntnis der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft, demzufolge der „Glaube der Germanen“ nur aus diesen selbst hervorgehen könne, weil sich im germanischen Wesen eine „besondere Erscheinungsform des Allgeistes“ auswirke, und warf Strünckmann sodann vor, mit der 156 Rudolf Walbaum, Erläuterungen zum Traum der religiösen Einigung unseres Volkes. In: Mitteilungsblatt der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands vom 1. 6. 1941, unpag. 157 [ Notiz der Schriftleitung ] in : Mitteilungsblatt der Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands von Juli / August 1941, unpag. 158 Strünckmanns Rede vom Kristgermanentum geht zurück auf den Berliner Großbäcker und völkischen Religionsgründer Gustav Ferdinand Müller (1861–1936), der nach dem Ersten Weltkrieg mit Schriften wie „Das Kristgermanentum als Religion und Kulturmacht“ (1921), „Kristgermanischer Katechismus“ (1923) und „Deutschlands Erlösung. Ein kristgermanisches Zukunftsbild“ (1924) hervorgetreten war. Vgl. auch Brigitte Haß, Gustav Müller – ein Lübbener als Sozialreformer und Großbäcker in Berlin. In : Lübbener Heimatkalender 2008, S. 34–40. 159 Karl Christoph Strünckmann / Ludwig Fahrenkrog, Krist - Germanen. In : Germanen Glaube, Folge 5 ( Gilbhart 1941), unpag. ( hieraus auch die folgenden Zitate ).

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Bezeichnung „Kristos“ Etikettenschwindel zu betreiben und den Germanen „unter ein jüdisches Joch“ zu zwingen. Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs gründete Strünckmann im Herbst 1945 zunächst zusammen mit Richard Seidel das Samariter - Werk der Notwende – Gesellschaft zur Förderung der Hilfs - und Notwerke m. b. H., das vor allem in Bad Harzburg und Umgebung die zahlreichen Flüchtlinge und Kriegsversehrten betreute, sie mit Arbeitsstellen und Übernachtungsplätzen versorgte und mit ihnen eine „Landwerk - Siedlung“ ins Werk setzen wollte. Bald schon meldete sich Strünckmann aber auch mit religiösen Aktivitäten und Plänen zurück. Pfingsten 1946 gründete er zusammen mit Max Schulze - Sölde einen Sankt Michaels - Bund, der den eher politischen Bund Christlicher Sozialisten, den der Düsseldorfer Kaplan Joseph Cornelius Rossaint im Vorjahr gegründet hatte, religiös ergänzen und später mit diesem verschmelzen sollte.160 Im November 1948 rief er mit einem Rundschreiben dazu auf, in der „Ostzone“ eine „christ - kommunistische Akademie“ zu gründen. Die Notwendigkeit einer solchen Gründung, die in der „geistig - religiösen Luft“ liege, sehe er seit dreißig Jahren im Geiste vor sich. In der Herleitung dieses Gedankens hielt Strünckmann, unbeeindruckt von den Schrecknissen und Katastrophen der vergangenen Jahre, an seinen „kosmisch - metabiologischen“ Sinndeutungen der Geschichte fest, die stets auf ein Auserwähltsein des deutschen Volkes hinauslaufen : „In den Visionen, die ich nach 1918/19 hatte, wusste ich, dass zuerst der National - Sozialismus kommen würde und nach ihm der Christ - Kommunismus. Die großen Ideen, die es galt, nach 1918/19 in eine höhere Synthese zu bringen, waren Nationalismus der Bismarck’schen Prägung und Sozialismus der Marx’schen Prägung. Wir Deutschen haben unter Hitler dann kläglich versagt : aus Nationalsozialismus [...] wurde Hitlerismus und Nazismus, der immer mehr in das Dämonische und uns in den Abgrund führte. Inzwischen ver wandelte sich im primitiven, elementaren Russland Marxismus in Leninismus und Stalinismus. Der inzwischen von Gott zugelassene russische Staatskommunismus [...] hat seine religiös - metaphysische Ergänzung noch nicht gefunden. [...] Alles in allem: Die Welt schreit heute nach der großen Synthese zwischen Kommunismus und reinem Jesustum, wie er [ sic !] in der Apostelkirche weiter lebte, aber mit der Zerstörung Jerusalems auch vernichtet wurde. Wir Deutschen, die wir von Gott im Land der Mitte als Mittler zwischen Ost und West aufgerufen sind, haben die große Wende zwischen zwei Äonen zu vollziehen. Das Äon der Fische geht zu Ende. Wir stehen in den apokalyptischen Geburtswehen des Äons Wassermann. Theosophen und Anthroposophen drücken es etwas anders aus : Das Zeitalter St. Gabriel geht zu Ende, wir sind eingetreten in das Zeitalter des St. Michael. St. Michael ist aber der Schutz - und Schirmengel Deutschlands.“161

160 Vgl. Linse, Barfüßige Propheten, S. 154. 161 Karl Christoph Strünckmann, Lieber Freund, 1. 11. 1948. In : Notwende. Drucksachen und Berichte 1945–1947 ( Konvolut in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig; die Titelangabe ist jedoch nicht korrekt ). Hervorhebungen im Original.

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Fortgang und Fazit

Der Bund Deutsche Glaubenseinung blieb nach den beiden Tagungen bestehen und soll sich William Wauer zufolge 1942/43 „lebhaft entwickelt“ haben. Im März 1943 schrieb Wauer : „Es beginnen jetzt ernsthafte Einungsverhandlungen mit den Führern der religiösen Verbände.“162 Zu einem Ergebnis haben diese Verhandlungen jedoch nicht geführt. Wie sich die völkischen Religionsgemeinschaften in den letzten Kriegsjahren entwickelt haben und wie sie sich in der Nachkriegszeit neu formiert haben,163 wäre eine eigene Darstellung wert. Über die hier vorgelegte Mikrostudie hinaus sollen nur drei Geschehnisse erwähnt werden, welche die ungebrochene Virulenz der Einigungsfrage belegen. Am 8. August 1943 veranstaltete der Kampfring Deutscher Glaube in Potsdam - Babelsberg eine Gedenkfeier zum zehnten Jahrestag der Deutschen Glaubensbewegung. Eine SA - Standarte spielte Festmusik von Wagner, Schubert und Beethoven, Wolfgang Lüllemann schilderte die Entwicklung der Glaubensbewegung und der Leiter des Kampfrings Wolfgang Kumm verkündete die neu formulierten „Grundlagen“ des Vereins und ermahnte die Besucher endlich, niemals in ihrem „Einsatz für das Reich“ zu ermüden. Bednarski schrieb in seinem Bericht über die Veranstaltung : „Heute ist es stiller um unsere Arbeit geworden. Die Kämpfer deutschen Glaubens stehen an den Fronten und leben, was sie einst predigten : den Glauben an das Reich ! Nach dem Sieg wird dann seine Fortsetzung finden, wozu 1933 der große und machtvolle Aufruf erging : das Ringen um die Einheit des Reiches aus dem Glauben der Art!“ Die Führer der anderen „artgläubigen“ Religionsgemeinschaften hatten zu dieser Feier lediglich „Grüße“ entsandt.164 Kurz darauf unternahm der Kieler Oberstudiendirektor und Schulleiter der Admiral - Graf - Spee - Schule Wolfgang Lüllemann einen neuen Anlauf zur Verständigung und gründete im Namen des Kampfrings Deutscher Glaube eine Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für Fragen des Deutschen Glaubens. Diese wollte Personen, die sich für einen „Deutschen Glauben“ einsetzten und sich vorbehaltlos zur „nationalsozialistischen Weltanschauung“ bekannten, aber nicht dem Kampfring angehören mussten, zusammenführen und ihre Arbeit „für das Volksganze“ nutzbar machen. Ein Einigungsprozess sollte offenbar durch Arbeitsgruppen zu den Bereichen Erziehung und Unterricht, Schrifttum, Vortragswesen, Brauchtum und Feiergestaltung in Gang gesetzt werden.165 Zu

162 William Wauer an Friedrich Schöll vom 21. 3. 1943 ( NL Schöll ). 163 Etwas verkürzt, aber in den Grundzügen korrekt die Darstellung bei Peter Kratz, Die Götter des New Age. Im Schnittpunkt von „Neuem Denken“, Faschismus und Romantik, 2. Auf lage Berlin 1995, S. 293 ff. 164 Gerhard Bednarski, Vor zehn Jahren : Aufbruch in die deutsche Glaubenseinheit. In : Sigrune, Jg. 11, Folge 9/10 ( September / Oktober 1943), S. 10. Hervorhebung im Original. 165 Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für Fragen des Deutschen Glaubens. In : Sigrune, Jg. 11, Folge 11/12 ( November / Dezember 1943), S. 12.

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Völkisch-religiöse Einigungsversuche

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diesem Zweck veranstaltete Lüllemann noch im Juni 1944 eine Tagung in Erfurt, dem Sitz des Sigrune - Verlags, an der auch Schöll teilnahm.166 Über die Ergebnisse ist nichts bekannt. Ludwig Fahrenkrog jedenfalls ging auch danach eigene Wege und schlug im Herbst 1944 die gemeinsame Herausgabe eines „Deutschen Buches“, das nicht nur Glaubensdokumente gegenwärtiger „Geistesgrößen“, sondern – ähnlich wie Wilhelm Schwaners „Germanenbibel“ – auch etwa Auszüge aus der Edda und dem Nibelungenlied enthalten sollte, ein gemeinsames „Fest des Vaterlandes“, bei dem die Verbundenheit des einzelnen mit dem deutschen Volk als „göttliche Bestimmung“ gefeiert werden sollte, sowie die Errichtung einer Irminsäule als Sinnbild deutscher Glaubensfreiheit vor. Rudolf Walbaum schrieb ihm daraufhin : „An einem ‚Deutschen Buch‘ würde ich mich gern beteiligen, wie ich auch bereit wäre, in meiner Freiprotestantischen Gemeinschaft die kommende Sommersonnenwende als Tag des Vaterlandes zu feiern.“167 Wenn man sich nun die Frage stellt, warum die Einigungsversuche während des Zweiten Weltkriegs trotz aller Bemühungen gescheitert sind, lassen sich – abgesehen von dem allgemeinen Hinweis auf die Beharrungstendenz religiöser Institutionalisierungen – aus meiner Sicht drei Antworten finden. Erstens hegten wohl alle völkischen Glaubensführer die heimliche Hoffnung, dass im Rahmen einer „Endlösung der religiösen Frage“ nach der siegreichen Beendigung des Krieges ihre eigene Glaubenslehre zum Zuge käme, und verbanden damit natürlich auch persönliche Machtträume. Zweitens erwies sich, dass die – auch in der Partei vorhandene – ideologische Kluft zwischen den Vertretern eines dezidiert nichtchristlichen Glaubens, der zum Christentum allenfalls ein missionarisches Verhältnis einnahm, und den Personen, die – wie Strünckmann – an einem gnostischen und arischen bzw. arisierten Christus und Restbeständen einer christlichen Moral festhielten, mit keiner sophistischen Ausdeutung zu überbrücken war. Und schließlich offenbarte sich drittens ein weiterer Dissens, der keineswegs parallel zum eben beschriebenen Konflikt verlief. Während einige Glaubensführer auf eine staatlich verordnete und organisierte Religion setzten und den vermeintlich „ungermanischen Dualismus“ von Staat und Kirche über winden wollten, hatten andere die, wenn man so will, „altvölkische“ Vorstellung, dass der neue Glaube nach einer rechtlichen Gleichstellung der völkischen Religionsgemeinschaften mit den Großkirchen aus dem Volk herauswachsen müsse. Dies führte zu unterschiedlichen strategischen Vorgehensweisen. Unter dem selbst auferlegten Anpassungsdruck reduzierten sich die Glaubenssysteme der nichtchristlichen Gemeinschaften – exemplarisch ist dies bei Schöll zu beobachten – mehr und mehr auf den politischen „Glauben“ des Nationalsozialismus, also auf den Glauben an Volk und Rasse. Die begriff liche 166 Friedrich Schöll an Walther Schöll vom 25. 5. 1944 ( NL Schöll ). 167 Ludwig Fahrenkrog, Aus der Arbeit der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft. In : Germanen - Glaube, Folge 1 ( Lenzing 1945), unpag.

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Christoph Knüppel

Formulierung und rituelle Ausgestaltung ( z. B. in Form von Namens - , Jugend und Eheweihen ) einer Spiritualität des „Deutsch - Seins“, der sich diese Gemeinschaften widmeten, machte sie zu „nützlichen Idioten“ des NS - Regimes. Die Glaubenssysteme im Umfeld von Strünckmann, die zwar ebenfalls den Topos des „auser wählten Volkes“ auf Deutschland übertrugen, aber an christlichen Elementen festhielten, waren zu esoterisch, als dass sie irgendeine Breitenwirkung entfalten konnten. Die deutschchristlichen Bestrebungen innerhalb der Kirchen wiederum hatten nach 1941 ohnehin keine Zukunft mehr.168

168 Vgl. Gailus, „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ ?, S. 263 f.

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II. Völkisches Christentum

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Karrieren des arischen Jesus zwischen 1918 und 1945 Martin Leutzsch

1.

Der arische Jesus in den Anfängen der nationalsozialistischen Bewegung1

Ein nichtjüdischer Jesus begegnet uns seit 1919 in Dietrich Eckarts Publizistik.2 Hitler kommt auf den nichtjüdischen, judenfeindlichen Jesus zwischen 1921 bis 1929 wiederholt in Reden und Interviews und in „Mein Kampf“ zurück.3 1922 nennt er Christus „unser[ en ] größte[ n ] arische[ n ] Führer“.4 Georg Schott, sein erster Biograph, publiziert 1923 im „Völkischen Beobachter“ über den arischen Jesus.5 Heinrich Himmler schreibt um die Jahreswende 1923/24 in seinen Lektürenotizen zu Ernest Renans „Leben Jesu“, Jesus sei gegen Renan kein Jude, sondern ein Arier.6 Im „Stürmer“ ist das Thema des arischen Jesus seit 1924 präsent.7 Dietrich Klagges präsentiert in „Das Urevangelium Jesu, der deutsche 1 2 3

4 5 6 7

Für wichtige Hinweise danke ich Uwe Puschner, für kritische Lektüre Marion Keuchen und Matthias Lenz. In der Dokumentation ist Vollständigkeit nicht beabsichtigt; Verweise auf Forschungsliteratur beschränke ich auf ein Minimum. Vgl. Alfred Rosenberg ( Hg.), Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis, 4. Auf lage München 1937, S. 198 f.; Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S. 18–25. Vgl. Eberhard Jäckel ( Hg.), Hitler : Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 367 ( Rosenheim, 21. 4. 1921), 487 f. ( nach 21. 9. 1921), 623 f. ( München, 12. 4. 1922), 718 ( München, 2. 11. 1922), 726 f. ( Interview, vor 11. 11. 1922 : Jesus Germane ), 769 ( München, 17. 12. 1922); Adolf Hitler, Mein Kampf, 514. Auf lage München 1940, S. 336; Bärbel Dusik ( Hg.), Hitler : Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, Band 2 : Vom Weimarer Parteitag bis zur Reichstagswahl Juli 1926–Mai 1928, Teil 1 : Juli 1926–Juli 1927, München 1992, S. 106 ( Augsburg, 19. 12. 1926); Klaus A. Lankheit ( Hg.), Hitler : Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Band 3 : Zwischen den Reichstagswahlen Juli 1928–September 1930, Teil 2 : März 1929–Dezember 1929, München 1994, S. 200 (13. 4. 1929). Die meisten dieser Belege sind jetzt bequem zusammengestellt bei Thomas Schirrmacher, Hitlers Kriegsreligion. Die Verankerung der Weltanschauung Hitlers in seiner religiösen Begriff lichkeit und seinem Gottesbild, Band 2: Zitatband, Bonn 2007, S. 514–525. Jäckel, Hitler, S. 635. Vgl. Georg Schott in : Völkischer Beobachter vom 30. 5. 1923 und 23. 6. 1923. Nach Bradley F. Smith, Heinrich Himmler : A Nazi in the Making, 1900–1926, Stanford 1971, S. 145, Anm. 60. Vgl. auch Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 33 f. Vgl. Mirjam Kübler, Judas Iskariot – Das abendländische Judasbild und seine antisemitische Instrumentalisierung im Nationalsozialismus, Waltrop 2007, S. 335–346.

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Glaube“ einen arischen Jesus.8 Dieses Buch findet die begeisterte Zustimmung von Joseph Goebbels, der es gleich nach seinem Erscheinen 1926 liest.9 Drei Jahre später, in seinem Roman „Michael“, wird Jesu Nichtjudentum dekretiert.10 Wieder ein Jahr darauf, 1930, behauptet Alfred Rosenberg in „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, es liege „nicht der geringste zwingende Grund vor, dass Jesus jüdischer Herkunft gewesen“ sei.11 Vorangegangen war ihnen allen Artur Dinter, der 1918 in seinem völkischen Bestseller „Die Sünde wider das Blut“ den Protagonisten Hermann Kämpfer im Privatgespräch mit der Jüdin Elisabeth und deren Mutter ausführlich begründen lässt, dass Jesus kein Jude, sondern ein Arier gewesen sei.12 In zahlreichen weiteren Veröffentlichungen propagierte Dinter die Konstruktion eines arisch - heldischen Jesus.13 Er gründete auf dieser ideologischen Basis 1927 die Geistchristliche Religionsgemeinschaft, die 1934 in Deutsche Volkskirche umbenannt wurde und noch nach Kriegsende weiter existierte.14 Als Dinter 1948 starb, war der einstige NSDAP - Gauleiter von Thüringen bereits zwanzig Jahre aus der Partei ausgeschlossen. Die Funktion des Ideologems nichtjüdischer Jesus besteht hier durchweg in der Legitimation des politischen Kampfs gegen das Judentum und das damit identifizierte Kapital. Der arische Jesus ist Vorläufer, Protagonist und Identifikationsfigur für die, die von ihm reden. Insbesondere Hitler vollzieht die Identifikation so weitgehend, dass er sich 1923 öffentlich, mit einer Nilpferdpeitsche ausgerüstet, als den die Händler aus dem Tempel treibenden Jesus inszeniert.15 8 Vgl. Dietrich Klagges, Das Urevangelium Jesu, der deutsche Glaube, Leipzig 1926. 9 Vgl. Claus - Ekkehard Bärsch, Erlösung und Vernichtung. Dr. phil. Joseph Goebbels. Zur Psyche und Ideologie eines jungen Nationalsozialisten 1923–1927, München 1987, S. 302 f., 374. Vgl. auch Joseph Goebbels, Tagebücher, Bände 1–5, München 1992, Band I, S. 205. 10 Vgl. Joseph Goebbels, Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, 10. Auflage München 1937, S. 57 f. 11 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch - geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 83.–86. Auf lage München 1935, S. 76. 12 Vgl. Artur Dinter, Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman, 4.–5. Auf lage Leipzig 1918, S. 160–180. 13 Z. B. Artur Dinter, „Lichtstrahlen aus dem Talmud“. Offene Briefe an den Landes - Rabbiner von Sachsen - Weimar - Eisenach Herrn Dr. Wiesen und öffentliche Aufforderung an die Herren Rabbiner Dr. Bruno Lange in Essen und Dr. Rosenack in Bremen sowie an sämtliche Rabbinere Deutschlands, Leipzig 1920; ders., Das Evangelium unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus nach den Berichten des Johannes, Markus, Lukas und Matthäus im Geiste der Wahrheit neu übersetzt und dargestellt, Langensalza 1923; ders., 197 Thesen zur Vollendung der Reformation. Die Wiederherstellung der reinen Heilandslehre, Leipzig 1926, S. 31 f.; ders., Die Sünde wider die Liebe. Ein Zeitroman, Leipzig 1928, S. 155, 233, 239, 295, 297, 312 f., 347, 350 f., 355 f., 481 ( zuerst 1922); ders., War Jesus Jude ? Ein Nachweis auf Grund der Geschichte Galiläas, der Zeugnisse der Evangelien und Jesu eigener Lehre, Leipzig 1934; ders., Wie sah Jesus aus ? Eine Quellenstudie, Leipzig 1934. 14 Dies zeigt ein mir vorliegender Brief von Dinters Frau Elisabeth an Dresdener Mitglieder seiner Kirche vom 27. 12. 1945. 15 Vgl. Ernst Hanfstaengl, Zwischen Weißem und Braunem Haus. Memoiren eines politischen Außenseiters, München 1970, S. 109; Walter C. Langer, The Mind of Adolf Hitler. The Secret Wartime Report, New York 1972, S. 35 f.

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Karrieren des arischen Jesus

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Die antisemitisch interpretierte Tempelreinigung ist auch das häufigste Motiv, mit dem Hitler Jesus in der Öffentlichkeit zitiert.16

2.

Die Diskursbasis

Von Dinter abgesehen, verzichten Eckart, Goebbels, Himmler, Hitler, Klagges, Rosenberg und Schott auf Argumente für ihre Konstruktion. Eckart verarbeitet Friedrich Delitzschs „Die große Täuschung“.17 Hitler hatte Schriften von Adolf Lanz ( alias Jörg Lanz von Liebenfels ), Julius Langbehn und Ernst Haeckel gelesen, vielleicht auch „Die Große Täuschung“, und nahm von Dinters Roman mindestens den Titel „Die Sünde wider das Blut“ als Kampfparole auf.18 Der junge Himmler hatte Dinters Roman gelesen, ebenso Hermann Burtes „Wiltfeber, der ewige Deutsche“, Theodor Fritschs „Der falsche Gott“, Ernst Haeckels „Die Welträthsel“ und Dietrich Eckarts „Der Bolschewismus von Moses bis Lenin“.19 Goebbels hatte Klagges rezipiert.20 Rosenberg, der Eckart herausgegeben hatte, verweist auf Delitzsch und Emil Jungs „Die geschichtliche Persönlichkeit Jesu“.21 In all diesen Publikationen war für die Konstruktion eines arischen Jesus mehr oder weniger ausführlich argumentiert worden. Fast alle bezogen sich ausdrücklich, manche ausschließlich auf Houston Stewart Chamberlains „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“.22 „Die Sünde wider das Blut“ war „Dem 16 Vgl. Jäckel, Hitler S. 623 f., 718; Hanfstaengl nach Langer, Mind, S. 35; Dusik ( Hg.), Hitler, S. 106; Lankheit ( Hg.), Hitler, S. 200; auch Ernst Deuerlein ( Hg.), Der Aufstieg der NSDAP in Augenzeugenberichten, 5. Auflage München 1982, S. 266 ( Haidhausen, 18. 12. 1926). 17 Vgl. Eckart, Bolschewismus, S. 9. 18 Lanz und Langbehn : vgl. George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M. 1990, S. 238. Haeckel : vgl. Richard Noll, The Jung Cult. Origins of a Charismatic Movement, London 1996, S. 136. Delitzsch : vgl. Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Berlin 1998, S. 1105, Anm. 7. Dinter : vgl. Hitler, Kampf, S. 272 ( hervorgehoben ) : „Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ihr ergebenden Menschheit.“ 19 Vgl. die Leseliste Himmlers für 1919 bis 1926 bei Smith, Himmler, S. 173–179, Nr. 47, 110, 76, 191, 208. Zur Analyse von Himmlers Lektüre vgl. ebd., S. 130–153; Ackermann, Himmler, S. 25–29, 33–36. 20 Vgl. Bärsch, Erlösung, S. 302 f., 374. Vgl. auch Goebbels, Tagebücher, Band I, S. 205. 21 Vgl. Rosenberg, Mythus, S. 76 Anm. 22 Eckart : Rosenberg, Eckart, S. 198 f. Hitler : Joachim Köhler, Wagners Hitler. Der Prophet und sein Vollstrecker, München 1997, S. 241. Vgl. auch Thomas W. Ryback, Hitler’s Private Library : The Books that Shaped his Life, London 2009, S. xiii f. ( „Worte Christi“ sind ein Werk Chamberlains [ München 1901]). Klagges : Klagges, Urevangelium ( dazu Bärsch, Erlösung, S. 303). Goebbels : Köhler, Hitler, S. 250; Jan Andres, Die Konser vative Revolution in der Weimarer Republik und Joseph Goebbels’ Michael Roman (1929). Überlegungen zu einer möglichen Verbindung. In : Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, 11 (2007), S. 141–165, hier 150. Rosenberg : Rosenberg, Mythus, S. 76 Anm.; Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 308; Claus - Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS - Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und

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Deutschen Houston Stewart Chamberlain“ gewidmet; mit Chamberlain stand Dinter im Briefwechsel.23 Möglicherweise lernte er ihn auch persönlich kennen, als er 1920 Winifred Wagner traf.24 Hitler wurde bei seinem Erstbesuch in Bayreuth 1923 von Chamberlain das Du angeboten;25 er las die Druckfahnen von „Mein Kampf“.26 Chamberlain gehörte zu den mehr als fünfzig Publizisten, die zwischen 1871 und 1918 den öffentlichen Diskurs über den arischer Jesus prägten. In „Mensch und Gott“ hatte er 1921 erneut einen galiläischen, d. h. arischen Jesus präsentiert.27

3.

Die Karrieren des arischen Jesus von 1804 bis 1918 im Kontext der Jesuskonstruktionen der Neuzeit

3.1

Traditionslinien

Im Kaiserreich hatte sich das Konstrukt eines arischen Jesus zum Diskurs formiert.28 Noch ohne das Arier - Label gibt es die Idee eines ethnisch nichtjüdischen Jesus seit einer handschriftlichen Notiz Fichtes von 1804, deren Ergebnis in „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ (1806) einging.29 Schopenhauer und Wagner, Émile Burnouf und Louis Jacolliot konstruieren einen indisch geprägten Jesus.30 Der „arische“ Jesus wird in Dunbar Heaths These

23 24 25 26 27 28

29 30

Adolf Hitler, München 1998, S. 193 f. Vgl. auch Alfred Rosenberg, Houston Stewart Chamberlain als Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft, München 1927. Für Hans Schemms einschlägige Chamberlain - Rezeption vgl. Benedikt Lochmüller, Hans Schemm. Band 2 : 1920–1935, München 1940, S. 138. Vgl. Dinter, Liebe, S. 492 f.; Houston Stewart Chamberlain, Briefe 1882–1924 und Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, München 1928, S. 81–84, 86 f. Vgl. Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München 2002, S. 60. Zu Dinters Beziehungen zur Familie Wagner vgl. ebd. S. 150 f., 153. Vgl. Hamann, Wagner, S. 84, auch 119 f. Vgl. Hartmut Zelinsky, Kaiser Wilhelm II., die Werk - Idee Richard Wagners und der „Weltkampf“. In : John C. G. Röhl ( Hg.), Der Ort Kaiser Wilhelms in der deutschen Geschichte, München 1991, S. 257–356, hier 301 mit Anm. 13; Hamann, Wagner, S. 99. Vgl. Houston Stewart Chamberlain, Mensch und Gott. Betrachtungen über Religion und Christentum, 2. Auf lage München 1929, S. 110–117 ( zuerst 1921). Für eine ausführlichere Darstellung der Geschichte des Konstrukts vom arischen Jesus vgl. Martin Leutzsch, Der Mythos vom arischen Jesus. In : Lucia Scherzberg ( Hg.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008, S. 173–186. Unzureichend in Quellenbasis und Kontextualisierung Wolfgang Fenske, Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe. Nachgelassene Schriften 1804–1805, Stuttgart 1989, S. 270–276, bes. 276; ders., Werke I–XI, Berlin 1845, VII, S. 99 f. Vgl. Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, X S. 422 f.; ders., Der handschriftliche Nachlaß. Bände I–V, München 1985, IV /1, S. 166 f.; Richard Wagner, Sämtliche Briefe VII : März 1855–März 1856, Leipzig 1988, S. 129 f. ( vgl. auch ebd. S. 207–209); Émile Burnouf, La science des religions, Paris 1872, S. 106 f., 164, 166, 232–241, 252–254, 257–266, 276 f.; Louis Jacolliot, La Bible dans l’Inde. Vie de Iezeus Christna, 2. Auf lage Paris o. J. ( zuerst 1868).

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Karrieren des arischen Jesus

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vom arischen Ursprung des Christentums 1867 ausdrücklich nicht thematisiert.31 Schon Fichte verwendet als negatives Argument gegen die jüdische Herkunft Jesu die Divergenz der beiden Stammbäume Jesu im Matthäus - und Lukasevangelium, indem er beide als historisch unzutreffend ablehnt. Seit Ernest Renan (1863) und Gustav Adolf Wislicenus (1864) kommt als positives Argument die These von der Mischbevölkerung Galiläas hinzu.32 Plausibilisiert wird Jesu Nichtjudesein entweder mit Thesen zur Bevölkerungszusammensetzung Galiläas oder unter Zuhilfenahme einer antiken und mittelalterlichen, in der Religionskritik der Aufklärung neu aufgenommenen christentumspolemischen Legende, wonach Jesu wahrer Vater ein Soldat oder ein Nichtjude gewesen sei.33 Dabei wird der Soldat zum Nichtjuden und – Konkurrenz der Altertümer (Andrea Polaschegg ) – zum Griechen, Römer, Kalabrier, Gallier oder Germanen.34 Ein zentrales Argument ist der Gegensatz zwischen Jesus und den Juden, 31

Vgl. Dunbar I. Heath, On the Great Race - Elements in Christianity. In : Journal of the Royal Anthropological Society London, 5 (1867), S. xix–xxxi, hier xxii. 32 Vgl. Ernest Renan, Vie de Jésus, 7. Auflage Paris 1863, S. 21 f.; Gustav Adolf Wislicenus, Die Bibel. Für denkende Leser betrachtet. Zweiter Band, Leipzig 1864, S. 13, 400. Ohne Bezug auf Jesu Abstammung begegnet diese These bereits bei John Toland, Dissertationes duae, Adeisidaemon et Origines Judaicae, Hagae Comitis 1709, S. 145–148, und im Artikel „Galiläa“ in Johann Heinrich Zedler ( Hg.), Grosses vollständiges Universallexicon Aller Wissenschafften und Künste [...], Band 10, Halle 1735, Sp. 129– 133, hier 129 f. ( jeweils unter Bezug auf Strabon, Geographica 16,2,34). Dekonstruktion von Renans Galiläa : Paulus Cassel, Ueber Renan’s Leben Jesu. Ein Bericht, Berlin 1864, S. 69 f. 33 Vgl. Kelsos bei Origenes, Contra Celsum 1,32; Amolo von Lyon, Contra Judaeos 40, Migne, Patrologia Latina 116, Sp. 141–184, hier 169. Vgl. Samuel Krauss / William Horbury, The Jewish - Christian Controversy from the earliest times to 1789, Vol. I : History, Tübingen 1995, S. 70 f. 34 Offizier einer kalabresischen Legion : Ernst Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, 2. Auf lage Bonn 1899, S. 377–380; Johannes Schlaf, Christus und Sophie, Wien 1906, S. 127–129; Friedrich Karl Otto, Was dünket euch um Jesus ? O. O. ( Freiberg ) 1930, S. 21–26. Griechischer oder römischer Soldat: de Loosten [= Georg Lomer ], Jesus Christus vom Standpunkte des Psychiaters. Eine kritische Studie für Fachleute und gebildete Laien, Bamberg 1905, S. 20 f., 90; Emil Jung, Radikaler Reform - Katholizismus. Grundlagen einer deutschkatholischen Kirche, München 1906, S. 132, 139 142–145 149–152. Römischer Soldat : Rudolf Hans Bartsch, ER. Ein Buch der Andacht, Leipzig 1915; Emil Jung, Die Herkunft Jesu. Im Lichte der freien Forschung, München 1920, S. 236 f.; Dagobert Runes, Der wahre Jesus oder das fünfte Evangelium, Wien 1927, S. 6, 8–11; Wilhelm Richter, Notwender Christ, Berlin 1937, S. 55 f., Anm. 2. Nichtjüdisch, aber kein Soldat, sondern Jesu Großvater : Reinhold Seeberg, Die Herkunft der Mutter Jesu. In : Theologische Festschrift für G. Nathanael Bonwetsch, Leipzig 1918, S. 13–24 ( Seeberg transformiert pagane, jüdische und christliche Traditionen der Antike und des Mittelalters ); Emanuel Hirsch, Das Wesen des Christentums, Weimar 1939, S. 19 f., 158–165; Walter Grundmann, Jesus der Galiläer und das Judentum, Leipzig 1940, S. 196–200 ( mit Verweis auf Seeberg und Hirsch ); auch im deutschchristlichen Religionsunterricht 1939/40 ( vgl. Eberhard Röhm / Jörg Thierfelder, Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Bilder und Texte einer Ausstellung, 4. Auf lage Stuttgart 1990, S. 78 f.). Hitler hielt laut einem Interview 1922 Jesus für einen Germanen ( Jäckel, Hitler, S. 726 f.), in Gesprächen im Führerhauptquartier 1941 seinen Vater für einen römischen Soldaten ( vgl. Werner Jochmann [ Hg.], Adolf Hitler. Monologe im Führer - Hauptquartier 1941–1944. Die Auf-

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der als Rassengegensatz diagnostiziert wird.35 Seit Schopenhauer und Renan differenziert sich der arische Jesus in zwei Varianten aus : Der krischna - oder buddhagleiche indische Jesus erhält in esoterischen Kontexten Gewicht und Bedeutung, sei es in theosophischen, anthroposophischen oder ariosophischen Entwürfen.36 Der aus dem gemischtrassigen Galiläa stammende Jesus wird, angestoßen durch den Berliner Antisemitismusstreit, insbesondere im Bayreuther Kreis37 und in der Publizistik des politischen Antisemitismus propagiert.38 Auf lagenstarke Weltanschauungsschriften, wie Chamberlains „Grundlagen“ und Haeckels „Welträthsel“, betten den arischen Jesus in umfassende geschichts-

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zeichnungen Heinrich Heims, Bindlach 1989, S. 96), 1944 für einen Legionär aus Gallien ( ebd., S. 412). Ein Beispiel statt vieler : Emil Jung, Die geschichtliche Persönlichkeit Jesu, München 1924, S. 60. Vgl. Wilhelm Hübbe - Schleiden, Jesus, ein Buddhist ? Eine unkirchliche Betrachtung, Braunschweig 1890; Ernest Bosc, La vie ésotérique de Jésus Christ et les origines orientales du christianisme, Paris 1902; Gaston - Eugène de Lafont, Les Aryas de Galilée et les origines aryennes du Christianisme. Première partie, Paris 1902; P. R. Eichelter, Jesus der Galiläer. Ein arisches Evangelium, Leipzig 1922. Rudolf Steiner behauptete 1909, um die Zeitenwende seien in Palästina zwei Jesusknaben geboren worden : einer mit einem priesterlichen, einer mit königlichem Stammbaum, deren Personkerne später in einem der beiden Platz finden. Der eine Jesus sei eine Reinkarnation Buddhas, der andere eine Zarathustras gewesen; insofern wird Jesus außerhalb des Judentums platziert. Vgl. Rudolf Steiner, Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien, Dornach 1986, S. 9–24; ders., Das Lukas - Evangelium, Dornach 1987; ders., Aus der Akasha - Forschung. Das Fünfte Evangelium, Dornach 1991, S. 56, 121 f., 190–192, 221–223, 243–245, 284–287; dazu zuletzt Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, 2. Auf lage Göttingen 2007, S. 808–810, 824. Vgl. Richard Wagner, Religion und Kunst (1880/81). In : ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Band 10, Leipzig 1888, S. 231–233; Hans Paul von Wolzogen, Zur Kritik des „Parsifal“. In : Bayreuther Blätter, 4 (1881), S. 112–119; Bernhard Förster, Das Verhältniss des modernen Judenthums zur deutschen Kunst. Vortrag gehalten im Berliner Zweigverein des Bayreuther Patronats - Vereins, Berlin 1881, S. 13 ff.; Arthur Seidl, Jesus der Arier – Christenthum oder Buddhismus ? Eine religionsphilosophische Neujahrs - Betrachtung über „Undogmatisches Christenthum“. In : Bayreuther Blätter, 13 (1890), S. 45–65; Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 26. Auf lage München 1940, S. 209–220 ( zuerst 1899; Seitenangaben beziehen sich auf die Originalpaginierung ). Vgl. Paul de Lagarde, Deutsche Schriften, München 1924, S. 64 f., 261–263; ders., Ausgewählte Schriften, 2. Auf lage München 1934, S. 235; Theodor Fritsch an Wilhelm Marr vom 19. 5.1885 ( zit. nach Barbara Suchy, Antisemitismus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. In : Jutta Bohnke - Kollwitz / Willehad Paul Eckert / Frank Golczewski / Hermann Greive ( Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 252–285, hier 264); Theodor Fritsch, Jesus, der arische Galiläer. In : Hammer 239 ( Juni 1912), S. 288–290; ders., Der falsche Gott. ( Beweis Material gegen Jahwe ), Leipzig 1921, S. 183–185; Edmond Picard, Synthèse de l’antisémitisme, Bruxelles 1941, S. 22, 53 f., 105 ( zuerst 1892); Friedrich Lange, Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, Berlin 1893, S. 106. Für Hermann Ahlwardt vgl. [ Anonym ], Antisemiten - Spiegel. Die Antisemiten im Lichte des Christenthums, des Rechtes und der Wissenschaft, 2. Auf lage Danzig 1900, S. 292.

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philosophische Konstruktionen ein.39 Der arische Jesus wird Gegenstand der Dichtung.40 Naturwissenschaftler wie Willibald Hentschel und Heinrich Driesmans integrieren ihn in ihre Entwürfe völkischer Spiritualität.41 Ein Arzt wie Georg Lomer grenzt ihn aus seinem Entwurf aus.42 Der arische Jesus begegnet wiederholt in völkischen Zeitschriften wie „Heimdall“ und wird im Germanenorden aufgegriffen.

3.2

Differenzierungen

Die beiden Typen des arischen Jesus – der esoterische und der stärker an akademische Diskurstraditionen anschließbare nichtesoterische – entwickeln sich im Lauf der Zeit immer stärker auseinander. Das hat mit dem Wandel des Männlichkeitsideals zu tun : Der buddhagleiche Jesus mit dem Schopenhauerschen Pessimismus gerät im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in das Diskursfeld der Dekadenz, verstanden als deviante Männlichkeit. Nietzsches Kritik an einem Jesus, der weder Genie noch Held, sondern Idiot ist,43 hat ihren Kontext in einem Diskursfeld, in dem Judentum und jüdische Männlichkeit als pathologisches Gegenbild einer neuen Männlichkeitsnorm erzeugt werden,44 von der aus die edle Einfalt und stille Größe, das bürgerliche Männlichkeitsideal der Zeit von 1770 bis 1870, als weichlich und süßlich abgelehnt und eine aggressivere, nationalistischere Männlichkeit gefordert wird.45 Der arische Jesus wird in einer Phase zunehmend aggressiver, in der die Studentenverbände Juden ausschließen, weil sie nicht satisfaktionsfähig, d. h. keine Männer sind. ( Nietzsches deka39 Vgl. Chamberlain, Grundlagen; Haeckel, Welträthsel, S. 377–380 ( vgl. auch ebd. 326, 362). Ab 1908 schloss Haeckel sich der These von der Christusmythe an, die die Existenz eines historischen Jesus bestritt. Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Stuttgart 1984 ( Nachdruck von 11. Auf lage Leipzig 1919), S. 501 f., 508. 40 Vgl. Max F. Sebaldt, Jesus der Arier und die jesuanische Weltanschauung, Berlin 1888; Max Bewer, Gedanken, Dresden 1892, S. 28–41; Ernst Stadler, Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe, München 1983, S. 21–28 ( dazu ebd. 585–599); Franz Lüdtke, Anbetung. In : Hammer 1903; Gustav Frenssen, Hilligenlei. Roman, Berlin 1905, S. 490, 494; Schlaf, Christus S. 127–129; Hermann Burte, Wiltfeber, der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers, 4. Auf lage Leipzig 1912, S. 128–132, 157, 226; Bartsch, ER. 41 Vgl. Willibald Hentschel, Varuna. Eine Welt - und Geschichts - Betrachtung vom Standpunkt des Ariers, Leipzig 1901, S. 288 f.; Heinrich Driesmans, Wege zur Kultur, München 1910, S. 36 f. 42 Vgl. de Loosten, Christus. 43 Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München 1999, Band XIII, S. 237; auch Band VI, S. 202. 44 Vgl. Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997. 45 Vgl. George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a. M. 1997. Zum Wandel neuzeitlicher Konstruktionen von Jesus der Mann: knapp Martin Leutzsch, Jesus der Mann. In: Junge Kirche, 70 (2009) 4, S. 15–17.

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denter Jesus ist dezidiert Jude.46) Hitler betont in den frühen 1920er Jahren, Jesus sei nicht weltverneinend, sondern lebensbejahend, nicht Dulder, sondern Streiter, nicht Friedensapostel, sondern Kämpfer.47 Damit reiht er sich in die Zahl der Kritiker des sanften und stillen Jesus ein, die seit den 1880er Jahren in der protestantischen Kunstkritik die von Winckelmanns Männlichkeitsideal geprägten Jesusbilder der Nazarener und Bertel Thor valdsens bekämpfen.48 Zugleich lehnt er solche Konstruktionen eines arischen Jesus ab, die für die politische Agitation nicht brauchbar sind.

3.3

Eine Jesuskonstruktion der Neuzeit

Der arische Jesus ist eine Facette verschiedener Jesuskonstruktionen der Neuzeit, die, außer in Frankreich, vor allem in protestantisch geprägten Kulturen seit dem 18. Jahrhundert entstehen und bis heute wirksam sind.49 Gemeinsam ist diesen Konstruktionen die Abstraktion von der dogmatischen Vorgabe der Göttlichkeit Jesu. Auf den irdischen Jesus konzentrieren sich die Konstruktionen Jesu als Politiker, als Mitglied religiöser Bewegungen, als Genie, als Problemfall für psychische und geistige Gesundheit, emotionale und sexuelle Aktivität und Normalität, für Historizität. Neuzeitliche Diskurse um Personsein, Religion, Politik, Normalität stehen im Hintergrund. Eine Facette dieser Jesusvorstellungen ist die von Jesus als Arier. Hier sind Rasse und Männlichkeit die normativen Kategorien. Anschließbar waren vor allem Konstruktionen Jesu als Politiker, insbesondere als Protagonist politischer Bewegungen. Querbezüge zu den anderen Jesusvorstellungen sind selten, etwa wenn Jesus psychische Labilität zugeschrieben und mit Rassenmischung erklärt wird50 oder wenn behauptet wird, „dass er, der mehr leiden konnte und gelitten hat als ein Mensch, auch reiner und herzlicher lachen konnte als je ein Mensch“;51 hier ist der Kontext das antisemitische, seit Renan verbreitete Stereotyp von der Humorlosigkeit der Juden.52 46 Vgl. Nietzsche, Sämtliche Werke, Band IX, S. 80; auch Band V, S. 268 f. 47 Vgl. Jäckel, Hitler, S. 488, 623 f., 865, 867; Deuerlein, Aufstieg, S. 266. 48 Ausgangspunkt war der Konflikt um Max Liebermanns Gemälde „Der zwölf jährige Jesus unter den Schriftgelehrten“ von 1879. Vgl. Katrin Boskamp, Studien zum Frühwerk von Max Liebermann mit einem Katalog der Gemälde und Ölstudien von 1866– 1889, Hildesheim 1994, S. 75–115 und 418–431 ( Abb. 22–42); Martin Faass ( Hg.), Der Jesus - Skandal. Ein Liebermann - Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin 2009. Zum Skandal vgl. Ludwig Leiss, Kunst im Konflikt. Kunst und Künstler im Widerstreit mit der „Obrigkeit“, Berlin 1971, S. 95–100. 49 Vgl. Martin Leutzsch, Jesusvorstellungen der Neuzeit. Ein Überblick ( Vortrag 2008), zugänglich unter http ://www.lippische - landeskirche.de / daten / File / Schulreferat / Martin%20Leutzsch%20Jesusvorstellungen%20der%20Neuzeit%20und%20.pdf ( Zugriff : 21. 10. 2010). 50 Vgl. de Loosten, Christus; positive Bewertung der Rassenmischung bei Frenssen, Hilligenlei, S. 494. 51 Karl Bösch, Adel. Sprüche und Gedanken, 3. Auf lage Berlin 1930, S. 185. 52 Vgl. Ernest Renan, Histoire générale et système comparé des langues sémitiques, Paris 1855. Das Stereotyp, das schon vor Renan begegnet ( z. B. bei Heinrich Laube, Das Jun-

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Zum Kontext dieser Jesusvorstellungen der Neuzeit gehört auch die Konstruktion von Religionsentwürfen, oft mit der Konzeption von Religionstheorien einhergehend. Immer wieder auftauchende Stichworte wie „neue Religion“, „Religion der Zukunft“ und „Weiterentwicklung der Religion“ implizieren, dass Religion eine menschliche Konstruktion ist ( mit der Religionskritik ) und dass Religion eine wichtige oder notwendige menschliche Aufgabe darstellt (gegen die Religionskritik ). Wie auch immer das Religionsprojekt im Einzelnen konzipiert ist, stets handelt es sich um eine Alternative zur kirchlichen Performanz und Theorie von Religion. Hochschullehrer sind bis 1918 an der Konstruktion eines arischen Jesus meist mit politischen Äußerungen beteiligt. An der argumentativen Ausformulierung ist, so weit ich sehe, zuerst der Orientalist Paul Haupt beteiligt, der sich sogleich in Prioritätsstreitigkeiten bezüglich der Entdeckung des arischen Jesus begibt53 und dessen Thesen bald von der Mazdaznan - Bewegung als wissenschaftliche ge Europa. Theil 2 : Die Krieger, Band 2, Mannheim 1837, S. 60 f.), konnte auch benutzt werden, um Jesus in Rassekategorien als Juden zu identifizieren. Vgl. Adolf Schlatter, Die Theologie des Neuen Testaments I : Das Wort Jesu, Calw 1909, S. 453, Anm. 1 : „Die Frage, was an Jesus zur Naturseite seines Charakters gehöre, ist natürlich nicht exakt zu beantworten, da die Begriffe : Rasse, Nationalcharakter, Individualität, mehr Ahnungen aussprechen, als dass sie einer bestimmten Fassung fähig wären. Zum jüdischen Typus Jesu gehört : der Denkakt wird durch den Primat des Willens stark zurückgehalten, und durch ihn zugleich das Empfinden zum Pathos gesteigert; die auffahrende Raschheit des Handelns wechselt ab mit einer großen Fähigkeit, sich in das Gegebene zu finden; Scherz und Spiel treten zurück; der Humor fehlt; das Verlangen nach Glück bekommt keine selbständige Geltung; die sorglose Genügsamkeit befriedigt es; daher geht bei der Ehe die Aufmerksamkeit nur auf die sexuelle Ethik, nicht auf ihren Glückswert, auch nicht auf die allgemeinen sittlichen Werte, die sich mit ihr verbinden. Ebenso werden am Volkstum und an der Natur die Beiträge, die sie zum Glück zu liefern vermögen, nicht aufgesucht. Die sogenannten ‚Kulturaufgaben‘ treten zurück.“ 53 Vgl. Paul Haupt, Die arische Abkunft Jesu und Seiner Jünger. In : Orientalische Literatur - Zeitung, 11 (1908), S. 237–240; ders., The Ethnology of Galilee. In : Transactions of the Third International Congress for the History of Religions, Oxford 1908, Vol. I.2, S. 302–304; ders., The Aryan Ancestry of Jesus. In : The Open Court 23 ( Nr. 635; 1909), S. 193–204; vgl. Aaron Ember, Bibliography of Paul Haupt. In : Cyrus Adler / Aaron Ember ( Hg.), Oriental Studies published in commemoration of the fortieth anniversary (1883–1923) of Paul Haupt as Director of the Oriental Seminary of the Johns Hopkins University Baltimore, Md., Baltimore 1926, S. XXXIII–LXX, hier LI. Auseinandersetzungen über Haupts These vom arischen Jesus gab es auf dem Berliner Historikerkongress 1908 ( vgl. Wolfgang E. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, 2. Auf lage Gießen 2004, S. 375 f.). Zum auf dem 15. Orientalistenkongress in Kopenhagen 1908 geäußerten Prioritätsanspruch Armand Kaminkas äußert sich Haupt, Ancestry, S. 203, Anm. 29. Kaminka ( Studien zur Geschichte Galiläas, Berlin 1890) hatte nur andeutend und ohne Namensnennung eine nichtjüdische Herkunft Jesu suggeriert; seine Bedeutung im Diskurs vom arischen Jesus wird stark überschätzt von Roland Deines, Jesus der Galiläer : Traditionsgeschichte und genese eines antisemitischen Konstrukts bei Walter Grundmann. In : ders./ Volker Leppin / Karl- Wilhelm Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. Ein Neutestamentler in [ sic ] Dritten Reich, Leipzig 2007, S. 43–131, hier 58–60; tatsächlich wurde Kaminka in diesem Zusammenhang kaum beachtet.

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Begründung für ihren arischen Jesus angeführt werden.54 Als erster Universitätstheologe tritt Anfang 1918 Reinhold Seeberg mit der These vom arischen Jesus auf.55 Er ist nach Haupt der zweite Hochschullehrer, der für sich beansprucht, ein Forschungsergebnis mit akademischen Standards zu liefern.

4.

Der arische Jesus in der Weimarer Republik

Einige Publizisten, die schon im Kaiserreich den arischen Jesus propagiert hatten, veröffentlichen dazu auch nach 1918. Neben Chamberlain ist hier der Herausgeber der „Bayreuther Blätter“ Hans Paul von Wolzogen zu nennen, weiterhin Theodor Fritsch, Adolf Bartels und der Ariosoph Adolf Lanz.56 Wilhelm II. schreibt aus dem Exil im Briefwechsel mit Chamberlain und in anderen, auch unveröffentlichten Briefen vom nichtjüdischen Jesus.57 Einige, die sich vorher gegenteilig geäußert hatten, kommen nach 1918 zur Überzeugung, Jesus sei ein Arier gewesen, etwa Friedrich Andersen, Flensburger Hauptpastor und seit 1928 NSDAP - Redner,58 oder der Altorientalist Friedrich Delitzsch,59 der 54 Vgl. Otoman Zar Adusht Hanish, Yehoshua. Leben Jesu, 7. Auf lage Herrliberg o. J. (1922), S. 148, Anm. 1; Mariell Wehrli - Frey, Jesât Nassar genannt Jesus Christus. Geschichte des Lebens von Jesus, dem Nazarener, Band II : Quellen, Ergänzungen, Kommentare, München - Pasing 1965, S. 698. Arischer Jesus z. B. auch in O. Z. A. Hanish / David Ammann / Frieda Ammann / Otto Rauth, Die Ur - Religion, Leipzig 1933, S. 107 f. Vgl. Ulrich Linse, Mazdaznan – die Rassenreligion vom arischen Friedensreich. In : Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 268–291; auch Wolfgang R. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974, S. 73–77. 55 Vgl. Seeberg, Herkunft. 56 Vgl. Chamberlain, Mensch, S. 110–117; Hans Paul von Wolzogen, Deutsche Seele. Betrachtungen über Kultur, Kunst und Religion. Dritter Abschnitt. Auf dem Wege zum reinen Christentum. 11. Jesus und Paulus. 12. Johannes der Evangelist, der Apostel der deutschen Seele. In : Bayreuther Blätter, 52 (1929), S. 140–146, hier 141; Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes, 30. Auf lage Leipzig 1931, S. 391, Anm. 1; Jörg Lanz von Liebenfels, Rezension : Briefwechsel mit Abgarus Ukkama von Edessa, vom Vater des Lichts aufs neue kundgegeben durch Jakob Lorber, 4. Auf lage 1930. In : Ostara 43 : Einführung in die Sexual - Physik oder die Liebe als odische Energie, 3. Auf lage Wien 1931, S. 17. Zu Bartels siehe ebd. 57 Vgl. Chamberlain, Briefe, S. 273–275 (3. 6. 1923); John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 4. Auflage München 1995, S. 21 ( an einen Jugendpastor, Mai 1930). 58 Vgl. Friedrich Andersen, Der deutsche Heiland ( Neuauf lage des „Anticlericus“), München 1921; anders noch ders., Anticlericus. Eine Laientheologie auf geschichtlicher Grundlage, Schleswig 1907, S. 165–170. 59 Vgl. Friedrich Delitzsch, Die große Täuschung. Zweiter ( Schluß - )Teil. Fortgesetzte kritische Betrachtungen zum Alten Testament, vornehmlich den Prophetenschriften und Psalmen, nebst Schlußfolgerungen, Stuttgart 1921, S. 58–73. Anders ders., Zur Weiterbildung der Religion. Zwei Vorträge, Stuttgart 1908, S. 15 : Es sei „möglich, ja sogar

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1902 den Babel - Bibel - Streit ausgelöst hatte, mit dem Ziel, das Alte Testament zu degradieren. Eine Modifikation früherer Äußerungen begegnet bei Adolf Bartels, der 1909 Jesus Rassenmischung vermutet hatte und 1921 in ihm einen Arier sah ( was Präzisierung oder Pauschalisierung oder beides sein kann ).60 Bartels und Andersen, Chamberlain und von Wolzogen gründen 1921 den Bund für deutsche Kirche.61 Auch einer der weiteren Mitbegründer, der Studienrat und Schriftsteller Joachim Kurd Niedlich publiziert zum arischen Jesus, ebenso der Musikschriftsteller Karl Grunsky.62 In einer Buchreihe des Bundes erscheint 1930 auch die dritte Auf lage von Karl Böschs Buch „Adel“ ( zuerst 1920). Hier ist der nichtjüdische Jesus ein Aristokrat, eine seit 1890 vielfältig, auch außerhalb des völkischen Diskurses begegnende Konstruktion, die vor 1918 auch Max Bewer, Chamberlain und der Germanenorden, danach Andersen, die unter dem Namen Adyr Seyth publizierende Ida Thies und Hans Hauptmann für ihren arischen Jesus nutzen.63 Sechs Jahre nach dem Bund für deutsche Kirche gründet Artur Dinter seine Geistchristliche Religionsgemeinschaft, in der er, weitgehend im Alleingang, immer wieder auf den arischen Jesus zurückkommt.64 Dinter, Klagges und Lanz

60 61

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wahrscheinlich, dass Jesus als Galiläer nicht rein jüdisches Blut in seinen Adern trug und in seinen Vorstellungskreis auch fremdländische Ideen aufgenommen hatte, aber mit seinen sittlich - religiösen Anschauungen und Lehren wurzelte er vollständig im Judentum“. Vgl. Adolf Bartels, Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Hamburg 1909, S. 167; ders., Die Berechtigung des Antisemitismus. Eine Widerlegung der Schrift von Herrn von Oppeln - Bronikowski „Antisemitismus ?“, Leipzig 1921, S. 28–30. Zum Bund für deutsche Kirche vgl. Olaf Kühl - Freudenstein, Evangelische Religionspädagogik und völkische Ideologie. Studien zum „Bund für deutsche Kirche“ und der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“, Würzburg 2003, S. 15–94; Alexandra Gerstner / Gregor Hufenreuter / Uwe Puschner, Völkischer Protestantismus. Die Deutschkirche und der Bund für deutsche Kirche. In : Michel Grunewald / Uwe Puschner ( Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2008, S. 409–435. In der die Gründung des Bundes vorbereitenden Schrift von Friedrich Andersen / Adolf Bartels / Ernst Katzer / Hans von Wolzogen, Deutschchristentum auf rein evangelischer Grundlage. 95 Leitsätze zum Reformationsfest 1917, Leipzig 1917, heißt es S. 18 f. : „Als Galiläer wird Jesus kein rassereiner Jude gewesen sein, ja, die Möglichkeit arischer Herkunft ist nicht ausgeschlossen, wie denn nicht nur der Gesamtcharakter seiner Lehre als unjüdisch erscheint, sondern auch durch bestimmte Äußerungen den bewussten Gegensatz zum Judentum festlegen. Doch muss davon abgesehen werden, Jesus aus Rasse, Volk und menschlichen Verhältnissen überhaupt zu erklären, weil sein inneres Wesen dafür zu groß und zu geheimnisvoll ist.“ Vgl. Joachim Kurd Niedlich, Jahwe oder Jesus ? Die Quelle unserer Entartung, Leipzig 1921, S. 42; Karl Grunsky, Richard Wagner und die Juden, München 1920, S. 41 f. Vgl. Bösch, Adel, S. 186; Bewer, Gedanken, S. 28–41; Chamberlain, Grundlagen, S. 207–209; Heimdall 1915, Nr. 10, S. 19 ( Germanenorden ); Andersen, Heiland, S. 21; Adyr Seyth [ Ida Thies ], Armanenchristenglaube, Klostermansfeld 1927, S. 9–21; Hans Hauptmann, Jesus der Arier. Ein Heldenleben, München 1930, S. 10. Adliger Jesus außerhalb des völkischen Diskurses : z. B. Morris de Jonge, Jeschuah, der klassische jüdische Mann. Zerstörung des kirchlichen, Enthüllung des jüdischen Jesus - Bildes, Berlin 1904, S. 21. Ein Anhänger Dinters ist der pseudonyme Widar Wälsung, War Jesus ein Jude ? Jesus im Lichte der Rassenfrage. Eine deutsche Antwort, 2. Auf lage Nürnberg 1921.

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gehören zu denen, die in einer frühen Phase völkische Bibelübersetzungsprojekte verwirklichen.65 Publikationsmöglichkeiten für den arischen Jesus bieten unter anderem die Bayreuther Blätter,66 wie auch der Bayreuther Kreis weitere Mitglieder hatte, die dazu veröffentlichen, unter anderem Ludwig Schemann.67 Alfred Falb nutzt diesbezüglich den Hammer - Verlag und Ernst Boepples Deutschen Volksverlag68. Zu Wort melden sich auch Rassetheoretiker wie Ludwig Ferdinand Clauß, Hans Friedrich Karl Günther, der das Thema nach 1945 in Büchern unter dem Pseudonym Heinrich Ackermann weiter verfolgt, ein alldeutscher Aktivist und Publizist wie Otto Kernholt ( d. i. Otto Bonhard ) und ein „Prähistoriker“ wie Herman Wirth.69 Mit Wirth ist bereits ein Spektrum im Blick, in dem der arische Jesus in rasseorientierten esoterischen und okkulten Kontexten artikuliert wird. Mit Büchern beteiligen sich hier Rudolf John Gorsleben und Paul Kurth,70 unter den Namen Friedrich Döllinger und Hermann Wieland Karl Weinländer.71 Kurt Paehlke 65 Versuch eines Gesamtüberblicks : Martin Leutzsch, Völkische Übersetzungen der Bibel. In : Marion Keuchen / Stephan Müller / Annegret Thiem ( Hg.), Inszenierungen der Heiligen Schrift. Jüdische und christliche Bibeltransformationen vom Mittelalter bis in die Moderne, München 2009, S. 129–157. 66 Z. B. Reinhard Vieweg, Lohengrin und Christus. In : Bayreuther Blätter, 42 (1919), S. 205–211, hier 206; Karl Grunsky, Vom Werte des Menschen. In : Bayreuther Blätter, 42 (1919), S. 139–145, hier 143 f.; ders., Chamberlain : Mensch und Gott. In : Bayreuther Blätter, 45 (1922), S. 19–26, hier 21 f.; ders., Das Evangelium. Dargestellt von Artur Dinter. In : Bayreuther Blätter, 47 (1924), S. 45–48, hier 45 f. 67 Vgl. Ludwig Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften. Studien zur Geschichte des Rassengedankens. Band I, München 1928, S. 176–178, 394–406; Band II, München 1930, S. 216 f.; Band III, München 1931, S. 248. 68 Vgl. Alfred Falb, Luther und die Juden, München 1921, S. 25–27; ders., Luther und Marcion gegen das Alte Testament, Leipzig S. 41–46. 69 Vgl. Ludwig Ferdinand Clauß, Rasse und Seele. Eine Einführung in die Gegenwart, München 1926, S. 69–73; Hans Friedrich Karl Günther, Wie sah Christus aus ? In : Volk und Rasse, 7 (1932), S. 118 f.; Heinrich Ackermann [ Hans Friedrich Karl Günther ], Jesus. Seine Botschaft und deren Aufnahme im Abendland, Göttingen 1952, S. 30–37 ( ebenso in der zweiten Auf lage Pähl 1968, S. 47–55; ein jüdischer Jesus hingegen in Heinrich Ackermann, Entstellung und Klärung der Botschaft Jesu, Pähl 1961, S. 292– 294); Otto Kernholt, Vom Ghetto zur Macht. Die Geschichte des Aufstiegs der Juden auf deutschem Boden, Leipzig 1921, S. 247, 266 ( der Nachdruck Viöl 2000 lässt Untertitel und Vorwort weg ); Herman Wirth, Der Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch - nordischen Rasse. Textband I : Die Grundzüge, Jena 1928, S. 146. 70 Vgl. Rudolf John Gorsleben, Die Über windung des Judentums in und außer uns, München 1920, S. 52–54; Paul Kurth, Arier und Juden. I. Teil, Charlottenburg 1924, S. 6–18. 71 Vgl. Friedrich Döllinger, Baldur und Bibel. Weltbewegende neue Enthüllungen über die Bibel. Germanische Kultur im biblischen Kanaan und Germanisches Christentum vor Christus. Kürzere Volksausgabe, Nürnberg 1921, S. 132–140; Hermann Wieland, Atlantis, Edda und Bibel. 200 000 Jahre germanischer Weltkultur und das Geheimnis der Heiligen Schrift, Weißenburg 1925, S. IV, VI, 178–199, 257. Zur Identifikation vgl. Markus Herbert Schmid, Karl Weinländer : einer der vielen Wegbereiter ins Dritte Reich.

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schreibt unter dem Namen H. A. Weishaar, Franz Wydrinski unter Franz von Wendrin, Ida Thies unter Adyr Seyth.72 Zur esoterischen Belletristik tragen P. R. Eichelter und Hans Hauptmann bei.73 In den Umkreis dieser esoterischen Jesuskonstruktionen gehört Kurt Prinz zur Lippe, zu deren Kern auch Karl Maria Wiligut, der seine diesbezüglichen Lehren mündlich oder brief lich kommuniziert.74 Wie beim Bund für deutsche Kirche gibt es auch in diesen esoterischen Kreisen persönliche Kontakte und Zitationskartelle. In der katholischen Universitätstheologie ist der arische Jesus kein, in der evangelischen kaum ein Thema. Reinhold Seebergs Aufsatz von 1918 steht in einer Festschrift und wurde entsprechend wenig beachtet. Symptomatisch ist ein Vorfall von 1921. Adolf von Harnack, der in seinen viel beachteten Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“ (1900) aus dem Jesuskapitel von Chamberlains „Grundlagen“ zustimmend zitierte75 und Chamberlain bei der zweiten Auf lage von dessen „Worte Jesu“ (1903) unterstützte,76 hatte das Buch „Die Herkunft Jesu“ des Innsbrucker Reformkatholiken Emil Jung als „ernste, kritische Forschung“ bezeichnet. Von seinem Fachkollegen Hans von Soden darauf angesprochen, windet Harnack sich heraus und bestreitet, sich positiv zu Jungs Methode und ihrem Ergebnis, dem arischen Jesus, geäußert zu haben.77 Nach Dinters Romanen sind Jungs Veröffentlichungen in der Weimarer Republik diejenigen Buchpublikationen mit den meisten Auf lagen zum Thema. Eigene universitätstheologische Veröffentlichungen zum Thema sind mir nur von Johannes Leipoldt bekannt, die Broschüre „War Jesus Jude ?“ von 1923, und eine Passage in Gerhard Kittels Broschüre „Jesus und die Juden“ von 1926. Leipoldt grenzt sich von Seeberg ab. Sein Ergebnis : „So haben wir kaum Veranlassung, die Wurzeln des Evangeliums außerhalb des jüdischen Volkstums zu suchen.“78 Für Kit-

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In : Villa Nostra. Weißenburger Blätter für Geschichte, Heimatkunde und Kultur von Stadt und Weißenburger Land, Weißenburg 2/2002, S. 5–17. Vgl. H. A. Weishaar, Die wahre Bedeutung des Hakenkreuzes (1921). In : ders., Schriften. Band I : Rote Erde, Ludwigshafen 1969, S. 51; ders., Das Christusmysterium bei siebenmaliger Schlüsselumdrehung (1922). In : ebd., S. 83; Franz von Wendrin, Die Entdeckung des Paradieses, Braunschweig 1924; ders., Die Entzifferung der Felsenbilder von Bohuslän einschließlich der Urkunden über das biblische Paradies, Berlin 1926, S. 6, 182–185, u. ö.; Seyth, Armanenchristenglaube. Vgl. Eichelter, Jesus; Hauptmann, Jesus. Vgl. Kurt Prinz zur Lippe, Germanischer Glaube und Jesu Lehre, Bad Berka 1925, S. 3, 29–32; Hans - Jürgen Lange, Weisthor. Karl - Maria Wiligut – Himmlers Rasputin und seine Erben, Engerda 1998, S. 49, 100. Vgl. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1999, S. 140 mit Anm. 15 ( zuerst 1900). Vgl. Wolfram Kinzig, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain, Leipzig 2004, S. 240–248. Vgl. Erich Dinkler, Hans Freiherr von Soden (1881–1945). In : ders./ Erika Dinkler - von Schubert ( Hg.), Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes, 2. Auf lage Göttingen 1986, S. 15–35, hier 31, Anm. 15. Johannes Leipoldt, War Jesus Jude ? Leipzig 1923, S. 73.

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tel fallen die allenfalls möglichen wenigen Tropfen arischen Bluts in Jesu Adern gegenüber den mit Sicherheit vorhandenen zahlreichen semitischen nicht ins Gewicht.79 Antisemitische Horizonte mit oder ohne Fundierung durch den Rassegedanken werden in der Universitätstheologie der Weimarer Republik in der Debatte um den Stellenwert des Alten Testaments für die Kirche artikuliert. Der arische Jesus ist in der Universitätstheologie kaum ein Thema. Dies gilt auch für etliche Protagonisten der sich formierenden Deutschen Christen. Bei Siegfried Leff ler, einem der beiden Gründer der Thüringer Deutschen Christen, muss man bis 1935 auf einen einschlägigen Satz warten;80 der andere, Julius Leutheuser, spricht 1933 vom Juden Jesus.81 Die mehr als fünfzig Personen, die sich zwischen 1918 und 1933 publizistisch zum arischen Jesus geäußert haben, gehören anderen Kontexten als der Universitätstheologie an. Dabei gibt es gegenläufige Trends : Verfestigt sich für etliche die Überzeugung, Jesus sei Arier gewesen, so kann umgekehrt auch Skepsis Raum gewinnen. So ist für Friedrich Karl Otto 1920 „mehr als wahrscheinlich“, dass Jesus Arier war.82 Zehn Jahre später sieht Otto, der mehrfach in der junggermanischen Schriftenreihe „Irminsul“ veröffentlichte, Schwachstellen und Probleme in der Argumentation. Weil er die okkulte Inanspruchnahme des arischen Jesus als Obskurantismus ablehnt, geht er zu diesem Ideologem auf Distanz.83 Gegenüber früheren Phasen der Konstruktion eines arischen Jesus spielt die Herstellung von Bezügen zu Indien kaum mehr eine Rolle. Neuevangelien, die in der Religionsgeschichte des Christentums im 19. und 20. Jahrhundert große Bedeutung haben,84 sind für den arischen Jesus mit einer Ausnahme85 ohne 79 Vgl. Gerhard Kittel, Die Probleme des palästinischen Spätjudentums und das Urchristentum, Stuttgart 1926, S. 3; dazu Anders Gerdmar, Roots of Theological Anti - Semitism : German Biblical Interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 435–437. 80 Vgl. Siegfried Leff ler, Christus im Dritten Reich der Deutschen. Wesen, Weg und Ziel der Kirchenbewegung „Deutsche Christen“, Weimar 1935, S. 48–50. 81 Vgl. Julius Leutheuser, Der Heiland in der Geschichte der Deutschen oder Der Nationalsozialismus, vom Evangelium aus gesehen, Weimar 1933, S. 6 f. 82 Friedrich Karl Otto, Los von Juda. Ein Kampfruf gegen den jüdischen WeltherrschaftsGedanken, 2. Auf lage Sontra 1920, S. 5. 83 Vgl. Otto, Jesus, S. 13, 15, 21–27, 30. 84 Teilüberblicke bei Edgar J. Goodspeed, Modern Apocrypha, Boston 1956; Per Beskow, Strange Tales about Jesus : A survey of Unfamiliar Gospels, Philadelphia 1983; Joachim Finger, Jesus – Essener, Guru, Esoteriker ? Neuen Evangelien und Apokryphen auf den Buchstaben gefühlt, 2. Auflage Mainz 1994. 85 Wann die erstmals 1849 anonym erschienenen und bis heute unter verschiedenen Titeln und Bearbeitungen aufgelegten Historische[ n ] Enthüllungen über die wirklichen Ereignisse der Geburt und Jugend Jesu. Als Fortsetzung der zu Alexandrien aufgefundenen alten Urkunden aus dem Essäer - Orden. Aus einer wortgetreuen Abschrift des alten Originales übersetzt, Leipzig 1849, in denen ein Essäer Jesu Vater ist, eindeutig rassistisch transformiert werden, bedarf einer genaueren Untersuchung. Bei Hanish ( oben Anm. 54) wird eine Bearbeitungsstufe der „Historischen Enthüllungen“ sekundär mit der in der Erstauf lage seines Jesusbuchs ( Das Leben Jesu. Enthüllungen nach bisher

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Bedeutung. Das dürfte damit zusammen hängen, dass, abgesehen von der Minderheit, die sich auf esoterisches Wissen berief, vielen Vertretern dieses Ideologems an einer argumentativen Fundierung lag, die zeitgenössischen Wissenschaftsstandards entsprach und auch entsprechende Ansprüche ermöglichte. Dieses Setzen auf wissenschaftliche Argumentations - und Plausibilitätsparadigmata ist es auch, was die Konstruktion des arischen Jesus am deutlichsten von vielen anderen Inkulturationen der Jesusgestalt in Geschichte und Gegenwart unterscheidet86.

5.

Der arische Jesus unter der NS - Herrschaft

5.1

Die PropagandistInnen

Während „Mein Kampf“, der „Mythus des 20. Jahrhunderts“ und Goebbels’ „Michael“ nach 1933 extensiv neu aufgelegt werden, habe ich öffentliche Äußerungen von NS - Spitzenpolitikern zum arischen Jesus nicht gefunden. Hitler schweigt seit 1929 öffentlich zu Jesus. Bei drei Gelegenheiten, zweimal 1941 und einmal 1944, äußert er sich im Führerhauptquartier zum arischen Jesus.87 Es ist ein Tagebuch, dem Hans Frank 1937 anvertraut : „Keine Konfession, kein Christusglaube kann so stark sein wie dieser unser Glaube, dass, wenn Christus heute erschiene, er Deutscher wäre.“88 Die knapp fünfzig Personen ( darunter zwei Frauen ) im unmittelbaren Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus, deren öffentliche Stellungnahmen für einen arischen Christus zwischen 1933 und 1945 ich bislang ausgewertet habe, verteilen sich ( soweit entsprechende Informationen vorliegen89) wie folgt : zehn

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unbekannten orientalischen Quellen, Leipzig 1908) noch fehlenden Arierthese Paul Haupts ( oben Anm. 53) verknüpft. Eichelter, Jesus, verarbeitet die „Enthüllungen“ von vornherein im Sinn der Arierthese. Diese Differenz überspielt Johannes Leipoldt, Vom Jesusbilde der Gegenwart. Sechs Aufsätze, 2. Auf lage Leipzig 1925, wenn er im Abschnitt „Das völkische Jesusbild“ (ebd. S. 282–287) auf eine Darstellung der deutschen Szene verzichtet ( Verweis auf einschlägige Sekundärliteratur ebd., S. 284, Anm. 2) und sich auf Beispiele inkulturierender Spiritualität aus Polen ( Christus ein Pole ), Ungarn ( Ungarn als Land und Volk der Maria) und der afrikanisch - amerikanischen Kultur der USA ( schwarze Hautfarbe Jesu und Marias ) beschränkt. Vgl. Jochmann, Hitler, S. 96 f. (21. 10. 1941); Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 2. Auf lage Berlin 1997, S. 109 (13. 12. 1941); Jochmann, Hitler, S. 412 (30. 11. 1944). Zit. nach Christoph Kleßmann, Der Generalgouverneur Hans Frank. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 19 (1971), S. 245–260, hier 259. Unklar ist mir ein ungenannter Referent im Kirchenwahlkampf im Westharz 1937 ( vgl. Gerhard Lindemann, „Typisch jüdisch“. Die Stellung der Ev. - luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949, Berlin 1998, S. 760 f.); Haanz im Ministerium des Kultus und Unterrichts Baden ( vgl. Gregory Paul Wegner, Anti - Semitism and Schooling under the Third Reich, New York 2002, S. 25 [„early 1939“] mit 209, Anm. 80 [16. 2. 1938]; Haanz war nicht „the minister of

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PädagogInnen,90 sieben evangelische91 und ein katholischer Universitätstheologe,92 sechs evangelische Pfarrer, davon zwei in Bischofsfunktion,93 vier JournalistInnen,94 ein katholischer Bischof,95 je ein katholischer96 und ein altkatho-

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culture and teaching“, sondern vermutlich ein Mitarbeiter des Ministeriums ); Thomas Hübbe ( ders., Jesus der Galiläer. In : Die Nationalkirche vom 15. 1. 1939, S. 30 f.). Richard Eichenauer ( ders., Die Rasse als Lebensgesetz in Geschichte und Gesittung. Ein Wegweiser für die deutsche Jugend, Leipzig 1934, S. 84); Nieland ( siehe unten bei und mit Anm. 141); Karl Cehak ( ders., Ein Charakterbild Jesu, Leipzig 1935, S. 43); nicht identifizierter Berliner Religionslehrer ( vgl. Detlef Minkner, Christuskreuz und Hakenkreuz. Kirche im Wedding 1933–1945, Berlin 1986, S. 136 f.); Fritz Fink ( ders., Die Judenfrage im Unterricht, Nürnberg 1937, S. 26); Reinhold Stark ( vgl. Rainer Lächele, Ein Volk, ein Reich, ein Glaube. Die „Deutschen Christen“ in Württemberg 1925–1960, Stuttgart 1994, S. 132); Friedrich Ebert und Eugen Neumüller ( vgl. Thomas Fandel, Konfession und Nationalsozialismus. Evangelische und katholische Pfarrer in der Pfalz 1930–1939, Paderborn 1997, S. 590–592); Karl Dworski ( ders., Die Entdeckung eines arischen Evangeliums. Zoroaster, Judentum, Joh. 1,1–18, Stuttgart 1939, bes. S. 5 f.); nicht identifizierter deutsch - christlicher Religionslehrer 1939/40 ( vgl. Röhm / Thierfelder, Kirche, S. 78 f.). Anton Jirku ( ders., Houston Stewart Chamberlain und das Christentum, Bonn 1938, S. 12–15); Martin Dibelius ( ders., Jesus, 4. Auf lage Berlin 1966, S. 33 [ zuerst 1939]); Theodor Odenwald ( vgl. Leonore Siegele - Wenschkewitz, Die Theologische Fakultät im Dritten Reich. ‚Bollwerk gegen Basel‘. In : Wilhelm Doerr ed., Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht - Karls - Universität Heidelberg 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden. Band 3 : Das zwanzigste Jahrhundert 1918–1985, Berlin 1985, S. 504–543, hier 514); Walter Grundmann ( z. B. ders., Galiläer ); Emanuel Hirsch ( ders., Wesen ); Carl Schneider ( ders., Das Frühchristentum als antisemitische Bewegung, Bremen 1940, S. 7); Georg Bertram ( ders., Paulus, Judensendling und Christusapostel. In : Walter Grundmann [ Hg.], Germanentum, Christentum und Judentum. Studien zur Erforschung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Band 3 : Sitzungsberichte der dritten Arbeitstagung des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben vom 9. bis 11. Juni 1942 in Nürnberg, Leipzig 1943, S. 83–136, hier 90). Karl Adam ( vgl. Lucia Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe, Darmstadt 2001, S. 292–296). Ludwig Müller ( vgl. Helmut Freeden, Kirche und Judentum im Spiegel der jüdischen Presse 1933–1938. In : Jochen - Christoph Kaiser / Martin Greschat [ Hg.], Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung, Frankfurt a. M. 1988, S. 100–119, hier 111; Ludwig Müller, Deutsche Gottesworte, Weimar 1936, S. 38 f.); Georg Schneider ( ders., Völkische Reformation. Eine Wegweisung zu christdeutscher Einheit, Stuttgart 1934, S. 97–104); Heinz Weidemann ( ders., Das Evangelium Johannes deutsch, Bremen 1936; dazu Reijo E. Heinonen, Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945, Göttingen 1978, S. 177–181); Wilhelm Richter ( ders., Notwender ); Emil Lind ( vgl. Richard Bergmann [ Hg.], Documenta. Unsere Pfälzische Landeskirche innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche in den Jahren 1930–1944. Berichte und Dokumente, Speyer 1960, II 397, dazu Fandel, Konfession, S. 358, 396); Wilhelm Loose ( vgl. Minkner, Christuskreuz, S. 191 f.). Christa - Maria Rock ( dies., Der Heiland war ein Arier. In : Der Stürmer Nr. 49 von Dezember 1933); Julius Streicher ( Vortrag vom 23. 7. 1935, vgl. Richard Steigmann Gall, The Holy Reich : Nazi Conceptions of Christianity, 1919–1945, Cambridge 2003, S. 126 mit Anm. 52); August Püringer ( ders., Beiträge zur Frage des deutschen Glaubens 1,2 : Theologie und Judentum. In : Bayreuther Blätter, 58 (1935) 4, S. 197–209, hier 199); Karl Holz ( ders., War Christus Jude ? Die Wahrheit gegen Lüge und Unwissenheit. In : Der Stürmer vom 15. 4. 1938). Josef Godehard Machens ( laut Spitzelbericht, vgl. Lindemann, „Typisch jüdisch“, S. 751).

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lischer Pfarrer,97 je ein Universitätshistoriker,98 Universitätsrechtshistoriker,99 Altphilologe100 und Indogermanist,101 zwei Philosophen oder Theologen,102 je ein Museumsdirektor,103 Verleger,104 Schriftsteller,105 NS - Gauredner,106 ein Anhänger des 1927 verstorbenen Messias Ludwig Christian Haeusser107 sowie drei Mitglieder der Deutschen Glaubensbewegung, die Jesus Anteile arischen Blutes zugestehen, was ihnen jedoch nicht als hinreichend erscheint.108 Ein früherer Aktivist wie Adolf Bartels publiziert auch nach 1933 zum arischen Jesus.109 Von dem Jugendstilkünstler Fidus habe ich erst für 1933 eine Äuße-

96 Richard Kleine ( unveröffentlichter Vortrag „War Jesus Jude“ 1939; Hinweis Lucia Scherzberg ). 97 Josef Johne ( vgl. Olaf R. Blaschke, Der Altkatholizismus 1870 bis 1945. Nationalismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus. In : Historische Zeitschrift, 261 (1995), S. 51– 99, hier 94 f.) 98 Otto Westphal ( ders., Das Reich. Aufgang und Vollendung. Band I : Germanentum und Kaisertum, Stuttgart 1941, S. 85 f.). 99 Karl August Eckhardt ( ders., Die Herkunft des Messias. In : Archiv für Kulturgeschichte, 31 (1942), S. 257–317; zur Vorgeschichte der Veröffentlichung vgl. Ackermann, Himmler, S. 78). 100 Rudolf Dahms ( ders., Jesus und der nordische Mensch. Markusevangelium und deutscher Glaube, Berlin 1934, S. 5, 72). 101 Friedrich Cornelius ( unpublizierter Vortrag im Eisenacher Institut, Sitzung 1944 : Persische, griechische und israelitische Gedanken im biblischen Christentum; dazu Susannah Heschel, The Aryan Jesus : Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany. Princeton 2008, S. 163). 102 Karl Kindt ( ders., Geisteskampf um Christus. Weckrufe an das deutsche Gewissen, Berlin 1938, S. 252–254); Rudolf Thiel ( ders., Jesus Christus und die Wissenschaft, Berlin 1938, S. 24 f.). 103 Werner Teupser ( ders., Max Klingers Christus im Olymp im Museum der bildenden Künste zu Leipzig. Denkschrift. Hg. von dem Direktor des Museums, Leipzig 1939, S. 7, 10; germanisierende Wahrnehmung von Klingers „Christus im Olymp“ auch bei dem evangelischen Theologen Hans Preuß, Das Bild Christi im Wandel der Zeiten. Einhundertundfünfzehn Bilder auf 96 Tafeln gesammelt und mit einer Einführung sowie mit Erläuterungen versehen, Leipzig 1921, S. 20, 211; weiteres bei Gerhard Winkler, Max Klinger, Gütersloh 1984, S. 39, 42). 104 Herbert Reichstein ( ders., Das religiöse und rassische Weltgeschehen von Urbeginn bis heute, Berlin 1934, S. 20; ders., Die Religion des Blutes, Berlin 1935, S. 2, 12). 105 Otto Rahn ( ders., Luzifers Hofgesind, Leipzig 1937, S. 156). 106 Werner Klein ( ders., Thesen zwischen Tod und Teufel. Von der geistigen Bestimmung des Deutschen, Stuttgart 1939, S. 69–71). 107 Emil Leibold ( vgl. Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983, S. 231). 108 Jakob Wilhelm Hauer ( ders., Deutsche Gottschau. Grundzüge eines Deutschen Glaubens, 4. Auf lage Stuttgart 1935, S. 251–253; ders., Ein arischer Christus ? Eine Besinnung über deutsches Wesen und Christentum, Karlsruhe 1939); nicht identifizierter Referent der Deutschen Glaubensbewegung in Zittau 1937 ( vgl. Deutschland - Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [ Sopade ] 1934–1940, Band IV, 6. Auf lage Salzhausen 1982, S. 436). Am stärksten zu einem arischen Jesus neigt Ernst Reventlow ( ders., Wo ist Gott ? Berlin 1934, S. 141–185). 109 Vgl. Adolf Bartels, Jesus, der Galiläer. In : Deutschbund - Blätter, 44, 2. Stück (1939), S. 45–47.

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rung zum arischen Christus gefunden.110 Gustav Frenssen hält auch nach seiner Distanzierung vom Christentum an einem mit dem germanischen Heidentum kompatiblen Jesus oder besser : Krist fest.111 Evangelische Universitätstheologen kommen ab 1938 hinzu. Fünf davon werden Mitarbeiter des ein Jahr später eröffneten Eisenacher Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben.112 Die übrigen zahlreichen Institutsmitglieder haben sich zum arischen Jesus kaum geäußert. Noch 1933 hat der Kirchenhistoriker Hans Lietzmann, der von einem Laien brief lich um Argumentationshilfen zugunsten eines arischen Jesus gebeten worden war, nur eine vage Erinnerung an Seebergs Aufsatz von 1918. Wie er seinem Assistenten Hans - Georg Opitz schreibt, hat er „auch keine Lust, mich um diesen dummen Kram zu kümmern. Aber da die Sache aktuell ist, und Euch junge Leute angeht, so bitte ich Sie, suchen Sie doch mal etwas Literatur, wo nachgewiesen ist, dass Jesus ein Arier ist.“113 Johannes Leipoldt hält in der Neuauf lage seiner Schrift „War Jesus Jude ?“ auch 1935 die Frage offen.114 Die Mehrzahl der Vertreter des arischen Jesus in diesem Zeitraum sind oder werden NSDAP - Mitglieder. Der Schwerpunkt liegt auf der Ebene der Vermittlung. Pfarrer und Pädagogen sind daran interessiert, dieses Ideologem im schulischen und kirchlichen Unterricht, in kirchlicher Rede und Publizistik zu verbreiten. Das vergleichsweise breite esoterische Forum für einen arischen Jesus vor 1933 verschwindet fast ganz. Der Ariosoph Herbert Reichstein ist eine Ausnahme. In den koalierenden und konkurrierenden Formationen der Deutschen Christen spielt der arische Jesus erwartungsgemäß eine wichtige Rolle, ohne dass alle Publizisten sich dieser Konstruktion anschließen115 oder ihr zentrale Bedeutung zumessen. Zahlreichen deutschchristlichen Publizisten genügte der ideologische Gegensatz zwischen Jesus und dem Judentum, ohne dass eine rassebezogene

110 Vgl. Janos Frecot / Johann Geist / Diethard Kerbs, Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, 2. Auf lage Frankfurt a. M. 1997, S. 200. 111 Vgl. Gustav Frenssen, Der Glaube der Nordmark, Stuttgart 1936, S. 114 ( Paginierung der Feldausgabe, o. J. [311.–320. Tausend ]); ders., Der Weg unseres Volkes, Berlin 1938, S. 41. 112 Zum Eisenacher Institut vgl. Heschel, Jesus, und besonders Oliver Arnhold, „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen und das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939–1945, Berlin 2010. 113 Zit. nach Christoph Markschies, Vor wort. In : Guy G. Stroumsa, Kanon und Kultur. Zwei Studien zur Hermeneutik des antiken Christentums, Berlin 1999, S. VII–XXV, hier XVI. 114 Vgl. Johannes Leipoldt, Gegenwartsfragen in der neutestamentlichen Wissenschaft. 1. Jesus als Kämpfer. 2. War Jesus Jude ? 3. Artgemäßes Christentum, Leipzig 1935. 115 Z. B. nicht der zu den Bremer DC gehörende Karl Refer, Ist Christentum jüdisch ? Ein Vortrag. Drei mißverstandene Bibelworte : Kommt das Heil von den Juden ? Was heißt „Gottes Lamm“ ? Liebet eure Feinde, Bremen 1936.

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Grundierung erforderlich schien.116 Universitätstheologen äußern sich nach meinem derzeitigen Wissensstand erst ab 1938 affirmativ zum arischen Jesus.

5.2

Der Plausibilitätsverlust des arischen Jesus als völkische Ikone

Das Ideologem des arischen Jesus war in der Phase von 1878 bis 1918, als der Diskurs darüber etabliert wurde, innerhalb der völkischen Bewegung keineswegs unumstritten gewesen.117 Die völkischen Gegenstimmen verhinderten nicht, dass der arische Jesus im Kaiserreich Karriere machte. In der Weimarer Republik schien sich das fortzusetzen, nicht zuletzt infolge von organisatorischen Zusammenschlüssen der Propagandisten. Ab 1933 ändert sich das Bild. Vor allem die Deutsche Glaubensbewegung als neu entstandene Organisation entwirft und popularisiert eine jeglicher Variante von Christentum entgegengesetzte Religion. Sie streitet das von ihr zugestandene Arische an Jesus nicht völlig ab, hält es aber für gegenwartsuntauglich.118 Mit Mathilde und Erich Ludendorffs Bund für Gotterkenntnis gibt es eine zweite Organisation, die den arischen Jesus als eine völkische Ikone zu demontieren bestrebt ist. Die Publizistik des Bunds für Gotterkenntnis neigt dazu, den arischen Jesus als eine haltlose Erfindung darzustellen.119 Weitere Einzelstimmen mit Affinitäten zur Deutschen Glaubensbewegung und / oder dem Bund für Gotterkenntnis kommen hinzu,120 ebenso solche Stimmen, die mit dem Hinweis auf die Unklarheit der Rassenzugehörigkeit Jesu christlichen Bestrebungen die Legitimationsgrundlage entziehen wollen.121 1932 hatte Adolf Kroll, führendes Mitglied der Deutsch116 Z. B. Hans Pohlmann, Der Gottesgedanke Jesu als Gegensatz gegen den israelitisch jüdischen Gottesgedanken, Weimar 1939; Hermann Werdermann, Die Gefahr des Judaisierens in der religiösen Erziehung und ihre Überwindung. In : Grundmann, Germanentum, S. 217–247, hier 241. 117 Die wenigen protestantischen ( vor allem aus der Judenmission und ihrem Umfeld stammenden ) und zahlreichen jüdischen Kritiken von außerhalb der völkischen Bewegung sind ein eigenes Thema, auf das ich im vorliegenden Veröffentlichungskontext nicht eingehe. 118 Siehe oben Anm. 108 sowie Fritz Oehler, Christentum doch jüdisch. Der „arische Christus“ unhaltbar. In : Durchbruch. Kampfblatt für Deutschen Glauben, Rasse und Volkstum, Nr. 17 vom 29. 4. 1937. 119 Wie etwa im Evangelisch - lutherischen Landeskirchenamt Hannovers kritisch wahrgenommen wurde, vertrieb der Tannenbergbund 1932 Postkarten, auf denen Jesus „in eine[ r ] besonders verletzende[ n ] Form“ als Jude diffamiert werde ( Lindemann, „Typisch jüdisch“, S. 336, Anm. 341). Erich Ludendorff polemisiert gegen die Deutschen Christen, indem er den Mythos vom arischen Jesus als christlichen Trug bezeichnet ( Erich Ludendorff, Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär und Wegbereiter Deutscher Volksschöpfung. III. Band : Meine Lebenserinnerungen von 1933 bis 1937, Pähl 1955, S. 32–35; vgl. weiter Walter Löhde, Der „geschichtliche“ und der biblische Jesus. In : Am Heiligen Quell Deutscher Kraft vom 20. 4. 1937, S. 74–82). 120 Vgl. Ernst Hauck, Welcher Rasse hat Jesus angehört ? Ein Abriß strenger Sachlichkeit, Landsberg 1935; Wilhelm Baumgaertner, Ist Christentum Judentum ? Eine kritische Untersuchung, Beuern 1935. 121 Z. B. Ernst Klein, Der Tor von Nazareth, Dortmund 1939, S. 7–10.

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gläubigen Gemeinschaft, einen nordischen Mythos ( als „Rassekunstwerk“, für eine „rassische Reformation“) entworfen, der „heiliger als der jüdische Mythos von Jesus“ sei.122 In der Schriftreihe „Völkisches Erwachen“ veröffentlicht 1936 Ernst Maag ein Pamphlet „Wider das ‚arische Judentum‘“ und macht an Jesu Judesein keine Abstriche.123 Öffentlichen Abschied von einem arischen Jesus nimmt 1937 Hans Hauptmann, noch 1930 ein Propagandist dieser Konstruktion.124 Auch im Spektrum der Deutschen Christen war der arische Jesus keineswegs Konsens, wie das Beispiel Julius Leutheuser zeigt.125

5.3

Reglementierungen

Von den kirchenpolitischen Maßnahmen des NS - Regimes nenne ich nur solche, die sich auf die Thematisierung der Rassenzugehörigkeit Jesu beziehen. Im Februar 1937 sagte der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten Hanns Kerrl vor den Vorsitzenden der Landeskirchenausschüsse und der preußischen Provinzialkirchenausschüsse, es „sei untragbar, dass deutschen Kindern gepredigt werde : Jesus sei ein Jude, Paulus sei ein Jude oder ‚das Heil kommt von den Juden‘ ( Johannes 4,22). Dies sei der Versuch, die Partei lächerlich zu machen. Sie könne sich das nicht gefallen lassen. Das wahre Christentum werde durch die Partei vertreten und das deutsche Volk werde durch die Partei und insbesondere durch den Führer zum wirklichen Christentum gerufen.“126 Generalsuperintendent Otto Dibelius antwortete in einem offenen Brief, nach dem Zeugnis des Neuen Testaments seien die von Kerrl inkriminierten Topoi tatsächlich kirchliche Lehre.127 Im Juni 1937 untersagte Himmler allen Schulungsleitern und SS - Führern „‚jeden Angriff gegen Christus als Person, da solche Angriffe oder die Beschimpfung von Christus als Juden‘ ihrer [ der SS ] ‚unwürdig und geschichtlich bestimmt unwahr‘ seien.“128 Auf die Anfrage eines Hitlerjungen im gleichen Jahr, ob Christus Jude gewesen sei, ließ Himmler durch seinen Persönlichen Referenten Rudolf Brandt antworten, dies sei nicht der Fall gewesen.129 Dinters 122 Adolf Kroll, Der Edda - Mythos. Das Gleichnisgewand, die tragischen, philosophischen und ethischen Grundlinien der nordischen Göttersage. Versuch einer neuzeitigen Umwertung, Beuern 1932, S. 26; 10 ( Rassekunstwerk ). 123 Vgl. Ernst Maag, Wider das „arische Judentum“, Leipzig 1936. 124 Vgl. Hans Hauptmann, Der Glaubensweg eines Siebzigjährigen, Stuttgart 1937. 125 Vgl. auch Herbert Preisker, Jesus und die Jesusauffassungen der Gegenwart. In : Evangelischer Religionsunterricht. Deutsche Evangelische Erziehung, 49 (1938), S. 1–17, 49–57, 89–96, 129–146, 181–191, hier 189: Jesus komme aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem jüdischen Volk. 126 Deutschland - Berichte, Band IV, S. 428. Eine ähnliche Version bei Wilhelm Niemöller, Gottes Wort ist nicht gebunden, Bielefeld 1948, S. 115. 127 Vgl. Deutschland - Berichte, Band IV, S. 431. Vgl. Hartmut Fritz, Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur, Göttingen 1998, S. 301–304. 128 Ackermann, Himmler, S. 77. 129 Vgl. Ackermann, Himmler, S. 28, Anm. 226.

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Karrieren des arischen Jesus

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Deutsche Volkskirche wurde 1937 von Himmler verboten, nachdem deren Publikationsorgan „Die religiöse Revolution“ schon 1934 verboten worden war.130 Das Propagandaministerium vertrat im Mai 1938 in einer streng vertraulichen Mitteilung den Standpunkt, Debatten um die Rassezugehörigkeit Jesu seien „politisch außerordentlich abträglich und tragen nur Beunruhigung und Zersetzung in das deutsche Volk. Außerdem lässt sich die Frage heute überhaupt nicht mehr einwandfrei entscheiden“, hieß es dort weiter. Man wies ferner darauf hin, dass sie „für unsere heutige religiöse Haltung [ auch ] nicht entscheidend“ sei, und machte damit klar, dass es sich hierbei nur um eine innertheologische Debatte handelte, die dem NS - Weltanschauungsstaat ziemlich gleichgültig sein konnte. In der Presse sei die „unfruchtbare Debatte“ deshalb nicht zu behandeln. Ausnahmen würden nur für „rassekundliche Zeitschriften“ mit dezidiert wissenschaftlichem Anspruch gelten.131 Das Schreiben wurde an die Schriftleiter der Kirchenzeitungen weitergeleitet. Heinz Dungs, Pressepfarrer der Thüringer Deutschen Christen, versuchte noch im Oktober 1940 eine Aufhebung des Verbots der Behandlung der Abstammung Jesu in der Presse zu erreichen, weil die Wochenzeitschrift für gottgläubige Deutsche „Nordland“ über dieses Thema publiziere.132 Als Karl August Eckhardt, Rechtshistoriker und Ahnenerbe - Mitarbeiter, dem Nachweis der unjüdischen Herkunft Jesu 1942 eine umfangreiche Untersuchung widmete, beantwortete Himmler seinen Wunsch, die „Schriften des Deutschrechtlichen Instituts“ als Publikationsort zu genehmigen, für die Dauer des Krieges abschlägig. Eckhardt fand das „Archiv für Kulturgeschichte“ als Alternative, musste aber auf Himmlers Wunsch den Titel „War Jesus Jude ?“ abändern in „Die Herkunft des Messias“.133

5.4

Konflikte an der Basis

Da der arische Jesus zwischen 1933 und 1945 vor allem im Bildungssystem und im kirchlichen Raum zum Thema wurde, ergaben sich hier auch die stärksten Konflikte. In diesen Öffentlichkeiten als Pfarrer oder Pädagoge für einen jüdischen Jesus einzutreten, barg das Risiko, mit Gewalt konfrontiert werden. Die Breslauer Zeitschrift „Evangelischer Ruf“ hatte im Oktober 1933 Jesus provokant als Nichtarier thematisiert; der Regierungspräsident erließ ein einstweiliges Publikationsverbot.134 An einem Berliner Realgymnasium kritisierte ein Lehrer 130 Vgl. Andreas Schultz / Matthias Wolfes, Artur Dinter. In : Biographisch - Bibliographisches Kirchenlexikon, 18 (2001), Sp. 350–360. 131 Lindemann, „Typisch jüdisch“, S. 766, Anm. 133. 132 Vgl. Holger Weitenhagen, Evangelisch und deutsch. Heinz Dungs und die Pressepolitik der Deutschen Christen, Köln 2001, S. 376 f., Anm. 258. 133 Siehe oben Anm. 99. 134 Vgl. Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987, S. 121.

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Martin Leutzsch

das von einem Schüler gebrauchte Schimpfwort „Dreckjude“ mit dem Hinweis, der Heiland sei Jude gewesen, was zu einem Verhör durch die Gestapo und zur Versetzung an eine andere Schule führte.135 Der Recklinghäuser Pastor Heinrich Strothmann hatte im Januar 1934 in einer Predigt über Joh 4,5–26 den dort begegnenden Satz „Das Heil kommt von den Juden“ affirmativ als „Gott selbst – ward Jude“ ausgelegt und musste sich deswegen vor der Gestapo verantworten.136 Johann Gerhard Behrens, Pfarrer in Stade, verteidigte den jüdischen Jesus 1935 im Konfirmandenunterricht gegen Jugendliche, die mit dem „Stürmer“ argumentierten und ihre Väter informierten. Behrens wurde gewaltsam von SA - und SS - Leuten, mit einem Plakat „Ich bin ein Judenknecht“ versehen, durch die Stadt geführt, beschimpft und misshandelt.137 Im Februar 1937 wurde in Hamburg der Gemeindepfleger Zedlacher wegen einer von ihm gehaltenen Bibelstunde verhört. Einer der Vorwürfe bezog sich auf Zedlachers Behauptung, Jesus sei nicht Arier, sondern Jude gewesen. Der österreichische Gemeindepfleger wurde in Schutzhaft genommen und dann als Ausländer des Reiches verwiesen.138 Im pfälzischen Neustadt wurde der Vikar Werner Linz im Januar 1938 öffentlich zur Rede gestellt, weil er in einer Predigt von Jesu Judesein gesprochen hatte. Als er darauf beharrte, erreichte der Oberbürgermeister innerhalb weniger Wochen Linz’ Versetzung nach Pirmasens.139 Anfang 1939 eröffnete der bayerische Pfarrer Karl Steinbauer seiner Gemeinde in Senden Ay, ihm sei die Unterrichtserlaubnis entzogen worden. Er habe sich geweigert, den für den Religionsunterricht nötigen Ariernachweis zu erbringen. „Ich sollte mir im vorliegenden Fall das Recht zur Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus alten und neuen Testaments erwerben durch Erbringung des Ariernachweises. Das ist mir als Christ und ordinierter Prediger des Evangeliums unmöglich. Nach diesem Rassegesetz wäre der Herr Christus unfähig und untüchtig, seine eigene Botschaft zu verkündigen und dürfte keine Schule betreten und ebenso auch seine Apostel; denn sie waren dem Fleische, der Rasse 135 Vgl. Marcel Reich - Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 48 f. 136 Vgl. Helmut Geck, Der Kirchenkampf in Recklinghausen. Die Auseinandersetzungen zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen in der evangelischen Kirchengemeinde Recklinghausen - Altstadt von 1933 bis 1939, o. O. ( Recklinghausen ), S. 82–84; ders., Die Bekennende Kirche und die Deutschen Christen im Kirchenkreis Recklinghausen unter nationalsozialistischer Herrschaft (1933–1945), Recklinghausen S. 36–38, 149–151. 137 Vgl. Lindemann, „Typisch jüdisch“, S. 679–737. Die Konflikte im und um den Konfirmandenunterricht in der NS - Zeit sind m. W. bislang nicht eingehend untersucht worden. Vgl. etwa für Göttingen Lindemann, ebd., S. 425 f., 431 f., 433, 437, 442, 444 f.; für Meine ebd., S. 522 f. mit Anm. 1428; für Rinteln ebd., S. 582 f.; für Goslar ebd., S. 676; für Hannover ebd., S. 677; für Lautenthal ebd., S. 677–679; für Bücken ebd., S. 759, ferner ebd., S. 736. 138 Vgl. Wilhelm Jannasch, Deutsche Kirchendokumente. Die Haltung der Bekennenden Kirche im Dritten Reich, Zollikon - Zürich 1946, S. 44–47; dazu George L. Mosse, Der nationalsozialistische Alltag, 3. Auflage Meisenheim 1993, S. 274 f.; Gerlach, Zeugen, S. 175 f. 139 Fandel, Konfession, S. 535.

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Karrieren des arischen Jesus

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nach Juden. [...] Und nun soll ich im Schulzimmer den verkündigen, der nach diesen Rassegesetzen ein solches Schulzimmer nicht einmal betreten darf.“140 Eine Woche später wurde Steinbauer nachts im Pfarrhaus von etwa zwanzig SA - Leuten überfallen, in Schutzhaft und dann ins KZ Sachsenhausen gebracht. Gelegentlich barg auch das Eintreten für den arischen Jesus Konfliktpotential. Einer Lehrerin an der Diakonen - und Krankenpflegeschule der Stiftung Tannenhof in Remscheid - Lüttringhausen, der in der NS - Frauenschaft aktiven Nieland, wurde deswegen von der Schulleitung der Religionsunterricht ( nicht andere Unterrichtsfelder ) entzogen, was zu einer Beschwerde des NSV - Ortsgruppenleiters führte.141

5.5

Fazit

Diese Ereignisse zeigen, dass Jesu Rassenzugehörigkeit auf der Ebene der schulischen und kirchlichen Basis ein sehr konfliktträchtiges Thema war – in einer Phase, in der die politische Führung kein Interesse mehr zeigte, den arischen oder den jüdischen Jesus zum Gegenstand ihres politischen Handelns und ihrer Ideologie zu machen und zu nutzen. Als mögliches Integrationssymbol war der arische Jesus aus zwei Gründen politisch untauglich : einmal, weil sich die Kirchen nicht im Sinne der NS - Herrschaftsprinzipien vereinheitlichen und effektiv kontrollieren ließen und im Blick auf Jesu Rassenzugehörigkeit und den Stellenwert dieses Themas disparat blieben; zum anderen, weil sich mit Duldung und Förderung aus der NS - Spitze in Gestalt der Deutschen Glaubensbewegung eine religiöse Alternative zum Christentum entwickelte. Hoffnungen und Anstrengungen des Eisenacher Instituts, Anerkennung bei der Parteispitze zu finden, verliefen ohne positives Ergebnis.142 Waren viele der Propagandisten des arischen Jesus zwischen 1933 bis 1945 Mitglieder der Partei, so waren sie es auf politisch wenig einflussreichen Posten. In Kirche und Theologie war der dezidierte Rassismus nach 1945 leicht ablösbar. Die ideologischen Antithesen von Judentum und Christentum, Altem und Neuem Testament, die seit dem 18. Jahrhundert in Theologie und Kirche die neuzeitlichen Formationen des christlichen Antijudaismus bestimmen, hingegen konnten nach 1945 christliche Identitätskonstruktionen noch lange unrevidiert weiter prägen.

140 Karl Steinbauer, Einander das Zeugnis gönnen. Band III, Erlangen 1985, S. 242 f. 141 Vgl. Johannes Haun, Aus der Geschichte der Stiftung Tannenhof. In : Diakonie im Dritten Reich, Mülheim 1987, S. 71–80, hier 73; Uwe Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil - und Pflegeanstalten 1933–1945, Köln 1995, S. 119 f. 142 Vgl. Arnhold, Entjudung, S. 725–750.

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Völkisch - religiöse Strömungen im Deutschbund Gregor Hufenreuter

Der Deutschbund wurde 1894 auf Initiative des Journalisten und Zeitungsherausgebers Friedrich Lange in Berlin gegründet.1 Er gehörte zu den ersten Organisationen der völkischen Bewegung und stand vom Beginn seines Bestehens an auf explizit rasseantisemitischem und antisozialdemokratischem Boden. Seine Mitglieder sollten einen „engen, persönlichen Zusammenschluss“ bilden, um gemeinsam den „Deutschgedanken“ in „einer Art religiösen Bekenntnisses auszugestalten“, um „eine tief innerliche Erfassung des Deutschgedankens herbeizuführen“.2 Durch Aufklärung und Propaganda sollten besonders „den Erkenntnissen germanischer Rasse, deutscher Wesensart in Geschichte, Sprache, Schrift und Recht und deutscher Kultur und Gesittung“ Gehör und gesellschaftliche Geltung verschafft werden und hierbei auch „der Abgrund zwischen katholisch und evangelisch in unserem Volke“ geschlossen werden.3 Der auf dem Nachweis arischer Abstammung und einjähriger Probezeit vor einer Vollmitgliedschaft fußende Bund hatte 1914 etwa 1 500 Mitglieder und war damit eine der stärksten völkischen Organisationen im Kaiserreich. Eng mit diesem Aufschwung verbunden waren vielschichtige publizistische und organisatorische Aktivitäten, die dem Bund Einfluss und regen Zulauf prominenter Mitglieder sicherten, weshalb er sich selbst als das „Offizier - Korps“ der völki-

1

2 3

Zum Deutschbund vgl. Dieter Fricke, Deutschbund. In : Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789– 1945). Hg. von Dieter Fricke / Werner Fritsch / Herbert Gottwald / Siegfried Schmidt / Manfred Becker, Band 1, Köln - Leipzig 1983, S. 517–525; ders., Der Deutschbund. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. von Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht, München 1996, S. 328–340; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Ascan Gossler, Friedrich Lange und die „völkische Bewegung“ des Kaiserreichs. In : Historische Mitteilungen der Ranke - Gesellschaft, 14 (2001), S. 166–203; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. Bericht über den Bundestag und das Hermannsfest des Deutschbundes vom 12. /13. 6. 1897. In : Deutschbund - Blätter, 2 (1897) 5, S. 4–7, hier 4. Die Deutschbund - Blätter werden im Folgenden mit Db - Bl. abgekürzt. Friedrich Lange, Was ist und was will der Deutschbund ? Weiherede, gehalten zum Weihefeste am 18. Oktober 1894, S. 2. Sonderdruck ( BArch, R 1507/360).

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Gregor Hufenreuter

schen Bewegung betrachtete.4 Seine behördlich anmutende Organisationsstruktur, die bemerkenswerten finanziellen Ressourcen und die strategisch erfolgreiche Taktik, mittels seiner finanziellen und personellen Möglichkeiten, auf eine Reihe bestehender bzw. zu gründender völkischer Organisationen Einfluss zu nehmen, um diese im Sinne des Bundes zu lenken oder sie in die eigene Organisation einzubinden, führten dazu, dass der Deutschbund Mitte der 1920er Jahre seine Mitgliederzahl auf 3 200 steigern konnte. Seinen langfristigen Erfolg sicherte der Deutschbund jedoch durch seinen Charakter eines ideologischen Sammelbeckens für die breite Massen der „Konser vativen“ innerhalb der völkischen Bewegung, die den überspitzt - radikalen Forderungen und Programmatiken einiger völkischer Gemeinschaften und Zirkel distanziert gegenüberstanden. Aus diesem Grund vertrat der Deutschbund häufig eine massenkompatible, die Meinungsführung unter den Völkischen beanspruchende ideologische Ausrichtung und Programmatik. Während der Weimarer Republik erkannte der Deutschbund die Notwendigkeit, sich zur Sicherung seines Einflusses personell stark im rechtsradikalen Parteiengefüge einzubinden. Mit einer für die völkische Bewegung außergewöhnlichen Konsequenz und Zielgerichtetheit erkor die Führung des Bundes unter dem thüringischen Ministerialrat Max Robert Gerstenhauer die NSDAP zum geeigneten strategischen Partner für das Erreichen seiner Ziele. Ab Mitte der 1920er Jahre knüpfte der Bund engere personelle Kontakte, 1930 trat die Führung des Bundes geschlossen in die NSDAP ein und verpflichtete seine Mitglieder zur uneingeschränkten Zusammenarbeit mit der Partei. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass der Deutschbund per Entscheid des Obersten Parteigerichts der NSDAP als „älteste völkische Vereinigung“ nach 1933 von den Nationalsozialisten anerkannt und geduldet wurde.5 Nur die Mitglieder des Deutschbundes erhielten in der Folge als einzige der im Nationalsozialismus noch bestehenden völkischen Organisationen die Erlaubnis, Führungspositionen innerhalb der NSDAP zu besetzen.

1.

Der Deutschbund und die konfessionellen Gegensätze im Kaiserreich

Die Gründung des Deutschbundes fiel in die zwischen den christlichen Konfessionen hoch aufgeladene Situation unmittelbar vor dem Entstehen der Los - vonRom - Bewegung und war nachhaltig von den Folgen des preußischen Kulturkampfes der 1870/80er geprägt.6 Religion und „Deutschthum“7 waren in den 4 5 6

Ernst Hunkel, Deutsch - völkische Arbeit. In : Heimdall. Zeitschrift für reines Deutschtum und All - Deutschtum, 9 (1904), S. 122 f., hier 123. Anordnung. In : Db - Bl., 39 (1934) 3, S. 25–26. Hierzu Karl - Reinhart Trauner, Die Los - von - Rom - Bewegung. Gesellschaftspolitische und kirchliche Strömung in der ausgehenden Habsburgermonarchie, Szentendre 1999; Uwe Puschner, Kulturkampf. Ursachen, Verlauf, Folgen. In : ders. / Richard Faber ( Hg.),

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Völkisch-religiöse Strömungen im Deutschbund

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Augen der Gründer untrennbar miteinander verknüpft und Friedrich Lange hoffte, „dass der Bund erproben möge, ob wir im deutschen Namen Duldung schaffen könnten für die verschiedenen christlichen Bekenntnisse“. Er musste jedoch eingestehen, dass der während der Gründung vage gebliebene konfessionelle Standpunkt „dem Bunde zuerst allerlei Missverständnisse“ eingebracht habe.8 Wenngleich Katholiken im Deutschbund zu finden seien, bestünde dieser doch „zum größten Theile aus Evangelischen“ und wenngleich „Deutsch und Katholisch nicht für immer unvereinbar bleiben“ dürften, müsse deutlich gemacht werden, dass „der Ultramontanismus eine der schlimmsten Gefahren für das Reich werden wird“.9 Eine besondere Bedrohung sah Lange in der „Machtstellung des Zentrums“, doch er ging davon aus, „dass das deutsche Gewissen auch der Katholiken auf unserer Seite ist“. Im Bemühen, die konfessionellen Gräben nicht allzu sehr aufzubrechen, wies man darauf hin, dass „streng unterschieden werden [ müsse ] zwischen katholischen Christentum und dem durchaus weltlichen Romanismus, dem uralten Streben Roms nach der Weltherrschaft“. Rom, neben Judentum und Slawen, als der gefährlichste Feind des ‚Deutschtums‘ war in der Überzeugung des Deutschbundes nicht deckungsgleich mit dem deutschen Katholizismus; man war gleichwohl überzeugt, dass der „Romanismus“ und das Zentrum als „Kriegstruppe“ Roms, „in den Reihen der Katholiken selber zahlreiche Gegner finden“ werden.10 Diese zaghaften Versuche eines versöhnlichen Umgangs zwischen den Konfessionen verloren sich jedoch vor dem Hintergrund der Entstehungsumstände der Los - von - Rom - Bewegung und den in den „Deutschbund - Blättern“ kolportierten dramatischen Berichten über den existenziell anmutenden Kampf in den von Preußen beherrschten Teilen Polens, in denen sich in manchen Landstrichen mitunter „400 deutsch - evangelische“ einer Überzahl von „9 000“ polnischen Katholiken gegenübersahen.11 Wenngleich die Deutschbund - Führung erklärte, „in das religiöse Leben und Empfinden unserer Volksgenossen“ nicht eingreifen zu wollen, forderte man die Mitglieder im selben Atemzug auf, dem Evangelischen Bund beizutreten oder diesen zumindest finanziell zu unterstützen,12 da er „gegen einen Haupt - und

7 8 9

10 11 12

Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, S. 45–62, hier 60 f. Entwurf zu einem Preisausschreiben auf den besten Lehr - und Erziehungsplan eines Unterrichts nach deutschthümlichen Gesichtspunkten. In : Db - Bl., 1 (1896) 1, S. 11–12. Weiherede des Bundeswarts. In : Db - Bl., 1 (1896) 4, S. 5–8, hier 6. Lange wies bei dieser Gelegenheit auch darauf hin, dass auch Geistliche unter den Gründungsmitgliedern gewesen seien. Auch wenn dies richtig ist, so hatte der Deutschbund zwar eine Zahl aktiver und prominent besetzter Pfarrer unter seinen Mitglieder, anteilig fielen diese aber gegenüber der Gesamtmitgliederzahl nicht signifikant ins Gewicht. Vgl. hierzu Berufs - Statistik des Deutschbundes In : Db - Bl., 14 (1909) 3, S. 4. Unter insgesamt 1 074 Mitgliedern fanden sich 43 Pfarrer. Henning, Des Deutschtums wahre Feinde. In : Db - Bl., 3 (1898) 7, S. 5–6, hier 5. Aus den Gemeinden. In : Db - Bl., 3 (1898) 2, S. 2–6, hier 2. Der Ausschuß für die evangelische Bewegung in Österreich. In : Db - Bl., 6 (1901) 8, S. 2.

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Gregor Hufenreuter

Erbfeind des Deutschtums im Kampfe steht : gegen den internationalen Ultramontanismus“.13 Der Kampf gegen den „widerdeutschen Ultramontanismus“ wurde in den darauffolgenden Jahren zum „Wesen des Deutschbundes“ programmatisch erklärt; die Förderung der Los - von - Rom - Bewegung „lag deshalb ganz in der Richtung der Deutschbund - Wirksamkeit“.14 Man feierte das „Auf leben des evangelischen Geistes“15 in den katholischen Regionen der Los - von - Rom - Bewegung und pries in diesem Zusammenhang Luther als „geistigen Rassenheros des Germanentums“ im Kampf gegen Rom und die Slawen.16 Infolge einer eingehenden Berichterstattung in den „Deutschbund - Blättern“ über die Entwicklung der Konversionsbewegung 17 verlangten einige Deutschbund - Gemeinden mit Blick auf die von der katholischen Kirche seit 1902 groß angelegten Pressekampagnen und administrativen Maßnahmen gegen die Los von - Rom - Bewegung, dass der Deutschbund öffentlich und mit Nachdruck für diese eintreten sollte.18 Dazu kam es zwar nicht in dem von der Basis des Bundes gewünschten Ausmaß, aber das Spannungsfeld „Deutschtum - KatholizismusUltramontanismus“19 blieb auch nach dem Ende der Los - von - Rom - Bewegung ein zentrales Thema im Deutschbund, wenngleich Stimmen laut wurden, die nach dem Abklingen der Bewegung für eine Beruhigung der konfessionellen Differenzen plädierten, da diese „nicht zur Festigung des Bundes“ beigetragen hätten.20

2.

Völkisch - religiöse Diskurse im Deutschbund

Der Deutschbund war somit bereits vor dem Ersten Weltkrieg als eine auf den christlichen Konfessionen ( namentlich dem lutherischen Protestantismus ) fußende völkische Organisation zu erkennen. In seinen Reihen fanden sich jedoch auch einflussreiche und publizistisch aktive Mitglieder, die mit den sich seit 1900 etablierenden und dem Christentum ambivalent gegenüberstehenden 13 14 15 16 17

Karl Berger, Ein Wort der Mahnung. In : Db - Bl., 3 (1898) 8, S. 3–4, hier 3. Gustav Holle, Deutschbund - Stimmung. In : Db - Bl., 5 (1900) 1, S. 3–4. Deutschbund - Arbeit. In : Db - Bl., 6 (1901) 1, S. 2–3, hier 2. Eine Luther - Festnummer aus Tirol. In : Db - Bl., 5 (1900) 8, S. 3. Briefwechsel mit dem Schriftwart. In : Db - Bl., 6 (1901) 2, S. 7–8; Winterstein, Bericht über die Los - von - Rom - Bewegung. In : Db - Bl., 7 (1902) 4/5, S. 7; Deutscher Kampf um Ideale. In : Db - Bl., 7 (1902) 6, S. 1–3; Karl Berger, Zur Aufklärung. In : Db - Bl., 8 (1903) 6, S. 4–5; Ernst Hunkel, Über unsere Beziehung zu den Deutsch - Österreichern. In : DbBl., 10 (1905) 8, S. 1–2; Spatz, Nochmals die deutsche Vereinigung. In : Db - Bl., 14 (1909) 10, S. 102–104. 18 Bundestag. In : Db - Bl., 8 (1903) 5, S. 2–7, hier 3. 19 Heil, Nationale Arbeit im Deutschbundspiegel. Deutschtum - Katholizismus - Ultramontanismus. II. Zentrum. In : Db - Bl., 16 (1911) 3, S. 21–22; ders., III. Konflikte zwischen Deutschtum und Ultramontanismus. In : Db - Bl., 16 (1911) 6, S. 55–56; Aus den ersten 15 Jahren des DB.. In : Db - Bl., 29 (1924) 8, S. 22–23. 20 Harhausen, Konfessionelle Verbindungen. In : Db - Bl., 14 (1909) 11, S. 117.

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Völkisch-religiöse Strömungen im Deutschbund

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völkisch - religiösen Strömungen in Kontakt gerieten und sich über ihre Beschäftigung mit der Kultur, Geschichte und der rassischen Disposition der Germanen als vermeintliche Vorgänger der Deutschen mit vorchristlichen Religionsvorstellungen auseinandersetzen. Das Christentum wurde von ihnen nicht direkt in Frage gestellt, sondern der „nordische Ursprung der arischen Rasse“ und ihr Anteil „an der Begründung der abendländischen Kultur und der christlichen Religion“ neu bewertet und entsprechend hervorgehoben.21 Spürbar waren diese Einflüsse im Deutschbund in der Auseinandersetzung mit dem österreichischen Schriftsteller Guido List, der nach einer temporären Erblindung 1902 eine Reihe von Büchern und Artikeln mit okkulten - esoterischen Deutungen über die Kultur, Sprache und Religion der Germanen veröffentlichte und diese innerhalb kurzer Zeit in einem pseudowissenschaftlichen Weltentwurf und Geschichtsbild vereinte. Die damit verbundenen Kritik am Christentum und die Glorifizierung einer vorchristlichen germanischen Hochkultur sorgte für ein stetig wachsendes Interesse an List und kulminierte in der 1908 ins Leben gerufene Guido von List Gesellschaft, in der sich die Anhänger des Wiener Ariosophen die Aufgabe stellten, die Erkenntnisse und Lehre Lists durch die Finanzierung seiner Veröffentlichungen einem breiten Publikum zugänglich zu machen und zu popularisieren. Neben dieser allgemeinen Unterstützung und Verbreitung der Werke Lists warben die Mitglieder innerhalb der völkischen und alldeutschen Bewegung in Österreich und dem wilhelminischen Kaiserreich mit Buchbesprechungen, biographischen Artikeln und fortführenden Publikationen für List und die Gesellschaft. Auch in den „Deutschbund Blättern“ fanden Lists Vorstellungen über die vorchristlichen Germanen als „Kulturvolk“ schließlich Eingang und man rühmte die „uralte Religion“ der Germanen, die „das höchste Wissen umschließt, dessen Arier überhaupt sich rühmen können“.22 Als wenige Jahre später das Deutschbundmitglied und der Präsident der Guido von List Gesellschaft Philipp Stauff in mehreren Vorträgen im Deutschbund über die „jenseits des Christentums“ zu verwirklichenden Religionsvorstellungen von List als eine Aufgabe der völkischen Bewegung sprach,23 wurde rasch deutlich, dass eine völkisch - religiöse Betätigung im Deutschbund mit dem Ziel einer möglichen Über windung des Christentums nicht geduldet werden würde. Der auf der Leitungsebene des Deutschbundes einflussreiche Max Robert Gerstenhauer machte deutlich, dass man die „unwissenschaftliche Phantasterei“ Lists aus der völkischen Bewegung halten müsse und der Deutschbund Guido List „ganz und gar“ ablehne, da dessen „Vergewaltigung der Tatsa21 Aus den Gemeinden. In : Db - Bl., 3 (1898) 3, S. 1–4. Vgl. auch H., Kreuz und Hammer. In : Db - Bl., 4 (1899) 7, S. 2. 22 Guido von List. In : Db - Bl., 13 (1908) 3, S. 30–32. 23 Nachrichten aus dem Bund. In : Db - Bl., 18 (1913), S. 35–36. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff. Ideologe, Agitator und Organisator im Netzwerk des wilhelminischen Kaiserreichs. Zur Geschichte des Deutschvölkischen Schriftsteller verbandes, des Germanen - Ordens und der Guido von List Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2011.

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chen“ die „deutschvölkische Sache“ schädigen würde.24 Noch 1927, als die Ideen Lists sich nur noch auf ariosophische Kreise innerhalb der völkischen Bewegung beschränkten und keine vergleichbare öffentliche Wahrnehmung mehr genossen, beschrieb Gerstenhauer List weiterhin vehement als „Wirrkopf“ und „Schwarmgeist“, vor dem gewarnt werden müsse.25 Ähnlich erging es dem 1911 gegründeten und durch prominente Mitglieder im Deutschbund vertretenen Deutschen Orden, der auf „rassischreligiöser, germanisch - weltanschaulicher Grundlage“ fußte und im Sinne „völkischer Erneuerung auf allen Lebens - und Kulturgebieten“ zu wirken suchte. Als mitgliederstärkste und einflussreichste Organisation dieser Strömung verstand sich der Deutsche Orden als deutschgläubiger Zweig des sich zu dieser Zeit in der völkischen Bewegung organisierenden germanischen Neuheidentums, das sich die Aufgabe gestellt hatte, die „deutsche Volksgemeinschaft aus deutschem Blute heraus“ neu zu bauen. Auf Grund seines dezidiert rasseparadigmatischen Ansatzes und seiner nicht kategorischen Ablehnung des Christentums – aus der Kirche ausgetretene Mitglieder sammelten sich in der Deutschgläubigen Gemeinschaft als dem inneren Kreis des Ordens – erfuhr diese völkisch - religiöse Richtung im Deutschbund ein zeitweise, wenngleich keine unumschränkte Duldung. Der Deutschbund sah in der Deutschgläubigen Gemeinschaft und religiös ähnlich orientierten Gruppierungen lediglich „eine kleine Schar guter deutscher Volksgenossen“, die das Christentum als rassefremde Religion ablehnten, sich der „Edda und sonstigen altgermanischen Urkunden“ zugewandt hätten und den „Gedanken eines Wotankultes wieder auf leben“ ließen. Es gehöre „nicht viel Prophetengabe dazu, um vorauszusagen, dass sie, aus einer gewissen Überschwänglichkeit und Überspannung des deutschvölkischen Gedankens geboren, nur auf einen kleinen Kreis beschränkt, mithin nur eine Sekte bleiben wird, mit dem einzigen praktischen Erfolg, dass dadurch die Einheit der deutschvölkischen Front keine Stärkung, wohl aber vermehrte Einbuße und Feindschaft erfahren wird“.26 Während der Deutschbund unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges die „Voranstellung des Religiösen“27 unter Verweis auf wichtigere Aufgaben wie „Rassenhygiene und Erziehung“ noch weitgehend ablehnte, forderte er bereits 1922, in der Überzeugung, dass ihm eine führende Rolle bei der „religiös - sittlichen Wiedergeburt des deutschen Volkes“ zukomme, von seinen Mitgliedern im Rahmen der „Deutschbundarbeit“ auf lokaler Gemeindeebene die Beschäftigung mit den „großen Weltanschauungsfragen“, darunter auch dem „Deutschchristentum“.28 Religion sei zwar eine „persönliche Sache“ und der Deutsch24 Max Robert Gerstenhauer, Ziele und Organisation der völkischen Vereinsarbeit II. In : Db - Bl., 19 (1914), S. 20–22, hier 21. 25 Max Robert Gerstenhauer, Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 140. 26 Deutschbundspiegel, Schwelm 1923, S. 72. 27 Anregungen zur Deutscharbeit. In : Db - Bl., 24 (1919) 9/12, S. 41. 28 I. d. N. H.! In : Db - Bl., 27 (1922) 6/9, S. 13.

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bund werde hierzu „keine Vorschriften machen“ oder „seine Mitglieder auf eine bestimmte Richtung festlegen“, doch müssten die „undeutschen, das deutsche Leben gefährdenden Irrlehren der Internationalen Bibelforscher, der Steiner und Keyserling“ bekämpft werden.29 Über diese Form der Feindbestimmung hinaus, in der sich der Deutschbund entschieden von den Ernsten Bibelforschern, der Anthroposophie Rudolf Steiners und der synkretistischen Ideenwelt des Kulturphilosophen Hermann Graf Keyserling distanzierte, blieb er, abgesehen von seiner auf der Führungsebene geäußerten Sympathie für das sich gerade erst im Bund für deutsche Kirche30 organisierende Deutschchristentum in Religionsfragen weitgehend defensiv.31 Bis Mitte der 1920er Jahre dominierte die Beschäftigung mit staatstheoretischen, wirtschaftspolitischen und pädagogische Themen,32 was bei der Basis neuerlich zu verstärkt antikatholischen Ressentiments führte.33 Der energische Aufruf zu „Bundeszucht und Zivilchristentum“34 und die nötig gewordenen Klärungen, dass gegen die „katholische Kirche [...] als Form eines religiösen Bedürfnisses“35 nichts eingewendet werden könne und die „ultramontane Eigenart der katholischen Religion [...] kein Hindernis für deutsches Fühlen und Denken“ sei, untermauerte der mittlerweile zum „Großmeister“ und damit zum ideologischen Führer des Deutschbundes avancierte Max Robert Gerstenhauer mit der Warnung, dass der Deutschbund es „als schlimmstes Unheil für das deutsche Volk“ ansehe, „wenn sich die christlichen Konfessionen in einen neuen Kulturkampf hineintreiben ließen“. Katholiken seien keinesfalls „Deutsche minderer Güte“ und es könne auch nicht darum gehen, sie „allmählich für eine ‚antiultramontane‘ Einstellung zu gewinnen“. Der „Kampf für das Deutschtum und den völkischen Gedanken“ sei „zugleich ein Kampf für das Christentum“, in dem „das deutsche Volk eine in Liebe verbundene Einheit zu bilden hat“.36 29 Richtlinien. In : Db - Bl., 27 (1922) 6/9, S. 13–14, hier 4. 30 Alexandra Gerstner / Gregor Hufenreuter / Uwe Puschner, Völkischer Protestantismus. Die Deutschkirche und der Bund für deutsche Kirche. In : Michel Grunwald / Uwe Puschner / Hans Manfred Bock ( Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2008, S. 409–435. 31 Gebet. In : Db - Bl., 28 (1923) 10/12, S. 16; Blume, Weiherede zur Bruderweihe. In : DbBl., 28 (1923) 10/12, S. 16–18; Deutschbundspiegel, Schwelm 1923, S. 72. 32 Bericht über die Tagung des Deutschbundes in Hildburghausen am 14., 15. und 16. Brachets 1924. In : Db - Bl., 29 (1924) 7, S. 13–16; Max Robert Gerstenhauer, Die Zukunft der völkischen Bewegung. In : Db - Bl., 29 (1924) 8, S. 21–22; Behm, Grundlinien des deutsch - völkischen Zukunftsstaates. In : Db - Bl., 29 (1924) 9, S. 38. 33 Amende, Missbrauch der Religion zu weltlich - politischen Zwecken, Erklärung. In : DbBl., 30 (1925) 10/11, S. 67. 34 Behm, Christentum in Zivil. In : Db - Bl., 31 (1926) 7/8, S. 51–52, hier 51. 35 C. Hülsmann, Aufgaben für den Deutschbund, Erklärung. In : Db - Bl., 30 (1925) 8/9, S. 53–57, hier 54. 36 Max Robert Gerstenhauer, Erklärung. In : Db - Bl., 30 (1925) 2/3, S. 13–14. Zur Person Gerstenhauers vgl. Breuer, Die Völkischen, S. 164–171; Gregor Hufenreuter, Max Robert Gerstenhauer. In : Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Wolfgang Benz in Zusammenarbeit mit Werner Bergmann / Johannes Heil / Juliane Wetzel / Ulrich Wyrwa, Berlin 2009, Band 2/1, Personen A–K, S. 280–281.

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Gregor Hufenreuter

Als Folge der internen Auseinandersetzungen erklärte die Bundesleitung 1926 die Religion von nun an zum „Ballast, der unserem Reichsschiff den Tiefgang zur Sicherung der Fahrtrichtung auf sturmbewegter See verleihen soll“,37 und sie forcierte die Etablierung deutschchristlicher Standpunkte und Erörterungen.38 In Abgrenzung zu den „kirchenfeindlichen Deutschvölkischen“ des neuheidnischen Lagers39 und unter zustimmenden Verweis auf Hitler, der „allen konfessionellen Sonderbestrebungen innerhalb der völkischen Bewegung – und im Deutschbund hoffentlich in erster Linie !– den Boden“ entzogen sehen wollte,40 verfolgte die Führung des Deutschbundes unter den religiösen Erneuerungsbestrebungen „insbesondere die Richtung des Deutschchristentums“,41 mehr noch, sie erklärte die Förderung der deutschchristlichen Bewegung zur Aufgabe des Deutschbundes.42 Eine zentrale Einrichtung zur Erfüllung dieser Aufgabe war die 1925 als Sammlung aller deutschchristlichen Gruppierungen entstandene Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft, an deren Gründung der Deutschbund maßgeblich beteiligt war und die er durch Max Robert Gerstenhauer als Vorsitzenden in seinem Sinne zu lenken verstand.43 Die Arbeitsgemeinschaft vereinte neben dem Deutschbund besonders die Mitglieder des 1921 durch führende Vertreter des Deutschchristentums gegründeten Bundes für Deutsche Kirche, ferner Repräsentanten der Dorfkirchenbewegung, der Bauernhochschulen, des völkischen Lehrerbundes, des Jungdeutschen Ordens, der Neulandbewegung, einiger Wehrverbände sowie Vertreterinnen der nationalistischen und völkischen Frauenbewegung. Einigkeit bestand in der Überzeugung, dass „nur die Erneuerung von Kirche und Volk aus deutsch - christlichem Geist einen Aufstieg“ des deutschen Volkes bewirken könne; weshalb man es sich zur Aufgabe machte, „die vater37 Behm, Christentum in Zivil. In : Db - Bl., 31 (1926) 7/8, S. 51–52, hier 51. 38 Teudt, Unsere religiöse Not. In : Db - Bl., 31 (1926) 9/10, S. 59–60; Th. Schenk, „Der Kampf ums Alte Testament“. In : Db - Bl., 31 (1926) 9/10, S. 66; Niedlich, Zu : Unsere religiöse Not. In : Db - Bl., 31 (1926) 11/12, S. 71; Erbt, Jesus, der Heiland aus nordischem Blute. In : Db - Bl., 32 (1927) 3/4, S. 17; Schützler, Predigt über Matth. 4 v. 4, gehalten bei der Jahrestagung des Deutschbundes am 3. Juni 1928 zu Hagen i. W. In : Db - Bl., 33 (1928) 7, S. 45–47. 39 Schwerin, Glauben und Wissen. In : Db - Bl., 32 (1927) 3/4, S. 9–11, hier 9. 40 Amende, Missbrauch der Religion zu weltlich - politischen Zwecken, Erklärung. In : DbBl., 30 (1925) 10/11, S. 67. 41 Max Robert Gerstenhauer, Der Führer. In : Db - Bl., 32 (1927) 3/4, S. 15–16, hier 16. Zu Gerstenhauers deutschchristlichen Vorstellungen vgl. Uwe Puschner, Deutschchristentum. Über christlich - völkische Religiosität. In : Richard Faber / Gesine Palmer ( Hg.), Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur ?, Würzburg 2003, S. 91–122. 42 Der DB in der völkischen Bewegung. In : Db - Bl., 33 (1928) 7, S. 55. 43 Mitteilungen. In : Die Deutschkirche 4 (1925), S. 54; Die erste Führertagung der deutschchristlichen Arbeitsgemeinschaft in Leipzig am 14. und 15. Hornung 1926. In : Die Deutschkirche, 5 (1926), S. 32–33; Max Robert Gerstenhauer, Das Programm der Deutschchristlichen Arbeitsgemeinschaft. In : Die Deutschkirche, 10 (1931), S. 185– 186. Vgl. auch Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 2. Auflage. 1988, S. 250–253.

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ländische Bewegung mit deutsch - christlichem Geist“ zu durchdringen.44 Wenngleich in den darauffolgenden Jahren auch Vertreter anderer völkisch - religiöser Überzeugungen an den Tagungen teilnahmen – wie etwa Ludwig Fahrenkrog als Leiter der Germanischen Glaubensgemeinschaft ( GGG ) oder die Deutschbundmitglieder Ernst Graf zu Reventlow, der neben Jakob Wilhelm Hauer später die Deutsche Glaubensbewegung anführen sollte, und Dietrich Klagges, der mit seinen Vorstellungen einer von den christlichen Kirchen unabhängig entstehenden „nordischen Kirche“45 ein eigenes Elaborat den deutschchristlichen Konzepten an die Seite stellte – instrumentalisierte Gerstenhauer die Arbeitsgemeinschaft ganz im Sinne seiner deutschchristlichen Ziele.46 Als Regierungsrat im Thüringischen Ministerium des Innern und der Wirtschaft protegierte er nicht nur die völkische und nationalistische Bildungsarbeit, sondern verstand es vor allem als einer von nur drei Abgeordneten des Bundes für Deutsche Kirche deutschchristliche Themen im Thüringischen Landeskirchentag zu etablieren.47 Wenngleich Gerstenhauer den Deutschbundmitgliedern wiederholt versicherte, „in den allerhöchsten Fragen der Religion“ werde der Deutschbund keine Vorschriften machen, zog er im selben Atemzug gegen „Ariosophen und sonstige Phantasten und Okkultisten“48 ins Feld, beschrieb die ariosophische „Lehre des Herrn Lanz von Liebenfels“ als eine „bestenfalls [...] in der Luft schwebende Hypothese“ und rief dazu auf, die völkische Weltanschauung „gegen alle theo - , antropo - , ariosophische und sonstige okkultistische Phantastereien zu verteidigen“.49 Regelmäßig trug er stattdessen seine deutschchristlichen Anschauungen in den „Deutschbund - Blättern“ vor50 und räumte Gesinnungsgenossen umfang44 Petri, Deutsch - christliche Tagung in Weißenfels. In : Db - Bl., 30 (1925) 10/11, S. 67. Vgl. auch Petri, Stahlhelm - Arbeit. In : Db - Bl., 34 (1929) 2, S. 40–41. 45 Dietrich Klagges, „Das Urevangelium Jesu, der Deutsche Glaube“. In : Db - Bl., 31 (1926) 11/12, S. 73; Dietrich Klagges, Allvater und Urevangelium. In : Db - Bl., 32 (1927) 8/9, S. 49–51. 46 Die Deutsch - christliche Arbeitsgemeinschaft Großdeutschland. In : Db - Bl., 33 (1928) 8, S. 75; Tagung der Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft. In : Db - Bl., 33 (1928) 9, S. 92. 47 Die Gruppe des Bundes für deutsche Kirche im Thüringischen Landes - Kirchentag. In : Die Deutschkirche 8 (1929), S. 33–34; Die Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft. In: Db - Bl., 35 (1930) 2, S. 22–23; Max Robert Gerstenhauer, Das Programm der Deutschchristlichen Arbeitsgemeinschaft. In : Db - Bl., 36 (1931) 5, S. 56; Ein praktisches Beispiel völkischen Kampfes. In : Db - Bl., 35 (1930) 5, S. 59–65; Gustav Hildebrant, Deutschbund und Landeskirche. In : Db - Bl., 35 (1930) 6, S. 87. Zu Gerstenhauers Bildungsarbeit vgl. Bettina Irina Reimers, Die neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933, Essen 2003. 48 Max Robert Gerstenhauer, Wer ist völkisch ? In : Db - Bl., 34 (1929) 1, S. 3–5, hier 3 und 5. 49 Max Robert Gerstenhauer, Deutschchristentum und Geistchristentum. In : Db - Bl., 34 (1929) 1, S. 5–7, hier 7. 50 Max Robert Gerstenhauer, Deutschtum und Christentum. In : Db - Bl., 33 (1928) 9, S. 81–92; ders., Die Arbeit des Deutschbundes in der völkischen Bewegung. In : Db - Bl., 34 (1929) 2, S. 24–27; ders., Alte und neue Aufgaben in der völkischen Bewegung. In: Db - Bl., 35 (1930) 3, S. 34–39; ders., Was ist Deutschchristentum. In : Db - Bl., 35 (1930) 5, S. 71–72; ders., Wilhelm Erbt : Der Anfänger unseres Glaubens, eine Untersuchung

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reich Platz ein.51 Nachdem er die Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft als Zweckverband dem Deutschbunds angliedert hatte, den Feiern und Veranstaltungen des Deutschbundes deutschchristliche Predigten voranstellen ließ52 und eine Reihe von eigenen Publikation zum Deutschchristentum veröffentlichte,53 musste Gerstenhauer 1932 erkennen, dass die Tagungen der Deutschchristlichen Arbeitsgemeinschaft ihre frühere integrative Kraft verloren hatten und sich durch das Fehlen „richtungsweisender Persönlichkeiten“54 wie Ernst Graf zu Reventlow, Dietrich Klagges oder Ludwig Fahrenkrog auf Mitglieder des Bundes für deutsche Kirche beschränkten.

3.

Der Deutschbund im Nationalsozialismus

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stellten der sogenannte Kirchenkampf, das Reichskonkordat, die Entstehung der Bekennenden Kirche, die Fragmentierung der Glaubensbewegung Deutsche Christen nach der Sportpalastrede Reinhold Krauses im Herbst 1933, die zeitgleiche Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung durch Jakob Wilhelm Hauer und der konfessionelle Neutralitätserlass von Rudolf Heß für die NSDAP den Deutschbund vor eine völlig neue Situation. Gerstenhauer, der den Deutschen Christen Thüringens verbunden blieb,55 schloss aus der nationalsozialistischen Kirchen - und Religionspolitik 1933, dass Staat und Partei sich „mit religiösen Dingen nicht beschäftigen“ dürften und „im Streit der Kirchen, Religionsgemeinschaften und Bekenntnisse“ neutral agieren müssten. Daher erkannte er die Aufgabe der völkischen Bünde und vor allem des Deutschbundes gerade

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der Überlieferung der Evangelien. In : Db - Bl., 35 (1930) 6, S. 89–90; ders., Der gegenwärtige Stand der völkischen Bewegung. In : Db - Bl., 36 (1931) 2, S. 16–21. Helmut Nicolai, Vom nordischen Ur - Gesetz. Ein Beitrag zur Erkenntnis nordischer Sittlichkeit und zur Gestaltung einer germanischen Religion. In : Db - Bl., 34 (1929) 2, S. 27– 33; Wilhelm Bode, Weltanschauung, Religion, Brauchtum. In : Db - Bl., 34 (1929) 4, S. 94–96; Hans von Manteufell, Können wir noch Christen sein ? In : Db - Bl., 34 (1929) 5, S. 117–118; Gustav Hildebrant, Volksdeutsche Dichter als Wegbereiter zur religiösen Erneuerung. In : Db - Bl., 35 (1930) 4, S. 51–52; Maingau. In : Db - Bl., 36 (1931) 5, S. 59; Heinrich Blume, Max Robert Gerstenhauer : Was ist Deutsch - Christentum ? In : DbBl., 37 (1932) 1, S. 18–19; L. v. H., Erneuerung des Glaubens und Erneuerung der Kirche. In : Db - Bl., 37 (1932) 2, S. 43–44. Deutschbund e. V. In : Db - Bl., 34 (1929) 1, S. 2; Predigt bei der Morgenfeier des DB. In der St. Jacobikirche zu Lübeck am 26. Wonnemonds 1929. In : Db - Bl., 34 (1929) 5, S. 115–117. Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927; Nordische Religion. Deutschchristentum oder Judenchristentum ?, Melsungen 1928; Was ist Deutsch - Christentum ?; o. O. 1928 (2. Auf lage Berlin - Schlachtensee o. J., ca. 1930); Deutscher Glaube im Dritten Reich, Leipzig 1934. Deutsch - christliche Arbeitsgemeinschaft. In : Db - Bl., 37 (1932) 3, S. 73. Otto Tröbes, Max Robert Gerstenhauer : Deutscher Glaube im Dritten Reich. In : Db Bl., 39 (1934) 3, S. 49; Hermann Schwarz, Wesens - Ethik und Verwesentlichungs - Ethik. Eine Besprechung von M.R. Gerstehauers Schrift : „Deutscher Glaube im Dritten Reich“. In : Db - Bl., 39 (1934) 3, S. 52–54.

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darin, „die geistige Einheit des Deutschtum herzustellen“.56 Wie dieser Konsens aussehen sollte, ließ Gerstenhauer vor dem Hintergrund der ambivalenten NSReligionspolitik und mit taktischem Kalkül offen. Da niemand sagen könne, „welche Richtung durchdringen und die Deutschheit der Zukunft beherrschen wird“, werde sich der Deutschbund hüten, „die andere Richtung zu verketzern und ihre Anhänger zu bekämpfen“.57 Unstrittig war für den protestantischen Deutschchristen Gerstenhauer, dass „die künftige Religion und Kultur der Deutschen [...] deutsch sein“ müsse, „nicht jüdisch - römisch“. Dieses vorsichtige Abrücken von dem bis dahin dominanten deutschchristlichen Standpunkt führte einerseits dazu, dass sich innerhalb des Deutschbundes eine Irminsgemeinschaft gründete,58 um die kirchenfernen Mitglieder des Deutschbundes zu sammeln und unter dem Dach von Hauers Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung zu vereinen. Andererseits wiesen die lokalen Führer des Deutschbundes wie schon früher auf eine grundsätzliche Übereinkunft aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hin, wonach die verschiedenartigen religiösen Überzeugungen der Deutschbundmitglieder geachtet werden müssten.59 Einschränkend fügte man jedoch an, dass es zu unterscheiden gelte, „ob es sich um die private Meinung eines einzelnen Bruders“ handle oder um „eine richtungsweisende Kundgebung“ der Bundesleitung. Tatsächlich sah Gerstenhauer wenig später die Notwendigkeit, sich der von einem erstarkten publizistischen und organisatorischen Netzwerk profitierenden Deutsche Glaubensbewegung entgegenzustellen, um dem „Unfug“ Einhalt zu gebieten, mit dem „einzelne Fanatiker“ dabei seien, „die Einheit des deutschen Volkes zu zerreißen“.60 Ein weiterer Angriff Gerstenhauers auf die Deutsche Glaubensbewegung und eine erneute Intervention zugunsten der Deutschen Christen bei der Lösung der religiösen Fragen im Nationalsozialismus führten schließlich zu Protesten und Widerspruch auf lokaler Ebene des Deutschbundes.61 In einer umfangreichen Stellungnahme verglich Gerstenhauer daraufhin deutschchristliche und deutschgläubige Konzepte und Ansätze, um zu belegen, dass beide Richtungen „gar nicht so sehr voneinander entfernt sind“.62 Gleichwohl sprach er sich – verbundenen mit Kritik an der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen in Berlin – für die Programmatik der Thüringer Deutschen Chris56 Max Robert Gerstenhauer, Das Dritte Reich – und wir. In : Db - Bl., 39 (1934) 1, S. 1– 3, hier 3. 57 Max Robert Gerstenhauer, Neues von der religiösen Bewegung in Deutschland. In : DbBl., 39 (1934) 4, S. 52. 58 Glaubensbewegung „Irminsgemeinschaft“. In : Db - Bl., 39 (1934) 1, S. 6–7. 59 Bericht über die Deutschmeister - Versammlung 26. im Maien 1934. In : Db - Bl., 39 (1934) 3, S. 37–38, hier 38. 60 Max Robert Gerstenhauer, Die Zeit im Querschnitt. In : Db - Bl., 40 (1935) 1, S. 3–4, hier 3. 61 Max Robert Gerstenhauer, Die Lage und die Arbeit des Deutschbundes. In : Db - Bl., 40 (1935) 4, S. 25–34, hier 33. 62 Max Robert Gerstenhauer, Die religiöse Bewegung und der Deutschbund. In : Db - Bl., 41 (1936) 2, S. 17–26, hier 21.

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ten aus, deren wichtigste kirchenpolitische Erfolge er mit seiner Persönlichkeit verband und die er für die Religionspolitik des Nationalsozialismus empfahl. Als Folge dieser Erklärung verlor der Deutschbund, wie Gerstenhauer wenig später ernüchtert berichtete, durch Austritt einer „Bekenntnis - Christengemeinde“ eine komplette Ortsgruppe und eine weitere, „die mit der Behandlung der kirchlichen und religiösen Fragen durch den Bund unzufrieden“ war.63 Die Durchsetzung seiner deutschchristlichen Überzeugungen im Deutschbund neben den Lippenbekenntnissen religiöser Neutralitätswahrung gegenüber den deutschgläubigen Bundesmitgliedern erwies sich für Gerstenhauer letzten Endes als Pyrrhussieg. Der Deutschbund verlor zunehmend jegliche inhaltlich Anziehungs und Gestaltungskraft während der Konsolidierungsphase des Nationalsozialismus, weshalb die „Deutschbund - Blätter“ schließlich entschieden, sich „grundsätzlich“ einer Stellungnahme in religiösen Fragen zu enthalten, und es auch nicht mehr zuließen, dass die Thematisierung von Religion „Ausgangspunkt für eine ‚Disputation‘ wird“.64 Als der Sicherheitsdienst des Reichsführers - SS 1936/37 den Deutschbund in Bezug auf seine religionspolitischen Standpunkte überprüfte, kam er zu einem Urteil, das diametral zu dem stand, was Gerstenhauer im Deutschbund hatte durchsetzen wollen und mit seinen Angriffen auf deutschgläubige Strömungen in Kauf genommen hatte : „Wenn die Leitung des Db immer wieder betont, dass der Db heute noch Aufgaben besonders auf religiösem Gebiet habe, die von Partei und Staat z. Zt. nicht gelöst werden können, so klingt das zunächst überzeugend. Jedoch zeigt die Entwicklung seit 1933, dass der Db absolut nicht in der Lage ist, den geringsten Beitrag zur Klärung der religiösen Frage beizusteuern. Er ist vielmehr noch heute so, dass der Db sich von der Entwicklung schieben lässt und ängstlich bemüht ist, die religiöse Überzeugung christlicher Db - brüder nicht zu verletzen.“65 Der Sicherheitsdienst hatte erkannt, dass der Deutschbund „bei den religiösen Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen stehen“ geblieben sei, und schlussfolgerte daraus, dass ihm „jede Existenzberechtigung abgesprochen werden“ müsse, da er „durch sein Dasein ohne ernstlichen Inhalt lediglich einen Beitrag zur Zersplitterung des Volkskörpers“ leiste.66 Inwieweit der Deutschbund von dieser Einschätzung erfuhr, ist nicht bekannt; die Bundesführung erklärte jedenfalls 1941, „dass nach Lage der Dinge der Deutschbund heute eine rein kulturelle Aufgabe“ habe. Politische und religiöse Dinge seien aus seinem Betätigungsfeld „ein für alle Male“ ausgeschieden, da man sich „eben in gar keiner Weise in Gebiete einmischen“ könne, „in denen die Partei ihren Geltungsanspruch durchsetzen will“.67 Diese Selbsterkenntnis 63 Eröffnung der Bundeskammer - Sitzung am 6. im Brachet [ Juni ] 1936. In : Db - Bl., 41 (1936) 4, S. 53. 64 Adolf Bartels, Jesus, der Galiläer. In : Db - Bl., 44 (1939) 2, S. 45–46, hier 46. 65 Leitheft Deutschbund e. V. vom 29. 1. 1937, S. 12–13 ( BArch, R /58/6060). 66 Ebd., S. 14. 67 Otto Krieger an Friedrich Schöll vom 7. 5. 1941 ( NL Friedrich Schöll, Privatbesitz Christoph Knüppel ).

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und die Unter werfung unter die nationalsozialistische Diktatur führten im Deutschbund während der folgenden Jahre des Zweiten Weltkrieges dazu, dass sein Betätigungsfeld auf die Pflege der eigenen Vergangenheit beschränkt blieb, in der er die völkische Bewegung richtungsweisend mitbestimmt hatte. Nach Kriegsende wurde er von den Alliierten verboten.

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Diskurse, Bewegungen, Praxis : Völkisches Denken und Handeln bei den „Deutschen Christen“ Manfred Gailus

Für viele Jahrzehnte nach dem Krieg waren sie die Stiefkinder der Protestantismusgeschichte und Kirchenkampfforschung – die Deutschen Christen ( DC ), eine innerkirchliche Parallelbewegung zur NS - Bewegung. Es gab sie schlicht nicht, bestenfalls als schwarze Schafe einer peinlich beschwiegenen eigenen Geschichte. Seit etwa zwei Jahrzehnten hat sich das geändert : Neuerdings interessiert man sich sehr für diese religiöse, kirchenpolitische Massenbewegung, deren Erforschung nicht unerheblich zur Beantwortung der Frage beitragen kann, wie die große Entgleisung deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert überhaupt möglich gewesen sei. Namen trugen sie viele, die Gruppen, Grüppchen, Bünde, Kreise, Fraktionen der Deutschen Christen, und es dürfte an dieser Stelle wohl genügen, nur die wichtigsten Selbstbezeichnungen aufzuzählen : Kirchenbewegung Deutsche Christen, Glaubensbewegung Deutsche Christen, Reichsbewegung Deutsche Christen, Luther - Deutsche, Kampf - und Glaubensbewegung Deutsche Christen, Bund für Deutsches Christentum, Nationalkirchliche Einung Deutsche Christen.1 Und nicht immer besaßen zeitgenössische Protestanten, die sich dieser Bewegung zugehörig fühlten, Mitgliedsausweise, waren Clubmitglieder im engeren Sinn. Daher spreche ich, weiter gefasst, auch von völkischen Protestanten, von denen viele zumindest zeitweilig auch einer deutschchristlichen Glaubensrichtung angehörten. Völkische Protestanten meint einen erheblichen Anteil der Evangelischen der Hitlerzeit, die Christen waren und es bleiben wollten und die sich zugleich, mehr oder minder intensiv, einem jüngeren deutsch - völkischen oder nationalsozialistischem Glauben öffneten – kurz : Protestanten, die einem christlich - nationalsozialistischen Doppelglauben an-

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Den besten Überblick über dieses schwer übersehbare Geflecht von Gruppen und Grüppchen gibt Claus P. Wagener, „Gott sprach : Es werde Volk, und es ward Volk !“ Zum theologischen und geistesgeschichtlichen Kontext der Deutschen Christen in ihren unterschiedlichen Strömungen. In : Peter von der Osten - Sacken ( Hg.), Das missbrauchte Evangelium. Studien zur Theorie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, S. 35–69.

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hingen.2 Im Folgenden stelle ich diesen Doppelglauben dar, indem auf deutschchristliche Diskurse, auf den besonderen Bewegungscharakter dieser 30er- Jahre- Religiosität und auf die Praxis eines völkischen Protestantismus im Kirchenleben eingegangen wird.3

1.

Diskurse

Im Jahr 1932 publizierte der aus Pommern stammende Pfarrersohn Siegfried Nobiling4, seit 1928 Pfarrer in Berlin, ein emphatisches politisches Glaubensbekenntnis, das ihn als doppelt gläubigen Christen und Nationalsozialisten ausweist.5 Durch Zufall, so berichtete er, sei ihm 1929 Joseph Goebbels’ Berliner Parteiblatt „Der Angriff“ ins Haus gekommen. Er abonnierte die Zeitung, las die einschlägigen Bücher, insbesondere Hitlers „Mein Kampf“, besuchte Parteiversammlungen, bis er Ende Mai 1929 nicht anders mehr gekonnt habe als einzutreten. In Anspielung auf Martin Luthers Auftritt vor dem Reichstag zu Worms bekannte er : „Zusammenfassend kann ich nur aus ehrlichstem Herzen gestehen, dass der Nationalsozialismus für mich Schicksal und Erlebnis war. Rein stehe ich da vor meinem Gott, vor meiner Kirche und vor meinen Partei2

3

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Vgl. Manfred Gailus, „Nationalsozialistische Christen“ und „christliche Nationalsozialisten“. Anmerkungen zur Vielfalt synkretistischer Gläubigkeiten im „Dritten Reich“. In: ders./ Hartmut Lehmann ( Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 223–261. Neben den älteren Studien von Kurt Meier (1964), Reijo E. Heinonen über Bremen (1978) und Hans Joachim Sonne (1982) sei hier auf die wichtigsten Beiträge der jüngeren Zeit verwiesen : Rainer Lächele, Ein Volk, ein Reich, ein Glaube. Die „Deutschen Christen“ in Württemberg 1925–1960, Stuttgart 1994; Leonore Siegele - Wenschkewitz ( Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a. M. 1994; Doris L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996; Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001; Reinhard Rürup (Hg.), Protestantismus und Nationalsozialismus, Themenheft von GG, 29 (2003) 4; Susanne Böhm, Deutsche Christen in der Thüringer Evangelischen Kirche (1927– 1945), Leipzig 2008; Susannah Heschel, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008; Hansjörg Buss, „Entjudete“ Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918–1950), Paderborn 2011. Geb. 1891 in Rosenow ( Pommern ), Studium der Theologie und aktiver Weltkriegseinsatz, Ordination 1920, 1921 Pfarrer in Großgarde ( Pommern ), 1928 Pfarrer in BerlinFriedenau, 1929 NSDAP und seit 1932 DC, Mitglied der 1. Reichsleitung DC ( Referent für Personalfragen ), 1933 Mitarbeiter im Konsistorium der Mark Brandenburg in Berlin, seit Oktober 1933 Oberkonsistorialrat im Evangelischen Oberkirchenrat, März 1934 Wechsel an das Konsistorium Stettin, Januar 1939 Rückkehr an das Konsistorium Berlin, dort bis 31. 12. 1946 im Amt, Ruhestandsversetzung 1947, verst. 1978. Siegfried Nobiling, o. T. [ Stellungnahme zum Nationalsozialismus ]. In : Leopold Klotz (Hg.), Die Kirche und das dritte Reich, Band 2, Gotha 1932, S. 79–85. Alle folgenden Zitate ebd.

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genossen und kann nur sagen : ich konnte nicht anders !“ Pfarrer Nobilings Begegnung mit dem Nationalsozialismus traf ihn mit der Macht einer zweiten Bekehrung. Die nationalsozialistische Bewegung erschien ihm als ein neues, mächtiges „Wir - Erlebnis“. Dieses neue politisch - religiöse Gemeinschaftserlebnis sah er dreifach bestimmt : Erlebnis einer neuen „Volksgemeinschaft“, einer „Rassengemeinschaft“ und einer „Schicksalsgemeinschaft“. Beglückt bekannte sich Nobiling zur radikalen Abkehr vom „selbstischen Ich“ des Individualismus, Liberalismus und Marxismus. Die große Fehlentwicklung der vergangenen Jahrhunderte habe darin bestanden, dass das Individuum „von allen volklichen Bindungen befreit worden“ sei. Allein durch das nationalsozialistische Erlebnis der Volksgemeinschaft könne das „selbstische Ich“ jedoch nicht vollkommen überwunden werden. Es bedürfe daher des Christentums, um „dieser volksgemeinschaftlichen Erhebung der deutschen Seele zum Siege zu verhelfen“. Aufgabe der Christen müsse folglich sein, das gegenwärtige „Wir - Erlebnis des eigenen Volkes christlich zu unterbauen und so zu läutern und zu heiligen“. Nobiling ver wies auf das tiefe „Wir - Erlebnis“ der Weltkriegszeit, dieses sei durch die Knechtschaft der folgenden 14 Jahre jedoch niedergeknüppelt worden und breche nun im Nationalsozialismus wieder elementar hervor. Es sei ja gerade die besondere „Sendung“ des Nationalsozialismus, den Deutschen wieder klar zu machen, was „Volk“ und „Vaterland“ im höheren, religiösen Sinn bedeuteten. Nobiling bekannte sich ohne Umschweife zum „Rassenerlebnis“. Nicht nur die Seele, auch der Leib sei eine Schöpfung Gottes, ein Heiligtum, das nicht ohne schweren Schaden „verunreinigt“ werden dürfe. „Rassenvergötzung“ wolle er darin nicht sehen; diese sei nur dort gegeben, wo man zugunsten der eigenen Rasse die anderen vernichten wolle. Davon jedoch sei der Nationalsozialismus „weit entfernt“. Die Belange der Rasse hätten ihre Geltung, soweit dies dem Volksganzen nützlich sei. Damit, so erklärte der Theologe, folgten wir lediglich den „Spuren des Schöpfergottes“ und seinem „in die menschliche Natur schöpfungsmäßig hineingelegten Willen“. Im Judentum erblickte er die „geistleibliche Vergiftung unserer Rasse“. Durch Pflege einer „artgemäßen Kultur“ werde die „Hochzüchtung der nordischen Rasse“ ganz von selbst kommen. Eine so verstandene „Rassenkultur“ stünde den Belangen des Christentums niemals entgegen. Das „Christwerden der Juden“ sei bisher das Einfallstor fremden Blutes in unsere Rasse gewesen. Das müsse aufhören. Das Schicksal des deutschen Volkes könne nur anders werden, wenn der Fremdkörper des Judentums aus dem deutschen Staatswesen ausgeschlossen werde. Unter den gut 40 Stellungnahmen evangelischer Pfarrer, Universitätstheologen und Kirchenführer in der verbreiteten zweibändigen Publikation des Gothaer Verlegers Leopold Klotz gehörte das Statement Nobilings gewiss zu den radikalsten, aber singulär war es im protestantischen Feld keineswegs.6 Nobiling 6

Radikale politisch - religiöse Doppelbekenntnisse von Protestanten aus dieser Zeit sind : Friedrich Wieneke, Christentum und Nationalsozialismus, Küstrin - Neustadt 1931; ders., Deutsche Theologie im Umriss, Soldin 1933; Julius Kuptsch, Christentum im Nationalsozialismus, München 1932; Hermann Kremers, Nationalsozialismus und Pro-

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selbst bekräftigte seine Überzeugungen auf der 1. Reichstagung der DC in Berlin Anfang April 1933 mit einem Referat über „Kirchliches Führertum“ : Notorische Schwächlinge und Pazifisten seien aus kirchlichen Leitungsstellen zu entfernen. Er verlangte die Heranbildung einer neuen, jungen Theologengeneration im Geist der völkischen Glaubensgemeinschaft. Wer Grundgegebenheiten wie „Familie“, „Sippe“, „Volk“ und „Rasse“ nicht als Schöpfungen Gottes anerkenne, solle nicht ferner das Amt des Theologen bekleiden. „Juden“ und „Judenstämmlinge“ dürften das Theologenamt nicht ausüben.7 Komplementär sind die Ausführungen des jungen, aus Schlesien nach Berlin gekommenen Pfarrers Joachim Hossenfelder, der 1932/33 kometenhaft zum ersten Reichsleiter der Deutschen Christen aufstieg und für anderthalb Jahre – nach dem Urteil Klaus Scholders – als eine der „wichtigsten Figuren des deutschen Protestantismus“ gelten konnte.8 Auch für den 1899 Geborenen gehörten, wie bei Nobiling, die Fronterlebnisse zu den stärksten biografischen Prägungen. Seither bewegte er sich in einschlägigen völkischen Kreisen : Verein Deutscher Studenten ( VDSt ), schlesische Freikorpsbewegung, seit 1929 Mitglied der NSDAP. Sein 1932/33 formuliertes Credo „Unser Kampf“ resümierte seine völkisch - nationalsozialistische Geschichtstheologie :9 Mit dem Ersten Weltkrieg habe Gott die Neuzeit enden lassen. Nun sei eine große Zeitenkehre angebrochen, das Zeitalter des „Bürgers“ gehe zu Ende, „Volk“ als ursprüngliche Ordnung Gottes komme wieder zur Geltung. Durch Hitler habe Gott wieder Volk werden lassen. Volk sei Rasse und „Gott will Rasse“. „Wir wollen uns selbst und unser Volkstum mit gesammeltem Willen und mit heiligem Blut. Wir ziehen gegen Schmarotzer und Bastarde in den Kampf, als in einen heiligen Krieg, den Gottes heiliger Wille fordert. Die objektive Macht der Rasse bricht durch, wir wissen etwas davon, und wir stellen uns in ihr Licht und in ihren Dienst, wir kämpfen für sie unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. Damit bekommt der Glaube eine neue Sinngebung.“10 Die verschiedenen religiösen Haltungen eines

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testantismus, Berlin 1932; Guida Diehl, Der Ruf der Wende. Erneuertes Christsein, Eisenach 1933; Walter Grundmann, Totale Kirche im totalen Staat, Dresden 1934; Emanuel Hirsch, Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube, Hamburg 1934; Julius Leutheuser, Die Christusgemeinde der Deutschen. Der Weg zur deutschen Nationalkirche, Weimar 1934; Christian Kinder, Volk vor Gott. Mein Dienst an der DEK, Hamburg 1935; Ludwig Müller, Deutsche Gottesworte, Weimar 1936; Siegfried Leff ler, Christus im Dritten Reich der Deutschen. Wesen, Weg und Ziel der Kirchenbewegung „Deutsche Christen“, 2. Auf lage Weimar1937. Siegfried Nobiling, Kirchliches Führertum. In : Volk und Kirche, Berlin 1933, S. 43–48. Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Band 1 : Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M. 1977, S. 258. Zur Biografie Hossenfelders vgl. Joachim G. Vehse, Leben und Wirken des ersten Reichsleiters der Deutschen Christen, Joachim Hossenfelder. Eine Untersuchung zum Kirchenkampf im Dritten Reich. In: Schriften des Vereins für Schleswig - Holsteinische Kirchengeschichte, II /38 (1982), S. 73–123; in Vorbereitung ist eine größere biografische Studie ( Diss.) von Harbo Andresen bei Rainer Hering in Hamburg. Joachim Hossenfelder, Unser Kampf, Berlin 1933, S. 8–19. Ebd., S. 16 f.

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Inders oder Chinesen, „des Negers“, „des Semiten“ oder des „nordischen Menschen“ seien in der Schöpfungsordnung so ( und nicht anders ) gewollt. Jeder Nivellierungsversuch verstoße gegen den Willen Gottes und führe zur „Entseelung des Volkes“. Es dürfe nicht sein, schlussfolgerte Hossenfelder, dass wir unsere Kinder unter den Kanzeln zunächst in die fremdartige Lebens - und Glaubenshaltung des jüdischen Volkes brächten, und dann verstünden sie – ihrer „artgemäßen Glaubenshaltung“ entwöhnt – die Antwort Gottes und das Evangelium nicht mehr. Die geschichtliche Tendenz seit Kriegsniederlage und Revolution 1918/19 deutete der junge kämpferische Pfarrer als eine Weltverschwörung gegen eine imaginierte göttliche Schöpfungsordnung und dem darin den Deutschen gebührenden besonderen Rang. Soweit zwei deutschchristliche Frontmänner in ihren Glaubensbekenntnissen um 1933 – zwei von vielen jungen aktivistischen Theologen, die sich der neuen Glaubensbewegung anschlossen. Anspruchsvolle akademische Theologen waren sie gewiss nicht. Das wollten sie auch nicht sein, vielmehr „Bewegungsmenschen“, „Tatmenschen“, und nicht von ungefähr propagierten sie ein „Christentum der Tat“ und sahen dieses vielfach bereits in der politischen NS Bewegung mit ihren propagandistischen Zielsetzungen, wie „Volksgemeinschaft“, „Volkswohlfahrt“ und „Winterhilfswerk“, als ver wirklicht an. Gleichwohl fehlte es nicht an theologisch hochgebildeten Universitätslehrern in und am Rande der DC - Bewegung, verwiesen sei hier nur exemplarisch auf den HollSchüler Emanuel Hirsch11 in Göttingen und den Kittel - Schüler Walter Grundmann12 in Jena. Innerhalb einer insgesamt von Jahr zu Jahr schrumpfenden Universitätstheologie im „Dritten Reich“ erlangten deutschchristliche Theologen nach 1933 bald Majoritäten an ihren Fakultäten.13 Entscheidend im neuen theologischen Denken war die semantische Verschiebung des protestantischen Diskurses von „Volk“ auf „Rasse“. Wie zuvor „Volk“ wurde nun der Begriff „Rasse“ zu einer ursprünglichen, übergeschichtlichen Schöpfungsgröße erhoben, Bestandteil einer imaginierten göttlichen Schöpfungsordnung. Damit war eine generelle Kompatibilität von christlichen Glaubensbeständen und NS - Weltanschauung hergestellt : Indem „wir“ für die Reinheit der deutschen Rasse und für „arteigenen Glauben“ kämpfen, so versi11

Zu Hirsch vgl. Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, S. 167–267; Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege : Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994. 12 Vgl. u. a. Walter Grundmann, Führererlebnis und Priestertum. In : Glaube und Volk, 2 (1933), S. 147–155; ders., Totale Kirche im totalen Staat : Kirche im Dritten Reich, Dresden 1934; ders., Der Weg der deutschen Christen zum deutschen Christentum, Dresden 1934. Zu Grundmann vgl. jetzt vor allem Heschel, The Aryan Jesus, S. 175– 180, 189–199; ferner Roland Deines / Volker Leppin / Karl - Wilhelm Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007. 13 Vgl. Leonore Siegele - Wenschkewitz / Carsten Nicolaisen ( Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993; Thomas Kaufmann / Harry Oelke ( Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, Göttingen 2002.

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cherten sich die Deutschen Christen in ihren politischen Theologien, in ihren zahllosen Manifestationen, Traktaten und Bewegungsblättern, wirken „wir“ für die Erhaltung der göttlichen Schöpfungsordnung, handeln also nach dem Willen Gottes.14 „Rasse“ als Glauben bedeutete Zugehörigkeit und Ausschluss, schuf Inklusion und Exklusion. Die anderen, die „Nichtarischen“ und tatsächliche sowie vermeintliche jüdische Spuren mussten aus Theologie, gottesdienstlicher Praxis und Kirche ausgeschieden werden. Das reichsweit agierende deutschchristliche Projekt eines Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach repräsentiert diese Bestrebungen seit 1939 in exemplarischer Weise.15

2.

Bewegung

Die DC waren in erster Linie nicht eine Theologiebewegung, vielmehr verstanden sie sich als Glaubensbewegung. Theologie, Intellektualität, theoretischer Diskurs wurden eher gering geschätzt. Nach ihrem Selbstverständnis konstituierten sie sich weniger durch Bekenntnisschriften, die es freilich in großer Zahl in ihren Büchern, Heften und Zeitungen auch gab, als vielmehr durch gemeinschaftliche Aktion, durch erlebnisstarke Zeremonien, Rituale, Kulte – symbolisches Gruppenhandeln als expressiver Vollzug ihres Glaubens.16 Insofern begreift man diese genuine Glaubensbewegung der 1930er Jahre wohl dort am besten, wo sie sich als Gruppenhandeln konstituierte : in den DC - Gemeindegruppen in den Parochien. Waren diese Gemeindegruppen stark, so beherrschten sie seit 1933 die Offizialgemeinde und prägten sie vollständig in deutschchristlichem Sinn um : Von der Kanzel kam fortan die männlich - kämpferische Predigt, die ein heroisches Jesusbild, einen frühen „arischen“ Vorkämpfer aus Galiläa gegen die Juden verkündete. Die gottesdienstliche Zeremonie wurde 14

Zur älteren „Schöpfungsordnungstheologie“ und den völkisch - deutschchristlichen Anschlüssen vgl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Band 1, S. 124–150 ( Paul Althaus, Emanuel Hirsch, Wilhelm Stapel ); Anselm Doering - Manteuffel, Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik. In : Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Große Kracht ( Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 175–202, bes. 193 ff. Zur weit verzweigten Publizistik der DC vgl. auch Rainer Hering, Evangelium im Dritten Reich. Die Glaubensbewegung Deutsche Christen und ihre Periodika. In : Michel Grunewald / Uwe Puschner ( Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2008, S. 437–456. 15 Vgl. Heschel, Aryan Jesus; Deines / Leppin / Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. Jetzt auch die umfangreiche Studie von Oliver Arnhold, „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ 1939–1945, 2 Bände, Berlin 2010. 16 Vgl. Bergen, Twisted Cross; Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, bes. S. 141–196, 415–480; ders., 1933 als protestantisches Erlebnis : emphatische Selbsttransformation und Spaltung. In : GG, 29 (2003) 4, S. 481–511.

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durch festlichen Fahneneinmarsch ( Hitler - und DC - Fahnen ) und gelegentliche Fahnenweihen am Altar ergänzt, Liturgie und Liedgut wurden „entjudaisiert“ und völkisch neu angereichert, auch war das Horst - Wessel - Lied zu hören, als Orgelvorspiel oder Ausklang, und seltener auch als Gemeindegesang. Die Innenausstattung der Gotteshäuser wandelte sich. „Jüdisches“ in Kirchenfenstern und im Sakralschmuck verschwand, Völkisch - Nationalsozialistisches kam hinzu : germanisierte Christusfiguren, muskulös, blondhaarig; grimmig schauende, kernigdeutsche Kriegergestalten und gebärfreudige deutsche Mütter; Hitlerporträts oder eine Hitlerbüste in der Eingangshalle, Hitlersprüche, in Stein gemeißelt, in seltenen Fällen Hitlerbilder im Altarbereich; Hakenkreuze in der Kirche, Hakenkreuzfahnen auf Kirchtürmen; Gedenktafeln für die seit 1919 im Straßenkampf gefallenen politischen NS - Märtyrer.17 Horst Wessel, der Berliner Pfarrersohn und SA - Führer, der 1930 einem politischen Anschlag zum Opfer fiel, galt als einer der ganz Großen und wurde kirchlich verehrt. Vom Turm der Parochialkirche in Berlin - Mitte erklang im Glockenspiel seit 1933 die Melodie des HorstWessel - Lieds; in der Berliner Nikolaikirche, wo schon sein Vater gepredigt hatte, ehrte ihn seit 1938 eine Gedenktafel.18 Die Gemeindehäuser waren der eigentliche Ort, wo sich eine genuin deutschchristliche Vereinskultur entfaltete : deutschchristliche Gruppenabende, deutsche Kulturheroen und heldische Kriegserinnerungen, feierliche Enthüllung von Hitlerporträts – alles in allem : deutsch - protestantisches gemütliches Beisammensein mit Lutherlied und Hitlergruß, mit „Sieg - Heil“ und Horst - Wessel - Lied.19 Höchst authentischer Ausdruck der Glaubensbewegung waren die seit Sommer 1933 in großer Zahl inszenierten Massentrauungen und Massentaufen. Das war eine zeitweilig intensive Massenbewegung mit eigener Dynamik, mit beeindruckenden Aufmärschen durch die Straßen, mit volksmissionarischer Aktion, mittels derer die „verlorenen Seelen“ aus der Epoche der Gottlosenrepublik für die Kirche zurückgewonnen werden sollten.20 Eine solche Zeremonie in der Berlin - Schöneberger Zwölf - Apostel - Kirche sei nach dem DC - Bericht zitiert :

17

Zahlreiche Belege hierfür bei Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus; jetzt auch am Beispiel Lübecks : Buss, „Entjudete“ Kirche; zu den bildhaften Zeugnissen eines völkischen Protestantismus in Kirchenarchitektur und Sakralkunst mit zahlreichen dokumentarischen Fotos : Stefanie Endlich / Monica Geyler - von Bernus / Beate Rossié (Hg.), Christenkreuz und Hakenkreuz. Kirchenbau und sakrale Kunst im Nationalsozialismus, Berlin 2008. 18 Vgl. Manfred Gailus, Vom Feldgeistlichen des Ersten Weltkriegs zum politischen Prediger des Bürgerkriegs. Kontinuitäten in der Berliner Pfarrerfamile Wessel. In : ZfG, 50 (2002), S. 773–803. Grundlegend zu Wessel jetzt Daniel Siemens, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009. 19 Zur DC - Bewegungskultur : Bergen, Twisted Cross; Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Vgl. vor allem die exemplarische deutschchristliche Okkupation eines Gemeindehauses in der Gemeinde „Zum Guten Hirten“ in Berlin - Friedenau ( ebd. S. 141–178); ders., 1933 als protestantisches Erlebnis. 20 Vgl. Siegfried Hermle, Zum Aufstieg der Deutschen Christen. Das „Zauberwort“ Volksmission im Jahre 1933. In : ZKG, 108 (1997), S. 309–341.

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„Es war ein herrliches Bild, als am letzten Sonntagnachmittag 54 SA - Hochzeitspaare unter Vorantritt der Fahnen der Ortsgruppe ‚Schill‘ und unter den Klängen des Präludiums ‚Großer Gott, wir loben Dich‘ die Zwölf - Apostel - Kirche betraten. [...] Pfarrer Schiweck legte seiner Predigt die Markusworte zugrunde : ‚Nur wer treu ist bis ans Ende, der wird selig.‘ Nach der gemeinsamen Trauung schloss die kirchliche Feier mit einem Orgelspiel von Bach. Anschließend fand im Schubertsaal eine gemeinsame Hochzeitstafel statt. Pg. Seiler, der den jung getrauten Paaren diese Feier einrichtete, begrüßte die Erschienenen mit herzlichen Worten. Anschließend übermittelte Pfarrer Loerzer Grüße und Wünsche der Reichsleitung der Glaubensbewegung und sprach von dem neuen kämpferischen Geist, den die SA der Kirche einhauchen möge, so dass auch das Volk die Kirche suchen und finden könne. Nach Dankesworten der jungen Paare und einem Sieg - Heil auf den Führer und Dr. Goebbels wurde dem Kanzler ein Begrüßungstelegramm gesandt.“21

Am 3. Advent 1933 erlebte die Oster - Gemeinde im proletarischen „roten Wedding“ eine spektakuläre Massenkindertaufe. Ein feierlicher Zug der Täuf linge begab sich unter Posaunenklängen in die Kirche. Unter leiser Orgelbegleitung habe der Vorbeizug der Kinder am Taufbecken etwa eine Stunde gedauert. Die Gemeinde habe in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche mit großer Ergriffenheit an der Zeremonie teilgenommen. Pfarrer Dr. Johannes Hülle sprach über Matth. 11, 3 : „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten ?“ In heutiger Zeit, so berichtete das DC - Sonntagsblatt, werde diese Zweifelsfrage vor allem in jenen Kreisen laut, die den germanischen Gottglauben erneuern und ein heldisches Lebensideal haben wollten. „Demgegenüber betonte der Prediger, dass gerade die Person Christi der deutschen Frömmigkeit noch heute als Führer der Seele zu Gott gelten muss, dass die Person Jesu genug heldenhafte Züge aufweist. Wer aber Jesus erkannt hat und ihn haben will, muss auch die Kirche wollen. Jeder Volksgenosse müsse auch mitbauen am Werk der deutschen Volkskirche, einer Volkskirche, die einerseits tief wurzelt in Blut und Boden, Volk und Vaterland, die aber andererseits eine Botschaft verkündet, die alle angeht und über die Erde hinausweist.“22 Soweit zwei Beispiele aus einer Fülle durchaus populärer DC - Massenzeremonien, die den Bewegungscharakter der Glaubensbewegung während der euphorischen Anfangsjahre 1933/34 wesentlich mitprägten.23 Die NSDAP - Führung beobachtete diese Anzeichen einer neuen religiösen Massenbewegung mit Argwohn. Die Zielsetzungen der DC - Glaubensbewegung auf „Rechristianisierung“ und deren öffentlich - demonstrative Präsenz auf den Straßen standen dem 21 Nach dem Bericht in : Evangelium im Dritten Reich vom 20. 8. 1933 Allein in dieser Gemeinde fanden im Verlauf des Jahres 1933 vier Sammeltrauungen statt. Zu den Kontexten vgl. die Gemeindestudie : Jutta Kindel, Geschehen im Nationalsozialismus, nachgedacht. Ein Versuch nicht nur zur Geschichte der Zwölf - Apostel - Gemeinde. In : Peter Klemm ( Hg.), Wahrnehmungen. Eine Festschrift zum 125 - jährigen Bestehen der ZwölfApostel - Gemeinde in Berlin - Schöneberg, Berlin 1988, S. 23–104. 22 So der Bericht in : Evangelium im Dritten Reich vom 24. 12. 1933. 23 Diese Massenaktionen beschränkten sich vermutlich auf die größeren Städte, in denen die DC eine gewisse Präsenz besaßen. Eine erschöpfende Analyse dieses Phänomens der Jahre 1933–1935 fehlt bis heute.

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weltanschaulichen und politischen Monopolanspruch der NSDAP im Wege. Bereits im August 1933 gab es Signale der Parteiführung gegenüber der DC Reichsleitung, die daraufhin auch durch eigene Direktiven begann, den spektakulären Demonstrationscharakter von Massentrauungen und Sammeltaufen einzuschränken. Es dürfe, so wurde angewiesen, keine Propaganda, kein Sport, keine Rekordhascherei mit „heiligen Handlungen“ getrieben werden.24 Seit Herbst 1933 folgten wiederholt Anordnungen der Parteiführung, durch die sämtlichen nicht - nationalsozialistischen Gruppen und Verbänden die Verwendung einschlägiger Symbole und Funktionsbezeichnungen der Partei untersagt wurden. Auf diese Weise wurde der Bewegungsspielraum der DC politisch von außen empfindlich eingeschränkt. Eine zweite Begrenzung erfuhr die Glaubensbewegung durch wachsende innerkirchliche Opposition : die Jungreformatorische Bewegung seit Mai 1933, die Wahlliste Evangelium und Kirche, der Pfarrernotbund seit September 1933, Bekenntnissynoden seit Anfang 1934 und Bekenntnisgruppen in den Gemeinden setzten deutschchristlichen Terraingewinnen deutliche Grenzen. Dennoch, die Deutschen Christen waren zeitweilig keine kleine, abseitige Kirchenbewegung. Die vagen Schätzungen von ca. 600 000 Mitgliedern zu ihrer besten Zeit um 1934/35 stehen im Raum und bedürften dringend der Präzisierung. „Rote - Karten - Inhaber“ auf der Gegenseite der Bekennenden Kirche dürfte es nicht mehr gegeben haben, eher weniger.25 Schwerpunktmäßig waren die DC im Norden, der Mitte und im Osten stärker präsent als im Süden und Westen des Deutschen Reiches, also ostelbisches Preußen, Sachsen, Anhalt und Thüringen, Hessen, Mecklenburg, Braunschweig, Bremen, teilweise Schleswig Holstein. Auch spielten sie in der hochpolitisierten Atmosphäre der urbanisierten Zentren stets eine größere Rolle als auf dem traditionsfixierten platten Land, wo das Kirchenvolk häufig durchaus völkisch - protestantisch empfand, aber von den DC noch nie etwas gehört hatte.26 Verglichen mit der Bekennenden Kirche repräsentierten die DC die etwas kleineren Leute aus dem alten Mittelstand, waren ganz vorwiegend eine evangelisch - politische Männerbewegung im Unter-

24 Vgl. DC - Gauanordnung vom 27. 8. 1933. In : Evangelium im Dritten Reich vom 10. 9. 1933. 25 Diese Zahlenangabe nach Doris L. Bergen, Die „Deutschen Christen“ 1933–1945 : ganz normale Gläubige und eifrige Komplizen ? In : GG, 29 (2003) 4, S. 542–574, hier 546, 553 f. Für Berlin ergibt sich nach präzisen Schätzungen ein Zahlenverhältnis von knapp 50 000 DC - Mitgliedern gegenüber ca. 36 000 BK - Mitgliedern zum Zeitpunkt 1934/35 ( Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 292). 26 Zur regionalen Landkarte des Kirchenkampfes vgl. Thomas Fandel, Protestantische Pfarrer und Nationalsozialismus in der Region. Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. In : GG, 29 (2003) 4, S. 512–541; Manfred Gailus / Wolfgang Krogel ( Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006; Kyle Jantzen, Faith and Fatherland : Parish Politics in Hitler’s Germany, Fortress Press 2008.

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schied zu den mehrheitlich durch Frauenpartizipation geprägten Bekenntniskreisen.27 Ungeachtet ihrer theologischen Abstinenz, waren die DC selbstverständlich eine von völkisch - politisierten Pfarrern entscheidend stimulierte Bewegung. An prominenten kirchlichen Galionsfiguren und theologischen Stichwortgebern fehlte es nicht. Reichsbischof Ludwig Müller28, Reichsleiter Joachim Hossenfelder, mehr oder minder regional bekannte jugendlich - kämpferische Nazi Bischöfe von Erwin Balzer29 in Lübeck und Heinz Weidemann30 in Bremen über Walther Schultz31 in Mecklenburg bis Martin Sasse32 in Thüringen und Ludwig Diehl33 in der Pfalz prägten ihr Bild in der Öffentlichkeit.34 Hinzu kamen einige prominente Universitätstheologen wie Emanuel Hirsch in Göttingen, Walter Grundmann in Jena oder Erich Seeberg an der Friedrich - Wilhelms - Universität zu Berlin.35 Aber ihr utopisches Projekt einer zentralisierten deutschchristlichen 27 Zur sozialen Rekrutierung und geschlechtsspezifischen Aspekten : Bergen, Twisted Cross; Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus; ders., Die mutigen Frauen in einer kirchlichen Männergesellschaft. Anmerkungen zur Frauen - und Geschlechtergeschichte am Beispiel des Berliner „Kirchenkampfes“. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Selbstbehauptung und Opposition. Kirche als Ort des Widerstandes gegen staatliche Diktatur, Berlin 2003, S. 145–174; Rainer Hering, Männerbund Kirche ? Geschlechterkonstruktionen im religiösen Raum. In : Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, 20 (2002), S. 56–72; Dagmar Herbrecht, Die mutigen Frauen des Kirchenkampfes in einer protestantischen Männergesellschaft. In : Gailus / Lehmann ( Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten, S. 343–359. 28 Thomas Martin Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993. 29 Zu Erwin Balzer vgl. Buss, „Entjudete“ Kirche. 30 Zu Weidemanns DC - Schreckensregiment in Bremen vgl. Almut Meyer - Zollitsch, Nationalsozialismus und evangelische Kirche in Bremen, Bremen 1985. 31 Über die stark nazifizierte Kirche Mecklenburg fehlt bis heute eine Studie. Vgl. vorläufig Niklot Beste, Der Kirchenkampf in Mecklenburg von 1933 bis 1945. Geschichte, Dokumente, Erinnerungen, Berlin 1975; Johann Peter Wurm, „Vom ‚Rohstoff‘ Kirchenbücher zum ‚Veredelungsprodukt‘ deutschblütiger Volksaufbau“. Pastor Edmund Albrecht und die mecklenburgische Sippenkanzlei (1934–1945). In : Manfred Gailus (Hg.), Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Göttingen 2008, S. 48–81. 32 Zum radikalen DC - Regiment von Bischof Sasse in Thüringen vgl. Böhm, Deutsche Christen. Vielsagend auch seine Soldatenbriefe an die Front. In : Holger Weitenhagen, „Wie ein böser Traum ...“. Briefe rheinischer und thüringischer evangelischer Theologen im Zweiten Weltkrieg aus dem Feld, Bonn 2006, S. 348–356. 33 Zu Diehl und zur pfälzischen Kirche vgl. Hans L. Reichrath, Ludwig Diehl 1894–1982. Kreuz und Hakenkreuz im Leben eines Pfälzer Pfarrers und Landesbischofs, Speyer 1995; Thomas Fandel, Konfession und Nationalsozialismus. Evangelische und katholische Pfarrer in der Pfalz 1930–1939, Paderborn 1997. 34 Einige weitere Biografien zu DC - Führern liegen inzwischen vor : Heiner Faulenbach, Ein Weg durch die Kirche. Heinrich Josef Oberheid, Köln 1992; Anja Rinnen, Kirchenmann und Nationalsozialist. Siegfried Leff lers Verschmelzung von Kirche und Drittem Reich, Weinheim 1995; Holger Weitenhagen, Evangelisch und deutsch : Heinz Dungs und die Pressepolitik der Deutschen Christen, Köln 2001. 35 Zu Hirsch vgl. Ericksen, Theologen unter Hitler; Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege : Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994, S. 264–304. Zu Grundmann : Heschel,

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Reichskirche, anfangs von Berlin aus durch den hitlerhörigen und kirchlich - politisch wie theologisch äußerst einfältigen Reichsbischof im Führerstil rigide diktiert, scheiterte bereits im Herbst 1934. Die Predigt von Pfarrer Hülle anlässlich der Weddinger Kindermassentaufe deutet das deutschchristliche Dilemma bereits an. Als christlich - völkische Doppelgläubige erschienen sie anderen, rivalisierenden Akteuren im religiösen Feld der 1930er Jahre zugleich als Halbgläubige. Sie gerieten damit in die unkomfortable Zwangslage zwischen orthodox - biblizistischer Kirchenopposition ( Bekennende Kirche ) einerseits und aggressiv antichristlichen „Gottgläubigen“ und „Neuheiden“ andererseits : den Weltanschauungskriegern des „Neuen Glaubens“ in der NSDAP und besonders in Himmlers SS sowie den völkischen Predigern der Deutschen Glaubensbewegung um Jakob Wilhelm Hauer. Aus Sicht der Bekennenden Kirche waren die Deutschen Christen zu weltlich, zu politisch, zu nationalsozialistisch und damit moderne Häretiker, Kirchenzerstörer. Den entschiedenen Weltanschauungskämpfern der Hitlerbewegung hingegen galten sie immer noch als zu christlich, und christlich bedeutete in deren Augen : jüdisch kontaminiert.36 Die für Deutsche Christen so erhebenden, „schönen“ Massentrauungen und Sammeltaufen, die im einst roten und „gottlosen“ Berlin im Jahr 1933 so vielversprechend anliefen, wurden ihnen von der Partei regelrecht verboten und verloren im Laufe der Jahre 1934/35 sichtlich an Dynamik. Die zum totalen Staat transformierte Hitlerbewegung duldete keine anderen Bewegungen neben sich. Der Gebrauch des „Bewegungsbegriffs“ wurde den DC von Parteiseite förmlich untersagt, wie andere Gepflogenheiten, Insignien und einschlägige Begriffe der Hitlerbewegung auch.37 Aus diesem deutschchristlichen Dilemma gab es kein Entkommen, die DC zersplitterten und wurden zerrieben. Bis Kriegsbeginn schrumpften sie erheblich und waren kirchenpolitisch fast schon eine quantité négligeable. Aber der Zerfall der deutschchristlichen Vereinsbewegung bedeutete keineswegs zugleich Ende des völkischen Protestantismus im „Dritten Reich“. Die enttäuschten Kirchenkämpfer traten vielfach aus den endlos zerstrittenen und rivalisierenden Gruppen und Grüppchen aus, auch den unaufhörlichen Kirchenstreit mit der „Bekenntnisfront“ um sogenannte Aryan Jesus; Deines / Leppin / Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. Zu Erich Seeberg : Thomas Kaufmann, „Anpassung“ als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“. In : ders./ Oelke ( Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker, S. 122–272. 36 Vgl. Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002; Hans Günter Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion ? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In : Klaus Hildebrand ( Hg.), Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45–71. Zur „Hauer - Bewegung“ vgl. Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1983; Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1999; Karla Poewe, New Religions and the Nazis, New York 2006. 37 Vgl. Gailus, 1933 als protestantisches Erlebnis, bes. S. 491–494.

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theologische Spitzfindigkeiten („typisch jüdische Rabulistik“ – so oder ähnlich las man es in DC - Blättern ) hatten sie satt. Sie blieben aber völkische Protestanten in einem weitergefassten Sinn und praktizierten ihren doppelten Glauben sowohl innerhalb der Kirchen als auch als aktive Glieder einer angestrebten nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“.

3.

Praxis

Die deutschchristlichen Diskurse und Glaubensbewegungen liefen auf „Praxis“ zu : Völkische Protestanten drangen darauf, die imaginierte, rassisch homogene, völkische Reichskirche, wenn schon nicht im Großen, so doch wenigstens im eigenen Kirchenbezirk zu verwirklichen, so rasch und so radikal wie irgend möglich. Insofern leisteten Deutsche Christen und nationalsozialistische Christen eigene Beiträge zum rassenpolitischen Kernbereich des NS - Projekts : der Inklusion und Exklusion aller Deutschen nach rassistischen Kriterien. Innerkirchlich führten sie die Unterscheidung zwischen „arischen“ und „nichtarischen“ Christen ein. Der Arierparagraph wurde nun ein Kriterium für die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche. Dort, wo Landeskirchen deutschchristlich beherrscht waren, galt dies kirchengesetzlich für ihren Zuständigkeitsbereich insgesamt, ansonsten praktizierte man die Exklusion nach Gutdünken im engeren Wirkungskreis einer Kirchenprovinz oder Gemeinde. „Nichtarische“ Pfarrer und andere Gemeindeglieder wurden stigmatisiert, drangsaliert und aus der Gemeinde verdrängt. Taufen übertrittswilliger Juden wurden per Gemeindekirchenratsbeschluss nicht weiter gestattet. Kirchliche Mitarbeiter wie Organisten, Sekretärinnen, Kindergärtnerinnen und andere mussten ihre Beschäftigungen aufgeben. Evangelischen Sternträgern wurde seit September 1941 bedeutet, zur Vermeidung öffentlichen Ärgernisses nicht weiter die Gottesdienste ihrer Gemeinde zu besuchen.38 Die Herausdrängung der völkisch Unerwünschten aus dem Kirchenleben sei an nur einem Beispiel verdeutlicht. Willy Oelsner, seit 1932 Pfarrer an der Ber-

38 Zur kircheninternen Diskriminierung der „nichtarischen“ Christen vgl. Eberhard Röhm/ Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, 7 Teilbände, Stuttgart 1990– 2006; Sigrid Lekebusch, Not und Verfolgung der Christen jüdischer Herkunft im Rheinland 1933–1945. Darstellung und Dokumentation, Köln 1995; Ursula Büttner / Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, Göttingen 1998; Aleksandar - Saša Vuletić, Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich. Verfolgung und organisierte Selbsthilfe 1933–1939, Mainz 1999; Annette Göhres / Stephan Linck / Joachim Liß - Walther ( Hg.), Als Jesus „arisch“ wurde. Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933–1945, Bremen 2003; Hildegard Frisius u. a. ( Hg.), Evangelisch getauft – als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden, Berlin 2008; Uta Schäfer - Richter, Im Niemandsland. Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus – Das Beispiel der hannoverschen Landeskirche, Göttingen 2009.

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lin - Kreuzberger St. Thomas - Gemeinde, galt seit 1933 als „nichtarisch“.39 Der Umstand, dass seine Mutter jüdischer Herkunft war, habe – so berichtete Oelsner später – in seiner Kindheit und Jugend, faktisch bis 1933, keine Rolle gespielt. Als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und engagierter Jugendpfarrer genoss er auch in der Kreuzberger Gemeinde anfangs viele Sympathien. Als er sich 1933 für die Kirchenopposition entschied, wandelten sich die Dinge schlagartig. Von da ab herrschte, so schreibt er in einer Stellungnahme im März 1934, „erbitterter Kampf der Deutschen Christen gegen mich“.40 Besonders sein deutschchristlicher Pfarrerkollege Wilhelm Sawade unternahm alles, um ihn aus der Gemeinde zu vertreiben. 1934 denunzierte dieser ihn bei der DC Kirchenleitung und kündigte Gottesdienststörungen mithilfe von SA und NSDAP an. Als „nichtarischer“ Bekenntnispfarrer galt Oelsner in seiner Gemeinde als vogelfrei. Lange Zeit war er vom Dienst „suspendiert“ und musste seine Gottesdienste in benachbarten Gemeinden abhalten. Im September 1935, unmittelbar nach Verabschiedung der „Nürnberger Gesetze“, ließ der deutschchristlich beherrschte Gemeindekirchenrat ( GKR ) am Pfarrhaus, genau unterhalb Oelsners Arbeitszimmer, einen „Stürmerkasten“ anbringen. Ein DC - Blatt berichtete über die Zeremonie : „Am Sonnabend, den 21. 9. 1935, wurde von dem Sturmbann III / R 8 der Berliner SA der von den Deutschen Christen erwartete Stürmerkasten angebracht. Die Fraktion der DC im GKR hatte ihre Genehmigung zur Anbringung des Kastens schon vor einiger Zeit erteilt. Obersturmführer Raschke vom Sturmbannstab sprach zu den angetretenen SA - Männern und zu der schnell zusammengelaufenen Volksmenge. Während ein Spielmannszug musizierte, wurde der Kasten am Pfarrgebäude befestigt. Ein Sieg - Heil auf den Führer und das Horst - Wessel - Lied beschlossen die kurze Feier. Der GKR war durch vier DC - Mitglieder vertreten.“41 Die lebensgefährlichen Tage des Novemberpogroms 1938 überstand Oelsner glimpf lich, weil er nach einer Operation noch im Krankenhaus lag. Seine erzwungene Ausreise nach Holland im Januar 1939 schildert Oelsner in seinen später verfassten Erinnerungen in eindrücklichen Worten : „Die Reise nach Bentheim an der holländischen Grenze verlief ohne Zwischenfälle, außer dass mir ein Mitreisender die Nazizeitung (Völkischer Beobachter ) anbot, die ich zuerst zornig zurückweisen wollte, aber dann doch annahm. Aus guten Gründen, denn einige Stunden später erschien jener Herr wieder in unserem Abteil, diesmal in Uniform, und verlangte nach unseren Ausweispapieren. Fallstricke in letzter Minute. Nur wenige können sich das Gefühl der Erleichterung vorstellen, als wir nach sechs Jahren der Bedrückung, häufig in Angst um unser Leben, die Grenze in die Freiheit passierten.“42 39 Zu Oelsner vgl. Manfred Gailus, Die vergessenen Brüder und Schwestern. Zum Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im Raum der evangelischen Kirche Berlin Brandenburgs. In : ZfG, 51 (2003), S. 973–995. 40 Erklärung von Pfarrer Oelsner vom 29. 3. 1934 ( EZA Berlin, Bestand 7, Nr. 11605, Bl. 1–3, hier 1). 41 Positives Christentum vom 29. 9. 1935. 42 Willy Oelsner, Another Unprofitable Ser vant ( unveröff. Manuskript ), Hove ( GB ) ca. 1975, S. 36 f. ( eigene Übersetzung ).

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Alle Pfarrer und Kirchengemeinden waren durch kooperierende Auswertung der kirchlichen Personenstandsregister an der Bereitstellung von Unterlagen zum „arischen Nachweis“ beteiligt. Insofern partizipierten sie auch an der allgemeinen rassistischen Inklusion und Exklusion der Deutschen insgesamt.43 Dort, wo Deutsche Christen vorherrschten, kam es zu Sonderaktivitäten, einer kircheneigenen Sippenforschung, deren Zielsetzungen weit über dasjenige hinaus gingen, was der NS - Staat von den Kirchen erwartete, nämlich Kooperation, kirchliche Amtshilfe. In der Landeskirche von Mecklenburg ( Schwerin ), in Berlin, in Hannover und andernorts entstanden kirchliche Sippenkanzleien, geleitet von Pfarrern und Kirchenbeamten, die in eigener Regie Ahnenforschungen in Gang setzten mit dem Ziel, Christen jüdischer Herkunft in ihren jeweiligen Bezirken zu identifizieren. Ihre „Forschungsergebnisse“ teilten sie in vielen Fällen staatlichen Behörden und Parteistellen zur weiteren Verwendung mit.44 Treibende Kraft in Berlin war der in der Tradition des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker stehende Pfarrer Karl Themel.45 Um 1933 rückte er in diverse Führungspositionen der deutschchristlich beherrschten Kirche auf und proklamierte, Christen hätten jetzt an der staatlichen „Säuberungs - und Reinigungsaktion“ mitzuwirken. Die Kirchengemeinden müssten fortan „Zellen der Gesundung im kranken Volkskörper“ werden.46 Als im Herbst 1934 der kirchenpolitische Stern des Reichsbischofs sank und auch sein Adlatus Themel sämtliche Führungspositionen einbüßte, bot dieser der Reichsstelle für Sippenforschung im Innenministerium an, er wolle seine Kraft „dem Nationalsozialismus irgendwie ehrenamtlich anbieten und würde mit besonderer Freude auf meinem alten Arbeitsgebiet der Sippenforschung mithelfen“.47 Hieraus entstand eine enge Kooperation zwischen Teilen der Berliner Kirche und dem NS - Staat. Themel bereitete mit einem Kreis von kirchlichen Mitarbeitern eine Kirchenbuchzentrale vor, die seit Februar 1936 in den Räumen der St. Georgen Gemeinde in Berlin - Mitte mit sogenannten Verkartungsarbeiten begann. Im Oktober 1937 waren in dieser kirchlichen Einrichtung 29 Mitarbeiter beschäftigt. Millionen von Karteikarten waren mit familiengeschichtlichen Daten bis zurück ins 18. Jahrhundert beschriftet worden. Sämtliche entdeckten „Nichtarierfälle“ wurden in einer speziellen „Judenkartei“ registriert und zugleich der Reichsstelle für Sippenforschung und anderen NS - Stellen zugeleitet. 1938 43 Zum Themenkomplex Kirchenbücher / Ariernachweise vgl. Gailus ( Hg.), Kirchliche Amtshilfe; jetzt auch Eric Ehrenreich, The Nazi Ancestral Proof. Genealogy, racial science, and the final solution, Bloomington 2007. 44 Gailus ( Hg.), Kirchliche Amtshilfe; darin insbes. die Beiträge von Stephan Link ( Schleswig - Holstein ), Johann Peter Wurm ( Mecklenburg ) und Hans Otte ( Hannover ). 45 Manfred Gailus, Vom evangelischen Sozialpfarrer zum nationalsozialistischen Sippenforscher. Die merkwürdigen Lebensläufe des Berliner Theologen Karl Themel (1890– 1973). In : ZfG, 49 (2001), S. 796–826. 46 Karl Themel, Sozialfragen [ Referat auf der 1. Reichstagung der DC am 3.–4. 4. 1933 in Berlin ]. In : Volk und Kirche, Berlin 1933, S. 35–39. 47 Karl Themel an den Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern vom 26. 11. 1934 ( GStA Preußischer Kulturbesitz, Rep. 309, Nr. 545).

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berichtete Themel, in der „Praxis der Arbeit“ sei man mit einer Reihe von Dienststellen in ein „Austauschverhältnis“ getreten : Neben der Reichsstelle für Sippenforschung habe man dem Reichsführer SS, dem Polizeipräsidenten von Berlin und einigen Gauleitungen der NSDAP mit Informationen geholfen.48 Anlässlich des fünf jährigen Bestehens seiner Kirchenbuchstelle bilanzierte Pfarrer Themel im Dezember 1941 : Für über 160 000 Anträge auf „deutschblütige“ Abstammung seien 332 595 „Feststellungen“ erfolgt. Über 250 000 Urkunden für den Ariernachweis seien ausgestellt worden. In 2 612 Fällen habe die Kirchenbuchstelle eine jüdische Abstammung festgestellt. Ihre Forschungen hätten dem deutschen Menschen der Gegenwart das Bewusstsein gestärkt, dass er getragen werde „von der Blutsgemeinschaft des Volkes und von seiner Sippe und dass er nur ein Glied in der Kette von den Ahnen zu den Enkeln ist, deren bestes Erbgut er weiterzugeben hat zum Heil des ewigen Deutschland.“49 An der Biografie Themels lässt sich eine verbreitete Dynamik der inneren persönlichen Wandlungen im religiösen Feld der Epoche nachzeichnen : Um 1925 wirkte er als ein deutschnationaler Pfarrer mit völkischen Sympathien; 1932/33 war Themel emphatischer DC - Pfarrer mit doppelter Gläubigkeit, nationalsozialistischer Christ; im Fortgang der Hitlerzeit schrumpfte sein traditioneller, christlicher Glaubensbestand zusehends, während das Völkisch - Nationalsozialistische in ihm als religiöser Glaube wuchs; während der Kriegsjahre, den Sieg des großgermanischen Reiches vor Augen, spielte Themel mit dem Gedanken, seinen Pfarrerjob zu kündigen und sich als gläubiger Nationalsozialist um eine Position als Sippenamtsleiter im Staatsdienst zu bewerben. Einen Antrag beim Reichssicherheitshauptamt hatte er bereits gestellt.50 Als dann der Krieg, für ihn ziemlich überraschend und plötzlich, verloren ging, zog er es vor, doch lieber Pfarrer zu bleiben. Die Berlin - Brandenburgische Kirche nahm den „Herrn der Kirchenbücher“ ohne nennenswerte Entnazifizierung wieder auf.

4.

Fazit

Was also waren sie, die Deutschen Christen – ein kurzzeitiger Spuk in der 500-jährigen Protestantismusgeschichte ? Als kirchenpolitische Vereinsbewegung waren sie eine temporäre Erscheinung, eine kirchliche Parallelbewegung zur Hitlerpartei. Sie entstanden, weil die Ausstrahlung der NSDAP und der charismatischen Führerfigur Hitler in den Kirchenbereich so mächtig war, weil die 48 Karl Themel an Ev. Konsistorium der Mark Brandenburg vom 5. 10. 1938 ( ebd., Rep. 309, Nr. 546). 49 Karl Themel, Fünf Jahre Kirchenbuchstelle Alt - Berlin. In : Familie, Sippe, Volk, 8 (1942), S. 3–5; ähnlich auch der Artikel „255 000 Urkunden für die Ahnenforschung. Fünf Jahre Kirchenbuchstelle Alt - Berlin“. In : Völkischer Beobachter vom 18. 12. 1941. 50 BArch, R 58, Reichssicherheitshauptamt, Nr. 1157 : Kartei aus dem Kirchendienst ausgeschiedener Geistlicher, 1940–1944, Band 5. Zu Themel steht dort der Vermerk : „Themel ist Leiter der Kirchenbuchstelle der evangelischen Kirche in Berlin. Auf Veranlassung des Reichssippenamtes ist er vorerst noch im Kirchendienst geblieben.“

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innerkirchliche Faszination für die Hitlerpartei so stark war. Erhebliche Teile des Protestantismus dienten sich in deutschchristlichem Sinne dem NS - Staat an: man wollte gern die neue Kirche des kommenden Großreiches werden. Insofern repräsentierten die DC eine genuine religiöse Bewegung der 1930er Jahre, bestimmt durch christlich - nationalsozialistischen Doppelglauben. Jesus blieb ihnen der Christus, aber er sollte, ja er musste natürlich „arisch“ und ein antijüdischer Vorkämpfer sein. Hitler galt ihnen als göttliche Offenbarung und rettende Sendung an die Deutschen, als ein zweiter Erlöser, in dieser christlichen Nachfolge stehend. In „Rasse“ sahen sie „Volk“ und „Volk“ war für sie „Rasse“, Teil einer imaginierten göttlichen Schöpfungsordnung, und folglich „rein“ zu halten und zu erhalten. Diese zeitgeistgemäße Synthese von „altem“ und „neuem“ Glauben erschien den Hauptkonkurrenten im hart umkämpften religiösen Wettbewerbsfeld der 1930er Jahre51 als falscher, als halber Glauben oder als ein unechter Mischglauben : die traditionsfixierten Bekenntnischristen lehnten die Deutschen Christen als zu modern, zu politisch, als häretisch und widerchristlich ab; die harten Protagonisten der politischen Religion des Nationalsozialismus hingegen verachteten die Deutschen Christen als die unechten Halben, als verschämte Noch - Christen, die weiterhin Christlich - Jüdisches in sich trügen und zudem in ihrem „Dritten Reich“ verbreiten wollten. In dieser unkomfortablen Unentschiedenheit, mitten im Schussfeld eines aufgebrochenen Kulturkampfes zwischen altem und neuem Glauben, der die religiösen Kämpfe der 1930er Jahre entscheidend bestimmte, wurden die Deutschen Christen schließlich zerrieben. Ihre illusionären Erwartungen, die anfänglich auf einen christlichen Nationalsozialismus gerichtet waren, erfüllten sich bekanntlich nicht. Da half auch die größte theologische Anbiederei wie etwa im Fall des Jena - Eisenacher „Entjudungsinstituts“ um Walter Grundmann wenig : Es gab keine Anerkennung von Seiten der maßgeblichen Parteiideologen, bestenfalls Duldung und zeitweilig politisch - ideologische Instrumentalisierung. Alle Deutschen Christen können, weitergefasst, als völkische Protestanten gesehen werden, aber nicht alle völkischen Protestanten waren nominelle deutschchristliche Clubmitglieder. Als völkische Protestanten war ihr Einzugs und Wirkungsbereich breiter und ihre religiös - mentale Existenz viel dauerhafter. Aus den Clubs, den Bünden und Kreisen, Gruppen und Grüppchen der Deutschen Christen konnte man austreten oder einfach wegbleiben – völkischer Protestant aber war und blieb man auch dann, in vielen Fällen zeitlebens, selbst über 1945 hinaus. Aufs Ganze gesehen erwies sich der völkische Protestantismus als eine Haupteinbruchsstelle der „Ideen von 1933“ in die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit.

51

Vgl. Manfred Gailus, „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ ? Religiöse Pluralisierungen in der NS - Weltanschauungsdiktatur. In : Graf / Große Kracht ( Hg.), Religion und Gesellschaft, S. 247–268.

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Rassismus und Christentum. Das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben* Susannah Heschel

Am Mittag des 6. Mai 1939 versammelte sich eine Gruppe protestantischer Theologen, Pastoren und Kirchgänger an der historischen Wartburg – dem symbolträchtigen Erinnerungsort des Luthertums – um die offizielle Gründung des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ zu feiern. Dieses Institut verfolgte sowohl politische als auch theologische Ziele. Während es bemüht war, eine entjudaisierte Kirche für ein Deutschland zu schaffen, das sich anschickte, ganz Europa von den Juden zu „befreien“, entwickelte es eine neue Interpretation der Bibel und der Liturgie. In den sechs Jahren seines Bestehens und während das nationalsozialistische Regime seinen Völkermord an den Juden durchführte, definierte das Institut das Christentum in eine germanische Religion um, deren Begründer, Christus, kein Jude gewesen sei, sondern tapfer dafür gekämpft habe, das Judentum zu vernichten – ein Kampf, dem er selbst zum Opfer gefallen sei. Nun wurden die Deutschen aufgerufen, Christus’ Kampf gegen die Juden, denen man nachsagte, sie wollten Deutschland vernichten, siegreich zu bestehen.

1.

Die theologische Agenda des Instituts

Auf theologischer Ebene erzielte das Institut bemerkenswerte Erfolge. Für seine radikale Agenda gewann es die Unterstützung einer ganzen Reihe von Kirchenführern und Theologieprofessoren, die die Beseitigung jüdischer Elemente aus den christlichen Schriften und der Liturgie begrüßten, und ebenso die Umdefinierung des Christentums in eine germanische, arische Religion. Wie so viele andere auch im Reich, arbeiteten die Mitglieder des Instituts hingebungsvoll daran, den Kampf gegen die Juden zu gewinnen. Ihre Hingabe führte sie zu immer extremeren Positionen, wobei sie die traditionelle christliche Doktrin zu Gunsten von Koalitionen mit Vertretern neuheidnischer Gruppierungen auf*

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marko Wittwer.

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Susannah Heschel

gaben und Schmähpropaganda zur Unterstützung der Maßnahmen des NS Regimes gegen die Juden produzierten. „Arisch“ bedeutete für sie nicht einfach einen physiologischen oder biologischen Typus, sondern viel mehr eine innere Geisteshaltung, die große Macht besaß, aber zugleich äußerst verletzlich und schutzbedürftig war, da sie ständig von der Degeneration durch Nicht - Arier, besonders der Juden, bedroht wurde. Im nationalsozialistischen Deutschland lehrte die Rassenhygiene, wie man den arischen Geist und seinen Körper zu schützen hatte; die Theologie des Instituts trug dazu bei, diese Gesinnung zu fördern. Die meisten Mitglieder des Instituts, besonders sein Akademischer Direktor, Walter Grundmann, Professor für Neues Testament an der Universität Jena, verstanden ihre Arbeit als diejenige einer theologischen Avantgarde, indem sie ein Problem ansprachen und lösten, dass die christliche Theologie seit langer Zeit beschäftigt hatte : Wie man nämlich klare und eindeutige Grenzen zwischen dem frühesten Christentum und dem Judentum ziehen und sämtliche Spuren jüdischen Einflusses aus der zeitgenössischen christlichen Theologie und religiösen Praxis eliminieren könne. Über wiegend einer jüngeren Gelehrtengeneration angehörend und ausgebildet von Deutschlands führenden Gelehrten des frühen Christentums, waren viele Institutsmitglieder Schüler des herausragenden Tübinger Professors Gerhard Kittel, selbst ein Nationalsozialist, der antisemitische Propaganda verbreitete.1 Sie fühlten sich fähig, den historisch wahren, nicht - jüdischen Christus sowie eine christliche Botschaft, die der seinerzeitigen deutschen Identität entsprach, wieder zu gewinnen. Sie strebten nach Reinigung, Authentizität und nach einer theologischen Revolution, alles im Namen der historisch - kritischen Methode und der Verpflichtung gegenüber dem Germanentum, indem man das Judentum aus dem Christentum ausmerzte. Eine christliche Botschaft, die durch das Judentum verdorben worden war, konnte Deutschland weder nützlich sein, noch konnte eine jüdische Botschaft die korrekte Lehre von Christus darstellen. Die Ziele des Instituts wurden von Grundmann anlässlich der Eröffnung in seinem programmatischen Vortrag über „die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe Deutscher Theologie und Kirche“ offen benannt. Das gegenwärtige Zeitalter, erklärte er, gleiche dem der Reformation : Die Protestanten müssten das Judentum überwinden, so wie Luther den Katholizismus überwunden hatte. „In der Frage des möglichen Einflusses des Judentums oder des jüdischen Geistes auf das deutsche religiöse Leben, und in der Frage der Ausschaltung dieses Einflusses ist die unaufschiebbare und unausweichbare Grundfrage der gegenwärtigen deutschen religiösen Situation gestellt.“2 So wie sich die Men1

2

Zu Kittel vgl. Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, S. 47–114; Anders Gerdmar, Roots of Theological Anti - Semitism. German Biblical Interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009, S. 415–530. Walter Grundmann, Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche, Weimar 1939, S. 9 f.

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schen zu Luthers Zeiten kein Christentum ohne den Papst vorstellen konnten, so könnten sie sich heute die Erlösung nicht ohne das Alte Testament vorstellen, doch dieses Ziel sei erreichbar.3 „Hatte schon die historisch - kritische Forschung den bedeutsamen religiösen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament herausgearbeitet und darauf aufmerksam gemacht, wie nur kraft einer Umformung neutestamentliche Gedanken und neutestamentliche Erfüllung im Alten Testament vorgebildet gefunden werden konnten, so tritt nun mit voller Wucht die Erkenntnis des Jüdischen im Alten Testament und auch in bestimmten Partien des Neuen Testamentes als ein Element hinzu, das für unzählige deutsche Menschen den Zugang zur Bibel versperrt.“4 Man müsse die Bibel reinigen, fuhr Grundmann fort, ihre ursprüngliche Natur wieder herstellen, die Wahrheit über Christus aussprechen : dass es ihm um die Vernichtung des Judentums gegangen sei. Grundmann umriss die wissenschaftlichen Aufgaben des Instituts. Dazu gehörte die Klärung der Rolle des Judentums im frühen Christentum und seines Einflusses auf die moderne Philosophie. Jede Opposition innerhalb der Kirche, behauptete Grundmann, entsprang dem ruchlosen jüdischen Einfluss, wie zum Beispiel das Argument jüdischer Wissenschaftler, Christus sei Jude gewesen. Die Juden hätten das „völkische“ Denken der Deutschen zerstört, fuhr Grundmann fort, und mit Hilfe des Bolschewismus strebten sie nun nach der Eroberung der Welt, der „Weltherrschaft des Judentums“. Die jüdische Bedrohung Deutschlands sei schwer wiegend : „Deshalb“, stellte Grundmann fest, indem er die NS - Propaganda wiedergab, „ist dem deutschen Volk der Kampf gegen das Judentum unwiderufbar aufgegeben.“5 Der Krieg gegen die Juden stelle nicht einfach einen militärischen Kampf dar, sondern einen geistigen. Entsprechend schrieb er im September 1939 an Reichskirchenminister Kerrl : „In einem Augenblick, in dem das Weltjudentum in seinem Hass gegen das deutsche Volk zu einem entscheidenden Schlag ausgeholt hat und das deutsche Volk in den Kampf um sein Recht und sein Leben gestellt ist, wende ich mich als Leiter der wissenschaftlichen Arbeit des Entjudungsinstitutes, das von einer Reihe von Landeskirchen mit Ihrer Zustimmung geschaffen worden ist, an Sie. [...] Wir sind an die Arbeit dieses Institutes in der Überzeugung herangegangen, dass der jüdische Einfluss auf allen Gebieten des deutschen Lebens entlarvt und gebrochen werden muss, also auch auf dem religiöskirchlichen.“ 6 „Entlarvt und gebrochen“ ist eine Phrase, die Grundmann regelmäßig zur Definition des Zweckes des Instituts verwendete. Die Agenda, die Grundmann bei der Eröffnung umrissen hatte, wurde bis 1945 von den Mitgliedern des Instituts verfolgt. Sie – Theologieprofessoren, Bischöfe, Pastoren, Religionslehrer – waren in Arbeitsgruppen organisiert, die eine ganze Reihe von Publikationen veröffentlichten. Bereits im Jahre 1940 gab

3 4 5 6

Ebd., S. 17. Ebd., S. 11. Ebd., S. 9. Walter Grundmann an Hanns Kerrl vom 8. 9. 1939 ( ZAK 7/4166).

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das Institut eine neue Ausgabe des Neuen Testaments heraus, die von sämtlichen jüdischen Bezügen gereinigt war, und ein Jahr später erschien ein in ähnlicher Weise entjudaisiertes Gesangsbuch. Die Arbeitsgruppe, die an der Vorbereitung einer Neuausgabe des Alten Testaments arbeitete – „Die Botschaft Gottes“, auch „Volkstestament der Deutschen“ genannt, – wurde von Grundmann und Herbert Preisker geleitet, einem Professor für Neues Testament an der Universität Breslau. In ihr arbeiteten auch zwei Pastoren aus Thüringen mit, sowie ein Theologe der Universität Jena.7 Auf einer Konferenz in Wittenberg im März 1940 berichteten sie über den Fortschritt ihrer Arbeit : Die synoptischen Evangelien wurden von allen positiven Bezugnahmen auf das Judentum gereinigt; Paulus wurde umgedeutet und bagatellisiert, indem man einige seiner Vorstellungen beibehielt und zugleich autobiographische und biographische Informationen eliminierte; dafür wurde das Johannes - Evangelium mit seinen starken antijüdischen Motiven betont, das man als die zuverlässigste Quelle für den historischen Christus als auch als theologischen Ersatz für Paulus herausstellte – und das, obwohl unter Wissenschaftlern bereits seit den 1820er Jahren klar war, das Johannes als historische Quelle nicht zuverlässig war. „Die Botschaft Gottes“8 erzählt Christus’ Leben nach, mit der Betonung auf seinem Triumph anstatt seiner Niederlage durch den Tod. Bezugnahmen auf jüdische Namen oder Orte sowie Zitate aus dem Alten Testament werden nur insoweit beibehalten, als sie eine negative Sicht auf einige Aspekte des Judentums ausdrücken. Herausgeschnitten aus der „Botschaft Gottes“ sind die Genealogien in Matthäus und Lukas, welche Christus mit Gestalten des Alten Testaments in Verbindung bringen : Johannes der Täufer, der Kindermord des Herodes und die Flucht nach Ägypten, Zacharias und Hannah, die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland, sowie der Titel „König der Juden“. Weiterhin gelöscht wurde jede Erfüllung irgendeiner Prophezeiung des Alten Testaments durch Christus, obwohl die Tatsache, dass Christus im Judentum bewandert war, beibehalten wird. Als Christus beispielsweise im Tempel lehrt und die Tempelbesucher fragt, warum die Schriftgelehrten glauben, dass der Messias ein Sohn Davids sein müsse, fährt der Text fort : „Das Volk hörte ihm freudig zu, als er die Schriftgelehrten mit ihren eigenen Waffen schlug.“9 Gegen Ende des Jahres 1940 gab das Institut erfreut bekannt, dass 200 000 Ausgaben verkauft bzw. in den Handel gegangen seien.10

7 Der Theologe Heinz Günkel, Mitglied der NSDAP und der SA, verfasste im Jahre 1939 an der Universität Jena eine Dissertation über die Ursprünge der Bergpredigt und schloss bei Gerhard von Rad, Professor für Altes Testament, und Grundmann mit Prädikat ab. 8 Die Botschaft Gottes. Hg. vom Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, Leipzig 1940. 9 Ebd., S. 79. 10 Zum Institut und der Rolle Grundmanns vgl. Gerdmar, Roots of Theological Anti - Semitism, S. 531–576.

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Im Juni 1941 wurde ein neues, entjudaisiertes Gesangsbuch veröffentlicht, das Ergebnis einer Kommission aus Institutsmitgliedern und Mitgliedern der Deutschen Christen in Thüringen. Von den 2 300 Hymnen, die die Kommission auf eventuelle jüdische Kontamination untersuchte, wurden 1 971 zurückgewiesen, da sie entweder bezüglich ihrer Sprache oder ihrer Gedankengänge als jüdisch galten. Bei vielen der übrig gebliebenen Hymnen wurden Veränderungen vorgenommen, um hebräische Worte, Bezüge zum Judentum und Auszüge aus dem Alten Testament zu tilgen. Aus zeitgenössischer Dichtung bzw. Liedgut wurden zusätzliche Hymnen konstruiert, die völkische Verse mit Bezugnahmen auf den „Führer“ enthielten und Gott um seine „starke Hand“ für „unser Volk und Vaterland“ baten.11 Eine dritte Kommission sollte unter dem Vorsitz von Grundmann einen neuen Katechismus entwickeln; ihr gehörten mehrere Pastoren sowie Hermann Werdermann, Professor für Religionspädagogik an der Universität Dortmund, an.12 Der Katechismus wurde im Jahre 1941 unter dem Titel „Deutsche mit Gott. Ein deutsches Glaubensbuch“ veröffentlicht. Das Wort „Christentum“ kommt nicht vor, da das Institut damit begonnen hatte, sich verstärkt mit Themen einer nichtchristlichen „deutschen Spiritualität“ zu beschäftigen.13 Die Zehn Gebote wurden auf zwölf erweitert, unter anderen : „Halte das Blut rein und Ehe heilig !“ und „Ehre Führer und Meister !“ Tatsächlich stellte das Vorwort fest, die gegenwärtige Generation sei „auf der Suche nach ihrem Umgang mit Gott“ und die Antworten hierauf seien „in der reichen Geschichte deutscher Frömmigkeit“ zu finden. Christus wurde als „Erretter der Deutschen“ definiert, mit der Erklärung : „Jesus aus Nazareth in Galiläa erweist in seiner Botschaft und Haltung einen Geist, der dem Judentum in allen Stücken entgegengesetzt ist. Der Kampf zwischen ihm und den Juden wurde so unerbittlich, dass er zu seinem Kreuztod führte. So kann Jesus nicht Jude gewesen sein. Bis auf den heutigen Tag verfolgt das Judentum Jesus und alle, die ihm folgen, mit unversöhnlichem Hass. Hingegen fanden bei Jesus Christus besonders arische Menschen Antwort auf ihre letzten und tiefsten Fragen. So wurde er auch der Heiland der Deutschen.“14 Der Katechismus unterschlug Standpunkte der traditionellen Doktrin in Bezug auf Wunder, die jungfräuliche Geburt, die Inkarnation, die Wiederaufer11 Großer Gott wir loben dich !, Weimar 1941, S. 415. 12 Weitere Mitglieder waren Max - Adolf Wagenführer, Student bei Grundmann und Lehrstuhlassistent an der Universität Jena, Pastor Wilhelm Büchner ( Jena ), Paul Gimpel (Lehrer in Eisenach ), Pastor Hans Pribnow ( Lauenburg, Pommern ), Kurt Thieme ( Lehrer in Eisenach ) sowie Pastor Heinrich Weinmann ( Pfaffendorf bei Koblenz ). Heinz Hunger und Erich Fromm, zwei Pastoren aus Thüringen und Mitglieder der Deutschen Christen, hatten ebenfalls dem Komitee angehört, waren aber während der Vorbereitungszeit zum Kriegsdienst einberufen worden. 13 Eine kurze, aber hilfreiche Darstellung der Überlegungen der Kommission findet sich in einem unsignierten Brief an Hans - Joachim Thilo vom 9. 4. 1941, höchstwahrscheinlich verfasst von Max - Adolf Wagenführer ( LKA Eisenach, NG 44, I ). 14 Deutsche mit Gott. Ein deutsches Glaubensbuch, Weimar 1941, S. 46.

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stehung etc. und stellte Christus statt dessen als einen Menschen dar, der im Namen Gottes kämpfte und am Kreuz nicht nur als Märtyrer, sondern auch als „Sieger“ starb, obwohl er ein Opfer der Juden war. Auf diese Weise avancierte er zu einer Figur, mit der sich Deutsche in ihrem eigenen gottgewollten Kampf gegen die Juden identifizieren konnten. Grundmann präsentierte seine Begründung, warum Christus kein Jude, sondern ein Arier gewesen sei, in seinem Buch „Jesus der Galiläer“ aus dem Jahre 1940.15 „Galiläer“ war bereits seit langem ein Codewort für „Arier“, doch war diese Bezeichnung in akademischen Kreise stärker akzeptiert, während „Arier“ mehr mit der NS - Propaganda assoziiert wurde. Grundmann achtete stets sehr darauf, dass er als seriöser Wissenschaftler wahrgenommen wurde und sein Institut als ein Zentrum akademischer Forschung. Sein Buch sollte aufzuzeigen, dass Christus absolut kein Jude gewesen war ( obwohl seine rassische Identität nicht mit Gewissheit bestimmt werden konnte ), sondern der größte Feind der Juden. Im Zentrum seines Werkes stand die Definition Christus’ nicht nur als Nichtjude, sondern als der Anti - Jude, sowie die strikte Opposition zwischen der Religiosität von Christus und derjenigen des Judentums, indem das Rassische mit dem Geistigen gleichgesetzt wurde. Grundmann benutzte religionsgeschichtliche Methoden als Schlüssel für seine Unterscheidung. Durch die Vermeidung doktrinärer Erörterungen, so argumentierte er, demonstrierten diese Methoden, dass der Gott des Alten Testaments die tribalistischen und henotheistischen Glaubensvorstellungen seiner Autoren widerspiegelte, die nichts mit Christus’ Gottesverständnis zu tun hätten. Das fundamentale Gesetz des Judentums, insistierte Grundmann, „ist der Hass auf die nichtjüdischen Rassen und der Versuch ihrer Unterjochung“.16 Der Messianismus des Alten Testaments rief zur politischen Weltherrschaft der Juden auf, während Christus in einem spirituellen, nicht an Palästina gebundenen Sinn zu Frieden und Gerechtigkeit aufrief, weshalb er nicht der jüdische Messias war, selbst wenn manche frühen jüdischen Christen, einschließlich des Autors des Matthäus - Evangeliums, fälschlicherweise behaupteten, er sei es.17 Tatsächlich hätten Matthäus und andere die Christus15 Zum deutschen, germanischen oder arischen Christus vgl. den Beitrag von Martin Leutzsch in diesem Band. 16 Karl Friedrich Euler / Walter Grundmann, Das religiöse Gesicht des Judentums. Entstehung und Art, Leipzig 1942, S. 63. Darin zitiert Grundmann zustimmend die Arbeit Karl Georg Kuhns, Ursprung und Wesen der talmudischen Einstellung zum Nichtjuden. In : Forschungen zur Judenfrage, 3 (1938), S. 199–234. 17 Walter Grundmann, Das Messiasproblem. In : ders ( Hg.), Germanentum, Christentum und Judentum. Studien zur Erforschung ihrer gegenseitigen Verhältnisse. Sitzungsberichte zur zweiten Arbeitstagung des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben vom 3.–5. März 1941 in Eisenach, Leipzig 1942, S. 379–412. Die Leugnung Christus’ als Messias diskutierte Grundmann bereits in seinem Buch „Die Gotteskindschaft in der Geschichte Jesu und ihre religionsgeschichtlichen Voraussetzungen“, Weimar 1938, das in theologischen Zeitschriften manche Diskussion auslöste. Vgl. zum Beispiel Wilhelm Michaelis in : Deutsches Pfarrerblatt, 44 (1940), S. 14–15, 121 f., 133 f.; Friedrich Büchsel in : Evangelisches Deutschland,

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geschichte verfälscht, damit sie den messianischen Erwartungen entspräche, während Christus selbst, wie Grundmann behauptete, keinen Wert auf die Behauptung gelegt habe, er stamme von der Linie König Davids ab, und bestritten habe, dass er der jüdische Messias sei.18 Grundmann argumentierte, Galiläa sei nicht nur einfach nichtjüdisch gewesen, sondern habe eine nichtjüdische Religiosität repräsentiert, die in polemischer Opposition zu den Juden Judäas stand, die er zu einer geschlossenen Gruppe machte.19 Die Nichtjuden Galiläas, die eine der vielen nichtjüdischen Bevölkerungen darstellten, die nach der assyrischen Eroberung nach Nord - Israel gezogen seien, hätten Christus angenommen, da sie gewusst hätten, dass er einer der ihren war, während die Juden Judäas ihn abgelehnt hätten, da sie gewusst hätten, dass er nicht zu ihnen gehörte. Christus habe die Nichtjuden eher angesprochen als die Juden, weil sie seine enge Beziehung zu Gott verstanden hätten, argumentierte Grundmann, was sich beispielsweise daran zeige, dass Christus Gott „Abba“ („Papa“ im Aramäischen ) genannt habe – ein Thema, dass Grundmann in seiner Studie über die Gotteskindschaft von 1938 entwickelt hatte und das in den Folgejahren großen Einfluss auf protestantische Theologen entfaltete.20 Aus dem intimen Verhältnis des Kindes zum Vater habe sich ein neues Verständnis der Natur des Göttlichen und des Menschen sowie besonders der Ethik entwickelt. Liebe sei Christus’ ethisches Leitprinzip gewesen, und wie Grundmann behauptete, setzte sie die Gebote des göttlichen Gesetzes außer Kraft. Juden – einschließlich der Propheten des Alten Testaments –

16 (1939), S. 24; Grundmanns Erwiderung in : Evangelisches Deutschland, 17 (1940), S. 3. Vgl. auch Johannes Leipoldt, Jesu Verhältnis zu Griechen und Juden. In : Germanentum, Christentum und Judentum. Veröffentlichung des Institutes zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, Leipzig, 1941, S. 98–101; und Walter Grundmann, Aufnahme und Deutung der Botschaft Jesu im Urchristentum, Weimar 1941, S. 20 ff. 18 Walter Grundmann, Jesus der Galiläer und das Judentum, Leipzig 1940. 19 Vgl. die ausführliche Fußnote zu Galiläa, welche Albrecht Alts Position zusammenfasst, in : Euler / Grundmann, Das religiöse Gesicht des Judentums, S. 65. 20 Walter Grundmann, Die Gotteskindschaft in der Geschichte Jesu und ihre Religionsgeschichtlichen Voraussetzungen, Weimar 1938. Gerhard Kittel diskutierte „Abba“ im Theological Dictionary of the New Testament, das er herausgab, zog aber nicht die selben Schlussfolgerungen. Joachim Jeremias’ viel gelesenes Buch „Abba“, veröffentlicht im Jahre 1966, vertritt ein Argument, das dem Grundmanns bezüglich Christus’ intimem Verhältnis zu Gott sehr ähnelt, obwohl er ihn nicht zitiert. Eine scharfe Kritik an Jeremias’ Buch wurde formuliert von Ed P. Sanders, Jesus and the Kingdom. The Restoration of Israel and the New People of God. In : ders., Jesus, the Gospels, and the Church. Essays in Honor of William R. Farmer, Macon, GA 1987, S. 225–239; Ed P. Sanders, Defending the Indefensible. In : Journal of Biblical Literature, 110 (1991) 3, S. 463–477. Eine Replik auf Sanders zur Verteidigung von Jeremias findet sich in Ben F. Meyer, A Caricature of Joachim Jeremias and His Scholarly Work. In : Journal of Biblical Literature, 110 (1991) 3, S. 451–462. Zur Erwiderung auf Meyer siehe Sanders, „Defending the Indefensible“. Zu einer ausgezeichneten Analyse der Abba - Debatte vgl. Mary Rose D’Angelo, Abba and „Father“. Imperial Theology and the Jesus Traditions. In : Journal of Biblical Literature, 111 (1992) 4, S. 611–630.

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sähen sich als Sklaven in ihrer Beziehung zu Gott,21 was ihren Gegensatz zu den Ariern ausmache, deren Frömmigkeit sie dazu brächte, den Bund mit Gott als eine „Gnade der Schöpfung“ zu verstehen.22 Das Institut wandte sich sowohl an Wissenschaftler als auch an Laien, an die Kirche und die NSDAP. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurden häufig von gekürzten, populärwissenschaftlichen Fassungen begleitet. Auf die Veröffentlichung von Grundmanns „Jesus der Galiläer“ folgte eine populärwissenschaftliche Fassung seiner Ergebnisse, „Wer ist Jesus von Nazareth ?“ Entsprechend den Verlautbarungen des Instituts bestand deren Zweck darin, zu beweisen, Jesus sei kein Jude gewesen : „Es ist daher von weitgehender Bedeutung, wenn mit wissenschaftlicher Sauberkeit und Gründlichkeit nachgewiesen werden kann, dass Jesus als Galiläer der Rasse nach nicht Jude war und auch nicht zum Messias - König der Juden erhoben werden wollte, dass vielmehr seine Botschaft in total andere Richtung wies als jemals jüdische Religion. Das eben hat Walter Grundmann nicht nur in seinem Buch ‚Jesus der Galiläer und das Judentum‘, sondern neuerdings auch in der Schrift ‚Wer ist Jesus von Nazareth?‘ getan.“23 Während „Jesus der Galiläer“ vorgab, den wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, dass Christus ein galiläischer Nichtjude gewesen sei, konstatierte „Wer ist Jesus ?“ die politischen Auswirkungen wesentlich direkter : „Das deutsche Volk hat seinen Freiheitskampf gegen die Zersetzung seines Lebens und Wesens gegen die Juden gekämpft. Hinter dem Krieg den England dem deutschen Volke aufzwang, steht genauso wie hinter dem Weltkrieg als Antreiber der Jude. Im Gegensatz zum Judentum wird sich das deutsche Volk seines Wesens auf allen Gebieten bewusst. Da wird die Frage bitter ernst und schwer, ob im Mittelpunkt seiner Religion Botschaft und Gestalt eines Mannes stehen kann, der der Messias der Juden sein soll. So wird die Frage für das innere deutsche Leben brennend : Was ist es um Jesus Christus ?“24 Das Ziel war offensichtlich; 1942 äußerte Grundmann in einem privaten Brief : „Die Schwierigkeiten der religiösen Lage im deutschen Volk sind eine Folge dieser zersetzenden jüdischen Tätigkeit.“25 Von Zeit zu Zeit klangen die Konferenzen und Veröffentlichungen des Instituts eher nach antisemitischer Kriegspropaganda als nach Wissenschaft. Wolf Meyer - Erlach, ein eifriges Institutsmitglied und Professor für praktische Theologie an der Universität Jena, erklärte 1941 auf einer Konferenz in Rostock und

21 Grundmann, Das religiöse Gesicht, S. 91, 105. 22 Ebd., S. 94. In Anm. 113 zitiert Grundmann Kurt Leese, Natürliche Religion und Christlicher Glaube. Eine theologische Neuorientierung, Berlin 1936, bezüglich einer Definition der „grundlegenden arischen Erfahrung von Religion“. 23 Deutsche Frömmigkeit, 9 (1941), S. 92. 24 Walter Grundmann, Wer ist Jesus von Nazareth, Weimar 1940, S. 3. Die Broschüre wurde für 60 Pfennige verkauft. 25 Grundmann an Oberkirchenrat Hermann Schmidt zur Nedden vom 17. 11. 1942 ( LKA Eisenach ).

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wenig später auf einer Versammlung von Pastoren aus Thüringen und Sachsen, dass England durch die Betonung des Alten Testaments im Rahmen seiner reformatorischen Bewegung judaisiert worden sei, im Gegensatz zur arischen Natur des nordischen Christentums. Letzteres war auch der Gegenstand einer Vorlesungsreihe, die er in der Folge vor deutschen Truppen hielt.26 Hempel, der mittlerweile als Militärkaplan diente, sprach über „das religiöse Problem im gegenwärtigen Krieg“.27 Auf einer Sitzung der Institutsmitglieder im September 1941 erklärte Grundmann den Krieg zu einem „Kampf bis zum Tod, einem Kampf gegen das Weltjudentum und gegen alle subversiven und nihilistischen Kräfte“.28 Grundmanns Ton sollte sich nicht ändern. In seiner letzten Veröffentlichung, die 1944, als er als Soldat an der Ostfront diente, in der „Schriftenreihe zur Truppenbetreuung“ erschien, schrieb er, „der Jude“ sei „der Antichrist, der dabei ist, seine Fesseln abzustreifen und über das Reich herzufallen“.29 Grundmann blieb ein antisemitischer Agitator bis zum Ende des NS - Regimes. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus begann er, seine Vergangenheit umzudeuten und gerierte sich als Verteidiger der Kirche und Opfer des „Dritten Reiches“.

2.

Antisemitismus in der Kirche : Von den Rändern zur Mitte

Das Institut vertrat in seinen Publikationen einen Antisemitismus, der Rassismus so mit christlicher Theologie verband, dass beide Bestandteile nicht mehr zu unterscheiden waren. Damit wurden antijüdische Einstellungen, die seit langem an den Rändern der Kirche bestanden hatten, zu einem Bestandteil christlicher Theologie und Wissenschaft innerhalb der Kirche selbst gemacht. Die Ausmerzung des „Jüdischen“ aus dem Christentum wurde zum wichtigsten Ziel der Kirche und bildete nach Ansicht der Eisenacher Institutsmitglieder die Voraussetzung für ihre theologische und liturgische Lebensfähigkeit. Die Tatsache, dass der Antisemitismus von den Rändern in die Mitte der Theologie des Instituts gerückt wurde, verdeutlichte die Transformation des Antisemitismus von einem Protest der deutschen Gesellschaft gegen den Staat ( während des 26 Auf der Konferenz in Schneidemühl am 13./14. 1. 1941 sprach Meyer - Erlach über das Thema „Englischer Krieg und deutsche Kirche,“ während er auf der Konferenz in Eisenach am 24.–26. 2. 1941 über „Die Rassennatur des Christentums in den nordischen Ländern“ sprach ( EZA, Bestand 7/4166). Vgl. auch Wolf Meyer - Erlach, Der Einfluss der Juden auf das englische Christentum, Weimar 1940; ders., Ist Gott Engländer ?, Freiburg 1940. Der jüdische Charakter Englands wurde auch am 25. 6. 1939 unter der Schlagzeile „Weltpolitik mit dem Alten Testament ! England : Politik und Religion“ ( EZA, Bestand 7/4166, Dok. 42) in der Zeitschrift „Deutsches Christentum“ proklamiert, einer Wochenzeitung, die von Siegfried Leffler und Heinz Dungs herausgegeben wurde. 27 Protokoll der Konferenz in Eisenach vom 24.–26. 2. 1941 ( EZA, Bestand 7/4166). 28 Walter Grundmann, Bericht über das Institut vom 16. 9. 1941 ( LKA Eisenach, DC III 2a ), S. 1. 29 Walter Grundmann, Das Reich der Deutschen, o. O. 1944, S. 4.

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Kaiserreichs ) zum Antisemitismus als Staatsidentität während des „Dritten Reiches“.30 Eine der zentralen Fragen der zeitgeschichtlichen NS - Forschung ist die Beantwortung der Frage, weshalb so viele Deutsche, die im Jahre 1919 noch liberale Parteien gewählt hatten, später für die NSDAP stimmten und 1933 den Hitlers Aufstieg zur Macht mit einem solchen Enthusiasmus begrüßten. Was, um Peter Fritsches Formulierung zu gebrauchen, verwandelte Deutsche in Nationalsozialisten ?31 In den meisten Fällen beantworten Historiker diese Frage, indem sie auf eines der beliebten „Rahmengesetze“ der Sozialwissenschaften hinweisen : wirtschaftliche Probleme einschließlich der Großen Depression, Inflation, das Anwachsen des Industriekapitalismus mit den daraus resultierenden Folgen einer massiven Veränderung der Sozialschichten, besonders der Mittelschichten und ihren sozialen Abstiegsängsten, wie sie in Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun ?“ von 1932 so anschaulich beschrieben sind. Allerdings liefern sozialwissenschaftliche Ansätze, die sich ganz auf ökonomische und soziale Entwicklungen konzentrieren, keine zufriedenstellende Erklärung. Sie übersehen jene Veränderungen in den Bereichen der Ethik, Kultur und des Gefühlslebens, die zu zentralen Merkmalen des „Dritten Reiches“ werden sollten. Vor allem anderen ignoriert die sozialwissenschaftliche Analyse über den Aufstieg des Nationalsozialismus und seiner Weiterentwicklung im Verlauf des „Dritten Reiches“ allzu oft die Rolle des Christentums. Das Ausmaß, in dem die Pastoren ihre Lehren militarisierten, in dem sie das Gesangsbuch, den Katechismus oder sogar die Texte der Evangelien veränderten, sollte unbedingt als ein Faktor in Betracht gezogen werden, wenn es um die Beurteilung der Veränderungen im Bereich der öffentlichen Kultur, der Ethik und des Gefühlslebens in den Jahren vor und während des „Dritten Reiches“ geht. Wenn Historiker nach den Ursachen für die „erbärmliche Kapitulation“ des deutschen Liberalismus „vor einer rassistischen ( völkischen ) Weltsicht“ fragen, wie Eric Kurlander es formulierte,32 muss man die Tatsache berücksichtigen, dass die evangelische Theologie sich bereits lange vor 1933 eindeutig auf die Rassenbiologie eingelassen hatte und dies während der Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft energisch fortführte. Und dann, wurde das überhaupt als eine „erbärmliche Kapitulation“ erlebt? Die enthusiastische Umarmung der völkischen Weltsicht ist von Uwe Puschner ausführlich erforscht worden, dessen Arbeit die große Anzahl der Veröffentlichungen zeigt, die in Deutschland in den Jahrzehnten erschienen, die zum „Dritten Reich“ führten.33 Manche Deutsche waren ernstlich fasziniert vom Rassis30 Vgl. Helmut Walser Smith, The Continuities of German History : Nation, Religion, and Race Across the Long Nineteenth Century, Cambridge 2008. 31 Peter Fritsche, Germans into Nazis, Cambridge 1998. 32 Eric Kurlander, The Price of Exclusion : Race, Nationalism and the Decline of German Liberalism 1898–1933, New York 2006, S. 2 f. 33 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich : Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001.

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mus und seinem Potential zur Veränderung sozialer und politischer Strukturen, Denkweisen, sexuellem Verlangen und selbst religiösen Bekenntnissen. Buchstäblich jeder akademische Bereich und jede kulturelle Sphäre spiegelten rassistische Standpunkte wider, einschließlich der akademischen Theologie und der Kirche. Mehr noch, viele Akademiker im Bereich der Theologie waren liberale Protestanten, die die völkische Ideologie als ein Mittel zur Modernisierung des Protestantismus begrüßten. Der Prozess der Unter werfung der christlichen Theologie unter den Rassismus begann nicht plötzlich, und er war keine bloße Reaktion der protestantischen Kirche auf die Etablierung des „Dritten Reiches“; vielmehr begann dies sprachlich bereits im 19. Jahrhundert, als Theologen, Intellektuelle, Semitismuswissenschaftler und Demagogen auf den Gedanken kamen, das Christentum leite sich nicht vom Judentum ab, sondern von einer vorgeblichen arischen Religion. Selbst Christus, argumentierten sie, sei kein Jude gewesen, sondern entstamme einer arischen Bevölkerung, die seit der assyrischen Eroberung des Nördlichen Königreichs im 8. Jahrhundert v. Chr. in Galiläa gelebt habe.34 Joachim Kurd Niedlich, ein Gymnasiallehrer aus Berlin und Mitbegründer des Bundes für Deutsche Kirche, erklärte etwa, dass Christus einen Kampf auf Leben und Tod gegen den jüdischen Geist geführt habe.35 Mitglieder des Bundes beschrieben Juden als gewalttätige Menschen, gerade als in der Zeit der Weimarer Republik die Gewalt gegen Juden zunahm.36 Christus sei nicht das Lamm Gottes gewesen, das den Sanften versicherte, dass sie ihm nachfolgen würden. Niedlich spiegelte das neue politische und religiöse Ethos wider und identifizierte Jacob Grimms schauerliche Sage von den „Zwölf Brüdern“ als ein Schwesterevangelium, das Gott den Germanen gegeben habe. Während der Weimarer 34 Diese Behauptung findet sich schon in den Schriften von Ernst Renan, Emil Schürer, Houston Stewart Chamberlain und Paul Haupt. Vgl. Susannah Heschel, The Aryan Jesus, Kapitel 1. Vgl. auch Uwe Puschner, Deutschchristentum. Über christlich - völkische Religiosität. In : Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur ? Hg. von Richard Faber und Gesine Palmer, Würzburg 2003, S. 91–122. 35 Joachim Kurd Niedlich (1884–1928), ein enger Freund des berüchtigten Antisemiten Theodor Fritsch, befasste sich ausführlich mit deutscher Mythologie. Vgl. Kai Detlev Sievers, Völkische Märcheninterpretationen. Zu Joachim Kurd Niedlichs Mythen - und Märchendeutung. In : Christoph Schmitt ( Hg.), Homo narrans. Studien zur populären Erzählkultur. Festschrift für Siegfried Naumann zum 65. Geburtstag, Münster 1999, S. 91–110; ders., Völkischer Heimatschutz ( I ). In : Kieler Blätter zur Volkskunde, 29 (1997), S. 5–36, hier 36; ders., „Kraftwiedergeburt des Reiches“. Joachim Kurd Niedlich und der völkische Heimatschutz, Würzburg 2007, S. 20–22, 290 f. Niedlichs früher Tod verhinderte eine Verwicklung in die Aktivitäten der Deutschen Christen während der NS - Ära, doch sein Einfluss auf die Kirche wurde durch seine Schriften verstärkt, besonders durch diejenigen über Religionspädagogik, sowie durch seine enge Freundschaft mit den Führern der Deutschen Christen, Kurt Freitag und Reinhold Krause, und durch die Zusammenarbeit des Bundes mit der Bewegung Deutscher Christen im Zusammenhang mit den Kirchenwahlen von 1932. Vgl. dazu Olaf Kühl - Freudenstein, Evangelische Religionspädagogik und völkische Ideologie, Würzburg 2003. 36 Vgl. Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003.

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Republik sahen viele Kirchenführer und Theologen ihre Pflicht darin, die Interessen der Nation gegen die Politik des demokratischen Staates zu verteidigen.37 Dieser Konflikt zwischen Nation und Staat führte zu einem Krankheitsbild, dass nach Meinung vieler nur noch Hitler heilen konnte. Die Überwindung der Kluft zwischen Nation und Staat wurde daher als eine Bemühung zur Einigung des deutschen Volkes angesehen und stellte eine einfache Rechtfertigung für die Anstrengungen einiger Pastoren dar, eine führende Rolle bei der Förderung des Nationalsozialismus zu spielen. Im Jahre 1927 zogen zwei Pastoren aus Bayern, Siegfried Leff ler und Julius Leutheuser, ins Werratal in Thüringen, wo sie neben ihrer Gemeindetätigkeit Ableger der NSDAP und der Bewegung Deutscher Christen gründeten.38 Nachdem die NSDAP im Jahre 1930 die Kontrolle über den thüringischen Landtag gewonnen hatte, wurde Leff ler zum thüringischen Minister für Erziehung ernannt, und Leutheuser stieg in den Landeskirchenrat der thüringischen Kirche auf. Gemeinsam halfen sie dabei, die Macht der pronazistischen Bewegung Deutscher Christen innerhalb der Kirche und an der theologischen Fakultät der Universität Jena zu sichern, besonders nach der Ernennung von Martin Sasse, einem überzeugten Nationalsozialisten und bösartigen Antisemiten, zum thüringischen Landesbischof im Jahre 1934.39 Dank ihrer Machtposition wurde die theologische Fakultät der Universität Jena zu einem wichtigen Zentrum der NS - Theologie und das „Entjudungsinstitut“, wie es im Volksmund genannt wurde, in Eisenach etabliert. Der institutionelle Apparat der Kirche – der Bischof, der Landeskirchenrat und die theologische Fakultät – arbeitete mit daran, die Rassentheologie von einer marginalen rebellischen Bewegung, die von Pastoren wie Leff ler und Leutheuser gefördert wurde, zur zentralen Lehre der thüringischen Kirche zu erheben. Nur eine Woche nach der sogenannten Reichskristallnacht schaffte die thüringische Landeskirche offiziell die Bedingung des Nachweises von Hebräischkenntnissen für die Ordination Geistlicher ab.40 Am 15. November 1938, wenige Tage nach dem Pogrom, veröffentlichte Landesbischof Martin Sasse ein Pamphlet mit dem Titel „Martin Luther über die Juden : Weg mit ihnen!“, das Auszüge aus Luthers berüchtigter Schrift „Gegen die Juden und ihre Lügen“ von 1543 enthielt, und drängte auf die Zerstörung jüdischen Eigentums. Nachdem das Institut eingerichtet worden war, übernahm die Landeskirche in Thüringen seine liturgischen Veröffentlichungen, das Alte Testament wurde aufgegeben und die Auffassungen des Instituts durchdrangen die Kirchenzeitung. Der 37 Vgl. Ernst Wolf, Volk, Nation, Vaterland im protestantischen Denken von 1933 bis zur Gegenwart. In : Horst Zilleßen ( Hg.), Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalsozialismus, Gütersloh 1970, S. 172–212, hier 174. 38 Pastor Paul Schwadtke war in den späten 1920er Jahren Anführer der SA - Trupps im Werratal, zu der Zeit, als Leff ler und Leutheuser dort eintrafen. 39 Sasse war der NSDAP am 1. 3. 1930 mit der Mitgliedsnummer 204 010 beigetreten (BArch, BDC, Unterlagen Sasse ). 40 Bericht der Kirchenleitung ( Universitätsarchiv Jena, J 280). Vgl. Erich Stegmann, Der Kirchenkampf in der Thüringer Evangelischen Kirche, Berlin 1984, S. 105.

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Rassismus und Christentum

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Antisemitismus der Nationalsozialisten und die Rassentheologie wurden nun durch evangelischen Theologen repräsentiert.

3.

Religion und Rasse

Die Akzeptanz des Rassismus durch christliche Theologen wurde gegen nur minimalen Protest durchgesetzt. So wie die deutsche Gesellschaft im Verlauf der 1930er Jahre zunehmend dazu überging, die Rassenpolitik zu akzeptieren, so akzeptierte ein Teil der Theologen zunehmend die Rassentheologie. Gleichzeitig fungierte der Rassismus, den die Deutschen Christen als eine Form der Theologie vertraten, als moralische Sanktionierung des Rassismus der Nationalsozialisten. Als beispielsweise im November 1933 Reinhold Krause, ein Führer der Deutschen Christen, dazu aufrief, das Alte Testament zu eliminieren, da es Ausdruck der unangebrachten „Moral“ von „Viehhändlern und Zuhältern“ sei, und Paulus als jüdischen Theologen schmähte, erhielt er donnernden Applaus von den 20 000 Menschen, die an einer Massenversammlung in Berlin teilnahmen, wurde allerdings von einigen respektierten Theologen rundheraus verdammt, welche sich aus der Bewegung der Deutschen Christen zurückzogen; tatsächlich stellte diese Versammlung einen der Anstöße dar, die schließlich zur Gründung der Bekennenden Kirche führten.41 Innerhalb weniger Jahre war es allerdings so weit, dass Krauses Wortwahl nicht mehr als empörend empfunden wurde, und die Zeit reif zu sein schien, den Ruf nach der Reinigung des Christentums von jüdischen Einflüssen in die Tat umzusetzen. Und wenn es möglich war, auf der Basis des Antisemitismus das Alte Testament aus den Schriften des Christentums zu entfernen und Paulus, der als Begründer des Christentums und seiner Theologie gilt, deswegen zurückzuweisen, weil er Jude war, so blieb kaum noch ein Grund übrig, warum ein Christ das Judentum akzeptieren sollte, ob nun als eine eigenständige Religion oder als eine Wurzel des Christentums. Gerade die Frage, wie das Judentum christliche Texte und Doktrinen geformt hatte – die synoptischen Berichte über Christus’ Leben und seine Rolle als Messias – war unter deutschen Christen, die sich mit der Suche nach dem historischen Christus befassten, seit langem diskutiert worden. Die Unbestimmtheit von Christus eigener religiöser Zugehörigkeit wurde durch die Geschichtswissenschaft noch verstärkt : War er Jude oder Christ ? Oder war er vom Juden zum Christen gemacht worden ? Wann war der Augenblick dieser Veränderung gewesen ? Seiner religiösen Unbestimmtheit entsprach das Gespenst jüdischen Einflusses innerhalb des Christentums. Wie könnte man diesen Einfluss definieren, eindämmen und eventuell beseitigen ? Diese Frage verfolgte Theologen der nationalsozialistischen Epoche, die das Institut genau deshalb im Jahre 1939 als ein Forschungsinstitut gegründet hatten. Sowohl Leff ler als auch Leutheuser, 41

Vgl. Doris L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996, S. 17.

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zusammen mit Bischof Sasse, unterstützten die Errichtung, Finanzierung sowie die Aktivitäten des Instituts, mit der Absicht, das Christentum an die Rassenideologie der Nationalsozialisten anzupassen. Bei den zahlreichen Konferenzen, Vorträgen und Veröffentlichungen stach die ungeklärte Frage ins Auge, wie das „Jüdische“ zu definieren sei. War es das Pharisäertum ? Das Alte Testament ? Paulus ? Tatsächlich verbrachten die Institutsmitglieder viel mehr Zeit damit, die Natur des „Jüdischen“, das in Deutschland ausgemerzt werden sollte, zu diskutieren, als mit der Definition der „arischen“ Natur dessen, was sie als „wahres“ Christentum darstellten. Die Rasse spielte für die Definition eines „entjudaisierten“ Christentums eine zentrale Rolle : Die Theologen neigten dazu, den Rassismus als ein Werkzeug zur Modernisierung des Christentums anzusehen. Außerdem wollten sie zeigen, dass die christlichen Prinzipien im Einklang mit denen der Rassentheorie standen. Zusätzlich hielten sie die Rassentheorie für ein Werkzeug, mit dessen Hilfe die Religion wissenschaftlich legitimiert werden konnte : Die rassistisch untermauerte Behauptung einer der Gesellschaft inhärenten Hierarchie verstärkte religiöse Vorstellungen von Gottes Schöpfung einer natürlichen Ordnung und einer darin enthaltenen Hierarchie der Pflanzen, Tiere und Menschen. Rassisten ihrerseits beschäftigten sich nicht allzu sehr mit der biologischen oder physischen Natur menschlicher Körper, sondern mit dem Ausmaß der angeblich diesen Körpern inhärenten Degeneration. Was in den Schriften der Institutsmitglieder den Unterschied zwischen Ariern und Juden ausmacht, ist nicht die physische Erscheinung, sondern es sind geistige und moralische Eigenschaften. Wenn Grundmann argumentierte, dass Christus höchst wahrscheinlich von Nichtjuden in Galiläa abstammte, die mit Gewalt zum Judentum konvertiert worden waren, ging es ihm nicht in ersterer Linie um Christus’ Genealogie, sondern darum, die Natur seiner Religiosität und sein Verhältnis zu Gott darzustellen. Letzteres kennzeichnete seine rassische Identität. Der Rassismus selbst kann als eine Art Inkarnationstheologie angesehen werden, der es hauptsächlich um moralische und geistige Aspekte ging, die aber darauf bestand, dass das Geistige im Physischen enthalten sei.

4.

Schlussbemerkung

Die Mitglieder des Instituts waren Theologen, die aufgrund ihrer Prädispositionen dazu neigten, den Nationalismus, Antisemitismus, Anti - Liberalismus und Anti - Bolschewismus Hitlers zu akzeptieren und die Politik aus einem religiösen Blickwinkel zu betrachten. Sie waren durch die Weimarer Republik tief verunsichert und über den Niedergang des Christentums besorgt. Der Nationalsozialismus schien ihnen ein probates Mittel zu sein, um den kirchlichen Einfluss und die christliche Theologie wiederzubeleben. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten kam ihnen gelegen und als Theologen dachten sie, sie könnten auf dem „spirituellen Schlachtfeld“ an dem nationalsozialistischen Kriegszug gegen die

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Rassismus und Christentum

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Juden mitwirken.42 Deshalb musste schließlich der Nationalsozialismus als die Verkörperung christlicher Werte definiert werden und das Christentum als Verkörperung von NS - Werten. Der Militarismus und die Verherrlichung der Männlichkeit durch das NS - Regime war eine Geisteshaltung, die viele in der evangelischen Kirche nachzuahmen versuchten. Der Antisemitismus wurde unmittelbar in theologische Argumentationsweisen integriert : in die Interpretationen des Neuen Testaments und die Darstellungen der Geschichte des Christentums auf rassischer Grundlage. Der Antisemitismus des Instituts war nicht nur eine Zurückweisung des Judentums als Religion, sondern ein Versuch, die jüdischen Wurzeln des Christentum zu tilgen, genauso wie das „Dritte Reich“ danach trachtete, die Juden in Europa auszurotten. Wie Historiker in den letzten Jahren überzeugend herausgearbeitet haben, gingen die Kriegsziele der Nationalsozialisten über die Eroberung West - und Zentraleuropas und der Sowjetunion hinaus; der Massenmord an den europäischen Juden schloss auch die geplante Ermordung der Juden in Nordafrika und im Mittleren Osten ein. Jeffrey Herf zeigt in seiner Studie, wie die NS - Propaganda darauf abzielte, hierfür die Unterstützung der arabischen Muslime zu gewinnen, und dass sie dabei auf offene Ohren stieß. Herf betont, dass „einige Strömungen in der arabischen Politik und in der Religion des Islam Anknüpfungspunkte für eine positive Rezeption der Nazi - Botschaften boten“43 – eine Formulierung, die auch auf die deutschen Kirchen anwendbar ist. Grundmann rechtfertigte sich nach 1945 damit, dass er die Kirche verteidigen wollte und gegen die Nationalsozialisten opponiert habe. Einige Kollegen Grundmanns akzeptierten seine Verteidigungsstrategie, insbesondere Kollegen, die selbst Nationalsozialisten gewesen waren und nun Grundmann in seinem Entnazifizierungsverfahren bescheinigten, dass er ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen sei – eine bizarre Konstellation von Heuchelei. Selbst die angesehene theologische Gesellschaft Studiorum Novi Testamenti Societas, die in Großbritannien ihren Hauptsitz hat, widerrief nach dem Zweiten Weltkrieg nie die Mitgliedschaft Grundmanns, obwohl es angesichts seines schmalen Werkes ( und der fehlenden Habilitation ) schon erstaunlich ist, dass er 1938 überhaupt in diesen Kreis aufgenommen worden war. Zweifellos produzierte Grundmann zwischen 1938 und 1945 wenig bis gar nichts von wissenschaftlicher Bedeutung. Weshalb also musste ein Mann, der nach 1945 von seiner Professur zurücktreten musste, nicht auch auf die Mitgliedschaft in einer akademischen

42 Grundmann erklärte auf einer Konferenz des Institutes im Juni 1942 : „Denn den Kampf der Waffen begleitet der Kampf des Geistes. [...] In einem Zeitabschnitt, in dem alle Kräfte eines ganzen Erdteiles zum entscheidenden Kampf gegen das Judentum zusammengefasst werden und es in diesem Kampf auf Leben und Tod geht.“ So Walter Grundmann ( Hg.), Germanentum, Christentum und Judentum. Studien zur Erforschung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Dritter Band : Sitzungsberichte der dritten Arbeitstagung des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben vom 9. bis 11. Juni 1942 in Nürnberg, Leipzig 1943, S. 3. 43 Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, New Haven 2009, S. 4.

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Studiengesellschaft verzichten ? Und weshalb wurde er 1954 zum Rektor des Katechtenseminars in Eisenach berufen ? Diese Frage betrifft nicht nur Grundmann und die übrigen Institutsmitglieder als Einzelpersonen. Wieviel von ihrer Theologie überdauerte die sogenannte Stunde Null von 1945 und infiltrierte die theologischen Vorstellungen in der Nachkriegszeit ? Das erneute Interesse am Christentum in den 1950er Jahren verstärkt die Bedeutung dieser Frage; in den Blick zu nehmen ist auch die Forschung und Lehre jener Nachkriegsgeneration von Theologen, die noch von ehemaligen Nationalsozialisten ausgebildet wurde. Norbert Reck hat beispielsweise anhand der Schriften von Nachkriegstheologen aufgezeigt, dass die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Theologie eher von der dritten Generation, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufwuchs, thematisiert wurde als von Theologen, die früher geboren waren und noch während des „Dritten Reiches“ ihre Universitätsausbildung erhalten hatten.44 Die Debatte über diese Fragen hat angefangen, ist aber noch lange nicht beendet.

44 Vgl. Björn Krondorfer / Katharina von Kellenbach / Norbert Reck, Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh 2006.

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Germanentum als Überideologie. Deutsch - schwedischer Theologenaustausch unter dem Hakenkreuz1 Anders Gerdmar

Im Krieg mit Russland von 1808/09 verlor Schweden ein Drittel seiner Gebiete und ein Viertel seiner Bevölkerung, die seit dem Mittelalter zu Schweden gehört hatten.2 Dieses militärische Desaster versetzte dem Stolz Schwedens, das sich seit dem Dreißigjährigen Krieg als eine Großmacht betrachtet hatte, einen schweren Schlag. Es handelte sich sowohl um eine ökonomische als auch um eine politische Katastrophe, vor allem aber markierte sie den Beginn einer Identitätskrise. Aus dieser Krise erwuchs ein Prozess der ideologischen Identitätsfindung, der sich in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft niederschlug. Von großer Bedeutung war dabei die Literatur, die einen starken nationalistischen Anspruch entwickelte. Diese Literaturepoche, auch unter dem Namen „götizistische Renaissance“ bekannt (Engl. : „geatish“ oder „gothic“), begann im Jahre 1811, als zwölf 30 - jährige Bürger den Götiska förbundet gründeten. Einer von ihnen war der landesweit bekannte Dichter und Professor der Universität Uppsala Erik Gustav Geijer. Die ideologische Selbstfindung der Nation wies Parallelen zu ähnlichen Prozessen in anderen europäischen Nationen im Anschluss an die Napoleonischen Kriege auf. In Deutschland drückte sich dies in Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ aus. Ein weiteres Beispiel waren die Burschenschaften mit ihrem Wartburgfest. Ganz wie im schwedischen Götizismus vergewisserte sich auch hier ein Volk, dessen Selbstwertgefühl erschüttert war, einer großen Vergangenheit und einer großen Zukunft. Für Schweden bedeutete dies eine wichtige Richtungsänderung. Denn im 18. Jahrhundert hatte sich Schweden lange Zeit an Frankreich orientiert, doch nun vollzog sich ein definitiver Richtungswechsel, weg vom Ideal Ludwigs XIV., dem Gustav III. nachgeeifert hatte, hin zu rustikaleren Gestalten wie den Wikingern, einfachen Bauern sowie den Göttern Thor, Odin und Freya. Nordische Ideale sowie der Entwurf einer nordischen Ideologie begannen sich abzuzeichnen. Einige Zeit später schloss sich der große Nationaldichter Esaias Tegnér Geijers Zeitschrift „Iduna“ an, in der auch seine weltberühmte „Frithiofs Saga“ 1 2

Übersetzt aus dem Englischen von Marco Wittwer. Vgl. Ingmar Stenroth, Sveriges rötter. En nations födelse, Stockholm 2005, S. 13.

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erschien.3 Die Titel von Geijers Gedichten sind symptomatisch : „Der Wikinger“, „Manhem“, „Odalbonden“.4 Sie alle bezogen sich auf ein nordisches „Urvolk“, eine ländliche Urgesellschaft, die in alten Zeiten in Manhem existiert haben soll. Der „Odals“bauer war frei, unabhängig und stark, stolz, nicht mit internationalen Eroberungen beschäftigt wie die Wikinger, sondern stattdessen ein Wächter des Bodens seiner Väter.5 Auch die Götter hatten hier ihre Heimat. In der „Frithiofs Saga“ berichtet Esaias Tegnér, der 1824 zum lutherischen Bischof in Växjö ernannt worden war, von alten nordischen Göttern wie Thor und Odin, aber auch von Gott als „Allvater“. In dieser Zeit kam es auch zu einer Renaissance der älteren Erzählungen von Manhem. In „Atlantica sive Manhem“ hatte ein weiterer Professor der Universität Uppsala, der Universalgelehrte Olof Rudbeck, die fantastische Wahrheit enthüllt, dass Atlantis in Uppland in der Mitte Schwedens zu finden sei. Im Gegenzug bestätigte seine Arbeit Jordanes’ Bericht aus dem sechsten Jahrhundert von der Ultima Thule, in dem er von „Scandza“ als dem „Schoß der Völker“ sprach. Nach dem Verlust Finnlands wurden Rudbecks Theorien zu einem gefundenen Fressen für schwedische Intellektuelle auf der Suche nach glorreichen Wurzeln : Nach wie vor sollten die Schweden den Ursprung der Völker der Erde darstellen, so wie unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg als die Erzählung über Manhem dazu benutzt worden war, um Schwedens Rolle als Herrscher über Nordeuropa und Wiege der Zivilisation politisch zu legitimieren. Es folgte eine ganze Reihe von verwandten Versuchen zur Identitätsfindung, mit ähnlichen Themen : Kunst, Archäologie, Museen, schwedische Natur und Landschaft, Leibesübungen mit dem „schwedischen Turnvater Jahn“, Per Henrik Ling, der nordische Mythologie mit Körperkultur verband. Politisch waren viele dieser Akteure „Revanchisten“, die einen neuen Krieg mit Russland herbeisehnten. Doch die Geschichte sollte eine friedlichere Richtung nehmen, als Napoleons ehemaliger Feldmarschall Jean - Baptiste Bernadotte König Carl Johann XIV. wurde. Im Jahre 1934 wurden in denjenigen akademischen Zirkeln Schwedens, die dem Nationalsozialismus nahe standen, viele dieser Themen wieder zum Leben 3 4

5

Zum Hintergrund des Götizismus vgl. Josef Svennung, Zur Geschichte des Goticismus, Stockholm 1967; und Otto Springer, Die Nordische Renaissance in Skandinavien, Berlin 1936. Der „Odalsbauer“ ist ein freier und unabhängiger Bauer, der ein ererbtes Recht auf sein Land hat. Die Vorstellung eines „Adelsbauern“ erscheint zum Beispiel erneut in Walter Wüsts Betrachtungen über die arischen Stämme. Vgl. Stefan Arvidsson, Aryan Idols. Indo - European Mythology as Ideology and Science, Chicago 2006, S. 190; Frauke Hillebrecht, Skandinavien – die Heimat der Goten ? Der Götizismus als Gerüst eines nordisch - schwedischen Identitätsbewußtseins, Berlin 1997. Hillebrecht bietet auch einen historischen Überblick über den Mythos von Skandinavien als dem Ursprungsgebiet der Goten bzw. sogar als die „vagina nationum“, „dem Schoß der Völker“, von Jordanes bis zum Götiska förbundet. Vgl. Stenroth, Sveriges rötter, und Maja Hagerman, Det rena landet, Stockholm 2006.

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Germanentum als Überideologie

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erweckt, und zwar durch die sogenannte Manhem - Gesellschaft ( Samfundet Manhem ). Die in dieser Gesellschaft tätigen Theologen wollten einen neuen „nordisch - protestantischen Glauben“ fördern, indem sie eine liberale christliche Theologie und nordische Ideologie miteinander verbanden. Diese Theologen waren Teil eines größeren Netzwerks, das eng mit einer Gruppe nationalsozialistischer Theologen in Deutschland zusammenarbeitete. Das schwedische Netzwerk vereinte Mitglieder der Manhem - Gesellschaft, des Sveriges Religösa Reformförbund ( Schwedischer Verband für religiöse Reformen ) sowie der Odal – Samfundet för svensk kulturforskning ( Odal – Gesellschaft für schwedische Kulturforschung ). In dieser Gruppe wurden die oben erwähnten schwedisch - nordischen nationalistischen Vorstellungen von Wikingern und unabhängigen Bauern, die zu Anfang recht harmlos gewesen waren, wieder belebt und in eine eindeutig rassistische und antisemitische Richtung weiterentwickelt.6 Die schwedischen Wissenschaftler und Kirchenleute lehnten sich eng an die politischen und theologischen Entwicklungen in Deutschland an, und während des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer intensiven schwedisch - deutschen Zusammenarbeit, unter anderem auf verschiedenen Konferenzen in Thüringen.7 Das „Germanentum“ war den nordischen Vorstellungen hinzugefügt worden und fungierte als Brückenideologie einer schwedisch - deutschen Zusammenarbeit. Dieses „Germanentum“ sieht das deutsche und die nordischen Völker als Angehörige einer kulturellen, häufig rassisch und ideologisch definierten Gemeinschaft an, die in einer gemeinsamen mythologischen Vergangenheit wurzelt. Dem entsprechend repräsentiert die nordische Ideologie die Ursprünge der alten germanischen Völker und wird als ein Teil des „Germanentums“ gesehen. In der Sicht Andreas Heuslers stand „Germanentum“ für eine heroische Mentalität, die er in alten nordischen Sagen fand.8 Im Rahmen dieser deutsch - schwedischen Kooperation wurden „Germanentum“ und der Appell an „germanentümliche“ und nordische Motive zu einer wichtigen Strategie, um die Bande 6

7 8

Basierend auf einer Weiterentwicklung der Rassismusdefinition Fredricksons, definiere ich „Antisemitismus“ als eine „Denkweise, die unterstellt, Juden seien ständig und unausrottbar minderwertig, und die benutzt wird, um Juden zu dominieren, auszugrenzen bzw. ( Menschen zu legitimieren ) Juden zu eliminieren, einfach weil sie Juden sind“. Vgl. Anders Gerdmar, Roots of Theological Antisemitism. German Biblical Interpretation and the Jews, from Herder and Semler to Kittel and Bultmann, Leiden 2009; George M. Fredrickson, Racism : a Short History, Princeton 2002. Zum „Mustergau“ Thüringen und der „braunen“ Universität Jena vgl. Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Weimar 2003. Vgl. Heinrich Beck, Andreas Heuslers Begriff des Altgermanischen. In : Heinrich Beck ( Hg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, Berlin 1999, S. 357–502; zum Germanentum vgl. Heiko Steuer, Das „völkisch“ Germanische in der deutschen Ur - und Frühgeschichtsforschung. Zeitgeist und Kontinuitäten. In : Heinrich Beck / Dieter Geuenich / Heiko Steuer / Dietrich Hakelberg ( Hg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin 2004, S. 357–502; Bernhard Mees, Hitler and Germanentum. In : Journal of Contemporary History, 39 (2004) 2, S. 255–270.

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zwischen deutschen und schwedischen Wissenschaftlern und Kirchenleuten zu stärken, die unter den Auspizien der in Jena beheimateten Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum zusammenkamen.9

1.

Alte nordische Kultur, Nationalsozialismus und Theologie in den Salons schwedischer Akademiker

Im Jahre 1934 wurde in Stockholm eine neue Gesellschaft für Kultur gegründet, die Manhem - Gesellschaft. Ihr Gründer war der reiche Buchverleger Carl Ernfrid Carlberg, Offizier und olympischer Goldmedaillengewinner im Turnen, aber auch Ingenieur und Publizist.10 Carlberg war eine führende Gestalt in den nationalsozialistischen Kreisen Schwedens. Seine Kulturgesellschaft wandte sich hauptsächlich an die Oberschicht. Die Manhem - Gesellschaft versammelte eine Stockholmer Elite zu Vorträgen, Studien und kulturellen Ereignissen. Zu den Mitgliedern gehörten Akademiker, Publizisten und Adelige, z. B. Baron Eric von Born, Mitglieder des Hohen Gerichtshofes, Kirchenleute und Offiziere der Streitkräfte. In gewisser Weise kann man die Manhem - Gesellschaft mit Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur vergleichen.11 Typische Themen waren Rassenbiologie und - hygiene ( eine schwedische Spezialität ), nordische Mythologie, Kunst und Kultur, nordisch protestantische Theologie sowie das „jüdische Problem“. Auch das „Schwedentum“ war wichtig : „Ein Mitglied von Manhem zu sein bedeutet, Schwede zu sein. Schwede zu sein bedeutet, ein Träger des Lichtes zu sein“, besagte ein Motto.12 Nur gebürtige Schweden mit einer „rassisch nordischen Haltung“ konnten Mitglied werden. Die Sympathien mit dem Nationalsozialismus waren recht eindeutig, auch wenn sie nicht offiziell verkündet wurden, war doch die Manhem - Gesellschaft ein informeller Sammelpunkt nationalsozialistischer Gruppen und Parteien. Beispielsweise wurde Adolf Hitler zu seinem 50. Geburtstag eine Statue Karls XII. überreicht, die vor der Über9 Nach der Auffassung Heuslers war diese Einheit fundamentaler als die zwischen Deutschen. Vgl. Andreas Heusler, Germanentum. Vom Lebens - und Formgefühl der alten Germanen, Heidelberg 1934. 10 Zur Manhem - Gesellschaft und vielen diesbezüglichen Hintergrundinformationen dieses Textes vgl. Lena Berggren, Nationell upplysning. Drag i den svenska antisemitismens idéhistoria, Stockholm 1999. Carlberg hatte mit einer Vielzahl unterschiedlicher Publikationen zu tun, die in Verbindung mit dem Nationalsozialismus standen, wie z. B. Sverige fritt, Dagens eko, Nationell krönika. Er veröffentlichte auch die schwedische Fassung der deutschen Propagandazeitschrift „Signal“, vgl. Fredrik Åström, Carl Ernfrid Carlberg, Samfundet Manhem och Svea rikes förlag, ( C - uppsats ) Umeå 1994. Carlberg soll Schweden für die Waffen - SS rekrutiert haben ( ebd.). 11 Vgl. Jürgen Gimmel, Die politische Organisation kulturellen Ressentiments. Der „Kampfbund für deutsche Kultur“ und das bildungsbürgerliche Unbehagen an der Moderne, Münster 2001. 12 Als Motto unter dem Manhem - Logo, vgl. Samfundet Manhem. Trycksaker ( Arbetarrörelsens arkiv, C. E. Carlberg 1 :1).

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reichung in Deutschland öffentlich ausgestellt wurde. Durch die Manhem Gesellschaft gewann Stockholm ständig eine deutschfreundliche Perspektive der dramatischen Ereignisse in Europa. Die Gesellschaft sah sich als den Erbin des Götiska förbundet von 1811. Geijers und Tegnérs Gedichte waren deshalb von großer Bedeutung, ebenso alle Bezüge zur nordischen Vergangenheit, den Wikingern, nordischer Kunst und alter nordischer Religion. Es gab auch einen gewissen nordischen Sprachenpurismus. Überraschender weise verband Carlberg seine Begeisterung für das „Gotische“, die Wikinger und die einfachen Bauern mit dem „Gymnastisch - hellenischen“. Das Turnen stellte nur eine weitere Dimension von Carlbergs Interessen dar, so gab er eine Zeitschrift mit dem Titel „Gymn“ heraus, in der das Ideal des starken, ( militärisch ) gut ausgebildeten Mannes propagiert wurde. Es wurden regelmäßig Veranstaltungen mit schwedischem und nordischem Profil durchgeführt, bei denen auch Gedichte und Musik eine wichtige Rolle spielten, z. B. die Originalmusik des beliebten Gunnar Hahn mit Texten, die Carlberg selbst verfasst hatte,13 sowie viele nationalistische und das „Arische“ verherrlichende Texte. Die graphischen Symbole der Gesellschaft enthalten Wikinger, Runensteine und schwedische Wälder. Es wurde auch „Kulturkritik“ betrieben, in deren Rahmen man darüber diskutierte, warum schwedische Künstler nicht Werke eines „gotischen“ Geistes schufen, mit Motiven aus der Welt der Asen etc.14 Trotz des starken Interesses an schwedischer und nordischer Kultur bestand ein starker deutscher Einfluss. Viele der Mitglieder waren ebenfalls in nationalsozialistischen Parteien und / oder „deutschfreundlichen“ Verbänden organisiert. Eine der führenden Figuren des schwedischen Nationalsozialismus, Per Engdahl, wurde häufig zu Vorträgen eingeladen. Auch der Rassenbiologe Bertil Lundman aus Uppsala trat regelmäßig als Redner auf, und Dr. jur. Gunnar Prawitz informierte die Zuhörerschaft sowohl über „arische Wanderungen“ als auch über Themen zu „Rasse und Geschichte“.15 Häufig stand auch auf der Tagesordnung offen antisemitische Propaganda, zum Beispiel sprach Eric von Born über jüdischen Imperialismus sowie das „jüdische Problem“, oder Ernst Hagström proklamierte am 31. Mai 1941 die „Front gegen die jüdische Vorherrschaft“; Elof Eriksson sprach ebenfalls über „die jüdische Vorherrschaft in Schweden“.16 Professor Ernst B. Almquist argumentierte, dass es unmöglich sei, „die Juden“ in einen nordischen Staat zu integrieren, man ein Auge auf Rassenvermischung haben müsse und dass „unsere nordischen Talente“ geschützt werden müssten.17 Die unter den Auspizien der 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Samfundet Manhem, Referat av föreläsningar 1935–1939 ( Arbetarrörelsens arkiv, C. E. Carlberg 3 :2). 16 Samfundet Manhem, Trycksaker 1930 - tal ( Arbetarrörelsens arkiv, C. E. Carlberg 1 :1). 17 Ernst B. Almquist, „Judarnes inorganisation i nordisk stat“( Manhem 2 Nov 1935), Samfundet Manhem, Referat av föreläsningar 1935–1939 ( Arbetarrörelsens arkiv, C. E. Carlberg 3:2).

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Gesellschaft veröffentlichten Pamphlete enthalten auch das rassistische Buch „Arische Macht und Judentum. Eine rassenpsychologische und rassenhistorische Studie“, verfasst von Kjell G. Kumlien.18 Bei diesem Buch handelt es sich um ein Stück Pseudowissenschaft, dessen Darlegungen von der „Urheimat“ der Arier im Pamir bis zu den germanischen Stämmen reichen, von denen die nordischen die rassisch reinsten seien.19 Dieses Buch stellt geradezu einen Katalog „völkischer“, rassistisch - nordischer und antisemitischer Vorstellungen dar. Bei den Ariern handele es sich um eine starke Rasse, die sowohl physisch als auch psychisch überlegen sei. Semiten dagegen, besonders Juden, hätten im Verlauf der gesamten Geschichte immer für Probleme gesorgt. Die Juden der antiken Geschichte stellten „eine geschlossene, eiserne Phalanx, eine Panzerfestung geheimer nationaler Einheit“ dar, welche „unterminiert“ und „betrügt“.20 Der Autor liefert eine sehr grobe Beschreibung der Juden, als grundsätzliche Verursacher alles Bösen, und preist Hitler, Göring und Mussolini, deren politische Handlungen er als „vulkanische Eruptionen des gesunden Selbsterhaltungsinstinkts der arischen Völker“ bezeichnet.21 Die Theorie Olaf Rudbecks, dem Urheber des „Manhem“- Begriffs, dass sich das „atlantische Volk von Skandinavien über ganz Europa verbreitet haben soll, wurde vom Vorsitzenden der Manhem - Gesellschaft, Ernst B. Almquist, als „großartig für unser Heimatland“ honoriert und mit der Erwähnung neuerer archäologischer Befunde untermauert.22 Der Antisemitismus der Manhem - Gesellschaft beschränkte sich jedoch nicht nur auf Worte. Im Jahre 1942 wurde ein Projekt begonnen, um die in Schweden lebenden Juden im Rahmen eines „Judenkalendariums“ zu registrieren, welches nach Aussage seiner Initiatoren vielfältig verwendet werden konnte. Man wollte ebenfalls eine Liste mit „kärnsvenska ( Kernschweden )“ erstellen; „kärna“ ( deutsch : Kern ) bezieht sich auf das Kernholz eines Baums. In den Archiven finden sich die Reste von Karteikarten, mit Kästen für „Voll - und Vierteljuden“, mit Ariern verheiratete Juden etc. Es existieren Listen von Juden, Stadt für Stadt; eine weitere Liste enthält eine Auf listung der Juden von Gothenburg,

18 Kjell Kumlien, Arierdöme och judendom. En raspsykologisk och rashistorisk studie. Föreläsningar hållna i Samfundet Manhem våren 1934, Stockholm 1934. Das „G.“ im Namen findet sich nicht im Buch selbst, sondern dient der Feststellung, dass es sich nicht um den schwedischen Historiker Kjell Kumlien handelt. Die Datenbank der Bibliothek gibt „Kumlien, Kjell G., 1893–1941 ( författare )“ an. In Nya Dagligt Allehanda vom 26. 8. 1934 veröffentlichte der Dozent Kjell Kumlien eine Anzeige, die besagte, dass er nicht identisch mit dem Autor des Buches sei. Nach dem Svenska Dagbladet vom 4.11. 1934 war der Autor Schuldirektor und Dr. phil. 19 Kumlien, Arierdöme, S. 6–18. 20 Ebd., S. 18. 21 Ebd., S. 79. 22 Ernst B. Almquist, „Huru skola vi fira Olov Rudbeck. Några inledande ord vid Samfundet Manhems Rubecksafton, fredagen den 17 september 1936“, Samfundet Manhem, Referat av föreläsningar 1935–1939 ( Arbetarrörelsens arkiv, C. E. Carlberg 3:2).

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welche straßenweise registriert wurden. Ebenfalls wurden große Anstrengungen unternommen, Juden trotz Namenswechsel aufzuspüren. Diese Registrierung von Juden diente sicherlich nicht irgendwelchen philanthropischen Zwecken. Listen mit Tausenden von Namen konnten einen sehr praktischen Zweck erfüllen, falls eine Situation wie im damals besetzten Dänemark oder Norwegen eintreten sollte. In jedem Fall konnte ein solches Verzeichnis dabei „hilfreich“ sein, ein Auge auf die Juden zu haben und jede Geschäftstätigkeit mit ihnen zu vermeiden. Glücklicherweise wurde das Register nie veröffentlicht.23 Auch die Theologie spielte eine maßgebliche Rolle in der Manhem - Gesellschaft. Ihr wichtigster Theologe, Pastor Nils Hannerz, war zweiter Vorsitzender der Gesellschaft und hielt dort regelmäßig Vorträge. Er tat dies auch beim Schwedischen Verband für religiöse Reformen, in dem er ebenfalls eine führende Rolle spielte. In einem Artikel aus dem Jahre 1934 beschrieb Hannerz die unterschiedlichen völkisch - religiösen Bewegungen in Deutschland, die er sehr gut kannte.24 Am ausführlichsten beschäftigte er sich mit Hauers Deutscher Glaubensbewegung, wobei er seiner Beschreibung keinerlei Kritik hinzufügte, sondern großes Interesse an ihr zeigte.25 Diese Bewegung war von dem Indologen und ehemaligen protestantischen Pfarrer Jakob Wilhelm Hauer gegründet worden, und obwohl sie leicht mit den Deutschen Christen zu verwechseln ist, unterschied sie sich deutlich von diesen. Während letztere eine Bewegung eines nazifizierten Protestantismus darstellte, präsentierte sich die Deutsche Glaubensbewegung im Jahre 1934 als die neue Religion des „Dritten Reiches“. Im Frühjahrssemester 1934 hielt Hannerz eine Reihe von Vorträgen bei der Manhem - Gesellschaft, die unter dem Titel „Die Worte des lebendigen Gottes. Grundlagen eines protestantischen nordischen Glaubens“ veröffentlicht wurden.26 Er hielt ebenfalls vier Vorträge über „nordische Mythologie“.27 In seiner Beschreibung der protestantischen, nordischen Religion begann er mit dem Bild Gottes. Er stellte fest, dass es sich bei „Gott“ um ein neutrales Wort handele, sowohl in den alten Traditionen Frieslands als auch in der Asen - Religion. Bei Wralda ( Ur - Alda ) handele es sich um einen Schöpfer – der Name bedeutet „der Älteste“ – und eine pantheistische Gottheit, die alles erschaffen und dem Men23 Vgl. Der Spiegel vom 17. 11. 1997, S. 198–201: „Kein Tropfen Judenblut“. 24 Nils Hannerz, Revolutionär religion i Hitlers Tyskland. In : Religion och Kultur, 5 (1934) 1, S. 23–38. 25 Vgl. Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881–1962. Leben, Werk, Wirkung. Mit einer Personalbiographie, Heidelberg 1986; Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung : eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993; Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999, S. 49–107; und Karla Poewe, New Religions and the Nazis, London 2006. 26 Nils Hannerz, Den levande Gudens ord. Grundlinjer för evangelisk nordisk tro, Stockholm 1934. „Evangelisk“ meint hier eher „protestantisch“ als „evangelikal“, welches sich häufig auf den konservativen Protestantismus bezieht. Im Deutschen entspräche „evangelisch“ eher Hannerz’ Vorstellungen. 27 Berggren, Nationell upplysning, S. 398.

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schen ewige Gesetze gegeben habe;28 diese Gottheit sei im Sonnenrad dargestellt. Hannerz fährt damit fort, die Kontinuität von altem germanischen Glauben und Christentum aufzuzeigen, indem er sich auf das Heliand - Epos bezieht. Auch Luther habe versucht, das Evangelium erneut zu germanisieren, welches die Juden hebräisiert, die Griechen hellenisiert und die Römer romanisiert hätten.29 Hannerz beschreibt, wie der deutsche Idealismus versucht habe, dasselbe zu tun, und wie die „moderne“ deutsche Theologie im selben Geiste versuchte, Christus von seinen orientalischen Ketten zu befreien. Er stellt den [damals] gegenwärtigen Kampf auf deutschem Boden dar, wo sich beispielsweise ein Pastor geweigert habe, das Apostolische Glaubensbekenntnis bei der Taufe zu verwenden, worauf ein Sturm konser vativer Kritik gegen ihn entfesselt worden sei.30 Diese Kombination aus protestantisch und nordisch ist typisch für seine Bestrebungen, eine Kontinuität zwischen dem Nordischen und dem Christlichen herzustellen. Hannerz stellte sich eine Reformation des Christentums vor und hielt Deutschland für „wiedergeboren“. Er fragte, was die Kirche tun könne, um diesen Prozess zu unterstützen : Zwei Losungen ( schwedisch : „lösenord“) wurden ausgegeben : „artgemäß“ und „zeitgemäß“. Sie zielten auf drei Dinge ab : 1. Artgemäßes ( das heißt germanisches ) Christentum, 2. lutherischen Geist ( die männliche, urwüchsige Kraft des Bauern ) und 3. heldische Frömmigkeit.31 Es ist eindeutig, dass es sich hierbei auch um Hannerz’ Ideale handelte, da er sie in seine „Richtlinien für einen protestantischen nordischen Glauben“ aufnahm. Sein Christus ist nicht der jüdisch - christliche oder der griechisch - christliche, sondern der „heldische Christus“, der die jüdische Tradition zurückgewiesen habe. Für Hannerz ist es klar, dass Christus kein Jude war; seine Herkunft von David sei eine Legende, und auch sei, so argumentiert Hannerz, Christus niemals mit Plattfüßen, lockigem Haar und krummer Nase beschrieben worden.32 Das Christentum, das Hannerz propagiert, ist für starke Völker gedacht. Er zitiert Ernst Bergmann von der Deutschen Glaubensbewegung, indem er sagt, wenn Christus heutzutage erschienen wäre, dann wäre er vom Kreuz gestiegen und ein moderner Arzt des Volkes und ein Lehrer der Erbgesundheit geworden, der die Sterilisierung der Minder wertigen lehren würde.33 Für Hannerz wird Theologie ebenfalls durch Rasse bestimmt. So stellte er fest, dass die Theologie des Nordmannes Pelagius besser gewesen als die des Afrikaners Augustinus und die Ursünde eine Beleidigung für das germanische Moralempfinden sei.34

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Hannerz, Den levande Gudens ord, S. 6. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10–12. Ebd., S. 15. Ebd., S. 24. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29.

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Wenn er die Situation der Kirche in Deutschland kommentierte, favorisierte Hannerz die neuen Bewegungen und sah den Pfarrernotbund als eine Gefahr für die Gesellschaft an.35 Schließlich zitiert Hannerz den berühmten Kirchenhistoriker Hans Lietzmann, der sich anfänglich begeistert über die revolutionären Umwälzungen innerhalb der deutschen evangelischen Kirche geäußert hatte, da sie dem Protestantismus weltweit neues Leben und Fruchtbarkeit einhauchen würden.36 Die theologischen Vorstellungen der Manhem - Gesellschaft betreffen den Kern der christlichen Theologie. Hannerz’ Theologie konzentriert sich auf Gott, aber wie bereits festgestellt, präsentiert er auch eine neue „heldische Christologie“. Doch ist es vermutlich Carlberg selbst, der den Glauben der Manhem Gesellschaft als den Glauben an „Allfader ( Allfodr, Allvater )“ zusammenfasst, was ein Synonym für Odin oder Wotan ist. Er fährt fort : „Wir weigern uns, Jehova zu bekennen, den raubgierigen jüdischen Stammesgott [...]. Doch wir glauben an Gott, den Allvater Christus’; an den heldischen Christus, an den Heiligen Geist und an unsere eigene wunderbare Mission als Erben des mythischen Manhem, dem heiligen Land der Hyperboräer und alten Goten, der edelsten Wiege kreativer Spiritualität, dem Saatbeet männlicher Kraft sowie Ehre und Glauben.“37 Der Ausdruck „Gott, der Allvater Christus’“ stellt eine Möglichkeit dar, den Glauben gleichzeitig in der nordischen Mythologie und im christlichen Glauben zu verwurzeln. Jesus wird zu einem Über - Mann, zum heldischen Vorbild. Der „Heilige Geist“ ist nicht näher spezifiziert, scheint allerdings unpersönlich zu sein. Interessanterweise ist die nationalistische Vision der Manhem - Gesellschaft in das eigentliche Bekenntnis eingegangen. Dieses kurze „Bekenntnis“, verfasst von Carlberg, bringt den im Rahmen der Manhem - Gesellschaft entwickelten Glauben auf den Punkt, indem er eine Synthese aus Protestantismus und „völkischen“ Religionsvorstellungen konstruiert. Ich verstehe unter „völkischen Religionsvorstellungen“ solche Vorstellungen, die mit der Bekräftigung eines Volkes, seiner historischen Wurzeln sowie seines angeblichen Wesens verbunden und durch sie geformt sind und die konstitutiv für oder komplementär zu anderen religiösen Vorstellungen sind.38 In diesem Fall werden protestantische und völkische Vorstellungen zu einem einzigen Ganzen synthetisiert. 35 Ebd., S. 31. Der Pfarrernotbund war eine Organisation protestantischer Theologen und Laien, die aus Protest gegen die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche entstand. Zum Verhältnis der Bekennenden Kirche zu den Juden vgl. Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. Mit einem Vorwort von Eberhard Bethge, Berlin 1993. 36 Hannerz, Den levande Gudens ord, S. 34. 37 [ Carl Ernfrid Carlberg ], Mera ljus ! Riktlinjer för Samfundet Manhem, Stockholm [1934], S. 4. Hervorhebung im Original. 38 Zur Definition von „völkisch“ vgl. Uwe Puschner, Völkisch. Plädoyer für einen „engen“ Begriff. In : „Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. Hg. von Paul Ciupke / Klaus Heuer / Franz - Josef Jelich / Justius H. Ulbricht, Essen 2007, S. 4–5. Ich halte seine phänomeno-

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Emanuel Linderholm, Douglas Edenholm und der Schwedische Verband für religiöse Reformen (Sveriges Religiösa Reformförbund, SRRF )

Der Schwedische Verband für religiöse Reform war keine politische Organisation, sondern strebte nach einer grundlegende Reform des schwedischen Christentums. Die Bekenntnisse, die Liturgie, das Verständnis von Priestertum und Sakramenten sollten sämtlich reformiert werden, indem man sie von all den alten Elementen reinigte, die dem sogenannten „modernen Menschen“ nicht entsprachen. Allerdings wurden in der Zeitschrift des Verbandes auch Artikel mit eindeutig politischem Inhalt veröffentlicht, die sich positiv zum Nationalsozialismus äußerten. Der Vorsitzende des Verbandes und geistiger Inspirator seiner Vorstellungen war Emanuel Linderholm (1872–1937), Professor an der Universität Uppsala. Sein Sekretär und zugleich enger Mitarbeiter war der Dekan der Kirche von Närtuna, ( Erik ) Douglas Edenholm (1898–1971). Ein häufiger Gast bei Veranstaltungen des Schwedischen Verbandes für religiöse Reformen war Nils Hannerz, der den Verband nicht nur durch seine aktive Teilnahme an den Debatten unterstützte, sondern auch durch das Halten von Vorträgen und die Übernahme von formalen Funktionen. Außer Hannerz gab noch weitere Verbindungen zwischen der Manhem Gesellschaft und dem SRRF. So war es Linderholm, der auf Einladung Carlbergs die Statuten der Manhem - Gesellschaft entworfen hatte, und zudem auch dem akademischen Beirat der Gesellschaft angehörte.39 Die Statuten stellen eine interessante Lektüre dar und erinnern an die oben gegebene Darstellung der schwedischen Nationalideologie.40 Der Entwurf der Statuten betonte die Notwendigkeit eines neuen Nationalbewusstseins und sprach sich gegen den Bolschewismus, die Unmoral und den Internationalismus aus. Die Manhem Gesellschaft solle eine eindeutig schwedische Kultur verkörpern, nämlich die Reichtümer, die im nordischen „Blut und Boden“ ( in Übersetzung direkt aus

logische Beschreibung der vielfältigen Linie des „völkischen“ für hilfreich und sehr passend für das hier beschriebene schwedische Netzwerk : „Charakteristisch für die völkische Bewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sind die verschiedenen, sich teils überlappenden – schwerpunktmäßig antisemitisch, ( lebens )reformerisch, eugenisch / rassenhygienisch, kulturell und religiös ausgerichteten – Teilbewegungen mit Anhängern und Zellen in vielen zeitgenössischen gesellschaftlichen Gruppen und Gruppierungen. Ihre vornehmlich männliche, ( und in Deutschland anders als in Österreich ) protestantische Klientel zeigt ein überwiegend bürgerliches, von altem und neuem Mittelstand geprägtes Sozialprofil. Charakteristisch sind ferner die vielfältigen Austausch und vor allem auch Abgrenzungsprozesse zum konservativen, nationalen und – nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere – zum nationalsozialistischen und zum ,konservativ - revolutionären‘ Lager sowie vor allem auch zu den zeitgenössischen Reformbewegungen und zu einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen ( insbesondere zu Prähistorik, Volkskunde und Altgermanistik ).“ 39 Vgl. Manhem, Årsbok, Stockholm 1935–1936. 40 Archiv der Universitätsbibliothek Uppsala, Linderholm 138, I 27.

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dem Deutschen übernommen ) verborgen seien.41 Es wird argumentiert : „Die Zeit für einen nationalen Sozialismus ist gekommen [...]. Es gibt eine organische nordische Kultur, die aus Blut und Boden erwachsen ist.“42 Linderholm setzt dies gegen die Kultur des Ostens, der Amerikaner und des Bolschewismus – die „Kultur des Ostens“ ist unschwer als die „des Judentums“ zu identifizieren. Im Gegensatz dazu, argumentiert Linderholm, habe unser schwedisches Nationalgefühl einen Sinn für „Treue und Ehre, Freiheit und Ruhm“.43 In einer anderen Fassung der Statuten heißt es, die Schweden seien von „uraltem arischem Stamm“,44 und die Mitglieder der Gesellschaft hätten die Mission, nicht- konfessionelle nordisch - arische Apostel zu sein. Die hier zu erkennenden Bezüge zum Nationalsozialismus sind kein Zufall. In einem Brief an Carlberg erklärte Linderholm, dass er etliche Regalmeter nationalsozialistischer Literatur und Literatur über das „Neue Deutschland“ besitze. Nach Informationen der Universitätsbibliothek der Åbo Akademie, die Linderholms Bibliothek übernommen hat, enthielt sie zwischen 100 und 200 Werke nationalsozialistischer Provinienz.45 Linderholm war sehr gut über die Geschehnisse in Deutschland informiert; er vertrat die Ansicht, dass die kritische Haltung Schwedens gegenüber dem neuen Regime Hitlers zu einseitig sei und dass die Geschichte ein anderes Urteil fällen werde : Eine neue Kulturepoche habe begonnen.46 Er war sich der Maßnahmen gegen Juden, Sozialisten und Kommunisten durchaus bewusst, glaubte aber, dass diese nur vorübergehend seien. Er hielt Hitler für einen Staatsmann und fand freundliche Worte für seine Kirchenpolitik. Selbst auf der schwedischen Kirchensynode verteidigte er öffentlich die Deutschen Christen.47 Unter den Theologen und Kirchenleuten zählten Linderholm und Hannerz zu denjenigen, die die stärksten Sympathien für den Nationalsozialismus äußerten;48 außerdem war Linderholm eine Person mit nationalem Einfluss.

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„Blod och botten“( !); zweimal verwandt, wobei „botten“ eine holprige Übersetzung des deutschen Begriffs „Boden“ darstellt ( ebd., I 7). „Blodet och jorden“ ( ebd., I 8). Tro och heder, frihet och ära” ( ebd.). Stiftelseurkund, S. 1 ( ebd.). Bill Widén, Anteckningar kring Emauel Linderholms bibliotek. In : Böcker, samlingar, bibliotekarier. Några uppsatser utgivna med anledning av ÅAB :s 60 - åriga verksamhet 1919–1979, Åbo 1979, S. 34. Archiv der Universitätsbibliothek Uppsala, Linderholm 58, B 67, S. 1. Kyrkomötets Protokoll 1934 :7, S. 68–69. Die 28 Thesen zur Sächsischen Kirche wurden damit verteidigt, dass auch der berühmte Dogmatiker Reinhold Seeberg sie vertrete. Zu diesen Thesen siehe Walter Grundmann, Die 28 Thesen der sächsischen Volkskirche erläutert ( Schriften der Deutschen Christen ), Dresden 1934. In seiner Dissertation verweist Martin Lind nur auf Göteborgs Stiftstidning und Ivar Rhedin, doch unglücklicherweise übersieht er den nationalsozialistischen Einfluss in der Reformbewegung. Vgl. Martin Lind, Kristendom och nazism. Frågan om kristendom och nazism belyst av olika ställningstaganden i Tyskland och Sverige 1933–1945, Lund 1975. Darauf weist ebenfalls Anders Jarlert, Emanuel Linderholm som kyrkohistoriker, Lund 1987, S. 173, hin, der auch Linderholms Unterstützung der Deutschen

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Als Sekretär des Reformverbands fungierte Linderholms ehemaliger Schüler Douglas Edenholm, der einen akademischen Grad der Universität Uppsala in Religionsgeschichte erworben hatte.49 Edenholm amtierte als Dekan eines ländlichen Dekanats nahe Uppsala und verfasste das am offensichtlichsten am Germanentum orientierte theologische Werk, das von einem Schweden geschrieben wurde.50 Es handelte sich um eine Dissertation, die er an der „braunen Universität“ Jena am 9. Juli 1943 vorlegte. Diese Dissertation wurde von Wolf Meyer - Erlach betreut, Hugo Odeberg aus Lund in Schweden fungierte als Experte für die Beurteilung des schwedischen Materials.51 Die Dissertation trug den Titel „Das germanische Erbe in der schwedischen Frömmigkeit. Eine Studie über den Einfluss der nordischen Seele auf das religiöse Leben, Theologie und Kirche in Schweden mit besonderer Berücksichtigung der althergebrachten Brauchtums der schwedischen Julfeier“.52 Edenholm vertrat in seiner Arbeit die These, dass das Germanentum die Grundlage des Christentums in Schweden darstelle. Er argumentierte, dass beispielsweise seine eigene Kirche in Närtuna an der Stelle eines alten Zentrums des heidnischen Kultes der großen Göttin Nerthus erbaut worden sei :„Für mich stellt dies ein heiliges Symbol der Verbindung zwischen nordischer und christlicher Religion dar, zwischen Germanentum und Christentum. So wie die Kirche wahrscheinlich an der Stelle eines alten nordischen Heiligtums erbaut wurde, und so wie der Runenstein in die Grundmauern der Kirche eingebaut wurde, so stellt das alte Germanentum die uralte Grundlage dar, auf welcher das Christentum in Schweden erbaut ist.“53 Edenholm baute auch rassenbiologische Analysen in seine Dissertation ein. Mit diesem Thema hatte er sich in Uppsala ausführlich beschäftigt und so zog er ethnographische Studien, Beispiele für nordische oder mit dem „Germanentum“ verbundene Mythologien, in Verbindung mit allem heran, was sich dazu in der schwedischen Literaturgeschichte, Theologie etc. finden ließ. Auf diese Weise wollte er aufzeigen, dass die Dimension des Nordischen oder Germanentums die gesamte schwedische Kultur durchziehe. Uppsala stand beim Thema

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Christen und sein Interesse an nationalsozialistischer Literatur aus Deutschland dokumentiert. Teologiska fakultetens protokoll 1927–1928 ( Archiv der Universität Uppsala, Archiv der Theologischen Fakultät, AI :21). Der tatsächliche Titel des Forschungsgegenstands lautete „Teologiska prenotioner och teologisk encyklopedi“ und sein Grad „Licenciat“. Dazu sowie allgemein zur Kooperation zwischen schwedischen Theologen und den Deutschen Christen vgl. Anders Gerdmar, Ein germanischer Jesus auf schwedischem Boden. Schwedisch - deutsche Forschungszusammenarbeit mit rassistischen Vorzeichen 1941–1945. In : Roland Deines / Volker Leppin / Karl - Wilhelm Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich, Leipzig 2007, S. 319–348. Zu Odeberg vgl. Birger Gerhardsson, Fridrichsen, Odeberg, Aulén, Nygren. Fyra teologe, Lund 1994. Erik Douglas Edenholm, Das germanische Erbe in der schwedischen Frömmigkeit. Eine Studie über den Einfluss der nordischen Seele auf das religiöse Leben, Theologie und Kirche in Schweden mit besonderer Berücksichtigung des althergebrachten Brauchtums der schwedischen Julfeier, Diss. Jena 1943. Edenhom, Das germanische Erbe, S. 1.

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Rassenbiologie an vorderster Front. So hatte beispielsweise der spätere Professor für Rassenlehre an der Universität Jena, Hans F. K. Günther, am Rassenbiologischen Institut in Uppsala geforscht und gelehrt, in dem während der 1920er Jahre u. a. 100 000 Schädel vermessen wurden. Edenholm zitierte den deutschen „Rassegelehrten“: Die Schweden seien wahrscheinlich das rassisch reinste Volk der Welt.54 Edenholm verband rassenbiologische Standpunkte mit Motiven der nordischen Ideologie, aber auch die alte nordische Religion war ein wichtiges Feld seiner Arbeit. Außerdem befasste er sich mit Rudbecks „Manhem“ sowie den Werken Geijers und Tegnérs. Wie der Götizismus glorifizierte auch Edenholm den schwedischen Bauern mit seiner Einfachheit und Urkraft. Für Edenholm ist Schweden – zusammen mit Japan – die älteste Nation der Erde. Dass die schwedische Theologie bisher nicht den Beitrag der Rassenbiologie und - psychologie berücksichtigt hatte, bedauerte Edenholm sehr. So fand er germanische Elemente auch in der schwedischen Volkskultur, z. B. in christlichen Traditionen. Er glaubte sogar, die Form des Hakenkreuzes in einem typischen Hefestück zu entdecken, das man mit Safran zu Weihnachten backt. Für Edenholm durchzieht die nordische „Rassenseele“ die schwedische Kultur und das schwedische Christentum : Die schwedische Rassenseele, die geographischen Gegebenheiten, die nordische Geschichte und Ideologie bilden zusammen dieses machtvolle nationale Ferment. Ähnlich wie Emanuel Hirsch und Walter Grundmann bezweifelte Edenholm auch, dass Christus Jude gewesen sei, und argumentierte, es sei nicht ausgeschlossen, dass „griechisch - nordisches Blut in seinen Genen enthalten“ gewesen sei.55 Im selben Artikel propagierte Edenholm den heldischen Christus, von dem auch Hannerz gesprochen hatte.56 Als Führer des Verbandes für religiöse Reformen galt Edenholm nach Linderholms Tod im Jahre 1937 als ein wichtiger Ansprechpartner für die maßgeblichen Theologen der thüringischen Deutschen Christen, mit denen er eng zusammenarbeitete.

54 Ebd. unter Bezug auf Hans F. K. Günther, Rassenkunde Europas. Mit besonderer Berücksichtigung der Rassengeschichte der Hauptvölker indogermanischer Sprache, München 1929, S. 124. Zu Günthers Ernennung als Professor für Sozialanthropologie vgl. „Kämpferische Wissenschaft“, S. 46–49. 55 Edenholm, „Germanskt och kristet“, S. 182–185, Zitat 185. Darin bezieht sich Edenholm auf Emanuel Hirsch, Das Wesen des Christentums. Neu hg. und eingeleitet von Arnulf von Scheliha, Waltrop 2004 (1939); und Walter Grundmann, Jesus der Galiläer und das Judentum, Leipzig 1940. Vgl. auch Gerdmar, Roots of Theological Antisemitism, S. 656–572; Roland Deines, Jesus der Galiläer. Traditionsgeschichte und Genese eines antisemitischen Konstrukts bei Walter Grundmann. In : Deines / Leppin / Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann, S. 43–131; Susannah Heschel, The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Nazi Bible in Nazi Germany, Princeton 2008; sowie ein ausgezeichneter Überblick Martin Leutzsch, Der Mythos vom arischen Jesus. In : Lucia Scherzberg (Hg.), Vergangensheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008, S. 173–186. 56 Edenholm, Germanskt och kristet, S. 179–180.

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Hugo Odeberg und Odal – Samfundet för svensk kulturforskning

Die dritte schwedische Personengruppe, die im vorliegenden Kontext von Interesse ist, ist der Kreis um den Professor für Neues Testament und Judaismusspezialisten Hugo Odeberg in Lund. Odeberg, in schwedischen akademischen Kreisen als „Sonderling“ bekannt und die Verkörperung des introvertierten und geistesabwesenden Professors, zeigte großes unternehmerisches Geschick bei der Zusammenarbeit mit seinen deutschen Kollegen. Er organisierte Reisen nach Deutschland und kooperierte auch mit der deutschen Botschaft in Stockholm. Sein theologisches Profil nach dem Ersten Weltkrieg war konser vativ, doch seine Forschungen während der 1920er Jahre entsprachen eher der Linie der religionsgeschichtlichen Schule. Die von ihm geführte Organisation nannte sich Odal – Samfundet för svensk kulturforskning57 und stellte die organisatorische Plattform für die Zusammenarbeit mit seinen deutschen Kollegen dar. Tatsächlich ist nur sehr wenig über diese Gesellschaft bekannt, und möglicherweise bestand sie hauptsächlich aus Odeberg und dem Kreis um ihn, doch der größte Teil seiner Korrespondenz mit der deutschen Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum trägt den Briefkopf dieser Organisation. Eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Arbeitsgemeinschaft und der Odal – Samfundet för svensk kulturforskning wurde ebenfalls von Odeberg auf schwedischer und den Jenaer Professoren Walter Grundmann sowie Wolf Meyer- Erlach auf deutscher Seite unterzeichnet.58 In einem Manuskript von 1942 befasste sich auch Odeberg mit dem Thema „Germanentum und Christentum“.59 Er wies die Ansicht zurück, dass beide Entitäten nicht miteinander vereinbar seien; es gebe eine Verbindung zwischen ihnen. Es sei von essentieller Bedeutung, so argumentierte er, Rasse, Sprache und Nationalität als Ordnungen der Schöpfung aufrecht zu erhalten. Odeberg zitierte dabei Meyer - Erlach : „Der Sohn zerstört nicht, was der Vater geschaffen hat. Jesus wollte nicht die Rassen und Völker zerstören, die sein Vater erschaffen hatte.“60 Gott habe jedem Christen bestimmte Verpflichtungen gegenüber Familie, Nation und Staat auferlegt, und auch der „germanische Mensch“ müsse seinen Platz im göttlichen Plan finden. Obwohl er an dieser Stelle die Juden nicht erwähnte, muss man Odeberg in seinem historischen Kontext lesen. Seit 1935 waren die Rassegesetze in Deutschland in Kraft, und noch immer hielt er seine Rassenperspektive aufrecht. Für Odeberg war germanisches und christliches Gedankengut über eine lange Geschichte hinweg miteinander verflochten. Allerdings bezieht er sich im Unterschied zu Hannerz oder Linderholm eher auf

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Odal – Gesellschaft für schwedische Kulturforschung. Slg. Hugo Odeberg ( Archiv der Universitätsbibliothek Lund ). Manuskript „Germanentum und Christentum“ in : Slg. Hugo Odeberg ( ebd.). Schwedisch : „Sonen fördärvar icke Faderns verk. Jesus ville inte förstöra de raser och folk, som Hans Fader skapat“. Es gibt keine Seitenangabe zu Meyer - Erlachs Aussage.

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Personen wie Wulfila, Luther und den schwedischen Reformator Olaus Petri anstatt auf Baldur und Odin. Die hier von Odeberg zum Ausdruck gebrachten theologischen Vorstellungen gehören in den Rahmen einer Schöpfungstheologie, wie sie z. B. auch Paul Althaus vertrat,61 und entsprechend der Linie eher konservativer Protestanten in Deutschland hält er eine gewisse Distanz zu nordischen Vorstellungen.62 Dem entsprechend betont auch Odeberg die Bedeutung des „Germanentums“, doch anscheinend mit einer anderen Betonung als z. B. Hannerz oder Linderholm. Nichtsdestotrotz trug er entscheidend zur Förderung der Zusammenarbeit und zum Brückenbau zwischen dem schwedischen Netzwerk und den Theologen in Jena - Eisenach bei.

4.

Die Brücke nach Thüringen, der braunen Hochburg der „Deutschen Christen“

Odeberg und seine Odal - Gesellschaft unternahmen mehrere Reisen zu Konferenzen in Deutschland, von denen einige durch die Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum organisiert wurden. Diese hatte ihren Sitz in Jena, wo Meyer - Erlach Professor und ehemaliger Rektor der Universität war. Es gab auch eine Kooperation mit dem Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Eisenach, dessen akademischer Leiter Walter Grundmann war. Dieses Institut, das von Susannah Heschel gründlich erforscht worden ist,63 stellte eine Basis der nazifizierten Theologie dar. Thüringen war als eine Hochburg des Nationalsozialismus bekannt und wurde als Mustergau der NSDAP bezeichnet.64 Die Universität Jena galt als Musterbeispiel einer nationalsozialistischen Universität. Wie erwähnt war die Verbindung zwischen Jena und Upsala in den 1920er Jahren, als Hans F. K. Günther auf Einladung von Herman Lundborg, einem Pionier der Rassenbiologie, an der Universität Upsala geforscht hatte (1925–1928), besonders eng. Ebenfalls bekannt ist, dass sowohl Edenholm als auch die Manhem - Gesellschaft ein starkes Interesse an der Rassenbiologie besaßen. Doch es waren die Theologen, die eine langfristige Kooperation zwischen schwedischen Akademikern und ihren thüringischen Kollegen aufbauen woll61

Vgl. Robert P. Ericksen, Theologians under Hitler : Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch, New Haven 1985, S. 100–105. 62 Dies gilt für Odebergs Freunde und Kollegen Gerhard Kittel und Adolf Schlatter, vgl. Gerdmar, Roots of Theological Antisemitism, S. 415–418 und 292–300. Dort kann man Schlatters Widerstand gegen das, was er als Heidentum im Nationalsozialismus ansah, nachlesen, allerdings auch seine Bemühungen, einen Dialog mit den Deutschen Christen zu beginnen. 63 Heschel, The Aryan Jesus. Vgl. auch Deines / Leppin / Niebuhr ( Hg.), Walter Grundmann. 64 Uwe Hoßfeld, Jürgen John, Rüdiger Stutz, Zum Profilwandel der Jenaer Universität in der NS - Zeit. In : Hoßfeld / John / Lemuth ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“, S. 49.

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Anders Gerdmar

ten. Es scheint, dass zumindest einige der Reisen von deutschen Behörden finanziell unterstützt wurden. So erhielt Odeberg ein Honorar, ebenso wurden ihm auch sämtliche Kosten für die Vorbereitung erstattet, z. B. für eine Fahrt nach Stockholm.65 Die Nordische Arbeitstagung für germanisches Geistesleben fand 1941 in Weißenfels statt, einem Ort, der in der schwedischen Geschichte mit Gustav Adolf II. verbunden ist. Von schwedischer Seite nahmen Odeberg, Hannerz, Edenholm, Åke Ohlmarks, ein Vikar aus Südschweden, sowie etwa zwanzig weitere Personen, meist Studenten, teil; Emanuel Linderholm war bereits 1937 verstorben. Es gab nur drei weitere nicht - deutsche Teilnehmer, während die Deutschen mit beinahe 100 Anwesenden die Mehrheit stellten, darunter mehr als zehn Professoren, viele Kirchenführer und Kleriker.66 Odebergs wichtigster Kontaktmann war Wolf Meyer - Erlach, der die einigende Kraft des Germanentums herausstellte. So schreibt er in einem Brief an Odeberg : „Ich bin sehr erfreut, dass Sie die Arbeit so tapfer fortführen. Unser Kampf dient der Wiedergeburt des Germanentums, der Wiederauferstehung des nordischen Geistes. Es macht mich glücklich, wenn ihr Schweden den Geist unserer gemeinsamen Herkunft aufgreift.“67 Nach den Konferenzen wurden die entsprechenden Beiträge in mehreren Bänden veröffentlicht, der erste unter dem Titel „Die völkische Gestalt des Glaubens“. In der Einleitung ist zu lesen, dass die nordischen und deutschen Völker sich in einer „Schicksalsgemeinschaft“ befänden, die auf dem gemeinsamen Blut des „Germanentums“ fuße.68 Die Themen der Konferenzen schlugen Verbindungen zwischen Deutschland und Schweden, wie zum Beispiel „Luther und Gustav Adolf“. Die sogenannte Rassenforschung und Beiträge zum Judentum standen ebenso auf dem Programm, wie Themen, die darauf abzielten, die tiefen gemeinsamen Wurzeln von „Germanentum“ und nordischer Ideologie aufzuzeigen. Edenholm hielt einen Vortrag über „Das germanische Erbe in der schwedischen Frömmigkeit“, Ohlmarks über „isländische Sagas und ihr Konzept der Ehre“. Eschenbachs Parzival wurde genauso erwähnt, wie die Bedeutung des Heliand - Epos als ein Beispiel einer Interpretation des Evangeliums im germanisch - deutschen Geiste. Die zweite Konferenz (1942) behandelte Themen wie Wolframs „Parzival“, Goethes „Faust“ ( Grundmann ), die Religionsphilosophie Pontus Wikners ( Odeberg ), Novalis ( Heinz Erich Eisenhuth ), „Thule und Seherin“ ( Prof. Wilhelm Koepp über die Völuspá ), das Heliand - Epos ( Dr. Roth, Lund ) sowie alter nordischer Glaube im Leben und der Eschatologie ( Axel Ahlman, Lund ). Aber auch an Kriegsrhetorik fehlte es in diesem dritten Kriegsjahr nicht. So sprach Meyer-

65 Slg. Hugo Odeberg ( Universitätsbibliothek Lund ). 66 LKA Eisenach, DC III, 2a. Verzeichnung der Teilnehmer. 67 Meyer - Erlach an Odeberg vom 26. 1. 1942 ( Slg. Hugo Odeberg, Universitätsbibliothek Lund ). 68 Walter Grundmann ( Hg.), Die völkische Gestalt des Glaubens, Leipzig 1943, Vorwort.

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Germanentum als Überideologie

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Erlach über den „Norden“ als die dominierende Macht im Ostseeraum.69 Er bezog sich auf die alten Kämpfe der Wikinger und Waräger im Osten, aber auch auf die aktuelle Situation in Finnland. Da die Operation „Barbarossa“ im Juni 1941 begonnen hatte, waren die Nationalsozialisten darauf erpicht, sich der schwedischen Unterstützung für ihre Feldzüge im Osten zu vergewissern. Walter Grundmann stellte seinen Vortrag über „die antike Religion im Lichte der Rassenforschung“ ebenfalls in diesem rassisch - politischen Rahmen.70 Er begann mit der „deutschen Revolution“ von 1933 und endete mit der Feststellung, dass Rasse und Blut der Schlüssel zur Weltgeschichte seien.71 Sein Projekt bestand darin, Christus von unterschiedlichen „Schichten“ zu befreien, die er in unterschiedlichen Rassenumfeldern angenommen habe : Griechentum, Römertum, alttestamentarisches Judentum. Auch wollte er zeigen, was deutsche Frömmigkeit ausmacht. In Grundmanns Darstellung wird Rasse zum zentralen Parameter für das Verständnis von Religion. Seine Theologie entwickelte sich mehr und mehr in eine synkretistische Richtung, was sich am deutlichsten in dem Werk „Mythos und Frohbotschaft“72 zeigt, das angefüllt ist mit nordischer Mythologie und in dem Gottes Königreich das rassenhygienisch reine Königreich ist. Drei Themenkomplexe vereinten das schwedische und das nationalsozialistische deutsche Netzwerk : Germanentum und das Interesse an alter nordischer Mythologie und Ideologie; eine vergleichsweise liberale theologische Haltung (der theologisch eher konservative Odeberg konnte sich wegen seines Interesses an Deutschland und dem Germanentum anschließen, auch wenn vieles bei ihm rätselhaft bleibt ). Der dritte Aspekt war der Nationalsozialismus. Das deutsche Umfeld bot den Schweden auch die Freiheit, ihre germanischen bzw. nationalsozialistischen Sympathien deutlich zum Ausdruck zu bringen; so argumentierte Odeberg innerhalb dieses Umfelds wesentlich offener rassistisch als in anderen Zusammenhängen.73 All das, was man zu Hause in Schweden nur im Flüsterton sagte, konnte in Deutschland bzw. in der Korrespondenz mit den Kollegen aus Thüringen in voller Freiheit ausgesprochen werden.

69 „Der Norden als gestaltende Macht im Ostseeraum“. Bericht über den Vortrag ( BArch, R 4901, Band 2966, 216). 70 Walter Grundmann, Die antike Religion im Lichte der Rassenkunde. In : ders. ( Hg.), Die völkische Gestalt des Glaubens, Leipzig 1943, S. 23–100. 71 Grundmann, Die antike Religion, S. 100. 72 Walter Grundmann, Mythos und Frohbotschaft. In : Germanenchristentum. Der Halberstädter Dom und seine Bildwerke als Zeugnisse deutscher Frömmigkeit. Mit einer grundsätzlichen Einleitung : Mythos und Frohbotschaft von Dr. Walter Grundmann, Jena 1938, S. 7–17. Vgl. auch Gerdmar, Roots of Theological Antisemitism, S. 549–553. 73 Vgl. Gerdmar, Ein germanischer Jesus.

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5.

Anders Gerdmar

Germanentum und nordische Ideologie als Bindemittel

Zweifelsohne stellten das Germanentum ( einschließlich alter nordischer Mythologie ) und die nordische Ideologie die Kernthemen dieser Konferenzen dar. Die ständigen Bezugnahmen auf eine gemeinsame Vergangenheit, Religion und Ideologie dienten als Scharnier und hatten die Funktion einer „Überideologie“, die Deutsche und Schweden sowie bestimmte theologische Varianten miteinander verband. Mit dem Begriff „Überideologie“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass eine derartige Ideologie für die Beteiligten fundamental war. Die rassischen Wurzeln und die gemeinsame Herkunft gingen tiefer als bestimmte moderne kulturelle oder theologische Streitpunkte. Allerdings war das Interesse an diesen Themen keineswegs nur akademischer Natur, sondern es wurde in einen rassenpolitischen Rahmen eingebunden. Das historisch - ideologische Paket aus Germanentum und dem Nordischem war untrennbar mit der kriegspolitischen Agenda der Zeit verbunden. Nach der Konferenz von Weißenfels bat Douglas Edenholm in einem Brief an Meyer - Erlach um die schleunige Publikation der Konferenzergebnisse und schrieb, die Tage von Weißenfels hätten sein Bewusstsein für „die Schicksalsgemeinschaft [...] von Nord - und Südgermanen“ geschärft und hätten auch dem Zweck gedient, Schweden wieder zu einer „germanischen Haltung“ zu bringen.74 Die Konferenz war ein Stück „Gegenpropaganda“. Edenholm beklagte sich, Schweden werde von der Propaganda der „Feinde Deutschlands“ ( später präzisiert als „die Engländer, die Amerikaner und die Juden“) über wältigt, und stellte fest, Vorträge wie jene in Weißenfels seien dazu geeignet, dem Treiben der Feinde in Schweden zu begegnen, „da sie das germanische Erbe in uns ansprechen“.75 Auch Odeberg bat die Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum darum, die Vorträge von Weißenfels in Schweden zu veröffentlichen, wobei er ganz ähnlich argumentierte.76 Offensichtlich waren diese Schreiben Teil einer Kampagne, um die Vorträge trotz der kriegsbedingten Papierknappheit veröffentlichen zu können. Doch das Interessante ist, dass die kulturell - religiösen Inhalte der Konferenz als eine Waffe in einer kulturell - ideologischen Auseinandersetzung angesehen wurden, parallel zu derjenigen auf dem Schlachtfeld zwischen Deutschland und den Streitkräften der Alliierten. Edenholm schloss mit einem Zitat von Goebbels : „Das Buch ist ein Schwert [...]. Geben Sie uns dieses Schwert in die Hand, indem Sie die Vorträge von Weißenfels veröffentlichen !“77 Und Nils Hannerz schrieb : „Es ist richtig, dass Ihre Arbeit mit dem Germanentum beginnt, dem wir gemeinsam angehören. Und dabei zeigt sich, dass Ihr Schicksal unser Schicksal sein muss, und Ihr Kampf unser Kampf [...] auf der

74 75 76 77

Edenholm an Meyer - Erlach vom 13. 10. 1942 ( LKA Eisenach, DC III, 2a ). Ebd. Odeberg an Meyer - Erlach vom 14. 10. 1942 ( ebd.). Edenholm an Meyer - Erlach vom 13. 10. 1942 ( LKA Eisenach, DC III, 2a ).

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Germanentum als Überideologie

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Konferenz von Weißenfels wurde die enge Bindung zwischen den erwähnten Germanen im Norden und im Süden gründlich nachgewiesen.“78 Dem entsprechend wurde die Ideologie des „Germanentums“ als ein Bindeglied zwischen Nordgermanen ( z. B. Schweden und Finnen ) und Südgermanen ( hier : Deutschen ) angesehen, und zwar in Bezug auf ihre Geschichte, ihr Erbe, ihre Ideologie und konnte ebenso in Bezug auf die aktuelle Lage im Krieg angewandt werden. Auch deutsche Behörden haben diese Kooperation unterstützt, teilweise sogar finanziell. So befürwortete der Chef der Sicherheitspolizei und des SD in einem Schreiben an das Auswärtige Amt die Erteilung von Visaanträgen. Es liege im deutschen Interesse, der britischen Einflussnahme auf die schwedischen Kirchen entgegenzuwirken und eine Gruppe solcher Theologen in Skandinavien zu haben.79 Die deutsche Linie ergibt sich eindeutig aus diesen Dokumenten. Das Kirchliche Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche unternahm ähnliche Anstrengungen, um Kontakte zum Norden aufzubauen. Im Jahre 1940 formulierte dessen Leiter, Bischof Theodor Heckel, einen Plan „zur kulturellen Umgestaltung Europas“, um den Einfluss der Angelikanischen Kirche zu schwächen und in Skandinavien stärkere Bande zu Deutschland zu knüpfen.80 Die Konferenzen unter den Auspizien der Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum waren Teil einer umfassenden deutschen Kriegspropaganda. Das „Germanentum“ stellte ein perfektes ideologisches Bindemittel dar, um süd - und nordgermanische Theologen und Kirchenleute zusammenzuschweißen. Wie bereits bei der Manhem - Gesellschaft bildeten die alten Mythen der Goten – Atland, Scandza, der Allvater, die Völuspa –, verbunden mit der Ideologie eines rassisch reinen und heldenmütigen Volkes im Norden, das Band dafür, um die Germanen der Moderne aneinanderzubinden. Diese Studie zeigt auch, wie man völkische Religion und liberales Christentum zu einem synkretistischen Ganzen vereinen konnte, allerdings mit einem völkisch definierten, das moderne Landesgrenzen überschreitet und über ihnen steht, wobei „Germanentum“ und nordische Ideologie eine Einheit bilden. Doch letztendlich diente die Entwicklung einer nordischen Ideologie des Germanentums im Rahmen der Manhem - Gesellschaft, durch die Theologen Linderholm und Edenholm, und auf den Konferenzen in Thüringen politischen Zwecken. Nils Hannerz drückte es so aus : „Eure Arbeit setzt ganz richtig an bei dem Germanentum, zu dem wir ja gemeinsam gehören. Und es zeigt damit, dass Euer Schicksal unser Schicksal und Euer Kampf unser Kampf sein muss.“81

78 Hannerz an Meyer - Erlach vom 13. 10. 1942 ( ebd.). 79 Chef der Sicherheitspolizei und des SD an Auswärtiges Amt vom 1. 10. 1942 ( Auswärtiges Amt, Politisches Archiv, Inland I - C, 4689). 80 Zu dieser Kooperation vgl. Eino Murtorinne, Die finnisch - deutschen Kirchenbeziehungen 1940–1944, Göttingen 1990. 81 Hannerz an Meyer - Erlach vom 13. 10. 1942 ( LKA Eisenach, DC III, 2a ).

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„Spiegelbild des neuen organischen, erdnahen und blutvollen Lebensgefühls“. Die völkisch - religiösen Strömungen aus Sicht der Apologetischen Centrale Matthias Pöhlmann

„Es wird immer deutlicher, dass wir in einem Kampfe der Weltanschauungen und Religionen von einem Ausmaße stehen, wie ihn nur wenige Zeitgenossen gesehen haben. Es ist höchste Zeit, dass die christliche Kirche diesen Kampf bewusst und planmäßig aufnimmt und ihre Glieder dafür ausrüstet.“1 Diese Sätze stammen aus der Feder des ersten Leiters der Apologetischen Centrale (AC), Carl Gunther Schweitzer.2 Diese Kampfmetaphorik sollte die späteren Veröffentlichungen dieses Instituts begleiten. Sieben Jahre zuvor, im Jahre 1921, war die AC vom Central - Ausschuss für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin gegründet worden.3 Volksmission, öffentliche Mission und Apologetik waren für den damaligen Verbandsprotestantismus die entscheidenden Motive für diesen Schritt. Das Institut sollte die zeitgenössischen religiös - weltanschaulichen Strömungen und Sekten beobachten und sich mit ihnen theologisch und publizistisch auseinandersetzen. Die Arbeit der AC stand 1 2 3

Carl Gunther Schweitzer, Antwort des Glaubens. Handbuch der neuen Apologetik, 2. Auflage Schwerin 1929, S. 9. Zur Biografie Schweitzers vgl. Peter Noss, Art. Schweitzer, Carl Gunther. In : BBKL, IX (1995), S. 200–210; Eberhard Röhm / Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Band 2/ II (1935–1938), Stuttgart 1992, S. 212–225. Zur Geschichte der Apologetischen Centrale vgl. Harald Iber, Die Apologetische Centrale und der Centralausschuss für die Innere Mission. Zur Geschichte der Apologetischen Centrale bis 1934. In : Theodor Strom / Jörg Thierfelder ( Hg.), Diakonie im „Dritten Reich“. Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, S. 108–124; zur Auseinandersetzung ab 1934 vgl. ders., Christlicher Glaube oder rassischer Mythus. Die Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, Frankfurt a. M. 1987; Rainer Lächele, Apologetik zwischen Konfrontation und Dialog. Von der Apologetischen Centrale zur Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. In : Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 95 (1995), S. 232–262; Matthias Pöhlmann, Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921–1937), Stuttgart 1998; ders., Weltbildwandel im Spiegel symptomatischer Leitbegriffe. Verbandsprotestantische Krisenbewältigung zwischen „Geisteskampf“ und „Dienst am Volksganzen“ von 1900 bis 1932. In: Manfred Gailus / Hartmut Lehmann ( Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 81–102.

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Matthias Pöhlmann

ganz in der Tradition Johann Hinrich Wicherns, der im 19. Jahrhundert die Kirche an ihre soziale Verantwortung erinnert und dabei auch publizistische wie apologetische Initiativen zur Volksbildung eingefordert hatte.4 Aus heutiger Sicht verfügte die AC über die wohl umfangreichste Sammlung von Originalmaterialien der damaligen verschiedenen Gruppierungen und Strömungen.5 Im Folgenden wird vor dem Hintergrund der Vorgeschichte und Arbeitsweise des Instituts die Auseinandersetzung mit den völkisch - religiösen Strömungen in den Blick genommen. Bei den Beobachtungen der AC handelt es sich naturgemäß um eine verbandsprotestantische Außenperspektive. Leitendes Interesse dieses Instituts war der Versuch, die verschiedenen Gruppen zu beobachten und theologisch zu beurteilen.

1.

Beobachtungsposten, Dokumentations - und Auskunftsstelle

Rückblickend lassen sich in der Geschichte der AC zwei Phasen unterscheiden, die durch die Zeitumstände und nicht zuletzt durch die Amtszeit ihrer jeweiligen Direktoren, Carl Gunther Schweitzer (1922 bis 1932) und Walter Künneth (1932–1937), geprägt waren : Die erste Phase umfasst den Zeitraum von 1921 bis 1932, von der Gründung bis zum Rücktritt ihres Direktors Schweitzer wegen des sogenannten DevaheimSkandals. Der Rücktritt war notwendig geworden, weil es bei der Devaheim Bausparkasse, die eng mit dem Central - Ausschuss kooperierte, zu einer drastischen Finanzkrise gekommen war. Deshalb mussten 1932 alle Direktoren des Central - Ausschusses geschlossen zurücktreten. Schweitzer war gezwungen, sein Amt als Leiter der AC niederzulegen, obwohl er persönlich in den Skandal nicht verwickelt war. Seine Zeit war insbesondere geprägt von Aufbau - und Koordinierungstätigkeiten im Bereich der vielfältigen apologetischen Initiativen innerhalb des deutschen Protestantismus. Schweitzer entwickelte maßgeblich die Programmatik und das Leitbild der AC. Mit dem Beginn der Weimarer Republik endete das Bündnis von Thron und Altar. Nicht nur die Kirchenaustrittsbewegung, sondern auch Okkultismus, Esoterik, freireligiöse und völkisch - religiöse Gruppen sowie politische Ersatzreligionen stellten die praktische Apologetik vor neue Herausforderungen. Diesen Weltanschauungen und Sekten wollte Schweitzer die „Antwort des Glaubens“ gegenüberstellen. Sein apologetisches Programm sah neue Wege vor. Die AC sollte keine Defensiv - Apologetik, wie sie Jahrzehnte zuvor betrieben worden 4 5

Vgl. Matthias Pöhlmann, Johann Hinrich Wicherns vergessenes Erbe. Impulse für eine evangelische Apologetik zwischen Innerer Mission und Publizistik. In : Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ( EZW ), 4/2008, 125–133. Die bis 1990 als verschollen gegoltenen Archivalien bzw. deren übrig gebliebener Restbestand sind jetzt wieder im Archiv des Diakonischen Werkes ( ADW ) in Berlin zugänglich. Ein kleiner Restbestand lagert noch immer im sogenannten Sonderarchiv in Moskau.

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Die völkisch-religiösen Strömungen

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war, sondern ein vom Zentrum des Glaubens her argumentierendes Vorgehen praktizieren. Schweitzer wollte positive Aufbauarbeit leisten, indem er eine einheitliche christliche Weltanschauung zu entwickeln versuchte. 1926 siedelten die inzwischen sechs Mitarbeiter von Dahlem in das Spandauer Johannesstift über, um dort in Zusammenarbeit mit der Bildungsabteilung und der Fichtegesellschaft Schulungslehrgänge und Vortragsreihen abhalten zu können. Die Einrichtung eines Pressearchivs, der Stelle einer Pressereferentin ( Dora Hasselblatt ) sowie der Aufbau einer Fachbibliothek ermöglichten den Mitarbeitern des Spandauer Instituts eine kontinuierliche Beobachtungs - und Auskunftstätigkeit. 1928 listete Schweitzer im Anhang seines apologetischen Handbuches die wichtigsten zeitgenössischen geistigen Strömungen und religiösen Gemeinschaften auf. Hierzu zählten : Adventisten, Anthroposophen, Baptisten, Ernste Bibelforscher, Buddhisten, Christengemeinschaft, Darbisten, Freidenker, Lorberianer, Lorenzianer, Mennoniten, Methodisten, Mormonen, Neu - Apostoliker (Irvingianer ), Okkultisten, Pfingstbewegung, Quäker, Geistchristliche Religionsgemeinschaft, Theosophen, Weißenbergianer sowie die Christliche Wissenschaft.6 Die Übersicht der AC nannte neben den jeweiligen Zeitschriftentiteln auch die Verlagsanschrift. Erstmals tauchten in dieser Zusammenstellung auch völkisch - religiöse Gruppen wie der Tannenbergbund mit seiner Zeitschrift „Deutsche Wochenschau ( Völkische Feldpost )“ – die Keimzelle der späteren Ludendorff - Bewegung – sowie der 1911 in Hamburg gegründete Schafferbund bzw. Deutsche Schaffer - Orden7 auf. Letzterer hatte seine Wurzeln vermutlich im Biosophischen Bund, der 1908 von Willy Schlüter8 gegründet worden war. Seine Zeitschrift „Die Lebensschule. Monatsschrift für Persönlichkeitspflege in deutschen Lebensgemeinschaften“ wurde von dem Gründer und „Heilpädagogen“ Carl Weißleder im Schaffer - Verlag in Hamburg herausgegeben. Der Schaffer - Bund war eng mit der Germanischen Glaubens - Gemeinschaft verbunden und besaß Siedlungen in Freiburg / Br., Rostock und Hamburg.9 6 7

8

9

Schweitzer, Antwort des Glaubens, S. 248–256. Nach Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 241 f., verband der Deutsche Schafferbund „unter dem Motto ‚Für deutschvölkische Einheit, Reinheit und Freiheit !‘ in sogenannten Schaffergemeinden in Deutschland und Österreich ‚seelenhygienische Lehren‘ ( Heilmagnetismus, Hypnose etc.) mit rassehygienischen beziehungsweise – züchterischen Forderungen und verbreitete diese mit dem Ziel der ‚Heranbildung selbstschöpferisch gestalteter Persönlichkeiten im deutschen Volk‘“. Weitere Ziele waren : Deutschvölkische Einheit, Reinheit und Freiheit, Deutschvölkisches Seelen - , Sippen - und Siedlungsleben, außerdem Neudenken, Heilmagnetismus, Suggestion, Hypnotismus und Charakterkunde. Anfang der 1920er Jahre gab es etwa zwei Dutzend Schaffergemeinden in Deutschland und Österreich. Zu Willy Schlüter ( eigentlich Friedrich Wilhelm Martin Schlüter ) vgl. insgesamt Christoph Knüppel, Vom Anarchisten zum deutschen Tatdenker. Der Lebensweg Willy Schlüters und seine Freundschaft mit Ferdinand Tönnies. In : Tönnies - Forum, 7 (1998) 2, S. 3–103, und 8 (1999) 1, S. 36–75. Erhard Schlund, Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland ( Nachdruck der 2. Auf lage 1924), München o. J., S. 53.

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Matthias Pöhlmann

1931 verfügte die Centrale bereits über 700 Sammelmappen und über Materialien von 150 verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Gruppen. Von April bis Dezember 1932 erteilte die AC rund 1 000 Auskünfte. Ab 1925 erschien die Fachzeitschrift „Wort und Tat“ mit dem Untertitel „Hefte der Apologetischen Centrale für evangelische Weltanschauung und soziale Arbeit“, die die Leser kontinuierlich über aktuelle Entwicklungen auf dem Weltanschauungssektor informierte. Hinzu kamen Buchpublikationen mit Überblicksdarstellungen zu Hintergründen und Erscheinungsformen zeitgenössischer Ideologien, Religionen und Weltanschauungen, wie z. B. das zweibändige Werk „Das religiöse Deutschland der Gegenwart“ (1928/29) oder das mehrfach aufgelegte Handbuch „Freidenkertum und Kirche“ (1932).10 Auch Rundfunk, Film und Lichtbild wurden als Medien der neuen Apologetik eifrig genutzt. Neben der sogenannten Sektenabwehr spielte ab Anfang der 1930er Jahre die Auseinandersetzung mit Freidenkern und völkisch - religiösen Gruppen eine immer wichtigere Rolle. Gleichzeitig wurde die Schulungsarbeit für kirchliche Mitarbeiter, die sogenannte Laienschulung, systematisch aufgenommen. Dieser Ausbau wurde 1931 durch den Devaheim - Skandal jäh gestoppt. Schweitzer verlor unverschuldet seinen Direktorenposten im CentralAusschuss und schied aus der Arbeit der Centrale aus. Ab 1932 übernahm der bisherige, seit 1927 dort tätige Assistent Schweitzers, der bayerische Theologe Walter Künneth, die Leitung des Instituts. Künneth hatte sich 1930 im Fach Systematische Theologie an der Berliner Universität habilitiert und war dort Privatdozent.11 Die AC musste 1932 infolge drastisch gekürzter Mittel für wenige Monate von Spandau nach Dahlem, dem damaligen Sitz des Central - Ausschusses, übersiedeln. Eine entscheidende Zäsur der Arbeit bedeutete das Jahr 1933. Nach anfänglichen Versuchen Künneths, die AC zur Reichszentrale auszubauen und sich mit den nationalsozialistischen Machthabern zu arrangieren, wurde die Arbeit durch den „totalen Weltanschauungsstaat“ zunehmend eingeschränkt und durch das Verbot 1937 vollständig zum Erliegen gebracht. In den Mittelpunkt der Arbeit in den Jahren von 1932 bis zum Ende der AC trat neben die innerkirchliche Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen, die in die Verbandsstruktur der Inneren Mission eingedrungen waren, der „Abwehrkampf“ gegenüber den völkisch - religiösen Strömungen und die Auseinandersetzung Künneths mit dem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ des NSDAP - Chef ideologen Alfred Rosenberg. Seit der Machtübernahme wurden die publizistischen Möglichkeiten der Apologetischen Centrale zunehmend eingeschränkt. Zunächst blieb allerdings die Hoffnung lebendig, dass der „nationale Aufbruch“ den Weimarer Weltanschau-

10 Carl Schweitzer ( Hg.), Das religiöse Deutschland der Gegenwart. Ein Handbuch für jedermann, Band 1 und 2, Berlin 1928–1929; ders./ Walter Künneth ( Hg.), Freidenkertum und Kirche. Ein Handbuch, Berlin 1932. 11 Zur Biografie Künneths vgl. Jochen Eber, Art. Walter Künneth. In : BBKL, XX (2002), S. 886–895.

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Die völkisch-religiösen Strömungen

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ungspluralismus überwinden und der Kirche zur Festigung ihrer Position in der Öffentlichkeit verhelfen könne. Bereitwillig stellten die Mitarbeiter der Apologetischen Centrale unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers dem Reichsinnen - und Propagandaministerium sowie der Geheimen Staatspolizei Material über die politische Haltung verschiedener religiöser Gemeinschaften zur Verfügung. Damit erwies sich die Spandauer Stelle für mehrere Monate als Erfüllungsgehilfin im Kampf des NS - Regimes gegen Feinde des „totalen Weltanschauungsstaates“. Künneth rief als Gegenreaktion auf die Kirchenthesen der Deutschen Christen vom 4. Mai 1933 gemeinsam mit Martin Niemöller und Hanns Lilje die Jungreformatorische Bewegung ins Leben. Ihr diente die AC in den folgenden Monaten als Geschäftsstelle. Am 10. Dezember 1937 wurde die Apologetische Centrale durch die Gestapo geschlossen. Zur Begründung hieß es : „Im Einvernehmen mit dem Herrn Reichs - und Preussischen Minister für die kirchlichen Angelegenheiten wird die Apologetische Centrale Berlin - Spandau, Johannesstift, auf Grund des § 1 der Verordnung des Herrn Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, aufgelöst und verboten.“12 Die eigentlichen Gründe für die Schließung sind rückblickend evident : Künneth hatte sich kritisch mit dem Werk Rosenbergs über den „Mythus des 20. Jahrhunderts“ befasst und eine Erwiderung veröffentlicht.13 Hinzu kam, dass die Centrale den Machthabern ohnehin ein Dorn im Auge war, weil sie sich als eine der wichtigsten Publikationsstellen und Fortbildungsstätten der Bekennenden Kirche erwiesen hatte.

2.

Beobachtung, Schulung, Publizistik

Bereits Jahr 1923 veröffentlichte der katholische Theologe Erhard Schlund in einem Münchener Verlag die Broschüre „Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland“. Innerhalb von vier Wochen war die Erstauf lage mit 28 000 Exemplaren vergriffen. Schlund konstatierte eine „religiöse Welle“, eine „Rückkehr der Religion“, die sich aber nicht in einer Rückkehr zum Christentum oder zur Kirche manifestiere.14 Vor diesem Hintergrund konzentrierte er seine Analyse auf die „Nationalisierung und Germanisierung der Religion“ und auf die sogenannten neugermanischen ‚Kirchen‘. Dabei musste er feststellen : „Eine übersichtliche und vor allem lückenlose Darstellung der bis jetzt entstandenen neugermanischen Kirchen bietet freilich keine kleinen Schwierigkeiten. Abgesehen davon, dass selbstverständlich nirgends irgendwelche amtlichen oder nichtamtlichen Sta-

12 Geheime Staatspolizei an Künneth vom 8. 12. 1937 ( ADW, CA 417 d I b ). 13 Walter Künneth, Antwort auf den Mythus. Die Entscheidung zwischen dem nordischen Mythus und dem biblischen Christus, Berlin 1935. Vgl auch ders., Evangelische Wahrheit ! Ein Wort zu Alfred Rosenbergs Schrift „Protestantische Rompilger“, Berlin 1937. 14 Schlund, Neugermanisches Heidentum, S. 7 f.

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tistiken oder Zusammenstellungen existieren, ist es oft sehr schwer, die einzelnen kirchlichen oder kirchenähnlichen Gemeinschaften auseinander zu halten. Oft wechseln solche Kirchen den Namen; ein anderes Mal bestehen zwei Kirchen mit fast genau gleichen Anschauungen, ja fast gleichlautenden Namen nebeneinander, die aber doch voneinander verschieden sind. Dann sind viele so klein, dass sie kaum Beachtung verdienen. Dazu kommt als weitere Schwierigkeit, dass es gar nicht leicht ist, an das Schrifttum dieser Kirchlein und Kirchen heranzukommen. Selbständige Literatur existiert oft gar nicht; in der großen Literatur sind sie vielfach nicht beachtet. Und die vielen Zeitschriften, wer könnte denn die heute noch alle lesen, geschweige sich halten ? Überdies geben gar manche ihre Zeitschriften und Blätter nur als Manuskripte oder gar in Geheimschriften heraus. Die einzelnen neugermanischen Religionsgemeinschaften nennen sich selten Religionen oder Kirchen, häufiger Bund, Gemeinschaft, Gemeinde. Manche führen den Titel Orden, um schon mit dem Namen anzuzeigen, dass sie nur als Sekten, als geschlossene Religionsgemeinschaft sich betrachtet wissen wollen. Das Streben, universell zu werden, ist ja bei allen diesen Kirchen ausgeschlossen. Das weiteste Ziel ist höchstens, das deutsche Volk oder die Germanen zu umfassen.“15

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war die völkische Agitation und Propaganda, die sich bereits im wilhelminischen Kaiserreich „modernster Marketingstrategien“ ( Lichtbild, Telefon ), aber auch Flugblätter und Zeitschriften bediente.16 Insgesamt gingen „die in der Moderne immer wieder aufbrechenden Kämpfe zwischen Christentum, neuen Religionen und Irreligiosität [...] unter den Verhältnissen des Dritten Reiches mit verstärkter Vehemenz weiter“.17 Schon gegen Ende der 1920er Jahre beschäftigte die Apologetische Centrale sich kritisch mit den vielfältigen Erscheinungsformen und Gruppen völkischer Religiosität. Gegen Ende der Weimarer Republik spielten ohnehin die politischen Ersatzreligionen auch im Bebachtungs - und Auskunftsdienst der AC eine zunehmend wichtige Rolle. Ins Blickfeld der AC gerieten nicht nur Freidenker, sondern zunehmend auch die völkisch - religiösen Gruppen. 1933 umfasste das Archiv der Spandauer Stelle eine Materialsammlung von über 250 „Sekten“ und Weltanschauungsgruppen. Die Sammelmappen über völkische Gruppen waren auf insgesamt 40 angewachsen.18 Das Archiv der AC erfuhr ab 1934 einen systematischen Ausbau. Gleichzeitig hatte sich der Bestand an Zeitschriften aus den Bereichen der völkischen Bewegung beträchtlich erweitert, ergänzend kam die Sammlung von Presseausschnitten hinzu. Der Auskunfts - und Ausleihdienst der AC konnte eine erhöhte Nachfrage im Blick auf völkische Gruppen feststellen. Ebenso häufig wurde der Beratungsdienst der AC für die Schulungsarbeit in Anspruch genommen. Gegenüber dem Vorjahr hatte sich 1936 die Zahl der Postsendungen um knapp 4 500 auf 70 550 erhöht. Rund 66 000 Drucksachen wurden im gleichen Zeitraum von der AC versandt. 15 Ebd., S. 18. 16 Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, Darmstadt 2001, S. 287. 17 Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 262. 18 Walter Künneth, Die Apologetische Centrale ( Entwurf ), S. 2 ( EZA, 1/ C3/292).

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Anfang 1934 konnte die AC in kirchlichen Kreisen einen erhöhten Informationsbedarf über völkisch - religiöse Strömungen feststellen.19 Auch die „Vertrauensleute“ verzeichneten rege Aktivitäten von völkisch - religiösen Strömungen in den Kirchenprovinzen. Als „wissenschaftliche Beratungsstelle für den gesamten völkischen Fragenkreis“20 baute die AC ihre Materialsammlung systematisch aus. 1936 verfügte die AC über 107 Sammelmappen (1933 waren es noch 40) zu völkisch - religiösen Gruppen und Strömungen. Erhalten geblieben ist zumindest ein Teilbestand der „Materialsammlung“ der AC. Darin finden sich Broschüren, Satzungen, Zeitungsausschnitte und vereinzelt Schriftwechsel mit Vertretern der einzelnen Strömungen und Gruppen.21 Kontinuierlich beobachtete die Spandauer Stelle die Periodika der völkisch religiösen Gruppierungen. Eine interne Zeitschriftenschau listete 24 Titel auf.22 Sie unterscheidet zwischen : I.

Deutschchristliche Gruppen innerhalb der Reichskirche : „Positives Christentum“ (5 000), „Christenkreuz und Hakenkreuz“ (23 592), „Briefe an Deutsche Christen“ (14 500), „Die Deutsche Kirche“, „Des Deutschen Volkes Kirche“ (5 000); II. Gruppen mit christlichem Einschlag : „Die Deutsche Volkskirche“, „Die Religiöse Revolution“ (20 000); III. Ablehnung des Christentums : „Deutscher Glaube“ (6 000), „Durchbruch“ (16 800), „Reichswart“ (20 000), „Am Heiligen Quell Deutscher Kraft“ (70 000), „Nordische Zeitung“ ( ?), „Nordische Stimmen“ ( ?), „Die Sonne – Monatsschrift für Rasse, Glaube, Volkstum“ ( ?), „Das Schwarze Korps – SS - Zeitung“ (20 000), „Der Stürmer“ (486 000), „Der Hammer“ ( ?), „Nordland“ ( ?), „Widar“ (3 000), „Der Blitz – Kampfblatt für deutschen Glauben und deutsche Art“ ( ?), „Nordische Welt“ (1 000), „Germanien – Monatshefte für die Vorgeschichte zur Erkenntnis des deutschen Wesens“ 19 Halbjahresbericht 1/1934, S. 1. 20 Walter Künneth, Thesen zur völkisch - religiösen Gegenwart, o. D., S. 2 ( ADW, CA / AC 28). 21 Das unveröffentlichte Findbuch des Archivs des Diakonischen Werkes in Berlin - Dahlem listet zum Bestand ADW CA / AC - S folgende völkisch - religiösen Gruppen auf : Alldeutscher Verband Ariosophie bzw. Ariosophische Kulturzentrale, Arische Glaubensgemeinschaft ( All - Arierbund, Freilichtpark Klingenberg ), Ernst Borgmann ( Nordisch germanische Glaubensbewegung ), Bund der Guoten, Bund für nordische Weltanschauung, Bund Ringendes Deutschtum, Bund Völkischer Europäer, Christdeutsche Bewegung ( Cordier), Christlich - Deutsche Bewegung, Deutschbund, Deutschchristvolk, Deutschnordische Religion, Deutsch - völkische Bewegung, Deutsch - völkische Reformpartei, Deutschvolk ( Erich und Mathilde Ludendorff ), Geistchristliche Religionsgemeinschaft ( Dinter ) Germanische Glaubens - Gemeinschaft ( Ludwig Fahrenkrog ), Hermannbund, Tannenbergbund, Nordische Gesellschaft, Nordische Glaubensbewegung, Nordische Glaubensgemeinschaft, Nordischer Kampfkreis, Nordischer Ring, Bund für Nordische Kulturarbeit, Nordungen bzw. Deutsch - Nordische Glaubensbewegung, Schafferbund, Schwarzhäuser Ring ( Deutsche Kulturgemeinschaft ). 22 Vgl. im Folgenden die interne Aufstellung der AC ( ADW, CA / AC - S 44). Sie nannte – nach Gruppen geordnet – folgende Zeitschriftentitel ( in Klammer ist jeweils die Auf lagenhöhe vermerkt ).

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(4 000), „Flammenzeichen – Völkische Blätter für nordische und germanische Art in Religion, Kultur, Staat und Wissenschaft, ohne allen Fremdgeist und jede Artverfälschung“ ( ?), „Siegrune – Kampfgemeinschaft für deutschen Glauben“ ( ?). Die Gesamtauf lage dieser Periodika betrug rund 600 000 Stück. Mit Vorträgen, Schulungskursen und kleinpublizistischen Beiträgen wandten sich die Mitarbeiter der AC verstärkt der apologetischen Auseinandersetzung mit völkischen Fragen zu.23 Auf diese Weise gelang es, die Gemeinden regelmäßig über die aktuellen Entwicklungen im völkisch - religiösen Milieu zu informieren. Unter der Rubrik „Aus der völkisch - religiösen Bewegung“ berichtete die Fachzeitschrift „Wort und Tat“ kontinuierlich über die neuesten Entwicklungen. Wichtigstes kleinpublizistisches Instrument der AC wurden seit Sommer 1936 die „Stoffsammlungen für die Schulungsarbeit“, die mit einer Auf lage von jeweils 4 000 Exemplaren in kirchlichen und verbandsprotestantischen Kreisen weite Verbreitung fanden. Zum Selbststudium oder zur Gemeindeschulung konzipiert, enthielten die Einzelnummern Material zu den völkisch - religiösen Strömungen und die Antwort aus kirchlicher Sicht.

3.

Das „völkische Wollen“ im Blick – Künneths „analysierende Anknüpfung“

Von Beginn an war es das Anliegen der AC, zur wissenschaftlichen Theoriebildung über vielfältige religiöse Phänomene beizutragen. An die Seite analysierender Darstellung sollte – ganz im Sinne der „neuen Apologetik“ – aber auch Orientierung aus christlicher Sicht treten. Schon im Frühjahr 1932 hatte Künneth in schriftlicher Form dem Aktionsausschuss für Laienschulung „praktische Möglichkeiten“ für die Auseinandersetzung mit der völkischen Religiosität vorgelegt. Künneth forderte : „1. Stärkere Beeinflussung der völkischen Kreise auf literarischem Wege. 2. Aufklärung kirchlicher Führer auf Lehrgängen und Freizeiten über die grundsätzlichen und praktischen Fragen. 3. Berücksichtigung des völkischen Fragenkreises in der gesamten Gemeindearbeit. 4. Direkte Fühlungnahme mit völkischen Kreisen. 23 Folgende Themen tauchten in einer Übersicht von 1934 auf : „Artgemäßes Christentum“ – „Inwiefern ist das Christentum zur Heilighaltung des Volkstums verpflichtet ?“ – „Stellung des Christentums zu Rasse, Blut und Boden“ – „Volk als Schöpfung Gottes“ – „Volksordnung unter der Gottesordnung“ – „Der Deutschglaube und die Verantwortung der Kirche“ – „Die rassische und sexuelle Verpflichtung der Christen“ ( vgl. Halbjahresbericht 1/1934, S. 6). 1935 nannte der Jahresbericht 1935, S. 9 : „Völkische Religiosität und die Eigenart der biblischen Botschaft“ – „Mythus und Christentum“ – „Heidnischer Geist und Heiliger Geist“ – „Wie rüsten wir uns für den Kampf gegen das moderne Heidentum ?“.

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a ) Führerbesprechungen. Ziel ist nicht in erster Linie die Gewinnung der Masse, sondern die Beeinflussung der Führer. b) Schulungswochen. c ) Teilnahme der Kirche an völkischen Feiern und Veranstaltungen. d) Beteiligung an Diskussionen.“24 Damit hatte der Leiter der AC die apologetische Linie gegenüber der völkischen Religiosität vorgegeben. In publizistischer Hinsicht erwies sich Künneth während der Zeit des Nationalsozialismus als Meinungsführer der AC. Künneth betrachtete die Vielzahl völkisch - religiöser Strömungen als Krisensymptom. 1931 klagte er : „Ist es nicht ein Jammer, dass viele der Besten unseres Volkes von der Dämonie dieser Religiosität besessen sind oder wenigstens in Gefahr stehen, in ihren Bann zu geraten ?“25 Ein Jahr später stellte Künneth „die Hauptgruppen völkischer Religionsbildung“26 zusammen. Dabei konnte er feststellen : „Die sich herausgestaltende Religiosität ist freilich auch ein Produkt der Gärung, des Umbruches, mit einer Fülle von weltanschaulichen Restbeständen früherer Perioden und Religionssurrogaten durchsetzt, zugleich aber auch das Spiegelbild des neuen organischen, erdnahen und blutvollen Lebensgefühls. Diese allgemeine, noch ungeformte Religiosität konkretisiert sich in einer Mannigfaltigkeit von Erscheinungen großer und kleinster Gruppen, wobei allerdings weniger die zahlenmäßige Größe als die Werbekraft ihrer Idee, ihre geistige Einflusssphäre Berücksichtigung verdient.“27 Seine Beiträge, die er seit Anfang der 1930er Jahre veröffentlichte, waren als offizielle Publikationen der AC, zum Teil aber auch als wissenschaftliche Artikel in theologischen Fachblättern erschienen. Sie führten dem Leser die Vielfalt, die Hintergründe und das Anliegen zeitgenössischer völkischer Religiosität vor Augen.28 Darin stellte der Leiter der AC den Strömungen des sogenannten nordisch - christlichen Idealismus ( Bund für Deutsche Kirche, Arthur Dinters Geistchristentum, Kristgermanentum, Rassereligion Alfred Rosenbergs, der Urmythus Herman Wirths, Bund der Guoten ) Gruppen einer dezidiert antichristlichen nordisch - deutschen Gläubigkeit ( Widerstandskreis, Tannenbergbund, Rig - Kreis, Deutsch - gläubige Gemeinschaft, Asgard - Kreis ) gegenüber. Doch Künneths Artikel erschöpften sich keineswegs nur in der Beschreibung der vielfältigen Phänomene. Die Gemeinden waren auf Einordnung und Orientierung angewiesen. „Vom Boden der biblischen Offenbarung aus“ – so seine Forderung – müsse die Auseinandersetzung aufgenommen werden : „Die Wahrheitsfrage gegenüber der völkischen Religiosität der Gegenwart stellen, heißt, sie

24 Walter Künneth, Leitsätze zur Auseinandersetzung in [ sic !] den völkischen Kreisen vom 3. 3. 1932, S. 2, ( ADW, CA / AC 117). 25 Walter Künneth, Die völkische Religiosität der Gegenwart, Berlin 1931, S. 3. 26 So der Titel des Aufsatzes von Walter Künneth in : Christentum und Wissenschaft, 8 (1932), S. 321–333, 335–369. 27 Ebd., S. 321. 28 Ebd., S. 321 ff.

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unbedingt ernst nehmen, sie in ihrem tiefsten Anliegen zu verstehen suchen und andererseits von der unerbittlichen Strenge der Wahrheit des Evangeliums her die Grenze zu ziehen, um zu einem kompromissfreien Urteil zu gelangen.“29 1932 präzisierte Künneth seine apologetische Position in den „Leitsätzen zur Auseinandersetzung in den völkischen Kreisen“. Aufgabe müsse es sein : „a ) die Begegnung nicht auf der politischen, sondern auf der weltanschaulichen Ebene zu vollziehen, b ) jeden Missbrauch der Kirche als Dekoration und Vorspann der völkischen Bestrebungen zu verwerfen, c ) die Andersartigkeit des Evangeliums gegenüber allen innerweltlichen Größen herauszustellen.“30 Künneth knüpfte bewusst am „religiösen Wollen“ der Völkischen an. Er betrachtete die völkisch - religiöse Bewegung als Anfrage an die Kirche, die ihrerseits „vom Evangelium aus das eigentliche Anliegen der deutschen Seele aufzugreifen und zu positiver Erfüllung zu führen“31 sowie die „,urtümlichen‘ volkhaften Bindungen“32 ebenso ernst zu nehmen hätte wie den „völkischen Ruf nach Rassenhygiene und Eugenik“.33 Die völkische Religiosität verstand Künneth als uneingelösten Schuldschein der Kirche. Er machte hierfür insbesondere die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts verantwortlich, die die biblische Offenbarung relativiert und damit – wenngleich indirekt – den völkischen Gruppen die Munition für deren Kirchenkritik bereitgestellt habe. Als weitere Fehler der Kirche räumte er ein : 1. die „Verengung der christlichen Botschaft“ durch Konzentration auf den zweiten Glaubensartikel ( womit er indirekt die Dialektische Theologie kritisierte ), 2. „die zu weiche Jesus - Darstellung“, 3. „die Verkennung des Wertes des germanischen Volksgutes und der nordischen Sagenwelt als ein Ausdruck der revelatio generalis“ sowie – unter Berufung auf Paul Althaus – 4. die Besinnung der Kirche darauf, „was das Alte Testament nicht ist“34. Als Kritikpunkte gegenüber der völkischen Religiosität nannte Künneth etwa deren „Missverständnis hinsichtlich der Struktur und des Wesens der biblischen Offenbarung“, Irrtümer in biblischen Einzelfragen und unwahre Behauptungen über die Germanenmission sowie ihre „Überschätzung der Höhenlage der altnordischen Religiosität“.35 Vor diesem Hintergrund umriss Künneth den geistes - und religionsgeschichtlichen Ort dieser „religiösen Willensbildung“, den er mit Begriffen wie „humanitärer Idealismus“, „Rationalismus“ und „Mystizismus“ näher beschrieb.36 Abschließend formulierte er den „unüberhörbaren Anspruch Gottes an die völkische Rassenreligion“, wie ihn die Christusoffenbarung zum Ausdruck gebracht

29 Ebd., S. 15. 30 Walter Künneth, Leitsätze zur Auseinandersetzung in den völkischen Kreisen, S. 1 (ADW, CA / AC 117). 31 Walter Künneth, Hauptgruppen völkischer Religionsbildung, S. 369. 32 Walter Künneth, Die völkische Religiosität der Gegenwart, S. 16. 33 Ebd., S. 16. 34 Ebd., S. 17. 35 Ebd., S. 18. 36 Ebd., S. 18–21.

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habe : „Rassenreligion und Christusbotschaft stehen zuletzt im Verhältnis von Frage und Antwort, von Verheißung und Erfüllung. Die Christustatsache ist eben keine jüdische, keine südländische, auch nicht eine arische Angelegenheit, sondern eine für alle Rassen in gleicher Weise gültige, eine ewige : Christus das ewige Wort Gottes.“37 Die kritische Auseinandersetzung der AC mit der völkischen Religiosität war dem von Deutschen Christen dominierten Central - Ausschuss ein Dorn im Auge. So wurde vom Vorstand Druck ausgeübt, sodass der Mitarbeiterin Vikarin Renate Ludwig (1905–1976) als „Nichtarierin“ untersagt wurde, völkische Fragen in der Zeitschrift „Wort und Tat“ zu behandeln.38 1938 musste sie die Berliner Stelle schließlich verlassen.39 Künneth, der sich mit dem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ von Rosenberg kritisch auseinandergesetzt hatte, wandte sich am 19. Oktober 1936 in einem persönlichen Schreiben an Rudolf Heß, den Stellvertreter Hitlers. Darin unterstrich der lutherische Theologe seine staatsloyale Haltung. Zuvor war Künneth vom Präsidenten der Reichspressekammer der Ausschluss angedroht worden, da er nach Meinung der NSDAP - Gauleitung Berlin politisch nicht zuverlässig sei. Der habilitierte Theologe hob jedoch hervor, dass er „schon viele Jahre vor 1933 mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisiert und dies auch öffentlich in Vorträgen und Aufsätzen zum Ausdruck gebracht“ habe. Vor dem Hintergrund seines spezifischen Verständnisses der lutherischen Zwei - Reiche Lehre wollte Künneth der Kirche einen vor staatlichem Übergriff geschützten Raum sichern. Er billigte aber dem NS - Regime, im Blick auf „die Rassegesetzgebung“, eine Eigengesetzlichkeit zu, wenn er in dem Brief an Heß aus seinem 1934 publizierten Buch „Die Nation vor Gott“ zitiert : „Dem nationalen Staat ist grundsätzlich nicht nur das Recht, die Judenfrage zu einem Problem staats37 Ebd., S. 23. 38 Auszug aus dem Protokoll der Vorstandssitzung des Central - Ausschusses vom 21. 8. 1935 ( ADW, CA 417/14). 39 Renate Ludwig wurde am 19. 6. 1905 in Berlin geboren. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Berlin und Tübingen wurde sie 1929 Mitglied im Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands. 1932 legte sie als erste Theologin in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg die zweite Dienstprüfung ab. Von 1929 bis 1933 war Renate Ludwig als Pfarrgehilfin in Stuttgart und von 1933 bis 1938 als Referentin beim Central - Ausschuss in Berlin tätig. Dort arbeitete sie in der Redaktion der Zeitschrift „Wort und Tat“ mit. Als „Nichtarierin“ wurden ihr Vorträge und Veröffentlichungen untersagt. Auf äußeren Druck hin musste sie schließlich 1939 aus der Arbeit des Central - Ausschusses ausscheiden. Reante Ludwig übernahm das Amt einer Pfarrgehilfin im württembergischen Schwenningen, ab 1941 das einer Vikarin bzw „Pfarr vikarin“ in Esslingen. 1944 wurde die Theologin mit der Dissertation „Das christliche Erbe in der deutschen Frauenbewegung“ in Tübingen promoviert. Von 1946 bis 1958 arbeitete sie als Vikarin bei der Evangelischen Frauenarbeit in Württemberg. Anschließend unterrichtete sie bis zu ihrer Pensionierung am Mädchengymnasium, dann am TheodorHeuss- Gymnasium in Esslingen. Sie verstarb im Alter von 70 Jahren am 27. 4. 1976 in Esslingen. Vgl. Christel Köhle - Hezinger, Pionierin, Pädagogin, Vorbild ( www.ev - kircheesslingen.de / cms / startseite / aktuelles / serie - kirchenleute / renate -ludwig; letzter Zugriff: 28. 3. 2010).

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politischer Neuordnung zu machen, zuzugestehen, sondern die Selbstbesinnung auf die Eigenart des Volkstums ist von der Kirche aus entsprechend ihrem Ja zu den Ordnungen Gottes, als die Rasse und Volkstum begriffen werden müssen, zu begrüßen. [...] Ist diese Rückbeziehung auf die nationale Selbstständigkeit für jedes Volk eine lebenserhaltende Notwendigkeit, so erst recht im deutschen Volke, in dem der jüdische Einfluss schon seit Jahrzehnten derartig überhand genommen hat, dass die Gefahr einer Überwucherung des deutschen Geisteslebens und der Überfremdung der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu leugnen ist.“40 An anderer Stelle betont er gegenüber Heß, dass seine kirchlichen Stellungnahmen zu „christentumsfeindlichen und evangeliumsfremden Strömungen der Zeit“ mit Politik überhaupt nichts zu tun haben, sondern „stets aus theologisch - kirchlichen Beweggründen“ erfolgt seien. Überhaupt betrachtete sich Künneth als einen „Vertreter derjenigen Richtung innerhalb der Bekenntnisbewegung der Kirche, die sich um normale und freundschaftliche Beziehungen zum Dritten Reich bemüht“.41 Abschließend ist sich Künneth sicher : „Unterzeichneter [ sic !] glaubt aus verschiedenen Reden des Führers und Reichskanzlers entnommen zu haben, dass jeder Volksgenosse, wenn er auch nicht Parteigenosse ist, der den ehrlichen Willen hat, am Aufbau des Dritten Reiches mitzuarbeiten, willkommen ist. Dass ich selbst diesen ehrlichen Willen habe, wurde von mir oftmals und gerade auch in schwierigen Situationen in einem Deutschland übelwollenden Ausland unter Beweis gestellt. Ich sehe daher vertrauensvoll der Entscheidung des Stellvertreters des Führers entgegen.“42 Die Eingabe Künneths blieb offensichtlich unbeantwortet. Am 10. Dezember 1937 wurde die AC in Abwesenheit Künneths von der Gestapo durchsucht und aufgelöst, drei Wochen später erhielt Künneth „Redeverbot für das gesamte Reich“.

4.

Resümee

Die AC erwies sich für die evangelische Kirche in der theologischen Auseinandersetzung mit den völkisch - religiösen Strömungen als publizistisches Zentrum in den 1930er Jahren. Ihr war es über Dokumentations - und Auskunftsdienst und Schulungskurse gelungen, die Gemeinden mit Informationen und Stellungnahmen für den Dienst heranzubilden. Doch der von Künneth und seinen Mitarbeitern vorgegebene Kurs ließ erkennen, in welche Aporien sich die kirchliche Apologetik im totalen Weltanschauungsstaat schließlich brachte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts dominierte in der kirchlichen Apologetik der Begriff „Geisteskampf“, die Auseinandersetzung mit geistigen und religiösen Strömungen. Ein theologisches Fachblatt trug ab 1909 den Titel „Der Geisteskampf der Gegenwart – Monatsschrift für christliche Bildung und Weltanschau40 Walter Künneth an Rudolf Heß vom 19. 10. 1936 ( ADW, CA / AC 31). 41 Ebd. 42 Ebd.

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ung“ (1925 im 61. Jahrgang ). Der Begriff „Geisteskampf“ wurde Ende des 19. Jahrhundert allmählich vom Begriff „Weltanschauungskampf“ abgelöst, den auch Carl Schweitzer 1928 beschworen hatte. Darin drückte sich eine tiefe Krise des Christentums aus : „Bis in die Zeit des Nationalsozialismus hielt sich die Bezeichnung Weltanschauungskampf als Begriff für Auseinandersetzungen um die Bedeutung der Religion und des Christentums im Gegenüber zu Wissenschaft und Politik, die zunehmend von Kategorien wie Volk, Rasse und Menschenbild geprägt wurde. Von den Nationalsozialisten wurden diese Konflikte vereinnahmt und ideologisiert und zu einer Art Endgericht über das Schicksal des deutschen Volkes stilisiert. In antisemitischer Absicht wird der Begriff des Weltanschauungskampfes zum Beispiel von Alfred Rosenberg genutzt, dem Chef ideologen der Nationalsozialisten seit den 1920er Jahren, den Hitler 1934 zum ‚Beauftragten des Führers für die Über wachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‘ ernannte und der gegen das Weltjudentum, die Kirchen und ihr ‚verjudetes‘ Christentum sowie gegen den Bolschewismus schrieb. Bis zum Ende des Krieges stilisierte der Nationalsozialismus seine Ideologie als einen eschatologischen Weltanschauungskampf und machte sich dabei die religiösen Konnotationen zunutze, die dieser Begriff seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte. Noch am 25. Januar 1944 hat Goebbels vor der Generalität in Posen eine Rede mit dem Titel ‚Der Krieg als Weltanschauungskampf‘ gehalten.“43

In der Forschung wird davon ausgegangen, dass der Einfluss der Völkisch - Religiösen nach 1933 rapide zurückging : „Obwohl einzelne völkische Organisationen sich dem Nationalsozialismus – unterschiedlich eng – annäherten und die Völkischen die Machtübernahme Hitlers mehrheitlich begrüßten, verloren die nach 1933 fortbestehenden völkischen Vereinigungen rasch an Bedeutung. Einige gingen im nationalsozialistischen Organisationsgefüge auf, viele lösten sich auf, die verbleibenden fristeten ein Schattendasein.“44 In der Wahrnehmung der AC, in den Kirchengemeinden und Kirchenprovinzen wuchs indes deren Bedeutung, besonders in den Jahren 1932 bis 1936. Offensichtlich erblickte man in der Vielzahl der verschiedenen, oft sehr kleinen Gruppen ein massives Bedrohungs - und Zersetzungspotential für die Kirche und für das Christentum insgesamt – dies umso mehr, als die Mehrzahl der Anhänger der völkischen Bewegung dem bürgerlichen Mittelstand entstammte und überwiegend protestantisch geprägt war.45 Dies hing auch damit zusammen, dass der totale Weltanschauungsstaat gewaltsam eine Entkonfessionalisierung und Verdrängung des kirchlichen Lebens aus der Öffentlichkeit durchzusetzen bemüht war und die völkisch - religiösen Strömungen – in der Wahrnehmung der Kirchen – eine Okkupation zentraler religiöser Felder anstrebten, um damit das Christentum insgesamt zu verdrängen oder sich zu einer dritten Konfession aufzuschwingen. Das wesentliche 43 Dirk Evers, Apologetische Theologie im „Weltanschauungskampf“. In : Materialdienst der EZW, 12/2009, S. 443–455, hier 448. 44 G. Ulrich Großmann / Uwe Puschner, Vor wort, In : dies. ( Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 9–14, hier 10. 45 Ebd., S. 9.

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ideologische Fundament der völkisch - religiösen Strömungen bildeten – bei aller Verschiedenheit ihrer politischen und religiösen Überzeugungen und Organisationsgrade – die Rassenideologie, der Antisemitismus und eine Germanenideologie. Das ideologiekritische Potential des christlichen Glaubens sollte hierzu Unterscheidungshilfen für Kirche und Gemeinden an die Hand geben. Dabei wurde in der zeitgenössischen kirchlichen Apologetik übersehen, dass nationalsozialistische Ideologie und völkisch - religiöse Strömungen grundlegende Überzeugungen teilten.46 Künneths situationsbezogene „analysierende“ Anknüpfungsapologetik gegenüber den Völkisch - Religiösen wollte deren Ziele klar herausstellen. Damit trug er zur Aufklärung über Lehre und Praxis der völkischen Religionsbildungen bei. Dennoch brachte dieser Ansatz auch Probleme mit sich. Indem Künneth die Kritik der Völkisch - Religiösen gegenüber Theologie und Kirche positiv herausgriff, geriet die apologetische Argumentation in ein Fahr wasser, das es ihr zunehmend erschwerte, sich von biologistischen Begriffen wie Rasse und Eugenik oder vom Antisemitismus theologisch zu distanzieren.47 Darüber hinaus argumentierte Künneth auf der Basis neuzeitlicher Volkstums - und Rassetheorien.48 Leitend war für ihn eine spezifische neulutherische Ordnungstheologie, die in Volk und Rasse letztlich göttliche Schöpfungsordnungen erblickte. Er selbst wollte sein Wirken indes als unpolitisch verstanden wissen. Auch in der Einschätzung der völkisch - religiösen Strömungen lief Künneth Gefahr, dass unter dem Eindruck der „nationalen Revolution“ das von völkisch - religiöser Seite vertretene Anliegen, insbesondere der – wie Künneths Analyse ergeben hatte – „Wille zur Nation und der Wille zur ethisch - religiösen Erneuerung“49 religiös geläutert, christlich verbrämt und letztlich theologisch legitimiert wurde. Künneths Verhalten als Leiter der Apologetischen Centrale in der Zeit des Nationalsozialismus lässt erkennen : Seine neulutherisch geprägte Haltung, die in ordnungstheologischer Hinsicht streng zwischen einem religiös - weltanschaulichen und einem politisch - ideologischen Bereich unterscheiden wollte, führte in letzter Konsequenz zu einer verhängnisvollen theologischen Legitimation des Volkstums - und Rassegedankens. Damit kam der evangelischen Apologetik letztlich das ideologiekritische Instrumentarium abhanden, um das verhängnisvolle wie menschenverachtende Potential der nationalsozialistischen Ideologie, die mit der völkischen Weltanschauung nahezu identisch war, zu durchschauen. 46 Puscher / Großmann, Vor wort, S. 11 : „Die nationalsozialistische Ideologie ist weitgehend identisch mit der völkischen Weltanschauung. Von den Völkischen übernahmen die Nationalsozialisten etwa auch Hakenkreuz, Runensymbolik und ‚Heil‘ - Gruß. Jede Beschäftigung mit dem völkischen Komplex muss den Nationalsozialismus mit in den Blick nehmen, und dabei – gerade wegen der Verflochtenheit beider Bewegungen – auf die augenfälligen strukturellen und ideologischen Unterschiede achten.“ 47 Vgl. Wolfgang Maaser, Theologische Ethik und politische Identität. Das Beispiel des Theologen Walter Künneth, Bochum 1990. 48 Axel Töllner, Eine Frage der Rasse ? Die Evangelisch - Lutherische Kirche in Bayern, der Arierparagraf und die bayerischen Vorfahren im ‚Dritten Reich‘, Stuttgart 2007, S. 36. 49 Walter Künneth, Leitsätze zur Auseinandersetzung in den völkischen Kreisen, S. 1 (ADW, CA / AC 117).

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Katholizismus und völkische Religion 1933–1945 Lucia Scherzberg

Gemeinhin gilt der Katholizismus als weitgehend resistent gegen völkisch - religiöse Weltanschauung und Praxis. Tatsächlich sind zentrale Elemente einer „arteigenen Religion“ bzw. einer Germanisierung des Christentums mit der Lehre der katholischen Kirche nicht vereinbar. Gegen eine Begründung der Religion in der „Rasse“ spricht die Überzeugung von der Universalität des Heils in Jesus Christus, gegen eine deutsche Nationalkirche die weltkirchliche Struktur der katholischen Kirche. Ein „arischer“ Jesus und eine Verwerfung des Alten Testamentes samt seines Gottes stehen im Widerspruch zum katholischen Traditionsverständnis. Da dogmatisch festgelegt ist, dass das Alte Testament zur Heiligen Schrift gehört und Gottes Wort ist, können katholische Christen es nicht einfach verabschieden; wenn in der Heiligen Schrift steht, dass Jesus eine jüdische Mutter hatte und beschnitten wurde, dann war er Jude. Was in der Theorie so klar erscheint, war in der konkreten historischen Situation des Nationalsozialismus nicht immer so eindeutig. Im ersten Teil des Beitrags wird, gewissermaßen als Bestätigung der katholischen Resistenz, die Auseinandersetzung um Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ exemplarisch nachgezeichnet – allerdings zeigen sich bereits hier unterschiedliche Beurteilungen. Im zweiten Teil wird eine Gruppe von katholischen Priestern und Laien vorgestellt, die auf der Grundlage ihrer Begeisterung für den Nationalsozialismus völkisch - religiöse Elemente in ihr theologisches Nachdenken über Erlösung, Gnade, Jesus Christus, Kirche und Liturgie aufnahmen und die Zusammenarbeit mit völkisch - religiösen Kreisen suchten.

1.

Die Auseinandersetzung um den „Mythus des 20. Jahrhunderts“

Gegen Alfred Rosenbergs 1930 erschienenen „Mythus des 20. Jahrhunderts“ entwickelte sich innerhalb der katholischen Kirche ein massiver Protest – interessanter weise jedoch erst nach der Indizierung des Werkes durch den Vatikan im Jahr 1934. Zuvor gab es in der deutschen katholischen Kirche keine intensive Auseinandersetzung mit dem „Mythus“. Von katholischen Zeitschriften wurde das Werk nicht weiter beachtet; lediglich einige Buchveröffentlichungen

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beschäftigten sich ausführlicher mit ihm.1 Die deutschen Bischöfe hofften zunächst, Hitler auf diplomatischem Wege zu einer Distanzierung von Rosenbergs Schrift bewegen zu können. Am 7. Februar 1934 setzte das Sanctum Officium den „Mythus“ auf den Index der verbotenen Bücher.2 Entgegen der üblichen Praxis enthielt das Dekret eine kurze Begründung : Das Werk verwerfe die Grundsätze der katholischen Kirche und die Fundamente der christlichen Religion; es propagiere eine neue, auf den Mythos des Blutes gegründete Religion und eine germanische Kirche.3 Die offiziösen Kommentare im „Osser vatore Romano“ und in der Jesuitenzeitschrift „Civiltà Cattolica“, die man als gezielt lancierte Interpretationen ansehen darf, bezeichneten den „Mythus“ als Ausfluss einer materialistischen Weltanschauung und Überhöhung des Germanentums.4 Als Initiator und Protagonist des Indizierungsprozesses kann der Rektor des deutschen Kollegs Santa Maria dell’Anima in Rom, Bischof Alois Hudal angesehen werden5 – er war Konsultor des Sanctum Officium, und es spricht vieles dafür, dass er ein Geheimgutachten gegen den „Mythus“ verfasste. Hudal selbst war allerdings kein Gegner des Nationalsozialismus; sein Ziel war ein „katholizismus - kompatibler“ Nationalsozialismus; dazu gehörte die Ausschaltung des kirchenfeindlichen Flügels um Alfred Rosenberg und Julius Streicher sowie die radikale Bekämpfung völkisch - religiöser und nationalkirchlicher Bestrebungen.6 Nach der Indizierung und nach Rosenbergs Ernennung zum „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP“ im Januar 1934 geißelten Kardinal Schulte, der Erzbischof von Köln, und Bischof Galen von Münster in Hirtenbriefen die Äußerungen des „Mythus“ als Heidentum und als Vergötzung von Blut und Rasse.7 Der deutsche Episkopat verfasste einen gemeinsamen Hirtenbrief, dessen Verlesung

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Z. B. von Anton Scharnagl, Jakob Nötges und Erhard Schlund. Vgl. Dominik Burkard, Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition, Paderborn 2005, S. 35–39, 56– 59. Zum Prozess der Indizierung vgl. Burkard, Häresie, bes. S. 41–119. Ebd., S. 75. Un libro di odiose falsità per la gioventù tedesca. In : L’Osser vatore Romano vom 7. 2. 1934, S. 3 f. ( deutsche Übersetzung in Burkard, Häresie, S. 272–279); Mario Barbera, Mito razzista anticristiano. In : Civiltà Cattolica, 85 (1934) 1, S. 238–249, im Original auch in Burkard, Häresie, S. 263–271. Zu Hudals Rolle vgl. Burkard, Häresie, S. 63–119. Alois Hudal (1865–1963), Professor für Altes Testament in Graz; seit 1923 Rektor der „Anima“, 1933 Weihe zum Titularbischof von Ela, Verfasser der „Grundlagen des Nationalsozialismus“ (1937), nach dem Krieg Fluchthelfer für NS - Verbrecher; 1952 erzwungener Rücktritt vom Amt des Rektors. Vgl. Biographisch - Bibliographisches Kirchenlexikon ( BBKL ), Band XXI (2003) S. 687–692; oder http ://www.kirchenlexikon. de / h / hudal_a_c.shtml. Hirtenbrief Schultes vom 1. 3. 1934. In : Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945, Band 1 : 1933–1934, Mainz 1968, S. 609–611 ( Nr. 137); Osterhirtenbrief Galens vom 26. 3. 1934. In : ebd., S. 649–653 ( Nr. 145).

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aber auf Anweisung Kardinal Bertrams, des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, wegen der gleichzeitigen Verhandlungen zwischen Kirche, Staat und Partei ausgesetzt wurde. In diesem Hirtenbrief protestierten die Bischöfe sehr deutlich „gegen die Verbreitung neuheidnischer Irrlehren“ und „gegen alle Angriffe und Verunglimpfungen, welche von ihren Anhängern gegen Gott, gegen Christus und seine heilige Kirche [...] verbreitet werden“.8 Bertram selbst wiederholte diesen Protest in einem Brief an Reichsinnenminister Frick9 und beklagte insbesondere die Propaganda für die christentumsfeindlichen Bücher von Rosenberg und Ernst Bergmann in Versammlungen, Schulungen, Arbeitsdienstlagern etc. Auf der einen Seite würden Rosenbergs Bücher als private Arbeit des Verfassers bezeichnet, auf der anderen Seite unterstehe Rosenberg aber die gesamte geistige Schulungsarbeit in allen deutschen Kulturorganisationen. Darüber hinaus wurden etliche Bücher und Artikel in theologischen Zeitschriften verfasst, die den „Mythus“ einer deutlichen Kritik unterzogen. Die theologische und weltanschauliche Auseinandersetzung um den „Mythus“ soll an ausgewählten Beispielen dargestellt werden : an den „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts“, an Hirtenbriefen und Predigten des Rottenburger Bischofs Joannes Baptista Sproll, an einer umfänglichen Schrift des Paderborner Dompropstes und ehemaligen Rektors der Tübinger Universität, Paul Simon, sowie einer Predigtreihe aus der Feder Alfred Delps. Darüber hinaus werden mit den Büchern von Anton Stonner und von Konrad Algermissen zwei Beispiele einer Kritik am „Mythus“ präsentiert, denen gleichwohl an einer Harmonisierung von Christentum und Germanentum gelegen ist und die das Christentum vehement gegen den Vor wurf verteidigen, es sei undeutsch. Schließlich wird ein Büchlein des modernistischen Theologen Hugo Koch analysiert, in dem die Kritik der Studien zurückgewiesen wurde und dessen Autor sich auf die Seite Rosenbergs stellte.

1.1

Die „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts“: Die Unwissenschaftlichkeit des Mythus

Kardinal Schulte errichtete im März 1934 im Erzbistum Köln eine Stelle zur Abwehr der antichristlichen Propaganda, deren Leitung er Domvikar Joseph Teusch anvertraute.10 In dieser Abwehrstelle entstand der Plan, eine Gegenschrift zum „Mythus“ zu veröffentlichen. Angeregt hatte dies der Bonner Kirchengeschichtler Wilhelm Neuss. Ziel dieser Gegenschrift sollte die Aufklärung 8 Hirtenbrief des deutschen Episkopates vom 7. 6. 1934. In : ebd., S. 704–715 ( Nr. 156), hier 709. 9 Bertram an Frick vom 11. 8. 1934. In : ebd., S. 776–781 ( Nr. 172). 10 Bernhard Stasiewski, Zur Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem „Mythos des 20. Jahrhunderts“ von Alfred Rosenberg. In : Karl Delahaye / Erwin Gatz / Hans Jorissen ( Hg.), Bestellt zum Zeugnis. Festschrift für Bischof Johannes Pohlschneider, Aachen 1974, S. 379–400, hier 387 ff.

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über den unwissenschaftlichen Charakter des „Mythus“ und der Vorgehensweise seines Autors sein. Die Autoren sollten anonym bleiben. Die meisten Beiträge der „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts“ wurden von Angehörigen der Bonner Theologischen Fakultät geschrieben und in einer konspirativen Aktion von der Druckerei Bachem gedruckt. Die Veröffentlichung der „Studien“ als Beilage zum „Kirchlichen Anzeiger für die Erzdiözese Köln“ drohte in letzter Minute zu scheitern, weil Kardinal Schulte seine Zustimmung zur Publikation aus Furcht um die Existenz des Amtsblattes zurückzog. Professor Neuss und dem Verleger Franz Carl Bachem gelang es, Bischof Clemens August Graf von Galen für die Veröffentlichung zu gewinnen, sodass das erste Heft der „Studien“ als Beilage zum „Kirchlichen Amtsblatt“ der Diözese Münster erscheinen konnte. Nacheinander wurden fünf Teile der „Studien“ herausgegeben, die in ganz Deutschland Verbreitung fanden : zur Geschichte der Kirche, zur Heiligen Schrift, zu Meister Eckart, zu Paulus und dem Urchristentum sowie zu Grundfragen der Lebensauffassung und Lebensgestaltung. Im Herbst 1935 erschien schließlich ein Epilog, der sich mit der Gegenschrift Rosenbergs zu den „Studien“11 auseinandersetzte. Ermittlungen der Gestapo, um die Verfasser der „Studien“ dingfest zu machen, blieben ergebnislos. Hauptziel der „Studien“ war es, Rosenberg ein unwissenschaftliches Vorgehen, eine tendenziöse Auswahl von Quellen, Fehler bei deren Nutzung und Auswertung sowie zahlreiche Irrtümer und Falschaussagen im Einzelnen nachzuweisen. Wir richten hier das Augenmerk auf den biblischen Teil, insbesondere auf die Kritik an Rosenbergs Aussagen zum Alten Testament, verfasst von Dr. Josef Steinberg, damals Repetent am Collegium Leoninum in Bonn.12 Der Verfasser stellte klar, dass für die katholische Kirche das ganze Alte und Neue Testament zur Heiligen Schrift gehören. Beide gelten als von Gott inspirierte Schriften. Jesus Christus sei nicht ohne das Alte Testament zu verstehen, da die zahlreichen Weissagungen an ihm in Erfüllung gingen – Jesus selbst und die Apostel berufen sich auf die Schriften des Alten Testaments. In Frömmigkeit und Liturgie sei die Kirche eng mit dem Alten Testament verbunden, wie z. B. das Psalmengebet, der Hallelujaruf oder das Amen zeigten. Da die Schriften des Alten Testaments unter der Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben und als solche der Kirche übergeben seien, sehe die Kirche das Alte Testament als ein Gottesbuch an. Gegen den Vorwurf Rosenbergs, das Alte Testament sei das Werk eines fremden, minder wertigen Volkes und deshalb für „arische“ Menschen nicht verpflichtend, argumentierte Steinberg mit der Transzendenz Gottes und dem notwendigen Respekt des Menschen vor Gottes Willen : „Wer aber an einen überweltlichen, persönlichen Gott glaubt, der kann keinen Anstoß daran neh11

Alfred Rosenberg, An die Dunkelmänner unserer Zeit. Eine Antwort auf die Angriffe gegen den Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1935. 12 Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, Amtliche Beilage : Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts. Hg. vom Erzbischöf lichen Generalvikariat, Köln 1934, S. 71– 84.

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men, dass dieser Gott sich dem jüdischen und nicht etwa dem germanischen Volke geoffenbart hat. Welcher Mensch könnte das Recht für sich in Anspruch nehmen, darüber mit Gott zu rechten ? Und steht es einmal fest, dass Gott sich geoffenbart hat, so bleibt dem Menschen nur eine Antwort : gläubige Hinnahme des göttlichen Wortes. Denn dieses Wort Gottes gilt überall und für alle, hat übernationalen und überrassischen Charakter.“13 Allerdings relativiert der Verfasser dann sogleich die jüdische Herkunft der Schriften : „Die Offenbarung Gottes mag an einen jüdischen oder nordischen Menschen ergangen, mag also in jüdische oder nordische Form gegossen sein, was wir vernehmen, was uns verpflichtet, ist weder jüdisches noch nordisches, sondern göttliches Wort.“14 Gott habe seine Offenbarung zwar den Juden anvertraut, insofern könne man von der jüdischen Bibel sprechen; dies bedeute aber keinesfalls, dass der gesamte Inhalt der Heiligen Schrift als jüdisch - menschliches Produkt anzusehen sei. Hier versuchen die „Studien“ Rosenbergs Vorwurf zurückzuweisen, das Christentum sei „verjudet“, weil es das jüdische Alte Testament und den starren jüdischen Jahwe - Glauben übernommen und Europa damit infiltriert habe. Das Christentum habe das Alte Testament nicht als „jüdisches“, sondern als „göttliche Offenbarung enthaltendes“ Buch übernommen. Darüber hinaus werde das Alte Testament von der Kirche nicht überschätzt, da es aus der Perspektive des Neuen Testaments als unabgeschlossen und über sich hinausweisend betrachtet werde. Auch der alttestamentliche Gottesbegriff stehe noch nicht auf der Höhe des Neuen Testaments – dies rechtfertige aber keineswegs eine pauschale Verwerfung, denn der Gott des Alten Testaments sei der wahre Gott und als solcher weder jüdisch noch germanisch. Das vermeintlich Dämonische am Gott des Alten Testaments, das Rosenberg hervorhebt, indem er Jahwe als „Wüstendämon“ bezeichnet, erklärt Steinberg mit einer notwendigen Betonung des Furchtmotivs in der Beziehung zu Gott angesichts der rauen Sitten jener Zeiten, modern gesprochen als eine Kontextualisierung der Offenbarung : „Sicher ist in der alten Zeit das ‚Abstandsgefühl‘ des Menschen gegenüber Gott stärker betont worden. Wenn sich aber schon der göttliche Wille mit seinen hohen Forderungen gegenüber den rauhen Sitten dieser Zeit durchsetzen sollte, war eine den Christen zunächst befremdende Hervorhebung des Furchtmotivs gar nicht zu umgehen. Gerade hierin zeigt sich wieder die feine Anpassung der göttlichen Offenbarung an die jeweilige Situation des Menschengeschlechtes, und nichts wäre falscher, als eine bloße Stufe der Offenbarung zu verabsolutieren und von einer innerlich möglichen und tatsächlich erfolgten Entwicklung abzusehen.“15 Dennoch sei das Alte Testament ein einzigartiges Dokument seiner Zeit – als Menschenwerk oder jüdisches Buch ohne göttliche Inspiration wäre seine Existenz schlechthin unbegreif lich. Hier gleitet die Argumentation mit der göttlichen 13 Ebd., 76 f. 14 Ebd., S. 77. 15 Ebd., S. 79 f. ( Hervorhebung im Original ).

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Inspiration der Heiligen Schriften ab in eine Relativierung ihres jüdischen Ursprungs mit dem Ziel, den Vorwurf der Verjudung des Christentums zurückzuweisen. Der Verfasser zitiert an dieser Stelle aus den berühmten Adventspredigten Kardinal Faulhabers, die dieser im Advent 1933 gehalten hatte und deren Intention die Verteidigung der ewigen religiösen, sittlichen und sozialen Werte des Alten Testaments im Gegensatz zu einer germanisierten Religion war.16 Faulhaber betonte in seinen Predigten, die nicht explizit gegen Rosenberg gerichtet waren, ebenso wie die „Studien“ den inspirierten Charakter des Alten Testaments, die religiöse Bedeutung seines Monotheismus, die sittliche Bedeutung der Zehn Gebote und besonders auch die Werte, die das Alte Testament hinsichtlich der Wirtschaftsordnung, der Menschenrechte ( !) und der Rechtspflege enthält. Wir finden auch hier die Abstufung des Alten gegenüber dem Neuen Testament sowie typische antijüdische Stereotypen wie die pharisäische Gesetzesmoral oder die jüdische Rachsucht, die sich in den Fluch - und Rachepsalmen ausdrücke. Auch Faulhaber verwendete die Lehre von der Inspiration der alttestamentlichen Schriften wie die „Studien“ dazu, den jüdischen Charakter des Alten Testaments zu relativieren. Am Ende der dritten Adventspredigt, die ausführlich und mit großer Sympathie die alttestamentlichen Regelungen des Wirtschaftslebens und des Rechtes darstellte, wies Faulhaber auf den göttlichen Ursprung dieser Schriften mit den Worten hin : „Volk Israel, das ist nicht als deine Pflanzung in deinem Garten gewachsen. Dieses Wehe über wucherischen Großgrundbesitz, dieser Kampf gegen die Überschuldung der Landwirtschaft, dieses Verbot, Zins zu nehmen, ist nicht Geist von deinem Geiste.“ Allerdings nimmt das Ganze hier wieder eine ironische Wendung, denn wer – wie Rosenberg – nicht an die Inspiration der alttestamentlichen Schriften glaube, müsse zwangsläufig „das Volk Israel für das Übervolk der Weltgeschichte halten“. „Es gibt keine andere Wahl als dieses Entweder - Oder. Entweder glauben wir an die Inspiration der Hl. Bücher oder wir müssen dem jüdischen Volke sagen : ‚Du bist die genialste Rasse der Weltgeschichte‘. Wir glauben an die Inspiration.“17

1.2

Bischof Joannes Baptista Sproll : Die Vergötzung des Blutes

Widerstand gegen völkisch - religiöses Gedankengut war nicht unbedingt mit einer grundsätzlichen Ablehnung der nationalsozialistischen Herrschaft gekoppelt. Bischof Joannes Baptista Sproll von Rottenburg war bereit, das NS - Regime als legitime Obrigkeit anzuerkennen, dem auch die Bischöfe Gehorsam schuldeten. Er war der Überzeugung, dass man manches am Nationalsozialismus anerkennen könne – z. B. sei die Besinnung auf die biologischen Grundlagen, 16 Michael Kardinal Faulhaber, Judentum, Christentum, Germanentum. Adventspredigten gehalten in St. Michael zu München 1933, München 1934, S. 75 f. 17 Ebd., S. 76.

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die Gesundheit und rassische Reinheit des Volkes an sich gut, sie dürfe nur nicht zu einer Ersatzreligion werden.18 Wichtigstes Anliegen Bischof Sprolls war die Bewahrung des katholischen Glaubens und die Abwehr der Angriffe auf Christentum und Kirche durch NS Ideologie und völkische Religiosität. Er setzte sich intensiv mit Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ sowie mit der Deutschen Glaubensbewegung und den Deutschen Christen auseinander. In seinem Fastenhirtenbrief von 1937 bezeichnete Sproll diese als neue Religionsstifter und Kirchenbauer, die Christus als dem wahren Bauherrn der Kirche den Bauplatz streitig machen und seine Baupläne durchkreuzen wollten. Der „Mythus“ propagiere eine deutsche Volkskirche, die aus rein irdischen Bausteinen entstehen solle : „Was an Bausteinen verwendet werden soll, sind rein - irdisch natürliche Kräfte und Stimmungswerte : Blut, Boden und Rasse; Ehre, Stolz, innere Freiheit, die adelige Seele und der Glaube an die Unzerstörbarkeit dieser Kräfte und Werte.“19 Dass diese Volkskirche die christlichen Konfessionen mit völkisch - religiösen Gruppen vereinigen solle, wies Sproll als ein unmögliches Projekt zurück : eine solche „Kirche“ habe mit der Kirche Jesu Christi nichts zu tun. Immer wieder kam Sproll in Predigten und Ansprachen auf diese Fragen zurück. Er protestierte gegen die Behauptung völkischer Religionsapologeten, dass Christentum und Deutschtum unverträglich seien, ebenso gegen die Verwerfung des Alten Testaments und die Negierung alles Übernatürlichen hinsichtlich der Gestalt Jesu Christi : „Man sucht es so darzustellen, als wäre das Christentum etwas Fremdes für arische Menschen, für deutsche Sippenangehörige, weil sein Stifter unter den Palmen des Morgenlandes und nicht in den deutschen Eichenhainen gewandelt ist.“20 Der „deutsche Gott“, der in der völkischen Religion gegen den „artfremden“ des Christentums gesetzt wird, sei kein persönlicher Gott, sondern die Vergötzung natürlicher, geschöpf licher Kräfte : „Mehr als gesundes, rassiges Blut ist dieser Gott nicht.“ Der nationale Gott sei kein transzendenter Gott, sondern rein immanent. „Dieser deutsche Gott ist eins mit der Welt und eigentlich höchst unnötig.“21 Interessant ist in diesem Zusammenhang Sprolls Definition von Religion. Von Religion könne man erst sprechen, wenn an einen jenseitigen Gott geglaubt werde, vor dem die Menschen Rechenschaft für ihr Handeln ablegen müssten. Der immanente Gott der völkischen Religion nehme vom Menschen alle Verantwortung und mache ihn sich selbst zum Gesetz. Für Sproll ist dies

18 Predigt des Bischofs Sproll im Münster zu Weingarten vom 14. 3. 1933. In : Paul Kopf / Max Miller ( Hg.), Die Vertreibung von Bischof Joannes Baptista Sproll von Rottenburg 1938–1945. Dokumente zur Geschichte des kirchlichen Widerstands, Mainz 1971, S. 4–11, hier 6. 19 Joannes Baptista Sproll, Die Kirche Jesu Christi. Fastenhirtenbrief 1937. Hg. vom Bischöf lichen Ordinariat Rottenburg, Rottenburg 1937, S. 3. 20 Ebd., S. 5. 21 Beide Zitate in Predigt vom 14. 3. 1933. In : Kopf / Miller ( Hg.), Vertreibung, S. 5.

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kein „positives“ Christentum, sondern „im letzten Grunde vollendetes Heidentum“.22 Die Gottesleugnung in der völkischen Religion ging für Sproll mit der Christusleugnung einher, d. h. der Leugnung der Gottessohnschaft Jesu und seines Erlöserseins. In diesem Zusammenhang wandte sich der Bischof auch expressis verbis gegen den Mythos vom arischen Jesus : „Was hat die Welt denn an seiner [ Jesu ] Person auszusetzen ? Dass er ein Jude ist, im Judenland geboren, von jüdischen Vorfahren abstammend. Die Arier wollen nicht mit jüdischem Blut erlöst sein. Einige geben sich verzweifelte, aber vergebliche Mühe, nachzuweisen, dass Christus trotz allem ein Arier gewesen sei. Nun lese man doch das ganze Neue Testament und man wird finden, dass Jesus nur als Jude den Anspruch erheben konnte, der verheißene Messias zu sein. Jesus ein Arier – das ist die luftigste Hypothese, die je aufgestellt wurde. Wenn Jesus nur Mensch ist, ist es uns gleichgültig, ob er Jude oder Arier ist. Wenn er aber Gottessohn und Welterlöser sein sollte, dann hatte Gott selbst zu bestimmen, aus welchem Volke der Welterlöser abstammen sollte.“23 Dies ist eine klare Absage an alle Versuche, die Rassenideologie in die christliche Religion zu integrieren, und eine Besinnung auf die Heilsbedeutung des Volkes Israel. Das Motiv, das dahinter steht ist „konservativ“ : Es geht um die Bewahrung der reinen Glaubenslehre. An anderer Stelle ging Sproll auf die Kritik ein, die Lehre von der stellvertretenden Sühne widerspreche dem deutschen Sittlichkeitsempfinden. Schuld sei eine zutiefst innerliche und persönliche Gegebenheit, die deshalb nicht von jemand Anderem übernommen und gebüßt werden könnte. Wiedergutmachung könne nur durch eigene Leistung geschehen. Dagegen setzte Sproll das christliche Bewusstsein, dass die natürlichen Kräfte zu schwach seien, die Sünde zu überwinden, und der Unterstützung durch die Kräfte der Übernatur, d. h. durch die Gnade bedürfen.24 Kein deutscher Gott also, sondern ein transzendenter Gott aller Völker, kein arischer oder rein menschlicher Jesus, sondern der Gottessohn aus dem Volk Israel, keine deutsche Nationalkirche, sondern die weltumspannende, universale Kirche : „Die wahre Kirche kann und darf keine Nationalkirche sein. Die wahre Kirche Christi ist universal, wie auch seine Wahrheit. Christi Wahrheit ist für alle – ohne Unterschied der Rassen.“25 Diese wahre Kirche war für Sproll identisch mit der katholischen Kirche, die auf die historische Stiftung durch Jesus zurückgeht. Er verwahrte sich dabei gegen jede Relativierung des Felsenwortes Mt. 16,18 als nicht authentisch.

22 Ebd., S. 6. 23 Ebd., S. 7. 24 Predigt des Bischofs Sproll in der Wallfahrtskirche zu Weingarten vom 22. 5. 1936. In : Kopf / Miller ( Hg.), Vertreibung, S. 23–30, hier 25. 25 Sproll, Die Kirche Jesu Christi, S. 5.

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Paul Simon : Die Geschichte der Kirche als Rassenkampf ?

Der Paderborner Dompropst Paul Simon, zuvor Professor für Philosophie und Apologetik in Tübingen und Rektor der Tübinger Universität, veröffentlichte 1934 eine umfangreichere Schrift zur Auseinandersetzung mit dem „Mythus“,26 den er nicht für sonderlich originell hielt. Er bezeichnete ihn als eine in vielen Punkten veränderte, aber nicht wesentlich neue Darstellung der Ansichten Nietzsches und von Houston Stewart Chamberlain, die von einer einzigen These getragen werde : der Behauptung der Überlegenheit der germanischen Rasse. Anders als die meisten katholischen Opponenten gegen Rosenbergs Schrift, die durch den Verweis auf deren unwissenschaftlichen und fehlerhaften Charakter zeigen wollten, dass das Ganze nicht ernst zu nehmen sei, warnte Simon ausdrücklich davor, den „Mythus“ zu unterschätzen. Nicht weil er dessen Inhalt für wissenschaftlich hielt, sondern weil er dem Buch attestierte, beim Leser den Eindruck zu erwecken, dass von Historikern und Philosophen bisher etwas ganz Wesentliches übersehen worden sei. Wegen der starken Spezialisierung der Wissenschaften und des Expertentums auf der einen und dem Interesse des Volkes an den Gegenständen der Wissenschaft auf der anderen Seite steige der Bedarf an popularisierender Literatur. Rosenbergs Schrift sei nun durchaus in der Lage zu suggerieren, dass die apodiktischen Urteile über die verschiedensten Wissensgebiete plausibel seien. Die Geschlossenheit des Werkes resultiere daraus, dass Rosenberg alles unter dem Gesichtspunkt der Rasse betrachte. Simon fragte daher, ob die „Rasse“ tatsächlich die treibende Kraft der Geschichte sein könne – wenn dies so wäre, müsste es möglich sein, die gesamte Geschichte der Kirche als Rassenkampf darzustellen. Dies sucht er mit der Beobachtung zu widerlegen, dass die Kirche des Mittelalters sich nicht zu wenig, sondern eher zu viel an die „germanisch“ geprägten Ordnungen angelehnt und mit dem Volkstum verbunden habe. Die höchsten Ämter der Kirche seien in der Regel mit Adeligen besetzt worden, deren edles Blut sie nicht unbedingt von Machtmissbrauch und Verbrechen abgehalten habe : „Will man aber den Mythos der Rassenseele mit der Kirchengeschichte stützen, so gerät man mit seinem Ideenprinzip in Widerspruch, weil die Tiefpunkte der Kirchengeschichte zum größten Teil zurückzuführen sind auf Menschen, an deren edlem Blut man nicht zweifeln kann.“27 Insbesondere wandte sich Simon der Verklärung des deutschen Mystikers Meister Eckart als „größten Apostel des nordischen Abendlands“ durch Rosenberg zu. Meister Eckart war für Rosenberg der wiedergeborene germanische 26 Paul Simon, Mythos oder Religion, Paderborn 1934. Paul Simon (1882–1946), 1907 Priesterweihe, 1919 Professor für Patrologie und klass. Philologie in Paderborn, 1925 Professor für Philosophie und Apologetik in Tübingen, 1932–1933 Rektor, 1933 Domprobst in Paderborn, beteiligt an liturgischer Bewegung und ökumenischen Bemühungen, eng befreundet mit Reichskanzler Brüning. Vgl. BBKL, Band XVII (2000), S. 1296–1300; oder http ://www.bautz.de / bbkl / s / simon_p.shtml. 27 Simon, Mythos, S. 58.

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Mensch, in dem die Ideen von Ehre und Freiheit wiedergeboren worden seien. Meister Eckarts Lehre vom Seelenfünklein und der Vereinigung von Gott und Mensch in der mystischen Erfahrung deutete Rosenberg als höchsten Ausdruck germanischer Religion gegen das klein haltende Dogma : „Sechshundert Jahre ist es her, seit der größte Apostel des nordischen Abendlandes uns unsere Religion schenkte, ein reiches Leben daran setzte, unser Sein und Werden zu entgiften, das Leib und Seele knechtende syrische Dogma zu überwinden und den Gott im eigenen Busen zu erwecken, das ‚Himmelreich inwendig in uns‘.“28 Simon hielt dem entgegen, dass Meister Eckart als Schüler von Augustinus und Thomas von Aquin verstanden werden müsse, der durch den Neuplatonismus sowie durch jüdische und arabische Mystik geprägt sei. Die neuplatonische Mystik war pantheistisch, und wenn Meister Eckarts Rede an manchen Stellen nicht mehr theistisch erscheine, gehe das auf dieses Vorbild zurück. „Fragt man also, was eigentlich das Germanische an Eckehart sei, so würde man mit der Antwort, das sei sein angeblicher Monismus, etwas bezeichnen, was so ungermanisch wie möglich ist.“29 Von der Gottgleichheit der Seele zu sprechen, habe Meister Eckart explizit abgelehnt. Die Rede vom Seelenfünklein bedeute nicht, dass die Seele unerschaffen sei, sondern als Seelenfünklein werde der Wesenskern des Menschen bezeichnet, der durch die Gnade Gottes zum Berührungspunkt mit Gott werde. Gerade an den Stellen, an denen Meister Eckart, Rosenberg zufolge, den „nordischen Geist“ besonders repräsentieren soll, sei er am meisten von Augustinus abhängig. Das „Himmelreich inwendig in uns“ lehre die gesamte Mystik aller Zeiten, dass nämlich das wort - und bildlose Gebet, die Vereinigung mit Gott in der Seele das höchste Ziel aller Frömmigkeit sei. „Sein Bekenntnis, das heute arisch genannt wird, ist das Bekenntnis der Mystiker aller Jahrhunderte und aller Nationen.“30 Fragt man also nach den Inhalten der neuen Religion, die auf den Mythos von der Rassenseele aufgebaut ist, so bleibt, Simon zufolge, nach der Ablehnung des Übernatürlichen, des Jenseits, des persönlichen Gottes und des Dogmatismus nur ein naturalistischer Pantheismus in verschiedenen Verkleidungen übrig. Dieser bleibe rein immanent und verabsolutiere bestimmte Werte. Was soll daran germanisch sein – fragte Simon; ist das nur im deutschen Volk möglich ? Der Pantheismus sei keine Religion, nicht einmal ein Mythos, sondern nur die Flucht vor der Religion, die unbequem geworden sei.

28 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch - geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit (1930), 111.–114. Auf lage München 1937, S. 219. 29 Simon, Mythos, S. 63 ( Hervorhebung im Original ). 30 Ebd., S. 66.

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Katholizismus und völkische Religion

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Alfred Delp : Ehre und Heldentum vor Gott

Der Jesuit Alfred Delp31 hat sich intensiv und mit guter Kenntnis völkisch - religiöser Autoren mit dem Phänomen völkischer Religiosität auseinandergesetzt. Im Jahr 1936 wurde ihm von Jakob Nötges die Redaktion des Jahrgangs der Zeitschrift „Chrysologus“ übertragen.32 Dies nutzte er zur Veröffentlichung einer umfangreichen Predigtreihe „zur Auseinandersetzung zwischen der katholischen Religion und den neuheidnischen Bestrebungen im deutschen Volk“. 38 Predigten wurden publiziert, von denen Delp elf selbst verfasst hatte.33 Delp befasste sich ausführlich mit den Schriften von Jakob Wilhelm Hauer, Ernst Graf zu Reventlow und Ernst Bergmann und stellte ihren Aussagen die kirchliche Glaubenslehre entgegen. Wie ernst er diese Auseinandersetzung nahm, wird daran deutlich, dass er völkischer Religiosität eine gewisse religiöse Ernsthaftigkeit nicht absprach, von den katholischen Gläubigen aber ein klares Bekenntnis zur kirchlichen Lehre verlangte. Die elf Predigten Delps beschäftigen sich zum einen mit der Frage nach dem Verständnis von Religion und Offenbarung sowie der Bedeutung Jesu Christi. Diesen Predigten folgen mehrere, die sich anthropologischen Fragen zuwenden, insbesondere der Geschöpf lichkeit des Menschen und der Sünde. In den Predigten über den „Mensch der Ehre“ und den „heldischen Menschen“ greift Delp am stärksten völkisch - religiöses Gedankengut auf – einerseits nähert er sich diesem hier sprachlich am stärksten an, andererseits ist seine Analyse nirgendwo schärfer und vernichtender. Die vier ersten Predigten zum Advent, zum Religionsbegriff, zur Offenbarung und zum historischen Christus enthalten eine schroffe Gegenüberstellung völkisch - religiöser Ideen und kirchlicher Lehre. Die Kritik richtet sich im Kern darauf, dass die völkische Religion rein im Innerweltlichen verhaftet bleibt. Sie bezieht sich nur auf Menschliches und Endliches, sie gründet nicht auf der Offenbarung eines persönlichen Gottes, sondern in „arteigener“ Gotteserfahrung : „Religion wird zu einem biologischen, rassisch begrenzten Pantheis-

31

Alfred Delp (1907–1945), Jesuit, 1937 Priesterweihe, Schriftleiter der „Stimmen der Zeit“, Mitarbeit im Kreisauer Kreis, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 Inhaftierung, Verurteilung zum Tode im Januar 1945, Hinrichtung am 2. Februar; Delps Schriften (philosophische und theologische Abhandlungen, Predigten und Briefe sind in 5 Bänden gesammelt ) vgl. Roman Bleistein, Alfred Delp. Geschichte eines Zeugen, Frankfurt a. M. 1989; Lucia Scherzberg, Widerstand und Theologie. Zum 100. Geburtstag von Alfred Delp. In : theologie.geschichte, 2 (2007); http ://aps.sulb.uni - saarland.de / theologie.geschichte / inhalt /2007/72.html. 32 Die Predigtzeitschrift „Chrysologus“ erschien in Paderborn und wurde von dem Jesuiten Jakob Nötges mit herausgegeben. Nötges hatte 1931 ein Buch mit dem Titel „Nationalsozialismus und Katholizismus“ veröffentlicht, das eine Zusammenstellung mit dem Christentum unvereinbarer NS - Aussagen vornehmlich aus „Mein Kampf“ und dem „Mythus“ enthält ( vgl. Burkard, Häresie, S. 57). 33 Alle Predigten in : Roman Bleistein ( Hg.), Alfred Delp, Gesammelte Schriften, Band 1, S. 111–193.

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mus.“34 Zugleich wendet sich der Mensch einem Götzen zu : Die völkische Religion ist für Delp „der ungeheure Versuch einer nationalen Selbstvergötzung“.35 Delp erläutert das traditionelle katholische Offenbarungsverständnis, das eine natürliche und eine übernatürliche Offenbarung kennt. In den Werken der Schöpfung kann der Mensch den Schöpfer, also Gott, erkennen, doch ist dies immer eine mittelbare Erkenntnis, die zusätzlich der übernatürlichen Offenbarung bedarf. Diese übernatürliche Offenbarung Gottes, die direkte Ansprache durch Gott im Alten Bund und schließlich durch Jesus Christus bezeichnet Delp als eine historisch sichere Tatsache, die bezeugt ist durch außergewöhnliche Zeichen und Wunder und durch die 2000 - jährige Existenz der Kirche. Insofern ist die Offenbarung zwar ein geschichtliches Ereignis, dem man einen geschichtlichen Ort zuweisen kann, ihr Inhalt aber übersteigt diese Begrenzung : er ist übergeschichtlich und „übervölkisch“. Schon für den Menschen sind in Delps Verständnis die Schranken zwischen den Völkern nicht so groß, dass sie nicht überwunden werden könnten; erst recht gilt dies für Gott. In der völkischen Kritik wird nach Delp die natürliche Ordnung niemals überschritten, die Gottsuche findet nur in einem inner weltlichen Rahmen statt; die Möglichkeit einer übernatürlichen Offenbarung wird grundsätzlich abgelehnt und die für Delp feststehende Tatsache einer geschichtlichen Offenbarung als irrelevant, weil rassenfremd, betrachtet. „Bei richtiger Anwendung gesunder Prinzipien könnte dieses Beginnen höchstens zu einer Art richtiger Naturreligion führen. Aus falschen Ansätzen heraus wird auch diese Möglichkeit verfehlt.“36 Auch die Predigt über Jesus Christus, die bezeichnenderweise den Titel „Der historische Christus“ und nicht „Der historische Jesus“ trägt, geht von der historischen Gewissheit der endgültigen und unüberbietbaren Offenbarung in Jesus Christus aus. Wunder und Zeichen, insbesondere die Auferstehung Jesu, dienen Delp als Beleg für diese Gewissheit. Die völkische Religion dagegen erblicke in Jesus Christus entweder das Produkt eines Mythos, wie z. B. Rosenberg oder erkenne lediglich seine religiöse und menschliche Größe an und unterscheide sich darin nicht von der liberalen Theologie. Die Verpflichtung durch die Botschaft Jesu werde nicht anerkannt, weil sie als „artfremd“ angesehen werde. Für den Katholiken seien die historischen Tatsachen der Offenbarung ausschlaggebend. Besonders interessant ist Delps Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Ehre und des Heldentums. Er wies die Behauptung zurück, dass Ehre dem Christentum fremd sei und dass die Werte der Ehre und der Liebe miteinander in Konkurrenz stünden. Ehre als Treue zum inneren Selbst sei dem Christentum nicht wesensfremd, weil es die Gewissensentscheidung als letzte Instanz fordere und achte. Der „Irrtum und Irr weg unserer Volksgenossen“ beginne allerdings dort, wo sie das irdische Leben und die in ihm gelebte Ehre als die 34 Ebd., S. 124. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 131.

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letzte Wirklichkeit darstellten. Der Christ wisse, dass dieses Leben über sich hinaus weise und ihm ein Plan und Ziel gegeben sei. Liebe sei in diesem Zusammenhang eine Ausrichtung des Willens auf Gott und Demut nicht „eine prinzipielle Vorliebe für das Kleine und Niedrige und Wertlose, sondern nur die Konsequenz aus der Tatsache, dass er selbst nicht die höchste und letzte Wirklichkeit ist.“37 Der Christ weiß also, was Ehre ist, und hat auch die Pflicht zu dieser Ehre, jedoch unterscheidet er sich von den Menschen, „deren Ehre nicht über sie selbst hinausreicht“.38 In einer weiteren Predigt befasste Delp sich mit dem Heldentum, das er als Konsequenz und praktische Verwirklichung des „Gesetzes der Ehre“ begreift. Der Held gehorche, wie Rosenberg schreibe, keinem Gebot außer den selbsterzeugten Gesetzen der Ehre. Delp analysiert mit beißender Schärfe den Mythos vom Helden, der in den Kampf zieht und untergeht, den Mythos von der unausweichlichen Tragik des heldischen Schicksals, den Mythos von der Selbstver wirklichung als Marsch in den Tod. Schon in seiner Auseinandersetzung mit Martin Heideggers „Sein und Zeit“, mit dem Dasein zum Tode und der Entschlossenheit zur Meisterung des Lebens, die daraus erwächst, auch wenn das Ganze kein anderes Ziel als den Tod hat, hat Delp die Ähnlichkeit dieser Tragik mit dem völkischen Heldenmythos festgestellt. Hier betont er noch einmal, dass diese Verklärung als „Tragik“ lediglich verschleiere, dass es sich um die Zumutung absoluter Sinnlosigkeit handele : „So wird die Selbstverwirklichung eine Selbstvernichtung, der Marsch des hämmernden Lebens ein Zug in den abgründigen Tod. Dieser Mensch muss kämpfen, muss wagen und darf letztlich doch nicht fragen, wozu. Er spürt das Ungenügen seiner persönlichen Setzung, aber das gerade soll sein Heldentum ausmachen, dass er trotzdem fraglos und wortlos in das Dämmerdunkel zieht und darin untergeht. Schließlich erklärt er das Sinnlose und das Grundlose zu Sinn und Grund seines Einsatzes, er steht vor dem neuen Lügenbild : der Tragik. [...] Das ist nun ‚der Kern nordischer Erlösung als heldische Lebensbejahung‘ [...] : die sinnloseste Nacht, die Menschen je zugemutet wurde.“39 Im Unterschied dazu weiß, Delp zufolge, der Christ, warum und wofür er kämpft. Die heldische Haltung ist nicht Wert an sich, sondern Mittel zum Zweck der Erreichung höherer Werte. Auch die Tragik ist im christlich verstandenen Heldentum überwunden : Der Christ ist zum Einsatz verpflichtet, und wie Delps Schicksal zeigt, kann ihn dieser Einsatz auch das Leben kosten, aber er ist „voll Gewissheit und Zuversicht, dass er zu einem Einsatz verpflichtet ist, der Härte und Mühsal und Verwundung und Tod in Aussicht stellt und der trotzdem sinnvoll und ergebnisreich ist – vor Gott. [...] Der Sinn dieses höchstgesteigerten irdischen Einsatzes reicht über den Raum der Erde hinaus.“40

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Ebd., S. 171 f. Ebd., S. 173. Ebd., S. 177. Ebd., S. 181 f.

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Anton Stonner und Konrad Algermissen : Eine Synthese von Christentum und Germanentum

Das Hauptanliegen der beiden Theologieprofessoren Anton Stonner41 und Konrad Algermissen42 ist die Zurückweisung der Behauptung, das Christentum, insbesondere in seiner katholischen Form, sei undeutsch. Ihre Bücher sind jedoch sehr unterschiedlich. Stonners „Germanentum und Christentum“ von 193343 ist ein schmales Bändchen von 90 Seiten, das laut Vorwort eine pädagogische Absicht verfolgt. Da die deutsche Vor - und Frühgeschichte in der Jugenderziehung in und außerhalb der Schule eine so große Bedeutung erlangt habe, müssten Lehrer und Erzieher und auch Verantwortliche in der Jugendarbeit dafür ausgerüstet werden. Stonner hoffte, dass dieser Kreis und alle weiteren Interessierten dadurch angeregt werden, „aufgeschlossen und gegenwartswach sich selber und die anvertraute Jugend zu ganzen Deutschen und ganzen Christen zu erziehen im Sinne unserer großen deutschen frühchristlichen Vergangenheit“.44 Algermissens umfangreiches Werk mit gleichlautendem Titel45 will auf über 400 Seiten eine Geschichte der deutschen Frömmigkeit auf wissenschaftlicher Grundlage bieten. Es enthält ein Kapitel mit einer deutlichen Kritik am „Mythus“, das in etwa die gleichen Argumente anführt wie die o. g. Autoren, und versucht, zentrale Ideen völkisch - religiöser Provenienz zu widerlegen. Nach41

42

43 44 45

Anton Stonner (1895–1973), Jesuit von 1914–1928, 1922 Priesterweihe, 1935 Habilitation in Katechetik und Pädagogik, 1940–1945 Deutsche Universität Prag, dann in München, Suspendierung wegen NS - Vergangenheit, lehrte seit 1948 in Bonn an der Katholisch - Theologischen Fakultät, seit 1951 Ordinarius für Katechetik und Pädagogik. Vgl. Georg Denzler, Widerstand ist nicht das richtige Wort. Katholische Priester, Bischöfe und Theologen im Dritten Reich, Zürich 2003, S. 74–82; Erwin Gatz, Die Bonner Katholisch - Theologische Fakultät im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit. In: Thomas Becker ( Hg.), Zwischen Diktatur und Neubeginn, Die Universität Bonn im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 59–78, hier 76 f.; Norbert M. Borengässer, Zur Geschichte der Pastoraltheologie an der Bonner Katholisch - Theologischen Fakultät. In : Ulrich Feeser - Lichterfeld / Reinhart Feiter ( Hg.), Dem Glauben Gestalt geben. Festschrift für Walter Fürst, Münster 2006, S. 347–365, hier 360 f. Konrad Algermissen (1889–1964), 1916 Priester weihe, 1926–1933 Dezernent für „Apologetik und religiös - kulturelle Zeitfragen“ beim Volksverein für das katholische Deutschland, Beschäftigung mit Kommunismus und Neuheidentum, 1934 Dozent am Priesterseminar Hildesheim, 1936 Professor für Dogmatik und Moraltheologie, Verbot mehrerer Schriften durch die Nationalsozialisten, 1940–1944 Verzicht auf Publikationsund Vortragstätigkeit, 1954 Domkapitular. Seine bekannteste Schrift ist die etliche Male aufgelegte „Konfessionskunde“. Er verfasste auch den Artikel über völkische Religion in der 2. Auf lage des Lexikon für Theologie und Kirche. Vgl. BBKL, Band XXII (2003), S. 6–17; oder http ://www.bbkl.de / a / algermissen_k.shtml. Anton Stonner, Germanentum und Christentum. Bilder aus der deutschen Frühzeit zur Erkenntnis deutschen Wesens, Regensburg 1933. Ebd., S. 6. Konrad Algermissen, Germanentum und Christentum. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frömmigkeit, Hannover 1934.

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dem Algermissen das Kapitel über den „Mythus“ als Sonderdruck veröffentlicht hatte, wurde das Buch im August 1935 in Preußen von der Gestapo verboten. Gleichwohl will Algermissen eine Synthese zwischen Deutschtum und Christentum; er ist „der heutigen nationalen Bewegung [...] dankbar dafür, dass sie das Volk auf seine großen natürlichen Werte mit aller Deutlichkeit hingewiesen hat“,46 und sieht Kirche und NS - Staat in der Arbeit an einer „realen Verbindung von Religion und Volkstum“47 gemeinsam in die Pflicht gerufen. Bei Stonner geht die Affirmation noch ein wenig weiter. Die Synthese von Volkstum und Christentum sei die große den deutschen Katholiken gestellte Aufgabe der Zeit, „das völkische Erwachen der Gegenwart“ könne zu einem Weg zu Gott werden. „Es ist meine tiefe Überzeugung, dass auch für uns Gott sich im Neuaufbruch unseres Volkes kundtun kann.“48 Beiden Autoren zufolge nahmen die Germanen die christliche Religion nicht zwangsweise an, sondern waren innerlich dazu bereit. Darüber hinaus inkulturierte sich die christliche Lehre in das germanische Denken und Fühlen. Für die gegenwärtige Zeit wird deshalb für den pastoralen und pädagogischen Bereich empfohlen, der Pflege des Brauchtums zu den kirchlichen Festtagen und der besonderen Verehrung deutscher Heiliger besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Besonders sei der Blick auf die grundlegende These Konrad Algermissens gerichtet. Algermissen lehnte jegliche Herleitung der Religion von der Rasse sowie jegliches Bemühen ab, auf „rassischen“ Grundlagen eine neue Religion zu schaffen, und argumentiert diesbezüglich in gleicher Weise wie die oben genannten katholischen Theologen. Allerdings sah er die Größe ( Überlegenheit) der Indogermanen, d. h. der Arier, und des germanischen Volkes in deren geistigen und seelischen Eigenschaften begründet. Bereits die ersten Kapitel des Buches, die sich mit der Herkunft der „Arier“ und der Entstehung der Germanen befassen, zeigen diese Tendenz, nicht auf „rassischer“ oder „blutmäßiger“ Basis zu argumentieren, sondern auf geistig - kultureller. Algermissen bestritt die Richtigkeit der Behauptung, dass die „Arier“ aus dem Norden stammten; er spricht von vielfältiger „Rassenmischung“ der „Arier“ mit anderen Völkern. Die Indogermanisierung Europas ist für ihn nicht auf ein physisches, „blutmäßiges“ Übergewicht der nordischen Rasse zurückzuführen, sondern ein Sieg der seelischen und geistigen Eigenschaften der „Arier“, „die sie vor allem zu einer hochstehenden Sprache und Kultur, zu einer tiefen Weltanschauung und Religion befähigten“.49 Die Vorherrschaft der „Arier“ ist also eher als ein kultureller Imperialismus zu verstehen. Auch bei der Entstehung des germanischen Volkes stehen für Algermissen psychische Kräfte über den physischen. „Nordische, schwere, erns-

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Ebd., S. XI. Ebd., S. XIII. Stonner, Germanentum, S. 13. Algermissen, Germanentum, S. 27.

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te, tiefgründige, im Lebenskampf gestählte Rassenanlage verband sich mit der hohen geistigen und künstlerischen Begabung, dem seelischen Schwung und der Kraft der Ausdrucksfähigkeit des arischen Menschen. So wurde germanische Art, germanische Sprache, germanisches Volk.“50 Die germanische Religion sei zum Zeitpunkt der Christianisierung in einem Zustand der Zersetzung gewesen – Algermissen spricht von einem niederdrückenden Dämonen - und Schicksalsglauben, ja von einer Angstreligion. Die völkisch - religiöse Rede vom germanischen Menschen, der erhobenen Hauptes vor seinem Gott gestanden habe, sei Unsinn. Algermissen kehrte hier die Rosenberg’schen Vorwürfe gegen das jüdische Gottesbild und die jüdische Religion gewissermaßen um und richtete sie gegen das Spätstadium germanischer Religiosität. Allerdings spricht auch er von der besonderen persönlichen und innigen Beziehung des germanischen Menschen zu seinem Gott und seinem besonderen religiösen Gefühl. „Die Eigenart christlich - germanischer Frömmigkeit liegt in der Verbindung einer überrationalen religiösen Tiefe und mystischen Schau des durch Christus geoffenbarten Göttlichen mit subjektivem Erleben desselben in der Sphäre des Konkreten, Irdischen und Menschlichen.“51 Das herausragende Beispiel einer Synthese von Christentum und Germanentum ist für Algermissen wie für Stonner der „Heliand“, der die Geschichte Jesu in eine deutsche Umgebung verlegt und die Christusnachfolge als Gefolgschaftstreue versteht.

1.6

Hugo Koch : Kritik an den „Studien“ und Affirmation des „Mythus“

Der Theologe Hugo Koch, der in früheren Jahren unter „Modernismus“ - Verdacht geraten war, kritisierte in seiner Schrift „Rosenberg und die Bibel“ von 1935 die „Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts“.52 Diese setzten für ihre 50 Ebd., S. 45. 51 Ebd., S. 266. 52 Hugo Koch, Rosenberg und die Bibel. Zum Streit um den „Mythus des 20. Jahrhunderts“, Leipzig 1935. Hugo Koch (1869–1940), Priester, Patristiker, dogmengeschichtliche Studien zum päpstlichen Primat und zur Jungfrauengeburt, Verhinderung zahlreicher Berufungen aufgrund des Vor wurfs des Modernismus, 1904 Professor für Kirchengeschichte und kanonisches Recht in Braunsberg, 1912 Dienstentpflichtung aus gesundheitlichen Gründen, Privatgelehrter in München, später Annäherung an den Nationalsozialismus. Vgl. Gregor Klapczynski, „Ab initio sic non erat!“ „Modernismus“ am Beispiel Hugo Koch (1869–1940). In : Judith Schepers / Hubert Wolf ( Hg.), „In wilder, zügelloser Jagd nach Neuem“. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche, Paderborn 2009, S. 271–288; ders., Das „Wesen des Katholizismus“ – oder : Warum Paulus in Korinth kein Pontifikalamt hielt. Ansichten des Kirchenhistorikers Hugo Koch (1869–1940). In : Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 25 (2006), S. 251–269; ders., Ein zoologisches Kriterium der Kirchengeschichte ? Zu den frühen Jahren des „Modernisten“ Hugo Koch. Ein Brief an P. Odilo Rottmanner OSB. In : Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 22 (2003), S. 235– 248.

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vermeintlich wissenschaftliche Argumentation die Offenbarung und die kirchliche Lehre der Inspiration der Heiligen Schrift voraus. Wenn z. B. die Passion Jesu als etwas betrachtet werde, dass durch das Alte Testament geweissagt worden sei, dann übersehe man, dass dies im Neuen Testament aus der Retrospektive gesagt werde und damit natürlich keinen historischen Wert habe. Dadurch gerieten die Verfasser der „Studien“ in den Zirkelschluss der traditionellen Theologie, dass sie einerseits die göttliche Stiftung der Kirche durch die Heilige Schrift zu beweisen suchten, andererseits aber die Inspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel aus der Tradition der Kirche herleiteten. Das Alte Testament ist für Koch letztlich kein Gottesbuch, sondern es bleibe ein „Jahwebuch“ oder, wie Rosenberg meine, eine „Judenbibel“. Es sei zwar die Bibel Jesu gewesen, doch dieser habe dem alttestamentlichen Gesetz innerlich frei und unabhängig gegenübergestanden. Die Bergpredigt, viele Gleichnisse, das Ährenraufen der Jünger am Sabbat oder der Schutz der Ehebrecherin vor der Steinigung – „das waren Hammerschläge, mit denen er alte Tafeln zertrümmerte“.53 Rosenberg sei in seiner Charakterisierung Jahwes als „Wüstendämon“ zuzustimmen. Der Gott des Alten Testaments trage viele dunkle Züge, überhaupt sei das Judentum eine auf Angst und Vorsichtsmaßnahmen gegründete Religion. Die Engherzigkeit des Gottesbildes habe sich auch auf das Neue Testament und die katholische Kirche übertragen – im Blick auf Letztere insbesondere in der Lehre von der Heilsnotwendigkeit der Kirche und dem Schüren der Höllenfurcht bei den Gläubigen. Das jüdische Gottesbild sei „blutgebunden“; das semitische Gottesbild kennzeichne die Vorstellung einer tiefen Kluft zwischen Gott und Mensch, während die indogermanische Religiosität von Gefühl, innerer Schau und einer innigen Verbindung von Gott und Mensch geprägt sei. Das Christentum habe eigentlich beide Haltungen miteinander versöhnen wollen, doch sei die katholische Kirche in der semitischen stecken geblieben. Den Mythos vom arischen Jesus lehnte Koch als unhistorisch ab, auch wenn in Galiläa eine Mischbevölkerung gelebt habe. Der dogmatische Christus, den er hier vom historischen Jesus abhebt, sei kein Jude, weil er vom Hl. Geist „gezeugt“ sei. Letzteres versteht Koch aber nicht historisch oder biologisch, weil er die Jungfrauengeburt als Legende ansieht und Jesus als den leiblichen Sohn von Maria und Josef, der nach dem Neuen Testament ja auch Brüder und Schwestern gehabt habe. Auch der Anspruch, der Messias zu sein, sei Jesus fremd gewesen. Besonders auffällig an Kochs Schrift ist der Antisemitismus, der seine Haltung zum Alten Testament und dessen Gottesbild deutlich prägt. Neben den theologisch antijüdischen Aussagen, wie der Ablehnung der Torah durch Jesus, finden sich antisemitische Stereotype in großer Zahl, wie z. B. das des jüdischen Blutsaugers, des jüdischen Vergewaltigers und der angestrebten jüdischen Weltherrschaft. Die prophetische Friedensvision der Völkerwallfahrt zum Zion deu53 Koch, Rosenberg, S. 8.

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tete Koch als Herrschaft Israels und Unter werfung der anderen Völker. Vor allem die Josephsgeschichte muss für antisemitische Hasstiraden herhalten. Nicht die Frau des Potiphar habe Joseph verführt, sondern Joseph habe sie vergewaltigen wollen und sich dann als unschuldig bezeichnet – so wie Juden das immer täten : „Bekanntlich sind Juden immer unschuldig, ob sie durch einen Anschlag auf einen Eisenbahnzug das Leben von Hunderten gefährden oder wie in Russland Hunderttausende ermorden, ob sie einen Bauern von Haus und Hof bringen oder ein ganzes Volk ins Unglück stürzen, ob sie ein armes Mädchen schänden oder einen ausgedehnten Mädchenhandel betreiben. Wird der Jude ertappt, so ist er immer ‚unschuldig‘.“54 Die „Studien“ kritisierten an Rosenbergs „Mythus“, dass dort der jüdische Charakter von Joseph bis Rothschild und Rathenau als der gleiche beschrieben werde, und betonten, dass Joseph Ägypten vor der Hungersnot gerettet habe. Dies wiederum deutete Koch als Unterjochung der Ägypter zu quasi Leibeigenen des Pharao : „Das ist in der Tat ein Musterbeispiel aus grauer Vorzeit, wie der Jude ein Volk ‚rettet‘, indem er es um seinen Besitz und um seinen Verstand zugleich bringt, so dass es ihn noch als Wohltäter und Menschenfreund feiert und die ewige Knechtschaft unterwürfig hinnimmt. Von ihm [ Joseph ] geht tatsächlich eine Linie bis zu Walther Rathenau, der durch die Kriegsgesellschaften, die er dem Kaiser aufredete, das deutsche Volk ebenso ausgehungert und um den Sieg gebracht hat, wie die auswärtigen Feinde, und zum Juden Hilferding, der mit der Notenpresse das Vermögen des deutschen Volkes in wenig Monaten in Papierfetzen verwandelte.“55 Auf der einen Seite argumentierte Koch also historisch - kritisch, z. B. hinsichtlich des sogenannten Weissagungsbeweises – dies führt ihn auch zu einer Ablehnung des Mythos vom arischen Jesus. Auf der anderen Seite aber stimmte er Rosenberg zu, dass die Religion „blutgebunden“ sei und wies auf dieser Grundlage den Gott des Alten Testaments zurück. Darüber hinaus zeigte er sich als wüster Antisemit.

1.7

Fazit

Die Hauptkritikpunkte am „Mythus“ sind zum einen die Unwissenschaftlichkeit des Vorgehens und die zahlreichen Fehler, zum andern die Vergötzung von etwas Endlichem, der Materialismus und die Immanentisierung der Religion. Der Überbetonung von Blut und Rasse wird der „übervölkische“ Charakter der christlichen Religion und der katholischen Kirche entgegengestellt. Die Botschaft Christi gelte allen Völkern ohne Unterschied, die gesamte Menschheit sei in Sünde und Erlösung solidarisch, die Zugehörigkeit zur Kirche unabhängig von Rasse und Kultur. Insbesondere aber wird der Vorwurf einer „Verjudung“ 54 Ebd., S. 41. 55 Ebd., S. 42.

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der Kirche zurückgewiesen – die Kirche halte zwar am Alten Testament als Gottesbuch und dem Gott des Alten Testaments fest, doch sei das Entscheidende das „Göttliche“ und nicht das „Jüdische“ an Gottesbild und Heiliger Schrift. Der Protest gegen den „Mythus“ bezog sich tatsächlich nur auf die Bestrebungen, eine neue Religion und eine Nationalkirche für alle Deutschen zu schaffen. Mit keinem Wort wurde, trotz des Festhaltens am Alten Testament, auf den überbordenden Antisemitismus des „Mythus“ eingegangen. Es wurde so getan, als sei die katholische Kirche der Hauptfeind Rosenbergs und nicht die Juden – Rosenbergs Gegenüberstellung von vergöttlichter „nordischer Rasse“ und verteufelter jüdischer „Gegenrasse“ erschien keines Kommentars wert.56 Die Gefahr, die aus der völkisch - religiösen Ideologie und ihrem Einsatz in der Erziehungs - und Bildungsarbeit für den Bestand der katholischen Kirche erwuchs, wurde sehr klar gesehen und entsprechend im Sinne des Schutzes der eigenen Organisation protestiert. Dass andere von Hass und Verfolgung noch stärker betroffen waren, kam nicht in den Blick. Auffallend ist der zumeist konser vative Charakter der theologischen Argumentation. Bischof Sproll beispielsweise sprach von der Universalität der wahren Kirche Jesu Christi, die natürlich mit der katholischen Kirche identisch sei, weil diese von Jesus Christus gestiftet sei. Sproll berief sich hier explizit auf die Echtheit des sog. Felsenworts in Mt. 16,18 : die Kirche geht auf einen rechtlichen Stiftungsakt des historischen Jesus zurück. Diese damals allgemein übliche Argumentation wird aufgrund der historischen Kritik von heutiger Fundamentaltheologie nicht aufrecht erhalten, sondern die Begründung der Kirche wird in ihrem Anknüpfen an die Reich - Gottes - Botschaft Jesu gesehen. Hugo Koch, der „Modernist“, hätte in keinem Fall so argumentiert wie Bischof Sproll. Ein weiteres Beispiel finden wir bei Alfred Delp. Dieser folgte in seiner Rede vom „historischen Christus“ dem traditionellen neuscholastischen Weg, Zeichen und Wunder als Beweis für die Göttlichkeit Jesu zu betrachten. Auch sprach er davon, dass die Heiligen Schriften des Neuen Testaments von Zeitgenossen Jesu unter dem unmittelbaren Eindruck der Tatsachen verfasst wurden und die Dokumente in ihrer ursprünglichen Form erhalten seien. Auch dies würde kein Theologe heute mehr behaupten. Bedeutet dies, dass eine konservative theologische Einstellung die Ablehnung völkischer Religiosität erleichterte ? Dies kann zunächst bejaht werden, denn das Festhalten an Offenbarung, Sünde, Erlösung, Kirche und Sakramenten im traditionell katholischen Sinne ist mit den Prinzipien völkischer Religiosität unvereinbar. Gleichwohl zog eine solche Position nicht automatisch die Ablehnung des Nationalsozialismus oder des Antisemitismus nach sich. Antijüdische Stereotype in der Beurteilung des Alten Testaments als Vorläufer und Schatten des Neuen Testaments und der „dunklen“ Züge des alttestamentlichen Gottes56 Vgl. Claus - Ekkehard Bärsch, Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ als politische Religion. In : Hans Maier / Michael Schäfer ( Hg.), Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktatur vergleichs, Band II, Paderborn 1997, S. 227–248. Bärsch weist besonders auf die Satanisierung der Juden als „Gegenrasse“ hin.

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bildes oder bestimmter Psalmen als Produkt „jüdischer Rachsucht“ gehen zumeist ebenfalls mit dieser theologisch konservativen Haltung einher. Hervorzuheben ist allerdings, dass Alfred Delps Auseinandersetzung mit den Begriffen der Ehre und des Heldentums weniger auf einer traditionellen Einstellung beruhte, sondern stark inspiriert war von seiner kritischen Beschäftigung mit Heidegger und dessen Verständnis von Geschichte. Ohne sein Geschichtsverständnis als „modernes“ Element wäre Delps Charakterisierung des Christen in seiner Verantwortung vor Gott und vor der Geschichte nicht denkbar. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass eine „moderne“ theologische Positionierung allerdings eher empfänglich machte für völkisch - religiöse Denkweisen, wie wir dies ansatzweise schon bei Hugo Koch gesehen haben.

2.

Integration völkisch - religiöser Elemente

Im zweiten Teil soll eine kleinere Gruppe von Priestern, Fachtheologen und Laien innerhalb der katholischen Kirche betrachtet werden, die ein entschiedenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus ablegten und Elemente völkischer Religiosität in ihre theologischen Reflexionen integrierten. Von diesen Grundsätzen ließen sie sich in ihren praktischen Bemühungen um eine Kirchenreform und eine Vereinigung der getrennten christlichen Konfessionen leiten. Dazu gehört die Gewichtung von Volks - bzw. Rassenzugehörigkeit und Taufe, die weitgehende Übernahme des Mythos vom arischen Jesus, allerdings in einer, wie zu zeigen sein wird, spezifisch katholischen Interpretation und die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen auf völkischer Basis. In diese Ökumene sollten auch völkisch - religiöse Kreise einbezogen werden. Man strebte nach einer deutschen Einheitskirche auf „völkischer“ Grundlage, auch dies wieder in einer spezifisch katholischen Variante. Protagonisten dieser Integration völkisch - religiöser Elemente waren der damals äußerst prominente Tübinger Theologe Karl Adam,57 der geistliche Religionslehrer Richard Kleine58 aus Duderstadt, einer der führenden Männer eines konspirativen Netzwerks nationalsozialistischer Priester sowie der katholische Laie Alois Brücker59 aus Köln, der Begründer des Bundes Deutsche Glaubenseinigung. 57 Zu Karl Adam (1876–1966) vgl. BBKL, Band XXX (2009), S. 1–20; oder http ://www. bautz.de / bbkl / a / adam_k_b.shtml; Lucia Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe, Darmstadt 2001; dies., Karl Adam und der Nationalsozialismus, Saarbrücken 2011 (= theologie.geschichte, Beiheft 3). 58 Zu Richard Kleine (1889–1974) vgl. Kevin Spicer, Hitler’s Priests, Catholic Clergy and National Socialism, Dekalb, Illinois 2008; Jörg Ernesti, Ökumene im Dritten Reich, Paderborn 2007, S. 226–238; Scherzberg, Kirchenreform, S. 276–289. 59 Alois Brücker wird in der Schrift des Franziskaners Erhard Schlund über völkisch - religiöse Gruppierungen ( Modernes Gottglauben. Das Suchen der Gegenwart nach Gott und Religion, Regensburg 1939, S. 134) als Gründer bzw. führender Mann des Bundes Deutsche Glaubenseinigung aufgeführt.

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Die Integration völkisch - religiöser Elemente sowie der Kontakt zu völkisch religiösen Kreisen sind vor allem in den Jahren zwischen 1938 und 1941 zu beobachten, also erheblich später als die Kontroverse um den „Mythus“. Beides ist deutlich von der Situation der ersten Kriegsjahre geprägt. 1933/34 finden sich dagegen z. B. bei Adam noch deutlich kritische Äußerungen gegen eine völkische Religion. Seine öffentlichen Angriffe auf Jakob Wilhelm Hauers Deutsche Glaubensbewegung trugen ihm eine vierzehntägige Suspendierung und massive Angriffe gegen seine Lehrveranstaltungen an der Tübinger Universität durch die SA und nationalsozialistische Studenten ein. Nichtsdestoweniger enthalten Adams Schriften auch schon zu dieser Zeit Äußerungen, die von völkischem Denken beeinflusst sind.

2.1

Volks - / Rassenzugehörigkeit und Taufe

1933 veröffentlichte Karl Adam in der Tübinger „Theologischen Quartalschrift“ einen Aufsatz über „Deutsches Volkstum und katholisches Christentum“, in dem er die Machtübernahme der Nationalsozialisten in begeisterten Worten begrüßte und Hitler als quasi messianische Gestalt zeichnete : „Und nunmehr steht er – Hitler – vor uns [...] als der Befreier des deutschen Genius, der die Binden von unseren Augen nahm und uns durch alle politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, konfessionellen Hüllen hindurch wieder das eine Wesenhafte sehen und lieben ließ : unsere bluthafte Einheit, unser deutsches Selbst, den homo Germanus. Das Wort vom deutschen Volkstum, schon bis zum Überdruss, bis zur schalen Leerheit verbraucht, wie bekam es nunmehr einen neuen hellen Klang. So aufwühlend und aufreißend sprang es die Menschen an, dass ihr Leben einen neuen Sinn gewann, dass sie heute zerstörten, was sie gestern noch anbeteten, dass sie über die Gassen und Zäune, über tausend Risse und Klüfte hinweg sich die Hand reichten und sich Kameraden und Brüder nannten. Es ist etwas Großes um dieses Massenerlebnis unserer volkshaften Einheit und bluthaften Verbundenheit.“60

Adam kleidete seine Einschätzung des Volkstums in die theologischen Begriffe von Natur und Übernatur / Gnade. Natur und Übernatur seien im katholischen Denken organisch miteinander verbunden, sodass auch die Gnade einen natürlichen Faktor enthalte. Sie ergreife die natürlichen Kräfte des Menschen und aktiviere sie in übernatürlicher Weise. Diese theologisch relevante menschliche Natur entfalte sich im konkreten Volkstum. Auf diesem Hintergrund hielt Adam die NS - Rassenpolitik und die Forderung nach „Blutreinheit“ für legitim. Wenn das Blut die Grundlage der Geistigkeit sei, müsse seine „Reinheit und Frische“ notfalls auch durch Gesetze erhalten werden. Dies widerspreche der kirchlichen Lehre nicht : „Nach dem, was oben über den Zusammenhang von Natur und Gnade dargelegt wurde, liegt sie [ die Forderung nach Blutreinheit ] aber auch in der Linie der kirchlichen Verkündigung, insofern ein gesundes, von Span60 Karl Adam, Deutsches Volkstum und katholisches Christentum. In : Theologische Quartalschrift, 114 (1933), S. 40–63, hier 42.

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nungselementen nicht belastetes Blut die beste ( natürlich nicht die einzig gute ) Grundlage für das übernatürliche Wirken der Kirche darbietet.“61 Adam interpretierte den Begriff der Natur hier im biologistischen Sinne. Dies entspricht nicht seiner theologischen Verwendung in der Neuscholastik, in der „Natur“ ein rein philosophischer Begriff ist, mit dem das Wesen eines Seienden bzw. seine Selbstentfaltung gemeint ist – der Begriff hat nicht die geringste biologische oder gar „völkische“ Konnotation. Adams Uminterpretation erlaubt, die Kategorien von „Blut“ und „Rasse“ in die Theologie zu integrieren. Allerdings versuchte Adam in einer Fortsetzung dieses Artikels, die aber nie veröffentlicht wurde, eine Relativierung dieser Einschätzung des „Blutes“. Dort sprach er davon, dass die Einheit des Blutes letztlich in einer tieferen Einheit, nämlich dem Einssein in Christus wurzele. In einer öffentlichen Rede 1934, die die kurzfristige Suspendierung zur Folge hatte, betonte er ebenfalls, dass die Einheit der Deutschen auf dem gemeinsamen Glauben an Christus beruhe. Für die Beurteilung des Judentums bedeutete dies allerdings dasselbe : Aus der tieferen Einheit aller Deutschen in Christus sind sie genauso ausgeschlossen wie aus der „Einheit des Blutes“. 1933 stellte Adam noch heraus, dass sich die Glieder der katholischen Kirche nicht im Wesentlichen, sondern nur im Akzidentellen unterscheiden könnten, d. h. in der Taufe verwirkliche sich für alle das gleiche Heil. Unterschiede gebe es allerdings in der Weise des religiösen Erlebens. 1939 radikalisierte sich seine Auffassung in einem Vortrag über die Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Katholizismus. Auch dort sprach er von einer innigen Verbindung von „deutscher Natur“ und Gnade, so dass sich das Gnadenleben entsprechend dem deutschen Volkscharakter forme. Frömmigkeit und Theologie seien immer völkisch geprägt. Adam wandte sich heftig gegen alle Versuche von katholischer Seite, diesen Zusammenhang abzustreiten. Das Allgemein - Menschliche sei zweitrangig verglichen mit der Zugehörigkeit des Menschen zu einer bestimmten Blut - und Schicksalsgemeinschaft. Eine universalistische oder humanistische Sichtweise verspottete er als einen „schwindsüchtigen Glauben“, als einen „Glauben ohne Blut“ und ein „lendenlahmes Allerweltschristentum“.62 Schließlich ging er so weit zu sagen : Wenn das deutsche Blut die Grundlage der Gnade ist, dann ist auch die Verbundenheit der Menschen gleichen Blutes stärker als die unter Christen verschiedenen Blutes. „Das deutsche Blut ist und bleibt der substantielle Träger auch unserer christlichen Wirklichkeit. Und dasselbe deutsche Blut verbindet uns auch mit all jenen, die nicht unseres Glaubens sind, zu unlöslicher Blutsgemeinschaft. Damit erledigt sich die bis zum Überdruss aufgeworfene Frage, ob dem Katholiken ‚der gläubige Hottentot näher stehe als der ungläubige Volksgenosse‘. Für die katholische Betrachtungsweise bleibt

61 Ebd., S. 61. 62 Karl Adam, Die geistige Lage des deutschen Katholizismus, unveröff. Ms., S. 19 ( Diözesanarchiv Rottenburg, NL Adam, N 67, Nr. 32).

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auch der glaubenslose Deutsche unser Bruder, wenn auch ein irrender Bruder. Und darum steht er in der Stufenfolge der Liebe jedem Artfremden voran.“63 Richard Kleine stellte in einem unveröffentlichten Manuskript von 1939 die Frage, ob man Juden die Taufe verweigern müsse. Dies wies er zurück, weil es dem Evangelium widerspräche. Juden, die getauft werden wollten, dürfe die Kirche nicht abweisen. Wohl aber sei Vorsicht geboten, denn : „Der Jude bleibt auch nach der Taufe ein Jude, wie der Neger ein Neger und der Deutsche ein Deutscher.“64 Eine räumliche Trennung der Juden, auch der getauften, vom deutschen Volk sowie das Verbot einer gemeinsamen Fortpflanzung sei unbedingt erforderlich – diese Trennung galt für Kleine auch für den kirchlichen Bereich. Judenchristen sollten zu eigenen Gemeinschaften zusammengeschlossen werden. Dies könne sich auf ein urchristliches Vorbild berufen, denn die Kirche konnte die Kraft ihrer Sendung zu den Völkern erst in „judenchristenreinen Gemeinden“ entfalten. „Selbstverständlich können wir die übernatürlichen Auswirkungen der Gnade als überzeugte Christen nicht gering einschätzen; rechnet man doch etwa schon bei einem energischen Zugriff bei den ostjüdischen Ghettos in Polen auf eine, wenn auch nur äußerlich heilsame Wirkung, wobei man sich aber keineswegs im Unklaren bleiben kann, dass man diese Rasse nie irgendwie an unser Volk herankommen lassen oder gar mit ihm sich vermischen lassen darf. Das deutsche Volk muss unter allen Umständen hermetisch vom Judentum abgetrennt sein, auch vom getauften. Auch in den christlichen Kirchen unseres Volkes sind Judenchristen untragbar. Man mag sie zu judenchristlichen Gemeinschaften zusammenschließen.“65 Kleine vollzog eine weitere theologische Verrenkung, indem er auf die Lehre von der Erbsünde verwies. Etwas, das dem Willen Gottes zuwider sei, vererbe sich. Dieses vererbte Gottwidrige habe im Judentum das größte Ausmaß erfahren. Gott habe völkische Gemeinschaften mit Schicksalsverbundenheit geschaffen, allerdings sollte sich dies zum Wohl der Menschen auswirken. Im Judentum aber sei diese Gottesgabe in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die Unstimmigkeit seiner Argumentation ist Kleine wohl nicht aufgegangen : denn selbst wenn man die Erbsünde so versteht, dass sie durch den Zeugungsakt übertragen wird, gilt dies für alle Menschen in gleichem Maße. Kleine und Adam konnten als katholische Theologen nicht wirklich leugnen, dass die Taufe eine Wirksamkeit hat, auch im Falle des getauften Juden; sie versuchten aber, dies einzuschränken und der Zugehörigkeit zum Volk und der „Blutsgemeinschaft“ unterzuordnen. Diese Einschätzung der Taufe ist ein deutliches Kriterium für die Übernahme völkischen Denkens in die theologische Reflexion.

63 Ebd., S. 22. 64 Richard Kleine, War Jesus ein Jude ?, unveröff. Ms. vom 12. 11. 1939, S. 9 ( Archiv Johann Adam Möhler - Institut [ JAM ], NL Kleine ). 65 Ebd., S. 9 f.

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Auch Alois Brücker thematisierte in seinem Buch über die deutsche Glaubenseinigung die Einswerdung des deutschen Volkes durch das Werk Adolf Hitlers und deutete die gegenwärtige Situation als Stunde, in der Gott am Werk, in der das Reich Gottes gekommen sei und Gott das deutsche Volk auser wählt habe.66 Das Buch ist durchgehend von Rosenbergs „Mythus“ und dessen Begriff lichkeit geprägt. Auch für Brücker prägte die Rasse die Religion und nicht umgekehrt, und er setzte diese Behauptung in Beziehung zu dem katholischen Grundsatz, dass die Gnade die Natur voraussetze ( gratia supponit naturam ). Insofern sei das Metaphysische die Verlängerung des Physischen ins Ewige und nicht seine Zerstörung. Darüber hinaus habe die moderne Rassenforschung gezeigt, dass der Mensch das Produkt seiner Erbmasse sei; deshalb könne aus einem Juden durch religiöse Erziehung kein Deutscher werden, so wie aus einem Deutschen durch die religiöse Erziehung kein „vorderasiatisch - syrischer“ Mensch werde. In Brückers Entwurf einer neuen Kirche für alle Deutschen war deshalb für getaufte Juden kein Platz – sie sollten jüdische volkskirchliche Gemeinden mit einem hebräischen Ritus bilden. Ebenso müsse es in den Missionsgebieten rassisch getrennte Kirchen geben, die ein jeweils „artgemäßes“ Christentum leben könnten.

2.2

Der Mythos vom arischen Jesus

Alle drei Protagonisten übernahmen in unterschiedlicher Weise den Mythos vom arischen Jesus – Alois Brücker am ungeniertesten, indem er eine Sondernummer des „Stürmers“ von März 1937 ausführlich zitierte.67 In dieser Sondernummer wurde behauptet, dass Jesus kein Jude gewesen sei, weil er aus Galiläa, dem „Gau der Nichtjuden“, stammte und seine Eltern Zimmerleute waren – ein Beruf, der angeblich von Juden nicht ausgeübt werde. Auch seinem Wesen nach sei Jesus kein Jude, denn sonst hätte er jüdisch gedacht und gelehrt und die Juden hätten seine Lehre angenommen. Das Christentum sei dagegen in den „arischen“ Völkern verbreitet worden. „Folglich entspricht diese Lehre nicht dem jüdischen, sondern dem nordischen Blute. Folglich war also auch ihr Verkünder ein nordischer Mensch.“68 Christus sei nicht nur kein Jude gewesen, sondern der größte Antisemit aller Zeiten und die von ihm gegründete Religion eine „judengegnerische Religion“.69 Im bereits zitierten Manuskript mit dem Titel „War Jesus ein Jude ?“ drückte sich Richard Kleine weniger direkt, sondern viel umständlicher und mit Hilfe einer verquasten Theologie aus, die zur Klärung dieser Frage Jungfrauengeburt und unbefleckte Empfängnis bemüht. Das Ergebnis aber ist das gleiche : Richard 66 Alois Brücker, Die deutsche Glaubenseinigung. Der einzige Weg zur Überwindung der deutschen Glaubensspaltung, Breslau 1938, bes. S. 14–18, 52 f. 67 Ebd., S. 21 f. 68 Ebd., S. 22. 69 Ebd., S. 22.

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Kleine war mit den Völkisch - Religiösen einig „in der Ablehnung eines Urteils über Jesus Christus, als ob wir in ihm doch irgendwie einen ‚Rassegenossen‘ des Judentums erblicken könnten“.70 Jesus selbst habe diese Abstammung abgelehnt, indem er sich beispielsweise über Abraham gestellt habe ( Joh. 8,56 ff.). Der Glaube an die Jungfrauengeburt machte für Kleine deutlich, dass Jesu menschliche Natur nicht nur auf Maria zurückzuführen sei, sondern auch auf den Heiligen Geist, d. h. der Heilige Geist wird als Ursache des väterlichen Anteils an der Erbmasse betrachtet. Trotzdem musste Kleine noch das Problem lösen, dass Jesus als Kind einer jüdischen Mutter natürlich Jude war. Dies geschieht unter Hinweis auf die sogenannte unbefleckte Empfängnis, das Dogma also, dass Maria vom Beginn ihrer Existenz an von der Erbsünde befreit war. Da Kleine davon ausging, dass das, was am Judentum abzulehnen sei, auf dessen besondere Betroffenheit von der Erbsünde zurückgehe, erlaubte ihm der Rückgriff auf dieses Dogma, Maria von dieser Verderbnis des Jüdischen auszunehmen und damit natürlich auch Jesus. Dies „funktionierte“ natürlich nur durch die Verquickung der dogmatischen Aussage mit antisemitischen Urteilen, d. h. auf der Basis eines völlig falschen Verständnisses des Konzepts der Erbsünde, selbst in dessen traditionellster Ausformung : „Wir bekennen also Christus als buchstäblichen Gottessohn. Was besagt das ? Von Maria hat er nur das angenommen, was jede Mutter für ihr Kind bedeutet. Da zur Erzeugung eines Kindes aber zwei Elternteile beitragen und das Kind durch den väterlichen Teil nicht etwa nur äußerlich zum Leben erweckt wird, sondern in seinem Werden und seinem Sein von dieser Seite mindestens ebenso abhängig ist wie vom mütterlichen Teil, so ist es unrichtig, Jesu menschliche Natur ganz von Maria herkommen zu lassen. Der väterliche Anteil für dieses Kind war des Heiligen Geistes; aber das Kind war wirkliches Menschenkind. [...] Soweit aber Christus in seinem Werden auch von Maria abhängig war, leugnet ja die Kirche ausdrücklich, dass Maria in der Erbfolge sündiger Verderbnis gestanden habe; also muss erst recht das, was sich im Judentum so verderblich weiter vererbte, von ihr und damit auch für Jesus ausgeschlossen werden.“71

Karl Adam unterscheidet sich von Brücker und Kleine darin, dass er Jesu „rassisches“ Jude - Sein nicht ausdrücklich leugnete. Als Universitätstheologe, der eine kirchliche Lehrerlaubnis zu verlieren hatte, aber wohl auch als ehemaliger dem Modernismus nahestehender Dogmenhistoriker war es ihm wohl unmöglich, an der historischen Tatsache vorbeizusehen, dass Jesus Jude war. Allerdings versuchte er mit allen Mitteln, dieses Jude - Sein Jesu zu relativieren, und war darin deutlich beeinflusst von Kleines Ideen sowie den entsprechenden Veröffentlichungen des evangelischen Neutestamentlers Walter Grundmann, der zum Stab des Eisenacher Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben gehörte. Adam ging davon aus, dass in Galiläa als gemischtrassischem Gebiet viel „arisches Blut“ vorhanden gewesen sei. Die Galiläer als heroische Menschen hätten sich deutlich von den judäischen „Vollblutjuden“ unterschieden. Entsprechend sei Jesus kein „judäischer Vollblutjude“, sondern 70 Kleine, War Jesus, S. 12. 71 Ebd. ( Hervorhebungen im Original ).

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weise viel „artfremdes Blut“ auf. Für seine „rassische Unabhängigkeit“ von den „Vollblutjuden“ sorge außerdem die Befreiung seiner Mutter von der Erbschuld. Adam deutete dies so, dass Maria von Gott mit den edelsten Erbanlagen ausgestattet wurde – deshalb müsse die jüdische Abstammung Jesu für Katholiken keine Beunruhigung sein : „Es ist mir persönlich ein erhebender Gedanke, dass in dem Genbestand, in der Erbmasse, welche Maria ihrem göttlichen Sohn übertrug, dank einer geheimnisvollen, die Entwicklung ihres Geschlechts über wachenden Führung Gottes die besten, edelsten Anlagen und Kräfte lebendig waren, über die das Menschengeschlecht überhaupt zu verfügen hatte. Diese Ansicht gründet sich auf die Glaubenswahrheit, dass Maria ohne Erbsünde empfangen wurde – ‚ohne Erbsünde‘, also auch ohne die Folgen der Erbsünde, also in vollendeter Reinheit und Schöne, also mit edelsten Anlagen und Kräften. Es ist dieses Dogma von der immaculata conceptio Mariens, welche all jene böswilligen Fragen und Klagen, als ob wir in Jesus trotz all seiner Vorzüge einen ‚Judenstämmling‘ erkennen müssten, in katholischer Sicht zu einer völlig abwegigen Frage macht. Denn es bezeugt uns, dass Jesu Mutter Maria in keinerlei physischem oder moralischem Zusammenhang mit jenen hässlichen Anlagen und Kräften stand, die wir am Vollblutjuden verurteilen. Sie ist durch Gottes Gnadenwunder jenseits dieser jüdischen Erbanlagen, eine überjüdische Gestalt. Und was von der Mutter gilt, gilt umso mehr von der menschlichen Natur ihres Sohnes.“72

Diese Ausführungen blieben nicht wie Kleines Manuskript unveröffentlicht, sondern erschienen in der franziskanischen Zeitschrift „Wissenschaft und Weisheit“, die sich als wissenschaftliche Zeitschrift verstand und bis heute als solche existiert. Kleine und Adam griffen auf katholische Dogmen zurück, um den „arischen Jesus“ für die katholische Theologie irgendwie möglich zu machen. Dogmatische Lehren der katholischen Kirche wurden also mit der nationalsozialistischen Rassenideologie verquickt. In diesem Prozess entstanden monströse Aussagen : Bei Kleine ist der Heilige Geist der leibliche Vater Jesu, man könnte auch sagen, der DNA - Lieferant; Adam zeichnet Gott als planvoll vorgehenden Eugeniker und die Heilsgeschichte als Prozess der Veredelung von Erbanlagen. Dass dies dem Verständnis der Dogmen widerspricht, muss nicht eigens betont werden. Sie werden lediglich als Hülle für rassistische Inhalte benutzt.

2.3

Eine Kirche für alle Deutschen

Karl Adam und Richard Kleine haben ihr Interesse an einer Wiedervereinigung der Kirchen und ihr ökumenisches Engagement „völkisch“ begründet.73 Zu72 Karl Adam, Jesus, der Christus, und wir Deutsche. In : Wissenschaft und Weisheit, 10 (1943), S. 73–103, hier 91. 73 Vgl. Lucia Scherzberg, Das kirchenreformerische Programm pronationalsozialistischer Theologen. Umwälzung kirchlicher Strukturen, zeitgemäße Theologie und Wiedervereinigung der getrennten Kirchen. In : dies. ( Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, Paderborn

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gleich versuchten sie damit, bestimmte Reformen innerhalb der katholischen Kirche voranzutreiben. Weil Alois Brücker aber in seiner Schrift über die „Deutsche Glaubenseinigung“ die radikalsten Vorschläge gemacht hat, sollen diese hier besonders betrachtet werden. Im zweiten Schritt werden wir uns anschauen, welche Schritte Brücker, Kleine und teilweise auch Adam unternahmen, um zu einer Zusammenarbeit katholischer, evangelischer und völkisch - religiöser Gruppen zu gelangen.

2.3.1 „Die deutsche Glaubenseinigung“ Diese Schrift Brückers, die 1938 im Breslauer Wahlstatt - Verlag und 1940 noch einmal im Selbstverlag veröffentlicht wurde, liegt in ihren Aussagen zu Rasse und Religion ganz auf der Linie des „Mythus des 20. Jahrhunderts“. Der Autor tritt für die Schaffung einer arteigenen Religion und einer einheitlichen Kirche für alle Deutschen ein, betont jedoch, dass dies nur auf dem Boden des Christentums möglich sei. Wolle man eine völkische nicht - christliche Religion in Deutschland etablieren, würde dies nur zur endgültigen religiösen Spaltung der Deutschen in drei Konfessionen führen. Nicht eine neue Konfession müsse man anstreben, sondern eine gesamte religiöse Einigung. Dazu sei eine großdeutsche Volkskirche von Nöten, die ein positives Christentum vertrete. Darunter verstand Brücker die positive Einstellung zum Nationalsozialismus und dessen Rassenlehre sowie zu den übernatürlichen Lehren des Christentums. Die religiöse Einigung sei ein praktischer Prozess, der nicht von einer Einigung im Dogmatischen ausgehen könne. Die Basis sei vielmehr das gemeinsame Erbgut. „Dann fällt es uns wie Schuppen von den Augen, dass wir auch im Religiösen nicht nach einer gemeinsamen Plattform zu suchen brauchen, sondern dass wir eine solche bereits besitzen, dass wir sie unveräußerlich besitzen, weil sie uns unabtrennbar eingegossen ist von Gott selber bei unserer Geburt, weil sie uns eingeborenes Erbe ist, empfangen seit Urgenerationen aus Gottes Hand durch das Erbgut, das unsere Ahnen in uns hinein gezeugt haben. Dann werden wir inne, dass wir auch in unserem Verhältnis zu Gott zuerst Deutsche sind und dann erst Katholiken, Evangelische oder Deutschgläubige.“74 Eine religiöse Reformation müsse durchgeführt werden, die die Reformation Luthers vollende, indem sie die Spaltungen beseitige und das Christentum „aufnorde“, d. h. es von Begriffen und Ausdrucksweisen säubere, die auf andere „Volksseelen“ zurückgingen. Hier komme es nicht auf den Inhalt von Glaubensaussagen an, sondern auf den Geist – dieser müsse im deutschen Sinne umgestaltet werden.

74

2005, S. 56–70, bes. 66–69; dies., Ökumene und „Volksgemeinschaft“. Die Anfänge der ökumenischen Bewegung in Deutschland und der Nationalsozialismus. In : Theologische Perspektiven aus Saarbrücken. Antrittsvorlesungen, Saarbrücken 2006, S. 9–27. Brücker, Glaubenseinigung, S. 13 f.

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In der neuen Kirche, an deren Aufbau jeder „gottgläubige Mensch deutschen Blutes“,75 d. h. also kein „nichtarischer“ Christ teilnehmen könne, würden katholische und evangelische Kirche sowie völkisch - religiöse Gruppen zu einer Einheitsorganisation zusammengefasst. Keine brauche etwas für sie Wesentliches aufzugeben. In dieser Einheitsorganisation herrsche als oberstes Prinzip die Gewissensfreiheit; kein religiöser Zwang dürfe ausgeübt werden, auch nicht hinsichtlich des Gottesdienstbesuchs und des Sakramentenempfangs. Die Sakramente würden bestehen bleiben, ihr Empfang aber nicht verpflichtend gemacht, abgesehen von der Taufe als Initiation. Alle Kulthandlungen müssten in deutscher Sprache ausgeführt werden. Im Mittelpunkt des Kultes sah Brücker die Eucharistie, die aber eingebettet werden solle in einen deutschen Ritus, der Brot und Wein als symbolische Andeutung von Blut und Boden darstellen und mit dem Gedenken der für Deutschland gestorbenen Helden enden solle. Die Vorstellung der Realpräsenz bleibe erhalten und verbinde sich mit einer Blut und Boden - Mystik. Wein und Brot seien keine jüdischen Opfergaben, weil das jüdische Nomadenvolk die Tiere seiner Herde opferte und Melchisedech, auf dessen Opfer von Brot und Wein die Kirche sich bis heute beruft, ein Stammesfürst der palästinischen Urbevölkerung gewesen sei. „So hat das Christentum in glücklicher Weise die rein äußeren Vorbedingungen einer edlen Vermählung zwischen dem überkommenen Brauchtum und einer neuen rein deutschen Kultform, die auch den deutschgläubigen Menschen innerlich befriedigen kann.“76 Brücker suchte also nach einer synkretistischen Form des Kultes, die vor allem die emotionalen Bedürfnisse der Teilnehmenden befriedigen konnte. Die deutsche Kirche musste in Brückers Plan eine nationale sein, die aber dennoch in das Gefüge der Weltkirche eingegliedert blieb. Dies hielt er für den einzigen Weg einer Glaubenseinigung, da sonst die Katholiken nicht mitmachen würden. Dennoch müsse die zentralistische Stellung Roms zugunsten eines föderativen Systems von Volkskirchen abgeschafft werden. Eine zentrale Spitze zur Über wachung der Lehre solle bestehen bleiben, diese dürfe aber nicht in die Verwaltung der nationalen Kirchen, insbesondere nicht hinsichtlich des Ritus und der Stellenbesetzung eingreifen. Diese Forderung nach Autonomie in Ritus und Recht begründete Brücker mit dem Hinweis auf die orthodoxen, mit Rom unierten Kirchen, bei denen dies auch der Fall ist. Die Leitung der neuen Kirche solle ein neuer „Führerorden“ nach Vorbild des Deutschen Ritterordens übernehmen, der sich an der Struktur der NSDAP orientiere. Jeder, der sich bewährt habe, könne in diesen Orden eintreten, aus ihm rekrutiere sich die geistliche Führung. Geistliche sollten einem bürgerlichen Beruf nachgehen, der Pflichtzölibat abgeschafft werden. Die zu erwartende Kritik durch den Protestantismus, dass die evangelische Kirche dem Papst ausgeliefert werde, sei damit zu beantworten, dass es um die 75 Ebd., S. 12. 76 Ebd., S. 41.

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Vollendung der lutherischen Reformation für die ganze Kirche gehe, die Kritik von Seiten des Katholizismus, dass dies nur ein erster Schritt zur Trennung von Rom sei, mit dem Hinweis, dass es um Einheit und nicht um erneute Spaltung gehe.

2.3.2 Katholisch / evangelisch / völkisch - religiöse Zusammenarbeit Die Schrift über die „Deutsche Glaubenseinigung“ verschaffte Brücker nach eigener Aussage Kontakt zu dem konspirativen Netzwerk katholischer Priester um den Wiener Geistlichen Johann Pircher und zu Kleine sowie zu Ernst Graf zu Reventlow.77 Brücker versuchte nun seine Ideen von einer katholisch / evangelisch / völkisch - religiösen Ökumene in die Tat umzusetzen. Es gelang ihm, Reventlow, Kleine und Pircher sowie die stark völkisch - religiös geprägte thüringische Kirchenbewegung Deutsche Christen ( KDC ) um Siegfried Leff ler und Julius Leutheusser78 für ein gemeinsames Treffen der von ihnen repräsentierten Gruppen zu gewinnen. Dieses Treffen, das am 30. Dezember 1939 in Köln stattfand,79 sollte dem gegenseitigen Austausch und der Auslotung von Möglichkeiten einer Kooperation dienen. Brücker zielte eine gemeinsame Entschließung der drei Gruppen als Ergebnis des Treffens an, die dann an die „zuständigen Ministerien“ weitergeleitet werden sollte. Für diese Entschließung verfasste er einen Entwurf, den er zuvor mit Kleine besprechen wollte. Sinn der Zusammenkunft war für Brücker, dazu beizutragen, Verhandlungen zwischen Staat und Kirche herbeizuführen. In einem Brief an Kleine vom 20. Dezember 1939, also kurz vor dem Treffen, gab er seiner Zuversicht Ausdruck, dass sich die Dinge rasch entwickeln würden und noch vor dem Ende des Krieges abgeschlossen sein würden. Nach einem Sieg Deutschlands sei die Leitung der katholischen Kirche sicher ohnehin zu Verhandlungen bereit. „Je mehr sich das Waffenglück auf unsere Seite neigt, je mehr wird der andere große Widerpart in Rom geneigt sein zu verhandeln. Denn nach einem Siege Deutschlands über die noch bestehenden Internationalen ist seine Internationale ohnehin verloren.“80 Nach dem Treffen in Köln zeigte sich, dass die Unterschiede zwischen den teilnehmenden Gruppen doch erheblich waren. Hinsichtlich einer gemeinsamen Erklärung gab es vor allem von Seiten der Völkisch - Religiösen Vorbehalte, die

77 Brücker an Kleine vom 18. 2. 1940 ( JAM, NL Kleine ). 78 Leff ler und Leutheusser hatten noch vor 1933 einen nationalsozialistischen Pfarrer - und Lehrerkreis mit starker völkisch - religiöser Prägung gegründet. Die KDC übernahm 1933 sofort die führende Rolle in der Thüringischen Landeskirche ( volle Durchführung des „Arierparagraphen“ schon 1933). Die KDC wurde zwangsweise in die „Reichsbewegung Deutsche Christen“ eingegliedert, trennte sich aber 1935 von dieser und behielt ihre völkisch - religiöse Ausrichtung bei. 79 Brücker an Kleine vom 23. 12. 1939 ( JAM, NL Kleine ). Sämtliche im Folgenden zitierte Korrespondenz und Arbeitspapiere befinden sich im NL Kleine. 80 Brücker an Kleine vom 20. 12. 1939 ( JAM, NL Kleine ).

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zu einer wochenlangen Korrespondenz über das Dokument führten.81 Uneinigkeit bestand darüber, was das Ziel einer solchen Zusammenarbeit sein könne bzw. die Sorge, dass die organisatorische Selbständigkeit der beteiligten Gruppen aufgehoben werden könne. Reventlow, der an dem Treffen in Köln nicht persönlich teilgenommen hatte, wandte sich in Briefen an die Deutschen Christen sowie an Brücker und später auch an Kleine dagegen, den Eindruck zu erwecken, dass eine neue Organisation aufgebaut werden solle.82 Auch müsse deutlich gemacht werden, dass die „religiösen Nichtchristen“ ein anderes Ziel verfolgten als die christlichen Gruppen. Diese hätten die Deutsche Nationalkirche als Endziel – das Anliegen der religiösen Nichtchristen dagegen sei primär die religiöse Verständigung mit den Christen. Dies könne auf der Basis geschehen, die er, Reventlow, bereits in seiner Zeitschrift „Der Reichswart“ erläutert habe. Katholische, evangelische und nichtchristliche Deutsche sollten sich auf einen gemeinsamen Boden von religiösem Gottglauben ( nicht Deismus oder Pantheismus ), Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod und Glauben an die Schuld stellen. Ob diese Basis erweitert werden könne, müsse sehr genau überlegt und erprobt werden. Reventlows Kreis religiöser Nichtchristen wolle andere deutsche Nichtchristen für die Anerkennung dieser Grundlage und damit für eine Verständigungsmöglichkeit mit den Christen gewinnen. Dies dürfe aber nicht so aufgefasst und öffentlich behauptet werden, als hätten sich die religiösen Nichtchristen dem Christentum angenähert. Reventlow warnte davor, einen solchen Eindruck zu erzeugen, denn dies würde die beschriebene Absicht zunichte machen. „Im selben Augenblick, wo das oder Ähnliches geschähe, würde es mit meinem Einfluss auf weitere Kreise religiöser Nichtchristen vorbei sein und keine Richtigstellung meinerseits würde den Eindruck nachträglich verwischen können.“83 Gegen die „starken Kräfte, welche nicht allein die Kirchen beseitigen wollen, nicht nur die christliche Religion, sondern die Religion überhaupt“,84 sei die dringlichste Aufgabe die Erhaltung von Religion und Religiosität überhaupt. Davon hänge auch die Einigung der christlichen Konfessionen ab. Und wieder bekräftigt Reventlow, wie wichtig es deshalb sei, dass die religiösen Nichtchristen nicht als „getarnte Christen“ denunziert werden könnten. Kleine drückte sein Verständnis für diese Anliegen aus und bat den Vertreter der Deutschen Christen, eine neue Fassung anzufertigen.85 Aber auch mit dieser Fassung war Reventlow aus denselben Gründen unzufrieden. Er machte noch einmal deutlich, dass für ihn die Verständigungsarbeit der Einheit vorausgehe. Dieser Prozess werde notwendigerweise eine lange Zeit beanspruchen, er 81 Brücker an Reventlow vom 3. 3. 1940 ( ebd.). 82 Reventlow an Brauer vom 8. 1. 1940 ( Abschrift von Kleine ); Reventlow an Kleine vom 25. 1. 1940. Der Brief an Brücker liegt mir nicht vor, wird aber erwähnt im Brief Kleines an Reventlow vom 1. 2. 1940 ( ebd.). 83 Reventlow an Kleine vom 25. 1. 1940 ( ebd.). 84 Ebd. 85 Kleine an Reventlow vom 1. 2. 1940 ( JAM, NL Kleine ).

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selbst rechne nicht damit, das Ergebnis noch mitzuerleben. Als weiteren Punkt nannte er, dass die im Dokument angesprochene Gewissensfreiheit nicht nur innerhalb der drei Gruppen und untereinander gelten dürfe, sondern auch gegenüber allen „Volksgenossen“, die von Kirche und Religion nichts wissen wollten. Keinesfalls dürfe der Eindruck entstehen, dass die drei Gruppen missionieren wollten.86 Brücker versuchte daraufhin, Reventlow noch einmal seine Vorstellung zu erläutern, welches Ziel die Zusammenarbeit der drei Gruppen haben sollte und verglich die neue Einheitskirche mit NS - Organisationen auf Reichsebene : „Hier möchte ich darauf hinweisen, dass mir persönlich nicht eine ‚Nationalkirche‘ im Sinne des bisherigen Sprachgebrauchs als Endziel vorschwebt. [...] Ich denke mir vielmehr die Lösung unserer Aufgabe so, dass wir auf eine Organisation hinsteuern wollen, die im Rahmen der Gesamtorganisation unseres Volkes die besondere Aufgabe übernimmt, die religiösen Bedürfnisse unseres Volkes zu betreuen, ähnlich wie etwa die NSV die Volkswohlfahrt oder die Arbeitsfront die sozialen Belange betreut.“87 Allerdings sah Brücker deutlich, dass Katholiken so etwas nicht offen propagieren können, ohne „in hohem Bogen aus ihrer Kirche heraus[ zu ]fliegen“. Damit die Katholiken überhaupt für eine solche „religiöse NSV“ gewonnen werden können, müsse diese sich in den Besitz der Weihegewalt setzen, d. h. sie müsse gültig Priester und Bischöfe weihen können. Das aber könne nur auf legalem Wege geschehen, d. h. durch Verhandlungen mit dem Papst. Wer dies für unmöglich halte, müsse sich die Situation nach einem deutschen Sieg vor Augen führen : „Wenn dieser Krieg vorbei ist, wird das Abendland einen neuen Herrn haben, Adolf Hitler ! Mit dieser eindeutigen Tatsache wird sich auch der Papst auseinandersetzen müssen. Nach Amerika auswandern kann er nicht, weil dann seine universale Stellung, die auf allen möglichen Imponderabilien aufgebaut ist, nicht zuletzt auf seiner Eigenschaft als Bischof von Rom ohnehin dahin wäre. Er wird also den Weg gehen und gehen müssen, den Stalin vor ihm ging. Er wird Frieden mit Hitler suchen müssen. Dann wird der Augenblick gekommen sein, ihm Bedingungen zu stellen.“88 Für diesen Augenblick Vorbereitungen zu treffen, sei die Aufgabe der drei Gruppen und ihrer Kooperation. Anders als Reventlow nahm Brücker an, dass diese äußere Einheitsorganisation schneller kommen werde, als man heute annehme. Die religiöse Entwicklung aufeinander zu sei ein sekundärer Prozess, der erst danach einsetzen werde – also erst Einheit, dann Verständigung. Richard Kleine dagegen hielt es für unmöglich, zu diesem Zeitpunkt bereits für alle drei Gruppen ein gemeinsames Ziel zu benennen. Ähnlich wie für Reventlow stand bei ihm die Sorge im Vordergrund, wie dies in der eigenen religiösen Gemeinschaft wahrgenommen würde. Ein negativer Eindruck würde alle 86 Reventlow an Brauer vom 23. 2. 1940 ( ebd.). 87 Brücker an Reventlow vom 3. 3. 1940 ( Abschrift von Kleine; ebd.). 88 Ebd.

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Einwirkungsmöglichkeiten zunichte machen. „R[ eventlow ] hebt als alter Praktiker vor allem hervor, wie sorgsam er sein müsse, ob der Resonanz in seinem Wirkbereich. Wir müssen das Gleiche für uns bedenken. Ein falscher Start, und wir sind für unseren rückwärtigen katholischen Bereich erledigt oder um jede Möglichkeit, dahin zu wirken, aufgeschmissen. Bei den Deutschen Christen ist es genauso.“89 Kleine kümmerte sich um die Organisation eines neuen Treffens in Potsdam am 5. und 6. April 1940.90 Reventlow verfasste zwei Entwürfe zu einer gemeinsamen Erklärung bzw. einer Vereinbarung zwischen der nichtchristlichen und den beiden christlichen Gruppen, die seine o.a. Kritik umsetzten. Der Ausgleich konfessioneller und religiöser Unterschiede ebenso wie die religiöse Einheit des deutschen Volkes wurden in der gemeinsamen Erklärung als etwas angesprochen, das nicht in unmittelbarer Zukunft liege. „Der Wille und Entschluss zu solcher Zusammenarbeit entspringt und entspricht dem Wachsen der Sehnsucht im deutschen Volk nach endlichem Verschwinden der konfessionellen Zerrissenheit und, in weiterer Folge jeder zwieträchtigen Gegensätzlichkeit überall dort, wo sich zwischen den Bekenntnissen und außerhalb von ihnen auf religiösem Gebiet Unterschiede zeigen, deren Ausgleich zunächst der Zukunft überlassen bleiben muss. [...] Auf diesen Grundlagen glauben wir am besten einem gesunden Werden der religiösen Einigkeit und in fernerer Folge auch der religiösen Einheit unseres Volkes dienen zu können.“91 Betont wird noch einmal, dass die Einstellung zum NS - Staat die Voraussetzung für den Zusammenschluss der Gruppen gebildet habe. Hier wird also sehr deutlich, auf welcher Grundlage das ökumenische Konzept beruht. „Dass die drei genannten Gruppen fest und uneingeschränkt auf dem Boden des nationalsozialistischen Staates und damit aller sich für uns daraus erwachsenden Pflichten stehen, ist zu selbstverständlich, als dass diese Tatsache weiterer Ausführungen bedürfte. Diese unterschiedslose deutsche Grundstellung der drei Gruppen hat die ebenso selbstverständliche wie unerlässliche Vorbedingung zu ihrem [sic!] religiösen Verständigung gebildet.“92 Die Vereinbarung der nichtchristlichen Gruppe mit den beiden christlichen Gruppen enthält ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Religion, gleichgültig in welchen Formen, und als gemeinsamen Nenner die drei oben bereits erläuterten Punkte ( Gott, Leben nach dem Tod, Schuld ). Die Zustimmung zu diesen solle auch Bedingung für neu hinzukommende Gruppen sein.93 Ob diese Erklärungen in Potsdam beschlossen wurden, geht aus den mir vorliegenden Quellen nicht hervor. Allerdings schrieb Brücker im Anschluss an das

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Kleine an Brücker vom 6. 6. 1940 ( ebd.). Kleine an Brücker vom 14. 3. 1940; Kleine an Reventlow vom 21. 3. 1940 ( ebd.). Ernst Graf zu Reventlow, Entwurf einer gemeinsamen Erklärung ( ebd.). Ebd. „Verständigung“ handschriftlich ergänzt; durchgestrichen : „Zusammenschluss“. Ernst Graf zu Reventlow, Entwurf einer Vereinbarung zwischen der nichtchristlichen und den beiden christlichen Gruppen ( JAM, NL Kleine ).

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Treffen deutlich ernüchtert an Kleine, dass ja nicht viel herausgekommen sei.94 Pircher habe wohl Recht damit, dass die katholische Gruppe zunächst in ihrer eigenen Kirche aktiver werden müsse. Eine Verbreitung dieser Ideen in den Reihen des Klerus hielt Brücker aber nicht für aussichtsreich, weshalb er sich mit dem Gedanken an die Gründung einer Laienorganisation trug. Diese müsse geschickt getarnt sein, vielleicht als Meister - Eckehart - Vereinigung, die sich um die Verbreitung der Kenntnis der deutschen Mystiker im deutschen Volk kümmere. „Ich persönlich halte eine Rückbesinnung auf die deutschen Mystiker für eine Einigungsbasis vielleicht sogar bis zu Rosenberg.“95 Am 22. April übermittelte Brücker an alle drei Gruppen einen Vorschlag zur praktischen Weiterarbeit, in dem er seiner Überzeugung Ausdruck gab, dass man nicht am Dogmatischen ansetzen dürfe, sondern am religiösen Erleben und der religiösen Symbolik.96 Es müsse eine Liturgie gestaltet werden, „die nicht nur evangelische und katholische Christen zu einem religiösen Erlebnis führt, sondern die auch den religiösen Nichtchristen mitreißt“.97 Wie in seinem Buch plädiert er für einen synkretistischen Ritus aus Abendmahlsfeier und deutschen Elementen. Wichtig seien die Symbolik und das Erleben, nicht der dogmatische Inhalt – eine „arteigene“ Symbolik würde auch den Völkisch - Religiösen erfassen, der an dem dogmatischen Inhalt der Feier nicht teilhaben wolle. Es sei Aufgabe der Deutschen Christen, eine solche Liturgie öffentlich zu erproben, da sie die einzigen seien, die kirchliche Gemeinden leiteten. Die vorbereitenden Arbeiten sollten von einem Arbeitskreis durchgeführt werden, dem Mitglieder aller drei Gruppen, für die katholische Richard Kleine angehören sollten. Dieser Kreis wäre zugleich die ständige Verbindung der drei Gruppen, die dann durch weitere Treffen und Kreise vertieft werden könne. Vorbild einer solchen Vorgehensweise war für Brücker die NSDAP, der es gelungen sei, mit Hilfe einer starken Symbolik das gesamte deutsche Volk anzusprechen. Den evangelischen Kirchen gelinge dies nicht, weil sie zu spiritualistisch seien. Die katholische Kirche verfüge zwar über eine gleichermaßen starke Symbolik, die jedoch zum Teil „nicht artgemäßer seelischer Haltung entstammt“.98 Die Arbeit am Dogmatischen solle nicht völlig außen vor bleiben, sei aber sekundär. Wichtig wäre es, gemeinsam herauszuarbeiten, „was die einzelnen Bekenntnisse für unabdingbares Glaubensgut halten“ und die gegenseitige Verpflichtung der Gruppen, „dies in keiner Weise anzutasten“.99 Es fanden weitere Treffen der drei Gruppen statt, zu denen mir aber noch kein Quellenmaterial vorliegt. Brücker und Kleine diskutierten Ende 1940 bis zum Frühjahr 1941 organisatorische Fragen der religiösen Einigung, die nicht 94 Brücker an Kleine vom 14. 4. 1940 ( ebd.). 95 Ebd. 96 Brücker an Kleine vom 22. 4. 1940 und Anlage mit der Überschrift „Unsere erste und Hauptaufgabe!“ ( ebd.). 97 Anlage zu Brücker an Kleine vom 22. 4. 1940, S. 2 ( ebd.). 98 Ebd. 99 Ebd.

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frei von einem gewissen Größenwahn waren. Brücker malte ein Szenario der kommenden Verhandlungen mit dem Papst, anlässlich derer die Forderung nach Besetzung der Führungspositionen mit „nationalen Priestern“ gestellt werden müsse – Brücker dachte dabei an Pircher und Kleine. Er selber wolle die Beteiligung der Laien an der Kirchenführung ins Spiel bringen – bewährte Laien sollten zu jeder hierarchischen Position aufsteigen können.100 Später begeisterte er sich für die Berufung eines Reichsbischofs, der von einer deutschen Bischofskonferenz vorgeschlagen und vom „Führer“ ohne Bestätigung durch den Papst ernannt werden solle. Schließlich meinte er, müsse einer „aus unserer Schule“ Papst werden, um die Kirchen im völkisch - föderativen Sinne zu reformieren.101 Richard Kleine sprach sich für eine „völkisch aufgegliederte“ Kirche, aber gegen eine autarke Nationalkirche aus. Eine zentrale Spitze solle vorhanden sein, jedoch kein „römischer Wasserkopf“. Die Kirche müsse eine Körperschaft eigenen Rechts sein, d. h. sie dürfe nicht komplett im totalitären Staat aufgehen, wie etwa die NS - Organisationen. Der Staat dürfe aber dafür sorgen, „dass der deutsche Klerus und erst recht Episkopat 100 % nationalsozialistisch wird“.102 Im Oktober 1940 verfasste Richard Kleine ein sechsseitiges Papier über die bisherige gemeinsame Arbeit der drei Gruppen, in dem er sich in vielen Phrasen erging. Man kann diesem Papier eigentlich nur entnehmen, dass, abgesehen von den verschiedenen Treffen ( er nennt neben Köln und Potsdam noch ein drittes in Gmunden ) nicht allzu viel geschehen ist. Es lässt sich allerdings lesen als ein Dokument, das die Motivation und die Grundsätze dieser Zusammenarbeit noch einmal deutlich herausstellt : „So haben bislang religiös und konfessionell unterschiedlich eingestellte deutsche Menschen noch niemals zueinander gefunden und zusammen gestanden. Das ist erst durch unseren gottgesandten Führer möglich geworden. Damit ist jegliches ‚theologische Gespräch‘ von gestern überholt [...] eine ‚Wieder vereinigung im Glauben‘ ( ist ) nur vom völkisch - nationalen Ansatz aus möglich, ( muss ) also alle echt religiösen Deutschen umgreifen, während früher nur ‚theologische Gespräche zwischen den Konfessionen‘ stattfanden und zwar unter völliger Außerachtlassung des gottgesetzten Rahmens der natürlichen Schöpfungsordnung des Volkes und gar in der ‚Ökumenischen Bewegung‘ von einem ausgemachten Internationalismus her und in einer ausdrücklichen Feindschaft gegen den nationalen Gedanken.“103

Zu dieser Zeit versuchte Kleine Karl Adam für eine Zusammenarbeit mit dem Eisenacher Institut zu bewegen, worauf Adam nicht weiter einging.104 Die Zusammenarbeit der drei Gruppen war nur möglich auf der Basis ihrer gemeinsamen Affirmation des NS - Staates und der theologischen Positionen der katholischen und evangelischen Vertreter, die völkisch - religiöse Elemente inte100 101 102 103

Brücker an Kleine vom 8. 12. 1940 ( ebd.). Brücker an Kleine vom 30. 3. 1941 ( ebd.). Kleine an Brücker vom 18. 5. 1941 ( ebd.). Richard Kleine, Erwägungen zu Richtweisen für unsere weitere gemeinsame Arbeit vom 8. 10. 1941, S. 3 f. ( ebd.). 104 Kleine an Adam vom 17. 10. 1941 und 7. 7. 1942 ( Diözesanarchiv Rottenburg, NL Adam, N 67, Nr. 2 bzw. Nr. 31).

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grierten. Die katholischen Vertreter hatten keinerlei Bedenken, in Bezug auf die Sünden - und Gnadenlehre oder auf Jesus Christus und Maria häretische Aussagen zu vertreten; sie waren dagegen nicht bereit, an der prinzipiell weltkirchlichen Organisation der katholischen Kirche, der zentralen Führungsspitze oder am Amtsverständnis zu rütteln. Eine deutsche Einheitskirche ohne den Papst im Hintergrund oder ohne gültig geweihte Bischöfe war selbst für Brücker nicht denkbar, wenn auch bei ihm wohl eher aus taktischen Gründen. Wie weit allerdings die Vorstellungen auseinander gingen, zeigen die Bedenken, die Ernst Graf Reventlow zu der gemeinsamen Erklärung der drei Gruppen äußerte. Eine „sichtbare Einheit“ von Evangelischen, Katholischen und Völkisch - Religiösen wäre mit ihm wohl nicht zu machen gewesen. Von den katholischen Vertretern dieser Ökumene auf völkischer Basis erscheint der Laie Brücker als der radikalste, der praktische Konsequenzen der Gespräche und zwar möglichst bald sehen wollte und das Modell der organisatorischen und vor allem kultischen Einheit mit anschließender Verständigung propagierte, während Reventlow die Verständigung vor die Einheit stellte und eine eher lose Verbindung der Gruppen anstrebte, die vielleicht einmal in ferner Zukunft zur religiösen Einheit führen könne. Richard Kleine erwies sich eher als Zauderer, sobald es um die praktische Ver wirklichung bestimmter Ideen ging – er wollte keinesfalls eine Suspendierung riskieren, wohl weil er sich noch zu Höherem in der Kirche berufen fühlte. Seine Zusammenarbeit mit den Deutschen Christen und dem Eisenacher Institut hielt über die gesamte Kriegszeit hinweg an. Karl Adam hat sich aus der konkreten Zusammenarbeit weitgehend herausgehalten, auch wenn die Kontakte sich in seinen theologischen Äußerungen widerspiegeln. Seine Verbindung mit Kleine wurde in den letzten Kriegsjahren schwächer; ab 1944 versuchte er seine kirchenreformerischen Vorstellungen nicht mehr vorwiegend mit Kleine, sondern in der Zusammenarbeit mit dem sog. Rheinischen Reformkreis zu verwirklichen.105

3.

Resümee

Wie bereits zu Anfang festgestellt, erweist sich die völkisch - religiöse Weltanschauung als nicht kompatibel mit der Lehre der katholischen Kirche. Diejenigen Priester und Laien, die eine Integration völkisch - religiöser Elemente versuchten, vertraten häretische Lehren, wenn sie z. B. die Rassenzugehörigkeit über die christliche Taufe stellten, wenn sie theologische Begriffe wie Natur und Gnade, die Erbsünde oder die unbefleckte Empfängnis mit einer rassistischen Ideologie auf luden oder einen synkretistischen Kult initiieren wollten. Für diese Häresien sind die Priester Kleine und Adam allerdings niemals von der Kirche 105 Scherzberg, Kirchenreform, S. 297–310; zum Reformkreis vgl. die Quellenedition von Hubert Wolf / Claus Arnold ( Hg.), Der Rheinische Reformkreis. Dokumente zu Modernismus und Reformkatholizismus, 2 Bände, Paderborn 2001.

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zur Rechenschaft gezogen worden – weder vor noch nach 1945. Sie konnten im Gegenteil ihre Karrieren ungehindert ( Adam ) bzw. mit kleinen Hindernissen ( Kleine ) fortsetzen. Die Kritik an der völkisch - religiösen Weltanschauung und Propaganda, wie sie sich in der Debatte um den „Mythus“ zeigt, hatte die Funktion, der Indoktrination der katholischen Gläubigen entgegen zu wirken und den Einfluss der katholischen Kirche im Bereich der Erziehung und Bildung aufrecht zu erhalten. Für Theologen wie Hudal sollte die Bekämpfung völkischer Religion auch dazu dienen, einen „katholizismus - kompatiblen“ Nationalsozialismus von einem zu verurteilenden zu trennen. Kritik an völkischer Religiosität bedeutete also nicht immer Ablehnung des Nationalsozialismus und auch nicht des Antisemitismus. Die Integration völkisch - religiöser Ideologie sollte eine Modernisierung des Katholizismus und eine umfassende Kirchenreform fördern.

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III. Der Nationalsozialismus und die völkisch-religiöse Bewegung

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„Der Nationalsozialismus steht über allen Bekenntnissen“. Alfred Rosenberg und die völkisch - religiösen Erneuerungsbestrebungen Ernst Piper

Alfred Rosenberg war ein Optimist. Am 2. Juli 1918, nur wenige Wochen vor dem letzten deutschen Versuch einer Offensive im Ersten Weltkrieg, schrieb er einen Aufsatz mit dem Titel „Über Religionsunterricht“, der mit der Feststellung beginnt : „Durch die bevorstehende Angliederung des Baltenlandes an das Deutschen Reich wird [...] unser ganzes Schulwesen eine gründliche, den deutschen Bildungsarten entsprechende Reform erfahren.“1 Aus der Sicht des Deutschbalten Rosenberg wäre das eine erstrebenswerte Perspektive gewesen, so unrealistisch sie zu diesem Zeitpunkt auch war. Er kam 1893 in Reval ( heute Tallinn ) zur Welt, machte nach dem Studium an der Universität Riga 1918 sein Diplom als Architekt und trat nach Kriegsende in seiner Geburtsstadt eine Stelle als Zeichenlehrer an. Sein eigentliches Interesse aber gehörte schon damals weltanschaulichen Fragen. In dem eingangs zitierten Text formulierte Rosenberg Perspektiven für den schulischen Religionsunterricht. In Wirklichkeit aber ging es ihm um seine weltanschaulichen Grundüberzeugungen, die schon damals im Wesentlichen ihre spätere Gestalt angenommen hatten. Rosenberg berief sich bereits in dieser frühen Schrift auf Kopernikus, dessen wissenschaftlich unwiderlegbare Lehre vom Heliozentrismus die Kirche Jahrhunderte lang zurückgewiesen hatte. Später verglich der nationalsozialistische Ideologe sich selbst mehrfach mit dem Astronomen des 16. Jahrhunderts. Er sah sich als Kopernikus des 20. Jahrhunderts, der das Recht der Naturwissenschaften gegen die Ansprüche der Theologie zu verteidigen hatte.2 Beides war aus der Sicht Rosenbergs nicht wirklich zu einem Ausgleich zu bringen. Wahre Religion beruhe nicht auf Naturwissenschaft und Geschichte, sondern auf einem inneren Erleben. Rosenberg wollte die christliche Religion von „jüdischer Dogmenstarrheit und Glaubensintoleranz“ befreien.3 Er verwarf die Lehre von der

1 2 3

Alfred Rosenberg, Schriften und Reden, Band 1 : Schriften aus den Jahren 1917–1921. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler, München 1943, S. 79. Vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chef ideologe, München 2007, S. 354. Rosenberg, Schriften und Reden, S. 85.

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Jungfrauengeburt, den Glauben an das Auferstehungswunder, die Himmelfahrtserzählung, die jüdisch - alttestamentarische Überlieferung, die paulinische Theologie und die kirchliche Hierarchie mit ihrem allmächtigen Klerus, der sich zwischen Christus und seine Botschaft und die Gläubigen stelle.4 Bei Rosenberg findet sich dieselbe Dichotomie, die auch Hitlers Denken auszeichnet : Auf der einen Seite der historische Christus, der in das nationalsozialistische Weltbild als arischer Messias militans inkorporiert wird, auf der anderen Seite die christliche Religion, die als im Kern ungermanisch letztendlich abgelehnt wird. Die kirchliche Dogmatik sei, so Rosenberg, auf „Räubersynoden“ entwickelt worden, wo „betrunkenen Bauern und Mönchen, die das Lesen und Schreiben nicht verstanden, die Glaubensartikel von rein politischen Fürsten diktiert wurden“.5 Diese „Räubersynoden“ hätten die von Christus zu unsterblicher Bedeutung erhobene Menschenwürde geknebelt. Im Kontext dieser antichristlichen Rabulistik ist noch nicht von positivem und negativem Christentum die Rede, aber der zugrundeliegende Antagonismus ist schon erkennbar. Rosenbergs Christentum, wenn man es so nennen mag, artikulierte sich in vehementer Ablehnung der christlichen Religionsgemeinschaften, gegen die er einen zur germanischen Heldengestalt uminterpretierten Christus in Stellung zu bringen bemüht war. Alfred Rosenbergs antichristliche Grundhaltung, die sich ganz besonders in seinem Hauptwerk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“6 manifestiert, entwickelte sich schon in frühester Jugendzeit. In seiner autobiografischen Aufzeichnung „Wie der ‚Mythus‘ entstand“7 nennt Rosenberg zwei Ereignisse, die ihn besonders prägten. Da war zum einen der deutsch - lutherische Pfarrer Traugott Hahn, der 1919 von den Sowjets ermordet wurde und heute als christlicher Märtyrer und estnischer Nationalheld verehrt wird. Er konfirmierte Rosenberg 1909 und bestärkte ihn gerade durch seine überzeugende Religiosität in seiner Abneigung gegen das Christentum : „Gerade aus dem Erleben einer starken, unbeugsamen protestantischen Persönlichkeit heraus habe ich begriffen, was alttestamentliche Orthodoxie bedeutet und wozu eine rein historisch, morgenländisch bedingte Religion führen muss.“8 Das zweite Ereignis war die Begegnung mit den Schriften Houston Stewart Chamberlains, die Rosenberg sich aus Deutschland kommen ließ : „Eine andere Welt stieg vor mir auf : Hellas, Juda, Rom. Und zu allem sagte ich innerlich ja, und immer wieder ja.“9 Ja sagte Rosenberg natürlich nicht zu Hellas, Juda und

4 5 6 7 8 9

Vgl. Frank - Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 141. Dort weitere Belege. Rosenberg, Schriften und Reden, S. 84. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch - geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1935. Alfred Rosenberg, Wie der „Mythus“ entstand ( BArch, NS 8/22, Bl. 34). Diese unveröffentlichte Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 1935. Ebd. Ebd., Bl. 38.

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Rom, sondern zu Chamberlains Interpretation. Beeinflusst hat ihn besonders dessen Hauptwerk „Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts“10, dem der „Mythus des 20. Jahrhunderts“ schon im Titel seine Reverenz erwies. Der antisemitische Kulturtheoretiker Houston Stewart Chamberlain ist zweifellos derjenige Denker, der auf den Autor des „Mythus“ den größten Einfluss hatte. Chamberlain übernahm von Richard Wagner und Arthur de Gobineau deren rassentheoretische Ansichten, verschärfte aber gegenüber dem gewissermaßen noch vormodernen Rassismus eines Gobineau oder Lapouge den antisemitischen Ton entschieden. Chamberlain entwickelte eine Kulturtheorie mit der bekannt gewordenen Dreiteilung in Kulturschöpfer, allen voran die Germanen, Kulturbewahrer und Kulturzerstörer. Die gefährlichsten Repräsentanten der letzten Gruppe waren die Juden. Diese Dreiteilung durchzog in der Folge das gesamte nationalsozialistische Schrifttum und fand sich namentlich auch in Hitlers „Mein Kampf“ wieder.11 Für Rosenberg war der Sinn der Weltgeschichte blauäugig und blond, von Norden ausstrahlend war er über die ganze Welt gegangen.12 Nordische Schöpferkraft konnte sich dabei in vielerlei Gestalt äußern, in der Metaphysik des arischen Indien ebenso wie im religiösen Mythus des dualistischen Kampfes zwischen Licht und Finsternis des arischen Persien, in der Schönheit des dorischen Griechenland ebenso wie in der Staatszucht der Italiker. Der Beitrag des germanischen Europa bestand vor allem in der Lehre vom Charakterwert, der Idee der Gewissensfreiheit und der Ehre.13 Chamberlain vertrat die These, Christus sei der Religion nach Jude gewesen, der Rasse nach aber nicht. Er propagierte die Reinigung des Christentums von allem Jüdischen und wurde so sowohl zum Vorläufer des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus als auch der völkischen Theologie der Deutschchristen. 1927 widmete Rosenberg Chamberlain eine Biografie, in der er das ganze Pathos seiner Klage gegen das artfremde Christentum entfaltete, gegen die sich fälschlich christlich nennenden Kirchen, gegen die „furchtbare Folge der Einimpfung des jüdisch - syrischen Geistes“14 und gegen Paulus, den so geschickten Agenten jüdischer Interessen, der vor allem die Frauen hypnotisierte, so dass am Ende die Kirchen nicht christlich, sondern paulinisch waren.15 Dagegen stand die Anrufung eines von jüdisch - paulinisch - kirchlicher Vereinnahmung 10 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 2. Auf lage München 1900. 11 In Hitlers Buch „Mein Kampf“ insbesondere in dem Kapitel „Volk und Rasse“. 12 Rosenberg, Mythus, S. 28. 13 Alfred Rosenberg, Der deutsche Mythus. In : Völkischer Beobachter vom 8. 4. 1933. 14 Alfred Rosenberg, Houston Stewart Chamberlain als Begründer und Verkünder einer deutschen Zukunft, München 1927, S. 83. 15 Rosenberg, Mythus, S. 75, 480, 605. Hitler teilte diese Position inhaltlich völlig. In den Tischgesprächen heißt es : „Christus war ein Arier, aber Paulus hat seine Lehre benutzt, die Unterwelt zu mobilisieren und einen Vorbolschewismus zu organisieren.“ Zit. nach Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–42, Hg. von Gerhard Ritter, Bonn 1951, S. 150.

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befreiten Christus : „Für Chamberlain bedingt die Ablehnung der syrisch - jüdisch bedingten Kirchen notwendig eine ebenso leidenschaftliche Bejahung der ‚frohen Botschaft‘ Christi. Aus den Worten und Gleichnissen Jesu glaubt er die gleiche Weltanschauung herauslesen zu können, wie aus den Lehren der Indoarier und der germanischen Mystiker, nur unvergleichlich einfacher, selbstsicherer, größer.“16 Dies war der Versuch, Jesus Christus heimzuholen in den Schoß der „arischen Weltanschauung“.17 Christus wurde zum arischen Propheten der Erlösung, der, wenn vielleicht nicht der Rasse nach, so doch mindestens mit seiner Rassenseele dem heldischen Ideal der Arier entsprach.18 „Deutsches Christentum“ heißt das letzte Kapitel in Rosenbergs Buch „Das Verbrechen der Freimaurerei“, das 1921, neun Jahre vor dem „Mythus“, erschien.19 Christus, angeblich vom jüdischen Schrifttum seit 2000 Jahren mit „nicht zu beschreibendem Hasse“ verfolgt, werden dort „Züge tiefster innerster Verwandtschaft [...] mit den Lichtgestalten germanischer Urzeit“ attestiert.20 Am Ende wendet sich Rosenberg an jene, die zum „bewussten Deutschtum“ zurückwollten, etwa völkisch orientierte Nationalsozialisten. Sie sähen das Heil in „strengster rassenaristokratischer Unduldsamkeit“ und lehnten das Christentum als „internationale Religion“ ab.21 Damit aber seien sie im Irrtum, denn sie ver wechselten die christliche Kirche mit der Religion : „Sie sollten sich lieber das Christentum anschauen, wie es in den Seelen der großen Deutschen wiedergeboren wurde, sie würden dem Manne aus Galiläa dann näher kommen.“22 Christus sei in Wahrheit „der Gott der Völker Europas“, seine Lehre sei weder international noch demokratisch.23 Europa, dessen Schutzherr der arisierte Christus sein sollte, spielte in Rosenbergs Weltbild eine zentrale Rolle.24 Der Kampf gegen den Bolschewismus hatte für ihn schon früh eine europäische Perspektive. Rosenbergs Europa war ein rassistisch neu geordneter Kontinent mit dem Deutschen Reich als Führungsmacht, ein der Pax Germanica unterworfenes Europa mit Arierpass. Adolf Hitler sprach davon, Europa sei „kein geographischer, sondern ein blutsmäßig

16 Rosenberg, Chamberlain, S. 86. 17 Vgl. Houston Stewart Chamberlain, Arische Weltanschauung, Berlin 1905. 18 Dass Christus Arier gewesen sei, war damals bekanntlich eine weit verbreitete Auffassung. Chamberlain war hier etwas ambivalent. In den „Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts“ folgt dem Kapitel „Christus kein Jude“ wenig später das Kapitel „Christus ein Jude“ ( Grundlagen, S. 227 ff. und 247 ff.). Vgl. George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M. 1990, S. 128. Selbst Rosenberg kann lediglich feststellen, dass es keinen zwingenden Grund zu der Annahme gebe, Jesus sei Jude gewesen ( Mythus, S. 76 Anm.). 19 Alfred Rosenberg, Das Verbrechen der Freimaurerei (1921). In : Rosenberg, Schriften und Reden, S. 395–619. 20 Ebd., S. 593. 21 Ebd., S. 614. 22 Ebd., S. 615. 23 Ebd. 24 Vgl. Piper, Rosenberg, S. 597 ff.

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bedingter Begriff“.25 In einem solchen Europa hatte auch ein Christus mit arischer Rassenseele seinen Platz. Hitlers Christologie war der Rosenbergs ganz ähnlich. Beide wollten, anders als etwa Heinrich Himmler, nicht unter einen germanischen Götterhimmel zurückkehren. Sie beriefen sich stattdessen auf einen germanisierten Christus. Hitler sah sich als Messias militans des 20. Jahrhunderts, als Erlöser der Deutschen zugleich in dessen Nachfolge, wenn er seinen Anhängern 1923 zurief : „Wir sind zwar klein, aber einst stand auch ein Mann auf in Galiläa, und heute beherrscht seine Lehre die ganze Welt.“26 Alfred Rosenberg ging es nicht um eine Revivifizierung der germanischen Götterwelt. Wotan ist tot, heißt es im „Mythus des 20. Jahrhunderts“, er „vollendete den Untergang der Götter einer mythologischen Epoche“.27 An seine Stelle aber war zum Unglück Europas der „syrische Jahwe“ getreten, in der Gestalt seines Stellvertreters, des „etruskisch - römischen Papstes“.28 Rettung sah Rosenberg in der deutschen Mystik, namentlich bei Meister Eckhart. Insbesondere seit Erscheinen des „Mythus“, dessen Titelblatt ein Satz dieses spätmittelalterlichen Theologen ziert, wurde Rosenberg zum wichtigsten Proponenten einer nationalsozialistischen Eckhart - Renaissance, die sogar zu mehreren, konkurrierenden Neueditionen von dessen Schriften führte. An die Stelle einer übernatürlichen Macht trat durch Eckhart, wollen wir seinem selbsternannten Bannerträger glauben, die Entdeckung der eigenen Seele, in Rosenbergs Worten : „Das göttliche Walhall stieg aus unendlichen nebeligen Fernen hernieder in des Menschen Brust.“29 Ganz besonders traf dies für die Brust von Meister Eckhart zu : „Im deutschen Mystiker tritt zuerst und bewusst [...] der neue, der wiedergeborene germanische Mensch in die Erscheinung.“30 Eckhart wird hier zum Propheten einer Renovatio Germaniae, zum Künder des „Grundbekenntnises alles arischen Wesens“.31 Zentral ist für Alfred Rosenberg der Begriff der Seele. Ursprünglich von Gott geschaffen, sei sie von ihm in die Freiheit entlassen und ihm dadurch ebenbürtig. Das Grundbekenntnis arischen Wesens sei zugleich ein „aristokratisches Seelenbekenntnis“, die adlige Seele sei die Stellvertreterin Gottes auf Erden, nicht etwa die Kirche oder gar der Papst.32 Dagegen stehe die „Medizinmann Philosophie“ des Vatikan, dessen Lehrsätze alle nur das Ziel hätten, „die Menschheit von der römisch gebundenen Priesterkaste abhängig zu machen und ihr den ‚Adel der Seele‘ auszubrennen“.33 Der seiner arteigenen Religiosität 25 Zit. nach Paul Kluke, Nationalsozialistische Europaideologie. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3 (1955), S. 240–275, hier 260. 26 Zit. nach Hellmuth Auerbach, Hitlers politische Lehrjahre und die Münchner Gesellschaft 1919–1923. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25 (1977), S. 1–45, hier 29. 27 Rosenberg, Mythus, S. 219. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 220. 31 Ebd., S. 222. 32 Ebd., S. 227. 33 Ebd.

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bewusste Deutsche sei erbadelig, während der im Dogmengebäude kirchlichen Christentums Gefangene erbsündig sei. Für Rosenberg ist dies ein entscheidendes Unterscheidungskriterium zwischen dem „positiven“, nach dem Parteiprogramm der NSDAP zu duldenden Christentum und dem „negativen Christentum“ der Kirchen. Das heißt am Ende, und hier beruft sich Rosenberg noch immer auf Eckhart : „An die Stelle der römisch - jüdischen Weltanschauung tritt das nordisch - abendländische Seelenbekenntnis als die innere Seite des deutschgermanischen Menschen, der nordischen Rasse.“34 Bei diesem Zitat wird zugleich deutlich, dass Rosenberg weit von einem sich natur wissenschaftlich gerierenden Rassenbegriff entfernt war, wie ihn etwa Hans F. K. Günther vertrat. Sein Rassismus stand in einer älteren, eher kulturund religionsgeschichtlichen Tradition. Rasse war für Rosenberg die Außenseite der Seele. Ein derart flexibler Seelenrassismus hatte keine Schwierigkeiten damit, Christus zum Ehrenarier zu erklären und umgekehrt selbstvergessene Volksgenossen, die sich den Kampf gegen den so verderblichen Einfluss des Judentums nicht zu ihrer Sache machten, als „Judentzer“ ( Dietrich Eckart ) oder „künstliche Juden“ ( Erich Ludendorff ) abzustempeln.35 Zugleich diente das zitierte göttliche Walhall in des Menschen Brust dazu, die Aura des Numinosen in die Welt, namentlich die Welt nationalsozialistischer Staatlichkeit, zurückzuholen. Die Abkehr von der Erbsünde machte das Erlösungsversprechen des Christentums überflüssig. Ein diesseitsorientierter Tatglaube setzte an seine Stelle die Selbsterlösung, zu deren Realisierung der Gott der Vorsehung Adolf Hitler bestimmt hatte.36 Meister Eckhart war der früheste Zeuge, den Rosenberg für seinen nordischen Glauben bemühte. Johann Gottlieb Fichte, der eine johannäische Christologie propagiert hatte, ein vom aufklärerischen Antijudaismus inspiriertes diesseitiges Christentum, gehörte ebenfalls zu denen, die er als geistige Vorväter anerkannte.37 Das gleiche gilt für Paul de Lagarde, dessen Neurezeption Rosenberg entscheidend gefördert hat. Er hielt ihn für den wichtigsten Propheten einer neuen Weltsicht und Vordenker des völkischen Staates.38 Für Lagarde war das von Bismarck geschaffene Deutsche Reich schon deshalb kein Nationalstaat, weil es Juden in seiner Mitte duldete, ganz davon abgesehen, dass es aus der Sicht eines Nationalisten ein Torso war. Das wilhelminische Kaiserreich war von seinem Ideal einer deutschen Nation so weit entfernt wie das real existierende Christentum von der von ihm erhofften nationalen Religion, wobei Nation und

34 Ebd., S. 252. 35 Piper, Rosenberg, S. 80 bzw. 174. 36 Vgl. Michael Rißmann, Hitlers Gott. Vorsehungsglaube und Sendungsbewusstsein des deutschen Diktators, Zürich 2001. 37 Miloslav Szabó, Rasse, Orientalismus und Religion im antisemitischen Geschichtsbild Alfred Rosenbergs. In : Werner Bergmann / Ulrich Sieg ( Hg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 211–230, hier 225. 38 Piper, Rosenberg, S. 190 f.

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Religion als Korrelate fungieren : „Der Begriff der Nation war bei Lagarde ein mystisches Gegenstück zu seiner nationalen Religion. [...] Für Lagardes Nation gab es keine Schranken; sie verkörperte die immanente Einheit artgleicher Menschen, und ihr Wille konnte nicht angefochten werden.“39 „Artgleichheit“ und „Arteigenheit“ bedingten einander. Nur in der Gemeinschaft artgleicher Menschen konnte die Arteigenheit zur Entfaltung kommen, nur in einem rassistisch purifizierten Volkskörper, der zugleich alle Glieder des Volkes vollständig umfasste, war die Rückbindung, lateinisch : religio, auf die arteigene Religiosität möglich. Die deutsche Nation war, verspätet und unvollständig gebildet, durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und den folgenden, heftig attackierten „Schmachfrieden“ von Versailles akut gefährdet. Nun kam alles darauf an, dass „das völkische Dasein seine Lebensgesetze den Kirchen aufzwingt“. Denn : „Die Ablehnung des germanistischen Ideals in Deutschland ist nackter Volksverrat. Eine spätere Zeit wird dieses Verbrechen auf die gleiche Stufe mit Landesverrat während des Krieges stellen.“40 Die Nation als das Volksganze war das Ziel, die einmal erreichte völkische Einheit war das Realissimum eines sakralen Nationalismus. Rosenbergs Erlösungsreligiosität war antiuniversal, antikonfessionell, antirömisch und antisemitisch. Sie war getragen von einem exklusiven Nationalismus, dessen Märtyrer die Toten des Weltkrieges waren. Ihnen war der „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gewidmet. Ihr Blut sollte unter den Vorzeichen eines neuen Glaubens lebendig werden, „in seinem mystischen Zeichen [...] ein neuer Zellenbau der deutschen Volksseele vor sich gehen“.41 Rosenberg sah sich in der Rolle eines Hohepriesters eines sakralen Nationalismus, einer mystisch überhöhten Nation. Im „Mythus“ propagierte er die Gründung einer Deutschen Nationalkirche, die nicht irgendwelche metaphysischen Behauptungen, sondern ein heroisches Lebensgefühl vertreten sollte. Die Mariensäulen sollten Kriegerdenkmälern weichen, in den Kirchen sollte an die Stelle der Kreuzigung der lehrende Feuergeist treten, die Gestalt Jesu aller jüdischen Rassemerkmale entkleidet werden. Rosenberg hatte detaillierte Vorstellungen von der „arteigenen“ Schönheit der Kriegerbilder, von der „steilen, durchfurchten Stirn“ bis hin zur „starken, geraden Nase mit kantigem Gerüst“.42 Die Deutsche Nationalkirche sollte die existierenden Kirchengebäude nutzen, da sie nun einmal vorhanden waren. Aber sie sollte vor allem deutsch und national und erst zuallerletzt eine Kirche sein. Rosenberg hatte den Begriff der

39 Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München 1986, S. 83 f. Vgl. Ernst Piper, Der Orient als Dystopie. Paul de Lagarde und der Mythus der deutschen Nation. In : Irene A. Diekmann / Thomas Gerber / Julius H. Schoeps ( Hg.), Der Orient im Okzident. Sichtweisen und Beeinflussungen, Potsdam 2003, S. 161–176. 40 Rosenberg, Mythus, S. 635. 41 Ebd., S. 1. 42 Zit. nach Franz Theodor Hart, Alfred Rosenberg. Der Mann und sein Werk, München 1943, S. 29 f.

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Nationalkirche wohl von Lagarde übernommen,43 aber dabei ging es ihm nicht um die Kirche, sondern um die Nation. Rosenbergs Hofphilosoph Alfred Baeumler hat den zugrundeliegenden totalitären Anspruch prägnant formuliert: „Die Nation verlangt den ganzen Menschen und rückt insofern in die Reihe der religiösen Mächte.“44 Dabei gerät manchmal in Vergessenheit, dass totalitäre Ideologien, deren Macht - und Gestaltungsanspruch mit religiösen Deutungssystemen in Konkurrenz tritt, deshalb noch lange keine Religionen sind. Insbesondere im Kontext des Nationalsozialismus ist der Begriff der politischen Religion in den letzten Jahren wieder verstärkt diskutiert worden. Die inzwischen vielerorts beschriebene pseudoreligiöse Selbstinszenierung des totalitären Staates im nationalsozialistischen Feierjahr hat diesem interpretatorischen Ansatz den Anschein der Plausibilität verliehen. Dennoch ist der Begriff der politischen Religion nach meiner Überzeugung nicht wirklich hilfreich. Zum Wesen einer Religion gehört der Glaube an die Existenz einer übernatürlichen Macht, eine Jenseitsvorstellung, eine Heilslehre und anderes mehr, was wir im Nationalsozialismus nicht finden. Stefan Breuer, der sich in einer Reihe von Publikationen mit der Ideenwelt der deutschen Rechten auseinandergesetzt hat, hat das Konzept der politischen Religion zurückgewiesen. Es fehle die Zentrierung auf eine Botschaft und ebenso der Primat der Religion im Bezug auf die Politik.45 Tatsächlich betonte Rosenberg immer wieder die Toleranz des nationalsozialistischen Staates gegenüber den verschiedenen Glaubensbekenntnissen, wobei es ihm keineswegs um religiöse Toleranz ging, sondern darum, die Glaubensbekenntnisse in ihrer Bedeutung zu relativieren. So schrieb er 1927 im „Völkischen Beobachter“ : „Wir achten jede religiöse Anschauung, da wir auf dem Standpunkt stehen, dass der Nationalsozialismus über allen Bekenntnissen steht und sie im Dienste für das deutsche Wesen alle zu umschließen vermag.“46 So wie Rosenberg schon in der eingangs zitierten Aufzeichnung zum Religionsunterricht in den verschiedenen Weltreligionen vor allem Objekte einer historischen Darstellung sah, wobei das Christentum erst in der letzten Schulklasse behandelt werden sollte, so sollten religiöse Bekenntnisse, soweit sie nicht als staatsgefährdend galten, toleriert, keinesfalls aber durch eine staatliche Anerkennung aufgewertet werden. Das deutsche Wesen war das Subjekt einer Nazione deificata, die alles bedeutete, während ihre einzelnen Glieder nichts bedeuteten – „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, hieß eine zentrale Propagandaparole. Deshalb sollte es für die „Volksgenossen“ auch nicht auf Egalität in der Gemeinschaft, sondern auf die Homogenität der Gemeinschaft ankommen. 43 Vgl. Frank - Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 166, Anm. 159. 44 Alfred Baeumler, Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1943, S. 19 f. 45 Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 325 f. 46 Alfred Rosenberg, Kampf um die Macht. Aufsätze von 1921–1932. Hg. Thilo von Trotha, München 1937, S. 536.

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Die nationale Einheit endete nicht mit dem Tod. Die „Blutzeugen der Bewegung“, umgekommen beim Putschversuch 1923, nahmen gleich den Toten des Weltkriegs, einen höchst bedeutsamen Platz in der Volksgemeinschaft ein. Am deutlichsten wurde dies am 9. November, wenn die „alten Kämpfer“ mit Adolf Hitler an der Spitze vom Bürgerbräukeller ihren Gedenkmarsch zur Feldherrnhalle veranstalteten, gewissermaßen eine nationalsozialistische Fronleichnamsprozession, die nach der Umbettung der Toten des 9. November 192347 bis zum Königsplatz verlängert wurde. Diese Prozession war „eine zutiefst im germanischen religiösen Empfinden verankerte weihevolle Handlung“, in der die „Vorstellung von der ewigen Erneuerung göttlichen Lebens in der Verbindung zwischen Totenfeier und Verpflichtung jugendlichen Nachwuchses“ zum Ausdruck kommen sollte.48 Das nordische Ideal war nicht „die faule und feige Ruhe in einem Jenseits mit Halleluja und Palmwedeln“, vielmehr der „immer erneuerte Einsatz zum freudigen Kampf für die aus dem göttlichen Quell in uns selbst geschöpften Hochziele“.49 Höhepunkt und Abschluss des Umzuges vom 9. November war das „Hier der Wiedererstandenen“ auf dem Königsplatz. Nacheinander wurden die Namen der 16 „Blutzeugen“ des Jahres 1923 gerufen; auf jeden Namen antwortete ein Chor der HJ mit einem lauten „Hier“. Man kann auf die Übernahme christlicher Kultformen und - rituale bei der Analyse des Geschehens am 9. November abheben.50 Damit trifft man aber nicht den Wesenskern der nationalsozialistischen Feier, sondern nur die äußere Form. Wenn christliche Missionare im frühen Mittelalter germanische Bräuche wie etwa den Lichterbaum zur Wintersonnenwende adaptierten, so taten sie dies nicht, weil sie von der germanischen Religion fasziniert waren und sich ihr anschließen wollten. Ganz im Gegenteil wollten sie die Germanen christianisieren und glaubten, dieses Ziel leichter erreichen zu können, wenn sie Gebräuche und Rituale, die den zu Missionierenden vertraut waren, in die von ihnen vertretene Religion implementierten. So ist auch die nationalsozialistische Adaption der Rituale des christlichen Kultus zu verstehen. Weitere Indizien für die These, der Nationalsozialismus sei eine politische Religion gewesen, lassen sich finden.51 Rosenberg berichtet z. B. in seinen Gefängnis - Aufzeichnungen von den Feierstunden des Arbeitsdienstes. Wenn das Abschlusslied erklang, das mit den Worten endete „Und jeder Spatenstich, den wir vollbringen, soll ein Gebet für Deutschland sein !“, seien allen die Tränen 47 Die Umbettung von der Feldherrnhalle zu den „Ehrentempeln“ am Königsplatz erfolgte 1935. Vgl die genaue Beschreibung bei Hans Günter Hockerts, Mythos, Kult und Feste. München im nationalsozialistischen „Feierjahr“. In : München – „Hauptstadt der Bewegung“, München 1993, S. 331–341, hier 335 ff. 48 Dagobert Dürr. Zit. nach Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Rituale, Vierow 1996, S. 300. 49 Ebd., S. 300 f. 50 So Behrenbeck, Kult, S. 301 ff. 51 Vgl. Ernst Piper, Rosenberg – Der Prophet des Seelenkrieges. In : Michael Ley / Julius H. Schoeps ( Hg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997, S. 107–125, hier 115 ff.

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gekommen. Man habe empfunden, dass hier religiöses Brauchtum entstand. Es sei der „Abglanz eines metaphysischen Auftrags“ gewesen, „auch wenn er seine fassbare Ausprägung noch nicht gefunden hatte“.52 Dem kann man vielleicht folgen. Aber religiöses Brauchtum macht noch keine Religion, es kann im Gegenteil auch die Funktion haben, ihr Verschwinden zu kaschieren. Hans - Ulrich Wehler hat im dritten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte den reichsdeutschen Nationalismus, der dann später im Nationalsozialismus ins Extrem radikalisiert wurde, als politische Religion bezeichnet.53 Er betont allerdings, dass man sich dabei von der historischen Gestalt der vertrauten Heils - und Erlösungslehren freimachen müsse und es um ein kulturelles Deutungssystem gehe.54 Eine Reihe von Elementen, die Wehler anführt, sind beim Nationalsozialismus zu finden, z. B. die Verheißung der Kontingenzbewältigung, Sinndeutung der menschlichen Existenz im Diesseits, kompromissloses Beharren auf ein Deutungsmonopol, Entwurf eines umfassenden Weltbildes. Aber es ist die Frage, ob nicht all dies eher Elemente eines Religionsersatzes als einer Ersatzreligion sind, ob es nicht der Klarheit dient, hier beim Begriff der Ideologie – oder nationalsozialistisch eingedeutscht : der Weltanschauung – zu bleiben. Bei den Versuchen, die christliche Religion durch ein kultisches Placebo zu substituieren, spielte auch die „Feiergestaltung“ eine wichtige Rolle, denn da ging es um Dinge, die die Menschen für ihren Gefühlshaushalt brauchten. Hier sollten „die Brücken vom arteigenen Geist der Vergangenheit zum lebendigen Heute“ geschlagen werden.55 Die Volkskunde hatte deshalb zur Feiergestaltung Entscheidendes beizutragen. 1942 wurde als Unterabteilung von Rosenbergs Überwachungsamt das Amt für Volkskunde und Feiergestaltung gegründet, dem wenig später die Lehrstätte für Feiergestaltung zur Seite trat.56 Alfred Rosenberg formulierte in einem Brief an Martin Bormann sehr klar, was dabei das Ziel war: „Es erscheint mir notwendig, gerade im Hinblick auf den Kampf mit der Kirche, eine Feierform von der Partei aus zu finden, die den deutschen Menschen zu der Partei hinführt und ihn auf das verzichten lässt, was ihm bisher die Kirche gegeben hat.“57 Hier brachte der Parteiideologe mit nicht zu übertreffender Deutlichkeit zum Ausdruck, worum es im Kern ging. Der zitierte Brief an Bormann stand am 52 Heinrich Härtle ( Hg.), Großdeutschland. Traum und Tragödie. Rosenbergs Kritik am Hitlerismus, 2. Auflage München 1970, S. 222 f. 53 Hans - Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3 : Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München 1995, S. 938 ff. 54 Ebd., S. 943. 55 So Rosenbergs Mitarbeiter Matthes Ziegler. Zit. nach Hannjost Lixfeld, Matthes Ziegler und die Exilforschung des Amtes Rosenberg. In : Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, 26 (1985/86), S. 37–59, hier 42. 56 Piper, Rosenberg, S. 327. 57 Rosenberg an Bormann vom 6. 3. 1942. In : Akten der Parteikanzlei. Microfiche - Edition. Hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 1983, S. 12 603 263.

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Ende eines längeren Briefwechsels, in dem es wie so oft im „Dritten Reich“ um Kompetenzfragen gegangen war. Zu Beginn der Kontroverse hatte Bormann in einem Rundschreiben an alle Gauleiter heftige Kritik an der „krampfhaften Sucht“ geübt, „für kirchliche Veranstaltungen Ersatz in nationalsozialistischen Feiern zu schaffen“.58 So werde z. B. das Kind durch seine Geburt bereits Glied der Volksgemeinschaft und müsse nicht erst durch eine sakramentähnliche Handlung in diese aufgenommen werden. Ähnliches gelte für die Konfirmation. Sie solle nicht durch „Lebenswendefeiern“ ersetzt werden ( ähnlich der Jugendweihe, später in der DDR ). An ihre Stelle sollte vielmehr die „Verpflichtung der Jugend“ treten, eine Feier der HJ, die eben nicht davon ausging, äußerlich möglichst ähnliche Substitute für die kirchlichen Feiern zu schaffen, sondern die den Anspruch der Gemeinschaft auf die nachwachsende Generation dokumentieren sollte. Sodann kam Bormann auf die Morgenfeiern zu sprechen, die eben kein nationalsozialistischer Frühgottesdienst sein sollten : „Die nationalsozialistischen Morgenfeiern dienen nicht der ‚religiösen Einkehr und Erbauung‘, sondern der politischen Willensbildung.“59 Schließlich brachte Bormann die höchste Autorität im Staate ins Spiel. Der „Führer“ sei den kritisierten Fehlentwicklungen bereits mehrfach entgegengetreten : „Auf keinen Fall soll und darf der Nationalsozialismus, wie der Führer immer wieder betont, einen Ersatz für kirchliche oder religiöse Handlungen darstellen oder gestalten helfen. Der Nationalsozialismus ist eine wissenschaftlich fundierte Lebensauffassung, der alles Mystische und Kultische fernzuhalten ist.“60 Hier ist sehr deutlich der Anspruch formuliert, nicht Ersatzreligion zu sein, sondern etwas, das die Religion als Stifterin von Lebenssinn ersetzt, ein Religionsersatz, der in der Praxis gleichwohl ohne kultische Überhöhung nicht auskam. Den durchschnittlichen Volksgenossen gewann man nicht dadurch für den Dienst an der deutschen Nation, wenn man ihm „Mein Kampf“ oder den „Mythus des 20. Jahrhunderts“ zu lesen gab, sondern nur durch Erlebnisse, die sein Herz höher schlagen ließen. Deshalb spielte die Feiergestaltung für die Formierung des nationalsozialistischen Staates eine überaus wichtige Rolle, wobei zwischen den Feiern der Partei, etwa am 9. November, den Feiern der Volksgemeinschaft im Jahreslauf, z. B. Sonnenwende oder Erntedank, und den Feiern der Sippe im Lebenslauf, den „Lebensfeiern“ von der Geburt bis zum Tod, unterschieden wurde. Die drei Instanzen, die hier involviert waren, waren Robert Ley, der Herr über „Kraft durch Freude“, der Überwachungsbeauftragte Alfred Rosenberg und Propagandaminister Joseph Goebbels. Für die Lebensfeiern war Rosenberg zuständig. Er maß ihnen große Bedeutung bei, „weil gerade

58 Rundschreiben Bormanns vom 29. 5. 1941 ( ebd., S. 11704 641). 59 Ebd., S. 11704 642. 60 Ebd. Bormann paraphrasierte hier Hitlers Rede auf der Kulturtagung des Reichsparteitages 1938. Vgl. Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Band 2, Wiesbaden 1973, S. 893.

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die Lebensfeiern die einzige wirkliche Bindung von Millionen von Volksgenossen an ihre kirchliche Organisation sind“.61 Nachdem Robert Ley Ansprüche angemeldet hatte, die über seine Kompetenzen hinausgingen, wurde fast ein Jahr lang über die Fragen der Feiergestaltung korrespondiert. Am Ende versuchte Bormann, Ordnung zu schaffen. Tatsächlich gelang es ihm, eine gewisse Befriedung zu erreichen. Goebbels sollte verantwortlich sein für die Feiern der Partei bzw. des Reiches und die Feiern des Jahreslaufs, während die Lebensfeiern in Rosenbergs Zuständigkeit verblieben.62 Leys Rolle beschränkte sich auf organisatorische Hilfsdienste bei den Feiern. Goebbels und Rosenberg hatten sich auf seine Kosten verständigt. Das Fachorgan für Feiergestaltung „Die neue Gemeinschaft“ wurde vom Hauptamt Kultur der Reichspropagandaleitung in Zusammenarbeit mit dem Amt Rosenberg herausgegeben. Goebbels repräsentierte die Partei, die „Hüterin aller Daseinsbelange des Deutschen Volkes“,63 während Rosenberg versuchte, „durch die Wirkung auf die Gemütskräfte ein nationalsozialistisches Gemeinschaftserlebnis zu vermitteln“.64 Seinem Temperament entsprechend, versuchte Rosenberg für die Lebensfeiern ein umfassendes theoretisches Fundament zu schaffen. Unter seiner Herausgeberschaft als Überwachungsbeauftragter erschien noch 1940 die Schrift „Die Gestaltung der Lebensfeiern“,65 deren erster Satz lautete : „Die artgemäße Gestaltung der Feiern des Lebenslaufes bei Geburt, Hochzeit und Tod ist eine Aufgabe der weltanschaulichen Führung und Volksgemeinschaft.“66 Entscheidendes Merkmal der „artgemäßen Lebensgestaltung unserer Ahnen“ war „die gelebte Einheit von Rasse, Recht und Glaube“.67 Im Laufe der Zeit habe die Kirche die Sippe verdrängt und ihr so die Gestaltung der Lebensfeiern entwunden. Die vielen Volksgenossen – hier war der Wunsch der Vater des Gedankens –, die sich inzwischen von kirchlichen Bindungen frei gemacht hätten, hätten aber das Bedürfnis, „die bedeutungsvollen Tage im Lebenslauf in feierlicher Art im Kreise der Sippe und der Volksgemeinschaft zu begehen“.68 Treuhänder der Volksgemeinschaft war selbstverständlich die NSDAP. Sie stand, vertreten durch ihre Hoheitsträger, als „Trägerin und Gestalterin der deutschen Weltanschauung“69 stets beratend zur Verfügung. Was auch geschah, die Volksgemeinschaft, 61 Rosenberg an Bormann vom 10. 7. 1941. In : Akten der Parteikanzlei, S. 12 602 648. 62 Anordnung Bormanns vom 23. 5. 1942. Zit. nach Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 68. 63 Zit. nach ebd., S. 90. 64 Zit. nach ebd., S. 91. 65 Die in den öffentlichen Bibliotheken verzeichneten Exemplare datieren ab 1940 und haben entweder den Überwachungsbeauftragten, Gauschulungsämter oder die Mittelstelle für Feierberatung in der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde als Herausgeber. 66 Gestaltung der Lebensfeiern, Augsburg 1941, S. 5. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 7.

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vertreten durch die Partei, feierte immer mit, zumindest vertrat sie diesen Anspruch. Den Grundsätzen folgten Hinweise zur Gestaltung der einzelnen Lebensfeiern, wobei die antikirchliche Stoßrichtung stets präsent war. Eine parallele Eintragung von Geburt oder Hochzeit in das Kirchenbuch und in das von der NSDAP geführte Sippenbuch war z. B. unstatthaft.70 Die einzelnen Feiern, eine Geburt etwa, die feierliche Vereinnahmung eines neuen Volksgenossen, waren ganz genau geregelt. Im Befehlston hieß es : „Der Raum muss mit Blumen geschmückt sein.“71 Auf dem Tisch sollte ein Leuchter mit brennenden Kerzen stehen und, falls das Kind in der Stadt zur Welt kam, Erde aus der Heimat der Eltern. Für jeden Stuhl gab es Vorschriften. Schließlich das Wichtigste : „Ein an würdiger Stelle aufgehängtes Führerbild bringt zum Ausdruck, dass dieses Kind auch dem Führer gehört.“72 Auch Geschenke waren erlaubt : „Eine Spende der NSV, ein silberner Löffel durch die Frauenschaft mit der Lebensrune, durch Pimpfe oder Jungmädel ein Blumenstrauß.“73 Deutlich war, dass es weltliche Instanzen waren, die die Kirche aus dem Raum der Familie verdrängen wollten: der Führer, die Partei, die Volksgemeinschaft, der Staat. Deshalb war für die zuletzt referierte Feierlichkeit der Begriff „Geburtsfeier“ vorgeschrieben, während es unstatthaft war, von einer „braunen Taufe“ zu sprechen. Ähnlich hatten die Parteigenossen von „Hochzeitsfeier“ zu sprechen, während die Ver wendung des Begriffs „Eheweihe“ untersagt war.74 Rosenberg ging bei der Ausarbeitung der Feierrichtlinien mit viel „bürokratischer Ernsthaftigkeit“75 zu Werke, das entsprach seinem Temperament. Diese Ernsthaftigkeit tat allerdings eher dort ihre Wirkung, wo Bürokraten ihre Adressaten waren, als dort, wo Durchschnittsbürger sich überlegten, wie sie ihre Familienfeste gestalten sollten. Allen Gauschulungsämtern, Mittelstellen für Feiergestaltung, Handreichungen, Anordnungen und Ermahnungen zum Trotz lag der Anteil der nationalsozialistischen Lebensfeiern an der Gesamtheit häuslicher Feierlichkeiten in der Regel im Bereich von etwa einem Prozent.76 Von einer Durchdringung des Alltags konnte also keine Rede sein. Sehr viel eher als beim Nationalsozialismus oder gar dem wilhelminischen Nationalismus scheint mir der Begriff der Ersatzreligion für manche Bestrebungen im völkisch - religiösen Bereich zuzutreffen, wobei wir es im Bereich der sogenannten Deutschgläubigen mit einem breiten Spektrum zu tun haben, das von Germanisierern des Christentums wie Arthur Bonus bis zu ausgesprochenen Christentumshassern wie dem Ehepaar Ludendorff reichte. Die Mehrheit der 70 71 72 73 74 75 76

Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 16. Vondung, Magie, S. 101. Ebd., S. 103. Ebd., S. 111, gibt ein Beispiel, wo der Anteil 3,7 Prozent betrug, was schon als ungewöhnlich gut galt.

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Völkischen hing einem antisemitisch konnotierten Deutschchristentum an, nur eine Minderheit wollte zurück zur Religiosität der Germanen.77 Bei den meisten Formen völkischer Religiosität handelte es sich um Derivate des nationalkirchlichen Protestantismus, dessen Nähe zur Welt der Germanen deutlich größer war als die der Ultramontanen. Rosenberg hingegen machte trotz unterschiedlicher Radikalität in der Rhetorik bei seiner Ablehnung der christlichen Kirchen zwischen katholischen „Dunkelmännern“ und protestantischen „Rompilgern“ letztendlich keinen Unterschied.78 Er wollte nicht die christliche Kirche, wie germanisiert auch immer, erneuern, seine Reformatio zielte auf die deutsche Nation. Die Zeit nach der nationalsozialistischen Machtübernahme brachte denn auch „nicht das Zeitalter der Erfüllung, sondern vielmehr das der Demontage deutschreligiöser Ideen“.79 1934 erschien Helmut Lothars Buch „Neugermanische Religion und Christentum“.80 Dort gab es unter den völkisch - religiösen Bewegungen der Gegenwart neben der Deutschen Glaubensbewegung, Jakob Wilhelm Hauer, Herman Wirth und Ernst Bergmann auch ein Kapitel „Alfred Rosenbergs Deutsche Volkskirche“.81 An solcherlei Einebnung in die Landschaft der Reformatoren konnte dem Reichsleiter und Überwachungsbeauftragten nicht gelegen sein. Er widersetzte sich auch in der Folge allen Annäherungsversuchen völkisch - religiöser Gruppierungen, wobei er sie in der Regel einfach ignorierte. Als einziger NS - Politiker der ersten Garde trat Rosenberg nach der „Machtergreifung“, am 15. November 1933, aus der Kirche aus. Er habe die Hoffnung gehabt, dass „nach dem Siege der Bewegung“ eine „Fortentwicklung in der deutschen Reformation“ möglich sei. Diese Hoffnung bestehe nach der „Ketzer Erklärung“ von Reichsbischof Ludwig Müller vom selben Tage aber nicht mehr. Müller hatte die zwei Tage zuvor bei der Kundgebung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast beschlossenen Thesen, die deutsche Volkskirche müsse sich vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral freimachen und alle Nichtarier aus ihren Reihen ausschließen, als Irrlehren bezeichnet und den Berliner Gau - Obmann als Führer des radikalen Flügels innerhalb der Deutschen Christen abgesetzt. Rosenberg gab seinen Kirchenaustritt dem Reichsbischof zur Kenntnis und schrieb dazu, er nehme an, „dass Ihnen ein Austritt auch durchaus erwünscht ist, da seit längerem die Prediger der Deutschen Christen 77 Vgl. Uwe Puschner, Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In : zeitenblicke, 5 (2006) 1 ( www.zeitenblicke.de /2006/1/ Puschner; letzter Zugriff : 6. 4. 2010). 78 Vgl. Alfred Rosenberg, An die Dunkelmänner unserer Zeit. Eine Antwort auf die Angriffe gegen den „Mythus des 20. Jahrhunderts“, München 1935; und ders., Protestantische Rompilger. Der Verrat an Luther und der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1937. 79 Justus H. Ulbricht, Deutschchristliche und deutschgläubige Gruppierungen. In : Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke ( Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 499–510, hier 508. 80 Helmut Lothar, Neugermanische Religion und Christentum. Eine kirchengeschichtliche Vorlesung, Gütersloh 1934. 81 Ebd., S. 24 ff.

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es für nötig erachtet haben, in verschiedenen Städten auch öffentlich gegen mich zu polemisieren“.82 Damit hatte es allerdings bald ein Ende, weil im Juli 1934 eine Verordnung erlassen wurde, die den Versammlungsrednern der Deutschen Christen kritische Erörterungen des „Mythus des 20. Jahrhunderts“ untersagte. Rosenbergs Kirchenaustritt trug sicher dazu bei, dass viele in ihm den Spiritus Rector der Deutschen Glaubensbewegung sahen.83 „Im Sinne Rosenbergs“84 trat die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung, wie sie zunächst hieß, den Deutschen Christen entgegen, die zwar stramme Nazis, aber eben auch gläubige Christen sein wollten. Die Arbeitsgemeinschaft wurde 1933 von Jakob Wilhelm Hauer gegründet. Hauer, zunächst als Gipser tätig, war zum Missionar ausgebildet worden und hatte vier Jahre in Indien verbracht, was ihm die Bedeutung anderer Weltreligionen vor Augen geführt hatte. Seit 1927 hatte er eine Professur für Religionswissenschaft in Tübingen. Sein Stellvertreter im Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft wurde der ehemalige Deutschnationale Ernst Graf von Reventlow. Die Deutsche Glaubensbewegung strebte nach artgemäßer Gotterkenntnis, sie huldigte der Überzeugung, „dass jedem Volk von seinem Blut her ein nur ihm artgemäßer Glaube eignet“.85 Jeder Universalismus wurde daher abgelehnt. Wenn Rosenberg von einer „germanischen Wiedergeburt Deutschlands“ sprach,86 so las sich das ähnlich und war doch anders. Wollten die in der Arbeitsgemeinschaft vereinten Mitglieder der verschiedenen völkischen Sekten „deutschgläubig“ sein, so nannte Rosenberg sich seit seinem Kirchenaustritt „gottgläubig“. Das war im „Dritten Reich“ die offizielle Bezeichnung für die aus der Kirche Ausgetretenen, die durch Erlass des Innenministeriums an die Stelle des Begriffes „konfessionslos“ trat.87 „Gottgläubig“ waren diejenigen, „die sich zur artgemäßen Frömmigkeit und Sittlichkeit bekennen, ohne konfessionell - kirchlich gebunden zu sein“.88 Fromm und sittlich wollte Rosenberg sein, aber keinen Gott dulden, auch keinen germanischen, der der nationalsozialistischen Lehre Konkurrenz machen konnte. Die Organisiertheit der Deutschen Glaubensbewegung, die sich später den Namen Kampfring Deutscher Glaube gab, war da schon zuviel. Parteimitgliedern wurde jede Mitwirkung verboten und mit den Jahren verschwand die Vereinigung in der Bedeutungslosigkeit.89 Die größte Aufgabe des 20. Jahrhunderts war für den Autor des „Mythus“, der „Sehnsucht der nordischen Rassenseele im Zeichen des Volksmythus ihre 82 Rosenberg an Reichsbischof Müller vom 15. 11. 1933 ( BArch, NS 8/257, Bl. 72). 83 So hieß es z. B. in der evangelischen Zeitschrift „Licht und Leben“ : „Wir alle wissen, dass Rosenberg der geistige Vater der ‚Deutschen Glaubensbewegung‘ ist“ ( Heft 50/1934, S. 721). 84 Licht und Leben, Heft 15/1934, S. 232. 85 Zit. nach Cornelia Schmitz - Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998, S. 141. 86 Alfred Rosenberg, Politik und Kirche. In : Völkischer Beobachter vom 16. 8. 1933. 87 Schmitz - Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 281 f. 88 Zit. nach ebd., S. 282. 89 Vgl. hierzu die Beiträge von Horst Junginger und Ulrich Nanko in diesem Band.

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Form als Deutsche Kirche zu geben“.90 Was aber war eine deutsche Kirche im Zeichen des Volksmythus ? Wohl so wenig eine Kirche wie der Nationalsozialismus eine Religion war. Gott realisierte sich in germanischer Seele und nordischem Blut; „Religion“ sollte die Aufgabe haben, Ehre und Freiheit der Seele und des Blutes zu verteidigen.91 Heilig waren die Schlachtfelder, wo deutsche Helden für diese Idee starben. Die Fahne des 20. Jahrhunderts war die Hakenkreuzfahne. Mit ihrer Apotheose endet der „Mythus“ : „Und die heilige Stunde der Deutschen wird dann eintreten, wenn das Symbol des Erwachsens, die Fahne mit dem Zeichen des aufsteigenden Lebens das allein herrschende Bekenntnis des Reiches geworden ist.“92 1938, acht Jahre nach Erscheinen des „Mythus“, wurde Rosenberg von Hitler mit dem Aufbau der Hohen Schule beauftragt. Zu den Aufgaben dieser nationalsozialistischen Eliteuniversität sollte es nach Rosenbergs Plänen unter anderem gehören, die Weltgeschichte neu zu schreiben, denn mit der nationalsozialistischen Revolution des Jahres 1933 sei das christliche Zeitalter zu Ende gegangen, das mit der Christianisierung der Sachsen um 800 begonnen hatte. An die Stelle der „entschwindenden biblischen Tradition“ sollte nun „eine noch ältere arische“ treten.93 In diesem Sinne sollte z. B. das Institut zur Erforschung der arischen Geistesgeschichte wirken, das in München an die Stelle der aufgelassenen theologischen Lehrstühle getreten war. Und in diesem Sinne wirkte auch der ehemalige Pfarrer Wilhelm Brachmann, der sich 1933 der Reichspropagandaleitung der Deutschen Christen angeschlossen hatte. Er war 1936 Lektor in der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums geworden und danach Leiter des Hauptamtes „Protestantismus und Religionswissenschaft“ in Rosenbergs Über wachungsamt. 1942 berief die Universität Halle, die unter Rosenbergs Obhut stand, Brachmann auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für Religionsgeschichte, obwohl er keine Promotion oder gar Habilitation vor weisen konnte. Das Stichwort Religionsgeschichte führte uns zurück an den Anfang, zu Rosenbergs frühen Überlegungen zur Neugestaltung des Religionsunterrichts. Religionen – christliche wie nichtchristliche, völkische wie römische – sollten nur noch Gegenstand historischer Betrachtung sein. Vergleichbar sind die Planungen der SS für ein Museum zur Geschichte des Judentums in Prag, wo über dieses ausgestorbene Volk im Stil eines ethnologischen Museums informiert werden sollte.94 Die Vergangenheit sei christlich geprägt gewesen, die Gegenwart aber sollte dem deutschen Volk gehören, das im Zeichen des Hakenkreuzes seine irdische Wiederauferstehung feierte. Ziel der Nationalsozialisten war ein 90 91 92 93

Rosenberg, Mythus, S. 614. Ebd., S. 701. Ebd. Alfred Rosenberg, Denkschrift über die Aufgaben der Hohen Schule vom 1. 9. 1938 (University Archives University of Nebrska - Lincoln, box 1, folder 3, Bl. 6). 94 Vgl. Jan Björn Potthast, Das jüdische Zentralmuseum der SS in Prag. Gegnerforschung und Völkermord im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2002.

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Weltanschauungsstaat, ein ideologischer Totalitarismus jenseits aller Religion. Alfred Rosenberg war der Frontmann in diesem Kampf. Es gab noch andere, die ähnlich konsequent wie er den Boden christlicher Religiosität hinter sich ließen, z. B. Heinrich Himmler und Martin Bormann. Aber während Himmler zurück zu den Germanen wollte, wollte Rosenberg voran zu den Deutschen. Sein Ziel war es, „ein neues [...] Bild des deutschen Wesens und der deutschen Geschichte zu entwickeln“.95 Die nationalsozialistische Ideologie sollte alle Deutschen in einer ebenso umfassenden wie exklusiven Volksgemeinschaft vereinen. Und am Ende, wenn der Seelenkrieg gewonnen war, sollte aus der Volksgemeinschaft eine Weltanschauungsgemeinschaft erwachsen sein. So weit kam es nicht – Gott sei Dank.

95 Baeumler, Rosenberg, S. 71.

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„Niemals Jesuiten, niemals Sektierer“. Die Religionspolitik des SD gegenüber „Sekten“ und völkisch - religiösen Gruppen Wolfgang Dierker

Am 30. Januar 1943 hielt Heinrich Himmler eine Rede zur Amtseinführung von Ernst Kaltenbrunner, dem neuen Chef der Sicherheitspolizei und des SD. Während die deutsche Armee in Stalingrad vor der Kapitulation und der Judenmord vor seiner europaweiten Ausdehnung stand, lobte der Reichsführer SS die Angehörigen des Sicherheitsdienstes als „Männer, die auf dem weltanschaulichen Gebiet fertig sind, die niemals von der Linie abweichen, die aber niemals in der Durchführung stur und ungeschmeidig sind“.1 Etwas rätselhaft fuhr er fort : „Deswegen werden wir niemals Jesuiten; denn das verachten wir. Wir werden niemals Sektierer werden. Wir werden großzügig sein, wie ein alter Heide nur großzügig sein kann. Wir glauben an einen Herrgott, und wie einer, der an einen Herrgott glaubt, nur großzügig sein kann, wollen wir auch großzügig sein.“2 Die Ver wendung religiöser Kategorien in diesem Zusammenhang verrät etwas von dem Stellenwert, den Christentum und Kirchen nach Überzeugung Himmlers für den Sicherheitsdienst besaßen. Gleichwohl ist es auffällig, dass dieser Tätigkeitsbereich des SS - Nachrichtendienstes lange Zeit kaum erforscht war. Es fehlt nach wie vor an Studien über Aufbau und Arbeitsweise, Ziele und Tätigkeit des SD insgesamt; besonders aber mangelte es an Untersuchungen zu seiner Kirchen - und Religionspolitik, sieht man einmal von der Edition seiner Lageberichte3 und einigen Beiträgen zu Einzelaspekten4 ab. Dieser Mangel geht 1 2 3 4

Rede Himmlers vom 30. 1. 1943. In : Richard Breitman / Shlomo Aronson, Eine unbekannte Himmler - Rede vom Januar 1943. In : VfZ, 38 (1990), S. 347. Ebd. Heinz Boberach ( Bearb.), Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934–1944, Mainz 1971. Shlomo Aronson, Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD, Stuttgart 1971, S. 202; Heinz Boberach, Organe der nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Kompetenzverteilung und Karrieren in Reich und Ländern. In : Karl Dietrich Bracher ( Hg.), Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 305–331; George C. Browder, Hitler’s Enforcers. The Gestapo and the SS Security Service in the Nazi Revolution, New York 1996, S. 189; Jörg Rudolph, „C. vorlegen“. Neueste Quellenfunde zur Kirchengeschichte im Nationalsozialismus. Der Bestand ZB 1 „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Sicherheitshauptamt ( SDHA )

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in erster Linie zurück auf die lange Zeit unzureichende Quellenlage und die vorrangige Aufmerksamkeit der Forschung für die Judenpolitik des SD,5 obgleich die Über wachung und Unterdrückung der christlichen Kirchen in den 1930er Jahren das bedeutendste Tätigkeitsfeld für den Sicherheitsdienst war. Die vorzügliche Studie von Heike Kreutzer über das Reichskirchenministerium6 thematisiert in erster Linie die Spitzel des SD; einen ersten, ausgewogenen Gesamtüberblick vermittelt inzwischen ein Aufsatz von Klaus - Michael Mallmann.7 Auch darin wird jedoch die umfassende Aktenüberlieferung der Kirchenabteilung des SD - Hauptamtes aus den Jahren 1933 bis 1941 nicht berücksichtigt, die bis 1989 im „NS - Archiv“ der DDR - Staatssicherheit lagerte und heute im Bundesarchiv zugänglich ist. Dieses bisher unbekannte Quellenmaterial, ergänzt durch neu aufgefundene Bestände in osteuropäischen Archiven, ermöglichte eine eingehende Studie zur Kirchen - und Religionspolitik des SD, die die Basis des vorliegenden Beitrags bildet.8 Zunächst werden die Voraussetzungen dargestellt : Organisation, Ideologie und die personelle Zusammensetzung des SD - Hauptamtes. Anschließend wird die Praxis der Religionspolitik des SD am Beispiel der deutschreligiösen Bewegung analysiert. Schließlich werden die Befunde auf der Folie zeitgenössischer Überlegungen zum Phänomen der „politischen Religion“ thesenhaft verdichtet.

1.

Organisation, Ideologie und personelle Zusammensetzung

Zur Überwachung der christlichen Kirchen und der anderer Religionsgruppen bestand in der SD - Zentrale schon früh eine eigene Dienststelle. Zunächst als Unterabteilung III /2 „Religion und Weltanschauung“, dann als Hauptabteilung J / II im „Amt Information“, wurde dieser Bereich seit der Neuordnung der

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und Reichssicherheitshauptamt ( RSHA )“ im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam, Zwischenarchiv Dahlwitz - Hoppegarten ( BArchP ) – Eine Bestandsinformation. In : Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Hg. von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, 13 (1993), S. 7–28; Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933–1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit, Berlin 1965; Maria Anna Zumholz, Polizei und Sicherheitsdienst der SS ( SD ) im NS - Staat. In : Willi Baumann / Michael Hirschfeld ( Hg.), Christenkreuz oder Hakenkreuz. Zum Verhältnis von katholischer Kirche und Nationalsozialismus im Land Oldenburg, Vechta 1999, S. 352–356. Vgl. Michael Wildt ( Hg.), Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938. Eine Dokumentation, München 1995. Heike Kreutzer, Das Reichskirchenministerium im Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 2000. Klaus - Michael Mallmann, Die unübersichtliche Konfrontation. Geheime Staatspolizei, Sicherheitsdienst und christliche Kirchen 1934–1939/40. In : Gerhard Besier ( Hg.), Zwischen „nationaler Revolution“ und militärischer Aggression. Transformationen in Kirche und Gesellschaft während der konsolidierten NS - Gewaltherrschaft (1934– 1939), München 2001, S. 121–136. Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2001.

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Geschäftsverteilung im Januar 1936 als Abteilung II 113 „Politische Kirchen“ geführt.9 Einer späteren Definition zufolge war es ihre Aufgabe, „die gesamte Tätigkeit der konfessionellen Kreise genauestens zu beobachten und darüber schnellstens die zuständigen Stellen zu unterrichten“.10 Als erster SD - Kirchenbearbeiter ist Dr. Wilhelm Patin bezeugt, ein katholischer Geistlicher und Cousin Himmlers.11 Im Januar 1934 übernahm der 26 - jährige Studienassessor Martin Wolf die Abteilung und leistete hier den größten Teil der Aufbauarbeit. Um die Jahreswende 1934/35 wechselte er an die Spitze der Hauptabteilung Marxismus und übergab seinen bisherigen Posten an den ehemaligen katholischen Geistlichen Albert Hartl, der ihm bisher unterstellt gewesen war. In den folgenden Jahren wurde die Religionspolitik des SD wesentlich von Hartl geprägt. Seit Jahresbeginn 1936 bestand seine Abteilung aus vier Referaten, die für Katholizismus, Protestantismus, „Sekten“ und völkisch - religiöse Gruppen zuständig waren; dieselbe Struktur wies der Arbeitsbereich im Mai 1939 auf.12 Nach der Errichtung des RSHA leitete Hartl den Arbeitsbereich „Politische Kirchen“ (II B 3), bis dessen Aufgaben im Frühjahr 1941 der Geheimen Staatspolizei und dem „Amt für Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ ( RSHA VII ) zugeschlagen wurden.13 Ihrer Bedeutung als Weltanschauungsgegner entsprechend, hatten die „politischen Kirchen“ einen herausgehobenen Stellenwert in der Aufgabenverteilung des SD - Hauptamtes. Die illegale kommunistische Parteiorganisation war hingegen zu diesem Zeitpunkt bereits aufgerieben und wurde vorrangig mit den exekutiven Mitteln der Gestapo bekämpft,14 während Juden als weltanschauliche Gegner für den SD noch von untergeordneter Bedeutung waren.15 Innerhalb der Abteilung II 113 des Hauptamtes hatte der Katholizismus wiederum das bei weitem größte Gewicht.16 Nur im zuständigen Referat II 1131 bestanden des9 Im Januar 1936 hieß die Abteilung zunächst „Konfessionell - politische Strömungen“. Vgl. Befehl des Chefs des SDHA zum organisatorischen Aufbau ( vom 8. 1. 1936). In : Wildt, Judenpolitik, S. 76; danach zumeist „Politische Kirchen“. 10 Richtlinien für das Sachgebiet II 113 vom 1. 11. 1938 ( BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 4– 13, hier 4). 11 Vgl. Aronson, Heydrich, S. 143 f. 12 Stellenbesetzungsplan der Zentralabteilung II 1 von Mai 1939 ( BArch, ZDH, ZB I / 1017, Bl. 12–14). 13 Geschäftsverteilungsplan von RSHA / Amt II, o. D. ( Ende 1939/ Anfang 1940; BArch, R 58/7036, Bl. 19–21); Verteilung der Ämter des RSHA vom 1. 3. 1941. In : Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947–1949, Band XXXVIII, Nr. 185–L, S. 14, 20. 14 Vgl. Klaus - Michael Mallmann, Kommunistischer Widerstand 1933–1945. Anmerkungen zu Forschungsstand und Forschungsdefiziten. In : Peter Steinbach / Johannes Tuchel ( Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 113–125; Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 454–492, 992–977. 15 Wildt, Judenpolitik, S. 14 f.; Browder, Hitler’s Enforcers, S. 125 f. 16 Wolf / S - Amt III 2, Referat III /2 : Religion und Weltanschauung, o. D. ( Oktober 1933/ Juni 1934; BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 99–103); George C. Browder, Die Anfänge des

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halb auch getrennte, von eigenen Mitarbeitern betreute Sachgebiete wie „Vatikanische Politik und Weltkatholizismus“ oder „Höhere und Niedere Geistlichkeit in Deutschland“.17 Schon ihre Personalstärke hob die Kirchenabteilung gegenüber allen anderen Arbeitsbereichen in der für Gegner zuständigen Zentralabteilung II 1 heraus. Im Februar 1937 waren mit dem Leiter Hartl, sechs Referenten und sechs Hilfskräften alle Planstellen besetzt, dreizehn Mitarbeiter im Ganzen, deren Zahl in der Folgezeit noch bis auf siebzehn anstieg.18 Der Arbeitsanfall war im Vergleich zu den übrigen Tätigkeitsgebieten im Hauptamt außerordentlich hoch und nahm über die Jahre hinweg noch zu; während des ersten Halbjahres 1938 gingen nahezu 40 Prozent der Posteingänge bei II 1 allein an die Kirchenabteilung.19 Im Vergleich zu II 113 waren die übrigen Abteilungen bei II 1 allesamt schwächer besetzt. Um die Jahresmitte 1938 entfielen je neun Mitarbeiter auf die Abteilungen für Freimaurer und „Rechtsbewegung“, sieben auf die Judenabteilung und je fünf auf die Abteilungen für Marxismus und Liberalismus.20 Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der personelle Gesamtbestand der Zentralabteilung II 1 seit Mitte der 1930er Jahre kontinuierlich sank.21 Demnach wäre die Abteilung „Politische Kirchen“ während der 1930er Jahre nicht nur überdurchschnittlich groß gewesen, sondern dazu noch auf Kosten der übrigen Dienststellen in der Zentralabteilung II 1 gewachsen – auch dies ein Beleg für ihre herausgehobene Bedeutung. Eine der wichtigsten Quellen für die ideologischen Gegnervorstellungen des SD sind Heydrichs Ausführungen über „Wandlungen unseres Kampfes“, die im Mai und Juni 1935 im „Schwarzen Korps“ erschienen.22 Der SD - Chef erklärte darin die von Hitler verkündete Weltanschauung zur Grundlage des nationalsozialistischen Staates : „Jede Organisation ist nichts ohne die Kräfte, die sie ideen-

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SD. Dokumente aus der Organisationsgeschichte des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS. In : VfZ, 27 (1979), S. 311–316; ders., Hitler’s Enforcers, S. 126 : „The Catholic Church hat emerged as the prime focus in 1934.“ Vgl. Kolrep / SDHA II 113 an Richter / SDHA II 1: Stellenbesetzung bei II 113 vom 20. 6. 1938 ( BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 121 f.). SDHA / II 113, Tätigkeitsbericht 1. 11. 1936–15. 2. 1937 ( BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 69); Telefonverzeichnis des SDHA vom 1. 1. 1938 ( ZAHDS Moskau, 500/1/48); Telefonverzeichnis des SDHA von Januar 1939 ( ZAHDS Moskau, 500/3/327). 13 960 Eingängen und 11 067 Ausgängen bei II 1 standen 5 423 Ein - und 2100 Ausgänge bei II 113 gegenüber. Vgl. SDHA / II 1, Tätigkeitsbericht 1. 1. 1938–30. 6. 1938, S. 7, 36 ( BArch, R 58/7082). Zwischen November 1936 und Februar 1937 gingen 1 660 Schriftstücke bei II 113 ein und 752 aus, Vgl. SDHA / II 113, Tätigkeitsbericht 1. 11. 1936–15. 2. 1937 ( BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 70). SDHA / II 1, Tätigkeitsbericht 1. 1. 1938–30. 6. 1938, S. 5 ( BArch, R 58/7082). Vgl. die Verzeichnisse in BArch, ZDH, ZB I /554, Bl. 270, und ZAHDS Moskau, 500/3/44, Bl. 24–26; SDHA / II 1, Tätigkeitsbericht 1. 1. 1938–30. 6. 1938, S. 5 ( BArch, R 58/7082). Reinhard Heydrich, Wandlungen unseres Kampfes. In : Das Schwarze Korps, Folge 9– 13/1935, jeweils S. 9. Der Text erschien 1936 als Band 1 der Schriftenreihe des Schwarzen Korps im Eher - Verlag.

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mäßig beseelt.“23 Aus diesem Grunde sei die Erringung der äußeren, staatlichen Macht wertlos, wenn ihr nicht die innere, weltanschauliche Gleichrichtung des Volkes folge. In diesem Sinne hatte Hitler schon in „Mein Kampf“ das Entscheidende der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht in ihrem theoretischen Niveau, sondern in ihrer tatkräftigen Verwirklichung gesehen. Hierzu müsse sie zum Grundsatzprogramm einer politischen Partei und schließlich des Staates gemacht werden, so Hitler : „Diese Umsetzung einer allgemeinen weltanschauungsmäßigen Vorstellung von höchster Wahrhaftigkeit in eine bestimmt begrenzte, straff organisierte, geistig und willensmäßig einheitliche politische Glaubensund Kampfgemeinschaft ist die bedeutungsvollste Leistung, da von ihrer glücklichen Lösung allein die Möglichkeit eines Sieges der Idee abhängt.“24 Jede Weltanschauung ist nutzlos, wenn sie nicht mit staatlichen Mitteln verwirklicht wird, umgekehrt sind Staat und Partei ohne Wert, wenn ihnen keine weltanschauliche „Idee“ zugrunde liegt : Für Hitler gehörten politische Praxis und ideologische Fixierung zusammen, war das eine ohne das andere unvorstellbar. Heydrich warnte seine Mitarbeiter davor, dieses Axiom nach der Übernahme der Regierung zu vergessen. Nur durch die Verwirklichung seiner Weltanschauung könne das nationalsozialistische Regime bestehen, und die Gegner dieser Weltanschauung, Juden und „politische Kirchen“ vor allem, seien nur in ihren äußeren Organisationen zerschlagen worden und kämpften in veränderter Form weiter. So vertrete ein „völlig politisches und weltlich ehrgeiziges Priesterbeamtentum“ nach außen hin mit einem Mal „geistige und blutliche Werte unseres Volkes“, die der Nationalsozialismus gerade wieder aufgerichtet habe, um durch diese Täuschung „den deutschen Menschen charakterlich und geistig systematisch auszuhöhlen“.25 Für SS und SD habe sich deshalb die Form, nicht aber die Notwendigkeit des Kampfes gegen den stets gleichbleibenden, nunmehr gewissermaßen unsichtbar gewordenen Gegner geändert : „Weltanschauliche Gegner kann man entscheidend nur im geistigen Ringen die Weltanschauung bezwingen.“26 Dieser „Werbetext“27 wurde bisher als grundsätzliche, von Heydrich persönlich niedergelegte Aufgabenbeschreibung angesehen.28 Die programmatische Bedeutung dieses Dokuments ist in der Tat kaum zu überschätzen. Aus der Überzeugung, von unsichtbaren geistigen Gegnern umgeben zu sein, resultierte eine „Verallgemeinerung und Abstraktion der ideologischen Gegnervorstellungen“,29 die die weltanschaulichen Bedrohungsgefühle Hitlers und Himmlers 23 24 25 26 27

Ebd., Folge 9/1935, S. 9. Adolf Hitler, Mein Kampf, 2 Bände (1925/27), München 1940, S. 419. Heydrich, Wandlungen unseres Kampfes. In : Das Schwarze Korps, Folge 10/1935, S. 9. Ebd., Folge 13/1935, S. 9. Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS - Führers Franz Alfred Six, München 1998, S. 152. 28 Ebd., S. 152–156; Browder, Hitler’s Enforcers, S. 50 f.; Hans Buchheim, Die SS – das Herrschaftsinstrument. In : Martin Broszat, Hans Buchheim, Hans - Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick, Anatomie des SS - Staates (1965), Band 1, München 1989. 29 Ebd., S. 96, 98.

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konkretisierte und eine eigenständige Legitimation für den ideologischen Nachrichtendienst begründete. Neu aufgefundene Dokumente zeigen aber, dass Heydrichs Gedanken auf früheren Ausarbeitungen der Leipziger Schrifttumsstelle beruhten, wo der promovierte Germanist Wilhelm Spengler eine bestimmende Position innehatte. In verschiedenen Sonderberichten, die Heydrich bereits seit März 1935 vorlagen, war die geläufige Vorstellung, der SD habe die weltanschaulichen Gegner des Nationalsozialismus zu über wachen, entscheidend erweitert worden.30 Im kulturellen und politischen Schrifttum, namentlich in der katholischen Literatur, erblickten die Vordenker des SD unzählige Versuche, durch die Übernahme, Anverwandlung und Verfälschung von Grundbegriffen wie „Rasse“, „Führertum“ und „Volksgemeinschaft“ den Nationalsozialismus in seiner Weltanschauung zu treffen. Diese „Weltanschauung ist weder ein philosophisches System, noch ein starres Gebäude von dogmatischen Glaubenssätzen“; sie ruhe vielmehr „auf einigen unumstößlichen Grundwerten und Ideen, von denen her sie ihre innere Ausformung und praktische Ver wirklichung erfährt und weiter erfahren muss“.31 Die Einheit von weltanschaulicher Überzeugung und praktisch - politischer Tat ist das Leitthema dieses SD - Grundsatzdokuments. Auch Begriffe wie „Rasse“ und „Reich“ dürften nicht länger innerliche, metaphysische Vorstellung bleiben, so brachten es Spengler und seine Mitarbeiter auf den Punkt, sondern müssten durch eine „Synthese von Innerlichkeit und Macht“ verwirklicht werden.32 Aus diesen Darlegungen wurde nicht nur eine spezifische Existenzberechtigung für den Sicherheitsdienst abgeleitet, sondern ex negativo eine umfassende, weltanschauliche Definitions - und Deutungskompetenz beansprucht. Nicht die weltanschauliche Ermächtigung oder der „Führerbefehl“, sondern staatliche Rechtsbestimmungen prägten dagegen die Tätigkeit der Gestapo, der wichtigsten Konkurrentin des Sicherheitsdienstes in der Religions - und Kirchenpolitik. Ihre legalistische Ausrichtung band das Handeln der Staatspolizei zwar stärker an die Restbestände normenstaatlicher Regeln, verschaffte ihr aber zugleich größere Legitimation und Durchsetzungskraft. Nur die Geheime Staatspolizei hatte die Befugnis, Verdächtige vorzuladen, sie zu vernehmen, zu verhaften und der Staatsanwaltschaft zu überstellen, nur sie verfügte mit der Schutzhaft und der Befugnis zur Einweisung in ein Konzentrationslager über das schärfste Repressionsmittel.33 Das Nebeneinander von Sicherheitsdienst und Gestapo erforderte stets erhebliche Anstrengungen, um Rivalitäten und Dop30 S - Amt, Arbeitsstelle für Schrifttumsbearbeitung, zwei Fassungen eines Sonderberichts: Die Zersetzung und Verfälschung der nationalsozialistischen Grundwerte im gegenwärtigen Schrifttum von März 1935 ( BArch, ZDH, ZB I /1348, Bl. 73–125 und 200–296). 31 Ebd., Bl. 206. 32 Ebd., Bl. 237. 33 Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933–1945. In : Anatomie des SS - Staates (1965), Band 2, München 1989, S. 13–15; Christoph Graf, Politische Polizei zwischen Demokratie und Diktatur, Berlin 1983, S. 255–284; Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 2. Auf lage München 1990, S. 545–632.

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pelarbeit einzudämmen. Der Sicherheitsdienst wurde am 4. Juli 1934 von der Führung der Politischen Polizei als einziger Partei - Nachrichtendienst anerkannt, und seine Funktion offiziell als „wesentliche Ergänzung“ der staatlichen Vollzugsorgane bestimmt.34 Eine wirksame Bekämpfung der „Staatsfeinde“ sei nur durch beide Organe gemeinsam zu bewerkstelligen, bekräftigten Himmler und Heydrich im Dezember und machten zum „Grundsatz für die klare Trennung der Arbeitsgebiete“, dass die Polizeibehörden „die Feinde des nationalsozialistischen Staates abwehren und sie bekämpfen“, während „der SD die Feinde der nationalsozialistischen Idee über wacht und die Bekämpfung und Abwehr bei den staatlichen Polizeibehörden anregt“.35 Die kirchenpolitische Praxis der 1930er Jahre strafte gleichwohl alle Idealvorstellungen Lügen, der Sicherheitsdienst werde sich als weltanschaulicher Nachrichtendienst für Partei und Staat betätigen und lediglich die geistigen Gegnerkräfte analysieren. Um sichtbare, legitimierende Erfolge zu erzielen, wandte sich der SD häufig demselben Arbeitsfeld wie die Staatspolizei zu und ermittelte tatsächliche oder vermeintliche Rechtsverstöße der Gegner mit dem Ziel, Ansatzpunkte zum aktiven Eingreifen zu finden. Dabei blieb er aber der Gestapo mit ihrem Monopol auf die Durchführung unmittelbarer Zwangsmaßnahmen und ihrem gut ausgebauten Behördenapparat unterlegen. Angehörige des Sicherheitsdienstes konnten zwar Vollzugsmaßnahmen anregen und sich dann auch daran beteiligen, diese aber in der Regel nicht eigenverantwortlich durchführen. Aus einer dienenden Funktion kam der SD deshalb nicht heraus, wie dem Beamtennachwuchs im Polizeiinstitut Charlottenburg auch folgerichtig eingeprägt wurde : „Der S. D. steht dem Beamtenapparat der Politischen Polizei als Hilfsorgan zur Seite, da die Politische Polizei nicht so weit verzweigt ist wie der S. D.“36 Betrachtet man die Mitarbeiter der Kirchenabteilung des SD - Hauptamtes, so war der große Anteil ehemaliger Priester unzweifelhaft das hervorstechendste Merkmal dieser Gruppe. Vier ehemalige Ordensgeistliche und zwei frühere Weltpriester waren von insgesamt vierunddreißig Angehörigen der Untersuchungsgruppe zwischen 1935 und 1941 in der kirchenpolitischen Abteilung des SD - Hauptamtes tätig. Für den Aufbau und die Praxis des kirchenpolitischen Nachrichtendienstes war das Fachwissen der ehemaligen Geistlichen und Theologiestudenten unverzichtbar. Sie glichen die eklatante Unkenntnis vieler SD Mitarbeiter in theologischen, kirchenrechtlichen und - organisatorischen Fragen aus und lieferten das Grundgerüst der Informationen und Interpretationen, auf denen die Religionspolitik des SD aufbaute. Ihre Verbindungen zu kirchlichen 34 Verfügung des Politischen Polizeikommandeurs und Inspekteurs der Geheimen Staatspolizei vom 4. 7. 1934, erwähnt in Runderlass des Staatsministeriums des Innern, Politischer Polizeikommandeur Bayerns, vom 7. 12. 1934 ( BArch, BDC, Ordner 457, Bl. 106 f.). 35 Ebd. Zum Verhältnis von SD und Gestapo ausführlich Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 277–334. 36 Polizeiinstitut Berlin - Charlottenburg, Organisation der Geheimen Staatspolizei, o. D. (1935/36; BArch, R 58/243, Bl. 13–15, hier 13 f.).

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Kreisen nutzten sie zudem, um Nachrichten zu beschaffen, Stimmungsbilder aus der Geistlichkeit zu gewinnen und Spitzel anzuwerben. Am bedeutendsten unter diesen Kirchenreferenten und ehemaligen Geistlichen war Albert Hartl.37 Er wurde 1904 als Sohn eines Volksschullehrers im oberbayerischen Roßholzen geboren, studierte in München und Freising Theologie. 1929 weihte ihn Kardinal Faulhaber zum Priester. Als geistlicher Präfekt ( Religionslehrer ) am Erzbischöf lichen Knabenseminar in Freising geriet Hartl seit 1933 in Konflikt mit seinem Vorgesetzten. In einem aufsehenerregenden Heimtückeverfahren denunzierte er ihn wegen regimekritischer Äußerungen und trug damit als Hauptbelastungszeuge zu seiner Verurteilung Anfang 1934 durch das Sondergericht München bei. Dieser Prozess führte zum vollständigen Bruch Hartls mit seiner Kirche, und wenige Monate später trat er, vielleicht durch Bekannte im Münchener SS - Milieu vermittelt, in Heydrichs Sicherheitsdienst ein. Hier avancierte Hartl zum maßgeblichen Kirchenreferenten und brachte es bis 1941, als er wegen einer Verletzung seiner Dienstpflichten ausscheiden musste, zum Leiter der Gruppe IV B im Reichssicherheitshauptamt. Der Austritt aus dem Kirchendienst und der Eintritt in den SS - Orden bedeuteten für alle katholischen Geistlichen einen radikalen Frontwechsel. Als Priester gehörten sie einer einzigartigen, in ihrem Selbstverständnis als Seelsorger und Erzieher herausgehobenen gesellschaftlichen Gruppe an, deren „Berufung und göttlichen Auftrag“ Papst Pius XI. erst im Dezember 1935 in seinem Rundschreiben über das katholische Priestertum bekräftigt hatte.38 Durch Zölibat und Ornat auch äußerlich von der Bevölkerung unterschieden, zeichnete die katholischen Geistlichen ein hohes Maß an idealistischer Identifikation mit ihrem Amt aus.39 In den SS - Personalunterlagen beschrieben sich alle ehemaligen Geistlichen als Idealisten und Suchende, die nach langen Kämpfen schließlich im Nationalsozialismus einen neuen Lebensinhalt gefunden hatten.40 Mit ihrem Eintritt in die SS und den Sicherheitsdienst hatten die sechs Geistlichen alle Brücken hinter sich abgebrochen. Sie tauschten eine „existentiell riskante“ Zugehörigkeit41 gegen eine andere und gehörten erneut einer exklusiven, sen37 Zu Hartl ausführlich Dierker, Himmlers Glaubenskrieger, S. 96–118; Roman Bleistein, „Überläufer im Sold der Kirchenfeinde“. Joseph Roth und Albert Hartl, Priesterkarrieren im „Dritten Reich“. In : Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte, 42 (1996), S. 71–111; Hansjakob Stehle, Ein Eiferer in der Gesellschaft von Mördern. In : Die Zeit vom 7. 10. 1983, S. 12. 38 Vgl. Ulrich von Hehl / Christoph Kösters ( Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, 2 Bände, 4. Auf lage Paderborn 1998, S. 107– 111. 39 Vgl. Heinz - Albert Raem, Der Diözesanklerus in der Auseinandersetzung mit den totalitären Regimen. In : Erwin Gatz ( Hg.), Der Diözesanklerus ( Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die katholische Kirche – Band IV ), Freiburg 1995, S. 168–186. 40 Vgl. nur eigener Lebenslauf Duchêne vom 16. 10. 1940 ( BArch, BDC, RuS Duchêne ). 41 Hans Maier, Konzepte des Diktaturvergleichs : „Totalitarismus“ und „politische Religionen“ (1995). In : ders. ( Hg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 246 f.

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dungsbewussten gesellschaftlichen Gruppierung an, die in den christlichen Kirchen zudem noch ihr verhasstes Vorbild bekämpfte. Viel stärker als andere SDMitarbeiter knüpften sie ihr weiteres Schicksal an die neuen Herren, und Himmler und Heydrich mochten diesen zusätzlichen Loyalitätsfaktor durchaus zu schätzen wissen. In ihrem ideologischen Eifer und Hass auf die Kirche wurden die ehemaligen Geistlichen denn auch von kaum jemandem übertroffen.42

2.

Die Religionspolitik des SD gegenüber „Sekten“ und völkisch - religiösen Gruppen

Die Über wachung und Bedrückung der katholischen Kirche beanspruchte unzweifelhaft den größten Teil der Aufmerksamkeit des SD – bis in den 1940er Jahren die gesamte religionspolitische Arbeit zugunsten der Judenverfolgung an Bedeutung verlor. Die Bearbeitung der evangelischen Kirche dagegen unterlag starken zeitlichen Schwankungen, die den kirchenpolitischen Schwankungen des NS - Regimes selbst geschuldet war. Das Arbeitsgebiet „Sekten“ und „völkisch - religiöse Bewegung“ hatte hinsichtlich seiner Verfolgungsintensität zwar nur untergeordnete Bedeutung, erlaubt jedoch interessante Einblicke in die Verzahnung von politischer Praxis und ideologischer Ausrichtung.43 Unter dem Begriff „Sektenwesen“ überwachte das SD - Hauptamt eine Vielzahl kleiner Religionsgemeinschaften und Freikirchen,44 die der zuständige Referent Walter Kolrep im Jahre 1936 im Wesentlichen in drei Gruppen aufteilte. An erster Stelle nannte er die „jüdisch - christlichen Sekten“, zu denen er die Zeugen Jehovas, Adventisten, Mormonen sowie die Anhänger der Neuapostolischen Gemeinde und der Christlichen Wissenschaft zählte. Weiterhin führte Kolrep eine große Zahl „freikirchlicher Sekten“ auf, unter ihnen Methodis42 Vgl. Beurteilung Altinger vom 21. 2. 1940 ( BArch, BDC, SS - O Altinger ); Beurteilung Elling vom 8. 7. 1936 ( ebd., SS - O Elling ). 43 Ab Januar 1936 als Referat II 1134 ( Befehl des Chefs des SDHA zum organisatorischen Aufbau. In : Wildt, Judenpolitik, S. 76), nach der Neugliederung der Kirchenabteilung Mitte 1936 als Referat II 1135, im Juni 1938 dem Sekten - Referat II 1134 eingegliedert ( Kolrep / SDHA II 113 an Richter / SDHA II 1 : Stellenbesetzung bei II 113 vom 20. 6. 1938; BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 121 f.). Aufgrund von Aktenabgaben während des Krieges ist die Überlieferungslage für dieses Sachgebiet dürftig. Vgl. Kolrep / RSHA II B 33 an Heydrich : Umorganisation vom 21. 2. 1940 ( ebd., ZB I /1363, Bl. 162); Kolrep / RSHA II B 33 an RSHA / III A 6 : Umorganisation vom 22. 2. 1940 ( BArch, R 58/7106, Bl. 5–7). 44 Der Begriff „Sekten“ bezeichnet im Allgemeinen religiöse Sondergruppen, die sich von einem kirchlichen Großverband abgespalten haben, und wird von diesen Gruppen wegen seiner negativen Besetzung abgelehnt. An seiner Stelle ist zumeist von kleinen Religionsgemeinschaften oder religiösen Sondergemeinschaften die Rede. Demgegenüber werden als „Freikirchen“ in Deutschland jene protestantischen Religionsgemeinschaften bezeichnet, die vom Staat weitestgehend getrennt sind, sich im Gegensatz zu den „Sekten“ aber mit den Volkskirchen auf ein gemeinsames christliches Erbe verständigen. Vgl. Hans Schwarz, Freikirche. In : Theologische Realenzyklopädie, Band XI, Berlin 1983, S. 550–563.

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ten, Baptisten, Quäker und Mennoniten. Als dritte Gruppe nannte er schließlich „freimaurerisch - spiritistisch beeinflusste Gruppen“ sowie die Anhänger aller anderen, nichtchristlichen Religionen.45 Der personelle und sachliche Aufwand für dieses Sachgebiet blieb stets vergleichsweise gering, und allein im Hauptamt gab es mit Kolrep einen spezialisierten Referenten. Unterstützt von einigen Hilfskräften, war er im Wesentlichen damit befasst, die statistische Erfassung der verschiedenen Religionsgemeinschaften voranzubringen, ihre Versammlungen und Publikationen zu überwachen und auszuwerten, ausführliche Berichte zu erstellen und die Staatspolizei bei der Auf lösung verschiedener „Sekten“ zu unterstützen.46 Nach Überzeugung des SD waren die meisten kleinen Religionsgemeinschaften nach der Machtübernahme zu Sammelbecken von Staatsfeinden, wie Kommunisten und Freimaurern, geworden. Ihre Verbindungen ins Ausland, insbesondere in die USA, machten sie ebenso suspekt wie die Ver weigerung staatsbürgerlicher Pflichten, der Eidesleistung und der Übernahme von Ämtern etwa, sowie ihre Distanz zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“. Auch der Umstand, dass viele Anhänger aus einem grundsätzlichen Pazifismus heraus den Militärdienst ablehnten und die nationalsozialistische Rassenlehre nicht akzeptierten, ließ sie als Gegner des Regimes erscheinen. Vor diesem Hintergrund sah der Sicherheitsdienst im weit überwiegenden Teil des „Sektenwesens“ eine Gefahr für den NS - Staat und forderte seine „restlose Vernichtung“, während einige „harmlose“ Gruppen bestehen bleiben sollten, um die „Zersplitterung im kirchlich - religiösen Gebiet“ zu fördern.47 Mit solchen Gegner vorstellungen stand der Sicherheitsdienst keineswegs allein. Die meisten Staats - und Parteistellen forderten ein unnachgiebiges Vorgehen gegen religiöse Minderheitsgruppen, deren Anhänger bedingungslos und ausschließlich für ihren Glauben lebten und alle damit unvereinbaren Ansprü-

45 Kolrep / SDHA, Dienstanweisung „Das Sektenwesen“ ( Entwurf ), o. D. (1936) ( BArch, R 58/7492, Bl. 14–16). Vgl. Dienstanweisung für das Sachgebiet II 1133 ( Sekten ), o. D. (1935/36) ( BArch, ZDH, ZB I /1256, Bl. 528–537). Die Abgrenzung der Arbeitsgebiete änderte sich mehrfach, die Freikirchen wurden zeitweise vom Protestantismus Referat mitbearbeitet. Die Bearbeitung der „okkultistischen und spiritistischen Sekten“ sowie der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften wurde in zwei einzelne Arbeitsgebiete aufgeteilt. 46 SDHA / II 1134 an die SD - OA : Anweisung für eine einheitliche Erfassung und Bearbeitung der Sekten, o. D. ( Juli / August 1937) ( ZAHDS Moskau, 500/1/264, Bl. 25 f.); SDHA / II 113, Winterarbeitsplan 1938/39, o. D., ( BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 113 f.); CdSDHA, Leitheft „Die Neuapostolische Gemeinde“ von Mai 1937 ( BArch, R 58/230, Bl. 5–44); CdSDHA, Bericht „Christliche Wissenschaft“, o. D. (1938) ( BArch, BDC, Ordner 267 II, Bl. 1–11). 47 Arbeitsanweisungen 1937/38. In : Boberach ( Bearb.), Berichte, Nr. 5*, S. 923. Vgl. Sonderbericht des Chefs des SDHA, Die Lage in der protestantischen Kirche und in den verschiedenen Sekten und ihre staatsfeindliche Auswirkung von Februar / März 1935 (ebd., Nr. 2, S. 78); Hartl / SDHA J II, Eilbericht vom 26. 8. 1935 ( BArch, ZDH, ZB I/983, Bl. 686–699); Referat von Kolrep / SHDA II 1134 „Das Sektenwesen“, o. D. (1939) ( BArch, R 58/7492, Bl. 35–44).

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che und Institutionen ablehnten.48 Nur wenige Stellen waren zurückhaltender, zumeist aus übergeordneten politischen Beweggründen. So sprach sich das Auswärtige Amt mit Rücksicht auf die internationalen Verbindungen einiger Religionsgemeinschaften wie der Mormonen und der Christlichen Wissenschaft gegen ihre zwangsweise Auf lösung aus.49 Abhängig von den politischen Rücksichten des Regimes und dem jeweiligen Ausmaß der Anpassung, verlief das Schicksal der einzelnen kleinen Religionsgemeinschaften im „Dritten Reich“ daher ganz unterschiedlich. Die Zeugen Jehovas wurden von Anfang an erbittert verfolgt, die Christliche Wissenschaft schrittweise in ihrer Betätigung eingeschränkt und erst 1941 verboten. Andere Gesellschaften wie die Mormonen konnten hingegen weitgehend unbeschränkt fortbestehen.50 In ihrer Rechts - und Organisationsform entsprachen die kleinen Religionsgemeinschaften sehr genau dem, was die Volkskirchen gemäß der Konzeption des SD noch werden sollten. Sie waren Vereine bürgerlichen Rechts, die ihre Geldmittel aus eigener Kraft durch Mitgliedsbeiträge und andere Zuwendungen aufbringen mussten. Sie besaßen keinerlei Ansprüche gegen den Staat außer der theoretisch gültigen allgemeinen Religionsfreiheit, welche der nationalsozialistische Totalitätsanspruch immer weiter einengte. Die daraus resultierende organisatorische Schwäche, zumal angesichts verhältnismäßig geringer Mitgliederzahlen, erkannte der Sicherheitsdienst sehr deutlich. Seinem axiomatischen Verständnis von der Einheit von Theorie und Praxis zufolge, wonach weltanschauliche Überzeugungen nur dann bedeutungsvoll waren, wenn sie in politisches Handeln umgesetzt wurden, konnten selbst religiöse Fanatiker unter den „Sekten“ - Anhängern keine ernsthafte Gefahr für den Nationalsozialismus sein. Der SD drang deshalb nicht zu einer tiefergreifenden Gegnerbestimmung vor, sprach nicht wie im Falle der großen Kirchen von einem Angriff der kleinen Religionsgemeinschaften auf das nationalsozialistische Gedankengut, sondern vornehmlich von der „Staatsgefährlichkeit der Sekten“ – was für die Betroffenen freilich keinen Unterschied machte.51 Für das Vorgehen des NS - Regimes gegen die kleinen Religionsgemeinschaften hatte die Bekämpfung der Zeugen Jehovas, die in Deutschland als Internationale Bibelforscher - Vereinigung ( IVB ) organisiert war, „eine gewisse Leitfunk48 Vgl. Detlev Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, Berlin 1995, S. 112, 265–271; Zipfel, Kirchenkampf, S. 204 f. 49 SDHA / II 1134, Lagebericht 1. 1. 1937–31. 3. 1937 ( ZAHDS Moskau, 500/1/508, Bl. 5–7, hier 6); Roth / Gestapa IV A 4 c an Heydrich : Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage ( Mormonen ) vom 22. 2. 1940 ( BArch, R 58/7492, Bl. 97). 50 John S. Conway, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933 – 1945 : Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, München 1969, S. 212–217; Ernst C. Helmreich, The German Churches under Hitler. Background, Struggle and Epilogue, Detroit 1980, S. 389–410; Michael H. Kater, Die Ernsten Bibelforscher im Dritten Reich. In : VfZ, 17 (1969), S. 181–218, hier 183 f.; Christine E. King, The Nazi State and the New Religions : Five Case Studies in Non - Conformity, New York 1982; Zipfel, Kirchenkampf, S. 174–212. 51 Vgl. Referat von Kolrep / SHDA II 1134, o. D. 1939 ( BAB, R 58/7492, Bl. 39.)

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tion“.52 Mit ihren 25 000 bis 30 000 Anhängern im Jahre 1933, von denen etwa 10 000 während des „Dritten Reiches“ inhaftiert und 1 200 ermordet wurden, war sie von allen religiösen Sondergemeinschaften die zahlenmäßig bedeutendste und wurde am härtesten verfolgt.53 Bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme trafen erste Verbotsmaßnahmen die Bibelforscher - Vereinigung, obwohl deren Leitung den völlig unpolitischen Charakter und die Loyalität der Wachtturmgesellschaft, wie sie sich inzwischen nannte, gegenüber dem neuen Regime herausstellte. Mit steigender Intensität gingen die Innenverwaltungen der Länder und die Politische Polizei gegen Bibelforscher vor und erhielten dabei anfänglich auch Schützenhilfe von evangelischer und katholischer Seite.54 Die von Walter Künneth geleitete Apologetische Centrale der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin - Spandau lieferte der Geheimen Staatspolizei 1933/34 Material über verschiedene „Sekten“, die sie als antichristliche und „zersetzende“ Kräfte begriff.55 Im Bistum Passau wurden die Geistlichen angewiesen, gemäß einem Erlass des Kultusministeriums Beobachtungen über die Tätigkeit der Zeugen Jehovas an die Polizeibehörden zu melden.56 Andere bayerische Diözesen gaben den Erlass lediglich in den Amtsblättern bekannt;57 im Erzbistum München - Freising, dessen Kardinal Faulhaber die „amerikanisch kommunistische Tätigkeit“ der IBV seit langem ein Dorn im Auge war,58 wurden die Seelsorger aufgefordert, den neubekehrten Zeugen Jehovas „in geduldiger Hirtenliebe nachzugehen, um nach dem Heilandswort zu suchen und zu retten, was verloren war“.59 52 Garbe, Widerstand, S. 112. 53 Ebd. ( Zahlenangaben S. 488). Vgl. zum Folgenden auch Hermann Hesse ( Hg.), Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas, Bremen 1998; King, Nazi State, S. 147–179; Kater, Bibelforscher; Hubert Roser ( Hg.), Widerstand als Bekenntnis. Die Zeugen Jehovas und das NS - Regime in Baden und Württemberg, Konstanz 1999; Zipfel, Kirchenkampf, S. 175–203. Den neuesten Forschungsstand fasst zusammen : Gerald Hacke, Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR. Feinbild und Verfolgungspraxis, Göttingen 2011. 54 Garbe, Widerstand, S. 93–98, 112–114. 55 Harald Iber, Die Apologetische Centrale und der Centralausschuss für die Innere Mission. Zur Geschichte der Apologetischen Zentrale bis 1934. In : Theodor Strohm / Jörg Thierfelder ( Hg.), Diakonie im „Dritten Reich“. Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, S. 108–124, hier 122 f.; Matthias Pöhlmann, Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921–1937), Stuttgart 1998, S. 213 f. Vgl. dazu auch den Beitrag von Matthias Pöhlmann in diesem Band. 56 Oberhirtliches Verordnungsblatt für die Diözese Passau vom 6. 5. 1933, S. 50 f. Vgl. Garbe, Widerstand, S. 86. 57 So im Amtsblatt für die Diözese Augsburg vom 5. 5. 1933, S. 106. 58 Faulhaber an die Staatsminister von Bayern vom 5. 7. 1933. In : Bernhard Stasiewski (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945. Band I : 1933–1934, Mainz 1968, Nr. 50, S. 259. Offenkundig hegte Faulhaber bereits seit längerem einen Groll gegen die Zeugen Jehovas. Schon im Dezember 1930 vermerkte er anerkennend die nationalsozialistische Stellungnahme gegen „eine furchtbare Hetze der Bibelforscher“ in München. Vgl. Faulhaber an bayerischen Episkopat vom 6. 12. 1930. In : Ludwig Volk ( Bearb.), Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917–1945. Band 1: 1917–1934, Mainz 1975, Nr. 214, S. 514. 59 Amtsblatt der Erzdiözese München und Freising vom 31. 7. 1933, S. 165.

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In einem dauernden Auf und Ab folgte auf zeitweilige Mäßigung der staatlichen Bedrückung – bedingt durch außenpolitische Rücksichten und Rechtsstreitigkeiten über die Zulässigkeit der staatlichen Verbote – immer wieder staatspolizeilicher Zwang. Das Reichsgericht bestätigte in einem Grundsatzurteil am 24. September 1935 die Rechtsgültigkeit der Bibelforscher verbote, doch die Spruchpraxis der Gerichte war nach Ansicht der Gestapo bei weitem zu milde, weshalb sie weiter auf eigene Faust mit Schutzhaft, Folter und KZ - Einweisungen gegen die Zeugen Jehovas vorging.60 Erst jetzt beteiligte sich auch der Sicherheitsdienst in größerem Umfang an der Verfolgungspraxis, nachdem er bisher vornehmlich Meldungen über einzelne Bibelforscher sowie Flugschriften und andere Publikationen der Wachtturmgesellschaft an das Gestapa weitergeleitet hatte.61 Einen nennenswerten konzeptionellen Einfluss auf Justiz, Verwaltungsbehörden und Staatspolizei, die die IBV schon viel länger und mit weit größerem Aufwand bearbeiteten, nahm der SD aber nicht. Nach dem Urteil des Reichsgerichts vereinbarte die New Yorker Leitung der Wachtturmgesellschaft am 10. Oktober 1935 mit dem durch Werner Best vertretenen Gestapa, ihre Klagen gegen die Verbots - und Beschlagnahmeverfügungen zurückzunehmen. Im Gegenzug sollte die Wachtturmgesellschaft das in Deutschland befindliche Vermögen ins Ausland bringen können, während die Geheime Staatspolizei mit dieser Vereinbarung eine Ausgangsposition für ihr Vorgehen gegen jene Zeugen Jehovas gewann, die sich dem Verbot ihrer Glaubensgemeinschaft nicht fügen wollten.62 Die aktivistischen Bibelforscher hielten nun umso entschiedener an ihrer Glaubenspraxis und Werbetätigkeit fest und waren häufig bereit, hierfür auch schlimmste Verfolgung und den Tod zu erleiden. In der sicheren Erwartung des nahenden Königreichs Christi stand nicht das Überleben um jeden Preis und letztlich auch nicht die Bewahrung ihrer Institutionen im Mittelpunkt, sondern das bedingungslose Bekennen. Ihre unerschütterliche Heilsgewissheit, ihre gesellschaftliche Marginalität nach außen und die starke Gruppendynamik nach innen brachten die Zeugen Jehovas in einen kompromisslosen Gegensatz zum Nationalsozialismus. Dabei suchten sie weder das öffentliche Zeugnis ihres Glaubens als Signal an die Mitmenschen, noch leisteten sie Widerstand im Sinne einer Infragestellung der nationalsozialistischen Herrschaft.63 Die Unbeugsamkeit vieler Bibelforscher verhinderte auch in den nächsten Jahren die angestrebte vollständige Zerschlagung der Glaubensgemeinschaft. Trotz ausdrücklicher Anweisungen des SD - Hauptamtes gelang es augenscheinlich nicht, V - Leute in nennenswertem Umfang in die Bibelforschergruppen einzuschleusen.64 Um die 60 Garbe, Widerstand, S. 231–236, 260–265. Vgl. Schutzhafterlass des Gestapa vom 9. 9. 1935 ( BArch, ZDH, ZB I /1462, Bl. 825 f.). 61 Vgl. Schriftverkehr zwischen Gestapa und SD - Hauptamt über Ernste Bibelforscher, 1934–1937 ( ebd.). 62 Vereinbarung zwischen Best / Gestapa und Anton Koerber / Watch Tower Bible & Tract Society, New York, vom 10. 10. 1935 ( ebd., ZB I /1046, Bl. 145 f.). 63 Garbe, Widerstand, S. 513 f., 526–529. 64 SD - Außenstelle Aschaffenburg an alle Beobachter vom 3. 2. 1938 ( HStA München, SD 138, unpag.); Gahrmann / SDHA II 1133, Besprechung zwischen SD II 113 und

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in der Illegalität immer wieder aufgebauten Organisationsstrukturen aufzuspüren, ihre Führungspersonen zu verhaften und die Druckereien zu zerstören, führten die Sicherheitsorgane zwischen Sommer 1936 und Sommer 1937 drei reichsweite Aktionen durch. Mit Hilfe der Angaben, die festgenommene IBV Funktionäre in den Verhören machten,65 gelangen der Staatspolizei entscheidende Ermittlungserfolge. Der Sicherheitsdienst unterstützte dies durch die Sammlung, Auswertung und Weitergabe von Personendaten und trieb die Erfassung der Gegner, wie in anderen Tätigkeitsbereichen auch, mit erheblichem Aufwand voran. Möglichst rasch sollte eine umfassende „Bibelforscherkartei“ aufgestellt werden, offenkundig auch in dem Bestreben, angesichts der politischen und arbeitstechnischen Überlegenheit der Gestapo das eigene, spezifisch nachrichtendienstliche Profil zu stärken.66 Das Zusammenspiel der Sicherheitsorgane bei den einzelnen Durchsuchungs- und Verhaftungswellen gegen die Zeugen Jehovas war durchaus unterschiedlich. Während der SD - Oberabschnitt Süd bei der ersten Aktion reibungslos und im Sinne der Verfolger erfolgreich mit der Staatspolizei zusammengearbeitet hatte,67 klagte der Stuttgarter SD, seine Mitarbeiter seien von der zuständigen Stapostelle viel zu spät benachrichtigt worden. In Württemberg und im Saarland habe es deshalb an Personal und an Ermittlungsunterlagen gefehlt, was zum teilweisen Misserfolg der Aktion beigetragen habe.68 Da solche Abstimmungsschwierigkeiten auch auf Versäumnisse an der Spitze zurückgingen, schlug Kolrep dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD im April 1937 eine stärkere, zentrale Koordinierung vor und wies die Referenten der SD - Oberabschnitte an, sich vor der nächsten Aktion mit den Stapostellen in Verbindung zu setzen.69 Nach der dritten Verhaftungswelle im Sommer und Herbst 1937 hatte der Oberabschnitt Fulda - Werra keinen Anlass mehr, sich über das Verhältnis

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Gestapa II 1 B 1 vom 30. 6. 1937 ( BArch, ZDH, ZB I /1256, Bl. 566); Arbeitsanweisungen 1937/38. In : Boberach ( Bearb.), Berichte, Nr. 5*, S. 924. Vgl. Garbe, Widerstand, S. 283 f. Vgl. Vernehmungsprotokolle der Gestapo, 1934–1939 ( BArch, ZDH, ZB I /1419, ZB I/1420, ZB I /1421, ZB I /1460, ZB I /1461). Vgl. Ablichtungen bei Manfred Gebhard (Bearb.), Die Zeugen Jehovas. Eine Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft, Schwerte 1971, S. 171–203. Von einer „Kollaboration“ der festgenommenen Bibelforscher mit der Gestapo ( ebd., S. 182) konnte angesichts der Vernehmungssituation keine Rede sein. Vgl. Vordruckblätter „Personalien der Bibelforscher“ ( BArch, ZDH, ZB I /1046) und SD - OA Nord - Ost an SDHA : Bibelforscherkartei vom 11. 9. 1937 ( ebd., Bl. 214); SD - UA Württemberg - Hohenzollern an alle Außenstellen : IBV – Sektenverbote – Christliche Wissenschaft – Vordringliche Sektenerhebungen vom 26. 5. 1937 ( StA Ludwigsburg, K 110/35, unpag.). SD - OA Süd an SDHA vom 29. 10. 1936 ( ebd., Bl. 124 f.). SD - OA Süd - West an SDHA : Aufrollung des illegalen Apparates der Internationalen Bibelforscher vereinigung vom 12. 11. 1936 ( BArch, ZDH, ZB I /1461, Bl. 178–188). Kolrep / SDHA II 1134 an Heydrich vom 2. 4. 1937 ( BArch, ZDH, ZB I /1421, Bl. 1306) und Gebhard, Zeugen Jehovas, S. 174 f.; SDHA / II 1134 an die SD - OA : Aufrollung der dritten illegalen Internationalen Bibelforscher - Vereinigung vom 19. 10. 1937 ( ebd., ZB I/1461, Bl. 221–225).

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zur Gestapo zu beschweren. Stattdessen kritisierte er das Vorgehen der Justiz : „Die Strafen sind durchweg recht milde ausgefallen, obwohl von hier aus der Gerichtsbehörde eine Denkschrift über das Wesen und Ziel der I. B. V. zur Information überreicht worden war. [...] Soweit abgeurteilte Bibelforscher ihre Strafe bereits verbüßt haben, sind sie erneut in Schutzhaft genommen worden und befinden sich nunmehr im KZ.“70 Damit war die reichsweite Organisation der Bibelforscher vorläufig zerschlagen. Die Betätigung der übrig gebliebenen Anhänger blieb zunächst gering, bis sie nach Kriegsbeginn wieder verstärkt einsetzte. Der Bekennermut der Zeugen Jehovas, ihre fortgesetzte Ver weigerung des Wehrdienstes und anderer Verpflichtungen gegenüber Staat und „Volksgemeinschaft“ provozierten immer neue Verfolgungswellen.71 Für den Sicherheitsdienst trifft die häufig geäußerte These aber gewiss nicht zu, die Nationalsozialisten hätten diese Religionsgemeinschaft aufgrund struktureller Ähnlichkeiten ihrer Ausschließlichkeit beanspruchenden Ideologien so erbarmungslos bekämpft.72 Gegen diese Auffassung sprechen nicht nur die substantiellen Unterschiede der beiden Lehren und der keineswegs statische, sondern schubweise eskalierende Konflikt zwischen anhaltend widerspenstigen IBV - Angehörigen und zunehmend erbitterten Regimeinstanzen.73 Ein wahrhaft ideologischer Gegensatz war aus der Sicht des SD nicht gegeben, weil es den Bibelforschern in erster Linie um ihre bekennende Selbstbehauptung, nicht um den organisatorischen Zusammenhalt und die institutionelle Stärkung ihrer Glaubensgemeinschaft ging. Da Weltanschauung und Praxis untrennbar zusammengehörten, konnten ernsthafte Gefahren für den nationalsozialistischen Herrschafts - und Gestaltungsanspruch nur dort liegen, wo sich religiöse oder ideologische Überzeugungen und organisierter gesellschaftlicher Einfluss wie im Falle der großen christlichen Kirchen miteinander verbanden. Der unbedeutende konzeptionelle Einfluss des Sicherheitsdienstes in der Bekämpfung der Bibelforscher ging auch darauf zurück, dass es nicht zur Herausbildung eines eigenständigen, ideologisch definierten Gegnerbildes kam. Im Bewusstsein der maßgeblichen SD - Führer war der Nationalsozialismus, wenn überhaupt, keine „Sekte“, sondern eine „Kirche“ : keine marginale, selbstgewisse und selbstgenügsame Sondergemeinschaft, sondern eine neue, quasireligiöse Offenbarung, die alle Menschen erreichen und die Welt auch in ihrer äußeren Gestalt verändern sollte. Im Arbeitsgebiet „völkisch - religiöse Bewegung“ überwachte der Sicherheitsdienst eine Vielzahl deutschgläubiger und okkultistischer christentumsfeindlicher Splittergruppen, darunter die Deutsche Gotterkenntnis, einen sektiere70 SD - OA Fulda - Werra an SDHA vom 5. 10. 1937 ( ebd., ZB I /1527, Bl. 121 f.). 71 Vgl. Garbe, Widerstand, S. 259 f., 315–344; Jahreslagebericht 1938 des SDHA, Band 1, Frühjahr 1939. In : Boberach ( Bearb.), Berichte, Nr. 14, S. 325 f.; 1. Vierteljahreslagebericht 1939 des SDHA, Sommer 1939. In : ebd., Nr. 15, S. 345. 72 Conway, Kirchenpolitik, S. 213; Kater, Bibelforscher, S. 187; Zipfel, Kirchenkampf, S. 202 f. 73 Vgl. Garbe, Widerstand, S. 514–525.

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rischen Zirkel um Erich Ludendorff und seine Frau Mathilde von Kemnitz,74 vor allem aber die von Jakob Wilhelm Hauer geführte Deutsche Glaubensbewegung. Nachdem sich SS und Sicherheitsdienst bereits Mitte 1935 von ihr distanziert hatten, setzten Heydrichs Vertrauensleute Ende März 1936 den Rücktritt Hauers von der Leitung der Glaubensbewegung durch.75 Dieser hatte sich geweigert, seine Tätigkeit ganz auf den Kampf gegen Christentum und Kirche zu reduzieren, und fühlte sich nach Auffassung des SD „zu sehr als Prophet und religiöser Führer, der neben bzw. über unserem Führer steht“.76 Schon früher hatten Hartl und seine Mitarbeiter kritisiert, Hauer lehne ein behutsames, allmähliches Wachsen der Deutschen Glaubensbewegung ab und suche stattdessen „so schnell wie möglich ein Brauchtum zu schaffen, Ersatzsakramente zu spenden und [...] künstlich eine unnatürliche Lehre zu entwickeln“.77 Hier lag ein entscheidendes Motiv für die ablehnende Haltung gegenüber allen christentumsfeindlichen Gruppen außerhalb der NS - Bewegung. Einen zweiten Propheten und „Führer“ neben Hitler durfte es im zukünftigen Deutschland ebenso wenig geben wie eine religiöse Lehre, Liturgie oder Kirche, die nicht mit dem Nationalsozialismus identisch war. Ganz im Sinne der SD - Führung hatte ein Mitarbeiter bereits im Mai 1934 erklärt : „Meiner Gesamthaltung entsprechend bin ich am 4. 3. 33 aus der [ evangelischen ] Kirche ausgetreten. Ich habe mich der ‚deutschen Glaubensbewegung‘ angeschlossen. Sie ist für mich aber nur ein Bodenlockerer. Die wirkliche Glaubensbewegung ist der Nationalsozialismus.“78 Da die nationalsozialistische Ordnung aber noch nicht vollendet war, sondern sich erst allmählich herausschälen musste, konnten vorschnelle organisatorische Festlegungen, wie sie Hauer anstrebte, das notwendige Offenhalten der weltanschaulichen Entwicklung nur stören. Den tieferen Grund dafür, dass es der deutschgläubigen Bewegung nicht gelang, alle sich vom Christentum abwendenden Deutschen zu vereinigen, sahen die SD - Kirchenexperten in der mangelnden Vereinigung von Weltanschauung und Organisation. Die ersehnte vollkommene Einheit von innerer Religiosität und äußerer Ordnung, die keiner Vermittlung oder Institutionen mehr bedürfe, habe die Glaubensbewegung nicht zustande gebracht.79 Nach dem Rücktritt Hauers wechselte das Führungspersonal der Glaubensbewegung mehrfach, blieb aber fortan von „zuverlässigen“ Parteigenossen sowie Vertrauensleuten und Angehörigen des SD bestimmt.80 Weiterführende religi74 Vgl. dazu den Beitrag von Bettina Amm in diesem Band. 75 Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich. Drei Kapitel nationalsozialistischer Kirchenpolitik, Stuttgart, S. 193–198; Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, S. 278–288. 76 Hartl / SDHA J II, Eilbericht vom 26. 8. 1935 ( BArch, ZDH, ZB I /983, Bl. 683). 77 Ebd. 78 Eigener Lebenslauf Friedrich Poltes vom 24. 5. 1934 ( BArch, BDC, SS - O Polte, Friedrich ). 79 Hartl / SDHA J II, Eilbericht vom 26. 8. 1935 ( BArch, ZDH, ZB I /983, Bl. 685). 80 Der seit 1937 amtierende Leiter der Glaubensbewegung, der Berliner Rechtsanwalt Dr. Bernhard Wiedenhöft, war V - Mann des SD - Hauptamtes ( vgl. SDHA / II 113, Tätig-

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onspolitische Pläne wurden mit ihr nicht mehr verfolgt. In einem für die SS Schulung zusammengestellten „Leitheft“ von September 1936, das in einem 140- seitigen Anhang sämtliche Landes - , Kreis - und Ortsgemeinden der zu diesem Zeitpunkt etwa 30 000 Mitglieder umfassenden Glaubensbewegung aufführte, zog der zuständige SS - Scharführer Wilhelm de Boer vielmehr die Konsequenz aus dem von Hartl festgelegten Standpunkt.81 Da der „deutsche Mensch“ jeden Vermittler zu Gott ablehne, sei eine religiöse Organisation eigentlich sinnlos und nur als Mittel zum Zweck vorläufig zu rechtfertigen. Die Führung der Glaubensbewegung sehe ihre einzige Aufgabe deshalb mit Recht im Kampf gegen den „artfremden Glauben“, den sie viel rücksichtsloser und aggressiver als die NSDAP führen könne. Demgegenüber bestehe die Gefahr, dass die Anhänger der Glaubensbewegung nicht ohne Priester und kirchliche Zeremonien auskommen wollten und daher „Weihewarte“ und „deutsche Gebräuche“ forderten : „Sie verfallen in den verhängnisvollen Fehler, künstlich Sinnbilder und Symbole zusammenzukonstruieren, ohne das organische Wachsen solcher Dinge abzuwarten.“82 In den folgenden Jahren wurde der Deutschen Glaubensbewegung und anderen völkisch - religiösen Gruppen ein vorläufiges Existenzrecht als informell kontrollierte Kampforganisationen gegen die christlichen Kirchen zugestanden, auf lange Sicht aber ihr vollständiges organisatorisches und weltanschauliches Aufgehen in der nationalsozialistischen Bewegung gefordert.83 Die Auseinandersetzung mit den kleineren Religionsgemeinschaften, die unbarmherzig verfolgt und deren Anhänger rigoros unterdrückt wurden, und der Deutschen Glaubensbewegung beleuchtet aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln, wie der Sicherheitsdienst in seiner Arbeit auf eigentümliche Weise Politik und Weltanschauung verknüpfte. In den „Sekten“ wurden Träger einer feindlichen Weltanschauung ohne größere politisch - organisatorische Bedeutung erblickt, während die SS den völkisch - religiösen Ideen Hauers durchaus freundkeitsbericht 1. 11. 1936–15. 2. 1937; BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 72). Auch Hauer betätigte sich bis Kriegsende als ehrenamtlicher Mitarbeiter des SD ( vgl. Arbeitsanweisungen für die Abteilung „Konfessionell - politische Gegner im Ausland“, o. D.; ebd., Bl. 98). Die weitere Entwicklung der Glaubensbewegung ist dokumentiert in den Akten des Reichskirchenministeriums ( BArch, R 5101/23140 und 23141). Nach dem Schottland Flug von Rudolf Heß am 10. 5.1941 arbeitete Hauer noch enger mit der SS zusammen, um die ihm verhasste Anthroposophische Gesellschaft zu beseitigen, die der „Stellvertreter des Führers“ lange Zeit protegiert hatte (vgl. Schriftverkehr Hauers mit Himmler und Hartl von Mai / Juni 1941, BArch, ZDH, ZB I /904, Bl. 8–14). 81 DeBoer / SDHA II 1135, Leitheft „Die Deutsche Glaubensbewegung“ vom 19. 9. 1936 (ebd., ZB I /916, Bl. 2–17). 82 Ebd., Bl. 17. 83 SDHA / II 1134, Leitheft „Deutschbund e. V.“, Teil I von Januar 1937 ( ebd., ZB I /1742, unpag.); SDHA / II 1135, Lagebericht 1. 1. 1937–31. 3. 1937 ( ZAHDS Moskau, 500/1/ 508, Bl. 5–7); Arbeitsanweisungen 1937/38. In : Boberach ( Bearb.), Berichte, Nr. 5*, S. 924–927; Kluckhohn / SDHA II 1135, Arbeitsplan „Völkisch - religiöse Gruppen“ und „Okkultistische und spiritistische Sekten, Astrologie“ vom 20. 6. 1935 ( BArch, ZDH, ZB I /1681, Bl. 116–119).

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lich, seiner eigenständigen und unabhängigen Glaubensorganisation aber zunehmend argwöhnisch gegenüberstand. Aus der Sicht des SD verfehlten beide Formen jene Einheit von religiös - weltanschaulicher Überzeugung und politischer Umsetzung, jene „Synthese von Innerlichkeit und Macht“, die allein im Nationalsozialismus Adolf Hitlers verwirklicht war.

3.

Resümee

Wie bei zahlreichen anderen religionsfeindlichen Maßnahmen nahm der Sicherheitsdienst auch in der Behandlung der „Sekten“ und „Völkisch - Religiösen“ eine führende Position ein. Vom Berliner Hauptamt wurden nicht nur Überwachung und Terror, sondern auch weittragende politische Entscheidungen vorbereitet und mitbestimmt. Der Sicherheitsdienst betrachtete die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht nur als Staatsfeinde, sondern als geistig - weltanschauliche Gegner. Die radikalen Parteiführer, denen neben Bormann, Himmler und Heydrich auch Rosenberg und Goebbels zuzurechnen sind, wollten das Wirken der christlichen Religion im deutschen Volk auf lange Sicht völlig beseitigen. Angesichts des millionenfachen Mordes an Juden und anderen, vornehmlich aus rassistischen Gründen verfolgten Menschen erscheint die Unterdrückung der Kirchen und Religionsgemeinschaften weit weniger grausam, auch wenn eine beträchtliche Anzahl von Geistlichen und kirchlich aktiven Laien gewaltsam ums Leben kam. Nur hinsichtlich einiger kleinerer Glaubensgemeinschaften wie der Zeugen Jehovas meinte das Regime, gar keine Rücksichten nehmen zu müssen, und entfachte eine erbarmungslose Verfolgung, um diese „Sekten“ in möglichst kurzer Zeit auszulöschen. Die Haltung des SD war jedoch sämtlichen kirchlichen und religiösen Gruppen gegenüber außerordentlich radikal und kompromisslos. In einer seiner nationalsozialistischen Erbauungsschriften, die Hartl während des Zweiten Weltkrieges publizierte, drängte er zu größtmöglicher Härte und Konsequenz und forderte zugleich, dabei planvoll und besonnen vorzugehen : „Wer aber mit dem Fanatismus nüchterne Sachlichkeit verbindet, wird den Gegner am tiefsten und schwersten treffen.“84 Die Triebfeder solcher Radikalität lag in einem spezifischen Verhältnis weltanschaulicher Überzeugungen und politischer Praxis, das auch im Kampf gegen die Katholische Aktion zum Ausdruck kam, wo ausgreifende Gegnerkonzepte und vorhandene Sachzwänge wechselseitig aufeinander einwirkten. Weltanschauliche Momente hatten unzweifelhaft großen Einfluss auf das Handeln der SD - Führer; nach ihrer Überzeugung war die Beseitigung geistiger Gegner eine Vorbedingung für die völlige Umgestaltung von Mensch und Gesellschaft, die in dem Bewusstsein vorangetrieben wurde, die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung und ihre Finalität zu kennen. So maßlos und allumfassend diese Neuordnungsvision war, so universal waren auch Feindbilder und Aufgabenver84 Anton Holzner ( d. i. Albert Hartl ), Ewige Front, Berlin 1940, S. 68.

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ständnis, und so unerträglich erschien den Glaubenskriegern des SD jeglicher Kompromiss. Um die Kirchen und Religionsgemeinschaften zurückzudrängen, forderten sie unaufhörlich schärfere Zwangsmaßnahmen, obgleich dies die Popularität des NS - Regimes bei der eigenen Bevölkerung und sein Ansehen im Ausland erheblich gefährdete. Mit weltanschaulichen Motiven allein lässt sich die Radikalität und Unerbittlichkeit des SD freilich nicht erklären. Sie war mehr als das lineare, ausschließliche Resultat ideologischer Intentionen, indem sie zugleich den strukturellen Bedingungen und taktischen Rücksichtnahmen entsprang, unter denen sich die politische Praxis entfaltete. Der Sicherheitsdienst war eine neugeschaffene, traditionslose Institution, die ein eigenes Aufgabenverständnis erst herausbilden und ihren Platz im Machtgefüge des „Dritten Reiches“ erobern musste. Das von Konflikten wie von gegenseitiger Ergänzung geprägte Verhältnis zur Geheimen Staatspolizei veranlasste den Parteinachrichtendienst, den Konkurrenten durch weltanschauliche Kompromisslosigkeit und Härte überbieten zu wollen. Zentraler Exponent dieser radikalen Kirchenpolitik des SD - Hauptamtes war der abtrünnige katholische Geistliche Albert Hartl, dessen Glaubenssehnsucht nur noch von seinem tiefen Hass auf die Kirche übertroffen wurde. Gleichwohl war es immer wieder erforderlich, radikale Kampfmaßnahmen einzuschränken, um auf die Stimmungslage in der mehrheitlich christlich geprägten Bevölkerung und das Ansehen des „Dritten Reiches“ im Ausland Rücksicht zu nehmen. Die gerade von Hitler vertretene Politik der taktischen Rücksichtnahmen zwang die SDFührung zur Suche nach immer neuen Wegen, ihre konsequent kirchen - und religionsfeindliche Linie in die Praxis umzusetzen, und bewirkte auf lange Sicht eine zunehmende Radikalisierung. In der Religionspolitik des SD wirkten ideologische Motive und politische Bedingungsfaktoren wechselseitig aufeinander ein und begründeten damit eine Einheit von Theorie und Praxis, die Hitler bereits in „Mein Kampf“ formuliert hatte und die von den Verantwortlichen im Sicherheitsdienst zur Leitlinie ihres Handelns gemacht wurde. Weltanschauung und Politik waren wechselseitig aufeinander bezogen, das eine ohne das andere nutzlos. Dieses Selbstverständnis wurde auch von Himmler vertreten, und es lässt die eingangs zitierte, rätselhaft anmutende Äußerung verständlicher werden. Himmler brachte eben dieses Verständnis von der Einheit von Theorie und Praxis auf den Punkt, indem er die SD - Angehörigen dazu aufforderte, ebenso fanatisch wie handlungsorientiert zu sein. „Deswegen werden wir niemals Jesuiten; denn das verachten wir“,85 verkündete er und spielte dabei auf die vermeintliche „Jesuitenmoral“ an, der zufolge um machtpolitischer Ziele willen jederzeit Glaubensprinzipien geopfert werden dürften.86 Aber der Sicherheitsdienst sollte sich nicht nur davor hüten, eine mächtige Organisation ohne Überzeugungen zu werden; ebenso wenig dürfe er 85 Rede Himmlers vom 30. 1. 1943. In : Breitman / Aronson, Himmler - Rede, S. 347. 86 Vgl. Fernando Domínguez, Jesuitenmoral, in : Lexikon für Theologie und Kirche, Band V, Freiburg 1996, Sp. 801–803.

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eine machtvergessene Gruppe weltanschaulicher Fanatiker sein. „Wir werden niemals Sektierer werden“, ergänzte der Reichsführer SS deshalb mit einem Seitenblick auf die Anhänger kleinerer Glaubensgemeinschaften wie der Zeugen Jehovas, denen das kompromisslose Bekennen alles, gesellschaftliche Einflussnahme aber wenig bedeutete.87 Weltanschauliche Motive und politisch - strukturelle Bedingungsfaktoren, so das wichtigste Ergebnis der Untersuchung über den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, beeinflussten sich gegenseitig und verschärften im Ergebnis ideologische Feindbilder und praktisches Handeln gleichermaßen.

87 Rede Himmlers vom 30. 1. 1943. In : Breitman / Aronson, Himmler - Rede, S. 347.

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Der völkische Antisemit Johann von Leers in den religionspolitischen Auseinandersetzungen 1933/34 Martin Finkenberger

Im März 1937 wies der Reichsführer SS, Heinrich Himmler (1900–1945), seinen langjährigen Weggefährten Richard Walther Darré (1895–1953), der nach der Machterringung zum Reichsbauernführer aufgestiegen war, auf einen scheinbar befremdlichen Vorfall hin. Wie er gehört habe, solle Johann von Leers (1902–1965) auf „Burg Eyba“ die Ansicht geäußert haben, „dass die christliche Kirche nur durch ein neues Priestertum überwunden werden könne“. Diese Auffassung jedoch laufe nicht nur seiner, sondern, wie Himmler zu wissen glaubte, auch Darrés Ansicht „völlig entgegen“. Er halte es deshalb für „gefährlich“, wenn von Leers „bestimmt nicht aus bösem Willen, aber doch tatsächlich“, wie er mutmaßte, in „eine falsche Richtung zu marschieren beginne“. Seine Aufforderung, mit dem so Kritisierten „darüber einmal zu sprechen“, verfehlte ihre Wirkung nicht. Es sollten einige Wochen vergehen, bis die Angelegenheit geklärt war. Nach Rücksprache eines Mitarbeiters aus dem Stabe Darrés mit von Leers konnte dem Reichsführer SS dann mitgeteilt werden, dieser teile „in dieser Hinsicht restlos den SS - mäßigen Standpunkt“.1 Es mag erstaunen, dass Himmler Zeit fand, sich mit einer solchen Angelegenheit zu befassen. Als Staatssekretär im Reichsministerium des Innern war ihm im Juni 1936 die Polizei unterstellt worden. Seitdem weitete er die Macht seines Terrorapparates Schritt für Schritt aus. Gleichwohl ver wandte Himmler einen beträchtlichen Teil seiner Arbeit auf die „Pflege der Ordensidentität“ innerhalb der SS, die auf einer pseudoreligiösen Komponente beruhte. Dazu befasste er sich auch „leidenschaftlich mit zeitraubenden Nebensächlichkeiten“.2 Ungewöhnlich war Himmlers Interesse somit nicht, zumal die von Leers 1

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Himmler an Darré vom 6. 3. 1937 ( BArch, BDC - DS, Slg. Johann von Leers ). Darré und von Leers korrespondierten bereits seit längerer Zeit über Einfluss und Stellung einer „Priesterschaft“ und, wie von Leers es formulierte, der „Wissenden“ der germanischen Völker. Vgl. Darré an von Leers vom 18. 5. 1935 ( BArch, R 58/6016), sowie von Leers an Darré vom 19. 5. 1935 ( BArch, BDC - DS, Slg. Johann von Leers ). Mit „Burg Eyba“ dürfte ein Schloss gleichen Namens am Fuße des Thüringer Waldes gemeint gewesen sein. Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002, S. 126–128. Vgl. auch Mario Zeck, Das Schwarze Korps. Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS, Tübingen

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zugeschriebene Äußerung einen keineswegs nebensächlichen Aspekt der nationalsozialistischen Weltanschauung berührte : Er betraf die Frage, welche Bedeutung und Stellung einem Priesterstand in einer Ersatzreligion zukam, die an die Stelle des christlichen Glaubens treten sollte, den es zu überwinden galt. Was dabei den „SS - mäßigen Standpunkt“ kennzeichnete, ist freilich nicht präzise und eindeutig zu bestimmen. Ebenso wenig kann die darüber geführte Auseinandersetzung als etwas spezifisches Neues der SS betrachtet werden. Schon um die Jahrhundertwende galt diese Frage innerhalb der völkisch - religiösen Bewegung als umstritten. Denn unter Bezugnahme auf Tacitus wurde behauptet, die germanischen Vorfahren hätten einen Priesterstand nicht gekannt.3 Umstritten war in diesem Zusammenhang, ob Religion gelehrt oder nur erlebt werden könne. Weltanschauungsexperten aus Himmlers SS monierten vor allem, dass im frühen Mittelalter eine „herrschgierige Priesterkaste“ die „sonderbare Lehre von der Erbsünde erfunden“ habe. In germanischem Blut aber könne eine vererbbare Sünde nicht stecken. Ein „Sündengefühl“ wie auch die christliche Hoffnung auf Gnade seien dem germanischen Menschen deshalb fremd.4 Auffassungen wie diese vertrat auch von Leers in seinen zahlreichen Beiträgen zur weltanschaulichen Schulung der SS - Angehörigen. So interpretierte er beispielsweise die Auseinandersetzung zwischen Heinrich IV. und Papst Gregor VII. im 11. Jahrhundert – der Papst, der „die Moral der Gegenrasse“5 predige, hatte den Kaiser mit dem Bann belegt, so dass dieser zur Buße nach Canossa schreiten musste – als Kampf „um des Reiches Freiheit gegen herrschsüchtiges Priestertum“.6 Von „Reichsverrat und Pfaffenherrschaft“ ist die Rede und davon, dass Gegenkönig Rudolf von Schwaben sich „zum Schwert fremder Priester gegen das Deutsche Reich gemacht“ habe.7 Wer aber „ein rechter Deutscher“ sei, sei nur „dem Reich“ gegenüber zu Gehorsam verpflichtet. Himmlers Intervention dürfte sich indessen auch daraus erklären, dass ihn mit von Leers eine enge Beziehung verband. Ihre Ursprünge reichen vermutlich in die späten 1920er Jahre zurück. Seit von Leers im August 1929 der NSDAP beigetreten war, avancierte der begabte Redner schnell zu einem überregional bekannten Agitator und Autor. Insofern war es mehr als nur eine Floskel, als Himmler, der von 1926 bis 1930 als stellvertretender Reichspropagandaleiter wirkte, ihn Anfang 1936 wissen ließ, dass er seine Arbeit „sehr schätze“.8 Von

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2002, S. 70. Zu Weltanschauung und Kult der SS vgl. Peter Longerich, Heinrich Himmler, München 2008, S. 265–395; Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 40 ff. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 252 f. Ackermann, Himmler, S. 76. Johann von Leers, 14 Jahre Judenrepublik. Die Geschichte eines Rassenkampfes, Berlin o. J. (2. Auf lage 1933), S. 57. [ Johann ] von Leers, Die Hand im Merseburger Dom. In : SS - Leitheft, 2 (1936/37) 11, S. 6–9, hier 8. Ebd., S. 9. Himmler an von Leers vom 9. 1. 1936 ( BArch, BDC, Slg. Johann von Leers ).

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Leers gehörte zu diesem Zeitpunkt zu den regelmäßigen Autoren des zentralen Organs der weltanschaulichen Schulung der SS, dem „SS - Leitheft“.9 Himmlers Unterstützung verdankte er es überdies, im Wintersemester 1936/37 eine Stelle als Dozent an der Universität Jena antreten zu können. Seitdem bemühte von Leers sich darum, auf eine ordentliche Professur berufen zu werden. Auch dabei vertraute er auf den Einfluss des Reichsführers SS.10 Die zweifelsohne vertrauensvolle Beziehung erklärt Himmlers Tonfall, der in der Sache zwar Aufklärung verlangte, sein Schreiben aber moderat und in der Frage nach den zugrunde liegenden Motiven geradezu fürsorglich formuliert hatte. Darré gegenüber ließ er zwar offen, von wem und auf welchem Wege er von der angeblichen Äußerung erfahren hatte. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass ihr eine Denunziation zugrunde lag, mit der von Leers diskreditiert und in seiner weiteren Hochschulkarriere behindert werden sollte. Insbesondere Mitarbeiter aus dem Umfeld Alfred Rosenbergs (1893–1946) griffen ihn immer wieder an. Ihren Zorn hatte von Leers sich bereits 1933 zugezogen, als ein Streit um die „kunstpolitischen Ziele der Bewegung“ durch sein Zutun eskalierte.11 Nicht minder vehement wurde aus den Reihen des Parteiideologen auch die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit und das Monopol über die Ur - und Vorgeschichte geführt, in der von Leers sich hinter den dilettierenden Laienforscher Herman Wirth (1885–1981) gestellt hatte. Seine „kritiklose Verhimmelung der umstrittenen Theorien von Wirth“ hielt ihm das Amt Rosenberg noch 1938 vor.12 Parteiinterne Heckenschützen kolportierten überdies das Gerücht, von Leers habe Ende April 1934 mit Otto Straßer (1897–1974) in Prag „Fühlung aufgenommen“.13 Die Behauptung stellte sich zwar als „offenbar aus der Luft gegriffen“ 9 Von Leers veröffentlichte zwischen 1936 und 1940 knapp 30 Geschichten und Beiträge in der Zeitschrift. Eine Auswahl erschien später in einem für Schüler und Jugendliche erstellten Sammelband : Johann von Leers, Für das Reich. Deutsche Geschichte in Geschichtserzählungen, 2. Auf lage Langensalza 1941. Zum Kontext vgl. Longerich, Himmler, S. 325. 10 Zur Einflussnahme Himmlers auf das Berufungsverfahren vgl. Karl Astel, Rassenhygieniker an der Universität Jena, an Himmler vom 18. 12. 1936 ( IfZ, MA 297). Vgl. auch Jürgen John / Helmut G. Walther ( Hg.), Wege der Wissenschaft im Nationalsozialismus. Dokumente zur Universität Jena 1933–1945, Stuttgart 2007, S. 176 f.; sowie allg. zu diesem Aspekt Longerich, Himmler, S. 288. 11 Amt für Kunstpflege an NS - Studentenbund vom 4. 11. 1936 ( BArch, NS 15/59, Bl. 59). Zu der 1933/34 geführten Auseinandersetzung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. bereits Hildegard Brenner, Die Kunst im politischen Machtkampf der Jahre 1933/34. In : VfZ, 10 (1962), S. 17–42; Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chef ideologe, München 2005, S. 369–386. 12 Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv an NS - Dozentenbund vom 26. 7. 1938 ( BArch, NS 15/36, Bl. 144). 13 Chef des Sicherheitshauptamtes an Reichsführer SS vom 22. 6. 1938 ( IfZ, MA 286, Bl. 528291 ff.). Die Urheber dieser Denunziation gehen aus dem Schreiben nicht hervor, kamen aber möglicher weise aus dem Propagandaministerium. Zu ähnlichen Denunziationen in dieser Phase vgl. Joachim Lerchenmueller, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD - Historiker Hermann Löff ler und seine Gedenkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“, Bonn 2001, S. 86.

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heraus, wie das Sicherheitshauptamt ermittelte.14 Angesichts der geistigen Nähe, die von Leers bis 1930 mit dem exponierten und nunmehr exilierten Vertreter der früheren nationalsozialistischen Linken verband, erschien ein solcher Vorwurf allerdings nicht völlig abwegig.15 Verhindern ließ sich sein beruf liches Fortkommen durch solche Intrigen jedoch nicht, wie der weitere Verlauf zeigte. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Himmler und von Leers, der im Mai 1936 vom Reichsführer „persönlich“ in die SS aufgenommen worden sein will, nachdem er einen Vortrag „auf der Traditionsfahrt des Reichsbauernrates“ gehalten habe, erwies sich als hilfreich.16 Es ist deshalb bemerkenswert, dass der Schriftsteller, Journalist und Hochschullehrer, der sich seiner „vielfachen Beziehungen zu allen möglichen leitenden Männern“17 in Partei - und Staatsapparat rühmte und aufgrund einer Flut an Veröffentlichungen seit Ende der 1920er Jahre zu den „produktivsten antisemitischen Publizisten der NS - Bewegung“18 zählte, von der zeitgeschichtlichen Forschung vornehmlich in Fußnoten beachtet worden ist.19 „Mit dem Reichs-

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Chef des Sicherheitshauptamtes an Reichsführer SS vom 22. 6. 1938 ( IfZ, MA 286, Bl. 528291 ff.). Vgl. dazu Patrick Moreau, Nationalsozialismus von links. Die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten“ und die „Schwarze Front“ Otto Straßers 1930– 1935, Stuttgart 1985; Reinhard Kühnl, Die nationalsozialistische Linke 1925–1930, Diss. phil. Marburg 1965. Lebenslauf Johann von Leers vom 1. 11. 1936 ( THStW, PA Nr. 18260, Bl. 11). Von Leers an Richard Wossidlo (1859–1939) vom 30. 6. 1938 ( BArch, NL von Leers 2168/3, Bl. 1). Vgl. Erich Goldhagen, Weltanschauung und Endlösung. Zum Antisemitismus der nationalsozialistischen Führungsschicht. In : VfZ, 24 (1976), S. 378–405, hier 400. Die publizistischen Hinterlassenschaften bis 1945 umfassen mehr als 50 Monographien, einige hundert Aufsätze und eine große Zahl von Artikeln in Tageszeitungen. Hinzu kommen zahlreiche Rundfunkvorträge. Dies dürfte nicht zuletzt der thematisch ausgreifenden Publizistik seit 1929, einem ruhelosen Aktivismus bis 1945 sowie der von zahlreichen Mythen umrankten Nachkriegsbiographie im Milieu nationalsozialistischer Apologeten zunächst in Südamerika, dann bis zu seinem Tod 1965 in Ägypten geschuldet sein. Es sei darauf verwiesen, dass eine der umfassendsten Arbeiten über den „nordischen Gedanken“ in Deutschland von Leers erstaunlicher weise völlig übergeht. Vgl. Hans - Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971. Nicht verwunderlich ist dagegen, dass die Memoirenliteratur enger Weggefährten ihn ebenso ausblendet wie Abhandlungen am Geschehen Beteiligter. Vgl. Hans F. K. Günther, Mein Eindruck von Adolf Hitler, Pähl 1969; oder Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881–1962. Leben – Werk – Wirkung, Heidelberg 1986. Darüber hinaus wird von Leers in der Sekundärliteratur allenfalls kursorisch behandelt, etwa im Kontext der kunstpolitischen Kontroversen oder der nationalsozialistischen Durchdringung der Universität Jena seit Anfang der 1930er Jahre. Vgl. dazu Brenner, Kunst im politischen Machtkampf; Uwe Hoßfeld / Jürgen John / Oliver Lemuth / Rüdiger Stutz ( Hg.), „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003. Ein neuerer Aufsatz, der sich auch mit der Biographie befasst, bedauerlicherweise aber zahlreiche bislang kolportierten Falschinformationen übernimmt, reduziert das publizistische Werk vor allem auf seine Adressaten im pädagogischen Kontext, was freilich nur einen Aspekt im Œuvre von Leers’ ausmacht. Siehe Gregory Paul Wegner, A Propagandist of Extermination.

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führer SS und dem Reichsbauernführer verbinden mich wie immer die angenehmsten Beziehungen“, erklärte er 1937 in dem ihm eigenen Selbstbewusstsein, ohne dass dies übertrieben gewesen wäre.20 Himmler und Darré teilten mit ihm nicht nur das Interesse an religiösen Fragen. Sie nahmen auch eine ähnliche Haltung zum Christentum ein, dessen „artfremden“ und, wie sie meinten, in einem Akt der Gewalt den germanischen Völkern aufgezwungenen Glaubensinhalten sie eine schädliche Wirkung unterstellten. Von Leers’ Beteiligung an der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung ( ADG ) als Sammlungsbewegung unterschiedlicher völkisch - religiöser und paganer21 Strömungen in den Jahren 1933/34, auf die in diesem Beitrag eingegangen wird, machen freilich nur eine, wenngleich wichtige Facette seiner vielschichtigen Biographie aus. Im Folgenden soll dazu der Lebensweg knapp skizziert werden. Dabei wird insbesondere dargestellt, wie die Genese des Antisemitismus aus biographischen Erfahrungen der formativen Jahre erklärt werden kann und in welcher Form dieser sich mit einer spezifisch religiösen Dimension verknüpfte. Die Wirkung, die drei Protagonisten der antisemitischen und völkisch - religiösen Bewegung – Julius Streicher (1885–1946), Theodor Fritsch (1852–1933) und der bereits erwähnte Herman Wirth – im Sinne von Erweckungserlebnissen auf ihn ausübten, wird dabei besonders herausgestellt. Im Anschluss daran wird untersucht, welche Funktion von Leers im Formierungsprozess der ADG 1933/34 wahrgenommen hat, zu der er als einer der Organisatoren der 1929 gegründeten Herman Wirth Gesellschaft gestoßen war, und welche Positionen er in den Kontroversen vertrat, die in der Anfangsphase die ADG prägten. Abschließend soll erklärt werden, weshalb diese Art von Aktionismus episodenhaft geblieben ist und warum von Leers sich aus der ADG wieder zurückgezogen hat.

1.

Erweckungserlebnisse eines Suchenden

Ein latenter Antisemitismus, der graduell jedoch unterschiedlich aggressiv ausgebildet sein konnte, gilt als ein „konstitutives Element“ der völkischen Weltanschauung. Religion bildet trotz der „Vielgestaltigkeit völkischer Religionsvorstellungen“ den „archimedischen Punkt“ der völkischen Ideologie.22 Die völkische Johann von Leers and the Anti - Semitic Formation of Children in Nazi Germany. In : Paedagogica Historica, 43 (2007) 3, S. 299–325. 20 Von Leers vom 12. 8. 1937 an einen unbekannten Adressaten, vermutlich Friedrich Stier ( BArch, NL von Leers 2168/2, Bl. 38). Stier war im Thüringischen Volksbildungsministerium der für Hochschulfragen zuständige Ministerialrat, wurde durch von Leers hier irrtümlich aber als Ministerialdirektor bezeichnet. 21 Zur Abgrenzung des Begriffs von dem des Neuheidentums vgl. Horst Junginger, Paganismus und Indo - Germanentum als Identifikationselement der Neuen Rechten. Das Problem der religiösen Wahrheit und ihrer wissenschaftlichen Objektivierung. In : Uwe Puschner / G. Ulrich Großmann ( Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 280–290, hier 281. 22 Uwe Puschner, Völkische Bewegung, S. 15–17; ders., Strukturmerkmale der völkischen Bewegung. In : Michel Grunewald / Uwe Puschner ( Hg.), Das konservative Intellektuel-

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Erlösung und Erneuerung, die von Leers suchte und in der nationalsozialistischen Weltanschauung fand, entwickelte sich auf diesem Fundament. Zeit seines Lebens bezeichnete von Leers sich als einen „Völkischen“ und wurde von Dritten als solcher etikettiert.23 Als er 1936 in die SS aufgenommen wurde, betonte er in seinem dazu angefertigten Lebenslauf, seit seiner Jugend „in völkischen Gedanken“ gelebt zu haben.24 Von der Wirkung seiner Schriften erhoffte er sich, wie er 1941 formulierte, sie würden „unser völkisches Erbe“ wecken helfen und ihren Leser mit „Stolz auf sein Blut und seine Art“ erfüllen.25 Dass der Nationalsozialismus diesem Erbe zu neuer Kraft verholfen habe, daran hielt von Leers auch nach dem Ende des Dritten Reichs unbeirrt fest. Dessen bleibendes Verdienst sei es, „eine wirklich schöpferische, völkische Erneuerung geschaffen“ zu haben.26 Noch 1957 legte er Wert darauf, als „völkischer Deutscher“ bezeichnet zu werden.27 Die Wurzeln dieser Weltanschauung finden sich in seiner sozialen und mentalen Herkunft. Von Leers entstammte dem niederen Landadel protestantischer Prägung in Norddeutschland, dessen traditionelle Lebenswelt Anfang des 20. Jahrhunderts prekär geworden war und sich in Auf lösung befand. Das von der Familie seit dem späten 18. Jahrhundert bewirtschaftete Rittergut Vietlübbe nahe der Stadt Gadebusch in Mecklenburg - Schwerin wurde durch die landwirtschaftliche Krise zunächst in seiner Existenz bedroht, um dann im Ruin unterzugehen. Die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umwälzungen des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts erlebte von Leers vor allem als – keineswegs untypisch für seinen Stand – soziale Deklassierung und wirtschaftlichen Niedergang. Geordnete Verhältnisse und festgefügte familiäre Bindungen lösten sich dabei auf.28 Von Leers hat im Rückblick mehrfach über diese Erfahrungen und seine geistige Entwicklung Rechenschaft abgelegt. Obgleich solchen Erklärungen distanziert zu begegnen ist, vermitteln sie doch einen Eindruck von prägenden Erlebnissen seiner formativen Jahre. Dazu zählten beispielsweise Gespräche mit Gustav Roesicke (1856–1924), die sein Weltbild beeinflusst hätten. Der Reichstagsabgeordnete und Führer des 1893 gegründeten Bundes der Landwirte

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lenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2003, S. 445–468, hier 448; Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1999, S. XIX. Vgl. die Meldung „Neue Völkische Lehraufträge“ in der Zeitschrift Hammer, 36 (1937) 817, S. 37, anlässlich seiner Berufung als Dozent nach Jena zum Wintersemester 1936/37. Lebenslauf Johann von Leers vom 22. 6. 1936 ( BArch, BDC - SSO, Slg. Johann von Leers). Von Leers, Für das Reich, S. 3. J[ ohann ] v[ on ] Leers, Die landwirtschaftliche Marktordnung 1933–1945. In : Der Weg, 7 (1953) 3/4, S. 151–158, hier 158. Gordon Fitzstuart [ Johann von Leers ], Schwarze Handlanger für roten Mord. In : Der Weg, 8 (1954) 2, S. 125–129, hier 126. Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, 2. Auf lage Frankfurt a. M. 2004. Zum Paradigma vom Niedergang vgl. auch Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006.

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(BdL), den die Familie gelegentlich zu Besuchen empfing, bestimmte bis zum Ersten Weltkrieg in der Öffentlichkeit maßgeblich das Bild dieser einflussreichen Interessenorganisation. Eine wichtige Facette ihrer Programmatik und Propaganda war ein rabiater und militanter Antisemitismus, der die traditionelle Abneigung auf dem Land gegen die Handel treibenden Juden rassisch - völkisch umformte.29 Solche Gedanken fanden in dem heranwachsenden von Leers offensichtlich einen interessierten Zuhörer. Das „verderbliche Wuchern der Landjuden“ galt auch von Leers später als eine der Ursachen der landwirtschaftlichen Krise und, so die von ihm gezogene Konsequenz, Zerstörung bäuerlicher Lebenswelten.30 Spuren dieses Antisemitismus finden sich noch Anfang der 1950er Jahre in seinen Erinnerungen, wenn „Hypothekenwucher und Getreidebörsetricks“ für den Niedergang des Familienguts verantwortlich gemacht werden.31 Tatsache ist, dass die krisenhafte Entwicklung seit Mitte der 1920er Jahre das Familiengut mit voller Wucht getroffen hat und von Leers zu überfordern schien, zumal er nach dem frühen Tod seines Vaters die Verantwortung für die Familie übernehmen musste. Ein Ner venzusammenbruch, Offenbarungseide, langwierige Auseinandersetzungen mit Banken und Behörden und schließlich sogar ein Haftbefehl, den zwei seiner Gläubiger 1929 gegen ihn erwirken konnten, waren die Folgen, für die Schuldige ausfindig zu machen waren.32 Die „Hoffnungslosigkeit der Zukunft“ resultiere aus dem „Judenwucher“, klagte von Leers 1930 in der NS - Zeitung „Der Angriff“.33 Viele Höfe seien „von einer Judenbank erwürgt“ worden, schrieb er und hatte dabei gewiss auch die eigene Situation im Blick. Es verwundert deshalb nicht, dass die, wie von Leers Anfang 1933 in den „N. S. Monatsheften“ schlussfolgerte, „berechtigte und begründete Gegenwehr der nichtjüdischen Völker gegen das im letzten unverdauliche Judentum“34 zum Dreh - und Angelpunkt seiner Gedankenwelt und Agitation wurde. „Es gibt eine Judenfrage, niemand kann sie leugnen !“, stellte er zur gleichen Zeit apodiktisch fest.35 Der Inhalt seines publizistischen Lebenswerks war damit treffend charak29 Zum aggressiven Potenzial der antisemitischen Agitation des BdL vgl. Elke Kimmel, Methoden antisemitischer Propaganda im Ersten Weltkrieg. Die Presse des Bundes der Landwirte, Berlin 2001, S. 45; Shulamit Volkov, Kontinuität und Diskontinuität im deutschen Antisemitismus 1878–1945. In : VfZ, 35 (1985) 2, S. 221–243, hier 231. Zur Einordnung der Politik des BdL vgl. auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918 ( Band 2), 3. Auf lage München 1995, S. 585. 30 Johann von Leers, Zur Geschichte des deutschen Antisemitismus. In : Theodor Fritsch ( Hg.), Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes, 39. Auf lage Leipzig 1935, S. 514–544, hier 523. 31 Von Leers an Karl August Wittfogel vom 26. 1. 1952 ( Hoover Institute Archiv, Collection K. Wittfogel, Box Nr. 29). 32 Haftbefehl gegen Johann von Leers vom 1. 10. 1929 ( BArch, NL von Leers 2168/5, Bl. 58). 33 M. Thomas [ Johann von Leers ], Landagitation. In : Der Angriff vom 20. 2. 1930. 34 Johann von Leers, Das Ende der jüdischen Wanderung. In : N. S. Monatshefte, 4/1933, S. 229–231, hier 230. 35 Johann von Leers, Forderung der Stunde : Juden raus, Berlin o. J. (1933), S. 16.

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terisiert. Bereits 1930 hatte er Juden im „Angriff“ zur „Weltgefahr“36 und zum „Weltfeind“37 erklärt. Im gleichen Atemzug fügte er seinerzeit hinzu, ihre Existenz stelle ein „Problem“ dar, das nur „im internationalen Maßstab zu lösen“ sei.38 Juden galten von Leers als Urheber sozialer Missstände wie politischer Fehlentwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin. Als „Feinde des Reiches“ hätten sie insbesondere Deutschlands Niederlage im Krieg zu verantworten. Juden waren in seiner Vorstellungskraft freilich nicht nur allgegenwärtig, sondern auch zu allem fähig : Sein Wissen darüber entnahm er den Schlüsseltexten des modernen Antisemitismus. Insbesondere die „Protokolle der Weisen von Zion“ dienten ihm als Referenztext für den Nachweis einer „jüdischen Weltverschwörung“. Über die „viel angezweifelten Protokolle“, aus denen er immer wieder ausgiebig zitierte, wusste er mitzuteilen, diese würden „völlig zu Unrecht“ kritisiert, sei doch ihr Wahrheitsgehalt durch die „Tatsache“ erwiesen, „dass so außerordentlich viel aus ihnen verwirklicht ist“.39 Als Helfer an der Seite des Judentums machte er zudem jene weltanschaulichen Gegner des Nationalsozialismus aus, wie sie der SD definierte.40 Zu diesen „Beauftragten des Judentums“ gehörten insbesondere Freimaurer, Katholiken, Zeugen Jehovas sowie alle Formen einer vermeintlich „überstaatlichen Macht“.41 Ergänzt wurde dieser Antisemitismus um eine spezifische religiöse Dimension. „Seit Jahren stehen wir beide in der Frage um die religiösen Probleme unserer Zeit mitten drin“, reklamierte er 1936 für sich und seine Ehefrau.42 Bereits in seiner Jugend, behauptete von Leers, habe er sich dem Christentum entfremdet und nach anderen Glaubensinhalten gesucht. Seinen Kirchenaustritt vollzog er 1932.43 Fortan bezeichnete er sich als „gottgläubig“. Den Auslöser dieser Abkehr sah er im „erstarrten Luthertum“, das Familienangehörige ihm nahe zu bringen gesucht hätten. Aus seinem Bruch mit dem Christentum sei allerdings nicht der Schluss zu ziehen, er stelle „die Vorsehung“ oder „das Walten Gottes“ in Frage. „Das tue ich auch nicht“, teilt er einem Korrespondenz36 M. Thomas [ Johann von Leers ], Englands Reinfall in Palästina. In : Der Angriff vom 4. 11. 1930. 37 M. Thomas [ Johann von Leers ], Dem Weltfeind an den Kragen ! Warum jeder Sozialist Judengegner sein muss. In : Der Angriff vom 24. 7. 1930. 38 Thomas, Englands Reinfall. 39 Leers, Forderung der Stunde, S. 13. 40 Wolfgang Dierker, „Niemals Jesuiten, niemals Sektierer“. Die Religionspolitik des SD 1933–1941. In : Michael Wildt ( Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003, S. 86–117, hier 103. 41 Johann von Leers, Zur Geschichte des deutschen Antisemitismus, S. 533. 42 Von Leers an Gustav Frenssen vom 23. 3. 1936 ( SHLB, NL Frenssen, Cb 21.56 : 1020, Bl. 1a ). 43 Von Leers an Egon von Wulffen vom 13. 5. 1939 ( OAM, 1283/10a, Bl. 557). Der Major a. D. gehörte Ende der 1920er Jahre zu den Mitarbeitern der Zeitschrift „Die Sonne. Monatsschrift für nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung“ und stand auch in Kontakt mit der Herman - Wirth - Gesellschaft ( LA - B, A Rep. 060–57, Nr. 1). Später war er für eine Deutsche - Philosophische Gesellschaft aktiv, deren Mitglieder sich zum Ziel gesetzt hatten, „die Eigenart Deutschen Wesens immer deutlicher herauszuschälen“. Vgl. Egon von Wulffen an von Leers vom 23. 5. 1939 ( OAM, 1283/10a, Bl. 554 ff.).

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partner mit. Indessen sei ihm „das Christentum in tiefster Seele verhasst, gerade wegen seiner jüdischen Grundlagen“.44 Umso mehr bewunderte er schon Mitte der 1930er Jahre den Islam, der „das Judentum seit jeher als Feind empfunden“ habe.45 Die Begegnungen mit antisemitischen Agitatoren wie Julius Streicher oder Theodor Fritsch und dem bereits erwähnten völkischen Religionsstifter Herman Wirth kamen in diesem Prozess Erweckungserlebnissen gleich. So behauptete von Leers, am 1. August 1929 „in Berlin in einer Versammlung des Parteigenossen Julius Streicher“46 der NSDAP beigetreten zu sein. Zwar dürfte dies nicht zutreffen, weil die NSDAP ihre Mitglieder an diesem Tag in Nürnberg zum Parteitag versammelt hatte. Kein Zweifel kann allerdings daran bestehen, dass Streichers vulgärer Antisemitismus eine besondere Anziehungskraft auf von Leers ausgeübt hat. Der fränkische Gauleiter und Gründer des Hetzblattes „Der Stürmer“ galt ihm nicht nur als „der treue Kämpe gegen das Judentum“.47 Anfangs wirkte er auch stilbildend für eigene Veröffentlichungen. Ihm widmete er sein unmittelbar nach der Machtübertragung erschienenes Pamphlet „Juden sehen Dich an“, das auch im „Stürmer“ beworben wurde.48 Das Machwerk, das zahlreiche Porträts und Kurzbiographien von „Juden“ und solchen, die von Leers dafür hielt, aneinander reihte und diese als „Galerie von Volksverderbern“ verunglimpfte, hob sich nicht nur durch seine Gehässigkeit und Gewaltphantasien von vergleichbaren antisemitischen Traktaten ab. Seine Häme ist repräsentativ für den Ton, den von Leers in der Mehrzahl seiner Schriften angeschlagen hat. Die Tatsache, so von Leers in seinem Vorwort, dass „kein einziger von ihnen durch die nationale Revolution von 1933 bisher hingerichtet worden ist, trotzdem ihre Verbrechen gen Himmel schreien“, zeige „mit aller Deutlichkeit, wie außerordentlich menschlich und gnädig das deutsche Volk selbst noch seinen schlimmsten Verderbern gegenüber verfahren ist“.49 Eine weltanschauliche Nähe bestand außerdem zu Theodor Fritsch. Von Leers betrachtete sich als geistigen Erben des von ihm verehrten „Altmeisters“,50

44 Von Leers an Walther Kellerbauer vom 24. 7. 1943 ( OAM, 1283/12, Bl. 190). Vgl. Walther Kellerbauer, Über nordische Gotterkenntnis. Der religiöse Inhalt arteigenen Glaubens, Magdeburg 1934; ders., Suchet in der Schrift, Leipzig 1937. 45 Johann von Leers, Blut und Rasse in der Gesetzgebung. Ein Gang durch die Völkergeschichte, München 1936, S. 49. 46 Lebenslauf Johann von Leers vom 1. 11. 1936 ( THStW, PA Nr. 18260, Bl. 11). 47 Von Leers, Zur Geschichte des deutschen Antisemitismus, S. 536. 48 Johann von Leers, Juden sehen Dich an, Berlin o. J. (1933). Vgl. auch das Werbeinserat. In : Der Stürmer, Nr. 21 von Mai 1933. 49 Von Leers, Juden sehen Dich an, S. 4. Vgl. die Rezension im Hammer, 33 (1934) 757/758, S. 38. Demnach enthülle das Buch „in vortreff licher Weise“, wenngleich es nicht ohne Fehler sei. Der „Theaterkommunist“ Piscator etwa sei kein Jude. „Diese Art Fehler“ müssten indessen „entschuldigt werden“, denn die Irrtümer würden „zum Teil durch die Juden selbst hervorgerufen“. 50 Johann von Leers, Theodor Fritsch zum Gedächtnis. Auszug aus einer Rede. In : Hammer, 37 (1938) 840, S. 422–424.

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dessen Werk er nach seinem Tod fortzusetzen gedachte – sei es durch Beiträge im „Hammer“ seit 1933, die Mitarbeit am „Handbuch der Judenfrage“, in dem er spätestens seit 1935 mit einem Beitrag vertreten war, oder anlässlich einer Gedenkfeier zum fünften Todestag Fritschs 1938 an dessem Denkmal in BerlinZehlendorf, auf der er eine Ansprache hielt.51 Noch 1957 würdigte von Leers Fritsch als den „großen Vorkämpfer [...] gegen die internationale Judenmacht“, dem der Nationalsozialismus seinen Aufstieg zu einer politischen Kraft überhaupt zu verdanken habe. Seine „völkischen Ideen“, behauptete er, hätten Hitler erst „zum Sieg verholfen“. Insbesondere der „Hammer“ sei dafür entscheidend gewesen. Aus der „einfachen Monatsschrift“ habe sich unter Fritsch ein Organ entwickelt, „um das die völkischen Kräfte sich sammelten, das Material, Wissen, Kenntnis im Kampf vermittelte, maßvoll in der Form, schneidend radikal in der Sache dem völkischen Gedanken seine Stoßkraft gab“.52 Die nachhaltigste Wirkung auf von Leers übte seit Anfang der 1930er Jahre aber Herman Wirth aus. Der dilettierende Laienforscher wurde von seinen Anhängern als Religionsstifter verehrt.53 Von Leers stellte dabei keine Ausnahme dar. Mit seinen Schriften „Der Aufgang der Menschheit“ (1928) und „Die Heilige Urschrift der Menschheit“ (1931) habe Wirth „unsere Kenntnis der Religionsgeschichte um Jahrtausende vorwärts gebracht“, behauptete er in grotesker Übertreibung.54 Die auf seiner Symbolforschung entwickelte Theorie einer monotheistischen Urreligion lege „einen alten Weg offen [...] für die, die suchen und in die Irre gehen“.55 Im Kreise der gläubigen Anhänger dieses exzentrischen Wanderpredigers, die sich insbesondere aus dem gehobenen Bürgertum und den gebildeten Ständen rekrutierten, lernte von Leers auch Gesine Fischer (1891–1974) kennen, die im September 1932 seine Frau wurde. Zugang zu dem Zirkel erhielt er wahrscheinlich durch ihren damaligen Ehemann Walther Fischer ( geb. 1885). Der Jurist und frühere Regierungsrat war 1919 in Konsequenz seiner antisemitischen Einstellung und Verachtung der politischen Verhältnisse der Weimarer Republik freiwillig aus dem Staatsdienst in Preußen ausgeschieden und fortan als Syndikus in leitender Funktion für den Verband

51 Ebd. 52 Johann von Leers, Theodor Fritsch, der alte Waffenmeister. In : Der Weg, 11 (1957) 9, S. 592–598, hier 597. 53 Zu Wirths Biographie vgl. Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, 3. Auf lage München 2001, S. 11 ff.; Ingo Wiwjorra, Herman Wirth – Ein gescheiterter Ideologe zwischen „Ahnenerbe“ und Atlantis. In : Barbara Danckwortt / Thorsten Querg / Claudia Schöningh ( Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologen – Täter – Opfer, Hamburg 1995, S. 91–112; Luitgard Löw, Die skandinavischen Felsbilder in der Deutung völkischer Laienforschung. Das Beispiel Herman Wirth und sein Umfeld ( Ms.), Bamberg 2006. 54 Von Leers, Zum religiösen Problem der Zeit. In : Hammer, 33 (1934) 757/758, S. 14– 16, hier 15. 55 Vgl. dazu das Vorwort des Manuskripts „Das hohe Licht des Nordens. Gemeinverständliche Darlegung des urnordischen Glaubens auf Grund der Forschungen von Prof. Herman Wirth“ ( BArch, NL von Leers 2168/21, Bl. 22–28, hier 23).

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Berliner Metall - Industrieller tätig.56 Spätestens seit 1927 unterhielt er intensive Kontakte zur NSDAP in Berlin. Ihr ließ er „wertvolles Material zur Bekämpfung der damaligen Korruptionserscheinungen“ zukommen, die sie insbesondere in ihrem „ebenso energischen wie sachlich unanfechtbarem Kampf gegen die Gebrüder Sklarek und ihre Hintermänner“ munitionierte, wie er sich später attestieren ließ.57 Für den „Angriff“ verfasste er bis 1933 „mindestens 500 Artikel“. Den „Völkischen Beobachter“ will er sogar „mitentwickelt“ haben.58 Gemeinsam mit seiner Ehefrau gehörte er zu den fanatischen Anhängern Wirths. Seit sie ihn im Mai 1929 auf einer Tagung der „Freunde germanischer Vorgeschichte“ in Detmold persönlich kennen gelernt hatten, waren sie von dessen Mission überzeugt.59 „Ich glaube an die Dir von Gott gestellte große Aufgabe zur Weitung des Blicks der Atlantiker und zur Rettung der versinkenden nordischen Seele“, offenbarte Walther Fischer ihm.60 Die Verehrung erwies sich für Wirth in den folgenden Jahren als überaus nützlich. Fischer kümmerte sich um seine finanziellen Angelegenheiten, half ihm mit juristischen Ratschlägen, sammelte Spenden im Kreis ihm bekannter Industrieller, mit denen er in Kontakt stand, und vermittelte in Streitfällen, in die Wirth sich durch sein Verhalten immer wieder manövrierte.61 Seine Ehefrau dagegen leitete die HermanWirth - Gesellschaft und organisierte seit Ende der 1920er Jahre dessen zahlrei-

56 Lebenslauf vom 5. 5. 1933 ( BArch, R 1501/206284, Bl. 4 f.). In Prospekten, die seit 1929/30 für eine Mitgliedschaft in der Herman - Wirth - Gesellschaft warben, wurde er als „Regierungsrat a. D.“ bezeichnet. Friedrich Hielscher erinnerte sich seiner nach 1945 als „sternenwahrsagenden, großindustriellen und völkisch - nationalsozialistischen Planetenfischer“. So Friedrich Hielscher, 50 Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954, S. 134. Für Rudolf Diels war Fischer, der 1933 vorübergehend an einflussreicher Stelle in der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium tätig wurde, der „astrologische Ministerialdirektor“. Vgl. Rudolf Diels, Die Nacht der langen Messer ... In : Der Spiegel vom 19. 5. 1949. 57 So Julius Lippert, 1927 „Hauptschriftleiter“ des „Angriff“ und seit 1933 Staatskommissar in Berlin, an Walther Fischer vom 3. 5. 1934 ( BArch, R 1501/206284, Bl. 75). Zur symbolreichen Stigmatisierung der Weimarer Demokratie als „Judenrepublik“ im „Sklarek - Skandal“ vgl. Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten. In : Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 5 (1996), S. 46–65. 58 Walther Fischer an Staatssekretär im Preußischen Innenministerium vom 27. 9. 1934 (BArch, R 1501/206284, Bl. 37 f.). 59 Herman Wirth an Gesine Fischer vom 15. 5. 1929 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 222). Zum Verlauf der Veranstaltung vgl. auch A. Meier - Böke, Zweite Tagung der Freunde germanischer Vorgeschichte vom 22. bis 24. Mai 1929 in Detmold. In : Germanien, 1 (1929) 1 vom 1. 7. 1929, S. 20–23. 60 Walther Fischer an Herman Wirth vom 31. 12. 1930 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 103 f.). 61 Beispielhaft genannt seien der vorübergehende Bruch 1930 mit dem Bremer Unternehmer und Wirth - Mäzen Ludwig Roselius oder die Auseinandersetzung mit Gustav Neckel aufgrund einer banalen Kontroverse. Vgl. Herman Wirth an Gesine Fischer vom 5. 3. 1930 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 182), sowie Walther Fischer an Herman Wirth vom 31. 12. 1930 ( ebd., Bl. 103 f.).

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che Auftritte und Vorträge, insbesondere in Berlin.62 Gemeinsam mit dem Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) arbeiteten sie zudem jenen Aufruf aus, in dem sich eine Gruppe von Wissenschaftlern, Verlegern, Unternehmern und Schriftstellern zu Wirth bekannte.63 Nicht zu unrecht reklamierte Gesine Fischer später für sich, die eigentliche Initiatorin dieses Vereins zur Förderung der Ideen Wirths gewesen zu sein : „Du weißt, dass die Herman - Wirth - Gesellschaft einzig und allein von mir gegründet wurde“, erinnerte sie Wirth 1937 – zu einem Zeitpunkt, als die Beziehung abgekühlt war.64 Wirth schätzte die großzügige Hilfe, die er dem Ehepaar Fischer zu verdanken hatte. Es sei ihm wohl bewusst, „welche Arbeit diese Organisation bedeutet“.65 Nicht verborgen blieb ihm freilich, dass Gesine Fischer bald die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht hatte. Um die Aufgaben bewältigen zu können, stellte sie spätestens im Sommer 1931 in der Berliner Geschäftstelle des Vereins eine Hilfskraft ein.66 Trotz des geringen Entgelts von 100 Mark monatlich erwies sich der neue Mitarbeiter als ausgesprochener Glücksgriff. Er überzeugte durch seine organisatorischen Fähigkeiten, trat forsch auf, stellte seine schriftstellerische Begabung unter Beweis und zeigte überdies großes Interesse an einer geistigen Auseinandersetzung mit Wirths Theorien. Der neue Mitarbeiter hieß Johann von Leers. Zwischen dem Ehepaar Fischer, Wirth und von Leers entwickelte sich in den folgenden Monaten und Jahren eine ebenso kuriose wie konfliktreiche Beziehung. Bereits zeitgenössische Beobachter registrierten, dass Gesine Fischer sich bald schon von ihrem Mann im „freundschaftlichen Einvernehmen“67 trennte, um im September 1932, wie kolportiert wurde, in der Wohnung ihres Ex - Mannes Johann von Leers zu heiraten.68 Über die „Ehe zu Dritt“ belustigte sich etwa die „B. Z. am Abend“, nachdem Gesine von Leers offensichtlich in einer Annonce mitgeteilt hatte, die Beziehung zu ihrem früheren Gatten werde durch ihre neuerliche Vermählung „nicht getrübt“.69 Solch öffentlicher Spott konnte von dieser Dreiecksbeziehung ignoriert werden. 62 Ein erster Vortragsabend der Herman - Wirth - Gesellschaft zum Thema „Urglaube der Menschheit. Steinzeitliche Schriftdenkmäler und ihre Bedeutung in der Geistesentwicklung der Menschen“ in Berlin fand am 25. 11. 1929 statt. Eine zweite Veranstaltung zum Thema „Atlantische Urreligion und deren Bedeutung für die Gegenwart“ folgte am 24. 2. 1930 ( UAG, NL Sommer, Band 71, Bl. 109). 63 Dem Ausschuss der Herman - Wirth - Gesellschaft gehörten ausweislich des Aufrufs 32 Personen an ( Exemplar in UAG, NL Sommer, Band 71, Bl. 109). 64 Gesine von Leers an Herman Wirth vom 12. 12. 1937 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 3). 65 Herman Wirth an Gesine Fischer vom 30. 1. 1930 ( ebd., Bl. 186). 66 Herman Wirth an Gesine Fischer vom 9. 6. 1931 ( ebd., Bl. 56). 67 So die Erinnerung des späteren Mitarbeiters des SS - Ahnenerbes Joseph Otto Plassmann in einem Schreiben an Michael Kater vom 11. 7. 1963 ( IfZ, ZS / A - 25/2, Bl. 263). Plassmann korrespondierte seit 1930 mit der Herman - Wirth - Gesellschaft und Gesine Fischer ( LA - B, A Rep. 060–57, Nr. 2). 68 Hielscher, 50 Jahre, S. 135. 69 Vgl. dazu den Leserbrief einer Ilse Neustädter in Der Spiegel vom 23. 6. 1949. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich hierbei um eine der „Abrechnungen unter Eingeweih-

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Als problematischer erwies sich dagegen, dass Gesine Fischer und Johann von Leers nicht gewillt waren, sich Wirth weiterhin bedingungslos zur Verfügung zu stellen. So verlangten sie etwa von ihm, Manuskripte, mit denen er auf seine Kritiker reagieren wollte, ihnen vor Drucklegung vorzulegen. Wirth wies das Ansinnen als „Zensur“ zurück.70 Konfliktpotenzial ergab sich zusätzlich daraus, dass über den Zweck der Herman - Wirth - Gesellschaft unterschiedliche Auffassungen bestanden. Während Wirth den Zusammenschluss als „sehr lose Verbindung von Menschen heterogenster Art“ betrachtete, die „sich für meine Arbeit interessieren“71 und seine „klare Linie“72 schätzten, verfolgte Gesine Fischer ein weiter gefasstes Anliegen. Sie strebte einen „Salon“73 an, in dem ein „Kreis von Freunden“ über „die brennendsten Kulturfragen“74 der Gegenwart diskutieren konnte. Wirth wäre dabei nur einer der Gesprächspartner aus dem Kreis völkisch - religiöser Religionsstifter gewesen. Nicht zuletzt die aus diesem Gegensatz resultierende Kontroverse war eine der Ursachen, dass 1932 aus der Herman - Wirth - Gesellschaft die Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte hervorging.75 In engem Zusammenhang damit stand seit Oktober 1931 die Auseinandersetzung zwischen von Leers und Wirth um die Gründung einer Zeitschrift, in der Wirth ausschließlich seine Ansichten verbreiten wollte. Die „Hauptschriftleitung“ und alles „Geistig - Wissenschaftliche“, forderte Wirth, „kann und darf nur allein in meinen Händen liegen“.76 Von Leers, auf dessen Initiative die Idee zurückging, gestand er allenfalls eine Hilfsfunktion „für das Redaktionsbüro und für die technisch - organisatorische Seite“ zu.77 Es lag auf der Hand, dass von Leers sich mit einer solchen Statistenrolle nicht begnügen

70 71 72 73 74 75

76 77

ten“ handelte, wie sie in dem Hamburger Nachrichtenmagazin Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre vorkamen. Vgl. dazu Lutz Hachmeister, Die Rolle des SD - Personals in der Nachkriegszeit. Zur nationalsozialistischen Durchdringung der Bundesrepublik. In : Wildt ( Hg.), Nachrichtendienst, S. 347–369, hier 354. Auch der völkischreligiöse Publizist und Hochschullehrer Ernst Bergmann verband ein Glückwunschschreiben an die frisch Vermählten mit „besten Empfehlungen“ an Walther Fischer. Ernst Bergmann an von Leers vom 29. 9. 1932 ( BArch, NL von Leers 2168/19, Bl. 42). Herman Wirth an Gesine Fischer vom 14. 1. 1932 und 20. 2. 1932 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 5, 14–15). Wirths Reaktion bezog sich auf Fritz Wiegers ( Hg.), Herman Wirth und die deutsche Wissenschaft, München 1932. Herman Wirth an Gesine Fischer vom 8. 1. 1932 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 16–18). Herman Wirth an Gesine Fischer vom 14. 1. 1932 ( ebd., Bl. 14–15). Herman Wirth an Gesine Fischer vom 8. 1. 1932 ( ebd., Bl. 16–18). Gesine von Leers an Eduard Spranger vom 12. 3. 1933 ( BArch, NL Spranger 1182/215). Zur Programmatik der Gesellschaft vgl. Johann von Leers, Die Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte. In : Nordische Welt, 1 (1933) 1, S. 31. Der erweiterte Ansatz der Gesellschaft zeigte sich auch in ihrem Briefkopf. Als Zweck wird dort die „Verbreitung der Forschungen Prof. Kossinnas, Wilhelm Teudts und Prof. Herman Wirths u. a.“ genannt. Gesine von Leers an Eduard Spranger vom 12. 3. 1933 ( BArch, NL Spranger 1182/215). Herman Wirth an Gesine Fischer vom 23. 10. 1931 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 37–38). Ebd.

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wollte. Die Gründung der Zeitschrift „Nordische Welt“, die seit Anfang 1933 als Organ der Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte unter seiner Verantwortung erschien, ist eine Folge dieser Entwicklung gewesen. Zu einem Bruch zwischen Wirth, von Leers und Fischer führten diese Konflikte allerdings nicht. Andernfalls wäre kaum denkbar gewesen, dass von Leers seit Anfang der 1930er Jahre Wirths Anschauungen unter Parteigängern der Nationalsozialisten nach Kräften zu verbreiten half.78 Er arbeite „fleißig an dem Wirth - Buch“, ließ er Anfang August 1932 seine spätere Frau wissen.79 Seinen ungebremsten Einsatz für Wirth dokumentieren überdies zahlreiche Manuskripte und Veröffentlichungen, die er in Zeitschriften der völkischen und antisemitischen Bewegung publizieren konnte.80 Das Mitteilungsblatt des Deutschbundes81 gehörte ebenso dazu wie der „Hammer“.82 Gemeinsam mit seiner Ehefrau zählte er selbst dann noch zu den Verteidigern Wirths, nachdem dieser die spekulative „Ura - Linda - Chronik“ veröffentlicht hatte und sich vehementen Angriffen der Fachwissenschaft ausgesetzt sah. Von Leers war es mutmaßlich auch, der Wirth im Oktober 1934 mit Himmler und Darré zusammenbrachte. Während einer Abendgesellschaft in seiner Privatwohnung kam es damals zu einem Treffen mit weitreichenden Folgen. Himmler zeigte Gefallen an dem Laienforscher, von dessen Glaubwürdigkeit er überzeugt war. Kurz darauf verhalf er ihm zur Leitung einer wissenschaftlichen Abteilung im Deutschen Ahnenerbe. Zwar wurde Wirth schon bald wieder aus dem Verein, über den Himmler zunehmend die weltanschauliche Schulungsarbeit und kulturpolitischen Ambitionen der SS steuerte, gedrängt und auf ein bedeutungsloses Amt abgeschoben. Zu einem persönlichen Bruch mit dem Reichsführer SS kam es allerdings nicht.83 Ähnlich entwickelte sich seit Mitte der 1930er Jahre auch Wirths Beziehung zu von Leers und seiner Ehefrau. Obgleich zunehmend von Spannungen geprägt, hielt von Leers dies nicht davon ab, sich noch Ende der 1930er Jahre für dessen Theo-

78 Johann von Leers, Deutsche Geschichte. Vortrag des Pg. Dr. von Leers. Gehalten im August 1933 vor Amtswaltern der N. S. B. O Gau Groß - Berlin, Berlin o. J. (1933), S. 7. 79 Von Leers an Gesine Fischer vom 2. 8. 1932 ( BArch, NL von Leers 2168/49, Bl. 1). Unklar ist, welche Veröffentlichung damit gemeint war. 80 Vgl. beispielsweise die Manuskripte „Das hohe Licht des Nordens. Gemeinverständliche Darlegung des urnordischen Glaubens auf Grund der Forschungen von Prof. Herman Wirth“ sowie „Die Bedeutung Herman Wirths für das deutsche Volk“ ( BArch, NL von Leers 2168/21, Bl. 22–28 und 57–64). 81 Dr. vL [ von Leers ], Der Ansturm auf Herman Wirth. In : Deutschbund. Mitteilungsblatt für wesensdeutsche Geistespflege 24/1931, S 1–2. Vgl. auch Dieter Fricke, Der „Deutschbund“. In : Puschner / Schmitz / Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, S. 328–340. 82 Johann von Leers, National - sozialistische Kulturpolitik. In : Hammer, 32 (1933), S. 145– 148; ders., Vorkämpfer rassischen Erwachens. In : Hammer, 32 (1933), S. 205–208 und 235–239; ders., Zur Frage der arteigenen Religion. In : Hammer, 32 (1933), S. 343– 344. Zu den Leserkreisen, die sich um die Zeitschrift gebildet hatten, siehe Michael Bönisch, Die „Hammer“-Bewegung. In : Puschner / Schmitz / Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“, S. 341–365. 83 Michael H. Kater, „Ahnenerbe“, S. 16; Longerich, Himmler, S. 285–289.

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rien einzusetzen.84 Die Verbindung überdauerte bis Kriegsende „alle Sonderbarkeiten“85 und bestand danach fort.86

2.

Johann von Leers und die Formierung der Deutschen Glaubensbewegung 1933/34

Diese Entwicklung war im Frühjahr 1933 nicht abzusehen, als eine religiöse Sammlungsbewegung sich zu formieren begann, die in den folgenden Monaten große öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Von Leers wirkte daran zeitweise an maßgeblicher Stelle mit. Trotz seines jungen Alters, das ihn von den führenden Vertretern dieser Sammlungsbewegung deutlich abhob, fehlte es ihm dazu weder an Selbstbewusstsein noch Profil. Von Leers verkörperte den genuin nationalsozialistischen Ideologen ebenso wie den politischen Aktivisten. Als Redner hatte er seit Ende der 1920er Jahre auf mehreren Hundert Massenveranstaltungen im Wahlkampf und vor elitären Zirkeln der antidemokratischen Rechten gesprochen. Mit einer Flut von Artikeln war er in der nationalsozialistischen Tagespresse und den Zeitschriften auf allen Ebenen der Partei präsent. Als Schriftleiter und Kommentator der Zeitung „Unser Wille und Weg“, dem Organ der Propagandaleitung der NSDAP, zu dem Joseph Goebbels ihn im März 1934 bestimmen sollte, gab er den Funktionsträgern der Partei in der Phase der nationalsozialistischen Machtsicherung Sprachregelungen zur aktuellen Politik an die Hand.87 Als Organisator beteiligte er sich an verschiedenen Sammlungsbewegungen, etwa dem Anfang Juni 1933 gegründeten und antisemitisch akzentuierten Bund Völkischer Europäer, dessen deutsche Sektion zunächst Ernst Graf von Reventlow (1863–1943), dann von Leers leitete.88 In der Phase

84 Johann von Leers, Rassische Geschichtsbetrachtung. Was muss der Lehrer davon wissen ? 2. Auf lage Langensalza 1936, S. 11 f. Die Passage erschien offensichtlich unverändert in weiteren Auf lagen 1940 und 1941, wie ein aufmerksamer Leser dem Ahnenerbe zutrug. Ulrich Stettin an Ahnenerbe vom 7. 9. 1943 ( BArch, NS 21/46, o. P.). 85 Von Leers an Herman Wirth vom 12. 7. 1944 ( OAM, 1283/10a, Bl. 426). 86 Herman Wirth an Gesina [ sic !] von Leers vom 1. 9. 1973 ( Privatbesitz ). 87 Die Auf lage der Zeitung, nach eigenen Angaben „die einzig erscheinende Fachzeitschrift der nationalsozialistischen Propagandisten“, stieg 1934 auf 90 000 Exemplare. Vgl. dazu Selbstdarstellung in 4/1933, S. 93, sowie Goebbels’ Tagebucheintrag vom 6. 2. 1934. In: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Russlands hg. von Elke Fröhlich. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941. Band 2/3 : Oktober 1932 bis März 1934. Bearb. von Angela Hermann, München 2006. 88 Der Bund Völkischer Europäer ( BVE ) betrachtete sich als deutschen Ableger der Alliance Raciste Européenne ( ARE ) mit Sitz in Zürich ( vgl. den Auszug aus der Satzung in Reichswart vom 12. 11. 1933). Die ARE strebte als das „letzte große Ziel“ einen „Weltbund aller Nichtjuden“ an. Präsident der Vereinigung wie auch der französischen Sektion war Baron Robert Fabre - Luce, der seit Anfang der 1920er Jahre „den Kampf für seine Gedanken in Frankreich, in Deutschland und in anderen Ländern führt[ e ]“. Vgl. Reichswart vom 11. 6. 1933 und 4. 2. 1934.

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der Säuberung und Gleichschaltung des Kulturlebens nach der Machtergreifung empfahl er sich damit, den Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten zu sichern. Sein Anteil am Ausschluss missliebiger Literaten aus dem deutschen PEN - Zentrum ist nur ein Beispiel dafür.89 Indessen blieben viele seiner Aktivitäten ephemer und episodenhaft. Er sei ein „Hans Dampf in allen Gassen“, notierte Goebbels 1936 in seinem Tagebuch, nachdem beide sich nach längerer Zeit erneut begegnet waren.90 Die Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung ( ADG ) stellte dabei keine Ausnahme dar. Sein kurzzeitiger Aktivismus lässt sich auf eine Phase eingrenzen, die mit der Vorbereitung der Zusammenkunft auf der Wartburg in Eisenach am 29. und 30. Juli 1933 einsetzte, aber bereits vor der Tagung in Scharzfeld im Mai des folgenden Jahres, auf der die Gründung der Deutschen Glaubensbewegung vollzogen wurde und „die Radikalen ihren Willen durchsetzten“,91 beendet war. Einer der maßgeblichen Initiatoren der ADG, die eine Anerkennung als offizielle Religion und dritte Konfession neben Katholizismus und Protestantismus anstrebte, war der Tübinger Indologe Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962).92 Er bereitete jene Aussprache unter den Wortführern der verschiedenen religiösen Bünde und Gruppen vor, zu der Ende Juli 1933 rund 200 ihrer Vertreter und eine Reihe von Einzelpersonen in Eisenach zusammenkamen. Sie repräsentierten einen heterogenen Kreis völkisch - religiöser, paganer und freireligiöser Organisationen und stellten, wie Hauer konzedierte, eine „bunt zusammengewürfelte Schar“ dar.93 Zu den Teilnehmern gehörte auch von Leers, der zweifelsohne große Erwartungen in die Tagung setzte. Für ihn stand fest, dass es nach dem „Erwachen des völkischen, nationalen Bewusstseins“ nur eine Frage der Zeit gewesen sei, sich dem „Problem der religiösen Einheit“ zuzuwenden.94 Dass der Nationalsozialismus darauf die richtige Antwort geben würde, entsprach seiner festen Überzeugung. Mit der Machterübernahme verband er die Hoffnung auf eine völkische Zeitenwende, der eine „politische Erneuerung des Deutschtums im Deutschen Reich“ wie die „sittlich - religiöse Neugestaltung“ und „die arteige89 Für eine knappe Darstellung der Vorgänge vgl. Jan - Pieter Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, München 1995, S. 80– 88. 90 Eintrag vom 19. 3. 1936. In : Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Band 2 : März 1936 bis Februar 1937. Bearb. von Jana Richter, München 2001. 91 Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich. Drei Kapitel nationalsozialistischer Kirchenpolitik, Stuttgart 1953, S. 186. 92 Zur Formierung der ADG vgl. Ulrich Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993; Kurt Meier, Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich, München 1992, S. 79–106. Zu Hauer und seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999, S. 124–143. 93 Die Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 31–38, hier 31). 94 Von Leers, Zum religiösen Problem der Zeit, S. 15.

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ne seelische Erneuerung“ folgen müssten.95 Formulierungen dieser Art richteten sich insbesondere gegen die christlichen Konfessionen. Ihnen hielt er vor, in religiösen Fragen im Widerspruch zu den arteigenen Interessen der Nation zu stehen, suchten sie doch „ihr Heiliges Land außerhalb Deutschlands“ und stellten „das Seelenheil des Einzelnen über den Behauptungswillen der Nation“. Ihr „künstlich erzeugtes Sündengefühl“, ihre „morgenländische Bußgesinnung“ und ihre „Überwertung der einzelnen Seele“ widersprächen damit dem arteigenen Sittengesetz, das durch „die heldischen, germanischen Seelenkräfte“ bestimmt werde.96 Dass sich in Konsequenz daraus die Anerkennung und Gleichberechtigung der neuen Sammlungsbewegung ergab, lag auf der Hand. „Jedes religiöse Erlebnis“, erklärte von Leers, müsse „unantastbar sein, auch wenn es außerhalb der Kirche sich entwickelt, auch wenn es außerhalb des Christentums vor sich geht.“97 Gedankengänge dieser Art, die er in dieser Phase in Broschüren und Aufsätzen unablässig verbreitete, blieben jedoch schlagwortartig, wenig originell und ohne Substanz. Dass dennoch mehrere seiner Diskussionsbeiträge in den vorliegenden Protokollen der Tagung in Eisenach überliefert sind, zeigt, welches Gewicht seinen Wortmeldungen zukam. Es stellt sich deshalb die Frage, für welche der Gemeinschaften er dort anwesend war, welche Positionen er in dieser Phase der Formierung der ADG vertreten hat und weshalb er noch vor ihrer Konstituierung wieder ausgeschieden ist. Irreführend ist in diesem Zusammenhang die Annahme, von Leers habe als Vertreter der „Reichsleitung der NS“ gesprochen, wie es das Protokoll der Tagung vermerkt.98 Von Leers war gewiss ein einflussreicher Nationalsozialist und prominenter Propagandist. Für wen er gerade sprach, mochte angesichts seiner zahlreichen Aktivitäten nicht immer ersichtlich sein. Ein Amt in der Partei, das die Bezeichnung im Tagungsprotokoll rechtfertigen würde, nahm er zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wahr.99 Stattdessen dürfte von Leers als Vertreter der von ihm und seiner Ehefrau geleiteten Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte in Eisenach erschienen sein, die aus der Herman - WirthGesellschaft hervorgegangen war.100 Von einem Bruch mit Wirth, den Gesine von Leers suggerierte, konnte nämlich keine Rede sein.101 Im Gegenteil : gerade 95 96 97 98

Johann von Leers, Deutschlands Stellung in der Welt, Leipzig o. J. (1933), S. 62. Ebd. Von Leers, Missbrauch der Revolution. In : Reichswart vom 9. 7. 1933. Die Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 31–38, hier 34). 99 Von Leers war im Sommer 1932 Reichsschulungsleiter des NS - Studentenbundes geworden. Vgl. Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik, Band 1, Düsseldorf 1974, S. 172; Deutsches Führerlexikon 1934/35, Berlin 1934, S. 272. Andere Ämter übte er zu diesem Zeitpunkt nicht aus. 100 Die von Nanko geäußerte Annahme, von Leers sei für die Adler und Falken in Eisenach anwesend gewesen, lässt sich dem Protokoll nicht entnehmen. Sie wird auch durch die Teilnehmerliste entkräftet. Vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 144 bzw. 332–342. 101 Gesine von Leers behauptete, sie und ihr Mann würden zu Wirth „persönlich keinerlei Beziehung mehr“ unterhalten. Gesine von Leers an Eduard Spranger vom 12. 3. 1933 (BArch, NL Spranger 1182/215).

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über Wirth dürfte das Ehepaar von Leers genauen Einblick in die internen Diskussionen und Überlegungen, etwa zur Zusammensetzung des Führerrates der ADG, erhalten haben. Unter den nach Eisenach eingeladenen Bünden und Vereinen zählte die Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte aufgrund ihrer geringen Mitgliederzahl zu den Organisationen von nachrangiger Bedeutung. Dies hielt von Leers jedoch nicht davon ab, seine Meinung im Vorfeld wie auf der Tagung entschlossen zu äußern. Dies entsprach dem Naturell des 31 - Jährigen und zeugt von seinem Selbstbewusstsein. Entgegen kam ihm dabei, dass die um einiges älteren führenden Vertreter der völkisch - religiösen Bewegung ihm mit Respekt begegneten – einerseits wohl aus Bewunderung für sein rhetorisches Talent, andererseits vermutlich deshalb, weil sie die Vortrags - und Publikationsmöglichkeiten zu schätzen wussten, die ihnen die Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte und die „Nordische Welt“ eröffneten. Selbst ein arrivierter Hochschullehrer wie Ernst Bergmann (1881–1945) bekundete, von Leers verstehe es „geradezu meisterhaft, einen historischen Sachverhalt zu entwickeln, in seinen Gründen verständlich zu machen und seinen Verlauf zu schildern“, so dass er „wahrheitsgemäß“ bekennen müsse, „dass ich ihm oft mit Bewunderung gelauscht habe“.102 Insofern hatten von Leers’ Ansichten durchaus Gewicht. Dies betrifft etwa seine schon vor der Eisenacher Zusammenkunft in Reventlows Wochenzeitung „Reichswart“ geäußerte Forderung, zu den Deutschen Christen auf Distanz zu gehen. Ihnen hielt er vor, in ihrem Kampf um die Reichskirche allenfalls „Äußerlichkeiten“ ändern zu wollen, da sie weiterhin an Altem und Neuem Testament und damit am „Fremdglauben“ festhielten.103 Im Gegensatz dazu konstatierte von Leers, dass der religiöse Aufbruch und die erwartete Abwendung vom Christentum nicht deshalb erfolgten, „weil die Menschen ‚gottlos‘ sind, sondern weil sie ein arteigenes Gotterlebnis gesucht haben und suchen, weil sie sich vom Christentum besonders wegen seiner jüdischen Grundlagen (Altes Testament und Paulus usw.) abgestoßen fühlen“.104

3.

Die Abgrenzungen gegen das Haus Ludendorff

Den Angriffen von Leers’ ausgesetzt sahen sich auch die Anhänger Erich Ludendorffs (1865–1937), dessen Vertreter von der Tagung ausgeschlossen geblieben waren. „Auch Dr. v. Lehrs [ sic !] lehnt Ludendorff ab“, hält das Protokoll in knappen Worten fest.105 Von Leers verübelte der von Ludendorff und seiner 102 Ernst Bergmann an Fritz Sauckel, Reichsstatthalter in Thüringen, vom 24. 10. 1936 (BArch, NL von Leers 2168/2, Bl. 133). 103 Von Leers, Zum religiösen Problem der Zeit, S. 16. 104 Von Leers, Missbrauch der Revolution. 105 Die Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 31–38, hier 35). Von Leers stand mit seiner Ablehnung nicht alleine. Vorbehalte gegen Ludendorff äußerten auch Hauer und Reventlow. Sie stießen sich an Ludendorffs

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Frau Mathilde (1877–1966) geführten Bewegung insbesondere die kurz zuvor verbreitete Ankündigung, einen Rechtsschutzverband Freier Nichtchristlicher Glaubensrichtungen gründen zu wollen.106 Wie Reventlow sah er darin ein konkurrierendes Unternehmen und den Versuch einer Spaltung. Übergangen wurde damit freilich, dass von Leers selbst Ludendorff erst den Anlass dazu gegeben hatte. Auslöser war seine im „Reichswart“ publizierte Klage über die „Glaubensverfolgung“ und „Vergewaltigung gottgläubiger, deutscher Nichtchristen“ sowie die „Zwangsbekehrungsversuche gegen deutschgläubige, germanische, gottgläubige Menschen“, wie sie seit dem Frühjahr eine Reihe „alter, nationalsozialistischer Mitkämpfer“ ausgesetzt gewesen seien. Weil aber ein solcher Zustand „untragbar“ sei, empfahl von Leers den „deutschen religiösen Nichtchristen [...], sich zusammenzuschließen, ihre Rechte auf religiöse Freiheit zusammen zu verteidigen – und im Übrigen rücksichtslos gegen irgendwelche ‚Zwangsbekehrer‘ und Leute, die sie bedrohen, auf Grund der garantierten Bekenntnisfreiheit Strafanzeige und Zivilklage zu erstatten“.107 Die Darstellung richtete sich zunächst gegen die vermeintlich „bösartigen“ Bestrebungen „von gewissen kirchlichen Kreisen“, die durch ihre Handlungen eine „Vergewaltigung des arteigenen Seelentums“ versuchten.108 Zwischen den Zeilen enthielt der Artikel freilich auch Kritik an Ludendorff und dessen scharfe Angriffe gegen die katholische Kirche. Es sei gewiss falsch, erklärte von Leers, „wenn von irgendwelchen begeisterten deutschgläubigen Menschen das Christentum herabgesetzt und ungerecht beurteilt wird“.109 Ergänzt wurde diese Kritik durch den erstaunlichen Hinweis von Leers’, wonach Ludendorffs rigide Ablehnung der katholischen Kirche Hitler bewogen habe, sich von seinem früheren Weggefährten zu trennen. Von Leers, der seit 1932 selbst als Autor hagiographischer Schriften über den Führer der NSDAP her vorgetreten war und sich darin als dessen treuen „Gefolgsmann“ empfahl,110 wies in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, Hitler lehne es ab, „sich in einem Kampf gegen die katholische Kirche als solche hineinziehen zu lassen, der ebenso unstaatsmännisch wie seinem persönlichen Empfinden widersprechend gewesen wäre“.111 In seinen weiteren

106 107 108 109 110

111

intrigantem Verhalten, seinem Führungsanspruch und Dogmatismus sowie dem Personenkult um seine Frau. Wirth sprach von „Selbstkult“ und „Größenwahn“. Vgl. Herman Wirth an Walther und Gesine Fischer vom 14. 12. 1929 ( BArch, NL von Leers 2168/18, Bl. 196 f.). Ludendorffs Ankündigung wird zitiert in einem Schreiben Reventlows an Hauer vom 14. 7. 1933 ( BArch, NL Hauer 1131/52, Bl. 335–337). Vgl. auch Nanko, Glaubensbewegung, S. 129. Von Leers, Missbrauch der Revolution. Ebd. Ebd. Johann von Leers, Adolf Hitler, Leipzig 1932, S. 6. Vgl. auch Johann von Leers, Kurzgefasste Geschichte des Nationalsozialismus, Berlin 1933. Zur kultischen Verehrung Hitlers vgl. Ian Kershaw, Der Hitler - Mythos, Stuttgart 1999, sowie neuerdings Ludolf Herbst, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt a. M. 2010. Von Leers, Hitler, S. 47. Zur Haltung Reventlows gegenüber Ludendorff vgl. auch Reventlow an Hauer vom 14. 7. 1933 ( BArch, NL Hauer 1131/52, Bl. 325–326).

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Veröffentlichungen während des Kirchenkampfes – etwa dem publizistischen Feldzug gegen den Münchner Kardinal Faulhaber (1869–1952), der in seinen Advents - und Silvesterpredigten zum Jahreswechsel 1933/34 Interpretationen zurückgewiesen hatte, wonach die vorchristliche Germanenzeit über alles zu loben sei, das Christentum dagegen als Ursache jeder Entartung gesehen werden müsse, und damit dem Streit um die Kulturhöhe der Germanen eine neue Dimension verlieh,112 oder den antiklerikalen Kampagnen gegen den „politischen Katholizismus“ seit Mitte der 1930er Jahre113 – legte von Leers sich eine solche Zurückhaltung der Kirche gegenüber nicht auf. Gegen Ludendorff gab es indessen auch grundsätzliche Vorbehalte. Im „Hammer“ polemisierte von Leers in einem Atemzug gegen Ludendorff und Faulhaber. Ihnen warf er vor, sie hielten – wenngleich „von sehr verschiedenen Standpunkten“ aus – „auch Christus für ‚aus Davids Stamm‘“.114 Von Leers neigte zu diesem Zeitpunkt in Anlehnung an Fritsch der Ansicht zu, bei Christus ließen sich jüdische Wurzeln zumindest „nicht nachweisen“. Unüberbrückbare weltanschauliche Gegensätze zu Ludendorff resultierten aus solchen Angriffen freilich nicht, zumal von Leers seine Positionen flexibel den politischen Erfordernissen anzupassen in der Lage war. Zu einem völligen Bruch mit Ludendorff ist es nicht gekommen.115

4.

Das Feindbild von den „jüdischen Freidenkerorganisationen“

In der Auseinandersetzung mit Ludendorff spiegelte sich ein – nicht zuletzt von taktischen Erwägungen und persönlichen Rivalitäten geprägter – Konflikt unter Völkisch - Religiösen wider. Anders gelagert war jene Kontroverse, die Hauer im Anschluss an die Tagung mit dem „Widerstand der Jungen gegen das Pastorale“ erklärte, 116 als die „Prediger der Freireligiösen Gemeinden“ auf „die ganz Jungen und Radikalen“ trafen.117 Es liegt nahe, dass mit Letzteren die Parteigänger der Nationalsozialisten gemeint waren. Kein Zweifel kann auch daran bestehen, dass von Leers zu den Wortführern dieser „radikalen Arier“, wie Hauer sie titulierte, gezählt werden muss.118 Dass Hauer später behauptete, es sei „durchaus 112 Michael Faulhaber, Judentum – Christentum – Germanentum. Adventspredigten gehalten in St. Michael zu München 1933, München 1934; Johann von Leers, Der Kardinal und die Germanen. Eine Auseinandersetzung mit Kardinal Faulhaber, Hamburg 1934. 113 Vgl. dazu sein Vorwort in Franz Rose, Mönche vor Gericht. Eine Darstellung entarteten Klosterlebens nach Dokumenten und Akten, Berlin 1939, S. 9–14. 114 Von Leers, Zum religiösen Problem der Zeit, S. 15. 115 Vgl. dazu die Rezension einer Veröffentlichung von Leers’ 1936 in der Zeitung der Ludendorffer „Am heiligen Quell“ ( S. 285–286). Die Rezension befasste sich mit Johann von Leers, Blut und Rasse in der Gesetzgebung. Ein Gang durch die Völkergeschichte, München 1936, und würdigte diese Veröffentlichung als „wertvolle Bereicherung des Schrifttums über die Rassenfrage“. 116 Jakob Wilhelm Hauer an Georg Pick vom 1. 8. 1933 ( BArch, NL Hauer 1131/55, Bl. 151–153). 117 Ebd. 118 Ebd.

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nicht maßgebend gewesen“, was „etwa von Leers sagte“, sollte die Gemüter beruhigen, konnte die Bedeutung, die von Leers hatte, aber kaum relativieren.119 Für Unmut sorgte zunächst die kontroverse Debatte, die sich am Begriff der „Geistesfreiheit“ entzündete und die vermutlich von Leers angezettelt hatte. Als sein Gegenspieler trat der evangelische Pastor Otto Petras (1886–1945) auf. Petras machte sich in der Aussprache für eine „rechtliche Achtung und Sicherung der deutschen Nichtchristen“ stark und kritisierte insbesondere die neue Reichsregierung, weil diese zu deren Schikanierung und wirtschaftlichen Schädigung „bisher geschwiegen“ habe.120 Dass Petras damit die Forderung nach „Geistesfreiheit“ verband,121 erregte das Missfallen von Leers’. Ein solcher „liberaler Begriff“ entstammte aus seinem Blickwinkel dem Sprachgebrauch jener Epoche, die durch den Nationalsozialismus überwunden sei. Dieser aber, so von Leers, garantiere „Gewissensfreiheit“ und „Bekenntnisfreiheit“.122 Die Attacke auf Petras leitete einen Rundumschlag ein, der einer anderen Gruppe galt – nämlich den „wirklich gottlosen Freidenkern“. Auch was diese Gruppe betraf, hatte von Leers Anfang Juli im „Reichswart“ Position bezogen. „Jedermann“, hieß es dort, „wird es begrüßen, dass die geistig ganz jüdischen Freidenkerorganisationen zerschlagen sind“.123 Die in Eisenach Versammelten müssten nunmehr verhindern, dass „nicht Millionen Deutscher, die sich nicht mehr zur Kirche rechnen, in den Geruch der Freidenkerei kommen“.124 Wem genau der Angriff gegolten hat, ist aus dem Protokoll nicht ersichtlich. Seine Wirkung geht freilich aus der unmittelbaren Reaktion eines Wortführers der Freireligiösen hervor, der in die Diskussion eingriff und „seine Enttäuschung“ äußerte „über die Art, wie bisher gesprochen [ worden ] sei“.125

5.

Die Machtprobe bei der Formierung des Führerrates

Zu den umstrittenen Fragen in Eisenach zählt die Bildung eines Führerrates. Hauer hatte zunächst ein Dreimännerkollegium angestrebt, dem Reventlow, Bergmann und er selbst angehören sollten. Mit seinem Vorschlag konnte er sich allerdings nicht durchsetzen. Stattdessen einigten sich die in Eisenach Anwesenden auf Druck der „Vertreter der nat[ ional ]soz[ ialistischen ] Jugend“, wie Petras im Anschluss gegenüber Hauer kritisierte, auf einen Führerrat, dem zu zwei Dritteln Mitglieder der NSDAP angehören sollten und der damit gleichgeschal119 Jakob Wilhelm Hauer an Otto Petras vom 25. 10. 1933 ( ebd., NL Hauer 1131/57, Bl. 205 f.). 120 Otto Petras an Jakob Wilhelm Hauer vom 11. 8. 1933 ( ebd., Bl. 198–204, hier 198). 121 Die Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung ( ebd., NL Hauer 1131/63, Bl. 31–38, hier 33). 122 Ebd., Bl. 34. 123 Von Leers, Missbrauch der Revolution. 124 Die Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 31–38, hier 38). 125 Ebd. Vgl. auch Nanko, Glaubensbewegung, S. 144.

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tet war.126 Erneut zeigte sich dabei die Stellung, die von Leers als Vertreter der Jungen und Radikalen einnahm, wenn er auch nicht als Vertreter von SA oder SS gelten konnte, deren Präsenz im Führerrat Lothar Stengel von Rutkowski (1908–1992) einforderte.127 Obgleich kein Mitglied des Führerrates, beteiligte er sich wie selbstverständlich an dessen erster Sitzung unmittelbar im Anschluss an die Versammlung in Eisenach und versuchte, diese in seinem Sinne zu beeinflussen. Vergeblich hatte zuvor Arthur Lahn (1891–1945) von den jugendbewegten Nordungen gefordert, jene von der Sitzung auszuschließen, die – wie von Leers – dem Führerrat nicht angehörten. So erhoben von Leers und der Rassenkundler Hans F. K. Günther (1891–1961) mit Verweis auf die „Ablehnung durch Min[ ister ] Darré“ Bedenken gegen die Aufnahme von Sophie RoggeBörner (1878–1955) in den Führerrat.128 Günther mochte als Mitglied dieses Gremiums zu einem solchen Verhalten berufen sein. Von Leers dagegen war allenfalls Gast in der Runde. Zurückhaltung schien ihm freilich nicht geboten. Auf von Leers gingen auch Vorschläge zurück, die der ADG den Charakter einer religiösen Massenorganisation gegeben hätten – etwa die Ausgabe von Mitgliedsbüchern oder die Einführung eines Mitgliedsbeitrags und einer Begräbniskasse.129 Ebenso regte er an, eine für Januar 1934 geplante Arbeitswoche „aus demonstrativen Gründen“ in Verden an der Aller durchzuführen – jenem Schauplatz also, der in völkisch - religiösen Kreisen kultischen Charakter hatte, weil dort einst, wie von Leers schrieb, durch Karl, den „Verwelschten“, und die „fränkischen Bischöfe“ das „reine Blut“ der Sachsen in einem „grauenvollen Schauspiel“ ausgelöscht worden sei.130 Dass er sich auch für die „Anwendung des Arierparagraphen auf den Führerrat“ einsetzte und die von Stengel von Rutkowski erhobene Forderung unterstützte, „dass Juden und Judenstämmlinge nicht aufgenommen werden und eine Nachprüfung des Stammbaumes von

126 Otto Petras an Jakob Wilhelm Hauer vom 2. 8. 1933 ( BArch, NL Hauer 1131/57, Bl. 198–204, hier 199). Neben von Leers wurde insbesondere auch Lothar Stengel von Rutkowski dieser Gruppe zugerechnet. Der Mediziner am Thüringer Landesamt für Rassewesen in Weimar machte im späteren Berufungsverfahren an der Universität Jena seinen Einfluss für von Leers geltend. Vgl. Lothar Stengel von Rutkowski an Johann von Leers vom 13. 6. 1938 ( UAJ, Bestand D 1868). Zu Stengel von Rutkowski vgl. Hoßfeld / Lemuth / Stutz ( Hg.), „Im Dienst an Volk und Vaterland“, S. 86–87. 127 Die Eisenacher Tagung der Deutschen Glaubensbewegung ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 31–38, hier 37). 128 1. Sitzung des Führerrates ( ebd., Bl. 68–70, hier 68). Zu Rogge - Börner vgl. Eva - Maria Ziege, Sophie Rogge - Börner : Wegbereiterin der Nazidiktatur und völkische Sektiererin im Abseits. In : Kirsten Heinsohn / Barbara Vogel / Ulrike Weckel ( Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung, Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1997, Seite 44–77. 129 1. Sitzung des Führerrates ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 68–70, hier 68). 130 Ebd. Vgl. auch Johann von Leers, Odal. Das Lebensgesetz eines ewigen Deutschland, 2. Auf lage Goslar 1936, S. 191, sowie Justus H. Ulbricht, „Heil Dir, Wittekinds Stamm“. Verden, der „Sachsenhain“ und die Geschichte völkischer Religiosität in Deutschland. In : Heimatkalender für den Landkreis Verden, Jahrbuch 1995, S. 69–123 ( Teil 1) und 1996, S. 224–267 ( Teil 2).

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jedem Mitglied erwartet wird“, ist nicht ausdrücklich vermerkt, kann aber als gesichert gelten.131

6.

Fazit

Der Aktivismus im Prozess der Formierung der Deutschen Glaubensbewegung, die trotz großer publizistischer und organisatorischer Anstrengungen als Massenorganisation nicht reüssierte und als religiöse Sammlung schließlich scheiterte, sollte für von Leers eine Episode bleiben. So sehr er sich in Eisenach auch exponiert hatte, so schnell zog er sich wieder zurück. An weiteren Sitzungen des Führerrates nahm er nicht mehr teil. Die eigentliche Gründung zu Pfingsten 1934 in Scharzfeld fand ohne ihn statt. Einer der Gründe ist gewiss in seiner Sprunghaftigkeit zu sehen, die auch Goebbels aufgefallen war. Dem Verhalten dürften allerdings auch opportunistische Motive zugrunde liegen. Gegenüber dem ( alt )völkischen Schriftsteller und ehemaligen evangelischen Pfarrer Gustav Frenssen (1863–1945) äußerte er sich 1936 skeptisch zu dem Unterfangen, dem er selbst einige Zeit seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Der Deutschen Glaubensbewegung, so von Leers im Rückblick, sei er nicht beigetreten, „weil ich kritisch dagegen bin, den lieben Gott zu organisieren und ohne ein breites festes religiöses Fundament eine große Werbung zu veranstalten.“132 Diese Bemerkung steht in einem erstaunlichen Widerspruch zum eigenen Verhalten wenige Jahre zuvor. So ist es von Leers gewesen ist, der auf der ersten Sitzung des Führerrates im Juli 1933 die Einführung einer Reihe von Instrumenten empfohlen hatte, die der Bewegung zu einem organisatorischen Gerüst verholfen hätten.133 Die Begründung Frenssen gegenüber, der gerade seine religiösen Grundsätze im Sinne einer deutschgesinnten Naturreligion veröffentlicht hatte, erscheint deshalb vorgeschoben.134 Ausschlaggebend dürfte vielmehr gewesen sein, dass die religiöse Sammlungsbewegung die in sie gesetzte Erwartung nicht erfüllte. Schon 1933 vertrat von Leers die Ansicht, dass „die Elite des deutschen Volkes“ sich im Nationalsozialismus aus einem „sicheren Instinkt“ heraus „eine Art Ersatzreligion geformt“ habe.135 Damit mochte zunächst die Hoffnung verbunden sein, die Ersatzreligion finde in der Deutschen Glaubensbewegung ihre Gestalt. Dies erklärt, weshalb ein Ideologe wie von Leers sich leidenschaftlich mit organisatorischen Fragen befassen konnte und um der Reinheit des Glau-

131 1. Sitzung des Führerrates ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 68–70, hier 68). 132 Johann von Leers an Gustav Frenssen vom 22. 4. 1936 ( SHLB, NL Frenssen, Cb 21.56: 1020, Bl. 1b ). 133 1. Sitzung des Führerrates ( BArch, NL Hauer 1131/63, Bl. 68–70, hier 69). Vgl. auch Nanko, Die deutsche Glaubensbewegung, S. 148. 134 Vgl. Gustav Frenssen, Der Glaube der Nordmark, Stuttgart 1936. Von Leers bekundete am 23. 3. 1936 Frenssen gegenüber, seine Frau und er könnten das Buch „Wort für Wort unterschreiben“ ( SHLB, NL Frenssen, Cb 21.56 : 1020, Bl. 1a ). 135 Johann von Leers, Deutschlands Stellung in der Welt, Leipzig o. J. (1933), S. 63.

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bens willen die Abgrenzung zu den als solchen erkannten weltanschaulichen Gegnern suchte. Dieser Überzeugung liegen auch die radikalen Forderungen zugrunde, mit denen er sich als überzeugter Nationalsozialist in den Prozess der Formierung der ADG einschaltete. Als abzusehen war, dass der Sammlungsbewegung die staatliche Anerkennung versagt bleiben würde, weil die Mehrheit der nationalsozialistischen Führung diesen Bestrebungen gegenüber eine ablehnende Haltung einnahm, zog er sich mit Kalkül zurück. Die Distanz zu Hauer, dessen Führungsanspruch von Leers zwar akzeptierte, dem er sich aber nicht zu unterwerfen bereit war, mag diesen Prozess ebenso beschleunigt haben wie die Tatsache, dass er sich spätestens 1935 beruf lich neu zu orientieren begann und eine Hochschullaufbahn verfolgte. Dass von Leers sich zu dieser Zeit weiterhin publizistisch in verschiedenen Organen völkisch - religiöser Provenienz äußerte, schloss dies freilich nicht aus.136 Anzeichen dafür, dass von Leers in der Frage nach der künftigen Stellung eines Priestertums 1937 eine Meinung vertreten haben könnte, die im Widerspruch zur Auffassung Himmlers oder Darrés stand, gibt es allerdings nicht. Konzessionen in dieser Frage der Weltanschauung waren nicht erforderlich. Von Leers teilte hier zweifelsohne immer den „SS-mäßigen Standpunkt“.

136 Vgl. etwa Beiträge in „Unsere Volkskirche“ ( Göttingen ), Organ der Volkskirchlichen Deutschen Glaubensbewegung; oder „Sigrune“ ( Erfurt ), Organ des Kampfbund Deutscher Glauben.

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In Erwartung der „Heiligen Wende“ – Herman Wirth im Kontext der völkisch - religösen Bewegung Ingo Wiwjorra

Um den privatgelehrten „Urgeistesgeschichtler“ Herman Wirth als Person historisch zu verorten, ist er zuallererst als Initiator des Ahnenerbes der SS zu nennen.1 Diese Einordnung greift aber zu kurz. Denn was jene hypertrophe Wissenschaftsorganisation unter der Obhut Heinrich Himmlers auszeichnete, hat mit dem, was sich Wirth von dieser 1935 gegründeten Institution ursprünglich versprach, nur partiell etwas zu tun. Für Wirth war das Ahnenerbe eigentlich und zeitlebens ein Projekt, mit dem er seine persönlichen völkisch - religiösen Vorstellungen und Ansprüche veranschaulichen und bewerben wollte. Von den frühen 1930er Jahren bis zu seinem Tod 1981 strebte er mit monomanischem Eifer nach einer Realisierung des Ahnenerbes als museale geistige Erbauungsstätte. Das Projekt scheiterte beständig an seiner wissenschaftlichen Unzulänglichkeit, an seiner Fehldimensionierung und nicht zuletzt an der Aussichtslosigkeit, eine nachhaltige Finanzierung zu organisieren. Der Laienforscher Wirth sah sich selbst als verkannter wissenschaftlicher Revolutionär, der zugleich einen völkisch - religiösen Sendungsauftrag verfolgte. Nicht vermeintliche akademische Defizite, sondern die mangelnde Einsicht in den höheren Zweck des von ihm und seinen enthusiastischen Anhängern ersehnten „Aufbruch des Nordens“2 hätten eine Verwirklichung seiner Museumspläne und Reformbestrebungen verhindert. Im Rahmen dieses Beitrages gilt es aufzuzeigen, um welche Vorstellungen und Ansprüche es sich handelt, die Wirths Unternehmungen in das Feld des Völkischreligiösen ver weisen, insbesondere soweit sie die Zeit des Nationalsozialismus betreffen.

1

2

Vgl. Michael Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974 und 2. Auflage München 2006, dort zu Wirth S. 11–16 et al.; Ulrich Nußbeck, Karl Theodor Weigel und das Göttinger Sinnbildarchiv. Eine Karriere im Dritten Reich, Göttingen 1993, S. 28–42 et al. Max Wieser, Aufbruch des Nordens. Einführung in die Forschungen Professor Herman Wirths. Vortrag, Berlin 1932. Über den Berlin - Spandauer Bibliothekar Wieser (1890– 1945 ?) und dessen völkisch - religiöses Engagement insbesondere im Sinne Wirths vgl. Gernot Kunze, Hermann Stresau und Max Wieser. Zwei Beispiele bibliothekarischen Zeitgeistes während der Nazidiktatur, Hannover 1990, S. 29, 33, 37.

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1.

Ingo Wiwjorra

Wirths Engagement zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik

Herman Felix Wirth wurde am 6. Mai 1885 in Utrecht als Sohn des aus Rheinland - Pfalz stammenden Gymnasiallehrers Ludwig Wirth und der Niederländerin Sophie Gijsberta Roeper Bosch geboren.3 Nach Kindheit und Schulbesuch begann Wirth in seiner Heimatstadt das Studium der niederländischen Philologie, Germanistik, Volkskunde und Geschichte, das er dort 1908 mit dem Staatsexamen abschloss. Seit 1909 war er Lektor für niederländische Sprache und Literatur an der Universität Berlin. 1910 wurde Wirth mit seiner Dissertation „Der Untergang des niederländischen Volksliedes“ beim Baseler Volkskundler und Volksliedforscher John Meier (1864–1953) promoviert.4 Am Ersten Weltkrieg nahm Wirth an der Seite Deutschlands freiwillig teil. Aufgrund seiner Ambitionen für den großniederländischen Gedanken fungierte er für die deutschen Behörden in Belgien, insbesondere in Gent, als Schnittstelle.5 Dieses Engagement für Kriegsziele des Deutschen Reiches trug ihm die Auszeichnung als Titularprofessor ein. Um eine Lehrbefugnis, die mit diesem Titel nicht verbunden war, sollte sich Wirth seither vergebens bemühen. Die mehrfach angestrebte Habilitation scheiterte an seiner eigenwilligen und mit akademischer Disziplin zunehmend inkompatiblen Arbeitsweise. 1916 heiratete Herman Wirth Margarethe Schmitt (1890–1978), die Tochter des kaum Prominenz erlangten Kunstmalers E. Vital Schmitt (1858–1935).6 3

4 5

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Vgl. Ingo Wiwjorra, Herman Wirth – Ein gescheiterter Ideologe zwischen „Ahnenerbe“ und Atlantis. In : Barbara Danckwortt / Thorsten Querg / Claudia Schöningh ( Hg.), Historische Rassismusforschung. Ideologen – Täter – Opfer, Hamburg 1995, S. 91– 112. Dieser Aufsatz fasste die 1988 am Friedrich - Meinecke - Institut, FU - Berlin, eingereichte, jedoch unpublizierte Magisterarbeit des Verfassers „Herman Wirth. Leben und Werk“ zusammen. Eine das weitreichende Kontaktnetzwerk abbildende und analysierende Biographie Herman Wirths existiert indessen bislang nicht. In dieser Hinsicht weiterführend, jedoch nicht hinreichend sind Eduard Gugenberger, Herman Wirth. Der Ahnerinnerer in der SS. In : Eduard Gugenberger, Boten der Apokalypse. Visionäre und Vollstrecker des Dritten Reiches, Wien 2002, S. 79–94, und der unter dem Reihentitel „Aspekt Biographie“ erschienene Band von Aat van Gilst, Herman Wirth, Soesterberg 2006. Die 2007 an der Universität Bamberg angenommene, jedoch bislang nicht publizierte Habilitationsschrift „Die skandinavischen Felsbilder in der Deutung völkischer Laienforschung. Das Beispiel Herman Wirth und sein Umfeld“ von Luitgard Löw konzentriert sich auf das Themenfeld der für das Denken Wirths zentralen Felsbildforschung. Vgl. Luitgard Löw, Völkische Deutungen prähistorischer Sinnbilder. Herman Wirth und sein Umfeld. In : Uwe Puschner / G. Ulrich Großmann ( Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 214– 232. Herman Wirth, Der Untergang des Niederländischen Volksliedes, Den Haag 1911. Vgl. Lammert Buning, Notities betreffende Hermann Felix Wirth. In : Wetenschappelijke Tijdingen, 33 (1974) 3, Sp. 141–166. Zum großniederländischen Gedanken zuletzt Lode Wils, Die Großniederländische Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Johannes Kroll ( Hg.), Nationale Bewegungen in Belgien, Münster 2005, S. 135–153. E. Vital Schmitt ist im Allgemeinen Künstlerlexikon von Thieme - Becker nicht nachgewiesen. Angaben zu seiner Person sind daher fragmentarisch. An der Königlichen

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Herman Wirth im Kontext der völkisch-religiösen Bewegung

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Seine Frau Margarethe, mit der er vier Kinder großzog, begleitete sein Schaffen mit größter Anteilnahme. Zahlreiche Äußerungen Wirths lassen auf eine Beziehung der beiden schließen, die von einer geradezu entrückten gegenseitigen Verehrung gekennzeichnet ist. Im Duktus eines mit völkischem Pathos aufgeladenen Frauenbildes7 widmete Wirth seine Publikationen „Der edlen Seherin unseres Geisteserbes“8 bzw. „Der Gefährtin meines Lebens und Werkes, meiner weisen Frau in tiefster Liebe und Dankbarkeit“9 und noch im Nachruf auf seine Frau gedachte er ihr in Worten, deren Sinn sich nur einem seiner Lehre Nahestehenden erschließt : „Lichtträger, mein Kamerad, warst Du Dein ganzes Leben, eine von den Volksmüttern, den ‚Heilrätinnen‘, – wie unser Volksaltglauben den Namen seiner geliebten Frauenberg - Mütter bis in das vergangene Jahrhundert bewahrt hat.“10 Wirths Blick auf die kulturelle Entwicklung der Neuzeit und erst recht der Moderne war von Widerwillen und Pessimismus gekennzeichnet. Bereits seine Dissertation zur niederländischen Musiktradition enthielt eine zutiefst kulturpessimistische Analyse : Eine von den Traditionen des einfachen Volkes abgehobene und hofierte „Höhenkunst“ habe das alte einheimische Liedgut fast vollkommen verdrängt und hierdurch den Prozess einer kulturellen Selbstentfremdung befördert.11 Vor dem Hintergrund dieser Anklage engagierte sich Wirth für eine Wiederbelebung jener nahezu vergessenen und angeblich verfemten volksnahen Musiktradition. Schon seit Anfang der 1910er Jahre organisierte und gab er historische Konzerte. Nach dem Ersten Weltkrieg zog er mit einer an das Vorbild des deutschen Wandelvogel angelehnten Singspielgruppe, dem auch seine Frau angehörte, über die Dörfer und präsentierte mit historischer Instrumentierung alte niederländische Volkslieder. Mit den Aufführungen

7 8 9 10 11

National- Galerie in Berlin wird Vital Schmitt im Schuljahr 1888/89 in der Fachklasse für dekorative Malerei als Assistent von Professor Max Friedrich Koch (1859–1930) angenommen ( vgl. Amtliche Berichte aus den Königlichen Kunstsammlungen, 10 (1889) 2, Sp. XXXIV ). Im Katalog der Internationalen Kunst - Ausstellung des Vereins Berliner Künstler (2. Auf lage Berlin 1891) ist er mit einem Werk aufgeführt. Seit 1897/98 führte er das „Prädikat ‚Professor‘“ ( vgl. Kunstchronik N. F., 9 (1897/98) 1, Sp. 10). Schmitt lebte bis in die 1920er Jahre in Berlin - Friedenau, später bei den Wirths. Orientierten sich seine Gemälde zunächst am Jugendstil, verarbeiteten sie später vor allem Wirths Ideenwelt. So zeigt etwas das Bild „Weltenbaum“ den mit dem Ger verwundeten Odin als Christus ( vgl. Walter Künneth / Helmuth Schreiner, Die Nation vor Gott, 1933, S. 414). Vgl. Uwe Puschner, Völkische Diskurse zum Ideologem „Frau“. In : Walter Schmitz / Clemens Vollnhals ( Hg.), Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus, Dresden 2005, S. 45–75. Herman Wirth, Der Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der atlantisch - nordischen Rasse, Textband I : Die Grundzüge, Jena 1928, Vorsatz. Herman Wirth, Heilige Wende. Ein Zeitenspiel in 6 Aufzügen, Leipzig 1933, S. 5. Herman Wirth, Ausgeleit der Gefährtin. Sommersonnenwende 1978, Thallichtenberg 1978, S. [6 f.]. Herman Wirth, Der Untergang des niederländischen Volksliedes, Den Haag, 1911, S. XI, 301, 303.

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dieses Landsbond der Dietsche Trekvogels hoffte er, ein großniederländisches Bewusstsein zu befördern und schädliche Fremdeinflüsse der Moderne abzuschütteln.12 Seit den frühen 1920er Jahren erweiterte Wirth sein Betätigungsfeld und begann Forschungen über Symbole und schriftähnliche Zeichen, die er auf prähistorischem, volkskundlichem und ethnographischem Kulturgut zu erkennen meinte. Diese von ihm als „Urschrift“ angesprochenen Bilder und Zeichen interpretierte er als Zeugnis der Religion einer atlantisch - nordischen Rasse. 1928 stellte Wirth seine Thesen in der voluminösen Publikation „Der Aufgang der Menschheit“, erschienen im Eugen Diederichs Verlag, vor.13 Daneben suchte er mit großem Engagement den öffentlichen Auftritt, nicht nur, um seine Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern um darüber hinaus für die aus ihnen angeblich resultierenden gesellschaftlichen wie religiösen Umwälzungen zu werben.14 Eine 1928 gegründete Herman - Wirth - Gesellschaft sammelte die Anhänger seiner Lehre,15 organisierte Vorträge und fungierte als Herausgeber verschiedener Schriften.16 Bereits 1925/26 war Wirth kurzzeitig Mitglied der Marburger Ortsgruppe der NSDAP. Er trat aus der Partei wieder aus, angeblich um sich als „Unparteiischer“ für die Bewegung einzusetzen.17 Dennoch verhalfen ihm 1932 Kontakte zu Vertretern der nationalsozialistischen Landesregierung von Mecklenburg zu einer weitreichenden Unterstützung seiner Vorhaben. An der Universität Rostock sollte für ihn ein Lehrstuhl für Deutsche Vorgeschichte eingerichtet werden, was jedoch am Protest der Fakultät scheiterte. Allerdings gelang es, in Bad Doberan ein Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte zu gründen, dem ein „vorgeschichtliches Riesenmuseum“ angeschlossen werden sollte.18 Mit diesem als „Freilichtschau“ angekündigten Ausstellungsprojekt verband Wirth erneut 12 Herman Wirth, Wat is en wat wil de Dietsche Trekvogel ?, Leiden 1920. 13 Der völkischen Ambitionen gegenüber sehr aufgeschlossene Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) hatte Wirth über mehrere Jahre finanziell unterstützt. Vgl. Eugen Diederichs, Offener Brief an den Staatsminister a. D. Schmitt - Ott. In : Eugen Diederichs Verlag ( Hg.), Der Fall Herman Wirth oder das Schicksal des Schöpfertums, Jena 1929, S. 3. 14 Eine in ihrer Dichte kaum überbietbare Liste der Publikationen von und über Herman Wirth bei Eberhard Baumann, Herman Wirth. Schriften, Vorträge, Manuskripte und Sekundärliteratur, Toppenstedt 1995. 15 Darunter auch die völkische Aktivistin Sophie Rogge - Börner (1878–1955). Vgl. Christiane Streubel, Radikale Nationalistinnen. Agitation und Programmatik rechter Frauen in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2006, S. 132 mit Anm. 209. 16 So etwa die Darstellung des Studienrats Siegfried Kadner, Urheimat und Weg des Kulturmenschen, Berlin 1931, die allein der Werbung und Popularisierung der Wirth’schen Interpretationen diente. 17 Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 13; Gugenberger, Wirth, S. 82. 18 Vgl. Hermann Langer, Der Mann, der mit den Medien tanzte. Zum Wirken Herman Wirths in Mecklenburg 1932/33. In : Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg - Vorpommern, 7 (2003) 2, S. 30–42; Daniel Nösler, Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte Bad Doberan. In : Ingo Haar / Michael Fahlbusch ( Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 178–182.

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die Absicht, eine Renaissance vermeintlich untergegangener Kultur zu initiieren. Die Besucher des Museums sollten mit Wirths Verständnis von der Bedeutung prähistorischer und volkskundlicher Symbolik konfrontiert und in die vermeintliche Gedankenwelt der atlantisch - nordischen Rasse und ihrer „Heiligen Urschrift der Menschheit“ einvernommen werden. Wirth hoffte bei den Besuchern eine identitätsstiftende völkisch - religiöse „Selbstbesinnung und Selbstbestimmung“ zu bewirken, der eine rigorose Abkehr vom Materialismus der westlichen Moderne und eine Rückbesinnung auf „unsere geistige Erbmasse“ folgen sollte.19 Die Instituts - und Museumspläne in Bad Doberan zerschlugen sich, nachdem – wie später noch öfters – die Diskrepanz zwischen den vorauseilenden Ansprüchen und Wünschen Wirths und den tatsächlichen Möglichkeiten für eine Unterstützung offenbar wurden.

2.

Erwartungen und Hoffnungen auf den Nationalsozialismus

Spätestens seit 1931, als sich die Kontakte zur mecklenburgischen NS - Regierung anbahnten, setzte Wirth große Erwartungen in den Nationalsozialismus. Er hoffte, in dieser politischen Bewegung die eigenen völkisch - religiösen Vorstellungen geistig beheimaten zu können. Sein 1931 erschienenes Buch „Was heißt deutsch“ enthielt nicht nur eine Kurzfassung seiner im „Aufgang der Menschheit“ publizierten Thesen, sondern war auch ein Versuch, die eigenen Ambitionen mit dem Nationalsozialismus als kompatibel darzustellen. So enthielt es beispielsweise eine Interpretation des Hakenkreuzes, das er mit Hinblick auf seine Zeichendeutungen auch als Odalskreuz bezeichnete.20 Dieses „Wahrzeichen“, das von einer „‚deutschen‘ oder Volksbewegung, der nationalsozialistischen“ geführt werde, sei ein uraltes „Sinnbild der Auferstehung“. Galt es den ‚deutschen‘ Vorfahren – „deutsch“ hier als ein pannational zu verstehender, sich auf die Nachkommen der atlantisch - nordischen Rasse beziehender Begriff – als Symbol für das wiederkehrende Licht, sei es nun „das Zeichen des Rechtes auf Selbstbestimmung eines erwachenden ‚deutschen‘ Volkes“.21 Den nachhaltigen Erfolg des Nationalsozialismus knüpfte Wirth jedoch an die Anerkenntnis seiner urreligionsgeschichtlichen Interpretationen : „Noch ist der Sinn des Odalskreuzes denjenigen, die es heute tragen, verhüllt. Sie ahnen nur ein fernes Geheimnis. Soll aber Deutschland wirklich auferstehen, erneuert werden, so muss es im Sinne verhüllten Lebens Gottes, des Odalskreuzes, geschehen. Nur dann kann Hitlers Wort Wahrheit werden, dass sein Kampf ein Kampf um die deutsche Seele ist.“22

19 Wirth, deutsch, S. 47. 20 Herman Wirth, Vom Ursprung und Sinn des Hakenkreuzes. In : Germanien, 6/1933, S. 161–166. Vgl. Wirth, deutsch, S. 55 f. 21 Wirth, deutsch, S. 53–55. 22 Ebd., S. 56. Hervorhebung im Original.

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Wirth zeigte sich in diesen Erwartungen zunächst optimistisch und unterzeichnete 1932 einen Wahlaufruf für Adolf Hitler, der im „Völkischen Beobachter“ abgedruckt wurde.23 Auch sein früheres Engagement für eine Belebung alter Musiktraditionen wollte er nun im Licht des neuen politischen Hoffnungsträgers gestellt sehen : Den Landsbond der Dietsche Trekvogels, der schon um 1920 in seinem Emblem ein Hakenkreuz führte,24 bezeichnete er eine „Bewegung mit nationalsozialistischer Zielsetzung“.25 Wirth war zwischen 1931 und 1934 publizistisch geradezu hyperaktiv, woran sich ermessen lässt, dass er sich von der heraufziehenden Epoche viel versprach und er sich für die Umsetzung der eigenen Ideen Chancen ausrechnete. Neben vielen öffentlichen Vorträgen26 sowie Aufsätzen in einschlägig dem völkischen Vorgeschichtsbild verpflichteten Zeitschriften wie „Germanien“ oder „Nordische Welt“ publizierte er nach „Was heißt deutsch“ (1931) sein zweites voluminöses Hauptwerk, „Die Heilige Urschrift der Menschheit“ (1931, 1936). Geringfügig ergänzte Neuauf lagen seines „Aufgang der Menschheit“ (1934) und von „Was heißt deutsch“ (1934) wurden gedruckt und ein Führer zu seiner im Mai 1933 in den Räumen des Berliner Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht eingerichteten Ausstellung „‚Der Heilbringer‘ Von Thule bis Galiläa und von Galiläa bis Thule“ (1933) erschien. Die dem Fälschungsvorwurf unterliegende Ura - Linda - Chronik, die angeblich von Ereignissen bis zum Untergang von Atlantis im Jahr 2193 v. Chr. berichtete und für die Wirth hartnäckig einen quellenechten Überlieferungskern behauptete,27 kam in einer umfangreich kommentierten und einer kürzeren Textausgabe (1933) heraus. Ferner gab er 1933 das Theaterstück „Heilige Wende“ in den Druck, das eine den aktuellen politischen Erwartungen Rechnung tragende Überarbeitung eines schon 1909 verfassten und 1911 in niederländischer Sprache publizierten Textes enthielt.28 Die Bemühungen Wirths trugen Früchte. Über sein eifrig gepflegtes Kontaktnetzwerk, in diesem Fall über Verbindungen zum preußischen Unterrichtsminis23 Prof. Herman Wirth für Hitler. In : Völkischer Beobachter vom 10./11. 4. 1932. 24 Wirth, Dietsche Trekvogel, Titelblatt. 25 Mit diesen Worten bei Herman Wirth, Antwort an Prof. Rudolf Bultmann. In : Oberhessische Presse vom 14. 8. 1965. Ein ähnlicher Vergleich aber schon in Wirth, Ursprung, S. 162. 26 Baumann listet allein für die Jahre 1930–1934 über 80 Vortragstermine. Jährlich hielt Wirth etwa 15 Vorträge, allein 1933 jedoch über 30. Vgl. Baumann, Wirth Schriften, S. 48–67. 27 Sibylle Mulot, Wodin, Tunis und Inka. Die Ura - Linda - Chronik. In : Karl Corino ( Hg.), Gefälscht. Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Frankfurt a. M. 1990, S. 263–275. 28 Einzelne Akteure trugen jetzt betont deutsch - germanische Namen ( anstelle biblischer ), ein auftretender Hausierer wurde als „jüdisch“ angesprochen und neue Szenen ließen deutlich erkennen, dass der völkische Aufbruch, den Wirth zu bewerben hoffte, mit seinen aktuellen Symboldeutungen korrespondierte. Vgl. Herman Wirth, Heilige Wende. Ein Zeitenspiel in 6 Aufzügen, Leipzig 1933; Herman Wirth, Hervorming en wedergeboorte. Een Nederlandsch drama in vijf bedrijven, Amsterdam 1911.

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ter Bernhard Rust (1883–1945), gelang es ihm ab Oktober 1933 als a. o. Professor an der Berliner Universität zu firmieren. Allerdings bezog er lediglich ein Gehalt und konnte auch hier die in Aussicht genommene Stelle nie wirklich antreten. Wirth nahm seine Mitgliedschaft in der NSDAP wieder auf, zog nach Michendorf bei Potsdam und gründete die „Freilichtschau und Sammlung für Geistesurgeschichte und Volkstumskunde“, die er nun in einem nahegelegenen Waldgebiet hoffte aufbauen zu können.29 Die Unterstützung durch Rust erfuhr jedoch einen Rückschlag, nachdem Alfred Rosenberg (1893–1946), der als NSChef ideologe schon in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ gegen Wirth polemisiert hatte,30 sich bei dem Minister gegen eine weitere großzügige staatliche Förderung einsetzte. Auf keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, der Nationalsozialismus definierte sich über Wirths Interpretationen.31 Neue aussichtsreiche Chancen eröffneten sich Wirth schließlich, als er im Spätherbst 1934 über den Publizisten Johann von Leers (1902–1965) den Kreis um Richard Walther Darré (1895–1953) und Heinrich Himmler (1900–1945) kennen lernte.32 Auf einer Abendgesellschaft konnte Wirth für seine Museumsplanungen begeistern, die er 1931 zunächst in Bad Doberan und dann bei Michendorf ver wirklichen wollte. Zum Kernbestand des geplanten Freilichtmuseums sollten Zeugnisse einer archaischen Symbolschriftlichkeit gehören, zu denen er insbesondere die skandinavischen Felsbilder zählte. Es kam im Juli 1935 zur Gründung des Ahnenerbe als Stiftung der SS sowie zur Einrichtung der Wirth unterstellten Pflegstätte für Schrift - und Sinnbildkunde. Bereits im August 1935 brach Wirth zu einer ersten Reise zu den skandinavischen Felsbildern auf und führte ein Jahr später eine zweite Exkursion in den Norden durch. Ziel beider Reisen war die Abformung ausgewählter Felsbilder als Gipsnegativ, um mittels dieser Abgüsse Replikate in Originalgröße herstellen zu können.33

29 Wirths Tätigkeit. In : Wort und Tat, 10 (1934) 2, S. 48 f. Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 15 mit Anm. 45. 30 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 115.–118. Auf lage München 1937, S. 27, 135 f. 31 Vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, 2. Auf lage München 2006, S. 179. 32 Johann von Leers war mit Wirths Anschauungen bestens vertraut und leitete die 1933 gegründete Gesellschaft für Germanische Ur - und Vorgeschichte mit ihrer Zeitschrift „Nordische Welt“. Die Gesellschaft, die sich anfangs ganz den Wirth’schen Ansichten verschrieben hatte, stand faktisch in der Nachfolge der nach 1933 nicht mehr in Erscheinung tretenden Herman - Wirth - Gesellschaft. 33 Vgl. Heather Pringle, The Master Plan. Himmler’s Scholars and the Holocaust, London 2006, S. 67–75.

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Wirths religionskundliches Denken – Anerkennung und Widerspruch

Die auf prähistorischen Artefakten sowie auf volkskundlichem und ethnographischem Formengut vorkommenden Zeichen und Symbole waren nach Wirths Überzeugung nicht bloßer ornamentaler Zierrat, sondern Ausdruck einer geistig - kulturellen und insbesondere religiösen Überlieferung. Während dieses Formengut in der volkstümlichen Kultur noch vielfältig lebendig wäre, seien die ursprünglichen Bedeutungsinhalte zumeist in Vergessenheit geraten. Infolge der kulturellen Entfremdungseinflüsse durch die industrialisierte Moderne drohte nun auch diesen letzten materiellen Boten ältester Geistesgeschichte der Verlust. Wirth setzte es sich zum Ziel, diese vermeintlich ältesten Spuren menschlicher Geistesgeschichte zu sammeln, zu deuten und damit die bis in die Gegenwart aufrechterhaltene „Dauerüberlieferung“ sicherzustellen und zu erneuern. Angefangen mit der Hausgiebelzier seiner engeren Heimat, mit der sich Wirth seit Anfang der 1920er Jahre beschäftigt hatte, lenkte er seine Aufmerksamkeit anschließend auf jegliche Gegenstände, die nach seiner Ansicht in dem Verdacht standen, Träger einer „urgeistesgeschichtlichen“ Überlieferung zu sein: Runen und andere Schriftsysteme, Felsbilder, Schalensteine, Schraffuren und vermeintliche Zierornamentik auf prähistorischer Keramik, Schnitzwerk, Steinstelen, Geweben oder auf Schmuck. Diese Gegenstände stammten über die engere Heimat und Europa hinaus aus allen Teilen der Welt und datierten von der Altsteinzeit bis in die Gegenwart. Wirth glaubte aus dieser bald zigtausend Stücke umfassenden Materialsammlung eine übergeordnete Idee, eine „Heilige Urschrift der Menschheit“ herauslesen zu können, da bestimmte Zeichen und Symbole – so etwa Kreis, Kreuz und insbesondere ein als Urform der Odalrune angesprochenes schlaufenförmiges Zeichen – kanonartig wiederkehrten. Die nahezu weltweite Verbreitung der Symbolik ließ ihn auf einen gemeinsamen Urheber, einen überragenden Kulturträger schließen, dessen Urheimat er im zirkumpolaren Norden lokalisierte. Eine in diesen nördlichen Breiten einst beheimatete arktisch - atlantische bzw. nordisch - atlantische Rasse sei, getrieben von eiszeitlich bedingten Klimaverschlechterungen, in südlichere Gefilde gewandert und hierbei als dominanter Kulturträger in Erscheinung getreten. Mit seiner entschiedenen Ablehnung eines „ex oriente lux“ vertrat Wirth ein für die Völkischen typisches Geschichtsbild, wenngleich die These von der polaren Urheimat eine Extremvariante der Vorstellung „ex septentrione lux“ darstellte.34 Die von Wirth gesammelten Symbole und Zeichen hätten dem elementaren Erlebnis des „Stirb und Werde“ in Zeit und Raum Ausdruck verliehen. Nicht von ungefähr schloss diese Interpretation an das im Zuge der aktuellen Popularität der Entwicklungslehre mit viel Pathos häufig zitierte „Werden und Verge-

34 Vgl. Ingo Wiwjorra, Urheimat. In : Reallexikon der germanischen Altertumskunde 35, Berlin 2007, S. 314–322.

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hen“ der Natur an.35 Den vier - oder achtfach geteilten Kreis deutete Wirth als Sinnbild eines den Jahreslauf abbildenden „Gesichtskreissonnenjahres“ im polaren Norden. Dieses heilige Wissen um das Sinken und Wiederaufsteigen der Sonne finde in einem kosmischen Heilbringer - Mythos seine Entsprechung : Das Sterben des Gottessohnes, sein Eingehen in den „Schoß der Erde“ und seine Wiedergeburt aus den „Mutterwassern“ sei ein Gleichnis ewigen Naturgeschehens.36 Diesen über die Kultsymbolik abstrahierten „Urglauben“ verstand Wirth als eine Art kosmisches Urchristentum, das lange vor Christus bereits monotheistisch war.37 Wie er bereits 1933 in seiner „urreligionsgeschichtlichen“ Ausstellung titelte, habe sich dieser „Urmonotheismus“ im Zuge der nordisch - atlantischen Südwanderungen zunächst „von Thule bis Galiläa“ verbreitet, bevor dieser als judaisiertes Christentum verfremdet in den Norden zurückkehrte.38 In diesem Kontext gehört Wirth zu den Vertretern der These vom „arischen“ Christus, wenngleich es sich hier um eine weit hergeholte Assoziation handelte. Dass „der Galiläer, Jesus von Nazareth, hinsichtlich seiner Erbmasse, unzweifelhaft als ein ‚Arier‘ anzusprechen“ sei, beruhte für Wirth dann aber auf dessen Abstammung von einem vorgeblich aus dem Norden eingewanderten Volkes, das er dem megalithischen Kulturkreis zurechnete und insofern wiederum zu den Trägern des nordischen „Lichtglaubens“ zählte.39 Ungeachtet seiner unter den Völkisch-Religiösen eher ungewöhnlichen Annahme eines „nordischen Urchristentums“ teilte Wirth den unter den Neuheiden verbreiteten Antiklerikalismus. Vermeintlich repressive Erziehungsmethoden und - ziele eines verlogenen frömmelnden Christentums kontrastierte er mit einem völkischen Freiheitsethos, das von weisen „Volksmüttern“ getragen sei. In einem Dialog seines Theaterstücks „Heilige Wende“ hieß es : „Nun aber ist das Maß voll ! Eure Zeit ist zu Ende. Merk es dir, Pfaffenkappe. Wendezeit ist 35 Vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 1998. 36 Vgl. Felix Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007, S. 155–158. 37 Vgl. Franz Winter, Die Urmonotheismustheorie im Dienst der nationalsozialistischen Rassenkunde. Herman Wirth im Kontext der religionswissenschaftlichen und ethnologischen Diskussion seiner Zeit. In : Zeitschrift für Religions - und Geistesgeschichte, 62 (2010) 2, S. 157–174. 38 Der völkische Vorgeschichtspublizist Willy Pastor (1867–1933) postulierte bereits 1907 die einstige Existenz eines „Christentums vor Christus“, das er mit einem megalithischen nordischen Sonnenglauben in Verbindung brachte. Pastor gehört auch wegen seiner 1905 publizierten Konzeption eines „nordischen Parks“ zu den Ideengebern Wirths, nahm er hiermit doch dessen Idee des Ahnenerbe als Freilichtmuseum vorweg. Vgl. Ingo Wiwjorra, Willy Pastor (1867–1933) – Ein völkischer Vorgeschichtspublizist. In : Michael Meyer ( Hg.), „... Trans Albim Fluvium“. Forschungen zur vorrömischen, kaiserzeitlichen und mittelalterlichen Archäologie. Festschrift für Achim Leube, Rahden / Westf. 2001, S. 11–24. 39 Wirth, Aufgang, S. 146. Vgl. Wolfgang Fenske, Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005, dort zu Wirth S. 149–152.

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es ! Die weise Frau wird wieder erscheinen. Sie wird das Licht und die Freiheit Gottes in den Herzen des dietschen Volkes, in den kommenden Geschlechtern, in den Kinderseelen wiedererwecken ! Und mit allen deinen Lügenmären, deinen Höllenängsten und deinen Gnadenmitteln aus dem Süden und Osten wirst du sie nicht mehr einfangen und ketten !“40 Der Frau maß Wirth im Rahmen der atlantisch - nordischen Urkultur eine prominente gesellschaftliche Position zu und klassifizierte dieses Gemeinwesen als Matriarchat.41 Dieser mutterrechtlichen Ordnung unterstellte Wirth eine die Schöpfung heiligende Friedfertigkeit, die sich von der „kriegermännerbündlicherischen“ und potentiell gewalttätigen Hybris grundlegend unterschied. Den folgenschweren Umbruch vom Matriarchat zum Patriarchat datierte Wirth bereits in die Jungsteinzeit, als die nordische Urreligion von einem „ostischen Wodanismus“ verdrängt worden sei.42 Von dieser Zeitschwelle an bis in die Gegenwart wollte Wirth einen selbstzerstörerischen Niedergang beobachten, den es umzukehren gelte.43 Die kulturelle „Selbstbesinnung“, die Wirth forderte, verstand er daher als einen fundamentalen Bruch mit einer schon Jahrhunderte andauernden Fehlentwicklung. Er forderte nicht nur die Rückwendung zu jener vermeintlich matriarchalen Gesellschaftsordnung, d. h. zu einem neuen Zeitalter der „Volksmütter“, sondern darüber hinaus eine Lebensweise nach Idealen der Lebensreform, die er bereits persönlich durch strengen Vegetarismus, Tabak und Alkoholabstinenz und materielle Enthaltsamkeit zelebrierte.44 Wirth präsentierte seine Studien mit wissenschaftlichem Anspruch, die aufgrund einer interdisziplinären Zusammenschau der Begründung einer neuen kultur wissenschaftlichen Fachrichtung, der „Urreligionsgeschichte“ oder „Urgeistesgeschichte“, dienen sollte. In den von seinen Forschungen berührten 40 Wirth, Heilige Wende, S. 134. 41 Vgl. Peter Davies, „Männerbund“ and „Mutterrecht“ : Herman Wirth, Sophie Rogge Börner and the Ura - Linda - Chronik. In : German Life and Letters, 60 (2007), S. 98–115. 42 Wirth, Aufgang, S. 177, 332. Vgl. Wirth, Ura Linda Chronik, S. 270, 304. 43 Aufgrund dieser Bewertung äußerte sich Wirth anerkennend über den Nordisten Bernhard Kummer (1897–1962), der die germanische Odins - Religion ebenfalls schon vor Einsetzen der Christianisierung als Verfallsstufe eines ursprünglichen Heidentums begriff. Vgl. Wirth, deutsch, S. 20, 59. Vgl. Wiedemann, Rassenmutter, S. 152, 155. Dessen ungeachtet kritisierte Kummer Wirth wegen dessen vermeintlich „christlicher“ Orientierung. 44 Der nationalrevolutionäre Publizist Friedrich Hielscher (1902–1990), der 1932 seinen Freund und späteren Ahnenerbe - Geschäftsführer Wolfram Sievers (1905–1948), seinerzeit noch Assistent bei Herman Wirth, in Bad Doberan besuchte, beschrieb mit unverhohlenem Spott die Zustände im Wirth’schen Hausstand. Schon beim Eintreten verhießen die „wabernden“ Gemälde von Wirths Schwiegervater E. Vital Schmitt einen geistig entrückten Lebensstil : „Dann erschien die Hausfrau, die Stirn mit einem Goldreifen geziert, während die Träger des Unterrockes oben und seine Säume unten schämig hervorlugten, weil das wallende Gewand keinen festen Schluß erlaubte. Sie reichte dem Gaste die Hand und entschwebte, während der Forscher und Gemahl eintrat und zu markigem Händedrucke bemerkte : ‚Meine Frau, die Seherin, freut sich, Sie kennenzulernen, und heißt Sie durch mich willkommen.‘“ So Friedrich Hielscher, Fünfzig Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954, S. 288–293.

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Fächern wie Archäologie, Ethnologie, Anthropologie, Indogermanistik, Religionsgeschichte usw. verfügte Wirth über eine herausragende und auch von seinen Kritikern kaum in Abrede gestellte Kenntnis selbst neuester und entlegener Fachliteratur. Wirth war daher in der Lage, in jede Fachdebatte einzusteigen, und bestritt zur Verteidigung seiner Anschauungen, so etwa zur Ura - Linda Chronik, öffentliche Aussprachen.45 Wenn sich ihm die Gelegenheit bot, suchte er einzelne Kritiker auch persönlich zu überzeugen. Über den Nordisten Gustav Neckel (1878–1940), der seinen Interpretationen zunächst ablehnend gegenüberstand, berichtet Wirth, dass dieser nach dreitägigem Insistieren endlich bereit gewesen sei, seinen Interpretationen zur Schrift - und Symbolgeschichte zu folgen.46 Seine Arbeiten erfuhren Aberdutzende von Rezensionen von Vertretern der verschiedenen betroffenen Wissenschaften.47 Zwei Sammelbände widmeten sich allein der strittigen Bedeutung seiner Thesen für die Wissenschaft.48 Mit der immensen Resonanz, die Wirth mit seinen Publikationen und Auftritten erzielte, gehört er fraglos zu den populärsten Laienforschern seiner Zeit. Diese Breitenwirkung hing sicher mit seinem unfreiwilligen Status des Privatgelehrten zusammen, der Wirth die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Grenzüberschreitung erleichterte : Während seine akademischen Kritiker dessen umfassende kulturgeschichtliche Kompilation jeweils aus der Perspektive der eigenen Methoden - und Wissensgrenzen be - und nicht selten verurteilten, konterte Wirth öffentlichkeitswirksam und nicht ohne Gelehrtendünkel mit einer fächerübergreifenden Zusammenschau, die das vermeintlich zusammenhanglose Spezialwissen unter einer umfassenden Idee ordnete. Wirth war zudem ein charismatischer Redner. In den in der Regel frei gehaltenen und von Lichtbildern begleiteten Vorträgen ließ er die gläubige Zuhörerschaft die eigene Begeisterung an seinen Entdeckungen und Deutungen spüren. Hierbei umgab er den nordischen Urglauben mit einem Pathos, mit dem er seine Zuhörer auch über Stunden in seinem Bann hielt.49 45 Sönje Storm, Die öffentliche Aussprache über Herman Wirths Ura - Linda - Chronik in Berlin (1934). In : Birgitta Almgren ( Hg.), Bilder des Nordens in der Germanistik, 1929– 1945, Stockholm 2002, S. 79–97. 46 Herman Wirth, Um den Ursinn des Menschseins. Die Werdung einer neuen Geisteswissenschaft, Wien 1960, S. 29–35. Vgl. Julia Zernack, „Wenn es sein muss, mit Härte ...“ – Die Zwangsversetzung des Nordisten Gustav Neckel 1935 und die „Germanenkunde im Kulturkampf“. In : Klaus von See / Julia Zernack, Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien : Hermann Schneider und Gustav Neckel, Heidelberg 2004, S. 113–208, hier 129 f. 47 Vgl. hierzu das Verzeichnis in Baumann, Wirth Schriften. 48 Fritz Wiegers ( Hg.), Herman Wirth und die deutsche Wissenschaft, München 1932; Alfred Bäumler ( Hg.), Was bedeutet Herman Wirth für die Wissenschaft, Leipzig 1932. 49 Von derartigen Szenen wird vor allem aus dem Umfeld seiner Anhängerschaft berichtet. Vgl. z. B. das Geleitwort seines jugendbewegten „Schülers“ Werner Georg Haverbeck (1909–1999) der Wirth um 1930 assistierte. In : Walter Drees, Herman Wirth bewies : die arktisch - atlantische Kulturgrundlage schuf die Frau, Vlotho - Valdorf o. J. (1987), unpag. vor S. 1. Haverbeck, nach 1945 Pfarrer der von der Anthroposophie

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Neben seinem Anspruch als Pionier der Urreligionsgeschichte oder Urgeistesgeschichte hatte Wirth missionarische Ambitionen zur einer grundlegenden Reform des geistig - kulturellen Selbstverständnisses. Namhafte Kritiker sahen in ihm daher weniger einen Wissenschaftler als vielmehr einen Religionsstifter. Der Hamburger Ethnologe Paul Hambruch (1882–1933) meinte sarkastisch, Wirth habe sich zum „Oberpriester“ seiner eigenen Religion gemacht.50 Der schwedische Archäologe Nils Åberg (1888–1957) hielt ihn für einen „Kulturpropheten“,51 wie auch sein deutscher Fachkollege Gustav Schwantes (1881–1960) Wirth als „Dichter oder Religionsstifter“ titulierte.52 Sogar der germanophilen Deutungen durchaus zusprechende Gustav Neckel meinte, Wirth sei „in erster Linie nicht Forscher, sondern Prophet oder Religionsstifter“.53 Derartige Distanzierungen brachten jedoch in erster Linie ein Unverständnis gegenüber Wirths weit hergeholten Interpretationen zum Ausdruck und waren durchaus nicht als Plädoyer gegen die generelle ideologische Indienstnahme der „Germanenforschung“ zu verstehen. Denn ausgerechnet jene drei letztgenannten Wissenschaftler traten im Juni 1933 als Referenten auf dem „Ersten Nordischen Thing“ auf, das der Bremer Industrielle Ludwig Roselius (1874–1943) als Tagungsauftakt für Wirths im „Haus Atlantis“ in der Böttcherstraße gastierende „Heilbringer - Ausstellung“ ausrichtete.54 Roselius hatte Wirth über mehrere Jahre finanziell unterstützt und fühlte sich seinen Ideen zutiefst verbunden,55 da sie seiner Vorstellung von einer weihevollen christlich - germanischen Renaissance ebenso entsprachen, wie die „kunstreligiösen“ Götterdämmerungsphantasien in der Nachfolge Richard Wagners (1813–1883).56

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inspirierten Christengemeinschaft, war fast lebenslang auf den Spuren Wirths unter wegs, so als Leiter des Reichsbundes für Volkstum und Heimat, als Doktorand und Habilitand des sich für Wirth aussprechenden Volkskundlers Eugen Fehrle (1880–1957) und schließlich als Organisator des sich für den „Lebensschutz“ einsetzenden Collegium Humanum in Vlotho - Valdorf, wo er 1988 für seinen Mentor eine Gedenktagung durchführte. Zur Biographie Haverbecks vgl. die für ihn eingenommene Studie von Andreas Ferch, Viermal Deutschland in einem Menschenleben. Werner Georg Haverbeck – Genie der Freundschaft, Dresden 2000, dort zu Wirth S. 21 f., 95, 146. Paul Hambruch, Die Irrtümer und Phantasien des Herrn Prof. Dr. Herman Wirth, Lübeck, 1931, S. 4 f. Nils Åberg, Herman Wirth en germansk kulturprofet. In : Fornvännen, 28 (1933), S. 246–249. Gustav Schwantes, Professor Herman Wirth und die Methodik der vorgeschichtlichen Forschung. In : Kieler Neueste Nachrichten vom 8. 2. 1931, S. 17 f. Gustav Neckel, Rezension von Herman Wirth, Was heißt deutsch ? In : Mannus, 23 (1931), S. 331 f. Ludwig Roselius ( Hg.), Erstes Nordisches Thing in der Böttcherstraße zu Bremen, Bremen 1933. Vgl. Arn Strohmeyer, Der gebaute Mythos. Das Haus Atlantis in der Bremer Böttcherstraße. Ein deutsches Mißverständnis, Bremen 1993, S. 27–43; Klaus von See, Nord Mythos und Atlantis. Ludwig Roselius und die Böttcherstrassenkultur. In : Rainer Stamm / Daniel Schreiber ( Hg.), Bau einer neuen Welt. Architektonische Visionen des Expressionismus, Köln 2003, S. 80–85. Vgl. Arn Strohmeyer, Parsifal in Bremen. Richard Wagner, Ludwig Roselius und die Böttcherstrasse, Weimar 2002, dort zu Wirth S. 134–144 et al.

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Herman Wirth im Kontext der völkisch-religiösen Bewegung

4.

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Wirths Resonanz in der völkisch - religiösen Bewegung

Für Wirth mündete das Erkennen, sich hineindenken, ja hineinfühlen in den erschlossenen monotheistischen Urglauben in gleichsam rauschhafte Zustände.57 Ebenso gerieten viele, die dem „Meister“ gebannt zuhörten, in eine Stimmung, die religiöse Züge trug. Die Auseinandersetzung mit Wirths Urreligion zielte nicht auf den Glauben an einen persönlichen Gott oder an eine heidnische Götterwelt, sondern zelebrierte die verinnerlichende Anteilnahme an einen sich in der vermeintlichen Ursymbolik abbildenden kosmischen Schöpfungs und Werdeprozess. Die Forderung einer Sakralisierung des eigenen Lebens und Denkens unter der Aura einer als religiös kontextualisierten Symbolik richtete Wirth grundsätzlich und primär an das deutsche Volk, sprich : die Nachfahren der „atlantisch nordischen Rasse“ bzw. der „nordischen Rasse“: Die „kommende wissende Jugend nordischer Rasse“ werde „den Weg zur Freiheit der Armut, zur Scholle, zur wieder geheiligten Erde Gottes, zur Heimat wiederfinden“.58 Trotz dieser begriff lichen Bezugnahme auf rassenideologisches Gemeingut, waren seine Verweise auf vermeintliche Rassenmerkmale wie Haarfarbe, Augenfarbe, Schädelformen oder Blutgruppensysteme für ihn nur interessant, sofern sich durch sie Rassengeschichte rekonstruieren ließ, um über diese wiederum Verbreitungswege der Kultsymbolik nachzuzeichnen. Größere Aufmerksamkeit als den äußeren Rassenmerkmalen widmete er daher grundsätzlich den geistigen Zeugnissen jener urzeitlichen Wanderer aus dem polaren Norden. Die ihnen zugeschriebenen religiösen Haltungen betrachtete er aber durchaus als ein an die Rasse gebundenes geistiges Erbe, an das es anzuknüpfen gelte : „Es ist einer Rasse eine bestimmte Weltanschauung angeboren, welche als geistige Erbmasse nach erfolgter rassischer oder [ und ] geistiger Mischung reinerbig immer wieder zum Durchbruch kommen muss, solange die betreffende Rasse als Bestandteil in einem Volke vorhanden bleibt.“59 In diesem Zusammenhang sprach Wirth auch von „Erberinnerung“, ein Begriff, der auf die Mnemelehre des Haeckelianers Richard Semon (1859–1918) zurückgeht und die Existenz erblich gewordener kollektiver Erinnerungen unter57 Baumann referiert aus Wirths späten Jahren über dessen eigene Ergriffenheit gegenüber dem „Urglauben“, die ihn während einer privaten Ausstellungsführung übermannt habe: „Während seiner Darlegung zum tiefen Sinn und Gehalt dieser Abbildungen konnte er es nicht verhindern, dass sich seine innere Erschütterung über diese Bilder und die sogar in ihnen noch enthaltene Heiligkeit und Göttlichkeit äußerlich sichtbar wurde, so dass er sich zur inneren Sammlung eine Zeitlang zurückziehen musste.“ Baumann deutet Wirths Zustand freilich als Indiz für erlangtes höheres Bewusstsein. Vgl. Eberhard Baumann, Der Aufgang und Untergang der frühen Hochkulturen Nord - und Mitteleuropas als Ausdruck umfassender oder geringer Selbstver wirklichung ( oder Bewußtseinsentwicklung ) dargestellt am Beispiel des Erforschers der Symbolgeschichte Professor Dr. Herman Felix Wirth, 2. Auf lage Passau 1991, S. 30. 58 Wirth, Aufgang, S. 23. 59 Ebd., S. 11.

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stellte.60 Von der Präsentation des geistigen „Ahnenerbes“ erwartete Wirth eine Art von kollektiver Erweckung, die durch Ansprache der Rassenseele ausgelöst werde. Diesen Vorgang bezeichnete Wirth absichtsvoll nicht als „Glaube“, sondern ver wendete hierfür den Begriff „Gotteserkenntnis“, die nicht auf einer außerhalb des menschlichen Vermögens liegenden Offenbarung beruhe, sondern eine aktive, allerdings „nordrassisch bedingte Geistesbewegung“ darstellte. Der von Wirth ver wendete Begriff der „Gotteserkenntnis“ korrespondierte durchaus mit der „Gotterkenntnis“ der völkischen Religionsphilosophin Mathilde Ludendorff (1877–1966). Allerdings war Wirths Vorstellung von einem nordischen Monotheismus als Prototyp des Christentums für die einschränkungslos „deutschgläubige“ Ludendorff vollkommen inakzeptabel. Sie hatte sich daher bereits 1929 vom ihm distanziert.61 Aufgrund der erheblichen Resonanz in der Wissenschaft wie auch im internen Diskurs der Völkisch - Religiösen, die Wirths Anschauungen seit 1928 erfahren hatten, war es nur konsequent, dass der Indologe und Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) im Juli 1933 unter anderem auch an Herman Wirth herantrat, sich an einer Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Glaubensbewegung ( ADG ) zu beteiligen. Hauer beabsichtigte mit der ADG, für den „Deutschen Glauben“ eine organisatorische Plattform zu schaffen und für diesen die Etablierung einer den christlichen Konfessionen gleichgestellten Körperschaft voranzutreiben.62 Wirths Beteiligung an dieser insgesamt kurzlebigen Initiative kann nur als sporadisch bezeichnet werden. Er nahm an einigen Sitzungen teil und war Mitglied des „Führerrates“, der die Prominenz der völkisch- religiösen Bewegung repräsentieren sollte. Ein Scheitern der Hauerschen Initiative war absehbar, als sich herausstellte, dass die verschiedenen Interessen und Anschauungen der beteiligten Gruppen und Personen nicht miteinander zu vereinen waren. Die völkisch - religiöse Bewegung bestand aus mehr oder minder charismatischen Solitären, von denen keiner bereit war – so auch Wirth nicht –, von den eigenen Überzeugungen substantiell abzuweichen. In der „Nordischen Zeitung“, der Monatsschrift der in Berlin ansässigen Nordisch - religiösen Arbeitgemeinschaft, hieß es in der Ausgabe vom Februar 1934 daher : „Die Einheit nordischen Glaubens kann nicht durch Kompromisse mit Freireligiösen, Halbchristen, evangelischen Freundeskreisen der ADG, urnordischen Heilsver60 Die mit den Begriffen der „Erberinnerung“ und der „Rassenseele“ verbundenen Interpretationen, insbesondere im Kontext der völkischen Ideologie, sind bislang unerforscht. Vgl. die Andeutungen bei Armin Schäfer, ... und das Wort ist Fleisch geworden. Diskurse der Biopolitik. In : Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik. Hg. von Ulrich Bröckling / Benjamin Bühler / Marcus Hahn / Matthias Schöning / Manfred Weinberg, Tübingen 2004, S. 325–340. 61 Mathilde Ludendorff, Die „Weltreligion“ von Mathilde Ludendorff. In : Deutsche Wochenschau vom 20. 1. 1929, S. 1 f. Zu Ludendorff vgl. Frank Schnoor, Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS - Staates, Kiel 1998. 62 Vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, dort zu Wirth S. 125–127 et al.

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kündern ( Wirth ) und theologisch - hierarchischen Nationalkirchlern ( Bergmann) erzwungen werden.“63 Vor allem Wirths vermeintlich „urnordisches Christentum“ erregte entschiedenen Widerspruch, insbesondere bei denjenigen Vertretern der Völkisch - Religiösen, die sich einem eher antichristlichen Selbstverständnis verpflichtet sahen: So bezeichnete der Deutschgläubige Alfred Conn (1889–1974) Wirth wegen seiner „christlichen Betätigung“ als „Schädling“ an der völkischen Idee.64 Bernhard Kummer, der von Wirth aufgrund seiner geistesver wandten Positionen zur Stellung der Frau ausdrücklich gelobt worden war,65 unterstellte Wirth, im Dienst einer „katholischen Aktion“ zu agieren, und warf ihm zudem mit antisemitischer Attitüde vor, er habe sich zur Finanzierung seiner Forschungen an „Juden verkauft“.66 Auch Mathilde Ludendorff verwahrte sich gegen dessen Vorstellung eines urnordischen Monotheismus, stünde er hiermit doch „offenbar auf dem Boden jüdischer Glaubensbewertung“. Aufgrund ihrer unbedingten Kompromisslosigkeit blieb sie zu Hauers ADG von vorn herein auf Distanz.67 Auch Wirths Versuche, sich als Interpret nationalsozialistischen Selbstverständnisses zu etablieren, schlugen fehl und scheiterten nicht nur am Einspruch des „Weltanschauungsbeauftragen“ Alfred Rosenberg, sondern auch an einer generellen Skepsis gegenüber „völkischen Schwarmgeistern“, die selbst Hitler in seiner Rede auf der Kulturtagung des Nürnberger Parteitags 1936 zum Ausdruck brachte : „Wir haben nichts zu tun mit jenen Elementen, die den Nationalsozialismus nur vom Hören und Sagen her kennen und ihn daher nur zu leicht ver wechseln mit undefinierbaren nordischen Phrasen, und die nun in irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis ihre Motivforschungen beginnen. Der Nationalsozialismus lehnt diese Art von [ Bremer ] Boettcher - Straßen Kultur schärfstens ab.“68 Die in dieser Passage für kundige Zuhörer oder Leser eindeutige Absage an eine Gegenwartsgeltung der atlantisch - nordischen Symbolinterpretationen 63 Zit. nach anonym, Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Glaubensbewegung. In : Wort und Tat, 10 (1934) 3, S. 90. 64 Zit. nach Apologetische Centrale ( Hg.), „Völkisch - religiöse Bewegung“ außerhalb der „Deutschen Glaubensbewegung“. In : Stoffsammlung für Schulungsarbeit, 29/1934, S. 4. 65 Wirth, deutsch, S. 59. Vgl. Wiedemann, Rassenmutter, S. 157. 66 Zit. nach Nanko, Glaubensbewegung, S. 126 f. Der sich ständig in Geldnöten befindliche Wirth hatte, was die Finanzierung seiner Forschung betraf, keine Berührungsängste. Er räumte selbst ein, im Jahr 1929 vom „jüdischen Ölmagnaten Julius Schindler“ unterstützt worden zu sein. Wirth war daher auch kein kompromissloser Antisemit. In der „Zionistenbewegung“, in seinen Augen durchaus eine der völkischen Idee zugehörige Tendenz, sah er die „einzige organische Lösung“ für die „Judenfrage“. Vgl. Herman Wirth, Um den deutschen Geist und die Ehre. In : Reichswart vom 4. 6. 1932. 67 Ludendorff, Weltreligion. Vgl. Nanko, Glaubensbewegung, S. 114 f. 68 Adolf Hitler, Reden des Führers am Parteitag der Ehre 1936, 3. Auf lage München 1936, S. 38. Vgl. Arie Hartog, Eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ? Zur Ideengeschichte der Böttcherstraße bis 1945. In : Projekt Böttcherstraße. Hg. von Hans Tallasch, Delmenhorst 2002, S. 340–357.

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Herman Wirths bezog sich auf deren Realitätsferne und Unvereinbarkeit mit pragmatischer Machtpolitik. Doch auch im Refugium des Ahnenerbes stieß Wirths selbstbezogene Arbeits - und Denkweise alsbald an ihre Grenzen. Bei aller Offenheit Himmlers für abstruse arische Kulturträgerthesen – wie etwa seine Sympathien für die mit der Welteislehre verbundenen Kulturwanderungsmodelle, die mit Wirths Thesen durchaus korrespondierten69 – kollidierte Wirths geldintensiver und unsystematischer Aktionismus mit den Plänen des SSReichsführers, das Ahnenerbe sukzessive zu einer elitären und seinen eigenen Vorstellungen folgenden Wissenschaftsorganisation auszubauen. Wirth wurde zunächst in die einflusslose Rolle des Ehrenpräsidenten hochgelobt, bis er 1938 die Konsequenzen zog und das Ahnenerbe verließ. Die Jahre bis 1945 fristete Wirth ein zurückgezogenes, aber auskömmliches Privatgelehrtendasein ohne Möglichkeiten zur Publikation, allerdings in stillschweigender Duldung durch Himmler.70 Herman Wirth hat nach 1945 immer wieder betont, dass es zwischen ihm und dem NS - Regime zu einem tiefgreifenden ideologischen Konflikt gekommen sei, der der eigentliche Grund für seinen Rückzug aus dem Ahnenerbe der SS gewesen sei. Auch der Verlust seiner ( sich eigentlich nur in Gehaltszahlungen niederschlagenden ) a. o. Professur in Berlin sei in Wirklichkeit eine „Amtsenthebung aus Gewissensopposition“ gewesen.71 Um seinen Standpunkt zu untermauern, ver wies Herman Wirth auf einen Brief, von dem er behauptete, ihn am 5. Dezember 1938 an Himmler gerichtet zu haben. Darin schrieb er, dass er sein Amt im Ahnenerbe zur Verfügung stelle und seine Entlassung aus der NSDAP und der SS erbitte, um dann in seine niederländische Heimat zurückzukehren. Dort wolle er sich weiter für das „‚Ewige Deutschland‘, dem Land der Denker, Dichter und Musiker“ einsetzen. Ihn hätten sowohl die gegen ihn gerichteten „Beleidigungen und Demütigungen“ als auch die „tiefste Sorge und Befürchtung“ über die momentane Entwicklung im Deutschen Reich zu diesem Entschluss bewogen. Anklagend hieß es dann : „die nochmalige extreme Zuspitzung einer staatlichen Kriegermännerbund - Ideologie als Prinzip der Macht und – der Gewalt – [ bedeutet ] nicht den Anfang eines neuen Zeitalters sondern ihr Ende [...]. Das neue Zeitalter wird den ‚Gang zu den Müttern‘ bringen, eine wieder gehobene Stellung unserer edelsten und wertvollsten Frauen in der Führung von Staat und Volk [...] und damit – wie ich hoffe – eine erlösende Sendung des deutschen Geistes in der Welt.“72 69 Nicht zufällig wurde daher auch dem Kreis der Anhänger Wirths auf diese geistige Verwandtschaft hingewiesen. Vgl. etwa Johann von Leers, Hanns Hörbiger und Herman Wirth. In : Schlüssel zum Weltgeschehen, 8 (1932), S. 1–12. Zur Welteislehre vgl. Brigitte Nagel, Die Welteislehre. Ihre Geschichte und ihre Rolle im „Dritten Reich“, 2. Auf lage Berlin 2000. 70 Kater, Ahnenerbe, S. 41, 63 f. 71 So noch im biographischen Nachschlagewerk „Wer ist Wer“ in den Jahrgängen 1955, S. 1176, und 1958, S. 1384. 72 Wirth an Himmler vom 5. 12. 1938 ( IfZ, ZS / A - 25/5, Bl. 89–91). Der Brief ist außerdem vollständig abgedruckt bei Roland Häke, Der Fall Herman Wirth – 1978–1981 –

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Herman Wirth im Kontext der völkisch-religiösen Bewegung

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Die zeitliche Authentizität des Briefes ist nicht gesichert. Angeblich habe Wirth den Brief erst „nach 1945 [...] fabriziert“, um sich nachträglich einen „Persilschein“ auszustellen. Auch enthalte der Brief nach quellenkritischen Gesichtspunkten Sätze, „die Wirth damals schwerlich hätte schreiben können“.73 Zudem befand sich das Schriftstück nur in Wirths eigenen Unterlagen und sei in keinem Archiv als Primärquelle verzeichnet. Nichts spreche dafür, dass der Brief je bei Himmler eingegangen ist.74 Ob Wirth das Schreiben tatsächlich erst nach 1945 verfasst hat, lässt sich wahrscheinlich nicht mehr aufklären. Da Wirth immer an einer Selbstinszenierung zum eigenen Vorteil gelegen war, haben die von Michael Kater und Reinhard Bollmus geäußerten Zweifel durchaus ihre Berechtigung. Dessen ungeachtet sind die Formulierungen in dem Brief ein typisches Zeugnis seiner Gedankenwelt, die über Jahrzehnte keine wesentlichen Änderungen erfahren hat. Sie sind überdies ein Beleg für seine egomane Vernarrtheit in die eigenen, jeglicher Wirklichkeitswahrnehmung enthobenen Mutterrechtsphantasien. Für diese ist zu bezweifeln, dass selbst seitens maßgeblicher NS - Stellen sie jemand als ernsthafte Opposition hätte werten wollen. Klar ist, dass Wirth spätestens nach 1938 keine Aufmerksamkeit mehr erregen konnte. Wirth blieb seiner Mission auch unabhängig von öffentlicher Anerkennung treu.

5.

Ausklang

Nach 1945 sah Wirth für sich in Deutschland keine beruf lichen Chancen. Er versuchte sein Glück zunächst in seiner niederländischen Heimat, dann in Schweden, wo er bis 1954 lebte. Danach kehrte er nach Deutschland in sein Marburger Haus namens Eresburg zurück und führte dort ein Leben als Privatgelehrter, das vor wiegend von einer treuen Anhängergemeinde wahrgenommen wurde. Unbeirrt verfolgte er unter Einsatz jeglicher Geldmittel sein Museumsprojekt und organisierte in einem bescheidenen privaten Rahmen kleinere Ausstellungen, ohne aber hierbei aus dem Umfeld seines subkulturellen Milieus heraustreten zu können. Allerdings erlangte Wirth aufgrund seiner Matriarchatsthesen und seines Eintretens für Weisheiten der Hopi - Indianer einen Anschluss an die aufkommende grün - alternative Bewegung.75

im Landkreis Kusel, oder : Das verschüttete Demokratiebewusstsein, Frauenberg b. Marburg 1981, S. 33–36. Der heute im Esoterik - Marketing tätige Häke engagierte sich seinerzeit für den greisen, dennoch nach wie vor charismatischen Wirth. 73 So laut eines Briefes Michael Katers an den seinerzeitigen SPD - Abgeordneten im Landkreis Kusel, Detlef Bojak, vom 25. 11. 1980, den Häke ( Wirth, S. 36) allerdings nur auszugsweise zitiert. 74 So in dem Leserbrief von Reinhard Bollmus, Die Irrlehre treffend gekennzeichnet. In : Rheinpfalz vom 14. 2. 1981. Zit. nach Häke, Wirth, S. 304. 75 Eduard Gugenberger / Roman Schweidlenka, Mutter Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft, 2. Auf lage Wien 1987, S. 117–128; Wiedemann, Rassenmutter, S. 194–198.

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Nach dem Tod seiner Frau (1978) siedelte Wirth nach Thallichtenberg in Rheinland - Pfalz über, wo er kurzzeitig sogar hoffen durfte, öffentliche Fördergelder für sein Museum zu erhalten. Diese Pläne zerschlugen sich nach aufgeregtem Schlagabtausch in Presse und Lokalpolitik.76 Wirth starb 96 - jährig am 16. Februar 1981. Noch heute existiert die Gesellschaft Ur - Europa e. V., die in Nachfolge der 1956 neugegründeten Herman - Wirth - Gesellschaft seit 1999 Tagungen veranstaltet und die gehaltenen Vorträge in Jahrbüchern publiziert.77 Wirths Ideen erfahren via Internet eine hohe Aufmerksamkeit und werden von einzelnen Teilen der neuheidnischen Szene sporadisch besprochen oder beworben.78 Angesichts der personellen und organisatorischen Vernetzung des gegenwärtigen Neuheidentums über alle nach wie vor bestehenden inhaltlichen Gegensätze hinweg, genießt der Name Herman Wirth in der Szene eine ungebrochene Bekanntheit. Seine Originalpublikationen erzielen nicht zuletzt aus diesem Grund im Antiquariatshandel Höchstpreise, obwohl inzwischen viele seiner Schriften im Internet aufrufbar und / oder als Reprint erhältlich sind. An erbitterte Grabenkämpfe um Wirths Anschauungen, wie sie bei den Völkisch - Religiösen noch vor und während der Zeit des Nationalsozialismus ausgetragen wurden, ist innerhalb des gegenwärtigen Neuheidentums jedoch nicht mehr zu denken.

76 Hierzu die parteinehmende Dokumentation von Häke. 77 Siehe http ://www.ur - europa.de ( letzter Zugriff : 15. 12. 2010). 78 So etwa sporadisch in den Szene - Zeitschriften „Zeitenwende“ (1994–1996) oder „Trojaburg. Zeitschrift für europäische Frühgeschichte & Mythologie“ ( seit 2005).

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Grundzüge der Erforschung germanischer Religion in der Zeit des Nationalsozialismus Debora Dusse

Es lässt sich darüber streiten, inwieweit die Zeit des Nationalsozialismus im Bereich der Wissenschaft als Einschnitt im Sinne eines Bruchs interpretiert werden kann. In jedem Fall gilt aber für die Forschungen zur germanischen Religion, dass sie sich innerhalb von weltanschaulich - ideologischen, religionspolitischen und wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen bewegten, die sich im nationalsozialistischen Staat in besonderer Weise zuspitzten. So gehören in diesen Zusammenhang das Interesse an einem Germanenbild, das vor allem ( rassen )ideologisch geprägt war, sowie neureligiös - pagane und deutsch - christliche Bestrebungen, die sich besonders in den Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung und der Deutschen Glaubensbewegung ab 1933 bzw. 1934 und im Kontext der Auseinandersetzungen im Kultur - und Kirchenkampf manifestierten. Bedeutung gewannen darüber hinaus wissenschaftspolitische Verteilungskämpfe. Die Forschungsinteressen, die sich aus dem historischen Untersuchungsgegenstand ableiteten, wie die Behandlung nordisch germanischer Mythologie oder germanischer Religionsgeschichte, verbanden sich zunehmend mit Fragen nach der Bedeutung der Themen für die Gegenwart und nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Diese Aktualisierungen wurden von einem Teil der Forscher abgelehnt, von einem größeren Teil jedoch vollzogen. Mit Blick auf die Forschung zur germanischen Religion und Kultur wurde hierbei weitgehend eine Tradition der Überbewertung alles Germanischen, der Kulturkritik und der Verknüpfung mit der Gegenwart fortgeführt, die in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte und seit Mitte der 1920er Jahre vor allem in einer Fülle an Publikationen über Germanenthemen ihren Niederschlag fand. Signifikant für diese Kontinuität ist, dass Bücher aus den 1920er Jahren in den 1930er Jahren in neuen Auf lagen erschienen. Im Folgenden sollen die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Schwerpunkte der Forschung zur germanischen Religion in der Zeit des Nationalsozialismus in ihren Grundzügen behandelt werden. Hinsichtlich der Forschungsthemen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Religionsforschung größeren Raum einnahm als die Mythenforschung. Diese Religionsforschung wurde eng mit kulturellen Konzepten wie etwa dem eines spezifischen Wertesystems, der „Sitte der Germanen“, verknüpft. Zudem erhielten einzelne

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Themen wie Schicksalsvorstellungen der Germanen, die Bekehrung zum Christentum und die Verbindung mit der Idee einer indogermanischen oder indoarischen Religion besonderes Gewicht und wurden in einer Flut von Publikationen behandelt, die sich teils an eine wissenschaftliche, teils an eine allgemeine Öffentlichkeit richtete. Die genannten Forschungsschwerpunkte können in diesem Überblick nur in Einzelaspekten behandelt werden. Ebenso können die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Forschungen zur germanischen Religion in der Zeit des Nationalsozialismus nur in Ansätzen dargelegt werden. Um die Kernfragen und die Komplexität dieses im Detail noch weitgehend unerforschten Themas zu benennen, ist der Behandlung von Forschungsfragen im engeren Sinne eine Skizze des Forschungsfeldes vorangestellt.1

1.

Voraussetzungen und Rahmenbedingungen

1.1

Zum Terminus „germanische Religion“

Der Begriff der germanischen Religion bedarf einer Erläuterung : Aus heutiger Perspektive ist er, wie auch der Forschungsgegenstand, den er bezeichnet, entschieden problematisch.2 Die Vorstellung, es habe eine germanische Religion gegeben, geht nämlich von verschiedenen Prämissen aus. Die wesentlichen sind hierbei die Gleichsetzung von Sprach - und Kulturraum, die Vorstellung von Volksreligionen und die Annahme einer weitgehenden Kontinuität religiöser Vorstellungen. Schließlich ist es zudem ein Spezifikum der Erforschung der germanischen Religion, dass sie sich immer über eine Abgrenzung vom Christentum definiert : Germanische Religion gilt im Forschungskontext in der Regel per se als vorchristlich. Doch gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Termini keineswegs einheitlich, und die Begriffsgeschichte zeigt das wechselnde Interesse am Gegenstand. Besondere Konjunktur hatte der von dem bis 1919 in Berlin lehrenden Basler Germanisten Andreas Heusler (1865–1940) geprägte Terminus des „Altgermanischen“, den dieser nicht im Sinne eines Zeitabschnitts, sondern als Bezeichnung für eine Kultur verstand.3 Diesen Begriff wählte zum 1

2 3

Grundlegende Überblicksdarstellungen sind Horst Seipp, Entwicklungszüge der germanischen Religionswissenschaft ( Von Jacob Grimm zu Georges Dumézil ), Diss. phil. Bonn 1968; Fritz Heinrich, Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus. Eine ideologiekritische und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Petersberg 2002. Ein weiteres Grundlagenwerk ist der Sammelband Horst Junginger ( Hg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden 2008. Zu dieser Problematik vgl. z. B. die Einleitung und Kapitel 9 in Bernhard Maier, Die Religion der Germanen. Götter, Mythen, Weltbild, München 2003. Vgl. etwa Andreas Heusler, Die altgermanische Religion. In : Paul Hinneberg ( Hg.), Die Kultur der Gegenwart, T. 1, Abt. 3, Band 1 : Die Religionen des Orients und die altgermanische Religion, 2. Auf lage Leipzig 1923, S. 258–272; ders., Die altgermanische Dichtung, 2. Auf lage Potsdam 1941. Vgl. Heinrich Beck, Andreas Heuslers Begriff des

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Grundzüge der Erforschung germanischer Religion

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Beispiel auch der niederländische Altnordist, Volkskundler und Religionswissenschaftler Jan de Vries (1890–1964) für seine voluminöse zweibändige „Altgermanische Religionsgeschichte“, die 1935/37 in erster Auf lage erschien und deren gleichnamige zweite Auf lage von 1956/57 bis heute als wissenschaftliches Standardwerk gilt und in ihrem Materialreichtum bisher unübertroffen ist.4 Der Begriff des „Altgermanischen“ hat sein Gegenstück im Terminus des „Junggermanischen“, der vor allem von völkisch - religiösen Gruppierungen seit den 1920er Jahren gewählt wurde, um die neue religiöse Richtung zu charakterisieren. Er dokumentiert das Kontinuitätsdenken mit Blick auf die germanische Religionsgeschichte und impliziert zugleich eine Abgrenzung, weil er die Vorstellung eines erneuerten, schlagkräftigen und vor allem zeitgemäßen sowie auf die Zukunft ausgerichteten Germanentums evoziert. Die Wortbildung zeigt zudem einerseits die Nähe paganer Gruppen zur deutschen Jugendbewegung und verweist andererseits auf revolutionäre politische Bewegungen und Gruppierungen des 19. Jahrhunderts, die ebenfalls den Namensbestandteil „jung“ führten, hierunter etwa Gruppierungen, wie „Junges Deutschland“ und „Junges Österreich“ sowie die „Jungtürken“. Ein Beispiel für diese Begriffsverwendung aus dem Kontext der völkisch - religiösen Gruppe der Nordungen ist der programmatische Band „Vom Wesen und Werden Junggermanischen Glaubens“ ( Berlin 1926), der Kampfschrift und religiöses Hausbuch zugleich ist. Er wurde verfasst von Hildulf Rudolf Flurschütz (1878–1948), dem „Weihwart“ der Gruppe. Aber auch der Religionswissenschaftler, Indologe und Gründer der Deutschen Glaubensbewegung Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) hielt an der Universität Tübingen Vorlesungen über die „junggermanische Bewegung“, so etwa im Sommersemester 1933 unter dem Titel „Die junggermanische Bewegung der Gegenwart im Zusammenhang mit der indogermanischen Glaubensbewegung“.5 Der Begriff der „junggermanischen Religion“ konkurrierte mit anderen, etwa mit dem rassenideologisch konnotierten Terminus der „nordischen Religion“ bzw. des „nordischen Glaubens“ oder Charakterisierungen wie „arteigen“, „germanisch - gläubig“ oder „deutsch - gläubig“.

4 5

„Altgermanischen“. In : Heinrich Beck ( Hg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, Berlin 1986, S. 396–412; Julia Zernack, Altertum und Mittelalter bei Andreas Heusler. In: Jürg Glauser / Julia Zernack ( Hg.), Germanentum im Fin de Siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers, Basel 2005, S. 120–145. Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Band 1 : Einleitung. Die vorgeschichtliche Zeit. Religion der Südgermanen, Berlin 1935, Band 2 : Religion der Nordgermanen, Berlin 1937. Vgl. Horst Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999, S. 322.

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420 1.2

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Gesellschaftliche Relevanz der Germanenforschung

Das Thema der germanischen Mythen und Religion war in Deutschland schon seit dem 19. Jahrhundert in den nationalen Diskurs eingebunden; seit den Anfängen der völkisch - religiösen Bewegung in Österreich in den 1880er Jahren interessierte man sich außerdem im Kontext religiöser Aktualisierungen für die historischen Formen germanischer Religion. Karl Simrocks „Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschluss der nordischen“ (1853–1855), Richard Wagners „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) und vor allem „Der Ring des Nibelungen“ (1876) sowie Felix und Therese Dahns „Walhall. Germanische Götter - und Heldensagen. Für Alt und Jung am deutschen Herd erzählt“ (1880) lassen sich als einflussreiche Beispiele für Werke anführen, die vermeintlich germanische Mythen mit nationalen Interessen verbinden. Für den Bereich der Universitäten, und hier vor allem für die wissenschaftlichen Spezialdisziplinen, die sich seit 1900 herausbildeten, erreichte die Politisierung in der Zeit des Nationalsozialismus einen spezifischen Höhepunkt. Die gestiegene Bedeutung ( oder der gestiegene Anspruch auf Bedeutung ) der akademischen Experten für das Nordisch - Germanische lässt sich als eine der Ursachen benennen. Hierbei sind vor allem die Altnordisten, die Religionshistoriker mit Schwerpunkt germanische Religion und schließlich auch die Volkskundler hervorzuheben. Deutlich reklamierte der Altnordist und Religionswissenschaftler Bernhard Kummer (1897–1962) eine „Sonderstellung“ für die Disziplin der „Germanenkunde“ : „Stärker als irgendeine andere Wissenschaft steht die Germanenkunde heute mitten im Kulturkampf unseres Volkes, im Kampf zwischen Fremdem und Heimischem, und in dem Kampf auch um Weltanschauung und Religion.“6 Konkurrenzkämpfe unter Wissenschaftlern, die in den 1930er Jahren offen ausbrachen, bezogen sich zum einen auf die Frage, wer die Deutungshoheit mit Blick auf das „Wesen des Germanischen“ hatte, zum anderen auf die raren Stellen an den Universitäten, und schließlich waren es Auseinandersetzungen, die den Möglichkeiten der Teilhabe im Rahmen der nationalsozialistischen Wissenschafts - und Kulturpolitik galten. Bekannte Protagonisten dieser Verteilungskämpfe waren etwa auf Seiten der Altnordistik Otto Höf ler (1901–1987), der bereits genannte Bernhard Kummer und Gustav Neckel (1878–1940). Die Habilitationsschrift des Wieners Otto Höf ler, 1934 unter dem Titel „Kultische Geheimbünde der Germanen“ publiziert, in der er mit primär volkskundlichen Quellen vor allem aus dem Vorstellungskreis des Wilden Heeres die Existenz von ekstatischen kriegerischen Männerbünden bei den Germanen, das heißt von Odinskriegern, zu belegen versuchte, konnte als historische Legitimation und sakrale Begründung von Kampfbünden verstanden werden. So verwundert es nicht, dass wohl bereits Höf lers Berufung nach Kiel 1934 und dann jene

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Bernhard Kummer, Germanenkunde im Kulturkampf. Beiträge zum Kampf um Wissenschaft, Theologie und Mythus des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1935, S. 3.

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nach München 1938 von Heinrich Himmler und der SS protegiert wurden.7 Dem SS - Ahnenerbe waren, um nur einige Beispiele zu nennen, neben Otto Höf ler die Zeitschrift „Archiv für Religionswissenschaft“, die ab 1936 programmatisch eine völkische Religionswissenschaft propagierte und sich schließlich der Wissenschaft vom indogermanischen Glauben verschrieb, sowie das von Jakob Wilhelm Hauer geleitete Arische Seminar an der Universität Tübingen verbunden.8 Der niederländische Altnordist, Religionswissenschaftler und Volkskundler Jan de Vries, der von 1926 bis zu seiner Entlassung wegen Kollaboration mit den Nationalsozialisten Professor für Germanisches Altertum an der Universität Leiden war, hatte 1940 im Zusammenhang mit der deutschen Okkupation der Niederlande die gesellschaftlichen Umwälzungen begrüßt.9 Er trat 1943 in die Allgemeine SS ein und arbeitete in Projekten des SS - Ahnenerbes mit.10 Bernhard Kummers Vorstellung einer friedvollen germanischen Kultur, die auch eine Kritik an einer vermeintlich folgenden ( kriegerischen ) Odinsreligion mit sich führte, welche Kummers Auffassung nach die Spätphase der germanischen Religionsgeschichte in der Zeit vor der Mission prägte, bescherte ihm die Gegnerschaft von Otto Höf ler, der Kummers Dissertation in seinem Buch „Kultische Geheimbünde der Germanen“ vernichtend kritisierte.11 Kummer hatte seine – wie Höf lers spätere Schrift stark umstrittene – von dem Religionswis7 Otto Höf ler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Band 1, Frankfurt a. M. 1934. Zu Höf ler vgl. Esther Gajek, Germanenkunde und Nationalsozialismus. Zur Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel Otto Höf lers. In : Richard Faber ( Hg.), Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 173–203, und zuletzt Julia Zernack, Nordische Philologie. In : Jürgen Elvert / Jürgen Nielsen - Sikora ( Hg.) : Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 691–713, hier 700–702. 8 Zu Jakob Wilhelm Hauers Institut und zum „Archiv für Religionswissenschaft“ vgl. Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Vgl. auch Martina Dürkop, „... er wird sehen, daß das Archiv wirklich ein Geschäft ist, wenn es richtig behandelt wird ...“ Wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Existenzkampf des ARW 1919–1939. In : Archiv für Religionsgeschichte, 1 (1999), S. 107–126. 9 Vgl. Jan de Vries, Naar een betere Toekomst, Amsterdam o. J. (1940). 10 Zu Jan de Vries vgl. Willem Hofstee, The Essence of Concrete Individuality. Gerardus van der Leeuw, Jan de Vries, and National Socialism. In : Junginger ( Hg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, S. 543–552; Anja Russ, Vries, Jan de. In : Christoph König ( Hg.), Internationales Germanistenlexikon. 1800–1950, Band 3, Berlin 2003, S. 1961–1962; Pieter J. Meertens, Jan de Vries. In : Volkskunde, 65 (1964), S. 97– 113. 11 Zu Kummer vgl. Fritz Heinrich, Bernhard Kummer (1897–1962). The Study of Religions Between Religious Devotion for the Ancient Germans, Political Agitation, and Academic Habitus. In : Junginger ( Hg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, S. 229–262. Zu Kummers Konflikt mit Höf ler und den beruf lichen Nachteilen, die Kummer hieraus erwuchsen, vgl. mit weiterführender Literatur Gajek, Germanenkunde und Nationalsozialismus, S. 185–187; Zernack, Nordische Philologie, S. 704–706; Horst Junginger, Religionswissenschaft. In : Elvert / Nielsen - Sikora ( Hg.) : Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, S. 52–86, hier 73 f. Zu Kummer und Gustav Neckel vgl. Julia Zernack, „Wenn es sein muß, mit Härte ...“ – Die Zwangsversetzung des Nordisten Gustav Neckel 1935 und die „Germanenkunde im Kulturkampf“. In : Klaus von See / Julia Zernack, Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwei Fallstudien : Hermann Schneider und Gustav Neckel, Heidelberg 2004, S. 113–208.

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senschaftler Hans Haas (1868–1934) und dem Nordisten Eugen Mogk (1854– 1939) betreute Leipziger Dissertation 1927 publiziert. Im Druck trug sie den auf Wirkung bedachten Titel „Midgards Untergang. Germanischer Kult und Glaube in den letzten heidnischen Jahrhunderten“. Sie war vor allem eine Kritik an der Christianisierung, die er als Ursache für den Untergang germanischer Kultur und Religion ansah. In zweiter und dritter Auf lage erschien die Arbeit 1935 und 1937 im Leipziger Adolf Klein Verlag und war damit in einem weltanschaulichen Umfeld verortet, das sich einer „Renaissance altnordischer Frömmigkeit“ verschrieben hatte.12 Wissenschaftlich blieb Kummer – wie vielfach konstatiert wurde – trotz seiner Position als Assistent an dem renommierten Berliner Lehrstuhl Gustav Neckels, die er zwischenzeitlich innehatte, ein Außenseiter im akademischen Milieu. Aber als Nationalsozialist, als an der Popularisierung der „Germanenkunde“ Interessierter und als religiös engagierter Forscher positionierte er sich nicht zuletzt mit seiner Bekehrungs - und Kirchenkritik, die antikatholische Züge trug, als Anhänger Alfred Rosenbergs und versuchte auch außerhalb der Universitätsdisziplinen durch Vortragstätigkeiten und Dozenturen Einfluss zu nehmen. Erst 1942 erhielt er schließlich eine Professur für „Altnordische Überlieferung und germanische Weltanschauungskunde“ an der Universität Jena. Ein Kontrahent Bernhard Kummers und anderer Vertreter einer „völkischen Religionswissenschaft“ war der Leipziger Religionswissenschaftler und Nordist Walter Baetke (1884–1978), der eine philologische Quellenkritik und religionswissenschaftliche Fragestellungen über weltanschauliche Forschungsinteressen stellte. Es erstaunt daher nicht, dass er als einziger der zeitgenössischen Wissenschaftler, die sich mit germanischer Religion beschäftigten, einen Text publizierte – „Das Heilige im Germanischen“ –, der auch heute noch Teil des religionswissenschaftlichen Kanons ist.13 Nicht nur die Tatsache, dass Baetke einen religionshistorischen Lehrstuhl an der Leipziger Theologischen Fakultät innehatte und seine Berufung mit der Hoffnung verknüpft war, mit ihm einen Forscher gewinnen zu können, der ideologischen und germanisch - deutschen Ausdeutungen der germanischen Religion etwas entgegensetzen würde, sondern vor allem auch seine wissenschaftlichen Positionen selbst machten Baetke zu einer Gegenstimme zu den Apologeten alles Germanischen.14 Vor allem argumentierte er dafür, Germanentum und Christentum nicht nur als Gegensätze zu betrachten, sondern stattdessen nach den Berührungspunkten zwischen germanischen religiösen Vorstellungen und dem Christentum zu fragen.15 Er ging hierbei von der 12 Vgl. Hans - Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920–1940, Stuttgart 1971, S. 50. 13 Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942. 14 Zu Baetke vgl. Kurt Rudolph, Fritz Heinrich, Walter Baetke (1884–1978). In : Zeitschrift für Religionswissenschaft, 9 (2001), S. 169–184; Junginger, Religionswissenschaft. In : Elvert / Nielsen - Sikora ( Hg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus, S. 52–86, hier 68–69; Julia Zernack, Die Leipziger Nordistik ( im Erscheinen ). 15 Vgl. etwa seine Ausführungen zu „germanischer Religionswissenschaft“ in : Walter Baetke, Arteigene germanische Religion und Christentum, 2. Auf lage Leipzig 1936, S. 8–11.

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Vorstellung aus, die Christianisierung sei nicht notwendiger weise als Bruch einer historischen Entwicklung zu sehen. Vielmehr habe das Christentum Antworten auf vorhandene Glaubensfragen geben können, welche die germanische Religion nicht habe bieten können.16 In Einzelfällen kann auch das religiöse oder latent religiöse Interesse von Wissenschaftlern an einem „arteigenen“, „deutschen“ oder „germanischen“ Glauben als ein gewichtiger Faktor im Rahmen der Religionsforschung hervorgehoben werden, das nach 1933 im Zuge der Auseinandersetzungen um eine „Dritte Konfession“ an Bedeutung gewann.17 Die Verbindung von wissenschaftlichem und religiös - weltanschaulichem Interesse reichte allerdings bis in die 1910er und 1920er Jahre zurück, als beispielsweise Altnordisten wie Paul Herrmann (1866– 1930) oder Bernhard Kummer im Umfeld der „Volkserzieher - Bewegung“ Wilhelm Schwaners (1863–1944) oder des paganen Rig - Kreises um die von Georg Groh herausgegebene Zeitschrift „Rig. Blätter für germanisches Weistum“ zu finden waren, die man nach dem Eddalied Rígsþula benannt hatte.18 Noch stärker allerdings war die akademisch geprägte Deutsche Glaubensbewegung19 durch ihre Anhängerschaft mit dem Bereich der Wissenschaft vernetzt. Von den genannten Forschern unterschrieben zum Beispiel Bernhard Kummer und Gustav Neckel den Aufruf an „die Männer und Frauen einer germanisch deutschen Glaubensbewegung“ für die von Jakob Wilhelm Hauer und anderen initiierte Eisenacher Tagung 1933, die zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung führte.20

16 Vgl. etwa Baetke, Arteigene germanische Religion, S. 39–40. 17 Zu verschiedenen Ausprägungen völkisch - religiöser und deutschgläubiger Konzepte vgl. die Beiträge in Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001; Stefanie von Schnurbein, Die Suche nach einer „arteigenen“ Religion in „germanisch - “ und „deutschgläubigen“ Gruppen. In : Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871– 1918, München 1999, S. 172–185. 18 Die Volkserzieher - Bewegung behandelt Christoph Carstensen, Der Volkserzieher. Eine historisch - kritische Untersuchung über die Volkserzieherbewegung Wilhelm Schwaners, Diss. Jena 1941. Zum Rig - Kreis vgl. Ulrich Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993, S. 71. 19 Zur Deutschen Glaubensbewegung vgl. Nanko, Die Deutsche Glaubensbewegung; Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962), Marburg 2005; Hiroshi Kubota, Religionswissenschaftliche Religiosität und Religionsgründung. Jakob Wilhelm Hauer im Kontext des Freien Protestantismus, Frankfurt a. M. 2005. Siehe dazu auch die Beiträge von Horst Junginger und Ulrich Nanko in diesem Band. 20 Vgl. Nanko, Deutsche Glaubensbewegung, S. 131–134.

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2.

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Das Forschungsfeld

Das Thema Forschungen zur germanischen Religion in der NS - Zeit, das sich im Spannungsfeld von Wissenschaft, paganer Religiosität, Kirche und Staat bewegte, ist bisher nur in Grundzügen bearbeitet und vor allem in seiner Komplexität nur in Ansätzen beschrieben worden.21 Dass die Erforschung der germanischen Religion in den 1930er und 1940er Jahren bisher nicht systematisch untersucht wurde, hat ganz wesentlich damit zu tun, dass der Forschungsgegenstand „Germanische Religion“ seit 1945 nur noch marginale Betrachtung findet, auch wenn in den vergangenen Jahren eine erneute Zunahme des Interesses zu beobachten ist. Aber auch innerhalb der germanischen Religionsforschung selbst zeigt sich mit Blick auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ein hohes Maß an Diskontinuität hinsichtlich der Forschungsfragen und ihrer institutionellen Anbindung, die eine systematische Bearbeitung des Themas erschwert. Hier kann exemplarisch der Wechsel des Forschungsinteresses von der Mythen - zur Religionsforschung genannt werden. In institutioneller Perspektive ist es zudem charakteristisch, dass verschiedene Disziplinen das Thema „Germanische Religion“ behandelten. Unter diesen ist vor allem die Germanistik bzw. die Nordistik zu nennen, die zunächst über ein altertumskundliches Interesse zur Religionsforschung kam. Sie stellte die Experten für die schriftlichen, in altisländischer Sprache überlieferten Quellen für die nordische Mythologie : die Liederedda und die Snorra Edda sowie die Sagaliteratur. Außerdem befassten sich die – sich im 20. Jahrhundert allmählich etablierende – Disziplin der Religionswissenschaft mit germanischer Religion, dann aber auch zunehmend Disziplinen wie die Vorgeschichtsforschung und die Volkskunde. Schließlich beteiligte sich die Theologie – vor allem im Zusammenhang mit dem Thema der Bekehrung – mit Arbeiten zur germanischen Religionsgeschichte. 21 Bisher sind in diesem Kontext vor allem Arbeiten zu einzelnen Forschern zu nennen; die Vorstellungen und Konzepte von germanischer Religion und ihre diachrone und synchrone Entfaltung sind hingegen nur für einzelne Themen, wie etwa die Konkurrenz zwischen einem religiösen und einem areligiösen Germanenbild, erforscht. Überblicksdarstellungen zur Religions - und Mythenforschung in den 1930er und 1940er Jahren, zum Teil unter Bezugnahme auf zeitgenössische religiöse Bestrebungen, finden sich in den folgenden Arbeiten : Heinrich, Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus; Julia Zernack, Germanische Restauration und Edda - Frömmigkeit. In : Richard Faber ( Hg.), Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 143– 160; Stefanie von Schnurbein, Tysk religionsforskning och religionsförnyelse i „nordisk“ anda sedan första världskriget. In : Catharina Raudvere / Anders Andrén / Kristina Jennbert (Hg.), Myter om det nordiska. Mellan romantik och politik, Lund 2001, S. 111– 126; Stefanie von Schnurbein, Nordisten und Nordglaube. Wechselwirkungen zwischen akademischen und religiösen Konzepten von germanischer Religion. In : Jürg Glauser / Julia Zernack ( Hg.), Germanentum im Fin de Siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers, Basel 2005, S. 309–325. Vgl. außerdem Klaus von See, Das Schlagwort vom „Nordischen Menschen“. In : Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 207–232; Zernack, Nordische Philologie.

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Ist die heutige Forschung über eine Rekonstruktion der Germanenbilder, welche die Forschung jener Zeit prägten und welche von dieser konstruiert wurden, bisher kaum hinausgekommen, so wurde doch in den vergangenen Jahren eine Reihe von wichtigen Einzelstudien zu Wissenschaftlern verfasst, die vor allem auch deren Beziehungen zu den Institutionen des Nationalsozialismus – hierunter zum Amt Rosenberg und zum SS - Ahnenerbe – betrachteten. Es sind hier vor allem die Arbeiten zu den Nordisten Otto Höf ler, Bernhard Kummer, Gustav Neckel, Åke Ohlmarks (1911–1984)22 und zu Jakob Wilhelm Hauer zu nennen. Die biographischen und organisationsgeschichtlichen Forschungen müssten jedoch ergänzt werden. So wäre es wichtig, die Entstehung und das Wirken einzelner Vorstellungskomplexe zu untersuchen, die in den Arbeiten der Zeit im Zentrum stehen. Darüber hinaus ist die Frage des Zusammenhangs von religiöser und wissenschaftlicher Rezeption von großer Relevanz. Unter anderem ist hier das Phänomen zu beschreiben, dass die Forscher zum einen als wissenschaftliche Experten für die Bereitstellung von Wissen zuständig waren, zum anderen aber auch „theologische Religionswissenschaft“23 betrieben und mitunter Mitglieder religiöser Gemeinschaften waren. Die Komplexität des Forschungsfeldes rührt daher, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit germanischer Religion oder dem „Germanenglauben“ in der Zeit des Nationalsozialismus von drei Aspekten bestimmt wurde : von den wissenschaftlichen Diskursen, welche die Germanenforschung in den einzelnen Disziplinen prägten, von den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und vom Verhältnis zu den virulenten religiösen Neuentwicklungen oder der Weiterentwicklung von paganen Glaubensformen, die im Umfeld der völkischen Bewegung vorgeprägt waren.24 Aus diesen Aspekten ergeben sich verschiedene Fragenkomplexe : Zunächst ist die Frage nach dem zu dieser Zeit aktuellen Stand der Germanenforschung zu stellen, dessen Rekonstruktion als Voraussetzung für eine Bewertung einzelner Forschungsergebnisse gelten muss. Als Zweites ist zu untersuchen, in welchem Ausmaß die Forscher Wissen produzierten, das für religiöse Gruppierungen, für weltanschauliche und politisch - ideologische Kontexte von Belang war – Wissen mit Blick auf das allgemeine Germanenbild, aber auch hinsichtlich der Vorstellungen von germanischer Religion. Inwieweit boten also Interpretationen germanischer Religion Möglichkeiten für zeitgenössische religiös oder weltanschaulich motivierte Aktualisierungen ? In diesem Zusammenhang wäre aus der Perspektive der religiösen Gruppierungen zu fragen, inwieweit diese die 22 Zu Åke Ohlmarks vgl. mit weiterführender Literatur Andreas Åkerlund, Åke Ohlmarks in the Third Reich. A Scientific Career between Adaption, Cooperation and Ignorance. In : Junginger ( Hg.) : The Study of Religion under the Impact of Fascism, S. 553–574. 23 Vgl. zu diesem Terminus Junginger, Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft, Kapitel II.4. 24 Zur zentralen Bedeutung von Religion für die völkische Bewegung vgl. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001.

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Deutungsangebote der Forschung tatsächlich rezipierten und in religiöse Konzepte aufnahmen und ob sich dies in der Zeit nach 1933 von früheren Phasen unterschied. Als Drittes schließlich muss der Aspekt der personellen Verflechtungen von Wissenschaft, NS - Organisationen und völkisch - religiösen Gruppierungen in den Blick genommen werden. Dort, wo Wissenschaftler in religiöse Zusammenhänge eingebunden waren, ist zu fragen, ob es ein genuin religiöses Interesse der Forscher gab, das auch ihre Arbeit prägte, und in welcher Weise sie sich am Aufbau religiöser Gruppen und Glaubensinhalte beteiligten ? Ein derart strukturiertes Forschungsfeld ist angesiedelt zwischen den Bezugspunkten Wissenschaft, völkische Religionsbildung sowie christliche Theologie und Kirche, Weltanschauung und Politik. Ein Sonderproblem der Forschungen zur germanischen Religion im Kontext von Wissenschaft, Religion und Politik in den 1930er und 1940er Jahren ist die Frage der Möglichkeiten und vor allem der Grenzen, die religiöse Aktualisierungen von Elementen vergangener Glaubensvorstellungen haben. Wenn die Situation paganer Gemeinschaften und Organisationen im Nationalsozialismus von Anbeginn an prekär war, so gab es hierfür eine Vielzahl von Gründen.25 Einer davon war das Konkurrenzverhältnis zu staatlichen Institutionen, wenn es um den Aufbau vergemeinschaftender religiöser oder religionsähnlicher Symbol und Ritualsysteme ging. Zum Teil bediente man sich derselben Tradition, und Deutungskonflikte konnten nicht ausbleiben. Ein anderer wesentlicher Grund lag in den vermeintlich sektiererischen Zügen kleinerer Gruppierungen. Mit Bezug auf germanisch - gläubige Gruppen fiel hier vor allem der „Wotanismus Vor wurf“ ins Gewicht, mit dem sich die Tradition paganer Religiosität schon von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert an konfrontiert sah. Ein frühes Beispiel ist die Beschimpfung Felix Dahns (1834–1912) als „Wotanspriester“.26 Dieser „Wotanismus - Vor wurf“ besaß noch bis in die 1930er Jahre hinein Aktualität. Mit diesem wurde paganen Gruppierungen, aber auch deutsch - gläubigen Vertretern unterstellt, sie wollten überkommene religiöse Formen, wie etwa den Glauben an Odin, wiederbeleben. Ein Teil dieses Diskurses ist auch das „Wotan ist tot“ - Diktum aus Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930). Eine in diesem Konflikt vermittelnde Position nahm Carl Gustav Jung (1875–1961) in seinem Aufsatz „Wotan“ von 1936 ein. Hier deutet er „Wotan“, von ihm als Wilder Jäger aufgefasst, als „Archetypus“ der deutschen Seele in einem nationalsozialistischen Sinn und er empfiehlt : „und [ Jakob Wilhelm ] Hauer selbst ist ergriffen von der ahnungsreichen Tiefe germanischer Urworte in einem Maße, dessen er sich früher sicherlich nie bewusst war. Das liegt weder am Indologen Hauer, noch an der Edda – denn beide hat es längst zuvor gegeben – sondern am Kairos, der jetzt eben [...] Wotan heißt. Ich würde daher der 25 Vgl. Hubert Cancik, ‚Neuheiden‘ und totaler Staat. Völkische Religion am Ende der Weimarer Republik. In : ders. ( Hg.), Religions - und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, S. 176–212; John S. Conway, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933–1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, München 1969. 26 Vgl. Felix Dahn, Erinnerungen, Band 4, Leipzig 1895, S. 597.

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deutschen Glaubensbewegung raten, nicht mehr allzu prüde zu tun. Verständige werden sie nicht mit den plumpen Wotangläubigen verwechseln, die bloß einen Glauben affektieren.“27 Schon das Beispiel des Wotanismus - Vor wurfs macht deutlich, dass das Thema in einem größeren historischen Kontext betrachtet werden muss, ist doch, um nur einen Aspekt zu nennen, das völkischreligiöse Projekt seit seinen Anfängen auch ein politisches und findet in diesem Sinne in der NS - Zeit sein Ende.

3.

Grundzüge der Erforschung germanischer Mythen und Religion

3.1

Germanische Mythen und Religion

Wenn Wilhelm Schloz (1894–1972) in seinem Beitrag „Weltanschauung des germanischen Mythos“ im siebten Heft der „Schriften zur Deutschen Glaubensbewegung“ aus dem Jahr 1936 lange vor Hans Blumenbergs Etablierung der Formel „Arbeit am Mythos“ von einer „Arbeit am germanischen Mythos“ spricht,28 so dokumentiert er ein zentrales Interesse deutsch - gläubiger und germanisch gläubiger Gruppierungen an dem sogenannten germanischen Mythos. Diese Wendung bezieht sich im Wesentlichen auf die Relikte ( vermeintlich ) germanischer Mythen, welche sich in der Überlieferung des nordischen Mittelalters erhalten haben, vor allem in der Snorra Edda, der Liederedda und der Skaldendichtung. Wichtig für das Bild, das man sich von germanischen Mythen machte, wurden darüber hinaus solche, die man aus volkskundlicher Überlieferung extrahieren zu können glaubte. Die zuletzt genannte Tradition begann bereits im 19. Jahrhundert mit Jacob Grimms „Deutscher Mythologie“ (1835)29 und wurde seit den Anfängen der völkisch - religiösen Bewegung in den 1880er Jahren zum festen Bestandteil der Mythengenerierung und auch der Ritualbildung in paganen Gruppierungen.30 Folgte die religiös - weltanschauliche Interpretation germanischer Mythen einem Interesse am Mythos, wie es das 19. Jahrhundert vorgeprägt hatte, so unterschied sie sich in diesem Punkt markant von den Forschungsfragen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts im wissenschaftlichen Diskurs dominant wurden. Spätestens in den 1910er Jahren ist der Prozess der „Entdeckung der Reli-

27 Zit. nach Carl G. Jung, Aufsätze zur Zeitgeschichte, Zürich 1946, S. 3–24, hier 22. Vgl. Petteri Pietikainen, The ‚Volk‘ and its Unconscious : Jung, Hauer and the ‚German Revolution‘. In : Journal of Contemporary History, 35/4 (2000), S. 523–539. 28 Wilhelm Schloz, Die Weltanschauung des germanischen Mythos. In : Wilhelm Schloz / Wilhelm Laiblin, Vom Sinn des Mythos, Stuttgart 1936, S. 1–75, hier 11. Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979. 29 Zu Grimms Mythenbildung vgl. z. B. die Beiträge des Bandes Tom Shippey ( Hg.), The Shadow - Walkers. Jacob Grimm’s Mythology of the Monstrous, Tempe / Ariz. 2005. 30 Vgl. z. B. Wolfgang Emmerich, Zur Kritik der Volkstumsideologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 155–161.

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gionsgeschichte“31 auch für die germanische Religionsforschung abgeschlossen,32 in dessen Verlauf die – primär philologisch basierte – Mythenforschung an Einfluss zugunsten einer Religionsforschung verlor, die Religion in ihrer historischen Dimension begreifen wollte. Dieser Paradigmenwechsel verdrängte – vor allem in den 1930er und 1940er Jahren – in den altertumskundlich orientierten Disziplinen fast gänzlich die Mythenforschung. Diese lebte in volkskundlichen Kontexten, etwa in der sogenannten Sinnbildforschung, oder in einer – auch von Carl Gustav Jung beeinflussten – typologisch orientierten Mythenforschung weiter. Für die germanische Religionsforschung kann mit wenigen Ausnahmen – deren einflussreichster Vertreter sicher Otto Höf ler war – konstatiert werden, dass sie die Arbeit an den germanischen Mythen ruhen ließ zugunsten eines Interesses an Phänomenen wie Religion, Glaube, Frömmigkeit, Kult und Religionsgeschichte.

3.2

Von der Mythologie zu Religion und Kultur

In der Erforschung der germanischen Religion ist die Verschiebung des Interesses von der Mythenforschung auf die Religionsforschung das zentrale Moment. Parallel zu dieser Verschiebung erfolgte eine Neubewertung der Quellen, im Zuge derer man die literarische Form der mythologischen Überlieferung der Liederedda und der Snorra Edda betonte und ihren Quellenwert zunehmend kritisch sah.33 Die isländische Sagaliteratur hingegen wurde aufgrund ihres vermeintlichen Realismus seit Arthur Bonus „Isländerbuch“ und Andreas Heuslers positiver Bewertung des Realitätsgehalts der Sagas – zudem unterstützt durch das Übersetzungswerk der „Sammlung Thule“ im Eugen - Diederichs - Verlag – stetig höher bewertet.34 Mit der Verlagerung des Interesses vom Mythos auf Religion und Kult ging einher, dass auch der subjektive Aspekt des Glaubens und der Frömmigkeit an Bedeutung gewann. Gleichzeitig wurde die Erforschung der Religion in einen allgemeineren kulturwissenschaftlichen Kontext eingebunden. Im Bereich der Germanistik etwa wuchs seit dem späten 19. Jahrhundert erneut das Interesse 31

Vgl. Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. 32 Der Paradigmenwechsel lässt sich schon aus der Titelgebung zentraler Werke der Forschung ablesen. Vgl. etwa Richard M. Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte, Leipzig 1910; Karl Helm, Altgermanische Religionsgeschichte I, Heidelberg 1913. 33 Vgl. etwa Eugen Mogk, Zur Bewertung der Snorra - Edda als religionsgeschichtliche und mythologische Quelle des nordgermanischen Heidentums, Leipzig 1932; und schon Eugen Mogk, Novellistische Darstellung mythologischer Stoffe Snorris und seiner Schule, Helsinki 1923. 34 Arthur Bonus, Isländerbuch, Bände 1–3, München 1907–1920. Zu Heusler vgl. Theodore M. Andersson, Heusler’s Saga Studies. In : Glauser / Zernack ( Hg.), Germanentum im Fin de Siècle, S. 194–209. Zur „Sammlung Thule“ vgl. Julia Zernack, Geschichten aus Thule. Íslendingasögur in Übersetzungen deutscher Germanisten, Berlin 1994.

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an altertumskundlichen Fragen, von denen das Fach schon seit seinen Anfängen immer wieder geprägt war. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden altertumskundliche Fragestellungen mit völkischen und rassenideologischen Fragen kombiniert, und die zu diesem Zeitpunkt primär philologisch orientierte Disziplin entwickelte sich mehr und mehr zu einer völkischen. Der Germanist Gustav Neckel ist hierfür ein gutes Beispiel, machte er sich doch zunächst vor allem einen Namen als Herausgeber der noch heute ( in Überarbeitung von Hans Kuhn ) gebräuchlichen Standardausgabe der Liederedda. Ab 1929 konzentrierte er sich dann unter den Vorzeichen einer „Germanenkunde“ mehr und mehr auf zweifelhafte Publikationen, die völkischen und rassenideologischen Anschauungen Rechnung trugen und teils auch an ein breiteres Publikum gerichtet waren. Zusätzlich engagierte sich in außeruniversitären Zirkeln. So unterstützte Neckel Herman Wirth (1885–1981) und arbeitete zum Beispiel 1933 im wissenschaftlichen Beirat von Wirths Ausstellung „Der Heilbringer“ mit. Im gleichen Jahr nahm er zudem an dem von Ludwig Roselius (1874–1943), einem Anhänger Wirths, organisierten „Nordischen Things“ in Bremen teil und unterstützte die Sammlungsbewegung, die in die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung mündete.35 Was die Forschungen zur germanischen Religion betrifft, lässt sich sagen, dass – neben der Zunahme der Publikationen und einer Tendenz, auch in den außeruniversitären Bereich hineinwirken zu wollen – in den 1930er und 1940er Jahren besondere thematische Schwerpunkte auszumachen sind. Vor allem fallen hierbei die Themen „Schicksal“ und „Bekehrung“ sowie die Zunahme rassenideologischer Anschauungen ins Gewicht. Hinzu kommt eine terminologische Verschiebung : Der Begriff der Religion wurde immer häufiger durch den Begriff des Glaubens ersetzt. Die Ursache für diesen Wechsel war – neben der Tatsache, dass man damit die Verwendung eines Fremdwortes vermeiden konnte – die Kritik an einem Religionsbegriff, der auch den Gedanken einer Bindung und Abhängigkeit von Göttern enthielt.

3.3

Germanischer Schicksalsglaube

Was die grundsätzliche Einordnung der germanischen Religion betrifft, waren in den 1930er Jahren vor allem zwei Richtungen prägend : Einflussreich war einerseits das Germanenbild Andreas Heuslers, welcher die Vorstellung eines in Wahrheit areligiösen oder zumindest freigeistig aufgeklärten Germanen vertrat, der innerhalb seiner Religion ein hohes Maß an Freiheit und innerer Unabhängigkeit bewahren konnte. Andererseits gab es die Auffassung einer durch 35 Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern, Band 1 : Text. Hg. von Gustav Neckel, 5. verbesserte Auf lage von Hans Kuhn, Heidelberg 1983. Zu Gustav Neckel und dessen Entwicklung als Wissenschaftler seit den späten 1920er Jahren vgl. Julia Zernack, „Wenn es sein muß, mit Härte ...“. In : von See, Zernack, Germanistik und Politik in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 113–202, hier 121–133.

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und durch religiös geprägten Kultur der Germanen.36 Heusler schrieb : „Unsere mangelhaften Quellen geben den Eindruck, dass dieser Glaube nicht eben viel verbot und auch nicht Schweres verlangte, auch keine mythologische Rechtgläubigkeit. Fromm war, wer opferte, den Tempelzoll zahlte, kein Heiligtum schändete und keine Spottverse auf die Götter dichtete.“37 Eingeschränkt wurde die göttliche Macht Heusler zufolge zusätzlich durch den von der Ragnarök - Vorstellung – der vor allem in der eddischen Völuspá und in der Snorra Edda überlieferten Idee vom Weltuntergang und dem Untergang der Götter – abgeleiteten Gedanken von der Übermächtigkeit des Schicksals, dem auch die Götter ausgeliefert seien. Die These eines Schicksalsglaubens der Germanen, die sich auch in dem Werk des dänischen Religionswissenschaftlers Vilhelm Grønbech (1873– 1948) findet, das in der deutschen Übersetzung von Ellen Hoffmeyer den Titel „Kultur und Religion der Germanen“ erhielt, hatte in den 1930er Jahren eine besondere Konjunktur und trug dazu bei, einem fatalistischen Heroismus Vorschub zu leisten. Mit Blick auf die germanische Kultur unterschied man zwischen der Vorstellung einer abstrakten Macht des Schicksals und den personifizierten Schicksalsmächten, die in der altnordischen Literatur in mythologischen Texten, aber auch in der Heldendichtung und in der Sagaliteratur belegt sind. Die wichtigsten Schicksalsgestalten sind die drei Nornen Urd, Verdandi und Skuld, welche den Verlauf des Lebens bestimmen ( vergleiche etwa die Wendung „norna dómr“, „das Urteil der Nornen“).38 Die Bedeutung, die man einer solchen abstrakten Schicksalsmacht beimaß, nahm in den 1930er Jahren zu. Entscheidend wurde hierbei die Tendenz, Schicksalsvorstellungen aus dem Bereich der Religion herauszulösen und zu einem Phänomen zu machen, das zwar das Leben des germanischen Menschen bestimmte und zu dem er sich zu verhalten hatte, welches aber nicht zu einem religiösen Abhängigkeitsverhältnis führen konnte, sondern im Gegenteil die Freiheit und Unabhängigkeit des germanischen Menschen nur unterstrich. Der Schicksalsgedanke wurde so eines religiösen Kontexts enthoben und zu einer primär weltanschaulichen Vorstellung.39 In besonderer Weise wird eine Verschiebung von der Vorstellung eines Schicksalsglaubens bis hin zur Idee eines Schicksalserlebnisses in einer von Bernhard Kummer in Jena betreuten Dissertation aus dem Jahr 1940 deutlich. Der Verfasser Eberhard Achterberg schreibt einleitend : „Dieser [ der ‚nordische Mensch‘] erhebt sich gerade unter den äußeren Einwirkungen des Schicksals zu seiner ganzen Größe, stei36 Zu den konkurrierenden Germanenbildern der Wissenschaft vgl. Klaus von See, Das „Nordische“ in der deutschen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts. In : Jahrbuch für Internationale Germanistik, 15/2 (1983), S. 8–38. 37 Heusler, Die altgermanische Religion, S. 262. 38 Zum Schicksalsbegriff in der altnordischen Literatur vgl. Gerd Wolfgang Weber, Wyrd. Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur, Bad Homburg 1969. Zu diesem Kontext vgl. vor allem die Einleitung, ebd., S. 9–17. 39 Vgl. auch die Charakteristik seiner Untersuchung als „ersten Versuch einer altgermanischen Philosophie“ in Hans Naumann, Germanischer Schicksalsglaube, Jena 1934, Vorwort.

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gert sich zu jenem Seelenadel und Heroismus, die zu allen Zeiten den Beweis erbrachten, dass der Mensch größer ist als sein Schicksal.“40 Die Anzahl an Publikationen mit einschlägigen Titeln ist sehr groß, sowohl in engeren universitätswissenschaftlichen als auch in populäreren Kontexten. Beispiele hierfür sind etwa die Monographien Hans Naumann „Germanischer Schicksalsglaube“ (1934), Martin Ninck „Wodan und germanischer Schicksalsglaube“ (1935), Werner Wirth „Der Schicksalsglaube in den Isländersagas“ (1940) – als erster Band der „Veröffentlichungen des Arischen Seminars“ der Universität Tübingen erschienen –, Walther Gehl „Der germanische Schicksalsglaube“ (1939) und der Aufsatz „Germanischer Schicksalsglaube“ (1934) des Leipziger Religionswissenschaftlers und Altnordisten Walter Baetke. Baetkes Auffassung unterschied sich von der Interpretation der Belege für einen germanischen Schicksalsglauben bei anderen Forschern. Er verstand die Schicksalsvorstellungen nicht als genuin germanisch, sondern vermutete, dass ein Schicksalsglaube in der Zeit der ersten Berührungen mit dem Christentum aufkam und, weil die Religion der Germanen keine Antwort auf das Problem des Schicksals gegeben habe, entweder zu einer Hinwendung zum Christentum oder zur Gottlosigkeit führte.41 Der Schluss von Baetkes Aufsatz, in dem er sich auf die altnordische Überlieferung bezieht, macht das Pathos deutlich, mit dem diese Thematik selbst von einem Forscher, der die Vorstellung des Schicksalsglaubens als wesentliche Kraft germanischer Kultur nicht teilte, behandelt wurde: „Nur von der Idee einer für den Menschen unheilvollen Schicksalsmacht her ist die germanische Tragik zu begreifen. Allerdings glüht im Dunkel des tragischen Untergangs Heldentum auf – beide bedingen ja einander, da erst das Ehrgebot die tragische Situation schafft und erst in ihr der Held sich zu voller Größe entfaltet. Aber das bedeutet keinen ‚Sieg‘ und keinen ‚sittlichen Optimismus‘. Sondern der Untergang des Helden vermittelt den Hörern des Liedes und der Saga die schmerzliche Einsicht in die tragische Beschaffenheit des Lebens, die auf dem Widerspruch zwischen Menschenwert und Schicksal beruht.“42 Die Präsenz und die Breitenwirkung des Schlagworts vom germanischen Schicksalsglauben lassen sich auch daran ablesen, dass es häufig als Vortragstitel43 oder als Thema von kürzeren Abhandlungen begegnet. Oft wurde hierbei ein Zusammenhang mit Heroismus, Krieg oder der Vorstellung einer 40 Eberhard Achterberg, Glück und Schicksal im germanischen Lebensgefühl. Eine Untersuchung über Art, Vorkommen und Bedeutung der altnordischen Worte für Glück und Schicksal in den Islendinga sögur, Diss. Jena 1940, S. 4. 41 Walter Baetke, Germanischer Schicksalsglaube. In : Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 10 (1934), S. 226–236, hier 229. Dieser Auffassung wurde vielfach widersprochen. Vgl. z. B. Hans F. K. Günther, Frömmigkeit nordischer Artung, Jena 1934, S. 19. 42 Baetke, Germanischer Schicksalsglaube, S. 236. Vgl. als ein weiteres, spätes Beispiel für die zentrale Stellung der Schicksalsthematik auch Jan de Vries, Die geistige Welt der Germanen, 2. Auf lage Halle 1945, S. 117. 43 Vgl. als einen Titel unter vielen Gunnar Gunnarsson, Nordischer Schicksalsgedanke. Eine Rede, München 1936.

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„Schicksalsgemeinschaft“ hergestellt. So erschien etwa 1934 in der Reihe „Die Welt der Germanen“ eine Schrift des Altnordisten Wolfgang Mohr (1907–1991) über „Schicksalsglauben und Heldentum“. In diesem Text wird die Auffassung deutlich, dass der Schicksalsgedanke als „Lebensgefühl“ grundlegend für die Kultur sei : „Schicksalsbewusstsein ist ein vorreligiöses und vorethisches Lebensgefühl; es kann sich in religiöser Weise äußern, als Glaube, aber es kann ebensowohl in den Handlungen des tätigen Menschen zum Vorschein kommen, als planender Entschluss.“44 Dem Heroismus verpflichtet ist ebenfalls der bereits 1926 publizierte Vortrag Karl Helms (1871–1960) mit dem Titel „Schicksal und Heldentum“, eine Rede zur „akademischen Feier der Reichsgründung“. Sie ist von dem Gedanken einer Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes geprägt, der in der Folge der Niederlage des Ersten Weltkriegs wirkungsmächtig wurde, und kulminiert in den Worten : „Sie aber werden ihn [ den neuen Tag ] sehen, wenn Sie in all Ihrem Handeln nie vergessen, dass jedes Volk schließlich nur das Schicksal hat, das es sich selbst schafft : ein kleines, wenn seine Männer und Frauen aufgehen im Kleinen, ein großes, wenn sie mit ehrlichem Wollen und in heldischer Selbstverleugnung großen Zielen leben.“45 Dieser Text dokumentiert die Tradition des Schicksalsthemas im nationalen Diskurs und im akademischen Kontext. Die Flexibilität des Themas unter anderen politischen Vorzeichen stellte dann vor allem Alfred Rosenberg unter Beweis, der den germanischen Schicksalsgedanken einerseits – auch unter Verweis auf die Ragnarök - Vorstellung – schon in seinem „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ behandelte, andererseits später, im Jahr 1940, die Losung von der „Nordischen Schicksalsgemeinschaft“ Deutschlands und Skandinaviens propagierte.46

3.4

Die religiös geprägte Kultur der Germanen

Dem freidenkerisch - freireligiösen Germanenbild stand eine Auffassung gegenüber, welche Religion als wesentlichen Bestandteil der Kultur der Germanen sah. Auch diese Vorstellung einer religiös fundierten Kultur der Germanen wirkte über den Bereich der Forschung hinaus und war etwa in paganen oder deutsch - gläubigen Kontexten von Bedeutung. Großen Einfluss auf das Germanenbild jener Zeit hatte die Gesamtschau des Dänen Vilhelm Grønbech, die ihre Wirkung nicht zuletzt durch ihre suggestive Sprache entfaltete. Seine Arbeit zu „Kultur und Religion der Germanen“ – der dänische Titel lautet „Vor Folkeæt i Oldtiden“ ( Unser Volksstamm im Altertum ) – war in den Jahren 1909 bis 1912 in vier Bänden erschienen. Große Verbreitung fanden Grønbechs Vorstellungen unter anderem durch ihre Rezeption in Jan de Vries’ „Altgermanische[ r ] Reli44 Wolfgang Mohr, Schicksalsglauben und Heldentum, Leipzig 1934, S. 4. 45 Karl Helm, Schicksal und Heldentum. Rede zur akademischen Feier der Reichsgründung am 18. Januar 1926, Marburg 1926, S. 27 f. 46 Vgl. Alfred Rosenberg, Nordische Schicksalsgemeinschaft. Rede des Reichsleiters Alfred Rosenberg vor der in - und ausländischen Presse in Berlin am 9. Juli 1940, Mainz 1941.

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gionsgeschichte“ von 1935 bis 1937, die als das zweite religionshistorische Hauptwerk der 1930er Jahre gelten kann.47 Vor allem aber die von Otto Höf ler 1937 bis 1939 herausgegebene deutsche Fassung von Grønbechs Werk wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt für viele Untersuchungen zur germanischen Religionsgeschichte, die in den 1930er Jahren in Deutschland erschienen.48 Anders als der Titel der deutschen Übersetzung „Kultur und Religion der Germanen“ nahelegt, behandelte Grønbech selbst – vor dem Hintergrund eines primär ethnologischen Interesses – Kultur und Religion jedoch nicht als gleichwertige Einheiten, sondern verstand Religion als Teilbereich einer Kultur, die er für die Germanen durch die Begriffe Sippe, Ehre, Frieden und Heil („æt“, „ære“, „fred“, „lykke“) bestimmt sah. Grønbech stützte sich hierbei überwiegend auf die Quellen der Sagaliteratur. Er beeinflusste mit seinem Werk gerade Forscher, die ein besonderes Augenmerk auf die religiösen Verhältnisse der Germanen legten. Zu diesen gehörten vor allem Bernhard Kummer und sein Gegner Otto Höf ler, der SS - nahe Propagandist germanischer Männerbünde und eines aus der katholischen Tradition gespeisten religiösen Germanenbildes.49 Otto Höf ler hob in seiner Besprechung für die Ahnenerbe - Zeitschrift „Germanien“ zudem das ganzheitliche, an der Idee der Gemeinschaft orientierte Konzept Grønbechs hervor : „Es ist das ganz besondere Verdienst Grönbechs [ sic !], dass er die gesamte Kulturentwicklung von der Gemeinschaft her sieht, nicht vom losgelösten Individuum aus. Das ist bei ihm nicht nur Programm geblieben [...]. Gerade in dieser Hinsicht ist Grönbechs Geschichtsdarstellung schlechthin revolutionär und leitet nach einer jahrzehntelangen Vorherrschaft individualistischer Betrachtungsweisen eine neue Epoche der Forschung ein.“ Höf ler schließt seine Rezension mit folgender Aktualisierung : „Wir glauben, dass Grönbech [ sic !] Werk eine neue Epoche nicht nur unserer theoretischen ‚Selbsterkenntnis‘, sondern auch unseres Selbst-

47 De Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, Band 1, S. 325 und 92. Vgl. A. D. Kylstra, Jan de Vries und die erste Auf lage seiner „Altgermanischen Religionsgeschichte“. In : Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik, 29 (1989), S. 97–108. Die Bedeutung, die den Werken von Grønbech und de Vries in Deutschland beigemessen wurde, dokumentiert zum Beispiel ihre Behandlung in : Herbert Grabert, Zwischen völkischer und konfessioneller Geschichtsbetrachtung. In : Nationalsozialistische Monatshefte, 8/9 (1937), S. 827–834. 48 Die erweiterte englische Ausgabe war bereits 1931 unter dem Titel „The Culture of the Teutons“ erschienen. Zur Aufnahme in Deutschland vgl. Heinrich Beck, Zur Rezeption von Vilhelm Grønbechs Werk im deutschen Sprachraum. In : Oskar Bandle / Jürg Glauser / Stefanie Würth ( Hg.), Verschränkung der Kulturen. Der Sprach - und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans - Peter Naumann, Tübingen 2004, S. 331–350; Wolfgang Behringer, Das „Ahnenerbe“ der Buchgesellschaft. Zum Neudruck einer Germanen - Edition des NS Ideologen Otto Höf ler. In : Sowi, 27 (1998) 4, S. 283–289. 49 Selbst die Herausgabe von Grønbechs Buch auf deutsch wird als Ausdruck des Konkurrenzverhältnisses zwischen Höf ler und Kummer gesehen. Vgl. Gajek, Germanenkunde und Nationalsozialismus, S. 185, Anm. 88.

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bewusstseins einleiten wird. Wer es mit offenem Sinn liest, dem wird das germanische Altertum nahekommen wie nie zuvor.“50 Besonders die Begriffe „Midgard“ und „Utgard“, von Grønbech als Charakterisierungen einer zeitlosen Grundkonstellation der Lebenswelt des germanischen Menschen verstanden, hatten durch Bernhard Kummers programmatisches Werk „Midgards Untergang“ (1927) ein Nachleben in der deutschen Forschung – vor allem in den sich daran anschließenden wissenschaftlichen und persönlichen Kontroversen, in deren Zentrum Bernhard Kummer und Otto Höf ler standen. Kummers historische Deutung „Midgards“ als die vorletzte, friedvolle Phase des Spätheidentums vor dem Odinglauben und der Christianisierung ist ein zentraler, wenn auch umstrittener Beitrag zur Bekehrungsthematik. Dieses von den feindlichen Mächten „Utgards“ bedrohte „Midgard“ sah er durch die Mission zerstört. Die Frage nach der Beurteilung der Folgen der Christianisierung für die germanische Kultur wurde neben der Schicksalsthematik seit Mitte der 1920er Jahre und vor allem dann in den 1930er Jahren zu einem Schwerpunkt der Forschungen zur germanischen Religion, welcher in einer kaum zu überschauenden Zahl von Veröffentlichungen mündete. Die Diskussion um „Germanentum und Christentum“ wurde vor allem im Zusammenhang mit dem „Weltanschauungskampf“ der 1930er Jahre erbittert geführt. Auf der einen Seite standen die Fürsprecher der germanischen Kultur, unter ihnen auch Wissenschaftler wie Bernhard Kummer,51 und auf der anderen Seite Vertreter vor allem der katholischen Kirche. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind zum einen Michael Kardinal Faulhabers Neujahrspredigt „Christentum und Germanentum“ von 1933, die er unter dem Eindruck der Tätigkeiten der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung hielt. Er zeichnete in seiner Predigt ein vor allem in sittlicher Hinsicht äußerst negatives Bild der germanischen Kultur vor der Christianisierung.52 Zum anderen war Konrad Algermissens Buch „Germanentum und Christentum“ von 1935 ein vieldiskutierter Beitrag zum Thema.53 Er plädierte hierin für eine Wiederbelebung christlich - deutscher Frömmigkeit und forderte – unter Anspielung auf das alte pagane Motto „Sigfrid oder Christus“ von Otto Sigfrid Reuter (1876–1945) aus dem Jahr 1910 – ein „Siegfried und Christus“.54 Das religionshistorische Phä50 Otto Höf ler, Ein Bild der gesamtgermanischen Kultur. Zu Wilhelm Grönbech, „Kultur und Religion der Germanen“ ( Hamburg 1937). In : Germanien. Monatshefte für Germanenkunde zur Erkenntnis deutschen Wesens, 7 (1937), S. 193–200, hier 194–195 und 200. 51 Vgl. etwa Kummer, Germanenkunde im Kulturkampf. 52 Christentum und Germanentum. Silvesterpredigt von Kardinal Faulhaber in St. Michael zu München am 31. Dezember 1933, München 1933, S. 2 und 4–9. Auch Vertreter der Deutschen Glaubensbewegung beteiligten sich in der Folgezeit mit Beiträgen. Vgl. z. B. Otto Huth, Die Fällung des Lebensbaumes. Die Bekehrung der Germanen in völkischer Sicht, Berlin - Lichterfelde 1936. 53 Konrad Algermissen, Germanentum und Christentum. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frömmigkeit, Hannover 1935. 54 Ebd., S. 390.

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nomen der germanischen Religion hingegen beurteilte er aus christlicher Perspektive negativ. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass er in besonderer Schärfe die Themen Schicksalsglaube und Bekehrung, die bereits Walter Baetke verknüpft hatte, in der Einschätzung verband, die tragische Schicksalsvorstellung der Germanen mache ein „Ungenügen“ der germanischen Religion deutlich, das in die Verzweif lung führe.55 Die Lektüre der Publikationen zur germanischen Religion von den späten 1920er bis zu den 1940er Jahren zeigt, so lässt sich zusammenfassend sagen, die Bedeutung vor allem des Schicksalsthemas. Einerseits war dessen Beurteilung relevant für die Frage, ob die Christianisierung – und hierbei insbesondere der Aspekt der Bekehrung zu einer Erlösungsreligion – den Germanen einen Ausweg aus einer religiösen Aporie geboten oder ob die Mission eine hochstehende, entwicklungsfähige Kultur zerstört habe. Über die Diskussion des Themas Bekehrung hinaus boten germanische Schicksalsvorstellungen, wie man sie im Ragnarök - Mythos fand, jedoch auch vielfältige Möglichkeiten der Aktualisierung in einer Zeit, die von Metaphern wie Untergang und Wiedererstehung geprägt war. Das Bedürfnis nach Beschäftigung mit religiösen Fragen und die Verwendung mythologischer Bilder für die Deutung der Gegenwart, eine Virulenz des Religiösen, die auch die religiösen Neuerungsbestrebungen zeigen, manifestierte sich ebenfalls im Bereich der Forschung. In vielen Publikationen wird zudem eine Reaktion auf die religiösen Aktualisierungen im Sinne eines „Germanenglaubens“ deutlich. Die germanische Religion wurde sicherlich auch aus diesem Grund als das für die Gegenwart zentrale Gebiet der germanischen Kultur aufgefasst56 und zum wichtigsten und umstrittensten Gegenstand der „Germanenkunde“.

55 Vgl. ebd., S. 162. 56 Programmatische Erklärungen hierzu finden sich z. B. im Rahmen von Einführungen in die germanische Religion, einer in den 1930er Jahren beliebten Textsorte, so etwa bei Gustav Neckel, Die altgermanische Religion, Berlin o. J. (1932), Vorwort; Hermann Güntert, Altgermanischer Glaube nach Wesen und Grundlage, Heidelberg 1937, Vorwort.

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„Altes Wissen“ oder „Fremdkörper im deutschen Volksglauben“? Hexendeutungen im Nationalsozialismus zwischen Neuheidentum, Antiklerikalismus und Antisemitismus Felix Wiedemann

Unter dem Titel „Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation“ hielt Heinrich Himmler im November 1935 auf dem Reichsbauerntag zu Goslar eine Grundsatzrede über Rolle und Aufgaben der SS. Die Rede besteht erstaunlicherweise zu weiten Teilen aus historischen Referenzen : Der SS - Chef mahnte eindringlich dazu, sich der deutschen Geschichte zu erinnern. Diese nämlich sei „in den letzten 2000 Jahren die leidvollste Geschichte, die je ein Volk, gesegnet mit allen Gaben des Geistes und des Leibes, haben konnte und hatte“.1 Im weiteren Verlauf modellierte Himmler dann eine historische Leidensgeschichte des deutschen Volkes – von „Widukinds Verzweif lungskampf“ bis zum verlorenen Weltkrieg – in Form einer deutlich am christlichen Narrativ orientierten Passion inklusive abschließender Theodizee : „Wir stellen uns die große Frage des Warum ?“ Diese Frage erfährt schließlich auch eine eindeutige Antwort : Als Hauptschuldige an den zahlreichen „Tragödien“ des deutschen Volkes werden „der Jude“ und seine vermeintlichen Handlanger identifiziert : „Wieviele solcher Tragödien – vollendet oder unvollendet – auf dieser Erde stattgefunden haben, können wir nicht einwandfrei klären. Wir können in vielen Fällen nur ahnen, dass hier unser aller ewiger Feind, der Jude, in irgendeinem Mantel oder durch irgendeine seiner Organisationen seine blutige Hand im Spiel hatte.“2 In Himmlers Weltanschauung aber war der Antisemitismus immer schon mit einer radikalen Ablehnung des Christentums verbunden,3 und so nimmt es nicht Wunder, dass Kirche und Christentum in den ausgemachten Stationen der deutschen Passion eine zentrale Rolle spielen. In diesem Zusammenhang kam der SS - Chef dann auch auf ein historisches Ereignis zu sprechen, für das er ganz offenkundig ein persönliches Faible hegte – die frühneuzeitlichen Hexenpro1 2 3

Heinrich Himmler, Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, München 1936, S. 12 f. Ebd., S. 5. Vgl. Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008, bes. S. 265–308; Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970.

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zesse : „Wir sehen, wie die Scheiterhaufen auf loderten, auf denen nach ungezählten Zehntausenden die zermarterten und zerfetzten Leiber der Mütter und Mädchen unseres Volkes im Hexenprozess zu Asche brannten.“4 Als historische Referenz spielte die Hexenverfolgung in Himmlers weltanschaulichen Reden generell eine erstaunlich prominente Rolle. Verschiedentlich kam er auf das Thema zu sprechen und stellte dabei immer andere Aspekte in den Mittelpunkt. So verstand er es im Februar 1937, Homosexualität und Hexenprozesse miteinander in Beziehung zu setzen, und präsentierte die gesamte „Kirchenorganisation in ihrer Führerschaft“ als „homosexuellen Männerbund“, dessen „sadistisch perverse“ Tendenzen in den Hexenprozessen exemplarisch zum Ausdruck gekommen seien. Besonders wichtig schien ihm dabei die Betonung des weiblichen Opfergangs für Volk und Glauben : „Die größten Blutopfer in den Hexenund Ketzerprozessen hat die deutsche Frau gebracht und nicht der Mann. Die Pfaffen wussten genau, warum sie 5–6 000 Frauen verbrannten, eben weil sie gefühlsmäßig an dem alten Wissen und der alten Lehre festhielten, während der Mann sich schon logisch gedankenmäßig umgestellt hatte : Es hat ja keinen Sinn. Wir gehen politisch unter, ich füge mich, ich lasse mich taufen.“5

1.

Hexendeutungen und Antiklerikalismus

Himmlers Interesse am Hexenthema mündete schließlich 1935 in einem umfangreichen Forschungsauftrag an den Sicherheitsdienst der SS ( SD ) zur reichsweiten Erfassung aller Hexenprozesse. Dieser mittler weile recht gut erforschte „H[ exen ] - Auftrag“ war in erster Linie ein quantitatives Projekt : Die Hexenforscher des SD durchforsteten über 260 Archive, Museen und Bibliotheken nach Akten und Literatur über die Hexenprozesse und hielten ihre Daten bis zur kriegsbedingten Einstellung des Unterfangens im Januar 1944 auf fast 34 000 Karteikarten fest, die zusammen die heute in Poznań befindliche sogenannte Hexenkartothek bilden.6 Anlage, Herangehensweise und die aus dem Projekt her vorgegangenen Publikationen lassen auf den Antiklerikalismus als zentrales Motiv schließen, ging es hier doch vorrangig darum, die schädliche Rolle der katholischen Kirche – wenn nicht des Christentums überhaupt – in der deutschen Geschichte zu belegen. Keineswegs jedoch lässt sich dieses bizarre Unterfangen bloß mit den persönlichen Schrullen des bekanntermaßen 4 5 6

Himmler, Schutzstaffel, S. 3 ff. Rede des Reichsführers SS anlässlich der Gruppenführer - Besprechung in Tölz am 18. 2. 1937; Auszüge in : Bradley F. Smith / Agnes F. Peterson ( Hg.), Heinrich Himmler: Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M. 1974, S. 103. Damit stellt der H - Auftrag das bis heute quantitativ größte Hexenforschungsprojekt dar. Vgl. insbes. Jörg Rudolph, „Geheime Reichskommando - Sache“ – Hexenjäger im Schwarzen Orden. Der H - Sonderauftrag des Reichsführers SS 1935–1944. In : Sönke Lorenz / Dieter R. Bauer / Wolfgang Behringer / Jürgen Michael Schmidt ( Hg.), Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, Bielefeld 2000, S. 47–98.

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Hexendeutungen im Nationalsozialismus

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vielen Formen des zeitgenössischen Obskurantismus zugetanen SS - Chefs erklären. Innerhalb der nationalsozialistischen Führungsriege befand sich Himmler mit seinem Interesse an der Hexenverfolgung durchaus in guter Gesellschaft, und das Thema hat auf vielfältige Weise Eingang in Schriften zur nationalsozialistischen Weltanschauung gefunden.7 Ohne jeden Zweifel hat der Antiklerikalismus dabei immer eine wichtige Rolle gespielt. So gehörte die Hexenverfolgung insbesondere in den Anfangsjahren des Regimes zu den zentralen historischen Referenzen des „Weltanschauungskampfes“ mit den christlichen Kirchen und fungierte als exemplarischer Ausdruck kirchlicher Verbrechen in der Geschichte. An dieser Stelle kann lediglich auf den prominenten Platz hingewiesen werden, den die Hexenprozesse in Pamphleten, wie „Die Blutschuld der Kirche am deutschen Volk“ (1935), einnahm, wo in immer gleichem Duktus die „hunderttausend deutschen Frauen und Kinder“ angeführt wurden, die „in viehischer Weise von perversen christlichen Hexenrichtern zu Tode gequält und verbrannt“ worden seien.8 Wie bereits Himmlers Referenz auf das „alte Wissen“ und die „alte Lehre“ der Hexen anklingen lässt, taugte der Hexendiskurs jedoch keineswegs nur zur negativen Abgrenzung sondern konnte ebenso gut zur Skizzierung positiver – germanischer, heidnischer – Alternativen zu Kirche und Christentum herangezogen werden. Von daher lässt sich das nationalsozialistische Interesse am Hexenthema nicht auf den politischen Antiklerikalismus – und damit auf die Funktion als bloßes Propagandamittel – reduzieren, wie in der Forschung vielfach geschehen.9 Ebenso abwegig scheint es allerdings, nationalsozialistische Hexendarstellungen nun umgekehrt vornehmlich aus einem Interesse an Okkultismus und Heidentum abzuleiten und im Falle Himmlers gar über eine „familiär herleitbare Disposition für volksmagische Denkstrukturen“ zu spekulieren.10 Eine Untersuchung des Schrifttums zum Thema aus den 1930er Jahren zeigt indes ein recht komplexes, teilweise widersprüchliches Feld weltanschaulicher Motive und Positionen,11 in dem der immer schon heterogene und widersprüch7 Vgl. zur Präsenz des Themas im Nationalsozialismus allg. Barbara Schier, Hexenwahn und Hexenverfolgung. Rezeption und politische Zurichtung eines kulturwissenschaftlichen Themas im Dritten Reich. In : Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1990, S. 43– 117; Katarzyna Leszczynska, Hexen und Germanen. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung, Bielefeld 2009; Hinweise auch bei Joska Pintschovius, Zur Hölle mit den Hexen. Abschied von den weisen Frauen, Berlin 1991, S. 227–242; und Franz Wegener, Kelten, Hexen, Holocaust. Menschenopfer in Deutschland, Gladbeck 2004, S. 74 ff. 8 So ein Manuskript von Walter Bohm, Schulungsredner beim Rasse - und Siedlungshauptamt. Zit. nach Rudolph, „Geheime Reichskommando - Sache“, S. 58 f. 9 Vgl. v. a. Schier, Hexenwahn, sowie die Beiträge in Lorenz ( Hg.), Himmlers Hexenkartothek. 10 So die abseitige Erklärung von Wegner, Kelten, S. 78. 11 In dieser Heterogenität jedoch eine „Eigendynamik des Diskurses“ auszumachen, die sich tendenziell als störend für die ideologischen Ansprüche des Nationalsozialismus erwiesen haben soll, wie dies eine jüngere Studie zum Thema behauptet, ist wenig überzeugend. Vgl. Leszczynska, Hexen, bes. S. 23 ff., 355 ff.

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liche Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Zu einem erheblichen Maß speiste sich dieses Ideenkonglomerat dabei aus dem heterogenen Schrifttum der sogenannten völkischen Bewegung aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.12 In diesem Spektrum aber war das Hexenthema bereits seit der Jahrhundertwende zur Untermauerung verschiedener ideologischer Positionen adaptiert worden. Die nationalsozialistische Hexenliteratur reflektierte somit zum großen Teil lediglich ältere völkische Deutungsmuster; deshalb soll im Folgenden zumindest die völkische Hexenliteratur aus der Endphase der Weimarer Republik mit einbezogen werden.13 Dabei zeigt sich, inwieweit für das völkisch - nationalsozialistische Interesse an Hexenglauben und Hexenverfolgung religiöse Aspekte und religionshistorische Argumentationsfiguren entscheidend waren. Dies lag an der konstitutiven Bedeutung, die Fragen nach Religion und Glauben in der völkischen Weltanschauung generell spielten. Charakteristisch war hier eine enge Koppelung von Religion und Rasse, d. h. die Fokussierung auf einen spezifisch „arteigenen“ Glauben als Ausdruck angeborener rassischer Eigenschaften. Inwieweit allerdings der „arteigene“ Glaube für vereinbar mit dem Christentum gehalten wurde, darüber war man sich in den Reihen der Völkischen keineswegs einig. Der Hexendiskurs wurde schließlich vorwiegend auf dem – stets nur eine radikale Minderheit darstellenden – dezidiert antichristlichen Flügel der Völkischen geführt, der das Christentum hinter sich lassen und eine wie auch immer geartete Anknüpfung an den paganen Glauben der altgermanischen Vorfahren anstrebte.14 Sofern die Autoren dieses Spektrums nicht bereit waren, sich in nationalsozialistischen Organisationen wie dem SS - Ahnenerbe oder dem Amt Rosenberg unterzuordnen, wurde der Spielraum für Autoren dieses Spektrums in den 1930er Jahren schließlich immer enger. Eine entscheidende Zäsur stellte in diesem Zusammenhang das 1937 ergangene Verbot zahlreicher als sektiererisch deklarierter Gruppierungen dar, die als Gefahr für den ideologischen Monopolanspruch der NSDAP angesehen wurden und den dringend benötigten Ausgleich mit den Kirchen zu gefährden schienen.15 Aus diesem Grund kon-

12 Vgl. zu den Völkischen grundlegend Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996. 13 Vgl. zu völkischen Hexenbildern Felix Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007, bes. S. 117–186. 14 Vgl. Uwe Puschner, Weltanschauung und Religion – Religion und Weltanschauung. Ideologie und Formen völkischer Religion. In : Zeitenblicke 5. 2006 ( http ://www.zeitenblicke.de /2006/1/ Puschner ); sowie die Beiträge in Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001. 15 Vgl. hierzu Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1945, Paderborn 2002, bes. S. 200–210; Corinna Trei-

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zentriert sich die folgende Untersuchung vorwiegend auf Texte der Jahre zwischen 1930 und 1937. Worauf aber, so fragt sich, beruhte die Attraktivität von Hexenglauben und Hexenverfolgung als historische Referenzobjekte des völkischen Religionsdiskurses und auf welche überkommenen Vorstellungen wurde dabei zurückgegriffen ? Schließlich gehörten die Hexenprozesse im 19. und frühen 20. Jahrhundert keineswegs zu den unterrepräsentierten historischen Sujets. Die völkischen Autoren bewegten sich also nicht im luftleeren Raum, sondern konnten aus einem reichhaltigen Hexendiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schöpfen, der von akademischen Studien zur Geschichte der Hexenprozesse bis zu verschrobenen Romanen und esoterischen Spekulationen reichte.16 Da das völkisch - nationalsozialistische Interesse am Hexenthema ohne diese interpretative Vorgeschichte letztlich unverständlich bleiben muss, seien die zentralen zeitgenössischen Interpretationsmuster zunächst kurz erläutert.

2.

Tradierte Deutungsmuster

Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein können in der wissenschaftlichen wie populären Literatur zu Hexenglauben und Hexenverfolgung zwei Grundnarrative, ein rationalistisches und eine romantisches, voneinander unterschieden werden.17 Beide haben jeweils bestimmte Argumentationsmuster und Topoi hervorgebracht, die sie für die völkisch - nationalsozialistische Rezeption des Themas attraktiv machten. 1. Das bereits auf die frühneuzeitlich - aufklärerische Literatur zur Bekämpfung der Hexenprozesse18 zurückgehende rationalistisch - antiklerikale Deutungsmuster war weitgehend auf die Hexenverfolgung fokussiert, während dem vermeintlichen Hexenwesen selbst als einer Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt widersprechenden Erscheinung keinerlei Realität beigemessen wurde. Als sowohl Hexenglauben als auch Hexenverfolgung bezeichnender Begriff prägte sich in der rationalistischen Literatur der pathologisierende Terminus des „Hexenwahns“ ein. Demnach erschienen die Hexenprozesse als Inbegriff abertel, A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore 2004, bes. S. 220–242. 16 Vgl. allg. Wolfgang Behringer, Geschichte der Hexenforschung. In : Sönke Lorenz / Jürgen Michael Schmidt ( Hg.), Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland, Ostfildern 2004, S. 485–668. 17 Vgl. zu dieser Unterscheidung grundlegend William E. Monter, The Historiography of European Witchcraft. Progress and Prospects. In : The Journal of Interdisciplinary History, 2 (1972), S. 435–452; Roy Porter, Witchcraft and Magic in Enlightenment, Romantic and Liberal Thought. In : Bengt Ankarloo / Stuart Clark ( Hg.), Witchcraft and Magic in Europe. Vol. V : The Eighteenth and Nineteenth Centuries, London 1999, S. 191–282. 18 Vgl. allg. Brian P. Levack, The Decline and End of Witchcraft Prosecutions. In : Ankarloo / Clark ( Hg.), Witchcraft and Magic In Europe. Vol. 5, S. 1–94.

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gläubischen Irrsinns und veritables Justizverbrechen, dessen Ursachen und Schuldige es zu benennen galt. In dieser Hinsicht hatten die rationalistischen Autoren eine eindeutige Antwort parat und beschuldigten einhellig die ( katholische ) Kirche, sowohl den gefährlichen Hexenglauben verbreitet als auch die Hexenprozesse initiiert zu haben. Der rationalistische Hexendiskurs war für die völkische Adaption des Themas vor allem wegen dieser antiklerikalen Stoßrichtung von Bedeutung und wurde entsprechend zur Delegitimierung der katholischen Kirche herangezogen. War die konfessionelle Zuspitzung des Themas bereits in der Religionskritik der Aufklärung erkennbar, so erreichte diese Tendenz während des Kulturkampfes am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. In der zeitgenössischen antiklerikalen Pamphlet - Literatur erfuhren die Hexenprozesse zudem eine unverkennbare nationalistische Auf ladung und avancierten nunmehr zu einem von außen initiierten Angriff auf eine idyllische deutsche Gesellschaft des Spätmittelalters.19 Mit dieser antiklerikal - nationalistischen Instrumentalisierung des Themas ging schließlich eine groteske Überzeichnung der Opferzahlen einher : Wiewohl bereits von der Hexenforschung des 19. Jahrhunderts längst widerlegt, hatte sich im populären Hexendiskurs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Zahl von 9 ½ Millionen Opfern der Hexenprozesse etabliert und sollte sich bis in die völkisch - nationalsozialistische Literatur ( und darüber hinaus ) erhalten.20 In einem bestimmten Bereich der völkischen Literatur erwies sich zudem die eng mit der nationalistischen Auf ladung des Themas verbundene Orientalisierung des Hexenglaubens als bedeutsam. Anknüpfungspunkt war hier die umstrittene Frage nach den religionshistorischen Hintergründen. Dabei ging es vor allem darum, den Hexenwahn aus der eigenen nationalen Geschichte nach Möglichkeit zu entfernen und dessen Ursprünge an anderer Stelle zu suchen. So hatte bereits Johann Gottlieb Soldan (1792–1869), der wohl wichtigste Vertreter der rationalistischen Schule, apodiktisch festgehalten : „Aber Deutschland weist den Vorwurf, die Mutter dieser Geistesverirrungen zu sein, [...] mit gerechtem Unwillen von sich ab.“21 Da diese Frage aber dennoch nach einer Antwort verlangte, verwiesen Soldans Nachfolger wie Joseph Hansen (1862–1943) auf einen „nach Osten weisenden religiösen Ursprung“ und machten orientalische 19 Vgl. Nils Freytag, Auf dem Scheiterhaufen der Moderne. Hexengeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. In : Katrin Moeller / Burghart Schmidt, ( Hg.), Realität und Mythos. Hexenverfolgung und Rezeptionsgeschichte, Hamburg 2003, S. 150–162; Jörg Haustein, Von der Instrumentalisierung zur historischen Erkenntnis – die Auseinandersetzung um den Hexenwahn im 19. Jahrhundert. In : ebd., S. 163–177. 20 Vgl. Wolfgang Behringer, Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 49 (1998), S. 664– 685. Die heutige Forschung geht demgegenüber von ca. 50 000 Opfern aus. Vgl. allg. zu populären Mythen über die Hexenprozesse Rita Voltmer, Hexen : Wissen, was stimmt. Die wichtigsten Antworten, Freiburg 2008. 21 Wilhelm Gottlieb Soldan, Geschichte der Hexenprozesse. Aus den Quellen dargestellt, Stuttgart 1843, S. 3.

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Grundlagen des Aber - und Hexenglaubens geltend.22 In Anknüpfung an das tradierte Bild des Orients als Hort von Fanatismus und religiöser Inbrunst avancierte der Hexenwahn in der Folge zum exemplarischen Ausdruck orientalischer Religiosität.23 Bemerkenswert ist zudem, dass sich in der antiklerikalen Literatur über die religionsgeschichtlichen Hintergründe des „Hexenwahns“ vereinzelt auch antijüdische Topoi bemerkbar machten. Im Fokus stand dabei das im Alten Testament festgehaltene Gebot, „Zauberinnen“ mit dem Tode zu bestrafen ( Ex 22.17), welches nun als Inbegriff jüdischer Gesetzlichkeit und jüdischen Aberglaubens erschien. In diesem Sinne hatten bereits berühmte frühneuzeitliche Gegner der Hexenprozesse wie Christian Thomasius (1655–1728) den Hexenglauben auf „der Jüden einfältigen Aberglauben“ zurückgeführt;24 Referenzen auf angeblich „jüdisch - rabbinische“ Grundlagen25 der Hexenverfolgung durchziehen insbesondere die antiklerikale Hexenliteratur des Kulturkampfes : Hier konnte der „Hexenwahn“ zur „jüdischen Idee“26 avancieren oder wurde als „talmudistisch - kabbalistische Dämonologie“27 präsentiert. Für völkisch - nationalsozialistische Autoren erwies sich das rationalistisch antiklerikale Deutungsmuster mithin vor allem deswegen als attraktiv, weil sich das Thema als historische Referenz zur Abgrenzung von den weltanschaulichen Gegnern der Gegenwart – Kirche, Christentum, Judentum – eignete. 2. Gegenüber diesem rein negativen Bezug liegt die Bedeutung des romantischen Narrativs für den völkischen Religionsdiskurs in der Bereitstellung positiver Alternativen. Während der rationalistische Hexendiskurs sich im Wesentlichen auf die Verfolgung und die Verfolger konzentrierte und weder den Opfern der Hexenprozesse noch den Inhalten des scheinbar überwundenen Hexenglaubens selbst viel Beachtung beimaß, fokussierte sich das romantische Deutungsmuster gerade auf den Hexenglauben : Romantische Autoren waren fasziniert von den dunklen Geschichten über magische Frauen und nächtliche Versammlungen und zeigten sich überzeugt davon, der Hexenglaube gehe auf vorchrist22 Joseph Hansen, Zauberwahn. Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgung, München 1900, S. 1. 23 Damit soll keineswegs simplifizierenden Orientalismus - Thesen in der Tradition Edward Saids das Wort geredet werden. Vgl. zu Ambivalenz und Komplexität des Orientdiskurses im deutschsprachigen Raum Andrea Polaschegg, Der andere Orientalismus. Regeln deutsch - morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005; Suzanne Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, New York 2009. 24 Christian Thomasius, Vom Laster der Zauberei. Über die Hexenprozesse. De Crimine Magiae. Processus Inquisitorii contra Sagas, München 1986 ( zuerst 1701/1705), S. 37. 25 Carl Georg von Wächter, Beiträge zur Deutschen Geschichte, insbesondere zur Geschichte des Deutschen Strafrechts, Tübingen 1845, S. 89. 26 B. Emil König, Ausgeburten des Menschenwahns im Spiegel der Hexenprozesse und der Autodafe’s. Historische Schandsäulen des Aberglaubens. Eine Geschichte des Afterund Unglaubens bis auf die Gegenwart. Ein Volksbuch, Berlin 1926 ( zuerst 1893), S. 13. 27 Wilhelm Fischer, Aberglaube aller Zeiten. Die Geschichte der Buhlteufel und Dämonen, Stuttgart 1906, S. 26.

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liche Glaubensvorstellungen zurück oder gar, es habe bis in die Frühe Neuzeit hinein einen tatsächlichen Hexenkult gegeben. Von herausragender Bedeutung für die völkisch - nationalsozialistische Rezeption war in diesem Zusammenhang die Verbindung von Hexen - und Germanenmythos, d. h. die romantische Vorstellung, der volkstümliche Hexenglaube reflektiere Glaubensvorstellungen und Praktiken „unserer Vorfahren“, die der nationalistischen Mythologie folgend mit den alten Germanen identifiziert wurden. Als maßgeblicher Erfinder dieser Denkfigur kann in vielerlei Hinsicht Jacob Grimm (1785–1863) gelten, der den Hexenglauben in seiner Deutschen Mythologie (1835) in ein Ensemble altgermanisch - heidnischer Glaubensvorstellungen gestellt und als Ausdruck des „naturcultus unserer vorfahren“ interpretiert hatte.28 Ein weiteres zentrales Element des romantischen Narrativs stellten Spekulationen über eine spezifisch kultisch - religiöse Funktion der Frau im altgermanischen Heidentum dar. Das in diesem Zusammenhang zentrale Stichwort hatte wiederum Grimm geprägt : Demnach hätten im mittelalterlichen Hexenglauben Erinnerungen an einstmals als Priesterinnen und Heilerinnen verehrte germanische „weise Frauen“ fortgelebt, die im Zuge der Christianisierung verunglimpft und abgewertet worden seien. Eng damit verbunden war die Behauptung einer spezifisch „germanischen Frauenverehrung“, die im diametralen Gegensatz zur Tradition des später eingeführten Christentums gestanden habe.29 Zweifellos manifestierten sich hier zeitgenössische romantische Auffassungen einer ontologischen oder biologischen Geschlechterdifferenz, die das Weibliche dem Bereich des Mysteriösen und Magischen zuordneten und Frauen aufgrund ihrer vermeintlich größeren imaginativen Kräfte und ihrer Nähe zu den Geheimnissen von Leben und Tod als prädestinierte Mittler zum Numinosen präsentierten.30 Im Anschluss an derartige Spekulationen fand das Thema zudem Eingang in die zeitgenössische Esoterik. Gerade die vielfach mit der völkisch - religiösen Szenerie verbundenen neureligiösen und okkulten Bewegungen um 1900 haben in diesem Sinne über ein verborgen tradiertes – okkultes – Wissen der Hexen und deren magische Fähigkeiten spekuliert. In diesem Kontext hat sich denn auch die – oft zu Unrecht Grimm zugeschriebene – Behauptung etabliert, wonach vorchristliche, pagane Kulte und magische Praktiken noch bis in das Mittelalter hinein im Geheimen gepflegt worden seien und es einen tatsächlichen Hexen28 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Band 1, Wiesbaden 2003, hier S. 483. Vgl. zur Hexe ebd., S. 861–924. Vgl. zu Grimms Mythologie grundlegend Beate Kellner, Grimms Mythen. Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jacob Grimms „Deutscher Mythologie“, Frankfurt a. M. 1994. 29 Ebd., S. 328–362, hier 329. 30 Vgl. zur zeitgenössischen Geschlechteranthropologie allg. Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750–1850, München 1996; zu Weiblichkeitsvorstellungen der Romantik Cornelia Klinger, Romantik und Feminismus. Zu Geschichte und Aktualität ihrer Beziehung. In : Ilona Ostner / Klaus Lichtblau ( Hg.), Feministische Vernunftkritik. Ansätze und Traditionen, Frankfurt a. M. 1992, S. 29–52.

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kult gegeben habe.31 Durch Adaption bestimmter religionswissenschaftlich ethnologischer Spekulationen über archaische Furchtbarkeitskulte sowie in Anlehnung an die tradierte Vorstellung vom Hexensabbat als Hort zügelloser Ausschweifung spielte in esoterischen Deutungen zudem die Vorstellung rituellen Geschlechtsverkehrs eine wichtige Rolle. Diese mitunter recht weitgehenden „sexualmagischen“ Spekulationen, die sich freilich schnell als Projektionsfläche – männlicher – Sexualfantasien entpuppen, wurden schließlich vor allem im Bereich des sogenannten Satanismus adaptiert.32 Da sich viele neureligiöse Bewegungen schließlich außer - oder vorchristlichen Alternativen zuwandten und das Christentum generell ablehnten, vermischten sich die im heterogenen neureligiösen Spektrum gängigen romantischen Hexenbilder zunehmend mit jenem radikalen Antiklerikalismus, der eigentlich eher für das rationalistische Narrativ charakteristisch war. Wie stark die völkisch - nationalsozialistische Adaption des Hexenthemas diesen Deutungstraditionen mit ihren skizzierten Topoi und Argumentationsfiguren verpflichtet blieb, zeigt sich schließlich daran, dass der völkische Hexendiskurs im Grunde die Differenz zwischen dem rationalistischen und dem romantischen Narrativ immer weiter reproduzierte. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Unterschied zwischen beiden mit einer zentralen Bruchstelle im Diskurs des völkischen Neuheidentums korrespondierte.

3.

Völkischer Rationalismus

So lässt sich innerhalb des völkischen Hexendiskurses ein Strang identifizieren, der die tradierten Argumentationsmuster des rationalistischen Narrativs mit völkischem Rassismus kombinierte und zur Konstruktion eines – in gewissem Sinne – „rationalistischen“ oder „szientistischen“ Heidentums heranzog. Innerhalb des völkischen Religionsdiskurses fallen hierunter jene Modelle, welche den propagierten arteigenen Glauben von „kultischen“, „okkulten“ oder „mystischen“ Elementen möglichst „befreien“ wollten und sich dabei grundsätzlich positiv auf die Prinzipien von Fortschritt und Wissenschaft beriefen. Sogar von Hitler sind vereinzelte Äußerungen zum Thema überliefert, die sich ganz in den Bahnen des tradierten rationalistischen Deutungsmusters bewegen. So soll er angeregt haben, ein Museum zum Hexenwahn einzurichten, wel-

31

Die Behauptung, es habe tatsächlich eine mittelalterliche Hexensekte gegeben, wurde im 19. Jahrhundert hingegen von Autoren des katholischen Mystizismus wie Joseph Görres vertreten, die auf diese Weise das Handeln der Kirche zu legitimieren trachteten. Wiederaufgegriffen wurden derartige Spekulationen dann im 20. Jahrhundert von der britischen Anthropologin Margaret Murray, deren Schriften wiederum maßgeblich das Entstehen des neopaganen Wicca - Kults beeinflusst haben. Vgl. Ronald Hutton, The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford 1999. 32 Vgl. Hutton, Triumph of the Moon, bes. S. 173 ff.; Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin, S. 102 ff.

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ches dann jene „großen Männer“ ehren sollte, die diesen „Aberglauben beseitigten und die versucht haben, ein neues Weltbild zu sehen“.33 Eine ähnlich strikte Gegenüberstellung von Wissenschaft und Aberglauben lag schließlich auch den Ausführungen des sogenannten Chef ideologen der NSDAP, Alfred Rosenberg, zugrunde : „Nur so weit er frei ist, kann der Germane schöpferisch sein, und nur wo der Hexenwahn nicht herrschte, entstanden Zentren europäischer Kultur.“34 Für Rosenberg fiel der Gegensatz zwischen Hexenwahn und Wissenschaft schließlich mit der Dichotomie zwischen Germanentum und Christentum zusammen. Entsprechend hatte er sich in seinem berüchtigten „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) ausführlich zum Thema geäußert. Dabei berief er sich an diesem Punkt vornehmlich auf die abstrusen Thesen des Berliner Orientalisten und Archäologen Albert Grünwedel (1856–1935), der in seinem Alterswerk „Tusca“ (1922) den Hexen - und Teufelsglauben auf sexualorgiastische Kulte bei den Etruskern zurückgeführt hatte.35 Rosenberg griff diese These auf und benutzte sie dafür, das Gesamtgebäude der römischen Kirche als etruskisch zu charakterisieren. Im Zentrum stand dabei seine Behauptung einer unmittelbaren Kontinuität des etruskischen Haruspex zum römischen Papst : „Der Haruspex siegte, der römische Papst erhob sich als sein unmittelbarer Nachfolger [...]. Auf diesen etruskischen Haruspex geht dann auch ‚unsere‘ mittelalterliche Weltanschauung zurück, jener furchtbare Zauberglaube, jener Hexenwahn, dem Millionen des Abendlandes zum Opfer gefallen sind.“36 So abwegig diese Ausführungen anmuten, so spielten sie in der Rezeption des „Mythus“ doch eine nicht unerhebliche Rolle. Gerade Rosenbergs Gegner im sogenannten Weltanschauungskampf, d. h. die Kirchen, haben die Zurückführung des „Hexenwahns“ auf etruskische Ursprünge aufgegriffen und – was freilich nicht allzu schwer war – widerlegt, um die Haltlosigkeit des gesamten Mythus aufzuzeigen und vor den Gefahren des „Neuheidentums“ zu warnen.37 Rosenberg kam nicht nur selbst wiederholt auf das Hexenthema zu sprechen,38 33 Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims. Hg. von Werner Jochmann, Hamburg 1980, S. 286 f. ( Äußerung vom 20./21. 2. 1942). 34 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch - geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1935 ( zuerst 1930), S. 70. 35 Vgl. Albert Grünwedel, Tusca, Leipzig 1922, bes. S. 198 ff. Vgl. zu Grünwedel die Hinweise bei Marchand, German Orientalism, S. 418 ff.; zu Rosenbergs Grünwedel - Rezeption Rosenberg, Mythus, S. 64 ff., hierzu Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 23. 36 Rosenberg, Mythus, S. 67. 37 Vgl. zur katholischen Reaktion : Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts mit Anhang „Der Apostel Paulus und das Urchristentum“, Berlin 1934; hierin zum Hexenthema bes. S. 12 ff., 29, 51 ff.; hierzu Raimund Baumgärtner, Weltanschauungskampf im Dritten Reich. Die Auseinandersetzung der Kirchen mit Alfred Rosenberg, Mainz 1977, S. 154 ff.; Schier, Hexenwahn, S. 54 f; Lesczynska, Hexen, S. 231 ff. 38 Vgl. Alfred Rosenberg, An die Dunkelmänner unserer Zeit. Eine Antwort auf die Angriffe gegen den „Mythus des 20. Jahrhunderts“, München 1935, bes. S. 58 ff.

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sondern engagierte schließlich einen ganzen Stab von Mitarbeitern, um den kirchlichen Angriffen entgegenzutreten. Darunter befanden sich auch einige völkische Germanisten und Historiker, die mit dem Verfassen antiklerikaler Pamphlete zur Hexenverfolgung beauftragt waren.39 Aufgrund des propagandistischen Nutzwertes des Themas hielt man im Amt Rosenberg auch in den folgenden Jahren am rationalistisch - antiklerikalen Interpretationsrahmen fest. So heißt es noch im 1940 von Rosenberg herausgegebenen „Handbuch zur Romfrage“ unter dem Stichwort „Hexenwahn“, der Hexenglaube sei in all seinen Formen ein „Fremdkörper im ursprünglichen deutschen Volksglauben“.40 Mit dieser Position konnte Rosenberg innerhalb des völkischen Schrifttums allerdings keineswegs Originalität beanspruchen, war das rationalistisch - antiklerikale Deutungsmuster doch bereits lange vor dem „Mythus“ in völkischen Kreisen adaptiert worden. In diesem Sinne hatte sich vor allem der später als Verteidiger Rosenbergs im Kirchenkampf in Erscheinung tretende Germanist und Skandinavist Bernhard Kummer (1897–1962) wiederholt zum Hexenthema geäußert.41 Kummer gehörte eindeutig in das Lager des völkischen Neuheidentums und hatte in seiner Dissertation „Midgards Untergang“ (1927) den schicksalhaften Niedergang einer vormals von Vernunft, Tugend und Harmonie geprägten altnordischen Gemeinschaft gezeichnet, in welcher der Dienst an der Gemeinschaft noch keine von äußeren Dogmen auferlegte Pflichterfüllung gewesen sei, sondern auf der Freiheit eines inneren Gewissens beruht habe. Der Projektionscharakter der eigenen bürgerlichen Moralvorstellungen trat hier freilich ebenso deutlich zu Tage wie die Herkunft derartiger Ideale aus dem preußischen Protestantismus.42 Kummer schilderte nun, wie diese heile – „rationale“ – germanische Welt durch die Verbreitung von Aber - und Teufelsglauben allmählich zersetzt worden sei, wobei er im Unterschied zu anderen völkisch - neuheidnischen Autoren die irrationalen Tendenzen bereits im eddischen Odinglauben

39 Auffällig ist allerdings, dass die Etrusker - Theorie in diesen Schriften nicht wieder aufgegriffen wurde. Vgl. Alfred Miller, „Wissenschaft“ im Dienste der Dunkelmänner. Eine Abrechnung mit den Verfassern und Hintermännern der „Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts“, Leipzig 1935; Edmund Mudrak, Grundlagen des Hexenwahns, Leipzig 1936; Walter Jaide, Wesen und Herkunft des mittelalterlichen Hexenwahns im Lichte der Sagaforschung, Leipzig 1936; zu diesen Texten Schier, Hexenwahn, S. 55 f., 61 ff. 40 Alfred Rosenberg ( Hg.), Handbuch der Romfrage. Unter Mitwirkung einer Arbeitsgemeinschaft von Forschern und Politikern, Band 1, München 1940, S. 582–587, hier 584. Wie die meisten Einträge stammt der Text vermutlich von Matthes Ziegler, der entscheidenden Figur in der antiklerikalen Propaganda im Amt Rosenberg. Zu Ziegler vgl. Manfred Gailus, Vom „gottgläubigen“ Kirchenkämpfer Rosenbergs zum „christgläubigen“ Pfarrer Niemöllers : Matthes Zieglers wunderbare Wandlungen im 20. Jahrhundert. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 11 (2006), S. 937–973. 41 Vgl. Fritz Heinrich, Bernhard Kummer (1897–1962). The Study of Religions Between Religious Devotion for the Ancient German, Political Agitation and Academic Habitus. In : Horst Junginger ( Hg.), The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden 2008, S. 229–262. 42 Vgl. Bernhard Kummer, Midgards Untergang. Germanischer Kult und Glaube in den letzten heidnischen Jahrhunderten, Leipzig 1927.

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des Spätheidentums angelegt sah. Der vollständige Verfall in Aberglauben, Hexenwahn und Dogmatismus habe sich dann aber erst im Zuge der gewaltsamen Einführung des artfremden Christentums vollzogen : „Denn das bekehrte Volk hat schwer gelitten, sittlich und religiös verarmt, wie die Volkskunde zeigt, im Wahn eines in der Welt beispiellosen Aber - und Teufelsglaubens, in der wachsenden Objektivierung der Frau, in der wachsenden Materialisierung des Göttlichen in Knochen und Amuletten.“43 Wohl am entschiedensten wurde das rationalistische Narrativ schließlich von Mathilde Ludendorff (1877–1966) vertreten, der zentralen Ideologin der Ludendorff - Bewegung.44 Die promovierte Nervenärztin Mathilde Ludendorff vertrat nicht nur eine extrem antichristliche Position, sondern hatte sich generell dem Kampf gegen jegliche Form von Aberglauben und Okkultismus als Formen eines „induzierten Irreseins“ verschrieben.45 Dabei adaptierte und radikalisierte sie die zentralen Topoi und Stereotype des vulgären rationalistisch - antiklerikalen Diskurses aus dem späten 19. Jahrhundert und machte eine die Geschichte durchziehende Auseinandersetzung zwischen „germanischer“ Wissenschaft und Forschung auf der einen Seite und christlichem Aberglauben und Okkultismus auf der anderen aus. Den „Hexenwahn“ verortete sie dabei selbstredend auf der Seite des „schauer vollen Aberglaubens“ und führte ihn wiederholt als mahnendes Beispiel dafür an, dass es an der Zeit sei, sich „von dem Teufelsglauben der Bibel und dem Christentume endgültig frei“46 zu machen : „Mit Recht hat man seit je den furchtbaren Aberwitz des Hexenwahns als das Tiefstehendste angesehen, was die 1000 Jahre Christentum den Völkern brachten.“47 Im Zentrum der antiklerikalen Propaganda der Ludendorff - Bewegung stand dabei der Jesuitenorden, der gleich in doppelter Hinsicht für den Hexenwahn verantwortlich gemacht wurde : Die Jesuiten, so Ludendorff, seien nämlich zugleich Urheber jener abergläubischen Lehren gewesen, die sie später zu bekämpfen vorgaben; so habe man „okkultistische Lehren“ wie den Hexenwahn unter den „Ketzern“ verbreitet, um einen Vorwand zu haben, diese auszuschalten.48

43 Bernhard Kummer, Mission als Sittenwechsel. Vortrag gehalten vor der Nordisch - Religiösen Arbeitsgemeinschaft Berlin am 26. 11. 1932, Leipzig 1933, S. 33. 44 Vgl. Bettina Amm, Die Ludendoff - Bewegung. Vom nationalistischen Kampfbund zur völkischen Weltanschauungssekte, Hamburg 2006; Frank Schnoor, Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS - Staates, Egelsbach 2001. 45 Vgl. Mathilde Ludendorff, Induziertes Irresein durch Okkultlehren, München 1933. Den Begriff des „induzierten Irreseins“ hatte sie ihrem Lehrer, dem seinerzeit berühmten Psychiater Emil Kraepelin (1856–1926), entlehnt. 46 Mathilde Ludendorff, Hexenmarterung durch protestantische Geistliche. In : Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen. Zwei Aufsätze von Mathilde Ludendorff und W. v. D. Cammer, München 1934, S. 7–15 hier 8. 47 Mathilde Ludendorff, Der Sieg der Wissenschaft. In : dies./ Erich Ludendorff, Das Geheimnis der Jesuitenmacht und ihr Ende, München 1929, S. 155. 48 Ebd., S. 156.

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4.

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Völkische Romantik und völkische Esoterik

Zweifellos aber hat neben dem rationalistisch - antiklerikalen auch das romantische Narrativ Eingang in völkisch - nationalsozialistische Hexeninterpretationen gefunden. Während Autoren wie Rosenberg, Kummer und Ludendorff das rationalistische Narrativ zur Konstruktion einer „rationalistischen“ arteigenen Religion heranzogen, in der es keinen Platz für mystisch - okkulte Erscheinungen wie Hexenglauben und Hexenkult geben sollte, korrespondierte das romantische Narrativ umgekehrt mit Religionsentwürfen, die eher kultisch - rituell ausgerichtet waren und in denen Versatzstücke der zeitgenössischen Esoterik eine zentrale Rolle spielten. Dieser Zusammenhang lässt sich vor allem an Hexendeutungen aus dem Umfeld der sogenannten Ariosophie veranschaulichen – einer im Österreich der Jahrhundertwende aus der Theosophie entstandenen Strömung, die ein wichtiges Bindeglied zwischen Esoterik und völkischem Rassismus darstellte.49 Wegweisenden Charakter hatten hier zweifellos die Ausführungen des Begründers der Ariosophie, Guido List (1848–1919). Dieser hatte sein Interesse am „deutschen Hexentum“ bereits im Jahr 1900 in einem gleichlautenden Artikel dokumentiert, wobei seine eindeutige Fokussierung auf die kultischen und okkulten Aspekte unverkennbar die Rezeption der romantisch - esoterischen Hexenliteratur erkennen lässt.50 Entsprechend stellte er das Hexenwesen in die Tradition einer „ariogermanischen Geheimreligion“, des sogenannten Armanismus, und führte den Hexensabbat auf kultische Versammlungen einer ursprünglich „geheim gepflegten weiblichen Priesterschaft der Heilsräthinnen“ zurück, die sich einst unter „der Leitung der geheimen Armanenschaft“ versammelt hätten.51 Die Hexen selbst präsentierte er als mit okkulten Fähigkeiten ausgestattete „weise Frauen“ und bezeichnete die Hexenverfolgung entsprechend als „Hauptschlag gegen das okkult veranlagte mediumistische Wesen der Germaninnen“.52 Dabei interessierte er sich vor allem für rituelle Praktiken wie den sogenannten Hexentanz, in dessen Zentrum er eine ekstatisch - rauschhafte Transzendenzerfahrung – die Einswerdung mit dem Göttlichen – vermutete : „Der mythische Sinn der Hexentänze war derselbe der bei allen ähnlichen Weihehandlungen den letzten Schluss einer esoterischen Geheimlehre bildete,

49 Vgl. allg. Nicholas Goodrick - Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1997; Helmut Zander, Sozialdar winistische Rassentheorien aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreiches. In : Puschner / Schmitz / Ulbricht. ( Hg.), Handbuch, S. 224–251. 50 Guido List, Das deutsche Hexenthum. In : Der Scherer. Erstes illustriertes Tiroler Witzblatt für Politik, Wissenschaft und Kunst, 2 (1900), S. 5–7. 51 Guido List, Der Übergang vom Wuotanismus zum Christentum, Berlin - Lichterfelde 1926 ( zuerst 1911), S. 102; vgl. auch ders., Die Armanenschaft der Ariogermanen. Erster Teil, Leipzig 1908. 52 List, Wuotanismus, S. 101 ( Fußnote ).

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nämlich der, dass der Teilnehmer sich schon im Erdenleben mit der Gottheit vereinige.“53 Im Anschluss an List hat die völkische Esoterik in den 1920er Jahren eine Vielzahl entsprechender Spekulationen über das vermeintliche Wissen und die Praktiken der germanischen weisen Frauen, Seherinnen oder Heilsrätinnen hervorgebracht. Genannt seien hier etwa die völkischen Märchendeutungen Phillip Stauffs (1876–1923), in denen die Hexen auf „vom Volke“ verehrte „Heils - “ und „Weistumswalterinnen“ zurückgeführt wurden, die über „besonders geheimes Wissen“ und „angeborene Fähigkeiten“ verfügt hätten, aufgrund derer sie sich den Hass der Kirche zugezogen hätten.54 Zum heterogenen Feld völkischer Esoterik am Ende der Weimarer Republik gehörten aber auch Deutungen der Hexentänze als Formen eines okkulten „Runenyoga“.55 Hier sei etwa auf die Ausführungen des völkischen Yogi und Astrologen Ernst Issberner Haldane (1886–1966) ver wiesen, der die Hexen zudem mit seinem Spezialgebiet, der „wissenschaftlichen Handlesekunst ( Chirosophie )“, in Verbindung brachte.56 Nicht zuletzt spielten in der völkischen Esoterik auch die erwähnten „sexualmagischen“ Deutungen des Hexensabbats als Ort rituellen Geschlechtsverkehrs eine Rolle. Die Attraktivität derartiger Spekulationen für die Völkischen basierte vor allem auf der Möglichkeit, sie mit eugenischen Rassenzuchtvorstellungen zu kombinieren. In diesem Sinne hatte bereits der völkische Lebensreformer und Theosoph Max Ferdinand Sebaldt (1859–1916) über den Ursprung des Hexensabbats im „physischen Begattungs - Mysterium“ der alten Germanen spekuliert.57 Die Vorstellung, dass sich das Wissen der Hexen auf Rassenzucht bezogen habe, manifestierte sich schließlich in einer Vielzahl weiterer Darstellungen. Entsprechend äußerte sich auch der wohl einflussreichste und umstrittenste völkische Rassenzuchtideologe Willibald Hentschel (1858–1947). Seiner Ansicht nach lebten im Hexenglauben Erinnerungen an altgermanische „Wal-

53 List, Hexenthum, S. 6 f. 54 So heißt es in einem komprimierten Artikel seiner Vorstellungen : Philipp Stauff, Von den Hexen. In : Staatsbürgerzeitung vom 24. 10. 1911. Vgl. ferner ders., Märchendeutungen. Sinn und Deutung der deutschen Volksmärchen, Leipzig 1921. Zu Stauff grundlegend Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff 1876–1923. Leben und Wirken eines völkischen Ideologen, Magisterarbeit FU Berlin 2003. 55 Vgl. etwa Siegfried A. Kummer, Heilige Runenmacht. Wiedergeburt des Armanentums durch Runenübungen und Tänze, Hamburg 1932. Vgl. zu Autor und Spektrum Bernd Wedemeyer, Runengymnastik. Zur Religiosität völkischer Körperkultur. In : Schnurbein / Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion, S. 367–385. 56 Vgl. Ernst Issberner - Haldane, Wissenschaftliche Handlesekunst ( Chirosophie ) auf Grund gereinigter alter Quellen und 20 - jähriger eigener Studien und praktischer Erfahrungen im In - und Auslande, Berlin 1925, bes. S. 17 f. Zum Autor vgl. die Hinweise bei Goodrick - Clarke, Wurzeln, S. 146 f.; Bernd Wedemeyer - Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. 57 G. Hermann [ Max Ferdinand Sebaldt ], „Genesis“. Das Gesetz der Zeugung. 5 Bände, Leipzig 1899, hier Band 3, S. 84. Vgl. zu Sebaldt die Hinweise bei Wedemeyer - Kolwe, „Der neue Mensch“, bes. S. 201 ff., 264 f.; Goodrick - Clarke, Wurzeln, S. 50 f.

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burgen“ fort, auf denen polygame Massenhochzeiten mit anschließender Fortpflanzung gefeiert worden seien : „Die Walburg aber war der Ankergrund der vorzeitigen Denkungsart und Gesittung : hier wurzelten die Heilsgedanken, welche das Volk, es in rassischer Zucht sachte über sich selbst erhebend, durch Beschwernisse und Fährnisse geleistet hatten.“58 Auch List hatte den Hexenkult als Teil eines „göttlichen Sexualdienstes“ interpretiert, dessen „Endzweck“ es gewesen sei, „bewusst eine Edelrasse zu züchten“.59 Im Bereich der Ariosophie ist dieses Muster dann am nachhaltigsten von Theodor Czepl, einem langjährigen Weggefährten des Lanz von Liebenfels (1874–1954), vertreten worden. Czepl hatte im „Handbuch der Ariosophie“ (1931) die Hexe respektive germanische Frau direkt auf ihre Funktion als „Zuchtmutter des Gottmenschentums“ reduziert : „Diese weisen Frauen, die Hagadiesen, unser heutiges Wort ‚Hexen‘, wussten eben nicht nur um die Urquellen des Lebens überhaupt, sondern auch um die Wege zur Zucht und Erhaltung der arischen Menschheit. Die arische Rasse konnte nur gefällt werden, wenn dieses arische Urmütterwissen radikal ausgemerzt wurde.“60 Eine ganz eigene Form romantisch - mythologischer Deutung der Hexenverfolgung entwickelte schließlich der österreichische Germanist Otto Höf ler (1901–1987). Dieser hatte in seiner Habilitationsschrift über kultische Geheimbünde bei den Germanen (1934) „wehrhafte Männerbünde“ beschrieben, in denen er „den Ursprung der eigentlich staatlichen Kräfte und Gemeinschaftsformen“ vermutete.61 Referenzpunkt waren dabei die Sagen des Wilden Heeres, die er als tatsächlich stattgehabte Umzüge ekstatischer Männerbünde interpretierte, mittels derer die Gemeinschaft gegen innere wie äußere Feinde verteidigt worden sei. Das zentrale Element der Wilden Jagd erblickte Höf ler dabei in der Verfolgung und Tötung weiblicher dämonischer Wesen. Allerdings wollte er diesen germanischen Dämonenglauben von der „zügellosen Ausschweifung“ der Hexensagen durchaus unterschieden wissen, verabscheute er 58 Willibald Hentschel, Walburgen und Tanzberge, Zeitz 1917, S. 17. Vgl. zum Autor Dieter Löwenberg, Willibald Hentschel (1858–1947). Seine Pläne zur Menschenzüchtung, sein Biologismus und Antisemitismus, Mainz 1978; Peter Emil Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart 1988, S. 219–264; Gregor Pelger, Willibald Hentschel. In : Ingo Haar / Michael Fahlbuch ( Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 239–243. 59 List, Wuotanismus, S. 102. 60 Fr. Dietrich [ Theodor Czepl ], Der Kult der Gottesmutter. In : Karl Kern ( Hg.), Handbuch der Ariosophie, Band1, Pforzheim 1931, S. 125–138, hier 129. Über den Autor ist wenig bekannt; vgl. die Hinweise bei Goodrick - Clarke, Wurzeln, S. 101, 106. 61 Otto Höf ler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Band 1, Frankfurt a. M. 1934, S. VII. Zu Höf lers Männerbundtheorie vgl. Esther Gajek, Germanenkunde und Nationalsozialismus. Zur Verflechtung von Wissenschaft und Politik am Beispiel Otto Höf lers. In : Richard Faber ( Hg.), Politische Religion – Religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 173–204; Stefanie von Schnurbein, Geheime kultische Männerbünde bei den Germanen. Eine Theorie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Ideologie. In : Gisela Völger / Karin von Welck ( Hg.), Männerbande – Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kultur vergleich, Band 1, Köln 1990, S. 97–102.

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diese doch als „südländische Geschlechtsorgien“. In den Sagen des Wilden Heeres hingegen trete das „erotische Moment“ völlig zurück, denn die hier zum Ausdruck kommende „Ekstase“ sei „keine sexuelle, sondern eher Kampfraserei“.62 Diese positive Akzentuierung kultisch - ritueller und ekstatischer Momente der altgermanischen Religion stand im diametralen Gegensatz zum Germanenbild Bernhard Kummers, mit dem sich der von der SS protegierte Höf ler auch eine jahrelange Fehde lieferte – eine Auseinandersetzung, die Höf ler schließlich für sich entscheiden konnte.63

5.

Weiblichkeit und Hexenverfolgung

Bei Höf lers hexenjagenden kultischen Männerbünden scheint die antifeministische Stoßrichtung auf der Hand zu liegen. In der Regel jedoch waren völkische Hexendeutungen in weihevolle Ausführungen über die vermeintlich hohe Stellung der weisen Frauen bei den alten Germanen eingebunden. Hier stellte der Grimmsche Topos der „germanischen Frauenverehrung“ ebenso einen Gemeinplatz dar wie romantische Spekulationen einer besonderen Beziehung zwischen Weiblichkeit und Religion. In der völkischen Esoterik avancierten diese Vorstellungen schließlich zur Behauptung besonderer okkulter Kräfte germanischer Frauen. So heißt es etwa bei List : „Die Alten hatten ganz recht, wenn sie in diesen Frauen Spuren des Göttlichen zu finden glaubten; es war eben nichts anderes als das Ursprünglich - Göttliche, was wir auch heute noch an unseren Frauen – wenn wir es finden ! – so über alles lieben, und welche göttliche Eigenschaft der Frau auch heute noch am zutreffendsten als ‚Innerlichkeit‘ bezeichnet wird.“64 In dieser Deutungstradition bewegte sich auch Himmler, wenn er die germanische Frau vage als „Hüterin alten Wissens und der alten Lehre“ bezeichnete.65 Mit einer besonderen Wertschätzung von Weiblichkeit oder gar mit einem positiven Bezug auf die Emanzipation hatten derartige Statements freilich nichts gemein – im Gegenteil –, waren sie doch in der Regel eingebettet in ein ausgesprochen antifeministisches ideologisches Korsett : Die angeblich besondere Wertschätzung der Frau als Hüterin von Religion, Kult und Fortpflanzung lief auf ihre Ausgrenzung aus der gesellschaftlichen Sphäre und somit auf eine Unterfütterung traditioneller bürgerlicher Rollenmuster hinaus.66

62 Höf ler, Geheimbünde, S. 277 ff.; insgesamt ebd. 276–286. 63 Vgl. zu dieser Kontroverse Gajek, Germanenkunde; Schnurbein, Männerbünde; Schier, Hexenwahn, S. 69 ff.; Leszczynska, Hexen, S. 295 ff. 64 List, Armanenschaft 1, S. 43 f. 65 Heinrich Himmler, Geheimreden 1933 bis 1945. Hg. von Bradley F. Smith, Frankfurt a. M. 1974, S. 103 ( Rede des Reichsführers SS anlässlich der Gruppenführer - Besprechung in Tölz am 18. 2. 1937). 66 Vgl. allg. Uwe Puschner, Völkische Diskurse zum Ideologem „Frau“. In : Walter Schmitz / Clemens Vollnhals, ( Hg.), Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus, Dresden 2005, S. 45–75; Julia Hornig, Völkische Frauenbilder.

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Dennoch boten Figuren und Topoi wie die „weise Frau“ und die „germanische Frauenverehrung“ Frauen aus den Reihen der völkischen Bewegung durchaus Möglichkeiten, völkische Programmatik mit Forderungen nach Gleichstellung der Geschlechter zu verknüpfen. In diesem Sinne waren in der Weimarer Republik vereinzelt Frauen in Erscheinung getreten, deren Position sich als völkisch - nationaler Feminismus bezeichnen lässt. Anders als das Gros ihrer männlichen – und wohl auch weiblichen – völkischen Mitstreiter standen diese Autorinnen der bürgerlichen Frauenbewegung keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber, sondern hielten mit dieser mitunter sogar Verbindung. Zwischen den völkischen Frauen bestand ein eher lockerer Zusammenhang, der sich weniger in der Gründung eigener Organisationen niederschlug, sondern hauptsächlich über gemeinsame Publikationen und Vortragstätigkeiten hergestellt wurde.67 Dabei konzentrierte sich diese publizistische Tätigkeit zum großen Teil auf die frühen 1930er und die Anfangsjahre der NS - Herrschaft, verbanden viele völkische Frauen mit der Machtübernahme der NSDAP doch die Hoffnung einer raschen Umsetzung ihrer Vorstellungen. Relativ gut erforscht ist in diesem Zusammenhang die Gruppe um Sophie Rogge - Börner (1878–1955), aus deren Reihen auch die wohl wichtigste Sammelpublikation völkischer Feministinnen her vorgegangen ist, der unmittelbar nach der Machtübernahme erschienene Band „Deutsche Frauen an Adolf Hitler“. Hierin befindet sich auch ein Beitrag der Kunsthistorikerin und Schriftstellerin Margarete Kurlbaum - Siebert (1874– 1938), in dem auch das Hexenthema angesprochen wird. Dabei beschwor die Autorin zunächst in einem ähnlichen Duktus wie die völkischen Männer das „Wissen vom letzten Geheimnis des Werdens“ und den „reichen, wahren Anteil an der Göttlichkeit“ der germanischen weisen Frauen; diese Position erscheint hier aber als eine durchaus machtvolle, und so forderte sie ganz explizit die Rückkehr der urgermanischen „Priestermacht der Frau“ über den Mann.68 Der Rekurs auf das Hexenthema bot mithin durchaus Möglichkeiten einer grundsätzlichen Kritik an der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und machte dabei auch vor den Männern des eigenen völkischen Kollektivs nicht halt. So avancierten die Hexenprozesse zu einem von „entarteten“ – d. h. christianisier-

In: Ariadne. Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, 43 (2003), S. 37– 42. 67 Zum Spektrum des völkischen Feminismus vgl. Eva Schöck - Quinteros / Christiane Streubel ( Hg.), Ihrem Volk verantwortlich. Frauen der politischen Rechten (1890–1933). Organisationen – Agitationen – Ideologien, Berlin 2007; Christiane Streubel, Radikale Nationalistinnen. Agitation und Propaganda rechter Frauen in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2006; Eva - Maria Ziege, Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz 2002, S. 171–183; Ulrich Nanko, Das Spektrum völkisch - religiöser Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins „Dritte Reich“. In: Schnurbein / Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion S. 208–226. 68 Margarete Kurlbaum - Sieber[ t ], Nur das jüdische Gesetz nahm dem Weibe das Priestertum. In : Irmgard Reichenau ( Hg.), Deutsche Frauen an Adolf Hitler, Leipzig 1933, S. 54–58. Vgl. zur Autorinnengruppe dieses Bandes Ziege, Mythische Kohärenz, S. 176 ff.

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ten – Männern des eigenen Volkes durchgeführten Angriff auf die rechtmäßige ( nicht nur religiöse ) Stellung der Frau. In diesem Sinne betonte eine gewisse Friederike Müller - Reimerdes in ihrer programmatischen Schrift „Der christliche Hexenwahn. Gedanken zum religiösen Freiheitskampf der deutschen Frau“ (1935), die Hexenverfolgung gehe auf eine „völlige Entartung deutschen Mannestums“ zurück, denn nur so sei es zu erklären, „dass der schlimmste Schlag, der einem Todesstreiche aus blutiger Henkershand gleichkam, der deutschen Frau vom artgleichen Mann versetzt wurde, und zwar durch das fürchterliche Buch ‚Der Hexenhammer‘.“69 Wie eine Vorwegnahme späterer Darstellungen aus der Frauenbewegung der 1970er und frühen 1980er Jahre mutete schließlich die Stilisierung der verfolgten Hexen zu historischen Identifikationsfiguren an. Am deutlichsten formulierte dies die völkische Aktivistin Prinzessin Marie Adelheid Reuß zur Lippe (1895–1993) : „Wir Deutschen, heidnischen Frauen der Gegenwart [...] bekennen uns freudig zu jenen als ‚Hexen‘ verfolgten, gefolterten und verbrannten Frauen und Mädchen und grüßen sie als unsere edlen, freien Schwestern ! Wir geloben ihnen, dass ihr unschuldiges Blut nicht umsonst geflossen sein soll. In uns sollen sie wieder lebendig werden, und ob gleich hunderte von Jahren zwischen ihnen und uns liegen, sollen sie doch in uns über jene Kirche siegen, die sie gepeinigt und getötet hat im Zeichen der ‚christlichen Nächstenliebe‘, weil sie mit edlem Blut nichts Edles zu beginnen wusste.“70 Auch die völkischen Frauen machten für die Hexenverfolgung sowie für die „Entartung“ des deutschen Mannes mithin vornehmlich Kirche und Christentum verantwortlich. Bezeichnend war in diesem Sinne etwa der Titel der antiklerikalen Propagandaschrift über die Hexenverfolgung Mathilde Ludendorffs : „Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen“ (1934).71 Dabei erschien die 69 Friederike Müller - Reimerdes, Der christliche Hexenwahn. Gedanken zum religiösen Freiheitskampf der deutschen Frau, Leipzig 1935, S. 17. Die Autorin spielt hier auf den deutschen Dominikaner Heinrich Kramer an, den Verfasser des Hexenhammers. 70 Marie Adelheid Prinzessin zur Lippe, Nordische Frau und nordischer Glaube, Berlin 1934. Die Autorin war mit dem Ministerialrat Hanno Konopath verheiratet, einem wichtigen Organisator des „nordischen Gedankens“ zu Beginn der 1930er Jahre. Vgl. die Hinweise bei Nicola Karcher, Schirmorganisation der nordischen Bewegung : Der nordische Ring und seine Repräsentanten in Norwegen. In : Nordeuropa - Forum, 19 (2009), S. 7–35. 71 Vgl. Ludendorff / Cammer, Christliche Grausamkeit. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gehörte zu den wichtigsten Themenfeldern Mathilde Ludendorffs. Aufgrund ihrer zentralen Funktion für die Ludendorff - Bewegung nimmt sie unter den völkischen Feministinnen aber eine Sonderrolle ein. Vgl. Sabine Hering, „Deutsch und nichts als Deutsch“ – Mathilde Ludendorff ohne „Heiligenschein und Hexenzeichen“. In : Ariadne. Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Nr. 18 (1990), S. 40–46; Ilse Erika Korotin, Die politische Radikalisierung der Geschlechterdifferenz im Kontext von „Konservativer Revolution“ und Nationalsozialismus. Mathilde Ludendorff und der „Völkische Feminismus“. In : dies. / Volker Eickhoff ( Hg.), Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der Konservativen Revolution, Wien 1997, S. 105–127; Annika Spilker, Geschlechterverhältnisse und Zukunftsvorstellungen bei der Ärztin und völkischen Aktivistin Mathilde Ludendorff (1877–1966). In : Feministische Studien, 27 (2009) 2, S. 210–224.

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Hexenverfolgung als ein letzter Akt patriarchaler Zersetzung eines idealisierten altgermanischen Geschlechter verhältnisses, der mit der Christianisierung der germanischen Völker im frühen Mittelalter eingesetzt habe. An diesem Punkt beriefen sich viele völkische Ideologinnen zudem auf den erwähnten Skandinavisten Bernhard Kummer : Kummer, der den völkischen Feministinnen in den von ihm herausgegebenen Publikationsorganen auch viel Raum zur Verfügung stellte, hatte in seinen Texten das Bild eines ursprünglich „ebenbürtigen Nebeneinanders männlicher und weiblicher Persönlichkeiten“ im germanischen Norden gezeichnet, welches dann im Zuge der Christianisierung zerstört und durch die „artfremde“ christliche Abwertung des Weiblichen ersetzt worden sei. Dabei beschrieb er eine jahrhundertelange Passion der deutschen Frau, die schließlich in den Hexenprozessen kulminiert sei : „Ein Blick auf den Leidensweg dieser Frauen bis zum Hexenhammer am Vorabend der Reformation zeigt deutlicher als alles die sittlichen Verluste infolge der Mission. Denn schließlich ist die Zeit vor Luther, oder vor der großen Aufklärung, in der man Schamanen heilig spricht und Frauen verbrennt, der klarste Vollzug jenes Taufbefehls : Bete an, was Du verbrannt hast ! Verbrenne, was Du angebetet hast !“72 Allerdings lief das Konzept der altgermanischen „Ebenbürtigkeit“ zwischen Mann und Frau natürlich keineswegs auf eine grundsätzliche Infragestellung geschlechtlicher Differenzen hinaus, sondern basierte auf einem komplementären oder polaren ( statt einem hierarchischen ) Geschlechtermodell : Demnach verkörperten Männlichkeit und Weiblichkeit verschiedene, aber immer aufeinander bezogene und sich ergänzende Seinsweisen, deren Polarität in der Ordnung der Dinge vorgegeben sei.

6.

Völkischer Orientalismus und Antisemitismus

Die Zurückführung der Zerstörung dieses komplementären Geschlechtermodells auf äußere Einflüsse machte im völkischen Feminismus aber keineswegs bei Kirche und Christentum halt. Durchaus im Anschluss an Figuren aus dem antiklerikalen Diskurs des 19. Jahrhunderts wurde die „artfremde“ Unterdrückung der germanischen Frau in der Regel auf orientalische Ursprünge zurückgeführt. Entsprechend heißt es in dem Pamphlet der Prinzessin zur Lippe, „nur ein orientalisch bestimmter Geist“ sei fähig gewesen, sich die grausamen Praktiken der Hexenprozesse „überhaupt zu erdenken“.73 In diesem Sinne hatte insbesondere Bernhard Kummer in seinen Texten immer wieder auf die vermeintlich fundamentale Differenz zwischen Orient und Okzident auf dem Gebiet des Geschlechterverhältnisses hingewiesen : „Wenn überhaupt auf einem, so ist auf

72 Kummer, Mission als Sittenwechsel, S. 21, 18. Der Autor bezieht sich hier auf einen Ausspruch des heiligen Remigius von Reims (436–533) während der Taufe Chlodwigs im Jahre 497/498. 73 Konnopath, Nordische Frau, S. 19.

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dem sexuellen Gebiete der germanische Mensch vom orientalischen, vor allem vom Semiten, durch eine Welt geschieden.“74 Derartige Referenzen auf den Orient als Herkunftsraum vermeintlich verhängnisvoller, „artfremder“ Einflüsse spielten in völkisch - nationalsozialistischen Hexenrekursen generell eine zentrale Rolle. Wie angedeutet, konnten völkische Autoren diesbezüglich durchaus an überkommene Argumentationsfiguren anknüpfen. Im Zentrum des völkischen Rationalismus stand denn auch die religionshistorische Zurückführung des Hexen - und Aberglaubens auf orientalische Grundlagen, die dann im Zuge der Christianisierung nach Europa exportiert worden seien. Exemplarisch lässt sich dies bei Rosenberg aufzeigen, für den die obskure Behauptung Grünwedels, der „Hexenwahn“ sei etruskischen Ursprungs, vor allem deswegen attraktiv war, weil Grünwedel die Etrusker als fremde Invasoren aus Vorderasien dargestellt und dabei eine ausgeprägte Aversion gegenüber allem Orientalischen und Asiatischen an den Tag gelegt hatte : „Einem Himmel von Idealen, der den Europäer zum Normalmenschen machte, steht ewig Asien gegenüber : Unnnatur, himmelsstürmender Hochmut, Heuchelei und erlogene Askese, Blutdurst, Verhetzen ganzer Völker, Besessenheit, Hexerei und Zauberei der infamsten Art.“75 In diesem Sinne hatte auch Rosenberg die „zauberhafte Magie des Morgenlandes und Afrikas“ dem germanisch - nordischen Denken entgegengesetzt und „alles das, was mit Ablässen, Fegefeuer, Gebet, Hexenwahn und Zauberdingen zu tun hat“ als „eine unmittelbare Fortführung des orientalischen Denkens“ bezeichnet.76 Der Rekurs auf den Orient bzw. die orientalischen Ursprünge des Christentums zielte im völkischen Diskurs vor wiegend auf die jüdische Herkunft der christlichen Religion ab, und für sämtliche hier herangezogene Deutungen war eine Form der Judenfeindschaft konstitutiv, die sich als antichristlicher Antisemitismus bezeichnen lässt : Hierunter kann eine religiös bzw. religionsgeschichtlich argumentierende Form von Judenfeindschaft verstanden werden, die nicht christlich begründet wird, sondern sich im Gegenteil gegen die christliche Religion als vermeintlich bloße Fortführung des Judentums selbst richtet.77 Entspre-

74 Kummer, Midgards Untergang, S. 245. 75 Grünwedel, Tusca, S. 159. 76 Rosenberg, Dunkelmänner, S. 59. Vgl. zu Rosenbergs Orientbild Miloslav Szabó, Rasse, Orientalismus und Religion im antisemitischen Geschichtsbild Alfred Rosenbergs. In : Werner Bergmann / Ulrich Sieg ( Hg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 211–230. Zu völkischen Orientrepräsentationen ferner Felix Wiedemann, Der doppelte Orient. Zur völkischen Orientromantik des Ludwig Ferdinand Clauß. In : Zeitschrift für Religions - und Geistesgeschichte, 61 (2009) 1, S. 1–24; ders., „Allahs Sonne“ und „Europas eigene Religion“. Die Verschränkung von Arabophilie und Neuheidentum in der rechtsextremen Ideologie Sigrid Hunkes. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 57 (2009), S. 891–912. 77 Zum Begriff des antichristlichen Antisemitismus vgl. Uriel Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich 1870–1914, London 1975, S. 223–289.

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Hexendeutungen im Nationalsozialismus

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chend wurden die Motive der Hexenverfolgung in völkischen Texten denn auch vorwiegend im Alten Testament und in der jüdischen Religion verortet. Besonders massiv schlug sich diese Argumentationsfigur im Diskurs des völkischen Feminismus nieder. Dreh - und Angelpunkt war hier die These vom Ursprung des Patriarchats im Judentum. Exemplarisch sei hier auf Margarete Kurlbaum - Siebert verwiesen, die der Hexenverfolgung in diesem Sinne einen eindeutigen Ursprung zuwies : „Alle Herabwürdigung der Frau ward zuerst erklärt allein vom jüdischen Gesetz. Von dem jüdischen Mann. Dieser Fluch ward als bitterster und verhängnisvollster der Welt vom Judentum gegeben.“78 Ganz ähnlich argumentierte auch Mathilde Ludendorff und stilisierte die Verbrennung der Hexen zu einem direkten Opfer an den jüdischen Rachegott – „blonde Nornen“, so die Autorin, seien „als Hexen auf dem Holstoße Jahwe zu Ehren“ zu Hunderttausenden verbrannt worden.79 Auch in den völkisch - rationalistischen Deutungen war der Verweis auf den vermeintlich orientalischen Charakter des Aberglaubens eindeutig auf das Judentum bezogen. Dies zeigen nicht nur Rosenbergs Bemerkungen über die „vorderasiatischen“ Etrusker,80 sondern etwa auch die Ausführungen des nationalsozialistischen Pädagogen und Philosophen Ernst Krieck (1882–1947). Dieser hatte in einem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1941 den „Hexenwahn“ als „artfremden Asiatismus“ bezeichnet und zu den „Früchten der Verjudung der Kirche im Mittelalter“ gerechnet.81 Erwähnt sei schließlich noch das verschwörungsmythische antisemitische Narrativ völkischer Geschichtsrekurse. Dieses knüpfte zwar durchaus an der religionshistorischen Zurückführung von Kirche und Christentum auf alttestamentliche Grundlagen an, bedurfte dieses Umwegs aber im Grunde nicht. So fungierten die „überstaatlichen Mächte“ – wie die der Verbreitung des Hexenwahns geziehenen Jesuiten in der Propaganda der Ludendorff - Bewegung – letztlich als „des Juden Kampfscharen“ und reduzierten sich auf diese Weise zu einem einzigen diabolischen Gesamtantagonisten.82 Entsprechend skizzierte Mathilde Ludendorff als Ziel des Jesuitenordens die Errichtung des „tausendjährigen Jahwereiches“.83 Nicht zuletzt bewegte sich auch Himmlers Bemerkung, bei den Hexenprozessen habe wohl „unser aller ewiger Feind, der Jude, in irgendeinem Mantel oder durch irgendeine seiner Organisationen“ – gemeint war hier zweifellos die katholische Kirche – „seine blutige Hand“ im Spiel gehabt, ganz in den Bahnen des antisemitischen Verschwörungsmythos. 78 Kurlbaum - Siebert, Gesetz, S. 56 f. 79 Mathilde Ludendorff, Deutscher Gottglaube, Leipzig 1927, S. 33. 80 Gerade die Kategorie des „Vorderasiatischen“ – in Abgrenzung zum „Orientalischen“ – war in der völkisch - nationalsozialistischen Rassentheorie eindeutig auf das Judentum bezogen. Vgl. Wiedemann, Doppelter Orient, S. 17 ff. 81 Ernst Krieck, Die Verjudung des Christentums im Mittelalter. In : Volk im Werden, 3 (1941), S. 107–115, hier 110. 82 Mathilde Ludendorff ( Hg.), Die Judenmacht. Ihr Wesen und Ende, München 1939, S. 51–310. 83 Ludendorff, Sieg der Wissenschaft, S. 166.

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7.

Felix Wiedemann

Religion und Hexendiskurs

Demnach, so lässt sich abschließend festhalten, basierte die Attraktivität von Hexenglauben und Hexenverfolgung für völkisch - nationalsozialistische Autoren maßgeblich darauf, dass das Thema zur Veranschaulichung zentraler Figuren und Grundannahmen des völkischen Religions - und Geschichtsdiskurses herangezogen werden konnte. Als von jeher stark emotional aufgeladenes historisches Sujet avancierte die Hexenverfolgung zum integralen Bestandteil einer ausgemachten Leidens - und Passionsgeschichte des eigenen Volkes, für die sich die Hexe als weibliches Opfer in besonderer Weise zu eignen schien. Im Rückgriff auf tradierte Interpretationsmuster von Hexenglauben und Hexenverfolgung aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert bot sich hier aber wie bei kaum einem anderen historischen Gegenstand die Möglichkeit, negative Abgrenzung und positive Konturierung eigener – vornehmlich „neuheidnischer“ – Religionsentwürfe in einem einzigen historischen Bild zu verdichten. Während über die sich im Antiklerikalismus bzw. antichristlichen Antisemitismus manifestierende negative Seite unter den völkisch - nationalsozialistischen Autoren weitgehend Konsens herrschte, weisen die in den Hexenrekursen zum Ausdruck kommenden positiven Vorstellungen eines „arteigenen“ Glaubens auf den weitgehend heterogenen Charakter des völkischen Religionsdiskurses hin. So korrespondierte die Adaption des rationalistisch - antiklerikalen Erklärungsmodells der Hexenverfolgung mit Konstruktionen einer „rationalistischen“ arteigenen Religion, die frei von vermeintlich mystisch - okkulten oder dogmatischen Elementen sein sollte. Demgegenüber orientierten sich umgekehrt Autoren, deren Modell einer arteigenen Religion sich eher an kultisch - religiösen Elementen, an Magie und Mythos orientierten, weitgehend am romantischen Deutungsmuster und stellten den Hexenglauben als Relikt eines ursprünglichen authentischen Heidentums dar. Nicht zuletzt reflektierten völkisch - nationalsozialistische Hexendarstellungen schließlich zentrale Positionen des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses. Während ein Großteil der ( männlichen ) Autoren die verfolgten Hexen auf ihre Opferrolle oder ihre Funktion als Hüterin von Religion und Fortpflanzung reduzierte, bot die Präsentation der verfolgten Hexen als machtvolle Priesterinnen Raum für völkische Frauen, die versuchten, völkische Programmatik mit Forderungen nach Geschlechtergleichheit zu amalgamieren. Nachdem die Nationalsozialisten im Laufe der 1930er Jahre hingegen die Möglichkeiten parteiunabhängiger völkischer Akteure weitgehend eingeschränkt hatten, reduzierte sich auch die Spannbreite publizierter Hexendeutungen merklich. Mehr und mehr fokussierten sich entsprechende Darstellungen auf ihre Funktion als antiklerikales Propagandainstrument, wie dies auch das Hexenforschungsprojekt des SD erkennen lässt.

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Völkisch - religiöse Runengymnastiker im Nationalsozialismus Bernd Wedemeyer - Kolwe

Unter den ohnehin schon außenseiterischen völkisch - religiösen Gruppen und Ideologien nahmen die Runenokkultisten – und hier vor allem die Runengymnastiker – eine besonders abseitige Position ein. Auch in der Fachliteratur zur völkischen Bewegung werden sie als außerordentlich randständig eingestuft.1 Besonders die Runengymnastiker hinterließen in der ohnehin schon schwer zu recherchierenden völkischen Bewegung fast noch weniger Spuren als andere Völkische, und ihre Hinterlassenschaften weisen zudem auch noch undeutliche Konturen auf und sind mitunter schwer zu lesen.2 Historische Abwege – und die Runengymnastiker bewegten sich zweifellos auf einem solchen – erfahren jedoch immer dann ein besonderes Interesse, wenn man danach fragt, wie sich derartige Außenseiter in extremen politischen Situationen verhalten. Die Runengymnastiker hatten im liberalen Klima der Weimarer Zeit noch eine von vielen kulturpolitischen Positionen eingenommen. Die Zeit des Nationalsozialismus, zu der sie ja trotz Differenzen eine Affinität besaßen, schränkte jedoch – zu ihrem eigenen Erstaunen – ihre Möglichkeiten erheblich ein.3 Dies traf vor allem auf die beiden wesentlichen Runengymnastiker Friedrich Bernhard Marby und Siegfried Adolf Kummer zu, die zeitlebens Konkurrenzkämpfe miteinander ausfochten. Anhand ihrer Lebensläufe soll im Fol1 2

3

Als Beispiel Sandra Franz, Die Religion des Grals. Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebensreform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871–1945), Schwalbach 2009, S. 433. Frühe Hinweise in der Fachliteratur blieben lange Zeit unbeachtet. Vgl. Nicholas Goodrick - Clarke, The occult Roots of Nazism. Secret Aryan Cults and their Influence on Nazi Ideology, London 1985, S. 160–162, 174; sowie später Bernd Wedemeyer - Kolwe, „Der Neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004, S. 174–187, 410–413; ders., Runengymnastik. Von völkischer Körperkultur zur alternativen Selbsterfahrungspraktik ? In : Uwe Puschner / G. Ulrich Großmann ( Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 329–340. Vgl. als Beispiel etwa Ulrich Nußbeck, Karl Theodor Weigel und das Göttinger Sinnbildarchiv. Eine Karriere im Dritten Reich, Göttingen 1993; Ulrich Hunger, Wissenschaft und Ideologie : Die Runenkunde im Nationalsozialismus. In : Puschner / Großmann (Hg.), Völkisch und national, S. 312–328.

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Bernd Wedemeyer-Kolwe

genden beispielhaft ein Blick auf völkisch - religiöse Positionen im Nationalsozialismus geworfen werden.

1.

Völkisch - religiöse Runengymnastik

Die von Marby und Kummer entworfene Runengymnastik lässt sich am besten vor dem Hintergrund der völkischen Asienrezeption, der Ariosophie und der Runenkunde verstehen.4 Diese Gruppen und Richtungen negierten oder relativierten den historischen Einfluss des „ex oriente lux“ auf die mitteleuropäischen vor - und frühgeschichtlichen Kulturen und setzten dieser wissenschaftlich akzeptierten Theorie ein „ex okzidente lux“ entgegen. In einer Art umgekehrter historischer Rezeption verlegten die Runenkundler und Ariosophen die Entstehung der germanischen Kultur auf das Neolithikum zurück und positionierten sie als älteste ausgebildete Hochkultur, die angeblich schon als erste die Schrift ( nämlich die Runen ) beherrschten. Diese „Urdeutschen“ hätten als erste Menschenrasse die gesamte restliche Welt mit ihrer Kultur kolonialisiert und damit die asiatische Gesellschaft erst möglich gemacht. Nach dem Rückzug der Germanen nach Mittel - und Nordeuropa hätten die asiatischen Völker und später die Römer ihre damals angenommene germanische Kultur wieder nach Mittel - und Nordeuropa zurückgebracht, allerdings als eine Art orientalisierte, d. h. verfälschte Variante der ehemals hochstehenden Kultur der angeblichen neolithischen Vorgermanen. Diese Verdrehung der Rezeptionsgeschichte „bewiesen“ die völkischen Runenokkultisten mittels absurder Umdeutungen neolithischer, bronzezeitlicher und mittelalterlicher Zeugnisse, wie Großsteingräber oder Urnengräberfelder, Siedlungen oder Wehrbefestigungen, die ohne jeden fundierten Beweis in eine phantastische prähistorische Periode zurückdatiert und somit als älteste Zeugnisse der Welt ausgegeben wurden. Beweise für diese Theorie brauchten die Runenokkultisten nicht, denn sie verfügten über gesicherte Zeugnisse und nicht bloß über wissenschaftliche Spekulationen : Sie hatten die Erberinnerung. In einer Art umgekehrten „Reinkarnation“ nahmen die Runenokkultisten, die der Ansicht waren, sie stammten direkt von diesen Urgermanen ab, mit ihren urgermanischen Vorfahren einfach telepatisch Kontakt auf – und zwar bevorzugt an „heiligen“ Orten, wie eben Großsteingräbern, oder umgedeuteten mittelalterlichen Anlagen, wie etwa den Externsteinen. Während dieser Kontaktaufnahme 4

Vgl. zum Umfeld neben Hunger, Runenkunde; Goodrick - Clarke, Occult Roots; Stefanie von Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001; Michael Bäumer, Zur völkischen Religion von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Runen - Okkultisten, Diss. phil. FU Berlin 1997. Zu polemisch und in Bezug auf die seriöse Fachliteratur auch verleumderisch ist Herbert Rätz, Die Religion der Reinheit. Reformbewegung, Okkultismus und Nationalismus. Geschichte und Struktur einer Alltagsreligion, Saarbrücken 2002.

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Völkisch-religiöse Runengymnastiker

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hinterbrachten ihnen ihre Vorfahren die wahre Geschichte der Menschheit. So konnten sie ihre historisch absurde Geschichtsvariante unmittelbar und auch religiös „beweisen“. Und mit dem Einbezug dieser Jenseitsvorstellungen konnte gleichzeitig auch noch die Authentizität dieser Methode belegt werden.5 Einige Runenokkultisten gingen noch einen Schritt weiter. Sie behaupteten bzw. „bewiesen“ durch ihre Erberinnerungsmethode, dass die nordischen Runen nicht nur der Ausgangspunkt jeglicher Schrift, sondern vielmehr ein hochkomplexes religiöses Zeichensystem gewesen seien. Dieser Text ( und damit die reinrassige arische Kultur ) sei jedoch durch die Christianisierung der „Mischrassigen“ vernichtet worden und könne nur noch über die eingeweihten Erberinnerer vom Schlage der Runenokkultisten decodiert werden. Die Runengymnastiker gingen noch über diese Metaebene der Runen hinaus und meinten, die Runen seien ursprünglich eine okkulte Gymnastik gewesen, die die Germanen zur Selbst - und Fernbehandlung ausgeführt hätten, um sich rassisch reiner und gesundheitlich höher zu entwickeln und um telepatischen Kontakt mit ihren Vorfahren aufzunehmen. Über die Nachstellung der Runen mit dem Körper könnten die wahren Eingeweihten – bevorzugt an üblichen „heiligen“ Plätzen wie etwa Großsteingräbern – auch heute noch Kontakt zu den Ahnen finden, sich selbst und andere ( fern )heilen und damit zu den damals gern zitierten „Neuen Menschen“ reinkarnieren, die die Führer einer künftigen antisemitischen und germanischen Weltordnung seien. Die Runengymnastik selbst ist – obwohl die Runengymnastiker dies bestritten haben und ihre heutigen Epigonen dies auch bestreiten würden – allerdings nichts anders als eine Ost - West - Melange aus Yoga, Krankengymnastik, Autosuggestion und klassischen Turnübungen des 19. Jahrhunderts, angereichert mit einer Portion Antisemitismus und Neuheidentum, einer Prise antichristlicher völkischer Denkweise und einem gehörigen Schwung falsch aufgefasster Reinkarnationslehre. Während die Forschung jedoch auf die vielen Ursprungsbezüge zu Yoga und Krankengymnastik hinweist, drehen die Runengymnastiker den Spieß um und behaupten, dass Yoga in Wahrheit nur ein Plagiat und Runengymnastik viel älter sei. Diese Taktik sichert der Runengymnastik heute noch eine große Aufmerksamkeit in der alternativreligiösen und rechtsradikalen Szene zu.6

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6

Vgl. zum weiteren Umfeld dieser, einer völkischen Identitätssuche in der unübersichtlichen Moderne geschuldeten Geschichtsauffassung noch Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994; Richard Faber / Renate Schlesier ( Hg.), Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo Paganismus, Würzburg 1986; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. Derartige Auffassungen finden sich, wenngleich „verwissenschaftlicht“, auch im Teil der zeitgenössischen konservativen deutschtümelnden Universitätskultur wieder. Vgl. Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. Vgl. auch Wedemeyer - Kolwe, Runengymnastik.

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Bernd Wedemeyer-Kolwe

2.

Zwei Lebensläufe in der Zeit des Nationalsozialismus

2.1

Friedrich Bernhard Marby

Friedrich Bernhard Marby (1882–1966) wurde in Aurich geboren und erlernte ab 1898 das Drucker - und Setzerhandwerk. 1915 übernahm er die technische Leitung einer Druckerei in Hannover. Ab 1917 arbeite er bei der Württembergischen Zeitung in Stuttgart und führte von 1925 bis 1927 noch eine große Druckerei, die ihn offenbar finanziell mehr als genügend absicherte. Bis etwa 1922 deutete jedoch noch nichts auf sein Interesse am völkischen bzw. runenokkultistischen Gedankengut hin. Aber schon 1923 gründete er einen eigenen Verlag, in dem er seine eigenen Bücher und Zeitschriften herausgab, die nun bereits eindeutig völkisch orientiert waren. Seine hier publizierten Periodika „Der eigene Weg“, „Hag All“ und „Neudeutsche Zeitung“ belegen seine Umtriebe im völkisch - runenokkultistischen Spektrum.7 Sein 1924 im eigenen Verlag veröffentlichtes Bändchen „Die Sprache des Kopfes“, in dem er in Anlehnung an gängige völkische Theorien eine religiöse Rassenlehre aus der damals weitverbreiteten Phrenologie entwarf, verdeutlicht schon früh Marbys Interesse an Rassenhygiene, Astrologie, völkischer Lebensreform und völkisch - religiösen Fragen. Andere Frühwerke, die er in seinem Verlag veröffentlichte, weisen auf seine intensive Beschäftigung mit Religion hin.8 Marby verbrachte dann nach eigenen unsicheren Angaben die Zeit zwischen 1928 und 1930, nach anderen Quellen bis 1933, in Rimbo ( Schweden ), wo er angeblich Ahnenforschung betrieb und die „weitere Vertiefung seiner Runengymnastik“ fortführte, die er offenbar schon vorher entworfen hatte, mit der er aber erst zwischen 1932 und 1935 mit vier Doppelbänden seiner „Marby Runen- Bücherei“ ans Licht der Öffentlichkeit trat. Kurz zuvor hatte Marby bereits damit begonnen, sich im Eigenstudium mit Botanik, Naturheilkunde, Homöopathie und Magnetismus zu befassen, diese Kenntnisse mit seinem Runengymnastiksystem zu verschränken und seine eigene Berufung als Heiler zu entdecken. An dieser Stelle verließ er dann weitgehend ( und offensichtlich endgültig ) den Boden jedwedes nachvollziehbaren Realismus, denn von nun an hielt er sich für einen Eingeweihten in der Jesus - Nachfolge, der durch Übertragung von Magnetismus Kranke heilen, Blinde sehend und Lahme gehend machen konnte.9 Dass er mit seiner Gabe bzw. mit seinem Jesus - Komplex auf 7 8 9

Dies und das folgende nach Wedemeyer - Kolwe, „Der Neue Mensch“, S. 174–187, 410– 413; ders., Runengymnastik : Zur Religiosität völkischer Körperkultur. In : Schnurbein / Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion, S. 370 f. Friedrich Bernhard Marby, Die Sprache des Kopfes, Stuttgart 1924 ( hintere Unschlagseite mit Publikationsübersicht ). Diese Neigung teilte Marby mit anderen „Erleuchteten“ seiner Zeit. Vgl. zu diesem zeitgenössischen Phänomen etwa Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983; Rudolf Olden, Das Wunderbare oder die Verzauberten. Propheten in deutscher Krise, Berlin 1932; hellsichtig schon Carl Christian Bry, Verkappte Religionen, Gotha 1924.

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Völkisch-religiöse Runengymnastiker

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den Widerstand der Ärzteschaft stieß, ja stoßen musste, focht ihn nicht an. Im Gegenteil : der von den germanischen Ahnen erwählte Marby sammelte – angeblich über seine erfolgreiche Fernheilung zu ihm gestoßenen – Jünger um sich, vermittelte ihnen die Runengymnastik und gründete 1931 den Bund der Runenforscher. Auch Marby begrüßte 1933 die Machtübernahme der Nationalsozialisten, glaubte er doch, mit seinen völkischen Theorien und Aktivitäten nun endlich anerkannt und gefördert zu werden. Daher ging er auch 1935 völlig konform mit den Nürnberger Rassengesetzen, „ein glücksbringendes Geschenk für Deutschland“, da damit sichergestellt sei, dass das deutsche Volk in Zukunft „frei von weiterer heimtückisch und bewusst herbeigeführter Vergiftung des rassischen Blutes mit semitischem Blut“ bleibe.10 Siegessicher erweiterte Marby, der 1933 wieder endgültig nach Stuttgart zog und zusätzlich eine eigene Druckerei eröffnete, zunächst sein Runen - Imperium und nahm in seinen Verlag noch etliche mitstreitende Autoren auf, die sich wie er selbst mit „wissenschaftlicher Pendelforschung“ befassten; ein schaler Euphemismus für eine Ansammlung weiterer völkisch orientierter Hobbyastrologen und selbsternannter Heiler mit Neigung zur Selbststilisierung und Selbstüberschätzung, wie etwa den aus der Jugendbewegung stammenden Verlagsbuchhändler und völkischen Reformer Karl Dietz alias Christoff Dietrich.11 Schon ab 1934 bekam Marby, trotz seiner von 1934 bis 1936 währenden Zugehörigkeit zu den Fördernden Mitgliedern der SS, jedoch zusehends gewisse Schwierigkeiten mit den neuen Machthabern, und dies lag an ganz verschiedenen politischen und privaten Entwicklungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Zunächst war Marby ja nicht der einzige völkische Prophet, der den Nationalsozialismus begrüßte, und so drängelten sich bald etliche Völkische danach, ihre Solidarität mit der NSDAP zu bekunden und den Verantwortlichen ihre okkulten und völkischen Dienste anzubieten. Hitler kam aufgrund seiner Distanz zu den völkischen Phantasten für einen Kontakt nicht in Frage, und so bot sich der für völkische Propheten weit empfänglichere Himmler an. Aber um Himmler war der Raum bald eng. Hier thronte schon sein Berater in okkulten Dingen, der runische Erberinnerer und selbsternannte „germanische Weise“ Karl Maria Wiligut, den Himmler zum SS Brigadeführer ernannt hatte.12 Wiliguts ausgeprägtes Machtbewusstsein machte vor Denunziationen seiner völkischen Konkurrenten nicht halt und so beeilte er sich bereits 1934, unbequeme völkische

10 Friedrich Bernhard Marby, Die Rosengärten und das ewige Land der Rasse, Stuttgart 1935, S. 138 f. 11 Vgl. Jens Henkel, Der Verlag „Gesundes Leben“ Mellenbach - Rudolstadt. Von den lebensreformerischen Ideen des Wilhelm Hotz zu den Pendelforschungen von Karl Dietz. In : Blätter der Gesellschaft für Buchkultur und Geschichte, 6 (2002), S. 85–144, hier 114 ff., mit den Beziehungen zu Marby. 12 Vgl. Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, Berlin 2008, S. 265–308, hier 292–295; sowie die nicht unproblematische Zusammenstellung von Hans - Jürgen Lange, Weisthor. Karl - Maria Wiligut. Himmlers Rasputin und seine Erben, Engeda 1998.

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Bernd Wedemeyer-Kolwe

Seher wie Marby und Kummer aus dem Weg zu räumen. In einem Brief an den Reichsführer SS („im Hause“) zog er namentlich über Marby und Kummer her und beklagte den „Missbrauch der Runen für Gymnastik“, weil hier – Hitlers Steckenpferd – „die Runenkunde in einer grotesken Art lächerlich gemacht wird und dadurch für die Forschung der germanischen Urgeschichte [...] und für das Ausland unbedingt nachteilig wirken muss“. Wiligut hielt „derlei geschäftliche Unternehmungen gewissenloser Runenkenner für die Gesamtheit unseres Volkes schädlich, und es opportun, deren Treiben in entsprechender Form und Art, Einhalt zu gebieten“.13 Ob diese Denunziation letzten Endes konkret etwas bewirkte, lässt sich nur schwer sagen; jedoch hatte zumindest Marby offenbar Kenntnis von entsprechenden Verleumdungen gehabt. Nach dem Krieg prahlte er bei der Stuttgarter Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung damit, dass die Gestapo angeblich „von einem ganz großen Herrn“ den Auftrag bekommen habe, „mich zu erledigen“.14 Mögen derartige Äußerungen auch Marbys Hang zur Selbstüberschätzung widerspiegeln, zu der eben auch ein gewisser Verfolgungswahn gehörte, so gab es jedoch ab etwa 1933/34 eine ganze Reihe von konkreten Bedrohungen und Denunziationen, die den Staatsapparat in Gang setzen sollten. „Mehrfache Denunziationen durch Unbekannte“ als „antinationalsozialistischer Okkultist“ zogen von 1933 bis 1936 diverse Hausdurchsuchungen und Verwarnungen seitens der Gestapo sowie befristete Veröffentlichungsverbote nach sich; 1935, gerade als Marby seinen letzten runengymnastischen Doppelband publiziert hatte, wurde seine Zeitschrift „Der Runenforscher“ und sein Bund der Runenforscher endgültig verboten. Der Hintergrund für diese Verbote lag offenbar in Marbys Tätigkeit als Fernheiler und in seiner Beschäftigung mit Okkultismus und Runenkunde. Kurz nach 1933 wurde nämlich die Lage für Heilpraktiker und Naturheilkundler problematisch, denn die Ärztekammer witterte nun die Möglichkeit, gegen unliebsame Konkurrenz vorgehen zu können. Der Berufsstand der Heilkundler wurde zwar vom Reichsärzteführer anerkannt, sollte aber von Abweichlern gesäubert werden und unterlag nun strengeren Auf lagen und neuen Gesetzen. Missliebige Gruppen und Verbände wurden verboten, und außerdem erwartete man von allen die Mitgliedschaft in der 1936 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde.15 Offensichtlich in diesem Zusammenhang tauchten 1936 Vorwürfe seitens der Stuttgarter Ärzteschaft gegenüber Marby als selbsternannten Runenkundigen auf. Rückblickend gab Marby dazu an : „Durch meine Runenforschung und insbesondere durch ihre Heilmethode habe ich mir die Gegnerschaft von verschie13 Karl - Maria Wiligut an Heinrich Himmler vom 2. 5. 1934 ( BArch, NS 19/3671, Bl. 1). 14 Antrag Marbys auf Wiedergutmachung bei der Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung, Stuttgart o. D. ( ca. 1949), Anlage 5b ( StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 1/7). 15 Vgl. Alfred Haug, Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde (1935/36), Husum 1985; Bertram Karrasch, Volksheilkundliche Laienverbände im Dritten Reich, Stuttgart 1998.

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denen Ärzten zugezogen [...]. Im Oktober 1936 wurde ich zum Gauleiter des rassenpolitischen Amtes Württemberg Dr. med. Lechler gerufen. In der Unterhaltung erklärte er mir, dass er meine Runengymnastik als Arzt nicht dulden könne“.16 Marby selbst habe angeblich bereits seit 1934 energisch öffentlich Stellung gegen das Heilpraktikergesetz bezogen und seine Protestnoten auch noch an Rudolf Hess, Hitler und von Hindenburg geschickt, so dass hier zusätzlich noch ein Anlass zur Repression bestand. Die Stuttgarter Beschuldigungen von 1936 gingen zwar von einem promovierten Mediziner aus, da dieser aber zugleich Leiter des rassenpolitischen Amtes der Gauleitung Württemberg war, könnte hier auch noch ein zusätzlicher politischer Zusammenhang bestanden haben. Offenbar waren die Äußerungen Marbys zur Runengymnastik, so sehr sie auch konform mit dem Rassengedanken des Nationalsozialismus zu gehen schienen, doch nicht ganz im Sinne der Machthaber.17 Das Problem bei der Einschätzung des gesamten Sachverhaltes jedoch ist, dass wir lediglich über die retrospektiven Äußerungen Marbys und seiner runengymnastischen Anhänger verfügen, die als „Zeugenaussagen“ im Rahmen von Marbys Wiedergutmachungsprozess nach 1945 gemacht wurden und daher äußerst subjektiv sind. Wie problematisch dabei manche Zeugenberichte in Bezug auf den Wahrheitsgehalt ausfallen, mögen die Äußerungen von Marbys Anhängern Erich Bluhm und Karl Döttling zeigen. Sie sahen den Grund für die Schwierigkeiten Marbys mit den nationalsozialistischen Machthabern in der angeblichen Gründung der „Widerstandsgruppe Marby unter dem Deckmantel Runenbund“, die, ihren Aussagen zufolge, leidenschaftlich gegen das NS Regime gekämpft und ihm verheerende Schäden zugefügt habe. Die Gruppe sei nur deshalb nicht sofort aufgeflogen, weil ihre Anhänger über ihre Mitgliedschaft in NSDAP und SA das Regime von innen heraus zu zersetzen versuchten und die Rolle von überzeugten Nationalsozialisten spielen mussten. Aufgrund dieser geschickten Tarnung hätten andere Widerstandsgruppen bis weit nach dem Krieg auch keine Kenntnis der Marby - Gruppe haben können. Auch Marby selbst war der Meinung : „Die Höhe des Schadens, den ich durch mein Vorgehen dem NS - Regime zugefügt habe, wird sich nie beziffern lassen“.18 Diese völlige Verdrehung der Tatsachen versuchte vergeblich zu verschleiern, dass Marby nicht aufgrund seiner angeblichen Widerständigkeit Probleme bekam, sondern viel eher aufgrund seiner abweichenden eigenbrötlerischen und überspannten

16 Öffentliche Sitzung der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Stuttgart, Protokoll vom 28. 9. 1951, S. 3 ( StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 33). 17 Antrag Marbys auf Wiedergutmachung bei der Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung Stuttgart, Bescheinigung von Rechtsanwalt Martin Stöff ler vom 21. 9. 1948, Anlage 2, sowie Eidesstattliche Erklärung Erich Bluhms vom 2. 11. 1946, Anlage 10 (StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 1/3 und 1/13). 18 Eidesstattliche Erklärungen Erich Bluhms vom 2. 11. 1946, Anlage 10, und Karl Döttlings vom 11. 9. 1948, Anlage 14, sowie der Einspruch Marbys an die Wiedergutmachungskammer Stuttgart vom 25. 2. 1954 ( StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 1/13, 1/14 und 51).

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völkisch - religiösen Haltung.19 Zwar wies Marby eine große Affinität mit der Ideologie des NS - Regime auf, er galt aber letztlich doch als ein den Nationalsozialismus diskreditierender völkischer Konkurrent. Zu diesem Urteil kam auch die Wiedergutmachungskammer, die sich die Mühe gemacht hatte, sämtliche Schriften Marbys analysieren und auf ihren nationalsozialistischen Gehalt prüfen zu lassen. Wie dem auch sei : die Folgen der Denunziation und Hausdurchsuchungen, der Ver warnungen und Bedrohungen sowie der Publikationsverbote und der Bücherbeschlagnahme 1936 und schließlich des Verlagsverbotes 1937 führten Marbys Verlag endgültig in den Konkurs und ihn in die private Insolvenz. Zusätzlich wurde er des „fortdauernden Betruges“ beschuldigt, da er seine Gläubiger nicht mehr bedienen könne. Am 27. April 1937 wurde er als Inhaber der Firmen Runa - Verlag und Marby - Verlag und Druckerei von der Reichsschrifttumskammer, Gruppe Buchhandel, ausgeschlossen, was praktisch einem Berufsverbot gleichkam. Es folgte eine Streichung seines Verlagseintrags im Adressbuch des Buchhandels am 7. Mai 1937 und eine Mitteilung vom 18. Juni 1937 an einen Gläubiger, dass der Marby - Verlag seinen Betrieb eingestellt habe.20 Die durch Druck von außen erfolgte Schließung des Verlages wurde als betrügerischer Bankrott gewertet, was die Anklage gegen Marby im nachfolgenden Gerichtsprozess noch zusätzlich befeuerte. Marby selbst wurde am 10. März 1937 wegen des Verdachts des unerlaubten Ausreiseversuchs ins Ausland verhaftet und dann bis Dezember 1937 in Untersuchungshaft genommen. Das Urteil seines Verfahrens wegen Konkursvergehens und fortdauernden Betruges vom 26. November 1937 endete mit einem Schuldspruch. Das Strafmaß betrug 10 ½ Monate Gefängnis. Am 26. Januar 1938 wurde Marby an die Gestapo ausgeliefert und in Schutzhaft genommen, weil er, wie er später angab, „ an der Verwertung seiner Autoren und Verlagsrechte gehindert werden muss, da dieselben für Volk und Staat gefährlich sind“.21 Man verbrachte ihn zunächst ins Konzentrationslager Welzheim bei Stuttgart, wo er für zwei Monate blieb. Hier – wie auch in anderen Lagern – fanden sich bald Gesinnungsgenossen, die nicht wegen ihrer politischen Haltung oder ihrer jüdischen Zugehörigkeit eingesperrt worden waren, sondern ebenso wie Marby aufgrund ihres okkulten, völkischen oder heilkund19 Tatsächlich aber gab es vereinzelt völkischen Widerstand gegen das NS - Regime, der auch nach dem Krieg lange Zeit nicht als solcher erkannt worden ist. Das beste Beispiel hierfür ist die mittlerweile erwiesene Widerstandstätigkeit der Gruppe Hielscher, zu der auch der für seine NS - Verbrechen 1948 hingerichtete Generalsekretär des SS - Ahnenerbes, Wolfram Sievers, gehörte. Vgl. Ina Schmidt, Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004, S. 245–254; Peter Bahn, Friedrich Hielscher 1902–1990. Einführung in Leben und Werk, Schnellbach 2004. 20 Die Hinweise zur Verlagsaufgabe in Sächsisches StA Leipzig, Bestand Börsenverein des Deutschen Buchhandels, BV ( I ) F 6024. 21 Marby an das Amt zur Untersuchung der durch den Nationalsozialismus rechtswidrig herbeigeführten Schäden vom 18. 9. 1945 ( StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 2).

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lichen Hintergrunds oder weil sie sich in anderer Art und Weise unkonventionell verhalten hatten : „Zwei neue Gruppen tauchten [ im Lager ] auf : die ‚Amtsanmaßer‘ und die ‚Querulanten‘. [...] Die Querulanten waren von anderer Art: meist ältere Männer, verkannte Genies, Erfinder, Winkeladvokaten aus Passion oder auch echte Michael Kohlhaase [...]. Ein Autobus brachte [ später auch ] eine Fuhre von Wahrsagern, Sterndeutern, Redakteuren und Verlegern. Sie wurden beschuldigt, den Geist von Heß ver wirrt zu haben. Es waren wunderliche Käuze.“22 Im März 1938 erfolgte eine Verlegung Marbys in das Konzentrationslager Dachau, wo er, mit Ausnahme eines zwischenzeitlichen Aufenthaltes im Konzentrationslager Flossenbürg zwischen September 1939 und März 1940, bis zur Befreiung am 29. April 1945 durch die amerikanischen Truppen in Haft saß. Während dieser Zeit wurde Marby unter der unüblichen Doppelkategorie „Schutzhaft und Vorbeugehaft“ geführt, d. h. er war gleichzeitig als krimineller und politischer Häftling registriert. Dies deutet darauf hin, dass er sowohl aufgrund seines „betrügerischen Konkurses“ als auch seiner völkisch - religiösen und heilkundlichen Umtriebe in Verwahrung genommen worden war.23 Üblicher weise bedeutete diese Doppeleingruppierung eine verschärfte Haft, und Marby selbst wies gelegentlich darauf hin, dass er mit der in Dachau gängigen Methode des Baumhängens gefoltert worden war. Zumindest war er, seinen Angaben zufolge, nach seiner Haft unterernährt.24 Von anderen ehemaligen Häftlingen wurde dies jedoch bestritten. Der ehemalige Häftling Dr. Walter Koch, der Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes war ( VVN), gab 1957 dem Gericht zu Protokoll : „Herr M. gehörte aber zu den Schutzhäftlingen, die von der Gestapo und SS nicht als Feinde des Naziregimes angesehen wurden und die deshalb in Vorzugskommandos kamen, wie z. B. Herr M. in die Küche. [...] Herrn M.s Vergehen fielen nicht unter den Tatbestand der Feindschaft gegen die NSDAP und nicht unter den Begriff der Heimtücke gegen Führer und Partei.“25 Marby selbst gab später an, er habe nur aufgrund seiner runengymnastischen Praxis das Konzentrationslager überlebt : „Selbst im KZ Lager Dachau wurden Runen - Übungen gemacht. Ein polnischer Arzt [...] machte jeden Morgen um 4 Uhr zwischen den Baracken des Lagers Runen Übungen, wie er sie aus meinen Schriften gelernt hat. Für viele Häftlinge war es gut, dass ich bei ihnen war.“26 Es mag dahin gestellt bleiben, ob Marby das 22 Friedrich Schlotterbeck, Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne. Erinnerungen eines deutschen Arbeiters 1933–1945, Berlin 1948, S. 85 und 100. 23 Personeneintrag Friedrich Bernhard Marby ( Gedenkstätte Dachau, Gefangenenliste Nr. 161498, Häftlingsnummer 841). 24 Marby an das Amt zur Untersuchung der durch den Nationalsozialismus rechtswidrig herbeigeführten Schäden vom 18. 9. 1945 ( StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 2). 25 Dr. Walter Koch an die Entschädigungskammer vom 15. 2. 1957 ( StA Ludwigsburg, EL 350 ES 718, Bl. 59). 26 Friedrich Bernhard Marby, Die Chronologie und einige Bekenntnisse seines schweren und mühsamen Lebens. In : Neue Nachrichten für die Mitglieder des „Internationalen Zentralverbandes Germanischer Runenforscher“, Stuttgart 1957, S. 1–6, hier 5.

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Lager aufgrund seiner Vorzugsbehandlung oder seiner religiösen Allmachtsphantasien überlebt hat.

2.2

Siegfried Adolf Kummer

Adolf Max Karl Kummer (1899–1977), der sich später den sprechenden Künstlervornamen „Siegfried“ zulegte, wurde in Dresden geboren und absolvierte mit 14 Jahren eine private Kunstschule, ehe er dann an der Kunstgewerbeschule und Kunstakademie Dresden eine Ausbildung zum akademischen Kunstmaler begann. 1916 bis 1918 nahm er mit dem Leibgrenadierregiment 100 am Ersten Weltkrieg in Frankreich teil und kehrte als Kriegsversehrter nach Hause zurück. Danach ging er nach Berlin, wo er nach unbestätigten Angaben von 1919 bis 1921 die dortige Kunstakademie besuchte. Eigenen Auskünften zufolge, wurde er dann Filmregisseur und leitete von 1923 bis 1927 ein „Filmunternehmen“. Nebenbei betätigte er sich als Kunstmaler mit Ausstellungen in Dresden, Berlin, München und Budapest.27 Sehr viel später gab er an anderer Stelle abweichend an, er habe von 1912 bis 1923 – mit Kriegsunterbrechung – an der Akademie der Bildenden Künste in Dresden studiert und von 1925 bis 1926 noch zwei Semester „Bühnenbild, Film und Trachtenkunde“ an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin absolviert.28 1928 gab er die Kunstzeitschrift „Boheme“ heraus, deren Untertitel „Zeitschrift für alle Künste, Literatur, Förderung deutschen Geistes und der Seele, Forschungen der Wissenschaft, Okkultismus“ auf sein späteres Steckenpferd, den völkischen Runenokkultismus, verwies, und in der er im Alleingang Artikel über Kunst, Astrologie, Ariosophie und Theosophie mit spätexpressionistischen Holzschnitten verknüpfte. Interessant ist dabei, dass sich Kummer schon in den 1920er Jahren für die Bezüge zwischen Kunst und Un( ter )bewusstsein interessierte. So thematisierte er etwa Trancemalerei oder Malerei und Okkultismus, ein Sujet, das zur selben Zeit auch von den Surrealisten ( automatisches Schreiben, Einbezug von Träumen ), vom Bauhaus ( Mazdaznan ) oder von den frühen gegenstandslosen Malern ( gestische Malerei ) aufgegriffen worden war und nach 1945 zum Teil von der Informellen Malerei rezipiert wurde.29 Die Illustrationen aus Kummers Zeitschrift stammten teilweise von ihm selbst, überwiegend aber von dem 1891 geborenen Maler Frank Krovacek ( oder Krowacek ), der als

27 Siegfried Adolf Kummer, Mein beruf licher Werdegang, ca. 1938 ( BArch, RKK, 2100/0221/10 : Siegfried Adolf Kummer ). 28 Akademie der Künste, Berlin, VBK, PA Künstler, Nr. 11401 : Adolf Max Karl Kummer. Im Archiv der Hochschule für Bildende Künste Dresden ist jedoch, laut Auskunft vom 19. 5. 2010, in den Schülerlisten der entsprechenden Jahre über Kummer nichts zu finden. 29 Vgl. etwa Christoph Wagner ( Hg.), Das Bauhaus und die Esoterik, Hamm 2005. Kummer sollte in seinem 1932 erschienenen Buch „Heilige Runenmacht“ ( Hamburg ) wieder auf Trancemalerei zurückgreifen.

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Meisterschüler des Dresdner Impressionisten Carl Bantzer Kummer möglicherweise von dessen Dresdner Akademiezeit her kannte. Seiner Melange aus Runenokkultismus und religiöser Kunst fügte Kummer bald noch Elemente der Lebensreform und der Körperkultur hinzu, wobei er, nach eigenen Angaben, spätestens um 1927 ein System aus Runengymnastik und Runentanz entwickelt hatte, über deren Herkunft bzw. inhaltliche Nähe zu Marbys Runengymnastik sich Kummer nicht weiter ausließ. Angeblich ab 1927 arbeitete Kummer dann in der Nähe von Dresden in einer Runenschule „Runa“, die eine völkische Variante einer lebensreformerischen Naturheilanstalt war und in der völkischer Sommerurlaub für angehende Neugermanen angeboten wurde. Hier konnten künftige Eingeweihte auf einem 50 000 qm großen Gelände in Sonnenhütten wohnen, sich lebensreformerisch ernähren, Runentänze und - gymnastik durchführen und Unterricht in „arischem Weistum, Runenkunde, Astrologie usw.“ erhalten. Geleitet wurde die Schule, die mindestens bis 1934 existierte, von den veritablen und in entsprechenden Kreisen bekannten Ariosophen Georg und Alfred Richter. Wohl im Umfeld dieser Schule hatte Kummer noch einen Bund namens Runa – Bund der arisch Unsichtbaren gegründet, in dem er seine Gesinnungsgenossen zu sammeln beabsichtigte.30 Ab 1932 veröffentlichte Kummer dann mehrere Broschüren und Bücher zur Runengymnastik und Runenmagie sowie etliche Aufsätze zum selben Thema in einschlägigen Zeitschriften und Jahrbüchern, wie etwa dem „Uranus - Kalender“. Um 1934 zog er dann in die Nähe von Dresden nach ( Ober ) Steina / Schwedenstein bei Radeberg, wo er bis zu seinem Tod 1977 wohnen sollte.31 Auch Kummer begrüßte 1933 die „Machtergreifung“, glaubte er doch irriger weise, dass nun seine völkisch - religiösen Theorien endlich anerkannt und gefördert werden würden, dies umso mehr, als Kummer aus der Kirche ausgetreten war und sich später gottgläubig nannte und damit eine religiöse Bedingung erfüllte, die der Kirchengegner Himmler zumindest auch von seinen SS Leuten erwartete. Überhaupt witterten viele völkisch - religiöse Gruppen 1933 die Möglichkeit, zusammen mit den kirchenkritischen Nationalsozialisten nun endlich ihre völkisch - religiösen Ansichten durchsetzen und eine neue, völkischgermanische Religion etablieren zu können. Unter der Leitung von Professor Jacob Wilhelm Hauer, einem aus der Jugendbewegung stammenden, führenden völkisch - religiösen Religionswissenschaftler und Indologen, vereinigten sich diverse völkisch - religiöse Gruppen im Juli 1933 zur Arbeitsgemeinschaft Deutscher Glaubensbewegung ( ADG ), um im und am „Dritten Reich“ religiös und politisch partizipieren zu können. Auch Kummer trat mit seinem Bund Runa im September 1933 der ADG bei. Bereits am 1. Mai 1933 – also kurz vor dem Auf30 Siegfried Adolf Kummer, Heilige Runenmacht, Hamburg 1932, S. 204 f.; zu den Gebrüdern Richter vgl. Goodrick - Clarke, Occult Roots, S. 161 und 171 f. 31 Vgl. zur Bibliographie seiner Schriften z. B. Helmut Arntz, Bibliographie der Runenkunde, Leipzig 1937, S. 114; Kürschners Deutscher Literatur - Kalender 1939, S. 496; Siegfried Adolf Kummer, Mein beruf licher Werdegang, ca. 1938 ( BArch, RKK, 2100/0221/10 : Siegfried Adolf Kummer ).

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nahmestopp – war Kummer zudem in die NSDAP und den Reichsverband Deutscher Schriftsteller eingetreten, 1938 wurde er in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen.32 Viel geholfen hat dies alles jedoch nicht, und Kummers Scheitern im „Dritten Reich“ ist wohl nur, wenn überhaupt, zu einem sehr kleinen Teil auf die schon erwähnte Denunziation Wiliguts von 1934 zurückzuführen, sondern viel eher auf den versponnenen außenseiterischen Charakter Kummers, der nicht nur seinen beruf lichen Werdegang stark behinderte, sondern der ihm selbst unter den extremen Völkisch -Religiösen lediglich einen Platz am Rand der Bewegung übrig ließ. Da Kummer sich wie Marby zu den heilkundigen Fernheilern zählte, bekam er – ebenso wie Marby – bald gewisse Probleme mit dem Regime, die im Juli 1934 zum Verbot seines Bundes Runa – Bund für Runenkunde und arisch - germanisches Weistum, führen sollten. Kummers eigenen Angaben zufolge, begründete das Sächsische Innenministerium sein Verbot damit, dass „zwei Sachverständigen - Gutachten die von mir gelehrte Heilweise [ Fernsendungen betreffend ] für psychisch erklärt haben und dies für Unfug halten“, und zwar trotz der Tatsache, dass der Bund „auf rein nationalsozialistischer Grundlage hinter unserm Führer Adolf Hitler“ stehe und „der größte Teil unserer Mitglieder [...] der NSDAP“ angehöre.33 Der enttäuschte Kummer löste daraufhin seinen Bund, der sowieso Schulden hatte, auf, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er selbst keinerlei Schreibverbot habe und seine Leser ihn weiterhin kontaktieren könnten. Daher wolle er auch seine Zeitschrift „Runa“ bzw. „Walhall“ – beide Blätter wurden, wohl aus Kostengründen, nicht regulär gedruckt, sondern erschienen lediglich in Schreibmaschinenausgabe – nach wie vor weiterführen.34 Kummer wandte sich nun stärker der Publikation von runenokkultistischen Büchern und runologisch beeinflussten „vor - und frühgeschichtlichen“ Forschungen zu und bot darüber hinaus regelmäßig seine eigenen Öl - , Tempera und Pastellgemälde an, die mit Titeln wie „Saturn - Phänomen“, „Uranusmenschen“, „Meeres - Raunen“, „Sig - Run“, „Der Marsmensch“, „Fliegende Menschen um Asenburg“ oder „Auftauchen des Atlantischen Tempels“ deutlich im zeitgenössischen Publikationsumfeld zwischen Esoterik, völkischer Religion und Fantasy anzusiedeln sind.35 Doch seine Malerei und seine Publikationsprojekte 32 Antragsformulare Kummers vom 19. 12. 1933, 28. 3. 1938 und 14./17. 6. 1938 ( BArch, RKK, 2100/0221/10 : Siegfried Adolf Kummer ). 33 Runa. Organ des Bundes Runa, 7 (1934), S. 15 f. 34 Kummers Runenschule schien vom Verbot nicht betroffen gewesen zu sein, da er weiter dafür Werbung betrieb. Vgl. auch seine Nachfolgezeitschrift „Walhall. Hand - und Bilderschrift für Runenkunde, Mystik und Vorgeschichte“, 1 (1934), in Briefen. Diese Zeitschrift, ebenfalls in Schreibmaschinenausgabe, erschien bis 1937. 35 Nachweis in Walhall. Hand - und Bilderschrift für Runenkunde, Mystik und Vorgeschichte, 1 (1934), unpag. Rückseite. Vgl. auch Karin Bruns, Menschen – Göttern gleich. Technologie und Esoterik in Literatur und Film des Nationalsozialismus. In : Judith Baumgartner / Bernd Wedemeyer - Kolwe ( Hg.), Aufbrüche – Seitenpfade – Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2004, S. 167–176.

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hatten keinen großen Erfolg. 1938 sah sich Kummer aufgrund seiner Erfolglosigkeit dazu veranlasst, bei der Reichskulturkammer einen Antrag auf eine Unterstützung aus der Spende „Künstlerdank“ des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda zu stellen. Obwohl die NSDAP - Ortsgruppe Obersteina Kummers nationalsozialistische Zuverlässigkeit bescheinigte, wurde der Antrag am 23. September 1938 von der Reichskulturkammer abgelehnt mit der Begründung, dass es „sich bei K[ ummer ] um eine äußerst problematische Natur handelt, die zum Spintisieren neigt. Technische Ausführungsmittel sind vollkommen unmöglich. Bei den naturalistischen Bildern drängt sich der Eindruck stärkster künstlerischer Unbeholfenheit auf.“36 Der Wertung der Kammer muss jedoch nicht unbedingt auch ein solides fundiertes Urteil über Kummers Malkünste zu Grunde liegen. Kummer besaß eine grundlegende Ausbildung zum Kunstmaler, und er malte in den 1920er Jahren unter spätexpressionistischem Einfluss – eine Richtung, die nach 1933 unter das Stichwort „entartete Kunst“ fiel.37 Auch seine wenigen erhaltenen Bilder der 1930er Jahre weisen ihn als Anhänger des Spätexpressionismus aus, wobei er sich zudem noch der Trancemalerei gewidmet hatte. Die Ablehnung kann daher auch eine Folge des konser vativen bzw. restriktiven Kunstverständnisses der Reichskulturkammer geschuldet sein und mit Kummers Künstlerqualitäten nichts zu tun gehabt haben.38 Wohl in der Folge der Spendenablehnung, die eine Prüfung der Publikationen und Bilder Kummers voraussetzte, fielen der Reichskulturkammer wohl die Runenschriften Kummers negativ auf. Im Herbst 1939 verbot dann das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda ohne Angabe von Gründen das Buch „Heilige Runenmacht“ von 1932. Trotz Antrages des Landeskulturwalters Gau Sachsen wurde Kummer aber dennoch nicht aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, da „der Schriftsteller sonst zu Bedenken keinen Anlass gibt“. Ein Ausschluss aufgrund politischer Bedenken wäre auch nicht nötig gewesen, da Kummer zu der Zeit nichts mehr publizierte. Zwar arbeitete Kummer 1939, eigenen Angaben zu Folge, an einem Buch zur Geschichte der Heraldik, jedoch fand er für sein Manuskript bis 1940 keinen Verlag, wobei offenbar auch ein allgemeiner Papiermangel erschwerend hinzu kam. Nach 1940 finden sich über Kummers Aktivitäten keine Hinweise mehr.39

36 Stellungnahme der Reichskulturkammer Gau Sachsen vom 23. 9. 1938 ( BArch, RKK, 2100/0221/10 : Siegfried Adolf Kummer ). 37 Möglicherweise wurde deshalb auch seine Kunstzeitschrift „Boheme“ 1934 ebenfalls verboten; zumindest behauptete dies Kummer nach dem Krieg ( Akademie der Künste, Berlin, VBK, PA Künstler, Nr. 11401 : Adolf Max Karl Kummer ). 38 Vgl. die Abbildungen in Siegfried Adolf Kummer, Heilige Runenmacht, S. 64 und 96. 39 Reichskulturkammer an die Landesleitung der Reichsschrifttumskammer Sachsen vom 4. 11. 1939 ( BArch, RKK, 2100/0221/10 : Siegfried Adolf Kummer ).

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3.

Bernd Wedemeyer-Kolwe

Resümee

Obwohl sich die Runengymnastiker als nahe Ver wandte des NS - Regimes verstanden, war ihre Ideologie im „Dritten Reich“ aufgrund ihrer stark außenseiterischen Positionen von den Machthabern nicht erwünscht, da sie offenbar deren „Seriosität“ zu beeinträchtigen drohten. Ihre rassistische und antisemitische Einstellung schien nicht zu genügen, im nationalsozialistischen Deutschland eine entsprechend gesicherte Position einnehmen zu können. Ihre völkischalternative Naturheilkunde und ihre ariosophische Geschichtsklitterung waren, trotz einer gewissen Affinität zu den Ideen Himmlers, zu absurd, um von den Machthabern akzeptiert zu werden. Auch ihre Überzeugung, selbst ein auserwählter Heiler zu sein, stand in Konkurrenz zum Führerprinzip Adolf Hitlers. Marby und Kummer wurden daher vom Nationalsozialismus ausgegrenzt. Beide überlebten das „Dritte Reich“. Während Marby mit seiner Runengymnastik und seiner Fernheiltätigkeit in den 1950er Jahren einen bescheidenden Erfolg erlebte und etliche rechtsradikale Epigonen besaß, die auf seinen völkischen Pfaden weiterwandelten, hatte Kummer in der DDR keine Möglichkeit mehr, seine völkischen Vorstellungen adäquat zu verbreiten, wenngleich auch seine Schriften in den 1980er Jahren in der westdeutschen Runenokkultismus und Alternativszene ebenfalls einen kleinen Boom erfuhren.40 Kummer trat 1952 in den Bezirksverband Dresden der Sektion Malerei / Grafik des Verbandes Bildender Künstler der DDR ein und arbeitete fortan wieder als Maler.41 Er verzichtete dabei ( wohl notgedrungen ) auf die Produktion weiterer runenokkultistischer Bilder und malte vorwiegend nach der herrschenden DDR - Kunstideologie schaffende Menschen im Arbeitsprozess, kam aber offenbar über einen lokalen Bekanntheitsgrad nicht hinaus. Kummer blieb ein Außenseiter und lebte bescheiden und zurückgezogen bis zu seinem Tod 1977.42

40 Vgl. Bernd Wedemeyer - Kolwe, Runengymnastik. Von völkischer Körperkultur, S. 336 ff. 41 Akademie der Künste, Berlin, VBK, PA Künstler, Nr. 11401 : Adolf Max Karl Kummer. 42 Dennoch soll er angeblich noch 1977 von der jüdischen Kunstprofessorin Lea Grundig (1906–1977) in Dresden den Kunstpreis der DDR erhalten haben, so der Studienrat Konrad Schöne aus Steina, der mit Kummer bekannt war, in einem Brief vom Herbst 2000 an den Verfasser. Diese Angabe konnte jedoch nicht verifiziert werden.

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Der deutsche Geist am Scheideweg : Anthroposophen in Auseinandersetzung mit völkischer Bewegung und Nationalsozialismus Peter Staudenmaier

Seit ihrer Gründung Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Anthroposophie Rudolf Steiners umstritten gewesen, für Zeitgenossen wie für Historiker. Während Waldorfschulen, anthroposophische Medizin, biologisch - dynamischer Landbau und andere anthroposophische Einrichtungen einen über wiegend fortschrittlichen Ruf genießen und wachsenden Zulauf erfahren, wittern Skeptiker eine rechtslastige Tendenz in der „Geisteswissenschaft“ Steiners.1 Vor allem die verwickelten Beziehungen zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus haben unterschiedliche Reaktionen her vorgerufen. Ihrer Selbsteinschätzung zufolge waren Anthroposophen „gegen Hitler immun“.2 Nach anthroposophischer Sicht haben nur „einige wenige“ Anthroposophen mit dem Nationalsozialismus zusammengearbeitet. Völkische Kräfte, in anthroposophischer Wahrnehmung, waren unerbittliche Gegner der Anthroposophie.3 Auch Nichtanthroposophen haben solche entlastenden Interpretationen teilweise bestätigt.4 Die historische Wirklichkeit sah aber wesentlich komplizierter aus. Steiners Lehren vereinigten Ansätze verschiedenster Herkunft und seine Schüler deuteten diese Ideen in sehr unterschiedlicher Weise. Auch wenn der 1

2 3

4

Zur Geschichte der Anthroposophie vgl. die ausgezeichnete Studie von Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, Göttingen 2007; Heiner Ullrich, Rudolf Steiner. Leben und Lehre, München 2011; Helmut Zander, Rudolf Steiner. Die Biografie, München 2011. Gerhardt Bähr / Luise Bähr, Wir Anthroposophen waren gegen Hitler immun. In : Ingke Brodersen ( Hg.), 1933. Wie die Deutschen Hitler zur Macht verhalfen, Hamburg 1983, S. 102–110. Uwe Werner, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus, Oldenbourg 1999; Lorenzo Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch - nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004; sowie neulich Uwe Werner, Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse, Dornach 2011. Aus kritischer Sicht vgl. Peter Bierl, Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik, Hamburg 2005. Michael Rißmann, Nationalsozialismus, völkische Bewegung und Esoterik. In : Zeitschrift für Genozidforschung, 4 (2003), S. 58–91. Als ausführliches Korrektiv vgl. Peter Staudenmaier, Between Occultism and Fascism : Anthroposophy and the Politics of Race and Nation in Germany and Italy, 1900–1945, Diss. Cornell University 2010.

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Peter Staudenmaier

1925 gestorbene Steiner trotz seiner deutschnationalen Vergangenheit zuweilen als Gegner völkischen Denkens auftrat, weist schon die Frühgeschichte der Anthroposophie Parallelen zum völkischen Gedankengut auf. Im Mittelpunkt der anthroposophischen Weltanschauung stand eine Mischung aus entschieden deutschbetonten Voraussetzungen und universalen Ansprüchen; ein emphatischer Begriff des „deutschen Geistes“ bzw. „deutschen Wesens“ und der gegenwärtigen sowie künftigen „deutschen Weltmission“ spielte dabei eine grundlegende Rolle. Steiners esoterische Rassenlehre stellte in diesem Ideengebäude eine weitere tragende Säule dar.5 Dazu kamen ein auffallend ambivalentes Verhältnis zur Demokratie, eine spirituelle Begründung der Hierarchie und Autorität und eine Abneigung gegen Liberalismus und Sozialismus. Diese Leitmotive anthroposophischen Denkens standen in Spannung zu anderen, entgegengesetzten Elementen, waren für Betrachter der jungen anthroposophischen Bewegung jedoch unübersehbar.

1.

Anthroposophie und völkisches Milieu

In einigen Fällen wurde die ideengeschichtliche Nähe zwischen anthroposophischem und völkischem Denken durch persönliche Verbindungen konkretisiert. So war der völkische Schriftsteller Friedrich Lienhard, Verfechter eines „idealistischen Antisemitismus,“ seit 1905 von Steiners Lehren angetan und ab 1913 Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.6 Lienhards Weltkriegs - Pamphlet „Deutschlands europäische Sendung“ schätzte Steiner sehr.7 Der völkisch ein5

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7

Zu diesem besonders kontroversen Thema vgl. Georg Schmid, Die Anthroposophie und die Rassenlehre Rudolf Steiners zwischen Universalismus, Eurozentrik und Germanophilie. In : Joachim Müller ( Hg.), Anthroposophie und Christentum. Eine kritisch - konstruktive Auseinandersetzung, Freiburg 1995, S. 138–194; Helmut Zander, Anthroposophische Rassentheorie. Der Geist auf dem Weg durch die Rassengeschichte. In : Stefanie von Schnurbein / Justus Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 292–341; Peter Staudenmaier, Race and Redemption : Racial and Ethnic Evolution in Rudolf Steiner’s Anthroposophy. In : Nova Religio, 11 (2008), S. 4–36; Helmut Zander, Rudolf Steiners Rassenlehre : Plädoyer, über die Regeln der Deutung von Steiners Werk zu reden. In : Uwe Puschner / Ulrich Großmann ( Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 145– 155; Jana Husmann, Schwarz - Weiß - Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ‚Rasse‘. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, Bielefeld 2010. Eugène Levy, Rudolf Steiners Weltanschauung und ihre Gegner, Berlin 1925, S. 317– 321; Wolfgang Vögele, Friedrich Lienhard. In : Bodo von Plato ( Hg.), Anthroposophie im 20. Jahrhundert. Ein Kulturimpuls in biografischen Porträts, Dornach 2003, S. 458 f.; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 54–56, 71–73; Hildegard Châtellier, Friedrich Lienhard. In : Uwe Puschner / Walter Schmitz / Justus Ulbricht ( Hg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, S. 114–130; Roderick Stackelberg, Idealism Debased : From Völkisch Ideology to National Socialism, Kent 1981, S. 63–101. Friedrich Lienhard, Deutschlands europäische Sendung, Stuttgart 1915; Rudolf Steiner, Aus schicksaltragender Zeit, Dornach 1959, S. 288; Rudolf Steiner, Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste, Dornach 1962, S. 10–17.

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gestellte schweizerische Okkultist und Mazdaznan - Anhänger Karl Heise war ebenfalls Anthroposoph. Auf Anregung Steiners verfasste Heise das umfangreiche Buch „Entente - Freimaurerei und Weltkrieg“, ein Klassiker der antisemitischen und anti - freimaurerischen Verschwörungsliteratur; Steiner lieferte das Vorwort und zahlte einen erheblichen Teil der Druckkosten.8 Heises Arbeiten erschienen auch in nationalsozialistischen Zusammenhängen und beeindruckten Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler.9 Völkische Wissenschaftler wie Hans Hahne bauten anthroposophische Einflüße in ihre Theorien ein, und populär - völkische wie völkisch - religiöse Veröffentlichungen nahmen gleichermaßen positiven Bezug auf anthroposophische Thesen.10 Auch der im völkischen Milieu angesehene und ihm zumindest zeitweise nahestehende Verleger Eugen Diederichs zeigte beträchtliches Interesse an der Anthroposophie und erfuhr Anerkennung. Diederichs unterhielt gute Beziehungen zu Steiner und seinen Anhängern und galt zeitweise als „energischer Befürworter der Anthroposophie“.11 Allerdings hielt Diederichs Steiners Weltbild angeblich für „zu autoritär“.12 Ein anthroposophischer Zeitgenosse schrieb : „Diederichs war wohl gewillt, die aus der Anthroposophie quellende Tat und Gesinnung zu respektieren – so begeisterte er sich z. B. für die Waldorfschul Pädagogik –, aber die Anthroposophie selbst ( als den Baum, der große Früchte trägt ) lehnte er ab.“13 Die in Diederichs’ Verlag erscheinende Zeitschrift „Die Tat“ förderte eine eingehende Diskussion von Steiners Lehren und brachte sowohl anthroposophische Beiträge als auch kritische Beurteilungen.14 In der 8

Karl Heise, Entente - Freimaurerei und Weltkrieg, Basel 1919; Karl Heise an Elisabeth Klein vom 24. 3. 1937 ( BArch, NS 15, Nr. 302, Bl. 58025). Ähnliches findet sich in anderen anthroposophischen Schriften aus dieser Zeit; vgl. Wilhelm von Heydebrand, Ausführungen über gewisse Grundlagen der Politik. In : Das Reich von April 1919, S. 112– 116; Ludwig Polzer - Hoditz, Politische Betrachtungen auf Grundlage der Dreigliederung des sozialen Organismus, Stuttgart 1920. 9 Karl Heise, Der rote Faden in der Freimaurerpolitik der Gegenwart. In : Der Weltkampf von Mai 1926, S. 1–10. Im gleichen Jahr las Himmler Heises Buch „Okkultes Logentum“ und pries es als „eine tiefernste Schrift“. Vgl. Josef Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 34. 10 Vgl. beispielsweise Harald Grävell, Zarathustra und Christus, Bad Schmiedeberg 1913, oder den „Seelen - Kalender nach Dr. R. Steiner“ in der von Johannes Balzli herausgegebenen ariosophischen Zeitschrift „Prana. Organ für angewandte Geisteswissenschaft“, 9. (1918/19). Zu Hahne vgl. Irene Ziehe, Hans Hahne. Biographie eines völkischen Wissenschaftlers, Halle 1996. Hahnes Schwiegersohn war der Nationalsozialist und spätere geistige Leitfigur der anthroposophischen Christengemeinschaft, Friedrich Benesch. 11 Gary Stark, Entrepreneurs of Ideology : Neoconser vative Publishers in Germany, 1890–1933, Chapel Hill 1981, S. 74. 12 Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, Wiesbaden 1998, S. 307. 13 Wilhelm Salewski, Dreigliederung oder totaler Staat ? Offener Brief an den Kreis der ‚Tat‘. In : Anthroposophie vom 30. 8. 1931, S. 275–277, hier 276. 14 Friedrich Rittelmeyer, Anthroposophie und religiöse Erneuerung. In : Die Tat von September 1921, S. 445–459; Richard Seebohm, Bücher von und über Rudolf Steiner. In: Die Tat von März 1921, S. 950 f.; und v. a. Die Tat von Februar 1921 : „Anthroposophisches Sonderheft“.

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Zeitschrift wurde die Waldorf - Erziehung von einem bekannten völkischen Pädagogen gelobt.15 Anfang der 1930er Jahre nahmen Anthroposophen die weitgehend sympathische Auseinandersetzung mit dem sogenannten Tat - Kreis wieder auf.16 Gerade aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen zwischen Anthroposophie und völkischen Denkern traten immer wieder Spannungen auf, wollten doch beide Bewegungen den Ton angeben für die geistige und kulturelle Erneuerung Deutschlands. Bedeutend in dieser Hinsicht wurden insbesondere unterschiedliche Auffassungen über Rasse und Volk. Der völkische Ansatz schien Vertretern der anthroposophischen „Geisteswissenschaft“ oft zu materialistisch, auch wenn beide Seiten ähnliche Spielarten des Ariermythos und der Germanenideologie bemühten.17 Die anthroposophische Rassenlehre war in eine weitgespannte, geistig begründete und göttlich verfügte kosmische Evolutionstheorie eingebaut, wobei die geistige Entwicklungsstufe die Rassenzugehörigkeit bestimmte. Selbst die Religion galt Anthroposophen als Rassenmerkmal : „Rassenunterschiede sind Entwicklungsunterschiede, und eine jede Rasse hat die Religion, die ihr – im wahren Sinne des Wortes – auf den Leib zugeschnitten ist.“18 Solche Theoreme wurden, teilweise in Übereinstimmung mit und teilweise im Gegensatz zu völkischen Anschauungen, in einer Reihe anthroposophischer Werke ausgeführt, welche den Vorrang des Geistigen als maßgebende Determinante des Physischen betonten.19 Für manche Anthroposophen waren völkische Rassentheorien nicht nur einem übertriebenen Materialismus verfallen; die völkische Einstellung sei zuviel mit der oberflächlichen Welt der Politik beschäftigt und lenke insofern von den

15 Philipp Hördt, Die Waldorfschule. In : Die Tat von Februar 1921, S. 872–875. 16 Wilhelm Salewski, Zur Weltlage. In : Anthroposophie vom 2. 8. 1931, S. 241–243; Karl Heyer, Weltwirtschaftskrise. In : Anthroposophie vom 19. 7. 1931, S. 226 f.; Heyer, Kapitalistische Weltwirtschaft oder staatswirtschaftliche nationale Autarkie ? In : Anthroposophie vom 6. 9. 1931, S. 283–285; Erhard Bartsch, Neuaufbau der Wirtschaft von unten herauf. In : Demeter von August 1932, S. 135–137. 17 Sigismund von Gleich, Der Ursprung des Menschen. In : Waldorf - Nachrichten von Oktober 1920, S. 453–456; Johannes Werner Klein, Baldur und Christus, München 1923; Wilhelm Dörf ler, Geist oder Blut als Grundlage der neuen Gemeinschaft. In : Der Pfad von Dezember 1924, S. 21–23; Karl Heyer, Blut und Rasse. In : Korrespondenz der Anthroposophischen Arbeitsgemeinschaft von Oktober 1932, S. 18–23; Friedrich Doldinger, Christus bei den Germanen, Stuttgart 1933; Ludwig Paul, Krankheit und Heilung des Abendlandes, Basel 1937, S. 125–143. 18 Elise Wolfram, Die germanischen Heldensagen als Entwicklungsgeschichte der Rasse, Stuttgart 1922, S. 140. Vgl. S. 86 : „Und wenn wir schließlich finden, dass die Menschengruppenseele zerfällt in Rassen, in Völker, in Stämme, so bedeutet dies wiederum nur, dass nicht alle astralischen Bildner gleiche Fähigkeiten haben, und nur ein Teil derselben vermag ihre Erdenformen bis zur Höchstentwicklung, dem arischen Menschen, zu bringen.“ 19 Hier nur einige Beispiele : Richard Karutz, Vorlesungen über moralische Völkerkunde, Stuttgart 1930; Ernst Uehli, Atlantis und das Rätsel der Eiszeitkunst, Stuttgart 1936; Sigismund von Gleich, Der Mensch der Eiszeit und Atlantis, Stuttgart 1936; Franz Fuchs, Weisse und farbige Rassen. In : Das Goetheanum vom 9. 4. 1939, S. 116 f.

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geistigen Welten ab. Dies brachte der anthroposophische Völkerkundler Richard Karutz 1932 zum Ausdruck : „In den Menschen völkischer Kreise liegt viel gute Saat für eine geistige Zukunft, es ist als stiege in ihnen die altgermanische Spiritualität richtig verwandelt wieder hoch, aber die Not der Heimat bannt ihren Blick auf den politischen Vordergrund, verkrampft sie mit den äusseren Erscheinungen.“20 Anthroposophie und völkische Bewegung fanden zudem in sozialgeschichtlicher Hinsicht Anklang bei unterschiedlichen Gruppen : Waren die Völkischen vornehmlich ein Mittelstandsphänomen, kamen Anthroposophen vorwiegend aus dem Besitz - und Bildungsbürgertum und nicht selten dem Adel.21 Dennoch befassten sich Anthroposophen bemerkenswert wohlwollend mit völkischer Politik, bei aller Kritik, und befürworteten eine „Verbindung von völkischem Glauben und Christentum“.22 Steiners Schüler hatten auch persönliche Erfahrungen mit völkischen Gruppen gemacht. Franz Löffler, Mitbegründer der anthroposophischen Heilpädagogik, war in seiner Jugend im Banat in alldeutschen Kreisen tätig und nahm aktiv teil an der „völkischen Wiedergeburt der Banater Schwaben“ : „Aus unserer Gruppe wuchs später die völkische Erneuerungsbewegung, die den Nationalsozialismus in den dort möglichen Formen vertritt.“23 Andere Anthroposophen waren Mitglieder im Stahlhelm oder in Freikorps. Eine tiefgehende Abneigung gegen die Weimarer Republik kennzeichnete das anthroposophische Politikverständnis; Steiners Nachfolger verurteilten „die westeuropäische Demokratie liberalistischen Gepräges“ bzw. „die demokratisch - liberalistische Staatsform des Westens“.24 Im Dezember 1918 forderte der Anthroposoph E. A. Karl Stockmeyer, eine Schlüsselfigur in der Ent-

20 Karutz, Zur Rassenkunde. In : Das Goetheanum vom 3. 1. 1932, S. 4–6, hier 4. Trotzdem attestierte Karutz den völkischen Denkern „ein Erkennen und Überwindenwollen des Materialismus, ein Erkennen übersinnlicher führender Mächte, ein Ahnen des Volkgeistes, eine Verständigungsmöglichkeit mit der Geisteswissenschaft“. So Karutz, Zur Rassenkunde. In : Das Goetheanum vom 23. 8. 1931, S. 268–270, hier 270. 21 Vgl. Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; Uwe Puschner, Völkisch. Plädoyer für einen „engen“ Begriff. In: Paul Ciupke / Klaus Heuer / Franz - Josef Jelich / Justus Ulbricht ( Hg.), „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 53–66; Christian Jansen, „Deutsches Wesen“ – „Deutsche Seele“ – „Deutscher Geist“. Nationale Identifikationsmuster im Gelehrtenmilieu. In : Reinhard Blomert / Helmut Kuzmics / Annette Treibel ( Hg.), Transformationen des Wir - Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt a. M. 1993, S. 199– 278. 22 August Pauli, Blut und Geist : Völkischer Glaube und Christentum, Stuttgart 1932, S. 36. Vgl. Hannes Razum, Das völkische Problem. In : Das Goetheanum vom 6. 7. 1930, S. 212–214; Gottfried Richter, Die Germanen als Wegbahner eines kosmischen Christentums, Breslau 1936. 23 Franz Löff ler an Kreisleiter Riedel vom 8. 6. 1940 ( BArch, R 58, Nr. 6190, Bl. 119–122). 24 Karl Heyer, Der Staat als Befreier der menschlichen Individualität. In : Anthroposophie vom 3. 5. 1931, S. 137–138, hier 137; Hans Erhard Lauer, Die Volksseelen Europas. Grundzüge einer Völkerpsychologie auf geisteswissenschaftlicher Basis, Wien 1934, S. 156.

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wicklung der Waldorfpädagogik, einen „völkischen Staat“ in Deutschland statt „dem uns von Westen her aufgedrängten Demokratismus“.25

2.

Nationalsozialismus als Chance und Gefahr

Als 1933 die Weimarer Demokratie tatsächlich abgeschafft wurde, reagierten Anthroposophen mitunter verhalten, aber auch begeistert. Im Nationalsozialismus erblickte ein Teil von Steiners Anhängern einen Konkurrenten oder einen gefährlichen Gegner. Andere wiederum begrüßten „die weitblickenden führenden Männer des neuen Deutschland“.26 Viele Anthroposophen erkannten ideologische Verbindungen zum Nationalsozialismus, werteten dies aber nicht unbedingt als positives Zeichen : „Gerade deswegen, weil Hitler manches von Rudolf Steiner übernommen hat, sehe ich eine Gefahr in seinem Aufstiege, weil die wirkliche Durchgeistung fehlt.“27 Hitler hatte sich schließlich schon 1921 verächtlich über Steiner geäußert, worüber die immer wieder von anthroposophischer Seite hervorgehobene Deutschtumsmetaphysik nicht hinwegtrösten konnte.28 Praktisch jedoch erwiesen sich die ersten Jahre des „Dritten Reiches“ eher als vorteilhaft für die anthroposophischen Belange : Die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland erfuhr zwischen Ende 1932 und Herbst 1935 einen beträchtlichen Mitgliederzuwachs.29 Bei einem Teil von Steiners Anhängern erschien der Nationalsozialismus als die Verwirklichung langjähriger geistiger Hoffnungen. Der Anthroposoph Karutz schrieb 1934 : „Wenn das Hakenkreuz heute in Deutschland für die Jugend das heilige Zeichen ihrer Generation und des Dritten Reiches geworden ist und ihr die Zukunft, die erfüllte Sehnsucht, die höhere Entwicklungsstufe bedeutet, so steht es an seinem richtigen Platze, 25 E. A. Karl Stockmeyer, Vom deutschen Volksstaat und von der deutschen Erziehung, Mannheim 1918, S. 14. Laut Stockmeyer führte Deutschland trotz der Kriegsniederlage weiterhin einen „geistigen Kampf [...] gleichzeitig gegen Osten und Westen“; dieser Kampf verlange „Festigkeit im Aufbau unserer völkischen Festung“ ( S. 15). 26 Franz Dreidax, Versuchsanstellungen mit biologisch - dynamischer Wirtschaftsweise von Januar 1934 ( BArch, R 3602, Nr. 2608). 27 Brief Günther Schubarts vom 7. 2. 1933 ( BArch, R 58, Nr. 6193, Teil 1, Bl. 39). 28 Adolf Hitler, Staatsmänner oder Nationalverbrecher ? In : Völkischer Beobachter vom 15. 3. 1921; nachgedruckt in : Adolf Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 348–353; Roman Boos, Wer verrät das Deutschtum ? In : Dreigliederung des sozialen Organismus vom 22. 3. 1921, S. 2 f.; Friedrich Rittelmeyer, Rudolf Steiner und das Deutschtum, München 1921; Felix Kersten, Rudolf Steiner und das Deutschtum. In : Die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie von Dezember 1925, S. 669–673; Ernst Uehli, Nordisch - Germanische Mythologie als Mysteriengeschichte, Basel 1926; Karl Heyer, Das Schicksal des deutschen Volkes und seine Not, Stuttgart 1932; Friedrich Rittelmeyer, Der Deutsche in seiner Weltaufgabe zwischen Rußland und Amerika, Stuttgart 1932; Roman Boos ( Hg.), Rudolf Steiner während des Weltkrieges, Dornach 1933; Friedrich Rittelmeyer, Deutschtum, Stuttgart 1934. 29 Stand Dezember 1932 : 5 280 Mitglieder; Juni 1934 : 6 413 Mitglieder; September 1935: 6 920 Mitglieder. Angaben nach Mitteilungen für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland von Juni 1934, S. 1 f., und September 1935, S. 11.

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weil Deutschland, die Mitte Europas, für die ganze Welt die Aufgabe hat, die materialistisch verkrampfte Menschheit aus ihrer Starre zu lösen und zum Geiste zurückzuführen. Es mahnt am richtigen Platze, dass die Aufgabe und Sendung Deutschlands eine geistige ist. Wenn das erkannt, erlebt, gelebt wird, so kann es ein neues Deutschland und eine neue Welt heraufführen, die wir alle erhoffen und erstreben.“30 Wie bei den Völkischen bestanden auch bei den Nationalsozialisten nicht nur ideologische, sondern auch persönliche Querverbindungen zur anthroposophischen Bewegung. Eine Reihe führender Anthroposophen auf Lokalebene waren Parteimitglieder, etwa die Zweigleiter der Anthroposophischen Gesellschaft in Gießen, Erfurt, Plauen und Gotha. Neben der NSDAP gehörten einige Anthroposophen der SA oder der SS an, andere machten ohne Parteimitgliedschaft Karriere im „Dritten Reich“, so etwa Georg Halbe, Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und Vertreter der biologisch - dynamischen Landwirtschaft, der von 1935 bis 1942 im Reichsnährstand bzw. im Stab des Reichsbauernführers Richard Walther Darré als Mitarbeiter an „Odal. Zeitschrift für Blut und Boden“ sowie als Betreuer des Blut und Boden Verlages tätig war. 1942 wechselte Halbe zunächst ins Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, dann ab März 1944 ins Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Seine Veröffentlichungen erschienen u. a. in der „Nationalsozialistischen Landpost“, im SS - Organ „Das schwarze Korps“ und in „Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend“.31 Halbes Kollege Hans Merkel, ebenfalls Anthroposoph und Befürworter der biologisch - dynamischen Landwirtschaft im Stab des Reichsbauernführers, war aktiver SS - Offizier und Führer im Rasse - und Siedlungshauptamt der SS. Im April 1936 wurde Merkel von Himmler zum Hauptabteilungsleiter im Rassenamt ernannt.32 Ähnlich die Laufbahn von Carl Grund, seit 1929 führendes Mitglied des Landwirtschaftlichen Versuchsringes der Anthroposophischen Gesellschaft und Leiter der Auskunftsstelle für biologisch - dynamische Wirtschaftsweise in Sachsen, der im Mai 1933 zunächst der NSDAP und im November 1933 der SA beitrat. Im August 1942 wurde Grund SS - Untersturmführer und im folgenden Jahr Obersturmführer; er arbeitete für die SS als Referent für landwirtschaftliche Fragen.33 Solche Verbindungen von anthroposophischen Ideen und Aktivitäten mit nationalsozialistischen Machtstellen erregten den Unmut vieler NS - Aktiver, vor allem im SD und in der Gestapo, die eine vermeintliche okkulte Unterwanderung ihrer Bewegung verhindern wollten. Die polizeiliche Über wachung von esoterischen Strömungen war keine nationalsozialistische Erfindung; Schikanen von Seiten staatlicher Stellen gab es schon im Kaiserreich und in der Weimarer 30 Richard Karutz, Die Ursprache der Kunst, Stuttgart 1934, S. 130. 31 Personalakte Georg Halbe ( BArch, DS, Nr. A97, Bl. 649–773, sowie BArch, RK, Nr. I216, Bl. 1879–1952). 32 Personalakte Hans Merkel ( BArch, SSO, Nr. 310A, Bl. 74–114; BArch, RS, Nr. D5477, Bl. 303–500; BArch, DS, Nr. G179, Bl. 2735–2762). 33 Personalakte Carl Grund ( BArch, SSO, Nr. 40A, Bl. 853–871).

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Republik.34 Der anti - esoterische Flügel der NSDAP jedoch handelte ungleich schärfer und stufte Anthroposophie und andere okkulte Gruppen als staatsfeindlich ein. Die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland wurde im November 1935 von der Gestapo verboten. Für Reinhard Heydrich war die Anthroposophie „keine Weltanschauung für das gesamte Volk“, sondern „eine den Nationalsozialismus gefährdende Sonderlehre für einen eng begrenzten Personenkreis“, um so bedrohlicher, „weil es zur ganzen Haltung der Anthroposophie gehört, dass sie sich zur Zeit sehr national und deutschbetont gibt und nach außen den Eindruck einwandfreier politischer Haltung erweckt, in ihrem tiefsten Wesen aber einen gefährlichen Faktor orientalischer Zersetzung der germanischen völkischen Art darstellt“.35 Zu einer allgemeinen Abrechnung mit anthroposophischen Einrichtungen kam es allerdings erst Mitte 1941 im Zuge der breit angelegten „Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften“ unter Heydrichs Führung. Die Gründe für dieses verzögerte Durchgreifen von SD und Gestapo gegen Waldorfschulen, biologisch - dynamische Landwirtschaft und andere anthroposophischen Unternehmungen und für die vergleichsweise langlebige anthroposophische Präsenz im nationalsozialistischen Deutschland lagen in der tätigen Unterstützung für anthroposophische Projekte durch NS - Funktionäre. Traten Heydrich und Martin Bormann als entschiedene Gegner der Anthroposophie auf, so erhielten Steiners Nachfolger gleichzeitig Schutz und Förderung durch verschiedene Stellen in Partei und Staat. Und eben diese Unterstützung schürte die leidenschaftliche Feindschaft anti - okkulter Nationalsozialisten gegen die Anthroposophie. Sowohl prominente nationalsozialistische Würdenträger als auch einflussreiche, aber relativ unbekannte Bürokraten in den unterschiedlichsten Bereichen des weitverzweigten Apparats traten zwischen 1933 und 1941 für anthroposophische Interessen ein, ohne die gesamte „Geisteswissenschaft“ weltanschaulich zu billigen. In anthroposophischen Darstellungen werden vor allem drei NSGrößen genannt, die anthroposophischen Bestrebungen Schutz gewährten : Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter, dessen Stab immer wieder Position bezog zugunsten der anthroposophischen Sache, ferner Otto Ohlendorf, SS - Führer mit persönlichem Interesse an der Anthroposophie, und Alfred Baeumler im Amt Rosenberg, der sich als überparteilicher Begutachter von Steiners Lehren stilisierte.36 Dazu kam der Landwirtschaftsminister, Reichsbauernführer und Mitbegründer des SS - Rasse - und Siedlungshauptamtes Richard Walther Darré, 34 Hierzu Corinna Treitel, A Science for the Soul : Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore 2004. 35 Heydrich an Darré vom 18. 10. 1941 ( BArch, R 16, Nr. 1272). 36 Vgl. Arfst Wagner ( Hg.), Dokumente und Briefe zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Rendsburg 1992; René Maikowski, Schicksalswege auf der Suche nach dem lebendigen Geist, Freiburg 1980; Elisabeth Klein, Begegnungen, Freiburg 1978; Rudolf Hauschka, Wetterleuchten einer Zeitenwende, Frankfurt a. M. 1966.

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der sich vom Skeptiker zu einem engagierten Befürworter der biologisch - dynamischen Wirtschaftsweise entwickelte und sich nach 1945 eingehend mit Steiners esoterischen Erörterungen beschäftigte.37

3.

Anthroposophische Tätigkeit im nationalsozialistischen Deutschland

Weniger bekannt sind die organisatorischen Verbindungen zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus auf mittlerer Ebene. So wurde die anthroposophische Medizin eifrig vom Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit bei der Reichsleitung der NSDAP protegiert, und die Vereinigung anthroposophischer Ärzte stellte eine Hauptstütze der NS - treuen Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde dar.38 Entsprechend wurde die anthroposophische Medizin in der nationalsozialistischen Presse gewürdigt.39 Unter den anthroposophischen Ärzten gab es eine Reihe aktiver Nationalsozialisten, z. B. Hanns Rascher, NSDAP - Mitglied seit 1931, Ernst Harmstorf, der 1933 in die Partei eintrat, Werner Voigt, ab November 1933 SA - Mitglied und ab Mai 1936 SS - Mitglied, oder Walter Bopp, der gemäß einer amtlichen Beurteilung von August 1943 „jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt“.40 Der anthroposophische Medizinstudent Gotthold Hegele gehörte seit Mai 1933 der SA an und wurde 1938 Leiter des Amtes Politische Erziehung im Nationalsozialistischen Studentenbund Tübingen.41 In den Augen der Gegner aber war die Anthroposophie schlicht unvereinbar mit dem Nationalsozialismus. Anfang 1939 erreichte Bormann einen endgültigen Beschluss, wonach ehemalige Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft nicht in die Partei aufgenommen werden durften. Bei den Waldorfschulen war die Lage komplizierter. Hier standen sich unterschiedliche Auffassungen nationalsozialistischer Erziehungspolitik sowie verfeindete Behörden gegenüber und verhandelten überdies mit divergierenden Strömungen der Waldorfbewegung. Während eine Minderheit der Waldorfvertreter 37 Vgl. die ausführlichen handschriftlichen Notizen Darrés zu Steiners Werken, 1947 bis 1950, BArch, N1094, Nr. I33. 38 Vgl. den umfangreichen Briefwechsel verschiedener Anthroposophen mit dem Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit bei der Reichsleitung der NSDAP aus den Jahren 1934–1940 ( BArch, R 9349, Teil 1), sowie Detlef Bothe, Neue Deutsche Heilkunde 1933–1945, Husum 1991. 39 Tagung der Naturärzte in Würzburg. In : Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden vom 1. 6. 1934, S. 18; Tagungsbericht der Hauptversammlung der Naturärzte im RudolfHeß - Krankenhaus. In : Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden von Dezember 1934, S. 20 f.; Karl Haedenkamp, Volksgesundheit und Lebensführung. In : Deutsches Ärzteblatt, 68 (1938), S. 509–512; Wilhelm zur Linden, Das Blut als Spiegel von Krankheitsvorgängen. In : Leib und Leben von November 1938, S. 242 f. 40 Zu Bopp : BArch, DS / ORP, Nr. A3, Bl. 783; zu Voigt : BArch, RS, Nr. G466, Bl. 2865– 3004; zu Harmstorf : BArch, PK, Nr. D392, Bl. 289–320. 41 Personalakte Gotthold Hegele ( BArch, PK, Nr. E65, Bl. 1473–1506).

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eine durchgreifende Umgestaltung im nationalsozialistischen Sinne anstrebte, suchte die Mehrheit der Schulen eine Verständigung mit dem neuen Staat, welche die Weiterarbeit auf vertrauter Grundlage erlauben sollte. Angesichts der allgemeinen Ablehnung von Privatschulen im Nationalsozialismus gelang dies nur teilweise. Im März 1935 ersuchte Heß’ Adjutant Ernst Schulte - Strathaus den Erziehungsminister um eine Ausnahmeregelung für die Waldorfschulen, die für den Nationalsozialismus besonders wertvoll und nicht wie andere Privatschulen zu behandlen seien.42 Für Schulte - Strathaus stand fest : „Die Ziele der Waldorf - Schulen decken sich in ihren Grundzügen mit den Forderungen des Führers für das Erziehungswesen. [...] Es müsste ein Weg gefunden werden, die in den Waldorf - Schulen aus deutschem Wesen erwachsene, planmäßig gegen materialistisches Denken und blossen Intellektualismus gerichtete Erziehungsart bei der Neugestaltung des Erziehungswesens für die Sicherung des geistigen und seelischen Gehalts im Nationalsozialismus nutzbar zu machen. Das würde nicht so schwierig sein, weil die Grundgedanken der Waldorf - Schulen der Idee des Nationalsozialismus viel näher stehen als es bei einem oberflächlichen Überblick erscheinen mag.“43 Nicht wenige Anthroposophen teilten diese Meinung. Das Motto der Waldorfbewegung im „Dritten Reich“ lautete : „Die Waldorfschulen erziehen zur Volksgemeinschaft.“44 Ihrer Selbstdarstellung zufolge lieferte die anthroposophische Pädagogik einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau des neuen Deutschlands durch „die Pflege des völkischen Gedankens und die Betonung des Wesens und der Aufgaben des deutschen Geistes“ und stand damit „im Einklang mit der Grundgesinnung des nationalsozialistischen Staates“.45 In der Zeitschrift der Waldorfbewegung pries Richard Karutz im Juni 1934 die „Liebe und Treue zu Rasse und Volk, Blut und Heimat“.46 Die Leitung der Stuttgarter Waldorfschule erklärte im Februar 1934, dass „in der Waldorfschule stets mit größtem Ernste der Kampf gegen die Kriegsschuldlüge, gegen den Versailler Vertrag, gegen die auf lösende Tendenz des internationalen Marxismus geführt wurde“.47 Der Vater eines Schülers der Stuttgarter Waldorfschule schrieb ebenfalls 1934 : „Gerade was wir Nationalsozialisten erstreben, dass die Kinder nicht zu Spießbürgern mit bloßem egoistischen Standesdünkel erzogen werden, sondern zu wirklich 42 Schulte - Strathaus an Bernhard Rust vom 8. 3. 1935 ( BArch, R 4901, Nr. 2519, Bl. 238– 240). 43 Schulte - Strathaus, Bericht an den Stellvertreter des Führers über die Waldorf - Schulen vom 14. 5. 1934 ( BArch, R 4901, Nr. 2519, Bl. 43–45). 44 Vgl. z. B. Bund der Waldorfschulen, Wesen und Aufgaben der Waldorfschulen vom 2. 3. 1935 ( BArch, R 4901, Nr. 2519, Bl. 243). 45 Bund der Waldorfschulen, Wesen und Aufgaben der Waldorfschulen ( ebd., Bl. 255). Zum Hintergund vgl. Achim Leschinsky, Waldorfschulen im Nationalsozialismus. In : Neue Sammlung. Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft, 23 (1983), S. 255–278. 46 Karutz, Durch die Sprache zum Volk. In : Erziehungskunst von Juni 1934, S. 103–122, hier 122. 47 Die Leitung der Freien Waldorfschule Stuttgart vom 20. 2. 1934 ( BArch, R 58, Nr. 6220b, Bl. 76).

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praktischen Vollmenschen, hat diese Waldorf - Pädagogik zum obersten Grundsatz von Anfang an gehabt.“48 Im gleichen Jahr verkündete Karutz im Namen der Elternschaft der Stuttgarter Waldorfschule : „Seit der völkischen Erhebung von 1933, dem Aufbruch der Nation zum nationalsozialistischen einheitlichen Volksstaat und der tiefstgreifenden Wandlung aller politischen, sozialen Lebensrichtung ist die Schule so gut wie jede andere deutsche Lebenszelle und jeder einzelne deutsche Mensch verpflichtet am Neuaufbau des Reiches mitzuwirken. Zu dem Zwecke ist sie verpflichtet, den Führern im Schulwesen des neuen Reiches sich zur tätigen Mitarbeit zur Verfügung zu stellen und ihnen zu zeigen, was sie aus ihrer pädagogischen Erfahrung an positiven Werten zu geben hat.“49 Trotz solcher Beteuerungen wurden alle Waldorfschulen in Deutschland zwischen 1938 und 1941 geschlossen. Nationalsozialistische Gegner verachteten die „individualistische“ Erziehung und beargwöhnten die esoterisch untermauerte Reformpädagogik. Waldorfvertreter suchten vergeblich den Verdacht zurückzuweisen und distanzierten sich nachdrücklich von solchen Auffassungen. Sie hielten dem entgegen, dass Anthroposophie und Nationalsozialismus die gleichen Feinde hätten, nämlich „die Kreise der Bolschewisten und Kommunisten, der Jesuiten und Freimaurer, der westlichen und östlichen Okkultisten, der jüdischen Intellektuellen, überhaupt der wurzellosen Internationalisten. [...] Die offenen und geheimen Feinde deutschen Wesens aber, die waren auch unsere Gegner. Das sollte zu denken geben ! Die schlimmste Verkennung der Wahrheit aber ist es, wenn etwa heute aus nationalsozialistischem Lager manchmal Anthroposophie und Waldorfschule in irgendeinen Zusammenhang mit jenen Gegnern gebracht werden.“50 Damit waren Heydrich und Bormann nicht zu beschwichtigen, obwohl selbst der „Völkische Beobachter“ auf das „Gesunde“ in der Waldorfpädagogik hinwies.51 Die Enttäuschung darüber, dass Steiners Lehren nicht durchweg von nationalsozialistischer Seite begrüßt wurden, kam vor allem nach dem Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft zum Ausdruck. Der Anthroposoph Hanns Voith schrieb im November 1935 : „Nach der nationalsozialistischen Revolution habe ich mit Begeisterung den Angriff des Führers auf den politischen Katholizismus, auf den Bolschewismus und Marxismus und auf Genf und den Versailler Vertrag verfolgt, musste ich doch sehen, dass diese Angriffe gegen die gleichen Feinde gingen, die auch die Anthroposophische Gesellschaft hatte. [...] In 48 Adolf Karcher an den Verbindungsstab der NSDAP vom 16. 3. 1934 ( BArch, R 4901, Nr. 2519, Bl. 8 f.). Vgl. die Eingabe der Elternschaft der Stuttgarter Waldorfschule vom 14. 3. 1938 mit 363 Unterzeichnern ( BArch, R 4901, Nr. 2521, Bl. 9). 49 Richard Karutz, Erklärung aus dem Kreise der Elternschaft der Freien Waldorfschule Stuttgart von März 1934 ( BArch, R 58, Nr. 6220b, Bl. 39–48). Vgl. E. A. Karl Stockmeyer, Das Ziel der deutschen Erziehung von Dezember 1939 ( BArch, NS15, Nr. 301, Bl. 58034–58053). 50 Die Leitung der Freien Waldorfschule Stuttgart vom 20. 2. 1934 ( BArch, R 58, Nr. 6220b, Bl. 75). 51 Wissenschaftliche Arbeit am nationalsozialistischen Gedankengut. In : Völkischer Beobachter vom 29. 1. 1939, S. 6.

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die grosszügigen sozialen Reformen der nationalsozialistischen Regierung stellte ich mich mit vollem Herzen und rückhaltlos ein, sah ich doch so vieles darin verwirklicht von dem, was wir im Jahre 1919 in der Dreigliederbewegung vertraten.“52 Ein Leipziger Anthroposoph wandte sich direkt an Hitler : „Wenn man nun von der Regierung aus die Tätigkeit dieser Anthroposophen verbietet, so tut man nichts anderes als das, was die Juden mit dem Heiland taten, indem man ihn abermals ans Kreuz schlägt. Und dass dies von deutscher Seite aus geschieht, das treibt einem die Schamröte ins Gesicht. [...] Steiner selbst hat die Juden hingestellt als ein seelisch dem Verfall preisgegebenes Volk.“53 Und ein Breslauer Anthroposoph versicherte : „Auch heute noch bin ich überzeugt davon, dass alle berechtigten Ziele des National - Sozialismus zu ihrem Erreichen von der geistigen Seite her dieser Anthroposophie bedürfen.“54 Wenngleich die Hoffnungen auf eine Synthese von Anthroposophie und Nationalsozialismus nicht erfüllt wurden, blieb die Idee lange lebendig. Nach dem Anschluss Österreichs schrieb ein Wiener Anthroposoph an Hitler : „Je mehr einer Anthroposoph ist, desto mehr ist er deutscher Mensch und sieht im Nationalsozialismus die heute notwendige Form des Zusammenlebens des deutschen Volkes.“55 Der Anthroposoph Ernst von Hippel rühmte die „Betonung des Willens, des Volksgeistes, des Mythos, der Rasse“ im nationalsozialistischen Deutschland und begrüßte „die Entfernung der Juden von der Universität“ als bedeutenden Schritt zur Überwindung des Materialismus.56 Die anthroposophische Zeitschrift „Demeter“ feierte die militärischen Siege Deutschlands in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges und lobte Hitler. Die Ausgabe von September 1939 wurde mit folgender Erklärung eröffnet : „Die Stunde der Bewährung ist angebrochen ! Der Führer hat die Verteidigung der Ehre und der Lebensrechte des deutschen Volkes übernommen.“ Ein Jahr später hieß es : „Das soll unser Ziel und unsere hohe Aufgabe sein, gemeinsam mit unserem Führer Adolf Hitler für die Befreiung unseres lieben deutschen Vaterlandes zu kämpfen !“57 52 Hanns Voith, Gesuch um Nachprüfung der Begründung des Verbots der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland vom 23. 11. 1935 ( BArch, R 58, Nr. 6194, Teil 1, Bl. 201–206). 53 Georg Bauer an Adolf Hitler vom 16. 11. 1935 ( ebd., Bl. 186 f.). 54 Richard Dürich an Gestapa Berlin vom 28. 11. 1935 ( BArch, R 58, Nr. 6193, Teil 2, Bl. 558–560). 55 Heinrich Langsteiner an Adolf Hitler vom 21. 12. 1938 ( BArch, R 58, Nr. 6187, Bl. 25– 27). 56 Ernst von Hippel, Mensch und Gemeinschaft. Die Stufen des politischen Bewußtseins und die Aufgaben der Gegenwart, Leipzig 1935, S. 129; ders., Die Universität im neuen Staat, Königsberg 1933, S. 19. 57 Leitartikel in Demeter von September 1940, S. 84. Vgl. Emil Bock, An die Gemeinden der Christengemeinschaft. In : Mitteilungen aus der Christengemeinschaft von Oktober 1939, S. 1; Franz Dreidax, Gesundes Brot aus gesundem Boden. In : Leib und Leben von September 1940, S. 88; Hermann Schneider, Schicksalsgemeinschaft Europa. Leben und Nahrung aus der europäischen Scholle, Breslau 1941; Georg Halbe, Unsterblichkeit. In : Leib und Leben von März 1943, S. 23.

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Als der Krieg vorrückte, zwischen Mai 1940 und November 1942, lieferte einer der führenden deutschen Anthroposophen eine ausführliche Rechtfertigung der nationalsozialistischen Führung.58 Die Schuld am Krieg gab Jürgen von Grone ostentativ England und vor allem dem „britischen Herrschaftsanspruch“ bzw. dem „angelsächsischen Rassenegoismus“.59 Angetrieben von „führenden Kreisen der Hochfinanz“ sowie „Freimaurerlogen“ und „Geheimgesellschaften“, welche die deutsche Weltmission mit allen möglichen Mitteln verhindern wollten, habe England den Deutschen den Krieg aufgezwungen, „trotz weitestgehender Vorschläge und Bemühungen von seiten des Führers“ :60 „Die deutsche Nation kämpft – mit Italien im Mittelmeerraum als Verbündetem – für die Befreiung des Kontinents von britischer Kontrolle.“61 Grone beharrte darauf, dass es keine „Verständigung zwischen den großen Völkergruppen germanischen Blutes“ geben werde, „solange der britisch - angelsächsische Imperialismus seine Fangarme um Meere und Kontinente der Erde legen will“.62 Im September 1940 schrieb er : „Die Entstehung des Dritten Reiches ist identisch mit der großen deutschen Gegenbewegung gegen die Ordnung von Versailles. Das nationalsozialistische Deutschland ist von allem Anfang an als die elementare völkische Reaktion im Inneren und Äußeren gegen diese Ordnung entstanden.“63

4.

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Kriegsbegeisterung war keine anthroposophische Besonderheit. Das Bemerkenswerte an anthroposophischen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus war der Versuch, gemeinsame Ideale und gemeinsame Erwartungen in Bezug auf den „deutschen Geist“ auszumachen. Im gewissen Sinne stand der deutsche Geist nach anthroposophischer Auffassung zwischen 1933 und 1945 am Scheideweg, und über den richtigen Weg waren sich Steiners Nachfolger uneinig. Dies eröffnete vielen Anthroposophen die Möglichkeit, bestimmte nationalsozialistischen Zielsetzungen mitzutragen, führte aber auch zu Missverständissen. In anthroposophischer Deutung war die für den Menschheitsfort58 Vgl. die Artikelserie von Jürgen von Grone in der Zeitschrift „Wir und die Welt“ von Mai 1940 bis November 1942; vgl. auch Wolfgang Schuchhardt, Frankreich und der deutsche Geist. In : Wir und die Welt von Dezember 1940, S. 526–530. 59 Jürgen von Grone, Baumeister und Baugedanken des Empire. In : Wir und die Welt von Juni 1940, S. 226–231, hier 228. 60 Ders., In Memoriam Juli 1914. In : Wir und die Welt von Juli 1940, S. 282–289, hier 284 und 288. 61 Ders., Der Kontinent durchdringt England. In : Wir und die Welt von März 1941, S. 110–115, hier 115. 62 Ders., Die Normannen erobern England. In : Wir und die Welt von Mai 1941, S. 213– 218, hier 218. 63 Ders., Herrschaftsziele des Empire. In : Wir und die Welt von September 1940, S. 377– 379, hier 379.

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schritt unabdingbare deutsche Sendung eine geistige, sogar kosmische, nicht in erster Linie eine politische. Mit nationalsozialistischen Vorstellungen war dies nur begrenzt vereinbar. Brisant wurde diese Dynamik vor allem bei den Themen Volk und Rasse. Aus Sicht der anti - esoterischen Strömung im SD wurde der anthroposophische Ansatz entschieden abgelehnt : „Die Steiner’sche Anthroposophie ist letztlich rein individualistisch, ohne dem Volk einen dem Individuum übergeordneten Wert anzuerkennen. Sie ist weiterhin dem nat. soz. Rassegedanken völlig fremd und vertritt eine abwegige Lehre von der Herrschaft des rein Geistigen.“64 Ein Teil der Anthroposophen war anderer Meinung. Eine Ablehnung von sogenannter Rassenmischung war lange vor 1933 in anthroposophischen Schriften zu finden. Bereits 1914 verurteilte Heise „das Rassengemisch von heute“ : „So müssen heute wieder viele rassisch allzu zersetzte Mitmenschen abgestoßen werden, um den Wiederaufbau einer Hochrasse zu ermöglichen; ein ungeschriebenes Gesetz verlangt dies sowohl um vieler geistiger als sozialer Werte willen.“65 „Und so zeigt sich eben gerade die germanische Rasse als die zukünftigste Menschenrasse und als die endlose Befruchterin der ganzen großen Menschheit, was Grund genug ist, rassisch - ethische Hochzucht nunmehr bewusst durch sie zu entwickeln. Dr. Steiner gehört das Verdienst, die hohe Bedeutung der neugermanischen Entwicklung in seinen Werken in der verschiedensten Weise dargestellt zu haben.“66 Andere Anthroposophen stimmten solchen Gedanken zu. August Pauli missbilligte 1932 zwar „die häßlichen Auswüchse der antisemitischen Bewegung“, wies den Juden jedoch die Hauptschuld an den „auf lösenden Wirkungen des Intellektualismus und Materialismus“ zu : „Und man kann verstehen, dass eine völkische Bewegung, die sich gegen diese Auf lösungen wehrt, gerade das Judentum in der Gegenwart als ein Element der Zersetzung empfindet.“ Pauli fuhr fort : „In diesem Sinne wäre z. B. die Frage zu erheben, ob die in der neuen Zeit ziemlich zahlreich gewordenen Mischehen zwischen Deutschen und Juden wünschenswert sind.“ Viele solche Mischehen seien „eine Sünde gegen die Natur“, erklärte Pauli und kam zu dem Schluss, dass „solche Verbindungen möglichst beschränkt bleiben müßten“.67 Noch schärfer polemisierte Karutz, der Anfang 1931 in einen freundschaftlichen Dialog mit den nationalsozialitischen Rassentheoretikern Hans F. K. Günther und Darré eintrat.68 Bereits 1930 lieferte Karutz in einer der wichtigsten anthroposophischen Zeitschriften eine esoterisch begründete Absage an die

64 Sachhinweise für die Vernehmungen der Anhänger okkulter Lehren von Juni 1941 (BArch, R 58, Nr. 5713, Teil 1, Bl. 226). 65 Karl Heise, Ein paar Worte zum Dunkelhaar und Braunauge der Germanen. In : Zentralblatt für Okkultismus von Oktober 1914, S. 186–190, hier 186 und 189. 66 Heise, Ein paar Worte zum Dunkelhaar und Braunauge der Germanen. In : Zentralblatt für Okkultismus von September 1914, S. 132–137, hier 136. 67 Pauli, Blut und Geist, S. 29 f. 68 Richard Karutz, Über Rassenkunde. In : Das Goetheanum vom 4. 1. 1931, S. 6 f.; ders., Zur Rassenkunde. In : Das Goetheanum vom 23. 8. 1931, S. 268–270.

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Mischehe zwischen Weißen und Schwarzen und zwischen Juden und Nichtjuden. Da die Rasseneigenschaften „geistig bedingt“ seien, so Karutz, müsse der „Mischmasch des Blutes“ durch einen „inneren Rassenkampf“ verhindert werden : „Die Einsicht in die geistigen Wurzeln der menschlichen Organisation und in die wahre Bedeutung des Mensch - seins lehnt die Mischehe ab.“69 Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus, schrieb Karutz 1934, „gewinnt man auch die positive Einstellung zur Rasse wieder, die unter dem wissenschaftlichen Materialismus verlorengegangen war“ :70 „Die nationalsozialistische Völker - und Rassenpolitik ist in der geistigen Wirklichkeit verankert.“71 Um die Zusammengehörigkeit von anthroposophischer und nationalsozialistischer Rassenlehre zu dokumentieren, zitierte er Steiner und Hitler nebeneinander als Beweis, „dass sich hierin die auf Blut, Boden, Vererbung aufgebaute Weltanschauung des Dritten Deutschen Reiches und die Geisteswissenschaft nicht widersprechen“.72 Karutz erklärte : „Der Nationalsozialismus ist, vielen unbewusst, tatsächlich eine geistige Bewegung, Rassenbildung und Rassenschichtung in Europa gehen tatsächlich bis in jene atlantischen Zeiten zurück, von denen Rudolf Steiner spricht.“73 Auf eine ebenso geistige Basis stützten sich anthroposophische Stellungnahmen zur „Judenfrage“, sowohl vor als auch nach 1933. Für Steiner war das Judentum ein spiritueller wie evolutionärer Anachronismus; das jüdische Volk hätte sich schon längst auf lösen sollen.74 In anthroposophischen Schriften wurden die Juden als Verkörperung von Materialismus, Intellektualismus, Egoismus, Rationalismus, Abstraktion, Zersetzung und Dekadenz dargestellt. Der Herausgeber der Zeitschrift „Anthroposophie“ schrieb 1925 : „Aber das Judentum wird heute täglich nervöser, auch geistig immer nervöser und aktiver; denn es fühlt sehr wohl, dass seine für die Weltlage unheilschwere Rolle ausgespielt ist und das Blatt sich zu wenden beginnt. [...] Das Judentum begräbt sich selbst als bestimmender Exponent der Zivilisation, der es viel zu lange gewesen ist. Zionismus und ähnliche Verstiegenheiten, an die kein vernünftiger Mensch 69 Richard Karutz, Zur Frage von Rassebildung und Mischehe. In : Die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie von Mai 1930, S. 94–102; vgl. ders., Über Rassenkunde. In : Das Goetheanum vom 11. 1. 1931, S. 13 f.; ders., Mysterienschatten über Afrika. In : Das Goetheanum vom 27. 8. 1939, S. 276 f.; Elisabeth Dank, Die Neger in den Vereinigten Staaten. In : Die Christengemeinschaft von September 1933, S. 187–189; Hugo Wetzel, Heldentum und Christentum. In : Die Christengemeinschaft von März 1937, S. 367– 369. 70 Richard Karutz, Rassenfragen, Stuttgart 1934, S. 38. 71 Ebd., S. 32. 72 Ebd., S. 63. 73 Richard Karutz, Gesellschaftliches Leben. Vorlesungen über moralische Völkerkunde, Stuttgart 1934, S. 5. 74 Vgl. Peter Staudenmaier, Rudolf Steiner and the Jewish Question. In : Leo Baeck Institute Year Book, 50 (2005), S. 127–147; vgl. aus anthroposophischer Sicht Ralf Sonnenberg, „... ein Fehler der Weltgeschichte“ ? Rudolf Steiners Sicht des Judentums zwischen spiritueller Würdigung und Assimilationserwartung. In : Ralf Sonnenberg ( Hg.), Anthroposophie und Judentum, Frankfurt a. M. 2009, S. 29–63.

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glaubt, sind nur als Ausgeburten eines perniziösen Fieberzustandes zu verstehen, der sich aus allen Kräften gegen die andringende Vernichtung sträubt, ohne sie aufhalten zu können.“75 Karutz erklärte 1929 : „Der Jude im Menschen ist der Feind“, und verurteilte „den gruppengebundenen, engherzigen, vergangenheitsstarren, totem Begriffswissen und totem Stoffe opfernden, weltmachthungrigen Geist des Judentums, der eben in jedem Menschen steckt“.76 Vor der „Nachwirkung des Judentums im Christentum“77 warnte der Anthroposoph Friedrich Rittelmeyer noch 1937 : „Heute ist die Stunde da, wo wirklich im Christentum all das noch in ihm lebende Judentum überwunden werden muss. Die Zeichen der Zeit fordern es gebieterisch.“78 Die anthroposophische Mehrheitsmeinung in Hinblick auf die Judenfrage bestand in einer Selbstaufgabe jüdischer Identität, nicht in staatlich verordneter Gewalt. Anders als im faschistischen Italien waren deutsche Anthroposophen offenbar nicht an Judenverfolgungen beteiligt.79

5.

Annäherung und Abgrenzung

Dass Beziehungen zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus in der Praxis auch gegen den Widerstand von SD und Gestapo möglich waren, zeigt die Entwicklung der biologisch - dynamischen Bewegung. Im Juli 1933 wurde der Reichsverband für biologisch - dynamische Wirtschaftsweise unter der Führung des langjährigen Anthroposophen Erhard Bartsch gegründet. In den ersten acht Jahren des „Dritten Reiches“ wuchs die Bewegung stark an und genoß die Gunst vieler NS - Größen, etwa von Heß, Rosenberg, Ohlendorf, Baeumler, Wilhelm Frick und Robert Ley.80 Der biologisch - dynamische Landbau wurde in der nationalsozialistischen Presse mit auffallender Begeisterung gefeiert.81 1935 wurde 75 Kurt Piper, Martin Buber und das Chaos. In : Anthroposophie vom 22. 2. 1925, S. 29– 31, hier 30. 76 Richard Karutz, Von Goethe zur Völkerkunde der Zukunft, Stuttgart 1929, S. 57. 77 Friedrich Rittelmeyer, Über Christentum und Germanentum. In : Die Christengemeinschaft von November 1937, S. 206–210, hier 209. 78 Friedrich Rittelmeyer, Christus, Stuttgart 1936, S. 46. Vgl. Ludwig Thieben, Das Rätsel des Judentums, Düsseldorf 1931. 79 Zur Rolle italienischer Anthroposophen in der faschistischen Rassenpolitik vgl. demnächst Peter Staudenmaier, Anthroposophy and the Rise of Fascism in Italy. In : Arthur Versluis ( Hg.), Esotericism, Religion, and Politics, Lansing 2011. 80 Geschäftsbericht 1939/40 des Reichsverbandes für biologisch - dynamische Wirtschaftsweise ( BArch, R 58, Nr. 6197, Teil 1, Bl. 107–109). 81 Robert Banfield, Landwirtschaftliche Tagung für biologisch - dynamische Wirtschaftsweise. In : Leib und Leben von Januar 1935, S. 17–19; Franz Dreidax, Lebendiger Boden – ewiges Volk. In : Leib und Leben von Oktober 1938, S. 199–205; Wolfgang Clauß, Lebensgesetzliche Landbauweise. Eindrücke von einer Besichtigung des Erbhofes Marienhöhe bei Bad Saarow. In : Nationalsozialistische Landpost vom 26. 7. 1940, S. 3 f.; Oskar Krüger, Neue Wege des Landbaues. In : Völkischer Beobachter vom 28. 8. 1940, S. 7; Erhard Bartsch, Der Erbhof Marienhöhe : Ein Beispiel lebensgesetzlicher Landbauweise. In : Odal. Zeitschrift für Blut und Boden von September 1940,

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der Reichsverband für biologisch - dynamische Wirtschaftsweise korporatives Mitglied der nationalsozialistischen Deutschen Gesellschaft für Lebensreform (Motto : „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreformbewegung ist der Nationalsozialismus“) und mit Bartsch und seinem Kollegen Franz Dreidax wurden zwei prominente Anthroposophen in den Führerrat der Gesellschaft aufgenommen. Anthroposophische Beiträge erschienen regelmäßig in der Zeitschrift „Leib und Leben“ der Gesellschaft. Bartsch konnte 1937 zutreffend behaupten, „dass sich die führenden Männer der Demeter - Bewegung rückhaltlos mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen dem nationalsozialistischen Deutschland zur Verfügung gestellt haben“.82 Mehrere Anthroposophen waren auch an nationalsozialistischen Umweltschutzmaßnahmen aktiv beteiligt unter Aufsicht des Reichslandschaftsanwalts Alwin Seifert, Parteigenosse und hartnäckiger Befürworter biologisch - dynamischer Methoden. Seifert schrieb 1937 an Heß : „Es ist erstaunlich viel Geistesgut aus der anthroposophischen Bewegung übernommen worden, ohne die Urheber zu nennen.“83 1939 konnte auch Landwirtschaftsminister Darré für die biologisch - dynamische Sache gewonnen werden, weil maßgebende Beamte seines Stabs seit langem in dieser Richtung aktiv waren.84 Kurz vor Kriegsausbruch errichtete Darré eine Arbeitsgemeinschaft lebensgesetzlicher Landbau – die biologisch - dynamische Wirtschaftsweise unter maßgeblicher anthroposophischer Beteiligung und Mitte 1941 konnte er mit Genugtuung feststellen, dass „einige Kreise in der Obersten Führung der NSDAP zu einer Bejahung der biologisch - dynamischen Wirtschaftsweise übergegangen sind“.85 Nach Heß’ Flug nach Großbritannien im Mai 1941 wurde der Reichsverband für biologisch dynamische Wirtschaftsweise jedoch zerschlagen und einige Anthroposophen im Zuge der „Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften“ vorübergehend verhaftet. Heydrichs Aktion bedeutete jedoch nicht das Ende der Zusammenarbeit zwischen Biodynamikern und Nationalsozialisten. Seit Anfang des Krieges waren Anthroposophen an der Gestaltung und Durchführung von Siedlungsplänen im besetzten Osten unter Leitung der SS beteiligt. Schon im Oktober 1939 kooperierten Anthroposophen und SS an der Errichtung eines biologisch - dynamisch geführten Lehrguts auf einem enteigneten Hof in Posen, und auch nach 1941 wurde die Mitarbeit an verschiedenen Projekten weitergeführt, mit der Genehmigung Himmlers und unter Förderung

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S. 695–701; Wilhelm Rauber, Bauern „kraft Gesetzes“ oder wesenhaftes Bauerntum ? Gedanken über die Notwendigkeit eines lebensgesetzlichen Landbaus. In : Nationalsozialistische Monatshefte von November 1940, S. 676–682. Erhard Bartsch an Lotar Eickhoff vom 22. 8. 1937 ( BArch, R 9349, Nr. 2). Alwin Seifert an Rudolf Heß vom 10. 5. 1937 ( IfZ, ED, Nr. 32/422/1952, Bl. 101). Zum Hintergrund : Georg Halbe, Bericht über die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Stabsamt des Reichsbauernführers und dem Reichsverband für biologisch dynamische Wirtschaftsweise ( BArch, N 1094/ II /1). Anordnung Darrés für den persönlichen Stab vom 7. 6. 1941 ( BArch Koblenz, N 1094/ II /1d ).

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von zwei hohen SS - Führern, Günther Pancke und Oswald Pohl.86 Pancke, Chef des Rasse - und Siedlungshauptamts, hielt den biologisch - dynamischen Landbau für die einzig geeignete Wirtschaftsweise „für die zukünftigen Wehrbauern und Bauern im Osten“.87 Pohl war für das Netzwerk biologisch - dynamischer Höfe bei verschiedenen Konzentrationslagern zuständig, u. a. in Dachau und Ravensbrück.88 Das Dachauer Gut wurde von dem Anthropsophen und SS - Offizier Franz Lippert beaufsichtigt, der vorher Obergärtner bei Weleda gewesen war. Die SS - eigenen biologisch - dynamischen Betriebe bestanden bis zum Kriegsende. Dass solche Konvergenzen eher praktischer Natur waren und nicht in erster Linie auf ideologischen Gemeinsamkeiten beruhten, sollte nicht von der wesentlichen Tatsache einer langwierigen und vielfältigen Zusammenarbeit von Anthroposophen und Nationalsozialisten ablenken. Ebensowenig sollte die folgenschwere Feindschaft von nationalsozialistischen Fraktionen gegen die Anthroposophie vernachlässigt werden. In die Dialektik von Annäherung und Abgrenzung spielten verschiedene Gesichtspunkte hinein, und eine vereinfachende Deutung verkennt leicht die Spannung zwischen den beiden Polen. Für ein historisch fundiertes und umfassendes Verständnis der komplizierten Beziehungen zwischen Anthroposophie und Nationalsozialismus sind beide Tendenzen, sind Distanz wie Resonanz von Bedeutung. Unter Steiners heutigen Schülern ist die Geschichte der anthroposophischen Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland noch weitgehend unaufgearbeitet; der Hintergrund der gestörten Verflechtungen mit völkischen Strömungen so gut wie unerkannt. Diese uneingestandene Vergangenheit wirkt entsprechend nach und erschwert die ohnehin mühsame Diskussion zwischen Anhängern der „Geisteswissenschaft“ und nichtanthroposophischen Wissenschaftlern. Möglicherweise steht die Anthroposophie, ihrem Selbstverständnis nach Sprachrohr des deutschen Geistes, noch einmal am Scheideweg in Hinblick auf den eigenen Werdegang. Für Außenstehende erhebt sich insbesondere die Frage nach der geschichtlichen Gemengelage, wo lebensreformerische, völkische, und esoterische Ansätze einander begegneten, gegenseitig befruchteten und gelegentlich verschmolzen. Dass sich einige Nationalsozialisten bei diesem verworrenen Beziehungsgeflecht bedienten, überrascht nicht, bedarf dennoch weiterer Klärung und historischer Detailarbeit. Dazu könnte eine kritische Untersuchung der Geschichte der Anthroposophie zwischen 1933 und 1945 Wichtiges beitragen. 86 Pancke an Himmler vom 20. 11. 1939 ( BArch, NS2, Nr. 60, Bl. 51–59); Bericht Heinrich Vogels vom 9. 5. 1940 ( BArch, NS 3, Nr. 1175); Vogel an Persönlichen Stab Reichsführer - SS vom 29. 10. 1943 ( BArch, NS 19, Nr. 3122, Bl. 27). 87 Pancke an Heydrich vom 8. 1. 1940 ( BArch, PK, Nr. A199, Bl. 2780). 88 Vgl. Wolfgang Jacobeit und Christoph Kopke, Die Biologisch - dynamische Wirtschaftsweise im KZ. Die Güter der „Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung“ der SS von 1939 bis 1945, Berlin 1999; Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003, S. 771–855.

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„... dass der Orden ein völkischer werden muss“.1 Anmerkungen zum Spannungsverhältnis von Freimaurerei, völkischer Bewegung und Nationalsozialismus Marcus Meyer

1928 erschien in den „Alldeutschen Blättern“ ein Beitrag über die „nationale Zuverlässigkeit“ der deutschen Freimaurer. Nach eingehender Betrachtung des Untersuchungsgegenstands kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die deutsche Freimaurerei keinesfalls als Einheit begriffen werden dürfe. Stattdessen müsse zwischen humanitären und christlich - konservativen Logen unterschieden werden.2 Erstere seien „stark von Angehörigen des jüdischen Volkstums durchsetzt“, pflegten „mannigfache internationale Verbindungen“ und in ihnen herrsche „ein international ausgerichteter Geist“.3 Positiv seien dagegen die christlich - konser vativen Logen zu bewerten, in denen nun auch der völkische Gedanke Einzug gehalten habe. Es gebe sogar einzelne Logen, „die in der Zusammensetzung wie in der Haltung geradezu völkisch genannt werden können“.4 Während die Charakterisierung der humanitären, eher liberalen Freimaurerei an den Mythos einer „jüdisch - freimaurerischen Weltverschwörung“ anknüpfte und insofern der zeitgenössischen völkischen Propaganda entsprach, war der Hinweis auf die Existenz völkischer Vorstellungen in Teilen der deutschen Freimaurerei durchaus zutreffend. Tatsächlich hatte sich hier nach dem 1 2

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St. Johannis - Konvent Bremen, gen. Zum Ölzweig, Maas, an Ordenskanzler von Heeringen vom 27. 5. 1933 ( BArch, R 58/6145, Bl. 5). Die Freimaurerei hat sich bereits kurz nach ihrer Entstehung regional und inhaltlich diversifiziert. In Deutschland wurde die Unterscheidung zwischen den „christlich - konservativen“ und den „humanitär - liberalen“ Logen zum zentralen Charakteristikum, wobei die altpreußischen Groß - und Tochterlogen Vertreter einer streng christlich - konservativen bzw. nationalkonservativen Freimaurerei waren, in der etwa die Mitgliedschaft jüdischer Freimaurer ausgeschlossen war, während die humanitären Logen einer liberalen, nicht zwingend christlich gedachten Freimaurerei anhingen. Zu den altpreußischen Großlogen gehörten die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland, die Große Nationalmutterloge zu den drei Weltkugeln sowie die Großloge Royal York zur Freundschaft, die alle in Berlin ansässig waren. Zu den humanitär - liberalen Großlogen gehörten u. a. die Große Loge von Hamburg oder die Großloge Zur Sonne in Bayreuth. Zur Freimauererfrage. In : Alldeutsche Blätter vom 18. 2. 1928 ( Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz, Berlin [ GStAPK ], 5.2.B 126, Nr. 4). Ebd.

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Ende des Ersten Weltkriegs ein völkischer Block gebildet und mit der sogenannten Ringbewegung auch ein organisiertes Forum für eine Freimaurerei geschaffen, die „Rassereinheit“ zum freimaurerischen Ideal erhob.5 Trotz einschlägiger Veröffentlichungen ist dieser Teil der freimaurerischen Geschichte von der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur völkischen Bewegung und zum Nationalsozialismus bisher kaum zur Kenntnis genommen worden.6 Die Entstehung und die Bedeutung der völkischen Bewegung innerhalb der deutschen Freimaurerei und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus sollen in diesem Beitrag auf der Basis der begrenzten Überblicksliteratur, vor allem aber anhand der eingehenden Analyse der Archive der bremischen Logen thematisiert werden.7

1.

1918–1933 : Kampf gegen die Republik

Die deutschen Freimaurer hatten sich als tragende Säule der Gesellschaft des Kaiserreiches und ihrer bürgerlichen Kultur verstanden. Gleichzeitig übte die Geselligkeit der Logen seit der Reichsgründung eine bisher nicht bekannte Anziehungskraft auf weite Teile des deutschen Bildungsbürgertums und des bildungsbürgerlich orientierten Wirtschaftsbürgertums aus.8 Die ursprünglichen Prinzipien der Aufklärung und damit der frühen Freimaurerei, insbesondere der für die Logen zunächst konstitutive kosmopolitische Gedanke der „Weltbruderkette“, waren zu diesem Zeitpunkt bereits einem Ende des 18. Jahrhunderts von Herder und Fichte maßgeblich beeinflussten staatstragenden und nationalen Selbstverständnis gewichen, in dessen Folge die aktive Vaterlandsliebe zu einer zentralen freimaurerischen Tugend erhoben worden war.9 Das mit Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Friedrich III. zwei Freimaurer an der Spitze der protestantischen und geeinten Nation gestanden hatten, beförderte die in den zahlreichen Logenprotokollen formulierte Vorstellung, das Reich sei die Inkarnation der von den Freimaurern angestrebten idealen Gesellschaft.10 Weil die freimau-

5 Vgl. Ralf Melzer, Konflikt und Anpassung. Freimaurerei in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Wien 1999, S. 101–106. 6 Zum Forschungsstand vgl. Wolfgang Fenner / Joachim Schmitt - Sasse, Die Freimaurerei als „nationale Kraft“ vor 1933. In : Thomas Köbner ( Hg.), Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930–1933, Frankfurt a. M. 1982, S. 223–244; Melzer, Konflikt. 7 Der Beitrag basiert auf der 2010 erschienen Dissertation des Autors : Marcus Meyer, Bruder und Bürger. Freimaurerei und Bürgerlichkeit in Bremen von der Aufklärung bis zum Wiederaufbau nach 1945, Bremen 2010. 8 Zum Bedeutungsgewinn der Freimaurerei im 19. Jahrhundert vgl. Stefan - Ludwig Hoffmann, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840 bis 1918, Göttingen 2000, S. 129. 9 Vgl. ebd., S. 287 f. 10 Vgl. Marcus Meyer, Säkularisierung oder Konfessionalisierung ? Freimaurerei und Nationalprotestantismus in Bremen. In : Werkstatt Geschichte, 49 (2008), S. 73–84.

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rerischen Chronisten dazu neigten, nur dort einen „Knoten in das Taschentuch der Geschichte“ ( Jan Assmann ) zu machen, wo dies angenehm und nützlich erschien,11 konnte auch die Tatsache, das Wilhelm II. der Freimaurerei ablehnend gegenüberstanden hatte, erfolgreich übersehen und die Identifikation mit dem Kaiserreich über den Tod Friedrichs III. hinaus aufrecht erhalten werden: „Wer nicht wider uns ist, ist für uns, so denken wir auch von unserem Kaiser.“12 Die Niederlage des Deutschen Reichs, verbunden mit der Flucht des Kaisers und der Revolution im November 1918, kam dementsprechend einem jähen „Sturz aus glanzvoller Höhe in den Abgrund“13 gleich, der aus der Sicht vieler Bürger und damit vieler Freimaurer das Ende der Übereinstimmung zwischen bestehender und legitimer Ordnung bedeutete. Das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der deutschen Freimaurer im Kaiserreich hatte auf genau dieser Kongruenz beruht, ihr Verlust hinterließ eine schwer zu füllende Lücke, die zu einer Wahrnehmung der Gegenwart als massiver Krise führte. Die freimaurerische Krisendiagnostik in der Zwischenkriegszeit war dabei umfassend und stimmte mit den zeitgenössischen Krisendiskursen des Bürgertums insgesamt überein :14 Deutschland lag danach gedemütigt und vom Parteienstreit zersplittert darnieder, die Kultur werde von fremdländischem Einfluss zersetzt, nicht nur die „Masse“, auch das Bürgertum selbst hetzten materiellen Dingen hinterher, idealistische Werte drohten dagegen auf der Strecke zu bleiben. Allerdings versanken die Freimaurer deshalb keinesfalls in Depression oder Agonie, wie dies Detlev Peukert für das deutsche Bürgertum vermutete.15 Stattdessen wurden innerhalb der Logen Vorstellungen zur aktiven Über windung der „Krise“ formuliert, die auch die Freimaurer als prinzipiell offene Situation deuteten, deren Ausgang von der eigenen Aktivität abhing.16 Der gemeinsame Nenner fast aller Freimaurer war der Rückzug auf eine nun ausschließlich „deutsch“ gedachte Freimaurerei, die den wenigen noch verbliebenen kosmopolitischen Elementen des Bundes endgültig eine Absage erteilte : „Man habe ein Anrecht auf eine ,deutsche Spielart der Freimaurerei‘. Die besteht in der

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Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Form der Erinnerung innerhalb der Freimaurerei : Hans - Hermann Höhmann, Freimaurerische Erinnerungskultur. In : Tau. Zeitschrift der Forschungsloge „Quatuor Coronati“, 1 (2005), S. 3–8. Protokoll der Loge zum Kaisergeburtstag, Ansprache Waldemar Sonntag vom 27.1.1891 ( GStAPK, 5.1.3., Nr. 5758). Vortrag Heinrich Walter, Johannisfest vom 27. 6. 1919 ( Archiv des deutschen Freimaurermuseums, Bayreuth [ ADFM ], Nr. 10182). Vgl. Rüdiger Graf, Die „Krise“ in intellektuellen Zukunftsdiskurs in der Weimarer Republik. In : Moritz, Föllmer / Rüdiger Graf ( Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik: zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005, S. 77–106, hier 77. Vgl. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik : Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 75 f., 151, 238. Zum hier verwendeten Krisenbegriff vgl. Graf, Krise, S. 105; ähnlich auch Wolfgang Hardtwig, Einleitung : Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit. In : ders. (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 7–22, hier 7.

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Pflege deutscher Sonderart.“17 Die „deutsche Spielart der Freimaurerei“ fühlte sich vor allem der Wiedererlangung der angeblich verlorenen politischen und kulturellen Hegemonie Deutschlands in Europa verpflichtet. Voraussetzung dazu war nach Meinung vieler Logenmitglieder die Wiederherstellung der politischen, sozialen und kulturellen Einheit des Volkes auf der Grundlage bürgerlich - ideeller Werte, eng verbunden mit der Pflege des „vaterländischen Gedankens“. Die Selbsterziehung in den Logen sollte sich dementsprechend auf die Pflege vermeintlich „deutscher“ Werte als Grundlage der angestrebten Einheit des Volkes beschränken, womit konsequenter Weise auch die Ausgrenzung „undeutscher“, dem angeblichen deutschen Volkscharakter nicht entsprechender Werte verbunden war. Zunächst galt es, den „Parteiismus“ hinter sich zu lassen, der auch in den Logen als wesentliches Hindernis für Deutschlands Wiederaufstieg identifiziert wurde. Eine neue Führergestalt sollte die politische Zersplitterung überwinden. Darin spiegelte sich der in fast allen politischen Lagern bestehende Wunsch nach einer Form von politischer Repräsentation, die sich am einheits - und identitätsstiftenden Regiment Kaiser Wilhelms II. messen ließ.18 Das Spektrum der zunächst recht diffusen Erwartungen begann bei der Hoffnung auf eine nicht näher definierte politisch handlungsfähige Elite und endete bei der Beschwörung eines messianischen Retters, der Deutschland zu alter Stärke und altem Glanz zurückführen sollte. Bei einigen Freimaurern dominierte dabei anfänglich eine gewisse Sehnsucht nach dem vergangenen Glanz des Kaiserreichs. Der Geburtstag des Monarchen und der Tag der Reichsgründung blieben symbolträchtige Jahrestage, die festlich begangen wurden. Die Redner erinnerten an die verlorene Größe des Reichs, aber auch an die Bedeutung der Logen für die Einigung des Volkes.19 Sie beschworen die „herrlichen Zeiten, die leider der Vergangenheit“20 angehörten, verbunden mit der Hoffnung, ihre Wiederkehr noch erleben zu können. Paul von Hindenburg schien diese Wiederkehr am ehesten zu verkörpern. Sein Ansehen gründete sich nahezu vollständig auf die Traditionen des Kaiserreichs, seine Wahl zum Reichspräsidenten schien deshalb ein 17

Protokoll der Loge im 1. Grad, Ansprache Franz Crull vom 18. 9. 1923 ( GStAPK, 5.1.4., Nr. 5092). Vgl. auch Vortrag Heinrich E. A. Meyer, Die Frage des Religionsunterrichtes in maur. Beleuchtung von Juni 1919 ( Archiv der Loge Friedrich Wilhelm zur Eintracht, Bremen ). 18 Vgl. Thomas Mergel, Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. In : Hardtwig ( Hg.), Kulturgeschichte, S. 91–127, hier 105–107; Melzer, Konflikt, S. 75. Melzer spricht hier von einer Präferenz vieler Freimaurer für ein „nicht näher bestimmtes autoritäres Staatsmodell“. 19 Vgl. Vortrag Otto Hartwich, vaterländische Loge, Der vaterländische Gedanke in den deutschen Logen vom 18. 1. 1929 ( GStAPK, 5.1.3., Nr. 5768). In der Nationalmutterloge zu den 3 Weltkugeln waren solche Veranstaltungen bereits seit 1922 Usus. Vgl. Protokoll der Loge im 1. Grad, Ansprache Hans von Obstfelder vom 17. 1. 1922; Ansprache Otto Strack, Einheit und Einigkeit vom 17. 1. 1922 ( ebd., 5.1.4., Nr. 5092). 20 Protokoll der Lehrlingsarbeit, Ansprache Hans von Obstfelder vom 27. 1. 1925 ( ebd., 5.1.4., Nr. 5092).

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Stück verloren geglaubter kaiserlicher Herrlichkeit, vor allem aber einheitlicher Führung zurückzubringen.21 Dieses Treuebekenntnis war allerdings keine unpolitische Flucht der Freimaurer in eine vermeintliche „Geborgenheit vergangener Zeiten“,22 wie Helmut Neuberger meint, sondern vor allem ein Plebiszit gegen die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik. Auch war der Wunsch nach einer Wiederherstellung der alten Ordnung nur eine Strömung innerhalb der Freimaurerei. Eine andere bemühte sich um die Neuformulierung der in den Logen gepflegten Religiosität. Bis 1918 war diese mit dem Nationalprotestantismus nahezu deckungsgleich.23 Aber das traditionelle nationalprotestantische Religionsverständnis, das zu den zentralen identitätsstiftenden Faktoren der Freimaurerei im Kaiserreich gehört hatte, war nicht mehr konsensfähig. Das Bündnis zwischen Thron und Altar, das dem Protestantismus sein Selbstbewusstsein verliehen hatte, gab es nicht mehr. An der Gestaltung der Politik und Kultur waren nun auch Katholiken, Juden und Religionslose beteiligt, womit sich die Weimarer Republik nicht mehr protestantisch deuten ließ.24 Einige Freimaurer griffen deshalb die Idee einer neuen, „geläuterten“ Religion auf, die nun in den Logen gepflegt werden sollte.25 Dahinter verbarg sich ein „germanisch“ gedachtes Christentum : „Der Geist Odins, der Wotanismus durchbebt sie. Dieser deutsche Geist erhebt uns himmelhoch über die anderen. Wahren wir uns das Erbteil der Väter.“26 Diese und viele vergleichbare Äußerungen waren Ausdruck der in Teilen der deutschen Freimaurerei beginnenden Umdeutung der „vaterländischen Arbeit“. Sie sollte nun immer weniger dem Wiederaufbau der Nation und immer mehr der Neuschöpfung einer „deutschen Volksgemeinschaft“ dienen und „unsere deutschen Volksgenossen, alle, in deren Adern noch arisches Blut fließt und die sich noch einen Funken ehrlicher deutscher Treue im deutschen Herzen bewahrt haben“, belehren, dass es nun an der Zeit sei, „der Einigkeit und der deutschen Volksgemeinschaft wieder zuzustreben“ und „endlich in geeinter Kraft dem volksvernichtenden, internationalen, fremdrassigen Verführergeist eine geschlossene Phalanx 21 Vgl. Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 461–478, bes. 475; Mergel, Führer, S. 118 f.; Ansprache Franz Crull anlässlich einer Feier zum 80. Geburtstag Hindenburgs vom 4. 10. 1927 ( GStAPK, 5.1.4., Nr. 5093). 22 Helmut Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz. Die Freimaurerei und das Dritte Reich, München 2001, S. 47 f. 23 Vgl. Meyer, Säkularisierung, S. 73–84. 24 Vgl. Roland Kurz, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation, Gütersloh 2007, S. 147 f. 25 Vgl. u. a. Ansprache Maas, Über den Geist des Prometheus vom 14. 4. 1921 ( GStAPK, 5.1.3., Nr. 4692); Protokoll des Stiftungsfestes, Ansprache Carl Neurath vom 20. 11. 1923 ( ebd., Nr. 5092); Protokoll der Loge im 1. Grad, Ansprache Franz Crull vom 27. 1. 1925 ( ebd., Nr. 5092). 26 Protokoll der Aufnahmeloge, Ansprache des Redners vom 19. 2. 1924 ( ebd., Nr. 5092). Vgl. auch Ansprache Br. Feuss, Aufgaben der Zeit und die Mitwirkung der Loge bei ihrer Lösung. Vortrag zum Stiftungsfest vom 30. 11. 1926 ( ebd., 5.2.B 126, Nr. 69).

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zu bilden. [...] Unsere Losung heißt : ,Nationalbewusstsein‘. Das Vaterland über alles !“27 Die Wortwahl deutet darauf hin, dass diese Vorstellungen mit jenen Strömungen innerhalb der völkischen Bewegung korrespondierten, die schon weit vor 1918 eine antiegalitäre, ständisch organisierte und religiös fundierte Gesellschaft mit einem germanenideologischen Wertesystem angestrebt und dabei gleichzeitig liberale und kosmopolitische Werte strikt abgelehnt hatten.28 Diese Strömungen fanden in der sogenannten Ringbewegung ihren freimaurerischen Niederschlag. Der Wetzlarer und der Bielefelder Ring entstanden um 1925 als Arbeitsgemeinschaft vor allem christlich - konservativer Freimaurer, die einen „Durchbruch des deutschen und des christlichen Gedankens“29 in der Freimaurerei anstrebten. Innerhalb dieser Bewegung vollzog sich die Wende zu einer eigenständigen Freimaurerei christlich - arischer Prägung, die „Rassereinheit“ zum freimaurerischen Ideal erhob.30 Das norddeutsche Pendant hieß Friesenring und konstituierte sich 1931. Die erste Sitzung fand im Januar im Haus der Bremer Loge Friedrich Wilhelm zur Eintracht statt.31 Anwesend war unter anderem August Horneffer, der die Idee der „Volksgemeinschaft“ als expliziten Gegenbegriff zur Demokratie von Weimar verstand und Hitler 1932 als Führer eines in Seenot befindlichen Schiffes bezeichnen sollte.32 Horneffer stieß an diesem Abend auf den Bremer Pastor und Freimaurer Julius Bode, Mitglied und Redner bei Friedrich Wilhelm zur Eintracht.33 Bode, der seit 1919 zur Führungsriege der Bremer DNVP gehörte, erschien zu hohen kirchlichen Feiertagen 27 Ansprache Hermann Hälssen, Wie können wir als treudeutsche Männer und Frmr. unserm Vaterlande dienen und nützen ? vom 20. 1. 1928 ( GStAPK, 5.2. B 119, Nr. 43). Vgl. auch Ansprache Karl Bohnemeier, Nationalismus und Internationalismus vom 3. 2. 1928 ( ebd., 5.2.B 119 Nr. 43); Ansprache Karl Neurath, Stiftungsfest 1929 vom 7. 12. 1929 ( ebd., 5.1.4. Nr. 5093). 28 Zur Definition des Begriffes „völkisch“ vgl. Uwe Puschner, Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen‘ Begriff. In : Paul Ciupke / Klaus Heuer / Franz - Josef Jelich / Justus H. Ulbricht (Hg.) : „Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 53–66. 29 Eugen Lennhoff / Oskar Posner / Dieter A. Binder, Internationales Freimaurerlexikon, München 2006, S. 708. 30 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 101–106. Zum Wetzlarer und Bielefelder Ring vgl. Melzer, Konflikt, S. 97–111. 31 Vgl. Martin Niemeyer, Bürgerliche Soziabilität in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus am Beispiel der Großen Loge von Preußen, genannt Royal York zur Freundschaft ( unveröff. Magisterarbeit ), Osnabrück 2005, S. 53. Vermutlich ging der Friesenring aus der schon länger bestehenden Arbeitsgemeinschaft nord - und westdeutscher Logen hervor. Vgl. Bericht über eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft der nord und westdeutschen Logen und der Großen Loge von Preußen in Berlin über das Thema „Freimaurerei und Vaterland“ in Bremen, Protokoll der Diskussion über beide Beiträge vom 31. 1. 1931 ( GStAPK, 5.2. B 123, Nr. 102). 32 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 75 f. 33 Vgl. Bericht über eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft der nord - und westdeutschen Logen und der Großen Loge von Preußen in Berlin über das Thema „Freimaurerei und Vaterland“ in Bremen, Protokoll der Diskussion zum Vortrag von Br. Weidemann „Wie kann die Jugend für frm. Ideale gewonnen werden ?“ vom 31. 1. 1931 ( GStAPK, 5.2. B 123, Nr. 102).

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mit einem Stahlhelm, den er auf seiner Kanzel zu deponieren pflegte,34 und hatte schon während des Krieges durch die Veröffentlichung seiner Predigten überregionale Bekanntheit erlangt. Darin beschwor er die Rückbesinnung auf eine „germanische Religion“ und setzte dem vermeintlichen Materialismus und Egoismus der Weimarer Gesellschaft ein alternativ - und konfliktlos gedachtes Germanenbild entgegen.35 Zusammen mit Arthur Bonus und Max Bewer avancierte er so zu einem der Vordenker des „germanischen Christentums“.36 Das wiederum übertrug er als einer der aktivsten Redner seiner Loge auch auf die Freimaurerei.37 Bode war allerdings nicht der einzige, der Freimaurerei und völkisches Gedankengut vereinte. Für Bremen sind hier noch eine Reihe weiterer Pastoren zu nennen : Julius Burggraf, Mitglied der humanitär - liberalen Bremer Loge Herder, postulierte bereits vor 1914 den Glauben an einen „deutschen Christus“ und stützte sich dabei wesentlich auf die Begriffe „Volk“ und „Rasse“.38 Ewald Uhlig, Mitglied der Loge Zum Ölzweig redete an der Remberti - Kirche einer völkisch - protestantischen Volkskirche das Wort und begeisterte mit völkisch - nationalem Pathos eine breite Anhängerschaft.39 Die völkische Rückbesinnung auf das „Germanentum“ in den bremischen Logen korrespondierte mit dem Kurs der christlich - konservativen Großlogen, die begannen, alttestamentarische Bezüge aus ihren Ritualen zu entfernen und durch germanisch - arisches Brauchtum zu ersetzen.40 Ralf Melzer merkt zu Recht an, dass sich dieser Prozess keinesfalls auf rein religiöse Motive reduzieren lässt. Er ist stattdessen ein Beleg für den vor allem in den christlich - konservativen Logen steigenden Einfluss völkischen und rassistischen Gedankenguts auf das freimaurerische Ideal des „Tempels der Humanität“.41 Vom Gedanken 34 Vgl. Antje Matthies / Eva Determann, Der Volksbund „Rettet die Ehre“, Bremen, 1919– 1936 ( unveröff. Magisterarbeit ), Bremen 1995, S. 98. 35 Siehe hierzu : Julius Bode, Wodan und Jesus. Ein Büchlein von christlichem Deutschtum, Sontra 1920. 36 Vgl. dazu Rainer Lächle, Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi : Arthur Bonus – Max Bewer – Julius Bode. In : Stefanie Schnurbein / Justus H. Ulbricht ( Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne : Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 165–183. 37 Vgl. Bericht über das Stiftungsfest 1919 vom 13. 12. 1919 ( GStAPK, 5.2. B 123, Nr. 20). Bode hielt allein 1919 sieben von 15 dokumentierten Ansprachen, darunter „Die Religiosität der Germanen und die Freimaurerei“ oder „Der Wert des Umsturzes und der Umsturz der Werte“. Seinen Einfluss auf die Loge bestätigt auch Emil Hackländer, Julius Karl Wilhelm Bode. In : Historische Gesellschaft Bremen ( Hg.), Bremische Biographie 1912–1969, Bremen 1969, S. 52 f., hier 52. 38 Vgl. Dietmar von Reeken, Kirchen im Umbruch zur Moderne. Milieubildungsprozesse im nordwestdeutschen Protestantismus 1849–1918, Gütersloh 1999, S. 418. 39 Vgl. Almuth Meyer - Zollitsch, Die Bremische Evangelische Kirche 1918–1953. In : Andreas Röpcke ( Hg.), Bremische Kirchengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Bremen 1994, S. 177–318, hier 190 f. 40 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 64 f. 41 Vgl. ebd., S. 66; Fenner / Schmidt - Sasse, Freimaurerei, S. 225 f. Zum Zusammenhang von Idealismus und Antisemitismus vgl. : Dieter Just, Die Schattenseite des Idealismus : Über die geistige Vorbereitung der Tragödie des deutschen Antisemitismus, Berlin

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an den „Weltbürgersinn“, den Fichte neben der Vaterlandsliebe geforderte hatte, war hier nichts mehr übrig. Die normativen Elemente der freimaurerischen Identität hatten sich nachhaltig verändert. Angesichts dieser Entwicklung erweist sich die These von Helmut Neuberger als unhaltbar, nach der die konservative Freimaurerei die Rassentheorien der völkischen Bewegung abgelehnt und sich ausschließlich auf die Wiederherstellung der Monarchie beschränkt habe.42 Dies zeigt auch der exemplarische Blick auf einige Bremer Freimaurer, die in der Loge eindeutig systemoppositionelle Positionen vertraten und dieses Engagement in der systemdistanzierten DVP oder der eindeutig systemoppositionellen DNVP fortsetzten.43 Besonders zwischen dem völkischen Flügel der Bremer DNVP und den Logen bestanden bedeutende personelle Übereinstimmungen : Der erwähnte Pastor Julius Bode gehörte ebenso zur Führungsriege wie die völkischen Freimaurer Hermann Maas, Carl Grunert oder der ehemalige Senator Rudolf Feuss.44 Freimaurer wie Carl Grunert standen darüber hinaus für personelle Überschneidungen zwischen den bremischen Logen und dem nationalistischen Vereinswesen. Grunert war Mitglied des Alldeutschen Verbandes45 und wurde von den „Bremer Volkszeitung“ als Spezialist für „Augenkrankheiten und Antisemitismus“ verspottet.46 Die Nachrichtenstelle der Bremer Polizei hatte ihn in dringendem Verdacht, über die Aktivitäten der Putschisten des 9. November 1923 in München informiert gewesen zu sein und zusammen mit Richard Rüthnick, einem der führenden Antisemiten Bremens und mutmaßlichem Mitglied der Organisation Consul, auch in Bremen einen Putsch geplant zu haben.47 Der Vorstand des DNVP - nahen Volksbundes Rettet die Ehre, dem Grunert ebenfalls angehörte, rekrutierte sich bis auf zwei Personen ausschließlich aus Freimaurern.48 Kopf des Vereins war Dompastor Otto Hartwich, Mit-

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2004; Michael Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß : Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2002. Vgl. Neuberger, Winkelmaß, S. 73. Zum politischen Koordiantensystem in Bremen vgl. Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansesstadt Bremen, Band 3 : Bremen 1995, zur DVP S. 205, 428, 587, zur DNVP S. 61 f., 208 f., 430; Inge Marßolek / René Ott, Bremen im 3. Reich. Anpassung, Widerstand, Verfolgung, Bremen 1986, S. 46–48. Die Haltung der DVP gegenüber der Weimarer Republik blieb, ähnlich wie auf Reichsebene, zwar immer etwas diffus, mehrheitlich aber ablehnend, die DNVP war klar antirepublikanisch, teilte sich dabei allerdings in ein deutschnationales und ein völkisches Lager. Vgl. Deutschvölkische und Bürgerschaftswahlen vom 23. 8. 1923 ( StA Bremen, 4, 65 Nr. 194); Versammlung der deutsch - völkischen Freiheitspartei, ( Großdeutsche Arbeiterbewegung Bremen ) bei Harms an der Tiefer vom 24. 8. 1923 ( StA Bremen, 4, 65 Nr. 194). Vgl. auch Schwarzwälder, Geschichte, Band 3, S. 206 f. Vgl. Matthies / Determann, Volksbund, S. 97. Bremer Volkszeitung vom 8. 10. 1923 ( StA Bremen, 4, 65 Nr. 130). Vgl. N - Stelle, Eingegangene Berichte vom 13. 11. 1923 ( StA Bremen, 4, 65 Nr. 195). Vgl. Gerhard Kück, Entwurf einer Geschichte des hocherleuchteten und vollkommenen Provinzialordenskapitels „Lux Aeterna“ zu Bremen ( unveröff. Manuskript ), Bremen 1953, S. 33–35; zum Volksbund vgl. Matthies / Determann, Volksbund.

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glied der Loge Zum Ölzweig. Die von ihm verfasste Broschüre „Die große Lüge“, mit der er die im Versailler Vertrag festgeschriebene deutsche Kriegsschuld bekämpfte und stattdessen England zuschob, wurde in mindestens neun Sprachen übersetzt.49 Außerdem war er ein gefragter Redner und unternahm zahlreiche Vortragsreisen, auf denen er zum Programm des Volksbundes referierte, unter anderem auf Einladung des Hochschulrings deutscher Art in Tübingen50 oder der bremischen Sektion des DNVP - nahen Bundes Königin Louise.51 Der völkische Pastor Ewald Uhlig gehörte zu den führenden Mitgliedern des Nationalverbandes Deutscher Soldaten ( NVDS ) in Bremen, der in enger Tuchfühlung mit der rechtsradikalen Ehrhardt - Bewegung und der NSDAP stand.52 Der NVDS ging 1926 im Bremer Stahlhelm auf,53 dem wiederum eine stattliche Reihe Bremer Freimaurer angehörte, häufig auch in leitender Funktion.54 Diese Beispiele zeigen, dass viele Freimaurerlogen im Zusammenhang mit der „zunehmenden Vernetzung im Zeichen einer militanten Geselligkeit“55 betrachtet werden müssen. Die Mehrheit auch der bremischen Freimaurer war weder „zu schwach“ noch „zu wohl erzogen, um radikal zu sein.“56 Neuberger hat zwar recht, wenn er feststellt, vielen habe die Voraussetzung zum „pöbelhaften Kämpfertum der Straße“ gefehlt.57 Er erliegt allerdings einer zum Beispiel auch von Hans Mommsen formulierten Annahme, dass zwischen bürgerlichem Denken und politischer Radikalisierung ein unüberwindbarer Gegensatz bestanden habe.58 Diesen Gegensatz gab es auch in den Logen nicht. Vielmehr 49 Vgl. Otto Hartwich, Aus der Schmiede des Glücks : Zeitbild in Form einer Selbstbiographie, Bremen 1924, S. 297. Tatsächlich lassen sich eine Reihe von Übersetzungen nachweisen, die alle 1921 beim Bremer Verlag Hauschild erschienen sind, darunter spanische, portugiesische, italienische, englische, norwegische, schwedische und niederländische Ausgaben. 50 Vgl. Hartwich, Schmiede, S. 297. Der Hochschulring deutscher Art, gegründet im Juli 1920 in Göttingen, war eine Sammlungsbewegung nationaler und völkischer Studenten und gilt als Wegbereiter des Nationalsozialismus innerhalb der Studentenschaft. Vgl. dazu Jürgen Schwarz, Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik, Berlin 1971. 51 Vgl. Eva Schöck - Quinteros. Der Bund Königin Luise. „Unser Kampfplatz ist die Familie ...“. In : dies./ Christiane Streubel ( Hg.), „Ihrem Volk verantwortlich“. Frauen der politischen Rechten (1890–1933). Organisationen – Agitationen – Ideologien, Berlin 2007, S. 231–270. 52 Vgl. Schwarzwälder, Geschichte, Band 3, S. 212. 53 Vgl. ebd., S. 212. 54 Vgl. ebd., S. 591. 55 Vgl. Frank Bösch, Militante Geselligkeit. Formierungsformen der bürgerlichen Vereinswelt zwischen Revolution und Nationalsozialismus. In : Hardtwig ( Hg.), Kulturgeschichte, S. 151–182, hier 155. Vgl. allg. ders., Das konservative Milieu : Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost - und westdeutschen Regionen 1900 bis 1960, Göttingen 2002, S. 159. 56 Neuberger, Winkelmaß, S. 49. 57 Ebd., S. 50, vgl. auch S. 83–85. 58 Vgl. Hans Mommsen, Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2004, S. 20. Mommsen geht davon aus, dass die Intellektuellen sich zwar radikalisierten, dem sei allerdings zunächst eine Verflachung der europäischen Kultur vorausgegangen.

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besaßen sie eine nicht zu unterschätzende Funktion für die Stabilisierung des deutschnationalen Milieus. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass auch durchaus einflussreiche demokratische Politiker Logenmitglieder waren, darunter der Präsident der Bremischen Bürgerschaft, der Präsident des Landgerichts, zwei Senatoren und einige Bürgerschafts - und Reichstagsabgeordnete, die alle der in Bremen eindeutig systemstützenden DDP angehörten.59 Allerdings war dieser personell durchaus starke demokratische Block gleichzeitig ein schweigender Block. Keines der in der DDP aktiven Logenmitglieder, nicht einmal Landgerichtspräsident Gustav Hobelmann als Stuhlmeister der Loge Zur Hansa, zählte zu den tonangebenden Persönlichkeiten der bremischen Freimaurerei. Es dominierten vielmehr jene Redner die inhaltliche Ausrichtung der Logen, die Mitglieder der systemdistanzierten DVP oder der offen systemoppositionellen DNVP waren. Der offenkundig geringe Einfluss der demokratischen Politiker bei der inhaltlichen Ausrichtung der Loge lässt sich dabei nur unbefriedigend mit der zeitlichen Belastung durch das öffentliche Amt erklären. Schließlich waren auch die antidemokratischen Kräfte in der Lage, aktive politische und aktive freimaurerische Betätigung miteinander zu vereinen. Es ist wahrscheinlicher, dass die Mehrheit der bremischen Freimaurer der politischen Ordnung entweder distanziert oder ablehnend gegenüberstand, was eine aktive Teilnahme der demokratischen Kräfte am Logenleben sinnlos erscheinen ließ. Die Anpassung der Mehrheit der deutschen Freimaurer insgesamt an radikale Positionen der bürgerlichen und der völkischen Rechten war dabei keine Reaktion auf die zunehmenden Angriffe aus dem deutschnationalen und deutschvölkischen Lager auf die Logen, „sondern bewusste politische Vorortung.“60 Das aber wurde von eben diesem Milieu nicht zur Kenntnis genommen. Dafür begann 1927 mit Erich Ludendorffs Broschüre „Die Vernichtung der Freimaurerei durch die Enthüllung ihrer Geheimnisse“ eine zweite Welle massiver antifreimaurerischer Propaganda, die die grundsätzliche Übereinstimmung der meisten Freimaurer mit deutschnationalen und deutschvölkischen Positionen ignorierte. Vor allem begann nun auch in der NSDAP eine intensive und eigenständige Auseinandersetzung mit der Freimaurerei. Ihre Haltung hatte sich bis Ende der 1920er Jahre kaum von den gängigen antifreimaurerischen Positionen unterschieden. Für Adolf Hitler selbst spielte der Verschwörungsmythos eine nur untergeordnete Rolle. Zwar griff auch er die „Protokolle der Weisen von Zion“ in seinen Reden auf, zeigte sich in seiner Agitation aber eher unsystematisch.61 59 Vgl. Marßolek / Ott, Bremen, S. 50. Vgl. allg. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 1 : Deutsche Geschichte vom Ende des alten Reichs bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 391; zur Relativierung von Winklers Einschätzung auf Reichsebene vgl. Christian Jansen, Antiliberalismus und Antiparlamentarismus in der bürgerlich - demokratischen Elite der Weimarer Republik : Willy Hellpachs Publizistik der Jahre 1925–1933. In : ZfG, 49 (2001), S. 773–795. 60 Melzer, Konflikt, S. 98; Vgl. hierzu : Fenner / Schmidt - Sasse, Freimaurerei, S. 227–229. 61 Vgl. Armin Pfahl - Traughber, Der antisemitisch - antifreimaurerische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS - Staat, Wien 1993, S. 56.

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Anmerkungen zum Spannungsverhältnis von Freimaurerei

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Anders verhielt es sich bei Alfred Rosenberg. Der „jüdisch - freimaurerische“ Verschwörungsmythos gehörte zu den zentralen Bestandteilen seines politischen Denkens. Schon 1920 veröffentlichte er „Das Verbrechen der Freimaurerei. Judentum, Jesuitismus, Deutsches Christentum“, im Jahr 1923 folgte „Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik“. Freimaurer, Juden und Sozialdemokraten verschmolzen in Rosenbergs Schriften zu einer Weltverschwörung gegen alles Nationale, wobei er die wenigsten Gedanken selbst entwickelte, sondern aus den Publikationen der klassischen Verschwörungstheoretiker ableitete. Nach dem gescheiterten Putsch von 1923 rief Rosenberg die Zeitschrift „Der Weltkampf. Monatsschrift für die Judenfrage aller Länder“ ins Leben, die nicht nur ihm als Forum seiner antisemitischen und antifreimaurerischen Agitation diente, sondern auch Artikel von Ludendorff und seiner späteren Frau Mathilde veröffentlichte. Unter der Rubrik „Jüdisches und Judengegnerisches aus allen Ländern“ wurde regelmäßig über das angeblich weltverschwörerische Wirken der Freimaurerei berichtet.62 Rosenberg gehörte 1927 zunächst zu den Parteigängern der Ludendorffs. In dem Maße, in dem die antifreimaurerische Propaganda des Tannenberg - Bundes allerdings in der Öffentlichkeit als immer abwegiger wahrgenommen wurde, ging auch Rosenberg auf Distanz. Ludendorffs Argumente schienen den Verschwörungsmythos als Kampf - und Propagandamittel durch ihre leicht feststellbare Absurdität immer mehr zu beschädigen. Darüber hinaus belastete die antifreimaurerische Agitation das Verhältnis zum wohlhabenden Bürgertum und störte damit den Weg der NSDAP von einer sektiererischen Splitterpartei zu einer politischen Massenorganisation. Der Verschwörungsmythos verlor zwar innerhalb der Partei keineswegs an Bedeutung, schließlich vermochte er auch weiterhin eine gewisse Klientel zu binden. Dennoch verzichtete man zunehmend auf die öffentliche propagandistische Ausschlachtung und bemühte sich, den Eindruck eines seriösen Umgangs mit der Freimaurerfrage zu erwecken. So warnte Rosenberg 1929 in seiner programmatischen Schrift „Freimaurerische Weltpolitik im Lichte der kritischen Forschung“ vor übertriebener Hysterie und mahnte zu besonnener und kritischer wissenschaftlicher Auseinandersetzung.63 Das wiederum wog die Freimaurer in trügerischer Sicherheit. Der völkische Block begrüßte den Bedeutungsgewinn der Partei nahezu ohne Vorbehalte und sah in Adolf Hitler die sehnsüchtig erwartete Führerfigur, der man sich bedingungslos unterordnen wollte. Zu den führenden Köpfen dieser Richtung gehörten unter anderen der schon erwähnte Publizist und Kulturphilosoph August Horneffer oder Diedrich Bischoff, Vorsitzender des Vereins deutscher Freimaurer, der die Freimaurerei 1931 als „voll ergiebige Ergänzung“ des Nationalsozialismus verstanden wissen wollte.64 Allerdings war damit keine Unterordnung verbunden, sondern die selbstbewusst formulierte Vorstellung, 62 Vgl. Pfahl - Traughber, Verschwörungsmythos, S. 54–56. 63 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 51 f.; Pfahl - Traughber, Verschwörungsmythos, S. 73 f. 64 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 83.

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mindestens auf Augenhöhe mit den Nationalsozialisten am „Wiederaufbau“ der Nation arbeiten zu wollen. Keineswegs dürfe man bei Hitler um gut Wetter bitten, „das wäre eine Erniedrigung, der wir uns niemals aussetzen dürfen“.65 Stattdessen müsse man klarstellen, dass der Nationalsozialismus allein die Verantwortung für die Rückkehr Deutschlands zu alter Stärke keinesfalls tragen könne.66 Die hier zum Vorschein kommende und für das deutschnationale Bürgertum typische Vorstellung, in der NSDAP eine Art Juniorpartner zur Überwindung der Republik gefunden zu haben, der zwar eine gewisse Mobilisierungskraft besaß, aber letztlich kontrollierbar erschien, wurde nicht zuletzt durch die Bildung der Harzburger Front im Oktober 1931 genährt. Diese Koalition aus NSDAP, Stahlhelm, DNVP und dem Alldeutschen Verband stand für die Möglichkeit einer Verständigung zwischen dem rechtsbürgerlichen und dem nationalsozialistischen Lager, an der mit Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht ein prominentes Logenmitglied beteiligt war.67 Dass die Harzburger Front im Vorfeld der Reichspräsidentenwahlen 1932 zusammenbrechen würde, war zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen. Aber selbst ihr Scheitern konnte wenigstens nach außen als Ausdruck der Stärke des bürgerlichen Lagers gedeutet werden, schließlich war es gelungen, Hitler als Reichspräsidenten zu verhindern und stattdessen Hindenburg zur Wiederwahl zu verhelfen. Die Vormacht des bürgerlichen Lagers schien auch die Reichstagswahl 1932 zunächst zu bestätigen : die NSDAP verlor, während die DNVP zulegen konnte.68 Zu den wenigen, die nach ersten Erfahrungen mit Vertretern der NSDAP an einer Verständigung zwischen ihr und der deutschen Freimaurerei zweifelten, gehörte der Hamburger Großmeister Richard Bröse.69 Er hatte Hitler in einem persönlichen Schreiben angeboten, einem Vertrauensmann der NSDAP den Zugang zum Archiv der Großen Loge von Hamburg zu ermöglichen, ohne darauf allerdings eine Reaktion zu erhalten.70 Der Leitung der inzwischen stark nationalistischen Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland gelang es dagegen, im November 1931 ein Treffen mit Hermann Göring zu arrangieren. Der Vermittler des Gesprächs war Friedrich Wilhelm Göring, Sekretär der Wiesbadener Loge Nassau - Oranien zu den beständigen Quellen und Halbbruder des preußischen Ministerpräsidenten. Das Treffen wurde von Landesgroßmeister Kurt von Heeringen und dessen Stellvertreter Felix Witt - Hoe als durchaus ermutigend empfunden.71 Tatsächlich aber sah sich die NSDAP in keiner Weise 65 Protokoll des Stiftungsfestes, Ansprache Franz Crull vom 20. 1. 1931 ( GStAPK, 5.1.4. Nr. 5093). 66 Vgl. u. a. Protokoll des Stiftungsfestes, Ansprache Franz Crull vom 20. 1. 1931 ( ebd.). 67 Vgl. Richard Evans, Das dritte Reich, Band 1 : Aufstieg, München, 2005, S. 341 f.; Winkler, Weg, S. 500–502. 68 Vgl. Marßolek / Ott, Bremen, S. 76–78. Zu den Wahlergebnissen im Reich vgl. Winkler, Weg, S. 526. 69 Vgl. Protokoll des 54. Deutschen Großlogen - Tages in Kassel, 21. und 22. 5. 1932 von Mai 1932 ( GStAPK, 5.2. B 121, Nr. 1). 70 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 76. 71 Vgl. ebd., S. 76.

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Anmerkungen zum Spannungsverhältnis von Freimaurerei

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zu einer Revision ihrer negativen Einschätzung veranlasst.72 Die Parteileitung bestritt dabei nicht einmal, dass in den Reihen der Logen „viele Tausende unbedingt national gesinnter deutscher Männer“ stünden. Es sei jedoch auch nicht zu leugnen, „dass die großen Zersetzungserscheinungen des deutschen Volkstums, die Weltherrschaft des Judentums und die Pest des Marxismus durch die Weltfreimaurerei ins Leben gerufen, gefördert und genährt worden sind“.73

2.

1933–1945 : Anpassung und Ausgrenzung

Die eindeutig antifreimaurerische Haltung der NSDAP minderte die freimaurerische Zustimmung zur nationalsozialistischen Regierung anfangs kaum. Viele Freimaurer setzten darauf, dass die ihnen nahestehenden bürgerlichen Kräfte in der Regierung konkrete Maßnahmen gegen die Logen verhindern würden.74 Vor allem waren sie in fataler Fehleinschätzung der Lage der Ansicht, die antifreimaurerische Agitation sei lediglich ein propagandistisches Mittel zur Befriedigung der fanatisierten Parteibasis. In einer vor allem für die Zeit nach 1933 typischen Weise unterschieden viele Freimaurer zwischen ihr und der Parteiführung, die der Aufklärung über die wahren Inhalte der Freimaurerei vermeintlich offener gegenüber stünde als der Mob.75 Nach der Beruhigung der politischen Lage, so die Hoffnung, würde die nationalsozialistische Regierung den Anspruch der Logen anerkennen, am Aufbau des neuen Deutschen Reiches mitarbeiten zu wollen. Die Monate der Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen Januar 1933 und Mitte 1934 ließen eine solche Entwicklung vorübergehend als möglich erscheinen : SA und SS konzentrierten sich zunächst auf die Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten, was in weiten Teilen des Bürgertums auf Zustimmung stieß.76 Außerdem blieb es, abgesehen von vereinzelten Übergriffen in Berlin und Düsseldorf kurz nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933, in den Logen zunächst ruhig.77 Erst im Sommer 1933 kam es zu einer ersten Welle antifreimaurerischer Maßnahmen in Preußen. In der Regel waren es SA - Mannschaften, die willkürlich und unter Umgehung sämtlicher staatlicher Institutionen Logenhäuser stürmten, verwüsteten, Einrichtungsgegenstände und Karteien beschlagnahmten.78 Ab Juni allerdings häuften sich die Übergriffe. Gestapo und SA waren hier zunächst federführend, ohne dass dahinter ein politisches oder auch nur polizeilich schlüssiges

72 Vgl. ebd., S. 76. 73 Walter Buch, Reichsleitung der NSDAP, an Arthur Kuhlmann vom 13. 6. 1932 (GStAPK, 5.2. B 125, Nr. 31). 74 Vgl. Melzer, Konflikt, S. 142. 75 Vgl. ebd., S. 76. 76 Vgl. Peter Longerich, Geschichte der SA, München 2003, S. 165. Zu Bremen vgl. Marßolek / Ott, Bremen, S. 140. 77 Vgl. Neuberger, Winkelmaß, S. 158. 78 Vgl. ebd., S. 159–161.

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Konzept gesteckt hätte.79 Immer noch herrschte ein hohes Maß an Willkür vor, ohne dass die oft brutalen Übergriffe lediglich als „Akte groben Unfugs“80 bezeichnet werden können. Stattdessen waren sie Teil der immer radikaleren Bereitschaft der SA - Führung, die aus ihrer Sicht noch nicht vollendete „nationale Revolution“ fortzusetzen.81 Die Verfolgungskompetenz in Sachen Freimaurer hatte allerdings längst der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS ( SD ) inne. Dessen Maßnahmen gegen die Logen besaßen von Anfang eine andere Qualität als die ungesteuerten und wahllosen Übergriffe der SA. Zunächst enthielten sie mit dem Kampf gegen die „Weltfreimaurerei“ eine ideologische Komponente. Vor allem aber waren sie taktischer Natur und dienten so der Profilierung des Dienstes, der im Frühjahr 1934 lediglich eine von vielen Institutionen war, die um die Vorherrschaft unter den nationalsozialistischen Nachrichtendiensten kämpften.82 SD - Chef Reinhard Heydrich hatte bereits lange vor der Machtübernahme mit dem Ausbau seiner Abteilung zu einem funktionsfähigen Nachrichtendienst begonnen, der sich auf feste, ausschließlich seiner Leitung unterstehende Mitarbeiter stützte. Allerdings verfügte Heydrich 1932 über maximal 33 Kräfte, von denen die wenigsten bezahlt wurden.83 Angesichts dieser schwachen Ausgangslage, der Konkurrenz zu anderen Nachrichtendiensten und der Skepsis regionaler Parteiführer, die nach der Machtübernahme durchaus zu Recht eine Einschränkung ihres Einflusses fürchteten, seit Himmler versuchte die Kontrolle der „Politischen Polizeien“ der Länder zu übernehmen,84 bedurfte es eines Nachweises, effektiv und unverzichtbar zu sein. Die Freimaurerei war hierfür geradezu prädestiniert. Heydrich hatte nicht zuletzt deshalb früher als alle anderen Parteiorganisationen mit der systematischen Erfassung der Freimaurerlogen begonnen und bereits in der Gründungsphase des SD ein eigenes Freimaurerreferat eingerichtet.85 Dessen Mitarbeiter konnten auf Erkenntnisse zurückgreifen, die bereits seit 1927, also fünf Jahre vor der offiziellen Gründung des SD, auf Befehl des Chefs der SS - Oberleitung, Erhard Heiden, über die Logen gesammelt wurden.86 79 80 81 82

83 84 85 86

Vgl. Melzer, Konflikt, S. 132. Neuberger, Winkelmaß, S. 161. Vgl. Longerich, Geschichte, S. 176 f., 179–188. Vgl. Karl - Heinz Roth, Facetten des Terrors. Der Geheimdienst der „Deutschen Arbeitsfront“ und die Zerstörung der Arbeiterbewegung 1933 bis 1938, Bremen 2000, S. 241; Shlomo Aronson, Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SS, Stuttgart 1971, S. 140; Michael Wildt, Generation der Unbedingten – Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 244–246. Vgl. Michael Wildt ( Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2001, S. 10 f. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. Bericht über die bisherige Arbeit auf dem Sachgebiet II /111 ( Inland ), o. D. ( nach 1937) ( BArch, R 58/6113, Bl. 311–315). Vgl. Neuberger, Winkelmaß, S. 156. Die zu dieser Zeit begonnene Überwachung der Logen war vermutlich Teil eines geheimen Meldesystems der SS, das sich damals im Aufbau befand. Vgl. Jörg Rudolph, „Sämtliche Sendungen sind zu richten an : ...“. Das RSHA - Amt VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ als Sammelstelle erbeuteter Archive. In : Wildt ( Hg.), Nachrichtendienst, S. 204–240, hier 206 f.

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Es ist zu vermuten, dass das von der SS und dem späteren SD seit dieser Zeit gesammelte Material zum Grundstock der „Gegnerkartei“ gehörte, die Heydrich seit 1931 aufbaute.87 Auch nach der Machtübernahme widmete er den Logen trotz knapper Personal - und Sachmittel weiterhin seine erhöhte Aufmerksamkeit. Ihre Überwachung und Verfolgung wurde für die Arbeit des SD prägend.88 Dabei griff der SD angesichts der eigenen und immer noch bescheidenen Mitteln auf die Dienste anderer Organisationen zurück, vor allem auf den bisher nur wenig bekannten Nachrichtendienst der Deutschen Arbeitsfront (DAF ), das Amt Information, auf das erstmals Helmut Neuberger und in jüngster Zeit Karl - Heinz Roth hingewiesen haben.89 Das Amt deckte vor allem den Bereich der Seeschifffahrt ab,90 wurde aber auch jenseits der betrieblichen Ebene aktiv, indem es Logenhäuser und Einzelpersonen observierte und die entsprechenden Erkenntnisse dann an die Gestapo oder den SD weiterleitete.91 Der SD begrüßte die Zusammenarbeit und revanchierte sich, indem er Anfragen des Amts Information über die tatsächliche oder vermeintliche Logenmitgliedschaft einzelner Personen mit seiner Gegnerkartei abglich und umgehend beantwortete.92 Die nachrichtendienstlichen Aktivitäten des SD ermöglichten nicht nur die restlose Erfassung ehemaliger Freimaurer und ihren Ausschluss aus allen gleichgeschalteten Institutionen des öffentlichen Lebens, sondern trugen auch ihren Teil zur Etablierung der „weltanschaulichen Gegnerforschung“ bei.93 Dies entsprach der Politik Heinrich Himmlers, der sich schon seit 1927 bemühte, den Wertekanon des Nationalsozialismus nicht nur aus sich selbst, sondern auch durch die Abgrenzung von alternativen Wertvorstellungen zu definieren. Die „weltanschauliche Gegnerforschung“ stand im Zentrum dieser Planungen und schuf ein über die Jahre konstantes Gegnerbild, das von Anfang an auf „die 87 Vgl. zur Gegnerkartei Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher : Die Karriere des SS - Führers Franz Alfred Six, München 1998, S. 147. 88 Vgl. Aronson, Heydrich, S. 152. Neben den Freimaurern konzentrierte sich der SD vor allem auf Juden und den politischen Katholizismus. 89 Vgl. Neuberger, Winkelmaß, S. 211–213. Karl Heinz Roth bemerkt, das Amt Information sei von der Wissenschaft weitgehend vernachlässigt worden, erst seit 1993/1994 würde der Dienst ansatzweise gewürdigt. Insofern leistete Neuberger in der 1986 erschienenen Erstauflage seiner Studie über die Freimaurer im Dritten Reich Pionierarbeit, die allerdings kaum rezipiert wurde. Vgl. zur bisherigen Forschung über das Amt Information Roth, Facetten, S. 10. 90 Vgl. u. a. Akten des Amts Information der DAF, ( BArch, R 58/1067, Bl. 1–8, 22 f., 144 f., 259). 91 Vgl. Amt Information der DAF an SD - Hauptamt RFSS betr. Übersendung von Meldungen des Oldenburger Referenten vom 13. 5. 1935 ( BArch, R 58/6140c, Bl. 13). 92 Vgl. Chef der Zentralabteilung im RSHA an das Amt Information betr. Freimaurer in Bremen vom 11. 4. 1935 ( BArch, R 58/1066, Bl. 84). Vgl. auch Amt Information an SDHauptamt, RFSS, Sturmbannführer Brandt, betr. Freimaurer in Bremen vom 13. 5. 1935 ( ebd., Bl. 79 f.); Chef des Reichssicherheitshauptamtes i.V. an DAF, Zentralbüro, Amt Information, SS - Sturmbannführer Schmidt, betr. Allgemeine Lage der Seeschiffahrt in Hamburg vom 8. 7. 1935 ( BArch, R 58/1067, Nr. 3–10). 93 Vgl. Hachmeister, Gegnerforscher, S. 144 f.

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Dimensionen internationaler Verschwörungen ausgerichtet“ war94 und zu dem auch die Freimaurer gehörten. Darüber hinaus bemühte sich vor allem Reinhard Heydrich darum, dem nationalsozialistischen Establishment die eigenständige Funktion des SD jenseits nachrichtendienstlicher Aufgaben deutlich zu machen : Die saturierten „alten Kämpfer“, so Heydrich, könnten die Tiefenstrukturen der Gegner aus Faulheit oder intellektuellem Unvermögen nicht erkennen. Deshalb benötige der NS - Staat eine Institution, die die Gegner und ihre offensichtlichen oder verborgenen Strukturen im „gesamten Volksleben“ und im Staatsgefüge aufspüren könne.95 Mehr Gegnergruppen bedeuteten hier schlicht mehr Macht.96 Dass Heydrich die Logen darin nur als Zweckorganisation des Judentums betrachtete, sollte über die Bedeutung der frühen Freimaurerforschung des SD nicht hinwegtäuschen. Die Logen boten ein erstes Beispiel, anhand dessen sich der Nutzen der soziologisch und historisch pseudowissenschaftlich untermauerten Gegnerforschung verdeutlichen ließ, die für die Arbeit des SD charakteristischen wurde. Schon früh wurden deshalb beide Elemente berücksichtigt : die nachrichtendienstliche Über wachung der Freimaurer und eine „weltanschauliche“ Einschätzung der Logen auf Basis der pseudowissenschaftlichen Auswertung der zu diesem Zeitpunkt bereits beschlagnahmten Logenbestände.97 Die Freimaurerkartei und das in der Berliner SD - Zentrale eingerichtete Freimaurermuseum waren ein erster sichtbarer Ausdruck der neuen Form der SD - Gegnerforschung, die ab 1935 mit dem Eintritt der zweiten und dritten, akademisch geschulten SD - Generation weiter professionalisiert und verfeinert wurde. Zu ihren Protagonisten gehörten neben Werner Best auch Franz Alfred Six und Adolf Eichmann.98 Für sie war die Freimaurerei Teil des Individualismus und Supranationalismus, die den Gegenpol des völkischen Denkens bildete.99 Den völkischen Thesen hatte es zuvor allerdings an jenen glaubhaften Nachweisen gefehlt, um die sich nun die Mitarbeiter des Freimaurerreferates bemühten. Inhaltlich änderte sich bis 1941 nur wenig an der Einschätzung der 94 95 96 97

Ebd., S. 151. Vgl. Hachmeister, Gegnerforscher, S. 154. Vgl. Melzer, Konflikt, S. 195. Vgl. im Folgenden : Berichtsentwurf der Abteilung V : Organisation und Arbeit der Freimaurerei vom 17. 4. 1934 ( BArch, R 58/6120, Bl. 278–287). 98 Vgl. Hachmeister, Gegnerforscher, S. 144 f., 149–152. Die erste Kohorte, zu der Freimaurerreferent Max Brand gehörte, bestand vorwiegend aus frühen Mitarbeitern aus Heydrichs persönlichem Umfeld, die kurz nach der Übersiedlung des SD nach Berlin nicht mehr gebraucht wurden. Die zweite Kohorte stammte zwar ebenfalls noch aus der Münchner Zeit, wurde aber erst in der Phase der Professionalisierung des SD rekrutiert. Die dritte Kohorte stieß nach der Ermordung Ernst Röhms dazu und bestand vorwiegend aus jungen und ehrgeizigen Akademikern, die in der Erforschung der weltanschaulichen „Lebensgebiete“ eingesetzt werden sollten und von Werner Best rekrutiert worden waren, darunter Franz Alfred Six und Adolf Eichmann. Vgl. zu den organisatorischen Veränderungen im SD - Freimaurerreferat : Melzer, Konflikt, S. 181; allg. Wildt, Nachrichtendienst, S. 13–15. 99 Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 523.

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Freimaurerei, lediglich die Methoden waren inzwischen „verwissenschaftlicht“ worden. Allerdings standen sie immer unter dem Vorbehalt eines weltanschaulich fundierten Radikalismus.100 Die Freimaurer selbst wurden dieser Strategie erst gewahr, als es bereits zu spät war. Viele von ihnen hatten sich um die Aufnahme in die NSDAP beworben; einigen wie Hjalmar Schacht oder Otto Bernhard, bis 1945 Wirtschaftssenator in Bremen, gelangen bemerkenswerte Karrieren. Grundsätzlich aber war die Freimaurerei am Ende. Einige Großlogen lösten sich kurz nach der Machtübernahme auf; andere gaben ihre freimaurerischen Traditionen auf, nannten sich fortan Deutsch - Christlicher Orden und vollzogen teilweise noch vor dem Erlass des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ eine Selbstgleichschaltung, einschließlich der Einführung des Arierparagraphen.101 Im Nachhinein wurde dieser Prozess als Tarnung beschrieben, um die Logen vor der völligen Zerschlagung retten zu können.102 Für einen Teil der Freimaurer mögen solche Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Vielen von ihnen ging es aber vor allem darum, die Gemeinschaft auch weiterhin zu erhalten, schließlich waren sie sich keiner Schuld bewusst und betrachteten sich als Teil der nationalen Opposition gegen die Weimarer Republik. Ein Großteil der Freimaurer setzte auf volle Teilhabe an der propagierten „Volksgemeinschaft“, was angesichts der Affinität führender Logenmitglieder zur völkischen Bewegung und der frühzeitigen Distanzierung von den ursprünglichen Grundsätzen der Freimaurerei kaum verwundert. Dies nützte allerdings nichts. Obwohl sich die Liquidationsverfahren teilweise noch bis Mitte 1937 hinzogen, war freimaurerische Arbeit in den deutschen Logen im Herbst 1935 unmöglich geworden.103 Die Logen waren eine bürgerliche Vereinigung und standen als solche per se dem totalitären Anspruch des Regimes entgegen, „da die Erfahrung bestätigt, dass diese Menschen aufgrund ihrer logenmäßigen Erziehung immer mehr Geistesverwandte in die Partei nach sich ziehen und so die Gefahr besteht, dass beim möglichen Aufrücken in höhere Parteiämter das Ideengut des Nationalsozialismus nicht in einer Weise gewahrt wird, wie es zu seiner Erhaltung nötig ist“.104 Sie teilten damit das Schicksal anderer bürgerlicher Verbände und Parteien, nicht nur des demokratischen, sondern auch des nationalistischen und des völkischen Lagers. 100 Vgl. ebd., S. 187. 101 Loge Friedrich Wilhelm zur Eintracht, Schreiben des Deutsch - Christlichen Ordens betr. Mitglieder nichtarischer Abstammung vom 28. 9. 1933 ( Sammlung Wolter, Delmenhorst). 102 Vgl. Peter - Friedrich Nolte, Friedrich Wilhelm zur Eintracht 1924–1945, Bremen 1954, S. 12; Höhmann, Friede, S. 18–22. 103 Vgl. Abschrift der Liquidationsurkunde vom 20. 4. 1937 ( GStAPK, 5.2. B 126, Nr. 2). Als letzte Loge löste sich nach Angaben des SD Eugenia zum gekrönten Löwen in Danzig im Juli 1937 selbst auf. Vgl. auch : Jahresbericht für das Jahr 1937 des RSHA Freimaurerei von 1938 ( BArch, R 58/6113 Bl. 1–24). 104 Umsetzung der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 13. 2. 1934 ( StA Bremen, 3 – S.1.a., Nr. 277 [37]).

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Im Zeichen der Hagal - Rune. „Arteigene“ Religion und nationalsozialistischer Aktivismus in Nor wegen* Terje Emberland

In Norwegen floss die Romantisierung der altnordischen Vorzeit als eine wichtige Komponente in die nationale Identitätsbildung ein, sowohl vor als auch noch nach der Unionsauf lösung 1905. Hier wurde besonders der norwegische Erbbauer als Bindeglied zum goldenen Zeitalter der Sagazeit idealisiert. Eine Forderung, das Christentum durch eine Religion zu ersetzen, die auf diesem altnordischen Erbe basiert, war dennoch keine natürliche Konsequenz. Dazu war die nationale Identität zu stark mit der Christianisierung des Landes und dem Mythos um den Heiligen Olav verknüpft. Die Forderung nach einer „arteigenen“ Religion kam daher fast ausschließlich aus einer radikalen nationalsozialistischen Subkultur, welche sich in den 1930er Jahren im Umfeld der Partei Nasjonal Samling ( NS ) bewegte.1 In diesem Milieu kämpfte man für eine „volkssozialistische“, auf rassischer Grundlage stehende Neuordnung der norwegischen Gesellschaft. Für die Durchsetzung dieses Ziels schien der Führer der NS, Vidkun Quisling, jedoch ungeeignet zu sein, da er oft zu wankelmütig war und zu halbherzig agierte. Er sei fest im Christentum und in den traditionellen bürgerlichen Auffassungen ver wurzelt und erkenne nicht die allumfassende Bedeutung der Rassenfrage. Die NS galt somit unter der Führung Quislings lediglich als eine rechtsautoritäre Partei, der eine ganzheitliche Weltanschauung und die nötige revolutionäre Glut fehlte. Dominierende Kreise in der Partei seien, so hieß es, dem Rassegedanken gegenüber direkt feindlich eingestellt : Freimaurer, die durch ihre Logenmitglied* 1

Übersetzt aus dem Norwegischen von Marit Bergner. Eine wesentliche Ausnahme bildete die Verteidigung Wilhelm Hauers und der Deutschen Glaubensbewegung durch den liberalen Theologen Kristian Schjelderup in seinem Buch „På vei mot hedenskapet ?“ (1935). Hier analysiert er Ähnlichkeiten zwischen Hauers Neuheidentum und seinem eigenen liberalen Projekt, eine „Wirklichkeitsreligion“ im Pakt mit modernen wissenschaftlichen Einsichten und dem Lebensgefühl moderner Menschen zu entwickeln. Schjelderup wurde mit Hauer durch ihre gemeinsame Inspirationsquelle, den Religionsphilosophen Rudolf Otto, bekannt. Vgl. Terje Emberland, Religion og rase. Nyhedenskap og nazisme i Norge 1933–1945, Oslo 2003, S. 64–110.

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schaft der jüdischen Weltverschwörung Treue geschworen hätten, Pfarrer und christliche Laien, die durch ihren Glauben vom „semitischen“, rassefremden Gedankengut geprägt seien. In dieser Subkultur wurde die Nasjonal Samling deshalb höchstens als „kleinstes Übel“ innerhalb einer politischen Ordnung betrachtet, die selbst der Vergangenheit angehörte. Diese Subkultur war nicht groß. Es handelte sich um einen harten Kern von einigen Hundert Aktivisten und ein Umfeld von einigen Tausend Sympathisanten.2 Das Milieu war chaotisch und unübersichtlich. Es gab eine Reihe von Organisationen und Aktivitäten, viele davon aber nur auf dem Papier oder als Einmannbetrieb, andere waren lebensfähiger. Es wurden mehrere Zeitschriften publiziert, von denen viele nur in einigen Nummern erschienen, während andere ein Jahrzehnt existierten. Einer der Gründe dieser Vielfältigkeit ist bei den Individualisten im Milieu zu suchen. Hier gab es alles: von Künstlern und privatphilosophischen Exzentrikern, über antisemitische Verschwörungstheoretiker und SA - inspirierte Aktivisten bis hin zu realpolitisch orientierten Unternehmensgründern. In solch einer heterogenen Gemeinschaft herrschte naturgemäß keine vollständige ideologische Übereinstimmung, weder in politischen noch in religiösen Fragen. Die Differenzen waren jedoch nicht so groß, dass man kein gemeinsames Gedankengut oder Selbstverständnis feststellen könnte. Die Hagal - Rune fungierte als gemeinsames Symbol der Hagalsmänner, so die Bezeichnung für dieses Milieu, die sowohl von ihnen selbst als auch von ihren politischen Gegnern in der NS, verwendet wurde.3 Ein Protagonist dieses Milieus beschrieb das Runenzeichen als ein „Sinnbild, teils für Leben und Tod, in seiner Ganzheit für die Ewigkeit“ und ein „geeignetes Zeichen für alle, die sich kurz gesagt zu ihrem nordischen Geist bekannten und alle Priesterschaft und alles Freimaurertum abwiesen“.4 Die Symbolik wies besonders auf gemeinsame Auffassungen in der Religionsfrage hin. Man strebte eine weltanschauliche Synthese von Biologie und Religion an, einen biologisch fundierten Rassegedanken, kombiniert mit einer romantisch - religiösen Verehrung von allem „Nordischen“. Diese Kombi2

3

4

Die Schätzung basiert auf den wenigen Zahlenangaben zur Abonnentenzahl und zu den Mitgliederangaben. Norwegens Nationalsozialistische Arbeiterpartei besaß infolge deutscher Angaben 1939 nicht mehr als eintausend Mitglieder ( Bericht über die nationalsozialistischen Gruppen in Norwegen an das Auswärtige Amt vom 12. 7. 1939; Riksarkivet Oslo ). „Ragnarok“, als die entschieden größte Publikation, die in diesem Umfeld herausgegeben wurde, hatte etwa 3 000 Abonnenten. Die Ansichten der Redaktion hatten aber eine weit größere Anhängerschaft. ( Mitteilung der Universitätsbibliothek, Riksarkivet Oslo, L - sak Jacobsen ). Als Reaktion auf einen „Ragnarok“ - Artikel von Ernst A. Schirmer schrieb beispielsweise Propagandaminister Fuglesang 1943 : „Der Verfasser des Artikels [...] arbeitet mit Begriffen wie ‚Hagals Männer‘, ‚Hagaler‘ und ‚Hagalland‘. [...] So wie der Artikel verfasst ist, kann ich mich nicht von dem Eindruck befreien, dass es sich hier wohl ein Mal in der Parteigeschichte um eine gewisse separatistische Tendenz handelt.“ ( Fuglesang an Jacobsen vom 14. 5. 1943; Riksarkivet Oslo, L - sak, Jacobsen ). Ernst A. Schirmer, „Hagalringen – en tale til de nordgermanske folk“. Vortragsmanuskript vom 19. 6. 1937 ( Håndskriftsamlingen, Nasjonalbibliotek Oslo ).

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nation sollte den Ausgangspunkt für eine neue Religionsform bilden, die zu dem besonderen Rassencharakter des norwegischen Volkes passte. Die einflussreichsten Publikationen aus diesem Milieu waren Eugen Nielsens „Fronten“ und Hans S. Jacobsens „Ragnarok“. Um beide Schriften versammelte sich ein Kreis aus politischen Aktivisten, die sich wegen seines artfremden, semitischen Gedankengutes, klar vom Christentum distanzierten. Man ließ sich von unterschiedlichen deutschen Vorbildern inspirieren. Während Nielsen ein eifriger Anhänger der Lehre des Ehepaars Ludendorff war, folgten Jacobsen und sein Kreis, Jakob Wilhelm Hauer und der Deutschen Glaubensbewegung.

1.

„Fronten“ und die Ludendorff - Bewegung

Der Architekt und Hofbesitzer Georg Eugen Nielsen (1884–1963) war innerhalb des norwegischen Nationalsozialismus eine Schlüsselfigur und fungierte als Mäzen und Hintermann für viele Aktivitäten der Hagalsmänner in den 1930er Jahren. Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Hofbesitzer am Rande von Oslo ermöglichten es ihm, dass er sich in der Politik engagieren konnte, ganz besonders für seine fanatische Leidenschaft : die Aufdeckung der jüdisch - freimaurerischen Weltverschwörung. Dieser Kreuzzug begann bereits in den 1920er Jahren, als Nielsen Den nasjonale Legion angehörte. Diese war ein kurzzeitiger Versuch des Geschäftsmannes Karl Meyer, eine Faschistenbewegung in Norwegen zu etablieren.5 Hier traf Nielsen den Autor Erling Winsnes, der ihm das Buch „Vernichtung der Freimaurerei durch die Enthüllung ihrer Geheimnisse“ von Erich Ludendorff lieh.6 Die „Enthüllungen“ des Buches über die Freimaurerei als einen Bestandteil im verborgenen Spiel der Juden beeinflussten Nielsen nachdrücklich. Ebenso führten sie ihn zu der Überzeugung, dass die Rassenfrage für die gesellschaftliche Entwicklung von enormer Bedeutung war.7 1927 nahm Nielsen Kontakt mit Ludendorff auf und erhielt die Erlaubnis, sein norwegischer Verleger zu werden.8 Damit begann eine Korrespondenz mit dem ehemaligen General, die bis zu dessen Tod 1937 andauerte. Nielsen gründete den Verlag „Antiforlaget“ und gab Ludendorffs Freimaurer - Pamphlet 1928 unter dem Titel „Frimureriets avsløring“ heraus. Es war die erste Übersetzung.9 „Die Enthüllungen“ erregten große Aufmerksamkeit und bereits ein Jahr spä-

5 6 7 8 9

Vgl. Stein - Barth - Heyerdahls Nekrolog über Nielsen in : Folk og Land, Ausgabe 21/1963. Nielsen hatte zu dieser Zeit die Führung der Legion, während Winsnes ihr Sekretär und Redakteur der Zeitung „Nasjonalfascisten“ war. Aussage Nielsens, o. D. ( Riksarkive Oslo, L - sak Nielsen ). Vorwort zu Frimureriets avsløring, Oslo 1928. Tidens Tegn vom 10. 4. 1937. Nielsen an Furuseth vom 25. 11. 1939 ( Privatarchiv Furuseth ). Dt. Originalausgabe : Erich Ludendorff, Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse, München 1927.

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ter erschien das Buch in neuer Auf lage. 1931 verlegte Nielsen Ludendorffs „Verdenskrigen truer“ ( Weltkrieg droht auf deutschem Boden, München 1930), das angeblich auch Fridtjof Nansens Interesse weckte.10 Der vermögende Nielsen war nicht abhängig von den Verkaufserlösen. Alles, was er durch den Verkauf der Bücher Ludendorffs verdiente, leitete er an den General weiter.11 Nielsen arbeitete gleichzeitig daran, diese Bücher auch auf Englisch herauszugeben und korrespondierte in dieser Angelegenheit mit Arnold Leese, dem Gründer der Imperial Fascist League;12 anscheinend hatte er auch Kontakt zu den Anhängern der Bewegung in Schweden und mit ihnen übersetztes Agitationsmaterial ausgetauscht.13 Neben Ludendorffs Büchern gab der Verlag „Antiforlaget“ weitere nationalsozialistische, antisemitische, antifreimaurerische und antikatholische Literatur von deutschen, schwedischen und dänischen Verfassern heraus, darunter Werke von Theodor Fritsch und Alfred Rosenberg.14 Nach und nach wurden die Impulse, die Nielsen von der Ehefrau des Generals erhielt, ebenso bedeutungsvoll wie der Kontakt zum „Feldherrn“ selbst. Nielsen wurde ein agiler Anhänger von Mathilde Ludendorffs Lehre und vermutlich auch Mitglied in der Religionsgemeinschaft des Ehepaars. In Anlehnung an die Ludendorff’sche Ideologie, weitete er seinen Kreuzzug gegen das Christentum aus. Mathilde Ludendorffs Lehre stellte Nielsens Juden - und Freimaurerparanoia in ein größeres weltanschauliches System. Ihrer Auffassung nach standen die Germanen mit ihrer rassenbiologisch verankerten Gotterkenntnis im Kampf gegen den Angriff dreier dämonischer Weltmächte : „Rom“ ( Jesuiten, die katholische Kirche und das übrige Christentum ), „Judäa“ ( das Judentum und seine marxistischen und freimaurerischen Handlanger ) und „Tibet“ ( Theosophen, Anthroposophen und andere östlich inspirierte okkultistische Bewegungen ). Wenn man verhindern wolle, dass die Rasse geistig und biologisch zu Grunde gehe, müsse die dreiköpfige Hydra entlarvt, bekämpft und vertrieben werden. In diesem Denken fand Nielsen eine sichere weltanschauliche Verankerung. So schrieb er 1936 in der Zeitschrift „Fronten“:

10 Aussage Nielsens, o. D. ( Riksarkivet Oslo, L - sak Nielsen ). 11 „Referat fra rettsaken mellom Nielsen og Martha Steinsvik“. In : Aftenposten vom 30. 5. 1933. 12 Aussage Nielsens, o. D. ( Riksarkivet Oslo, L - sak Nielsen ). 13 Einer von diesen bewirkte 1930 eine schwedische Ausgabe von Mathilde Ludendorffs Pamphlet „Ett ögonkast i den romerska kyrkans morallära“ ( schwedische Übersetzung durch C. V. E. Carly, der bereits früher Schopenhauers Schriften ins Schwedische übersetzt hatte ), die er auch verkaufte, ebenso die von Nielsen übersetzten Bücher sowie weitere Schriften der Bewegung. Verkaufsstelle war Carl Eklunds Möbelgeschäft in der Mästersamuelsgatan 6 in Stockholm. Dem Einbandtext zufolge hatte der Herausgeber einen Status als autorisierter Vermittler von Ludendorffs Schriften in Schweden. Dt. Originalausgabe : Mathilde Ludendorff, Ein Blick in die Morallehre der römischen Kirche, München 1929. 14 Buchliste in Fronten von Februar 1933.

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„Frau Ludendorff, die nun mitten in einer reichen Entfaltung ihrer philosophischen Arbeiten ist und die Menschheit Teil haben lässt an ihrer großen geistigen bahnbrechenden Arbeit, ist die erste, die uns auf rassenbiologischer Grundlage eine fast geschlossene Lebensanschauung gibt, die, nicht von verstandesmäßigen Phantasien, sondern von Wirklichkeit und wissenschaftlicher Forschung geprägt, dem zeitgemäßen höchsten Wissen getragen wird. Und diese Wirklichkeit betrügt nicht, sie ist nicht widersprüchlich in einigen Punkten, sie ist, was die Menschen schließlich erkennen werden, das einzig Wahre und das, worauf sie ihr Leben und ihre Zukunft sicher aufbauen können.“15

Anfang der 1930er Jahre setzte sich Nielsen zum Ziel, eine größere politische Durchschlagskraft zu erreichen, als sie ihm die Verlagstätigkeit geben konnte. 1932 gründete er daher die Zeitung „Fronten“. Die Zeitung erschien die ersten Jahre vierzehntäglich mit einer Auf lage von einigen Tausend Exemplaren und mit etwa Hundert Abonnenten. Als Redakteur wählte Nielsen den jungen Journalisten Adolf Egeberg jr. Dieser war durch seine Berichterstattung für die norwegische Bauernzeitung „Nasjonen“ über den Einmarsch der Lappo - Bewegung in Helsinki zum Faschisten geworden. Als überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus wurde Nielsen dessen erster Propagandist in Nor wegen. 1932, ein Jahr bevor Quisling seine Partei gründete, ergriff Nielsen die Initiative und gründete die Norges Nasjonal - Socialistiske Arbeiderparti ( NSSAP – Norwegische National - Sozialistische Arbeiterpartei ), mit Egeberg jr. als erstem Parteiführer. Die Partei trat radikal und provozierend auf, was vor allem die suchenden und aufrührerischen Teile der Jugend ansprach. Im Laufe des ersten Jahres schaffte man es, einige Hundert Mitglieder zu werben, vor allem unter den Gymnasiasten im Westen Oslos. Das Hauptquartier in den Redaktionsräumen der „Fronten“ in Thv. Meyersgate, wo Nielsen wie ein Patriarch residierte, wurde zwischen 1933 und 1934 zum Versammlungsort für eine wachsende Gruppe junger radikaler Aktivisten. Bis 1934 fungierte die Zeitschrift „Fronten“ als Parteiorgan. Im Umfeld der jungen Aktivisten dieser Phase war das politische Profil breit gefächert, wobei das Hauptaugenmerk darauf lag, den Nationalsozialismus der nor wegischen Arbeiterklasse als nicht - marxistische, sozialistische Alternative zu präsentieren. In der NSDAP wurde man früh auf Nielsen und seine Zeitung aufmerksam. Bereits 1932 hatte der Parteiabgesandte und Geschäftsmann Max Pferdekämper während eines Besuches in Nor wegen Gespräche mit ihm geführt.16 Er berichtete Himmler persönlich davon, was zur Folge hatte, dass der Redakteur Egeberg jr. nach München geschickt wurde, um dort bei der SA zu hospitieren und an einem SS - Kurs teilzunehmen.17 Hier lernte er sowohl SS - Gruppenführer Sepp Dietrich als auch Himmler persönlich kennen.18 Die deutsche Botschaft in Nor wegen berichtete begeistert, dass Nielsens Tätigkeit einen

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Fronten von Oktober 1936, S. 6. Pferdekämper an Gau Ausland vom 13. 12. 1932 ( BArch, NS 19/4089). Ebd. Von Trotha an Geheimes Staatspolizeiamt von 29. 3. 1935 ( BArch, NS 8/150/205).

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Durchbruch für den Nationalsozialismus in Norwegen ankündige – womit sie augenscheinlich die phantasievollen Übertreibungen Nielsens wieder gab. In einem Bericht an das Auswärtige Amt in Berlin gab man im Mai 1933 die Zahl der Abonnenten mit unglaublichen 50 000 an, „das heißt, genauso viele wie bei den größten norwegischen Tageszeitungen, ‚Aftenposten‘ und ‚Tidens Tegn‘“.19 Bereits einen Monat später war der Ton nüchterner. Man konstatierte, dass die Tätigkeit Nielsens in erster Linie darin bestand, Appelle an Gymnasiasten und Studenten zu richten, und dass die Bewegung noch kein Potential zur Massenpartei habe.20 Die deutschen Erwartungen an Nielsen als Führer der nationalsozialistischen Erhebung sind augenscheinlich schnell wieder verflogen. 1934 distanzierte sich die NNSAP von ihrem Gründer aufgrund von anhaltenden Differenzen zwischen Nielsen und den jüngeren Parteiaktivisten über die Anti - Freimaurer- Propaganda. Viele waren davon überzeugt, dass Nielsens Propaganda für die Ludendorff - Bewegung zu einer Belastung der Partei geworden sei. Der Bruch kam infolge des Konflikts zwischen Ludendorff und Hitler und dem Verbot des Tannenbergbundes und der Zeitung „Ludendorffs Volkswarte“ 1933. Nielsen ergriff hier entschieden Partei : Er sei nicht im Stande, „bei den Eigenarten des Hakenkreuz - Deutschlands mitzumachen, wem sie auch gelten [...], der Frage nach dem arischen Jesus oder der individuellen Entwicklung nach äußeren gleichen Richtlinien (‚Gleichschaltung‘)“.21 Das stieß auf den entschiedenen Widerstand der Hitler - begeisterten Jugendlichen der NNSAP. In ihrer neugegründeten Zeitschrift „Nasjonalsocialisten“ erklärten sie den Bruch mit Nielsen, der sich zum Ziel gesetzt habe, „den norwegischen Nationalsozialismus mit Ludendorffs Gedanken und Ideen zu durchdringen“.22 Nielsen ließ daraufhin das Hakenkreuz von der Titelseite der „Fronten“ entfernen, da dieses „allgermanische Symbol“ zu eng mit dem NS - Regime verbunden sei. Der Fokus der Zeitschrift war nun mehr ganz gegen die vermeintliche jüdisch - freimaurerische Konspiration gerichtet – häufig in Form von scheinbaren Entlarvungen von Freimaurer - Ritualen oder der Publikation von Mitgliederlisten der nor wegischen Loge. Gleichzeitig kam die Ludendorff - Lehre durch massenweise übersetzte Beiträge aus der Zeitschrift der Bewegung „Am heiligen Quell deutscher Kraft“ ausgiebig zu Wort. Nach dem Bruch mit der NNSAP wurde das antichristliche Profil Nielsens noch schärfer. Er druckte unter anderem mehrere christentumskritische Artikel des amerikanischen Freidenkers Robert Ingersoll. 1932/33 hatte er noch lobende Worte für Martin Luther und dessen Antisemitismus gefunden, wie auch dafür, dass Luther „reine Linien innerhalb des Christentums“23 geschaffen habe; 19 20 21 22 23

Bericht an das Auswärtige Amt vom 5. 5. 1933 ( Kopie, Riksarkivet Oslo ). Bericht an Auswärtiges Amt vom 14. 6. 1933 ( Kopie, Riksarkivet Oslo ). „Am heiligen Quell“. In : Fronten von Dezember 1934, S. 3. Nasjonalsocialisten, Nr. 1 von 1934. „Den nordiske tanke“. In : Fronten von Juni 1932, S. 1, und „Martin Luther“. In : Fronten von November 1933, S. 4.

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infolge des Bruchs mit der NNSAP distanzierte er sich entschieden von einem „germanischen Christentum“. Die Redaktion der „Fronten“ proklamierte hingegen überzeugt ihr Heidentum : „‚Die Heiden sind‘ – und waren immer – Menschen, die sich selbst und ihren angestammten Rasseinstinkten treu geblieben sind, Menschen mit unvermischtem Blut. Dieses reine Blut macht es für sie unmöglich, das Leben mit Augen, die dem Sinai entliehen sind, zu betrachten, Augen, die voll mit Hass und Rache sind. Und sie vermögen nicht, mit den weichen Knien der Nazarener zu leben. Das reine Blut trägt die göttliche Reinheit und Klarheit und Schönheit in seinen roten Strömen durch das ewige Erdenleben der Rasse.“24

Als 1937 verlautet wurde, es habe eine Verständigung zwischen Hitler und Ludendorff gegeben, deutete Nielsen dies als ein Zeichen, den Kampf gegen das Christentum zu intensivieren. In einem Interview in der Zeitung „Tidens Tegn“ gab er seiner Erwartung Ausdruck, dass Ludendorff nach der Einigung hauptsächlich daran arbeiten werde, Deutschland zu entchristianisieren, nachdem der Kampf gegen Juden und Freimaurer fast schon gewonnen sei.25 Die unterwürfige Verehrung der Prophetin der Ludendorff - Bewegung und deren Anspruch, die endgültige Wahrheit zu repräsentieren, ging der Mehrzahl der Hagalsmänner jedoch zu weit. In Norwegen stellten die gläubigen Ludendorffianer nur eine sehr kleine Gruppe von Exzentrikern dar. Und jeder von ihnen hielt sich für am besten geeignet, die Bewegung zu repräsentieren, was rasch zu Reibereien führte und eine geschlossene Organisationsbildung unmöglich machte. 1938 kam der radikale Nationalsozialist und Zeitungsredakteur Ola O. Furuseth mit dem Ludendorff - Anhänger Hjalmar Pettersen aus Bergen in Kontakt. Dieser hatte eine Reihe übersetzter Artikel aus der Zeitschrift „Am heiligen Quell deutscher Kraft“ eingereicht, die er publiziert haben wollte.26 Auf Furuseths Empfehlung hin nahm er Kontakt mit Nielsen auf.27 Es zeigte sich jedoch, dass Pettersen mehr wollte, als lediglich Beiträge für die „Fronten“ zu liefern; er wollte eine philosophisch - religiöse Ludendorff - Zeitschrift in Norwegen etablieren. Furuseth und Nielsen lehnten dieses Vorhaben ab und erklärten, dass viele der übersetzen Texte überdies „zu konzentriert und zu hoch für Menschen“ seien, „die sich mit so etwas noch nicht beschäftigt haben“.28 Das führte zum Konflikt mit dem exzentrischen Bergenser, zumal dieser sowohl das Hitler - Regime als auch die unterschiedlichen nationalsozialistischen Gruppen und Zeitschriften in Norwegen kritisierte.29 Während eines späteren Aufenthalts in Deutsch-

24 25 26 27 28 29

Stein Barth - Heyerdahl, „Hedendom“. In : Fronten von Oktober 1935, S. 3. Tidens Tegn vom 10. 4. 1937. Pettersen an Furuseth vom 9. 7. 1938 ( Privatarchiv Furuseth ). Furuseth an Pettersen vom 16. 8. 1938 ( ebd.). Furuseth an Pettersen vom 17. 9. 1938 ( ebd.). Ebd.

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land soll Pettersen sich „ganz unverschämt“ aufgeführt und schlecht über Nielsen und die „Fronten“ im Kreis der deutschen Glaubensgenossen gesprochen haben.30 Obwohl Nielsen nie einen Ableger der Ludendorff - Bewegung in Norwegen organisiert hatte, wurde er ein wichtiger norwegischer Vermittler der völkisch religiösen Ideen und – in noch größeren Maße – antisemitischer Verschwörungstheorien. Auf diese Weise hatte er auch einen großen Einfluss auf das ideologische Selbstverständnis der Hagalsmänner. Während Mathilde Ludendorffs Religionsphilosophie als zu sonderbar und sektiererisch angesehen wurde, fanden die Konspirationstheorien des Ehepaars – vermittelt durch Nielsen – ein deutlich aufgeschlosseneres Publikum. Sein erbitterter Kampf gegen die Feinde der germanischen Rasse in Norwegen wurde als positiver Kontrast zu Quislings Verbrüderung mit den Logenbrüdern und der Betonung „christlicher Grundwerte“ aufgefasst. Nielsens Propaganda stellte deshalb für viele seiner Anhänger eine Einführung in ein paranoides Politikverständnis dar, wonach Geschichte und gesellschaftliche Entwicklung von versteckten dämonischen Kräften gesteuert würden, z. B. dem höchsten Rat der Weisen von Zion, Freimaurerlogen und anderen okkulten Bruderschaften. Von da war es ein kurzer Weg, um auch das Christentum als ein Teil in den konspirativen Plänen der Juden zu betrachten. Das Endresultat war eine weltanschauliche Generalabrechnung mit dem Christentum und die Forderung nach einer Rückkehr zum „arteigenen“ Glauben auf Grundlage des altnordischen Erbes. Die Propagierung der Ludendorff - Lehre durch Nielsen bildete zudem eine Brücke zur Deutschen Glaubensbewegung, u. a. für zwei Redaktionsmitarbeiter der „Fronten“ : für den NNSAP - Aktivisten Stein Barth - Heyderdahl, der viele heidnische und christentumsfeindliche Artikel verfasste, und für den Architekten Ernst A. Schirmer, der mit Ludendorff korrespondierte31 und dessen Artikel für die Zeitschrift übersetzte.32 Ein weiterer wichtiger Hagalsmann, der Komponist Geirr Tveit, ließ sich ebenfalls von den Schriften Mathilde Ludendorffs inspirieren, bevor er zur Deutschen Glaubensbewegung fand. 1933 charakterisierte er ihre Schriften über den germanischen Gottglauben als „analytisch hochwertig“, selbst wenn ihnen eine ausreichende begriff liche Klarheit fehle.33 Eugen Nielsen selbst war nie so sektiererisch veranlagt, dass er nicht auch andere neuheidnische Bewegungen positiv erwähnte. Er war vermutlich der Auffassung, dass die ideologischen Differenzen von nachgeordneter Bedeutung seien, solange die Kultur vollständig von Juden, Freimaurern, Pfarrern und Mar30 Nielsen an Furuseth vom 25. 11. 1939 ( ebd.). 31 Ludendorff an Schirmer vom 12. 9. 1932. Vgl. auch Schirmer an Hauer vom 20. 6. 1937 ( Håndskriftsamlingen, Nasjonalbibliotek Oslo ). 32 Schirmer publizierte auch seine neuheidnische Kampfschrift „Erhvervet arv“ in Nielsens Verlag. 33 Tveit an Hulda Garborg vom 22. 1. 1933 ( Håndskriftsamlingen, Nasjonalbibliotek Oslo).

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xisten beherrscht werde. Als er enthusiastisch und bar jeder Realität feststellte, dass die neue „nordische Glaubensbewegung“ mittlerweile „Millionen von Deutschen“34 umfasse, hatte er nicht allein die Ludendorff - Bewegung im Blick, sondern alle neuheidnischen Gruppen, in erster Linie jedoch die Deutsche Glaubensbewegung. 1936 bezeichnete Nielsen Hauers Zeitschrift „Deutscher Glaube“ als „in ihrer Art eine der interessantesten, die herausgegeben wird“.35 Die vielleicht wichtigste Funktion der „Fronten“ in der ersten Hälfte der 1930er Jahre war die des Sprachrohrs für die nationalsozialistische und neuheidnische Opposition innerhalb der Nasjonal Samling. 1933 begegnete Nielsen der neugegründeten Partei mit Voreingenommenheit, Skepsis und Misstrauen. Die NS sei, trotz vieler guter Programmpunkte, von freimaurerischem Geist infiziert und außer Stande, sich klar zur Rassenfrage zu äußern : „Sollen wir im Schweigen eine Bestätigung für die traurige Tatsache sehen, dass eine versteckte Hand [...] bereits den NS - Parteiführern an die Gurgel gegriffen hat, durch die vielen einflussreichen Freimaurer und Halbjuden, die Hr. Quisling in seiner Treuherzigkeit zugelassen hat ?“, fragte er 1934.36 In den folgenden Jahren setzte er seine Attacken gegen die Priester - und Freimaurerfraktion innerhalb der NS und gegen den schwachen Parteiführer, Quisling, fort. Die Kritik deckt sich mit der des radikalen Flügels innerhalb der NS. Nielsen stellte für deren Kritik – widerwillig – Druckspalten zur Verfügung. Einige dieser Unzufriedenen, darunter Stein Barth - Heyerdahl, der 1933 von der NNSAP zur NS übergetreten war, waren Mitarbeiter der „Fronten“. Sie versorgten Nielsen mit Details über die internen Machtkämpfe innerhalb der Partei. Die Redaktionsräume in der Thv. Meyersgate 71 blieben damit von 1934 bis zum Bruch der Radikalen mit der Partei nach der Wahl 1936 eine Zentrale für die Verbreitung von Gerüchten und Intrigen, die sich gegen Quisling und die NS Führung richteten. Nach dem Bruch nahm die „Fronten“ auch an einer koordinierten Aktion teil, um die unzufriedenen NS - Mitglieder ebenfalls zur Abkehr von der Partei zu bewegen und ein Netzwerk freier nationaler Gruppen zu organisieren.37 Nielsen gab die „Fronten“ bis 1940 heraus; die letzte Nummer erschien am 1. September 1940. Bis zum Ende des Krieges bewegte er sich im Dunstkreis der NS, ohne ihr je beizutreten. Er pflegte den Kontakt mit seinen alten Freunden aus dem radikalen nationalsozialistischen Flügel – von denen viele eine politische Zufluchtsstätte in der Germanske SS Norge gefunden hatten – und unterstützte aktiv ihre pangermanische Oppositionstätigkeit gegen Quisling. Die Kritik aus diesem Flügel wurde wiederholt als Angriff gegen den Freimaurerein-

34 35 36 37

„Nordisk tro“. In : Fronten, Nr. 6 von Juni 1935, S. 2. Fronten, Nr. 7 von Oktober 1936, S. 8. „Nasjonal Samling og jødespørsmålet“. In : Fronten, Nr. 7 von Juni 1934, S. 1. Mehrere Nummern der Zeitung mit einer solchen Aufforderung wurden nach der Wahl an alle NS - Vertrauensmänner geschickt. Vgl. Fuglesang an Furuseth, dem Redakteur der oppositionellen NS - Zeitung „Ny dag“, vom 28. 6. 1937 ( Privatarchiv H. F. Dahl ).

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fluss in der NS artikuliert, und Nielsen versorgte die Mitglieder ständig mit zahllosen „Beweisen“ für die rassenfeindliche Wühlarbeit der Logenbrüder. Sein langjähriger Kreuzzug gegen die Freimaurer führte auch dazu, dass Nielsen bei den deutschen Besatzern als sogenannter Experte Ver wendung fand. Seit Sommer 1940 stand er der deutschen Sicherheitspolizei bei der Offenlegung des Einflusses der Logen auf die norwegische Gesellschaft zur Seite und warnte die Besatzer vor mehreren angeblichen Freimaurern in Quislings Nähe. Als die Freimaurerloge 1940 geschlossen wurde, bekam Nielsen den Auftrag, deren Eigentum zu verwalten. Er plante ein norwegisches Freimaurermuseum und verhinderte deshalb, dass Gegenstände aus dem Besitz der Loge nach Deutschland verbracht wurden. Nach Kriegsende wurden zwei mit Kultobjekten beladene Lastwagen in seinem Heim im Osloer Stadtteil Frogner gefunden.

2.

„Ragnarok“ und Deutsche Glaubensbewegung

Während die „Fronten“ in der ersten Hälfte der 1930er Jahre als wichtigster Vermittler „arteigener“ Religion und von Christentumskritik auf rassenideologischer Grundlage fungierte, übernahm diese Rolle ab 1935 die Zeitschrift „Ragnarok“. Ihre Gründung war eine unmittelbare Folge der politischen und ideologischen Spannungen, die innerhalb der Nasjonal Samling seit 1933 zwischen dem rechtsautoritären und christlichen Flügel und den jungen, radikalen Nationalsozialisten, die die Gruppe der Parteiaktivisten stellten, existiert hatten. Auch wenn es den Radikalen gelang, den Sozialismusbegriff im Parteiprogramm unterzubringen, verloren sie den Kampf um die Hegemonie in der Partei. Besonders das Neuheidentum und die Rassenideologie trafen auf Widerstand. Dies führte dazu, dass ein Teil der jungen Aktivisten – von denen viele früher der NNSAP angehört hatten – aus der Partei austraten, während andere sich entschieden, eine Oppositionstätigkeit innerhalb der Partei aufzunehmen. Die unumstrittene Frontfigur des nationalsozialistischen Flügels war der Sozialökonom und Schiffsmakler Hans Solgaard Jacobsen (1902–1980), der nachdem er selbst mit der NS 1935 gebrochen hatte, „Ragnarok“ als Sprachrohr für die Quisling - kritische Opposition in und außerhalb der Partei gründete. Der Kreis, der sich um Jacobsen sammelte, strebte eine fundamentale, rassenbasierte Transformation der norwegischen Gesellschaft an. Die Kultur sollte von allem „artfremden“ Gedankengut gereinigt und so reformiert werden, dass sie den Rasseeigenschaften des norwegischen Volkes entsprach. Dafür musste auch das Christentum durch ein modernisiertes altnordisches Heidentum ersetzt werden. Jacobsen, der viele Kontakte nach Deutschland pflegte, war gut über die Aktivitäten der deutschen neuheidnischen Bewegung informiert. Er erteilte daher seinem Freund, dem Juristen Odin Augdahl, der sich zu einem Stipendienaufenthalt in Berlin aufhielt, den Auftrag, sich mit Jakob Wilhelm Hauer in Verbin-

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dung zu setzen. Im Mai 1935 bat Augdahl Hauer um einen Beitrag für die neugegründete Zeitschrift, da die Zeit reif sei, das Gedankengut der Deutschen Glaubensbewegung in Norwegen zu verbreiten.38 Hauer bedankte sich für die Kontaktaufnahme und übersandte den gewünschten Beitrag.39 Er erschien als Leitartikel in der Juliausgabe von „Ragnarok“ unter dem Titel : „Den tyske trosbevegelses tillblivelse, vesen og mål“ ( Die Entstehung der deutschen Glaubensbewegung, ihr Wesen und Ziel ).40 Die Redaktion wünschte sich weitere Beiträge aus Hauers Feder, wozu es aber nicht kam. Stattdessen druckte man in der folgenden Ausgabe den Beitrag „Germansk - tysk verdensanskuelse i kamp“ ( Germanisch - deutsche Weltanschauung im Kampf )41 von Herbert Grabert, dem Redakteur der Zeitschrift „Deutscher Glaube“. Auch wenn diese Artikel in erster Linie dazu gedacht waren, Front gegen den christlichen Flügel innerhalb der Nasjonal Samling zu machen, so handelte es sich bei dem Neuheidentum des Ragnarok - Kreises um mehr als die bloße Übernahme oder Nachahmung von Argumentationen der Deutschen Glaubensbewegung. Vielmehr war dieser Kreis um Jacobsen davon überzeugt, dass die neue Zeit eine neue Religion erfordere und dass Hauers Religionsphilosophie dafür den geeigneten Ansatz liefere. Der Kontakt zwischen Jacobsen und Hauer bestand über die gesamte Zwischenkriegszeit und führte 1936 zu Jacobsens Aufnahme in den Herausgeberkreis der Zeitschrift „Deutscher Glaube“.42

3.

Geirr Tveit und Hauer

Einige Mitglieder des Ragnarok-Kreises empfanden das reine tagespolitische Geschehen als nachrangig. Sie sahen den Kampf gegen das „artfremde“ Christentum und die Erweckung des Neuheidentum als ihre Hauptaufgabe an. Der Bedeutendste unter ihnen war der Komponist Geirr Tveit43, eine Persönlichkeit innerhalb des Kreises, der Kraft seiner künstlerischen Qualitäten große Spuren im norwegischen Kulturleben hinterlassen hat. Tveits Kontakt zu Hauer bestand bereits, bevor er sich dem Kreis um Jacobsen anschloss. Seit frühester Jugendzeit war er ein entschiedener Gegner des Christentums und kombinierte dies mit einer großen Begeisterung für die alt-

38 Augdahl an Hauer vom 20. 5. 1935 ( BArch, NL Hauer N1131, 65, Bl. 174). 39 Hauer an Augdahl vom 23. 5. 1935 ( ebd.). 40 Übersetzung von Wilhelm Hauer, Wesen und Ziel der Deutschen Glaubensbewegung. In : Deutscher Glaube, 1 (1934) 2, S. 49–57. 41 Ragnarok, Nr. 6–7 von September 1935, S. 146 ff. 42 Jacobsen an Hauer vom 6. 6. 1936 ( BArch, NL Hauer N1131, 65, Bl. 49). 43 Geirr Tveit änderte einige Male im Laufe seines Lebens seinen Namen : Nidju oder Nidvu Tveit, Nils Geir Tveit, Geirr Tveit und zuletzt 1941 Geirr Tveitt. Einfachheitshalber verwende ich den gesamten Text hindurch „Geirr Tveit“, da er in den dreißiger Jahren hauptsächlich diesen Namen benutzt hatte.

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nordische Kultur und Religion. Während eines Studienaufenthalts in Paris und Wien begann Tveit sein großes Werk „Baldurs Draumar“ ( Baldurs Träume ), das sowohl seine musikalischen als auch seine weltanschaulichen Überzeugungen ausdrücken sollte.44 Am 5. September 1935 meldete „Aftenposten“, dass Tveit nach Deutschland reisen werde, um sich dort der Unterstützung von Jakob Wilhelm Hauer für die Aufführung seines Werkes in Tübingen, Leipzig, Dresden und Berlin zu vergewissern. Vermutlich hatte Tveit zuvor norwegische Zeitungsberichte über den Fortschritt der neuheidnischen Bewegung in Deutschland gelesen, von der er hoffte, dass sie die ideologische Botschaft seines Werkes verstehen und schätzen würde. Als die Aufführung von „Baldurs Draumar“ konkrete Formen annahm, schickte Tveit eine Zusammenfassung der Handlung an Hauer.45 Dieser antwortete, dass die Handlung ihn stark berührt habe, und dass er sich umgehend der Planung der Konzerte widmen würde. Darüber hinaus wurde Tveit in Hauers Haus nach Tübingen eingeladen, um dort die Details vorzulegen.46 Hauer schickte Tveit ein Exemplar seines neuen Buches „Deutsche Gottschau“ zu, das der Komponist als bahnbrechendes Werk bezeichnete, welches ihm die Augen für viele Zusammenhänge geöffnet habe, derer er sich vorher nicht bewusst gewesen sei.47 Es ist offensichtlich, dass der Kontakt mit Hauer Tveits Weltanschauung gefestigt hat. Tveit war von dem Buch dermaßen ergriffen, dass er sich Gedanken über die Etablierung der Bewegung in Norwegen machte und Hauer, der dem Plan Sympathien entgegenbrachte, deswegen nach Norwegen einladen wollte. Anfang September 1935 reiste Tveit nach Tübingen, wo er ab dem 16. September für einige Wochen bei Hauer wohnte. Gemeinsam arbeiteten sie an der deutschen Übersetzung von „Baldurs Draumar“, die Hauer korrigierte und an seine Religionsphilosophie anpasste.48 Tveit traf mit mehreren von Hauers engsten Mitarbeitern zusammen und fühlte sich in diesem Kreis zum ersten Mal unter Gleichgesinnten. Während des Aufenthalts entwickelte sich die Beziehung zwischen Tveit und Hauer zu einer Freundschaft in gegenseitiger Bewunderung. Tveit ließ sich von Hauers Persönlichkeit und seinem religionshistorischem Wissen beeindrucken. Er sei „einer der größten Wissenschaftler der Welt“, stellte er fest, „er war einer der reinsten und herrlichsten Menschen, die ich je getroffen habe“.49 Hauer wiederum war imponiert von Tveits Werk und seinen altnordischen Kenntnissen und sah in dem charmanten jungen Nor weger einen künstlerischen Propagandisten für das Neuheidentum, nicht nur in Norwegen, sondern auch in Deutschland. 44 45 46 47 48 49

Gula Tidend vom 20. 8. 1935. Tveit an Hauer vom 13. 7. 1935 ( BArch, NL Hauer, N1131, 65, Bl. 158). Hauer an Tveit vom 18. 7. 1935 ( ebd., N1131, 65, Bl. 157). Tveit an Hauer vom 6. 8. 1935 ( ebd., N1131, 65, Bl. 155 f.). Aftenposten vom 18. 12. 1935. Geirr Tveit, „Wilhelm Hauer. Ein stor tenkjar – et stort menneskje“. In : Ragnarok, Nr. 9/10 von Dezember 1938, S. 237.

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Er verfasste deshalb in den folgenden Wochen eine Reihe von Briefen an die lokalen Führer der Deutschen Glaubensbewegung und an Konzertagenturen, um für „Baldurs Draumar“ zu werben. An den Pressereferenten der Bewegung in Berlin, Fritz Gericke, schrieb Hauer, die Konzerttournee könne zur Gründung einer Kulturorganisation beitragen, die das Neuheidentum propagieren sollte.50 Dass Tveits Konzerte in Deutschland somit auch als Mobilisierungs und Propagandavorstellungen für die Deutsche Glaubensbewegung fungierten, wurde besonders bei der Aufführung in Berlin deutlich. Dort wurde Tveit besonders freundlich von den Führern der Bewegung begrüßt, die den ganzen Saal für ihre Anhängerschaft reserviert hatten.51 Hauer hoffte, dass mit Tveits wachsender künstlerischer Anerkennung im Heimatland, der Boden für eine Organisation des Neuheidentums in Norwegen bereitet werden könne. Beide planten zudem eine Vortragsreise Hauers in Norwegen und Schweden. Bevor er im November 1935 von Berlin abreiste, sagte Tveit zu, sich dafür einzusetzen, dass die nordisch - deutsche Glaubensbewegung in Norwegen Fuß fassen könne. Nach seiner Rückkehr nahm Tveit Kontakt mit dem Ragnarok - Kreis auf. An Hauer berichtete er zuversichtlich : „In Nor wegen habe ich in diesem Herbst viele Menschen getroffen, die sich für Ihr Werk sehr interessieren und damit sympathisieren, und ich glaube, dass es nicht allzu lange dauern wird, bis die nordische Einstellung zur Lebensauffassung und Religion sich auch bei uns öffentlich äußern wird. Die Zeitschrift ‚Ragnarok‘ ist der erste schöne Anfang dazu.“52 Intensiv engagierte sich Tveit für die Organisation der geplanten Vortragsreise Hauers. Er setzte sich unter anderem mit Günther Kern, dem Leiter der NSDAP in Oslo und Repräsentanten der Nordischen Gesellschaft, in Verbindung, um – erfolglos – eine Ausreisegenehmigung für Hauer zu bewirken.53 Tveits Enthusiasmus für das Neuheidentum hielt während der 1930er Jahre unvermindert an, selbst wenn die Hoffnungen auf einen baldigen Durchbruch in Norwegen von Brief zu Brief schwankten. Zunehmend musste sich Tveit eingestehen, dass seine weltanschaulichen Überzeugungen außerhalb des Ragnarok - Kreises nur wenig Zustimmung fanden.54 Geirr Tveit war vornehmlich damit befasst, als Komponist Anerkennung zu gewinnen, und setzte sich deshalb nur zurückhaltend für die neureligiösen Vorstellungen ein. Er avancierte insofern nicht zur Speerspitze des Neuheidentums

50 51 52 53

Hauer an Gericke vom 2. 10. 1935 ( BArch, NL Hauer, N1131, 88, Bl. 178). Tveit an Hauer vom 10. 11. 1935 ( ebd., N1131, 65, Bl. 141). Tveit an Hauer, o. D. ( vermutlich Juni 1936) ( BArch, NL Hauer, N1131, 65, Bl. 135). Tveit an Hauer, o. D. ( vermutlich April 1938) ( ebd., N1131, 65, Bl. 129). Tveit war überzeugt davon, dass Kern die Vortragsreise Hauers 1935 verhindert hatte. Um sich diese Vermutung bestätigen zu lassen, wandte sich Hauer an mehrere bedeutende NSDAP Mitglieder, u. a. an seinen Freund und Glaubensgenossen, den Rassenforscher Hans F. K. Günther. Vgl. Hauer an Günther vom 11. 4. 1938, ( ebd., N1131, 99, Bl. 206). 54 Tveit an Hauer, o. D. ( vermutlich Sommer 1937) ( ebd., N1131, 89a, Bl. 64 f.).

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in Nor wegen, wie Hauer es erhofft hatte. Gleichwohl trug Tveit maßgeblich dazu bei, dass die „arteigene“ Religion in Norwegen durch „Baldurs Draumar“ ihr bedeutendstes Denkmal erhalten hatte : Das Werk wird heute noch in norwegischen Konzertsälen aufgeführt, nachdem die Partitur wiedergefunden und restauriert worden ist.

4.

Neuheidnische Rituale

Auch wenn es den Anschein hat, dass die politischen Anschauungen des Ragnarok - Kreises sich mehr in Übereinstimmung mit dem radikalen nationalsozialistischen Flügel der Deutschen Glaubensbewegung um die Zeitung „Durchbruch“ befanden, bestand doch eine Loyalität gegenüber Hauer, selbst nachdem er 1936 die Führung der Glaubensbewegung abgeben mußte. Jacobsen berichtete im Winter 1937, dass er den Konflikt innerhalb der Bewegung in Gesprächen mit Himmler und Rosenberg am Rande der Reichsversammlung der Nordischen Gesellschaft aufgegriffen habe. Er habe ihnen gegenüber erklärt, dass man im Norden die höchste Achtung vor Jakob Wilhelm Hauer habe, der als „der führende Geist in dem erwachten Dritten und Nordischen Reich“55 angesehen werde. Im folgenden Jahr besuchte Tveit die Reichsversammlung der Nordischen Gesellschaft in Lübeck und versuchte in Gesprächen mit Hans F. K. Günther, dem Hauptideologen und Rassentheoretiker des „nordischen Gedankens“, mehr über die Hintergründe des Konflikts zu erfahren. Günther, der auch dem Herausgeberkreis der Zeitschrift „Deutscher Glaube“ angehörte, wurde von Tveit als „ein bewundernswerter Mensch“ charakterisiert, „den ich in aller Hinsicht als vornehm betrachte“.56 Selbst als die Deutsche Glaubensbewegung der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik zum Opfer gefallen war, setzte der Ragnarok - Kreis seine Arbeit fort. In einem Brief an Hauer vom 12. Dezember 1937 berichtete Jacobsen, dass er eine „heidnisch - kameradschaftlich - politische Gemeinschaft außerhalb der Parteien“ gegründet habe, um das norwegische Heidentum zu organisieren. Er bat in diesem Zusammenhang um Informationen über die „kultischen Formen“, denn im Herbst 1937 waren im Kreis der Anhänger bereits drei Kinder zur Welt gekommen, und am nächsten Morgen erwartete Jacobsen sein viertes. Eine Taufe kam nicht in Frage, aber in welcher Weise konnte die Namensgebung dann stattfinden ?57 Jacobsen berichtete, dass sich eine eigene Ritualkommission mit Geirr Tveit an der Spitze etabliert habe, um die Gestaltung eigener Zeremonien und Feiern für den Lebenslauf auszuarbeiten.

55 Jacobsen an Hauer vom 12. 12. 1937 ( ebd., N1131, 65, Bl. 45). 56 Tveit an Hauer vom 31. 8. 1938 ( ebd., N1131, 127, Bl. 127). 57 Jacobsen an Hauer vom 12. 12. 1937 ( ebd., N1131, 65, Bl. 45).

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Wenn Jacobsen auch keine persönlich starken religiösen Neigungen besaß, ließ er sich dennoch vom Kultischen einnehmen. Der Brief an Hauer von diesem Dezemberabend 1937 ist möglicherweise der deutlichste Beweis dafür, dass er und sein Kreis mehr mit ihrem Heidentum anstrebten, als nur den christlichen Flügel in der Nasjonal Samling zu provozieren. Es ging nicht allein um eine rassenideologisch begründete Distanzierung vom jüdisch - christlichen Einfluss auf die nordische Kultur. Man wollte darüber hinaus eine Lebensanschauung und Bewegung aufbauen, die durch Dogmen und Rituale das gesamte Leben an eine transzendente, überindividuelle Wirklichkeit binden konnte. Das war einer der konkreten und offensichtlichen Ausdrücke für das Neuheidentum in Norwegen in den 1930er Jahren. Der Gedanke, eine nor wegische Abteilung der Deutschen Glaubensbewegung zu errichten, wurde dagegen aufgegeben. Auch der Versuch, eine selbständigere norwegische Gruppe zur Zusammenarbeit mit dem Kreis um den „Deutschen Glauben“ zu organisieren, wurde nicht realisiert. Die praktizierenden Neuheiden umfassten in Norwegen in den 1930er Jahren nicht mehr als eine Handvoll ludendorffiansche Exzentriker und eine kleine, eng zusammengeschweißte Kameradengruppe von Hauer - Sympathisanten, die davon träumten, dass der erwachende Rassegedanke und die rassische Erneuerung auch in Norwegen zu einem neuen Glauben im Einklang mit dem altnordischen Geist führen werden.

5.

Die Bedeutung der altnordischen Religion

In einem Brief Tveits an Hauer berichtete der Komponist, dass die Universitätsprofessoren in Norwegen die Ludendorff - Bewegung belächelten, während Hauers Ideen ernsthafter wahrgenommen würden, von Sympathisanten, wie von Gegnern.58 Die fachliche Legitimation, die er als etablierter Religionsforscher dem Neuheidentum geben konnte, war für die norwegischen Hagalsmänner von großer Bedeutung. Denn sie selbst konnten nicht mit Autoren aufwarten, die gewichtige akademische Beiträge für die neuheidnische Ideologie liefern konnten. Gleichwohl war das nor wegische Neuheidentum nicht ohne Originalität. Dies war vor allem einem Mann zu verdanken, der selbst nicht zum Kreis der Hagalsmänner gehörte, bei ihnen aber dennoch den Status eines Propheten besaß : Erling Winsnes (1893–1935). Ein eigenwilliger Autor, politischer Denker, Rabulist und Projektemacher, der in der Zwischenkriegszeit großes Aufsehen erregte. Die Hagalsmänner wiesen wie ihre deutschen Vorbilder immer wieder darauf hin, dass der angestrebte neue „arteigene“ Glaube kein Wiederauf leben der altnordischen Religion in ihrer ursprünglichen Form sei. Man wollte vielmehr die altnordische Weisheit mit den modernen biologischen Einsichten ver58 Tveit an Hauer vom 12. 7. 1937 ( ebd., N1131, 65, Bl. 131–133).

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schmelzen und damit eine „Wirklichkeitsreligion“ schaffen, im Einklang mit der Wissenschaft und dem modernen Lebensgefühl der Menschen. Die Verehrung des Altnordischen drehte sich also um eine Auslegung der alten Mythologien, die von Gegnern als ahistorisch und als Resultat politischen Wunschdenkens bewertet werden konnte. Um diesem Vorwurf zu begegnen, betonte man, dass die altnordische mythopoetische Sprache Ausdruck für die gleichen „ewigen Lebensgesetze“ sei, wie sie die moderne Forschung in ihren wissenschaftlichen Termini formuliere. Es handelte sich in der Auffassung der Hagalsmänner folglich eher um eine Enthüllung der „eigentlichen“ Bedeutung der Mythologie als darum, sie nach eigenem Gutdünken mit einer neuen zu füllen. In diesem Projekt kamen die Vorstellungen von Erling Winsnes zum Tragen. In seinen Werken übertrug Winsnes die darwinistische Evolutionslehre in einen nationalen Gründungsmythos. In den Büchern „Til en ukjent gud“ ( Zu einem unbekannten Gott, 1919) und „Den neste stat“ ( Der nächste Staat, 1925) verkündete er ein neues Evangelium für den nordischen Menschen, das er das „Gesetz der Lebensgefahr“ nannte : Wenn uns die Umgebung einer tödlichen Gefahr aussetze, zwinge diese uns, unseren normalen Zustand aufzugeben und unsere innewohnenden Talente zu nutzen und zu verfeinern. Wenn der Mensch andauernd kärglichen und bedrohlichen Lebensverhältnissen ausgesetzt sei, könne er sich selbst zu neuen Höhen erheben. Aus diesem Grundgedanken leitete Winsnes ab, wie das „Gesetz der Lebensgefahr“ die unterschiedlichen Menschenrassen geformt habe. In der Urzeit, als die Eisgletscher sich ausweiteten, sei die Menschenhorde vor die Wahl gestellt gewesen : Einige beschlossen, nach Süden zu ziehen, um nach besseren Lebensbedingungen zu suchen; andere entschieden sich, dort zu bleiben, wo sie waren. Aus ersteren entwickelten sich die Afrikaner und Asiaten. Der Vorfahr der nordischen Menschen hingegen, den Winsnes als Odin identifiziert, wählte, „nach Norden zu gehen und gegen die Feinde, die das Leben und die Welt bedrohen, zu kämpfen“.59 Indem Odin diese Wahl traf, setzte er sich und seine Nachkommen der größten Gefahr aus. Damit wurden die nordischen Menschen größer, stärker und klüger als alle anderen Rassen, weil „die, die mit der größten Gefahr leben, sich und ihre Rasse für den Herrscherstab der Zukunft emporziehen“.60 Vor dem Hintergrund dieser Entstehungsmythen sei die altnordische Religion die wahrste und ursprünglichste. Da die Nordbewohner im Pakt mit den Gesetzen des Lebens und der Entwicklung leben, und damit zu den klügsten aller Völker geworden seien, hätten sie auch am unverfälschtesten die biologische Lebensweisheit in ihren Mythen und in ihrem strengen Moralgefühl bewahrt : „Unser ganzes waches Rechtsempfinden, unsere nordische Witterung von Gutem und Schlechten, unsere genauen Menschenbeurteilungen, wird alles durch unsere fortdauernde naturgegebene Teufelei gefördert.“61 59 Den neste stat, Oslo 1925, S. 16. 60 Ebd., S. 48. 61 Ebd., S. 62.

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Im Ragnarok - Kreis war es Tore Strand, der als bester Winsnes - Kenner galt. Artikel um Artikel entwickelte er die Gedanken des Propheten und interpretierte diese innerhalb des neuheidnischen Rahmens. Im Mittelpunkt stand, dass Winsnes’ biologische Lebensanschauung der altnordischen Religion eine neue Legitimität und Aktualität gab : „Für Winsnes ist Darwin der Wiederentdecker der Prinzipien der Edda - Dichtung, er hat in der Wissenschaft umgesetzt, was die altnordische Kultur annahm.“62 Die Übernahme der Lehre Winsnes’ in das Gedankengut der Hagalsmänner gab sowohl deren Neuheidentum als auch ihrem Nationalsozialismus eine eigentümliche chauvinistische Form. Denn nach Winsnes erklärte das „Gesetz der Lebensgefahr“ nicht nur die Unterschiede zwischen den Rassen; es wirke auch innerhalb der einzelnen Rassen. Er etablierte damit eine Hierarchie innerhalb der nordisch-germanischen Rassen, wobei die Norweger – wenig überraschend – den unangefochtenen Höhepunkt der Evolution repräsentieren. Da die Lebensbedingungen in Norwegen zu den gefährlichsten der Welt zählten, seien die Norweger gezwungen worden, ihre Rassequalitäten in größerem Maße zu veredeln und zu verfeinern als irgendein anderer Stamm innerhalb der nordisch- germanischen Rassengemeinschaft. Andere, wie die Deutschen, seien degeneriert. Da sie in einer fruchtbaren und leicht bebaubaren, aber doch bedauerlich äußerst monotonen Landschaft lebten, hätten sie sich zu rigiden Bürokraten und einfältigen Materialisten entwickelt. Vor diesem Hintergrund konnten die norwegischen Hagalsmänner betonen, dass sie, die Repräsentanten des edelsten Stammes innerhalb der nordisch - germanischen Rassengemeinschaft, von Natur aus am besten geeignet seien, die religiöse Urweisheit zu begreifen. In ihren Augen stammten sie in ungebrochener Tradition von Odin selbst und „den höchsten Ahnen“ in der altnordischen Vorzeit ab, die die innere Wahrheit hinter den Mythen erkannt hatten. Diese chauvinistische Auffassung wurde mit dem religiösen Elitismus kombiniert, der der essentiellen Religionsauffassung natürlicher weise folgte : Die Essenz der Religion sei die „Uroffenbarung“, die durch den Lauf der Zeiten kulturbestimmte, äußere Formen angenommen habe. Nur die rassenmäßig Herausragenden, die veranlagt seien, „des Blutes Stimme zu lauschen“, seien im Stande, die sublime Weisheit unter den abgelagerten kulturellen Schlacken zu enthüllen. Diese elitäre Mystik trat bei den Hagalsmännern umso deutlicher in den Vordergrund, je länger die neuheidnische Erweckung auf sich warten ließ. Bis 1936 war der Ton optimistisch : Der Rassegedanke stehe vor seinem Durchbruch im Volk und bald werde der „arteigene“ Glaube jedermanns sein. Zunehmend machte sich Resignation breit und der Gedanke einer völkischen neuheidnischen Reformation wurde sukzessive aufgegeben. Stattdessen begann man, sich mehr als eine eingeweihte Elite zu betrachten, als Träger eines rassischen Religionsgeheimnisses. 62 Tore Strand, „Vår vei heter Nordveien, Norge“. En bok om Erling Winsnes, Oslo 1945, S. 66 f.

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Dies veränderte sich auch während des Krieges nicht. In den Augen der Hagalsmänner hatten weder die Vielzahl der NS - Mitglieder noch die deutschen Besatzungsbehörden den religiösen Geist als das verstehen können, wofür der Nationalsozialismus der politische Ausdruck sei. Sie verteidigten, was Tore Strand „die materialistische Richtung im Nazismus“63 nannte. Man versuchte die Entwicklung zu beeinflussen, besonders durch verschiedene kulturelle Initiativen, gleichwohl glaubten die Hagalsmänner nicht mehr daran, dass das Neuheidentum die Massen begeistern könnte. Man war vielmehr davon überzeugt, zu den wenigen Eingeweihten zu gehören.

63 Tor Strands Erklärung zu diversen Artikeln in Ragnarok ( Riksarkivet Oslo, L - sak Strand).

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Der Chiemsee - Goldkessel – ein völkisch - religiöses Kultobjekt aus der NS - Zeit ? The State of the Affairs Ulrich Linse

Am 21. Dezember 2001wurde in der Archäologischen Staatssammlung, Museum für Ur - und Frühgeschichte in München – Leitender Direktor war damals Professor Dr. Ludwig Wamser – ein großer „Goldkessel“ mit keltischen Motiven eingeliefert,1 der im Frühjahr 20012 angeblich im Chiemsee gefunden worden war.3 Die breite Öffentlichkeit erfuhr erstmals über die Nachrichten - Agenturen am 6. August 2002 von dem Fund.4 Einen Tag später wurden exklusiv von der Redaktion „Wissenschaft / Umwelt“ des Bayerischen Rundfunks im ARD- Wissenschaftsmagazin „Globus“ die ersten Bilder des Kessels veröffentlicht und kommentiert. „Doch bereits vor der Ausstrahlung des Beitrags“, so meldete nochmals zwei Tage später die „Süddeutsche Zeitung“, „erhielt Professor Wamser Redeverbot. Man habe ihn ‚gebeten‘, auf weitere Auskünfte zu verzichten, solange die Besitzverhältnisse nicht geklärt seien, sagt der Sprecher des bayerischen Finanzministeriums.“5 Aufgrund dieses Eingriffs des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen unterblieb bis heute eine wissenschaftliche Publikation des Gewässer - Neufunds. Die Ergebnisse der vom bayerischen Staat 1

2

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Vorlagetermin von Ludwig Wamser – unter Verweis auf den vorhandenen Einlieferungsbeleg – mündlich bestätigt am 17. 4. 2010. Vgl. ferner Michael Seewald, Das Geheimnis um den Nazi - Gral. In : P. M. History Special 2 : „Im Reich der Kelten und Germanen“, 2009, S. 100–107, hier 100; Thomas Claus, Gundestrup - Kessel gefälscht ? In : Archäologie in Deutschland von Nov./ Dez. 2007, S. 34–36, hier 34. Heiner Effern, Wie aus Hitlers Nachttopf der Heilige Gral wurde. In : Süddeutsche Zeitung vom 18. 4. 2007, S. 33, berichtet fälschlicherweise vom Fund im September 2001; ebenfalls falsch : Seewald, Das Geheimnis, S. 100, nachdem der Fund im August 2001 gemacht worden sei. Vorausgegangen waren monatelange behutsame Recherchen seitens der Archäologischen Staatssammlung, die schließlich zum Nachweis der tatsächlichen, zuvor nur gerüchteweise bekannten Existenz des Fundobjekts führten. Das Gerücht, vor der Einlieferung sei versucht worden, den Topf im Ausland zu verkaufen, nur bei Sven Röbel, Hitlers Nachttopf. In : Der Spiegel vom 12. 8. 2002, S. 73. Sven Röbel, Gral aus dem Chiemsee. In : Der Spiegel vom 23. 4. 2007, S. 60–62, hier 62. Monika Maier - Albang, Das Rätsel des goldenen Kessels. In : Süddeutsche Zeitung vom 9. 8. 2002, S. 38.

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im Zusammenhang mit dem Kessel angeforderten beiden Hauptgutachten – erstellt vom Institut für Zeitgeschichte München - Berlin und der Archäologischen Staatssammlung in München6 – wurden und werden bis jetzt Journalisten wie Wissenschaftlern vorenthalten. Allen amtlich Beteiligten wurde darüber hinaus vom bayerischen Staat ein bis heute geltendes Schweigegebot der Öffentlichkeit gegenüber auferlegt.7 Das bayerische Finanzministerium, das die Angelegenheit vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst ( als dem der Archäologischen Staatssammlung vorgesetzten Fachressort ) zur Feststellung der Herkunft und Eigentumsrechte an dem Kessel an sich gezogen hatte, ging zunächst davon aus, dass dieser mit einem geschätzten Materialwert von 100 000 Euro aus den späten 1930er Jahren stammte.8 Als ihm aber das anders lautende Urteil des Instituts für Zeitgeschichte vorlag, behandelte das Finanzministerium das Fundstück wie eine heiße Kartoffel und verkaufte es 2003 eigenverantwortlich an den Münchner Juristen Herbert S. für 160 000 EUR mit der Auf lage, „Veröffentlichungen bzw. Ver wendungen des Goldkessels zu unterlassen, die den Goldkessel als Gegenstand des NS - Vermögens darstellen, Bezüge zum NS Regime und NS - Organisationen oder [ zu ] führenden Personen des NS - Regimes oder von NS - Organisationen herstellen oder in reißerischer und unsachlicher Form erfolgen“.9 Eine Begründung des Ministeriums für diese überstürzte Abstoßung eines zeitgeschichtlich bedeutsamen Gegenstandes10 an einen Privatmann und des damit wohl eingeleiteten und durch den weiteren Verkauf des Objekts im Frühjahr 2005 in die Schweiz beschleunigten endgültigen Verlustes für die Öffentlichkeit wurde bisher ebenfalls nicht publiziert. Spekuliert wurde, dass diese vielleicht sogar gegen geltendes Recht gerichtete Verkaufsentscheidung des Freistaates Bayern mit der fragwürdigen Provenienz des Kessels zu tun haben könnte11 und der bayerische Staat – ebenso wie der Finder – wenigstens den jeweiligen fünfzigprozentigen Eigentumsanteil realisieren wollte. Hätte man den zeitgeschichtlichen bzw. „kunsthistorischen Wert“ nicht kategorisch verneint,12 hätte das wohl zum Ankauf des Kessels durch den

6 Unter Federführung der Archäologischen Staatssammlung wurde auch eine naturwissenschaftlich - technische Untersuchung des Fundobjekts in Verbindung mit der TU München ( Lehrstuhl für Allgemeine, Angewandte und Ingenieurgeologie ) durchgeführt und weitere Experten, u. a. des Bayerischen Landeskriminalamtes, zur technischen Begutachtung beigezogen. 7 Das „Veröffentlichungs - und Informationsverbot“ sei drei Wochen nach Wamsers Würzburger Vortrag vom 1. 2. 2002 verhängt und „am 6. 8. 2002 erneuert und auf alle Mitarbeiter der damit befassten Ministerien, einschließlich der Bodendenkmalpflege ausgedehnt“ worden und „bis heute gültig“. So Claus, Gundestrup - Kessel, S. 35. 8 Ebd., S. 36. 9 Zit. ebd. 10 Ebd., Claus spricht von einem „wertvollen zeitgeschichtlichen Objekt“. 11 Ebd. 12 Seewald, Geheimnis, S. 102 ( Äußerung des Pressesprechers Horst Wolf im Bayerischen Finanzministerium ).

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Staat geführt. Zuvor hatte Ludwig Wamser bereits mit dem Deutschen Historischen Museum und der Kulturstiftung der Länder in Berlin Kontakt wegen einer eventuellen Übernahme dieses zeitgeschichtlich bedeutsamen Zeugnisses als museales Anschauungsobjekt aufgenommen.13 Vielleicht wollte sich aber das Bayerische Finanzministerium auch eine potentiell sperrige NS - Devotionalie vom Hals schaffen ( nach dem Verkauf an einen „seriösen Privatmann“14 meinte das Finanzministerium : „Ein Missbrauch durch rechtsgerichtete Gruppen sei deshalb ausgeschlossen“),15 auch wenn man – zum eigenen finanziellen Schaden – die NS - Herkunft des Stücks unter Berufung auf das Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte in Abrede stellte.16 Relevant bleibt auf jeden Fall die an den Freistaat Bayern gestellte Frage : „Wer hatte einen Vorteil davon, das Stück zu ‚entnazifizieren‘ ?“17 Denn in der ersten Presseveröffentlichung des Fundes hieß es noch eindeutig : „Die Entstehungszeit des Kessels wird auf die Jahre 1933 bis 1945 geschätzt.“18 Bis heute kam es in den Medien, die sich immer wieder der Sache annahmen, zu keinem Konsens über Herkunft und Bedeutung des Stücks. Auch das Possenstück des neuen Schweizer ( Teil - ) Eigentümers Martin K. und seiner Morgan - Stanwick AG ( Rapperswil - Jona ),19 den Kessel potentiellen Investoren als das zweitausend Jahre alte Original des Heiligen Grals und damit als „das wohl bedeutendste kunsthistorische Fundobjekt des Abendlandes und der ganzen westlichen Hemisphäre“ zu Spekulationszwecken anzudrehen,20 hat bisher nicht weiter zur Klärung der Sache selbst beigetragen.21 Vielmehr machen weiter diverse Interpretationen des Kessels die Runde. Im Folgenden sollen diese in den Medien bis heute zirkulierenden Positionen beschrieben und bewertet werden. Eigene archivalische Recherchen waren nicht angestrebt. Es geht vielmehr um eine kritische Diskussion der bisher publizierten Auffassungen.

13 Eine entsprechende Auskunft wurde von Ludwig Wamser am 17. 4. 2010 mündlich bestätigt. 14 Heff [ Heinrich Effern ], Privatmann kauft Chiemsee - Goldkessel. In : Süddeutsche Zeitung vom 14./15. 6. 2003, S. 56. 15 Zit. nach ebd. 16 Es sei kein „Nazigold“, so Horst Wolf, der Pressesprecher des Bayerischen Finanzministeriums, Seewald, Geheimnis, S. 102; Heiner Effern, Kessel doch kein Nazigold. In: Süddeutsche Zeitung vom 24. 1. 2003, S. 45. 17 Seewald, Geheimnis, S. 107. 18 Rätselhafter Goldfund. In : Süddeutsche Zeitung vom 2. 8. 2002, S. 48. 19 Vgl. http ://www.moneyhouse.ch / u / pub / morgan_stanwick_ag_CH - 320.3.057.559–6. htm (19. 12. 2009). 20 So der Umschlag des vierseitigen Prospekts von K., abgebildet bei Luc Bürglin, Bayerns „Gral“ in Zürich beschlagnahmt. In : mysteries von Mai / Juni 2007, S. 10–12, hier 11. 21 Über die Schweizer Vorgänge um den Kessel informiert Bürglin, Bayerns „Gral“; Luc Bürglin, Das Geheimnis um den Nazi - Gral. In : mysteries von März / April 2009, S. 100– 107; Lorenzo Petrò, Drei Jahre Haft für Goldkessel - Betrüger. In : Tagesanzeiger Zürich vom 16. 3. 2011 ( online - Ausgabe ). Nach Petrò ruht der Kessel weiterhin in einem Safe der Zürcher Kantonalbank und soll erst, wenn das genannte Urteil vom März 2011 Rechtskraft erlang hat, zur Verwertung durch das Konkursamt freigegeben werden.

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1.

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Fundort - Vertuschung durch die Finder ?

Im Mai 2007 veröffentlichte der Journalist Werner Friedenberger, Gründungsvorsitzender und damaliger Leiter des Museumsvereins Künzing22 ( identisch mit dem früheren Römerort Quintana in Niederbayern in der Nähe von Passau), im „Spiegel“ einen Leserbrief „Der zentrale Schlüssel“.23 Darin wurde eine Parallele gezogen zwischen der Fundgeschichte des Kessels und einem 1998 von der damaligen Prähistorischen Staatssammlung in München erworbenen römischen Schatzfund.24 Damals war von den Findern bzw. vom Endverkäufer, dem Kunsthändler Thorsten Krauss – identisch mit dem späteren Einlieferer auch des Kessels –, bewusst ein falscher Fundort angegeben worden : nämlich Staatswald in der Nähe von Passau – anstatt, wie später von der Archäologischen Staatssammlung und der Kreisarchäologie Deggendorf ermittelt, Grund und Boden im Besitz der Gemeinde Künzing. Ursache der Fundortfälschung sei es gewesen, auf diese Weise den Staat von Anfang an zum Miteigentümer des Schatzfundes zu machen und damit das Verkaufsgeschäft zu erleichtern. Im Falle des Goldkessels sei die gleiche unzutreffende Angabe des Fundorts zu befürchten : wieder sei der bayerische Staat zum Miteigentümer gemacht und so ein „dubioses Schatzgeschäft“ eingefädelt worden. Die zweifelsfreie Ermittlung des Fundorts sei deshalb „der zentrale Schlüssel“ in dieser Angelegenheit. Tatsache ist, dass sich die exakte Fundstelle im Chiemsee – „einen Steinwurf entfernt vom Badestrand Ising bei Seebruck“ im morastigen Grund 200 m vom Ufer entfernt in 11 m Tiefe25 – bis heute nicht eindeutig verifizieren ließ. Von den technischen Gutachtern der Staatssammlung wurden „Sedimentproben des 22 Werner Friedenberger, Archäologisches Museum Quintana in Künzing eröffnet. In : PNP [ Passauer Neue Presse ] - Online vom 20. 7. 2001 ( http ://www.pnp.de / news / boulevard / kultur / kuenzing / main.htm; 20. 12. 2009). 23 Werner Friedenberger, Der zentrale Schlüssel. In : Der Spiegel vom 7. 5. 2007, S. 14. Dazu Werner Friedenberger, Dunkle Kanäle ( Online - Leserbrief ) vom 1. 9. 2006 in der Passauer Neuen Presse ( http ://www.pnp.de / forum /). 24 Prähistorische ( seit 2000 : Archäologische ) Staatssammlung E - Nr. 1998, 47; erstmals ausgestellt in der bayerischen Landesausstellung 2000 in Rosenheim und teilveröffentlicht in Ludwig Wamser ( Hg.), Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Zivilisatorisches Erbe einer europäischen Militärmacht. Katalog - Handbuch zur Landesausstellung des Freistaates Bayern [ in ] Rosenheim 2000, Mainz, S. 349 f. Siehe auch Teilabbildung des aus Bronze - , Eisen - und Keramikobjekten bestehenden Hortfundes bei [ Ludwig Wamser ], „Dem öffentlichen Interesse verpflichtet“. Inter view mit Professor Ludwig Wamser, Direktor der Archäologischen Staatssammlung, München. In : Bayerische Archäologie, 1/2008, S. 75–80, hier 76. Ebd., S. 76 f. auch detaillierte Darstellung der nachträglichen Ermittlung von tatsächlicher Fundstelle und Fundsituation. Die monographische Darstellung des Fundes, dessen vollständige Erstpräsentation mit Darstellung seiner kultur - und landesgeschichtlichen Bedeutung am 6. 10. 2006 im Museum Quintana, seinem derzeitigen Verwahrort, erfolgte, hat Bernd Steidl ( Archäologische Staatssammlung ) übernommen. 25 Maier - Albang, Rätsel, S. 38; Seewald, Geheimnis, S. 106. Bei Röbel, Gral, S. 60, heißt es „unweit eines Badestrandes bei Arlaching“.

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fast vollständig gereinigt eingelieferten Objektes mit Proben von der vermuteten Fundstelle und aus anderen bayerischen Gewässern verglichen, ohne eindeutige Ergebnisse zu erzielen“.26 Dagegen ist in dem von Professor Rupert Gebhard verfassten ( technischen ) Gutachten der Archäologischen Staatssammlung vom 6. August 2002, das auch einen Laborbericht der TU München zitiert und mittlerweile bereits mehreren Redaktionen vorzuliegen scheint,27 davon die Rede, dass eine sekundäre Auftragung des am Kessel fest anhaftenden Bodensediments ausgeschlossen werden kann. Als Presseinformation findet sich wiederum der Hinweis : „Zwei separate Tauchgänge blieben ohne Erfolg, auch, weil der vom Finder an der Fundstelle zurückgelassene Unterwasserdetektor nicht gefunden werden konnte.“28 Die genaue Beschreibung des Aufspürens und der Bergung des Kessels durch den Finder - Taucher Stefan L. („Lui“) und Jens Essig29, einem professionellen Schatzsucher,30 sowie deren Hinweis, beim Ortstermin der amtlichen Nachuntersuchung „war ein vom Landesamt gestellter Forschungstaucher, der seinen Tauchschein erst zwei Wochen zuvor gemacht hatte, nicht in der Lage, an den Fundort zu tauchen“,31 könnten Schutzbehauptungen der Betreffenden sein. Kursierenden, unbestätigten Gerüchten zufolge soll allerdings das Angebot des Finders an das Landesamt für Denkmalpflege, bei dem im Sommer 2002 – lange Zeit also nach Bergung des Kessels im Frühjahr 2001 – erfolgten Tauchgang zur leichteren Auffindung der Fundstelle noch einen versierten zweiten Taucher kostenlos bereit zu stellen, nicht wahrgenommen worden sein. Das TU - Gutachten kam jedenfalls zum zusammenfassenden Urteil, „dass keine Abweichungen zu den Aussagen des Finders zu erkennen sind, der angab, dass der Kessel im Seesediment des Chiemsees in elf Meter Wassertiefe lag“.32 Zunächst jedoch zweifelte das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege aus nachvollziehbaren Gründen,33 ob der Kessel überhaupt aus einem Gewässer oder aus Bayern stammte oder nicht wegen der rechtlichen Stellung des Schatzfinders im bayerischen Recht aus einem anderen Bundesland eingeführt worden war. Denn in Bayern gilt § 984 BGB ohne Einschränkung durch das Denkmalschutzgesetz; andere Bundesländer nützen dagegen Denkmalschutzgesetze zur Beschränkung des Schatzregals nach § 984 BGB und regeln die Eigentumsverhältnisse anders. So fallen in der Mehrzahl der Bundesländer Schatzfunde an das jeweilige Land.34 In Bayern dagegen gilt § 984 BGB : Wird ein Schatz ent26 27 28 29 30

Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Vgl. etwa Seewald, Geheimnis, S. 106 f. Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Seewald, Geheimnis, S. 106. Als solcher wurde er in der Fernsehdokumentation von Willy Brunner / Gerhard Wisnewski, Wie ein Sechser im Lotto – Schatzsuche in Deutschland ( AV - Film GmbH ), vorgeführt. 31 Seewald, Geheimnis, S. 107. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Arnd Koch, Schatzsuche, Archäologie und Strafrecht – strafrechtliche Aspekte sogenannter „Raubgräberei“. In : Neue Juristische Wochenschrift, 9 (2006), S. 557–560.

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deckt und dadurch in Besitz genommen, „so wird das Eigentum zur Hälfte von dem Entdecker, zur Hälfte von dem Eigentümer der Sache erworben, in welcher der Schatz verborgen war“.35 Wäre es allerdings Nazi - Gold, dann gehörte dieses nach alliiertem Recht zum NS - Sondervermögen und der bayerische Staat wäre der alleinige Eigentümer der Fundsache;36 dem Finder stünde lediglich ein einprozentiger Finderlohn zu. Interessanter Weise taucht im „P. M. History“ - Bericht über den Kessel, in welchen auch die Informationen von Jens Essig einflossen,37 erstmals der Hinweis auf Karl - Maria Wiligut, genannt Weisthor, den reißerisch sogenannten Rasputin Himmlers, und sein auf den Chiemsee bezogener angeblicher Gralshinweis in der Fassung von Hans - Jürgen Lange (1998) auf.38 Als mögliche literarische Anregung für eine Gewässer - Deponierung durch den Finder selbst könnte auch eine wissenschaftliche Publikation von 1972 gedient haben.39 Vielleicht wurde aber vom Finder einfach nur die Sage von König Artus und seinem Schwert Excalibur herangezogen : Auch dieses wurde nach der tödlichen Ver wundung des Helden wieder in den See zurückgeworfen, aus dem es einst stammte.40 Nach diesem Modell ging dann auch Russell Mc Cloud ( Pseudonym ) in seinem Politthriller „Die Schwarze Sonne von Tashi Lhunpo“ (1991) vor : Die angeblich in Himmlers Besitz befindliche Kopie der Heiligen Lanze wird am Schluss in einem See versenkt. Nicht auszuschließen also, dass wir uns mit dem Fundort des Kessel aus dem Chiemsee tatsächlich im Bereich der phantastischen Literatur befinden und dass erst Jens Essig – mit oder ohne Kenntnis der Mund Zitate, aber jedenfalls in Kenntnis der Artus - Sage bzw. ihrer Derivate – auf den Chiemsee als plausibelsten Fundort des Kessels verfiel. Die „Okkultisierung“ des Nationalsozialismus, auch im zitierten „P. M. History“ - Artikel, wird uns wei35 „Wer etwa in Bayern einen Goldschatz entdeckt, erlangt das hälftige Miteigentum; gelingt der Fund in Mecklenburg - Vorpommern, hat sich der Entdecker mit einer Fundprämie in Gestalt eines Sachbuchs zu begnügen.“ Koch, Schatzsuche, S. 560, Anm. 41. 36 Verordnung über Einziehung, Verwaltung und Verwertung von Vermögen und Vermögenswerten nach dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus ( Einziehungsverordnung ) vom 23. 11. 1948; Durchführungsbestimmungen zu dieser Verordnung vom 23. 12. 1950. 37 Der Name von Jens Essig tauchte auch im Zusammenhang mit dem sogenannten Chiemgau Impact Event auf ( vgl. http ://de.wikipedia.org / wiki / Chiemgau - Komet, 2. 1. 2010): siehe den Terra X - Film von Sven Hartung / Jens Essig / Guido Weihermüller, Der Chiemgau - Komet. Stunde Null im Keltenreich; gesendet vom ZDF am 8. 1. 2006 ( http :// de.wikipedia.org / wiki / Terra_X, 2. 1. 2010). Die bayerische Bodendenkmalpflege konnte sich bisher mit der Meteoritentheorie des „Chiemgau Impact Research Team“ nicht anfreunden. Vgl. Markus Tremmel, Einschlagende Hinweise. In : Bayerische Archäologie, 3/4 (2008), S. 40. 38 Seewald, Geheimnis, S. 106. Vgl. dazu Hans - Jürgen Lange, Weisthor. Karl - Maria Wiligut. Himmlers Rasputin und seine Erben, Engerda 1998, S. 72. 39 1972 publizierte Walter Torbrügge sein Werk „Vor - und frühgeschichtliche Flussfunde: zur Ordnung und Bestimmung einer Denkmälergruppe“. 40 Daniela Siepe, Wewelsburg und „Okkultismus“. In : Juliane Kerzel ( Hg.), Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur in Ostwestfalen - Lippe, Büren 2002, S. 276–290, hier 287.

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ter unten beschäftigen. Andererseits wäre aber auch denkbar, dass schon eine tatsächliche ursprüngliche Versenkung des Kessels im Chiemsee durch die Artussage motiviert gewesen war.

2.

Die gutachterlich - technische Interpretation : Keltisch ? Nationalsozialistisch ?

Vermutlich gingen die Einlieferer des Fundes davon aus oder versuchten dies zumindest zu suggerieren, dass es sich um ein keltisches Original von einmaliger historischer Bedeutung und somit auch von immensem materiellem Wert handelte. Die nachfolgenden staatlichen Untersuchungen waren dann ernüchternd und reduzierten das Objekt – so weit bisher bekannt geworden – auf seinen Materialwert : „Die ersten Untersuchungen [ im technischen Gutachten der Archäologischen Staatssammlung ] ergaben, dass es sich weder um ein keltisches noch um ein sonderlich altes Objekt handelte. Analysen der TU München und des Bayerischen Landeskriminalamtes [ genauer gesagt : die naturwissenschaftlich - technischen Untersuchungen der Staatssammlung und der von dieser beigezogenen Experten ] bestätigten später, dass der aus zehn Einzelteilen montierte Kessel aus industriell gefertigtem 17 Karat - Goldblech besteht. Auch waren die Bildplatten nicht wie ursprünglich geplant vernietet, sondern [ mit Industrielot ] verlötet und die zahlreichen Punzen und Gravuren des Bildprogramms mit Stahlwerkzeugen angebracht worden.“41 Einer „vorläufigen Einschätzung des Goldkessels aus dem Chiemsee“, die als Pressemitteilung der Archäologischen Staatssammlung in Stellungnahme zur ARD - Sendung „Globus“ am 7. August 2002 abgefasst worden war, ist ferner zu entnehmen, dass der Goldkessel „hinsichtlich seiner Abmessungen bzw. Proportionen ursprünglich etwas anders konzipiert gewesen zu sein [ scheint ], da eine Reihe einschlägiger Merkmale erkennen lassen, dass der Kessel im Zuge der Herstellung seines heutigen Fertigungszustands von anderer Hand partiell geringfügig umgearbeitet wurde“.42 Das Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, „das insbesondere die Verfügbarkeit des Materials [ aufgrund der Devisenbewirtschaftung ]43 sowie die Verbindung zur NS - Ideologie betraf, gelangte zu dem Ergebnis, dass der Goldkessel Personen oder Organisationen des NS - Regimes nicht zugeordnet werden kann“.44 Das Bayerische Finanzministerium erklärte deshalb 2003 : „Es bleibt völlig rätselhaft, wo und für wen er [ der Kessel ] hergestellt wurde.“45 41 Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. 42 Mündliche Auskunft von Ludwig Wamser am 17. 4. 2010. 43 Details dieses Aspekts des Gutachtens bei Thomas Claus / Thomas Hauer, Der Goldkessel aus dem Chiemsee – ein archäologischer Kriminalfall. In : Ulf F. Ickerodt / Fred Mahler ( Hg.), Archäologie und völkische Ideologie : Zum Umgang mit dem eigenen Erbe. Ein Beitrag zur selbstreflexiven Archäologie, Frankfurt a. M. 2010, S. 173–210, hier. 186–188. 44 Claus, Gundestrup - Kessel, S. 36. 45 Effern, Kessel. S. 45.

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In der Presse tauchten inzwischen zwei Versionen auf, beide gestützt auf die gleiche Informationsbasis. Eine gab den Hinweis auf die Entstehung des Kessels vor der sogenannten NS - Machtergreifung 1933. So schrieb die Staatsanwaltschaft München : „Die durchgeführten Ermittlungen ergaben, dass der Goldkessel ca. 1925 von der Münchner Goldschmiedefirma ‚Theodor Heiden‘ hergestellt“ wurde.46 Eine andere Deutung aber weist auf die NS - Zeit : „Im Gespräch [...] bestätigt der Münchner Traditionsjuwelier Max Heiden : Sein Vater Albrecht Heiden hat von einem früheren Mitarbeiter, dem Goldschmied Alfred Notz, [ vor dessen Tod in den sechziger Jahren ]47 gehört, dass in der Firma zwischen 1935 und 1939 ein figural verzierter Goldkessel von etwa zehn Kilogramm Gewicht angefertigt wurde. Auftraggeber waren die Elektrochemischen Werke München, deren Chef [ Albert Pietzsch ]48 direkten Kontakt zum Kreis um Hitler hatte.“49 „Der Spiegel“ korrigierte dann die Zeitaussage in „zwischen 1925 und 1939“.50 Ludwig Wamser will damals auf weiteres Nachfragen bei der gleichen Quelle – es ist schließlich die einzige reale mündliche Überlieferungsspur des Kessels überhaupt – einen Entstehungszeitraum zwischen 1925 und 1933 als am wahrscheinlichsten in Erfahrung gebracht haben.51 Der Ingenieur Pietzsch, so recherchierte „Der Spiegel“ weiter, pflegte seit 1920 „persönliche Kontakte zu Adolf Hitler und bedachte ihn mit großzügigen Spenden. Pietzschs Investitionen zahlten sich aus : Der Industrielle, der 1927 in die NSDAP eintrat, avancierte später zum Wehrwirtschaftsführer und wurde sogar Präsident der Reichswirtschaftskammer. Nach Kriegsende wurde Pietzsch von den Alliierten verhaftet. Und sollte er tatsächlich etwas über den Kessel oder seinen Verbleib gewusst haben, so hat er es mit ins Grab genommen – er starb 1957.“52 Als zusätzliches Indiz war von Ludwig Wamser bereits 2002 der Hinweis auf die Darstellung eines spätkeltischen Knollenknaufschwerts, das in einem Exemplar auch als Chiemsee - Gewässerfund bezeugt sei,53 auf dem Kessel in die Dis46 47 48 49 50 51 52

Zit. bei Claus, Gundestrup - Kessel, S. 36. Röbel, Gral, S. 62. Ebd. Seewald, Geheimnis, S. 107. Röbel, Gral, S. 62. Mündliche Information von LudwigWamser am 17. 4. 2010 und 15. 6. 2011. Ebd. Details über Pietzschs Rolle gegenüber dem Nationalsozialismus bei Claus / Hauer, Der Goldkessel, S. 188–190. Claus und Hauer meinen, Mitte der 1920er Jahre sei Pietzsch noch gar nicht finanziell in der Lage gewesen, einen solchen Auftrag zu finanzieren; seine „hohe“ Zeit habe erst 1938 begonnen ( Emails an den Verfasser vom 15. 6. 2011). 53 Vgl. Werner Krämer, Ein Knollenknaufschwert aus dem Chiemsee. In : Joachim Werner ( Hg.), Aus Bayerns Frühzeit. Friedrich Wagner zum 75. Geburtstag, München 1962, S. 109–124. Dieses Schwert sei identisch mit der in Germania, 15 (1931), S. 151, als fundortlos erwähnten Waffe. Das Chiemsee - Knollenknaufschwert gilt bis heute als das am weitesten östlich gefundene : „Die Verbreitung der Knollenknaufschwerter reicht von der französischen Atlantikküste bis zum Chiemsee in Bayern“, so Moritz Paysan, Knollenknaufschwerter – die keltischen Rapiere. In Archäologie in Deutschland,

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kussion eingebracht worden : Die auf dem Kessel abgebildete Schwert - Variante sei erstmals 1925 wissenschaftlich publiziert worden.54

3.

Die archäologische Interpretation : Eine Fälschung ?

Eine von den deutschen Landesarchäologen herausgegebene Zeitschrift befasste sich mit dem Chiemsee - Kessel unter der Überschrift „Gundestrup - Kessel gefälscht ?“.55 Stand hier ein Fragezeichen, so war sich das Magazin „P. M. History“ sicher : „Hitler suchte nach der Machtergreifung nach einer höheren Legitimation und forcierte die Suche nach dem sagenhaften Heiligen Gral [...]. Der mysteriöse Gral entzog sich seinem Zugriff, nach ihm ließ er weltweit fahnden [...]. Wenn aber der echte Gral nicht aufzutreiben war, musste eben ein Fälschung her !“56 Die hier zum Ausdruck kommende „Okkultisierung“ des Nationalsozialismus wird weiter unten analysiert.

Jg. 2002, S. 66. Thomas Claus informierte den Verfasser ( Briefe vom 13. 6. und 14. 6. 2011), das Objekt habe sich im Heimatmuseum Traunstein befunden, sei dort aber nicht mehr aufzufinden. In Traunstein selbst sei es bis zu Krämers Publikation jedoch als mittelalterlich eingestuft worden. 54 Vgl. O. Richter / Martin Jahn, Eine neue keltische Schwertform aus Süddeutschland. In: Mannus, 17 (1925), S. 92–104, Tafel II; dies., Die keltischen Schwerter mit Knollenknauf. In : Mannus, 19 (1927), S. 266–270; dann erneut bei Walter Veeck / Peter Goeßler, Museum der Stadt Ulm. Verzeichnis der vor - und frühgeschichtlichen Altertümer, Ulm 1927, S. 28, Abb. S. 27; dann wieder Kurt Bittel, Die Kelten in Württemberg, Berlin 1934, S. 62 f. und Tafel 5. – Richter / Jahn, Neue keltische Schwertform, S. 95 f., berichten folgende Vorgeschichte ab 1919 : Als erster habe Julius Schwietering ( Prähistorische Zeitschrift, 10 (1919), S. 180 f. und Abb. 2b ) anhand eines französischen Funds die Knollenknaufschwerter als vorgeschichtlich erkannt. Der Stuttgarter Landeskonservator Peter Goeßler (3. Bericht des Museums Vaterländischer Altertümer in Stuttgart, 1920, S. 9 f.) habe dem heftig widersprochen und die Schwertform ins 15. bis 16. Jahrhundert n. Chr. gerückt : „Die schmale Klinge mit steildachförmigem Querschnitt und der Griff weisen den Typus eher in spätgotische oder Frührenaissancezeit.“ Major a. D. O. Richter habe dann auf dem Tübinger Anthropologenkongress 1923 Martin Jahn auf die drei süddeutschen Belegexemplare ( Eislingen an der Fils, Ulm und Neuburg / Bayern) hingewiesen. Auf der Münchner Versammlung des Vereins für historische Waffenkunde (1922) sei das Eislinger Schwert vorgelegt worden, ferner schriftliche und mündliche Anfragen unter Beifügung von Fotos an bekannte Waffenforscher ergangen mit dem Resultat, die Waffe könne nicht geschichtlichen sondern nur vorgeschichtlichen Alters sein. Ergebnis : die beiden genannten Arbeiten von Richter / Jahn. 55 Claus, Gundestrup - Kessel, S. 35 f. Vom Lehrstuhl für Ur - und Frühgeschichte der Universität Leipzig ( Leiterin Prof. Dr. Sabine Rieckhoff, ehemals Regensburg ) war für den 12. 6. 2002 ein Vortrag von Prof. Dr. Ludwig Wamser „Ein gefälschter Goldkessel aus dem Chiemsee“ angekündigt worden ( http ://www.uni - leipzig.de / veranst / m0602.htm; Cache 4. 3. 2010), der aber nicht stattfand. Thomas Claus war und ist freier Journalist, der 2004 für eine Fernsehdokumentation zum Thema „illegale Archäologie“ die Raubgräberproblematik exemplarisch an verschiedenen Beispielen, darunter dem Goldkessel, recherchierte. 56 Seewald, Geheimnis, S. 103 f.

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Dass im Zusammenhang mit dem Kesselfund von archäologischer Seite – der Begriff „Fälschung“ soll von Wamser 2002 in seinem Würzburger Vortrag über den Kessel erstmals ausgesprochen worden sein57 – ein Fälschungsverdacht angesprochen wurde, hing mit einschlägigen Vorkommnissen während der NSZeit zusammen : Im „Dritten Reich“ gab es eine ganze Anzahl frühgeschichtlicher Kunstfälschungen.58 Am bekanntesten wurde dabei die Adlerfibel – angeblich aus einem Torf in Königsberg bei Mährisch - Ostrau – der sogar ein kunsthistorischer Fachmann aus dem Umfeld des Amtes Rosenberg auf den Leim ging und das Stück als „eines der kostbarsten und herrlichsten Werke altgermanischer Goldschmiedekunst“ pries. Die Untersuchungen in und nach dem „Dritten Reich“ ergaben, dass die angebliche gotische Völker wanderungsfibel ca. 1936 nach dem Vorbild einer echten Adlerfibel im Besitz des Germanischen Nationalmuseums hergestellt worden war – zu Täuschungszwecken sollte die neue Fibel jedoch in die entgegengesetzte Richtung wie ihr Modell blicken. Auftraggeber der Fälschung war der Münchner Kunsthändler und Hochstapler Herbert Mar witz, geschaffen wurde das Stück von dem Münchner Goldschmied Ludwig Pirzl, der 1949 seine Fälschung ausdrücklich gegenüber dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege zugab. Nachdem nun erneut ein so dubioses Stück wie der Goldkessel in Bayern auftauchte, mussten bei den Archäologen in Erinnerung an den Münchner Kontext der Adlerfibel die Alarmglocken schrillen. Der Gedanke einer Fälschung auf Basis des originalen Gundestrup - Kessels lag nahe. Der war 1891 in einem jütländischen Torfmoor beim dänischen Gundestrup gefunden worden59 und befindet sich heute im Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen.60 Es gab parallele Bildmotive, der Chiemsee - Kessel war ebenfalls doppelwandig, er war wie der Gundestrup - Kessel vor der Gewässer - Deponierung absichtlich unbrauchbar – „rituell zerstört“ sagt man oft für diese intentionelle Beschädigung von Gegenständen im Kontext von Gräbern sowie von Opfer - und Kultstätten – gemacht worden ( hier : Durchstoßung des Kesselbodens mit einem spit57 Claus, Gundestrup - Kessel, S. 35. In Wirklichkeit hatte Wamser den Kessel in seinem Vortrag, in dem er erstmals auch die Frage eines möglichen Zusammenhangs besagten Kessels mit einer der vor 1933 entstandenen und im „Dritten Reich“ weiter agierenden Gruppierungen ( etwa dem Germanenorden oder den Ariosophen ) aufwarf, lediglich als eine „Neuschöpfung“ resp. „Nachempfindung“ bezeichnet, die sich hinsichtlich ihrer phänotypisch - inhaltlichen Gestaltung unverkennbar an der Grundkonzeption seines berühmten „Vorbilds“ aus Gundestrup orientierte ( mündliche Information von Ludwig Wamser am 17. 4. 2010). 58 Vgl. Adolf Rieth, Vorzeit gefälscht, Tübingen 1967, S. 117 ff.; Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, 3. Auf lage München 2001, S. 300 f. mit 441 f.; Almut Mehling, Der Piltdown - Mensch und andere Irrtümer. In : Abenteuer Archäologie, 3 (2005), S. 40–44. 59 Erstveröffentlichung : Sophus Müller, Det store sølvkar fra Gundestrup i Jylland. In : Nordiske Fortisminder, 1 (1890–1903), S. 35–68 und Tafeln VI–XIV. 60 Zum Gundestrup - Kessel vgl. Richard Pittioni, Wer hat wann und wo den Silberkessel von Gundestrup gefertigt ? Wien 1984; Rudolf Hachmann, Gundestrup - Studien. Untersuchungen zu den spätkeltischen Grundlagen der frühgermanischen Kunst. In : Bericht der Römisch - Germanischen Kommission, 71,2 (1990), Mainz 1991, S. 565–903.

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zen Gegenstand von innen nach außen )61; ihm fehlten ebenfalls die beiden anzunehmenden Henkel, und selbst die Fundsituation war ähnlich : hier der Seerand, in Jütland das Moor. Der Vergleich von Größe, Material, technischem Aufbau und gesamtem Bildschmuck des Chiemsee - Kessels mit dem aus der keltischen Latène - Zeit stammenden Gundestrup - Kessel – soweit Aufnahmen aus der angeblich „mehrere Hundert Bilder, Dias und Röntgenaufnahmen umfassende Dokumentation“ der Archäologischen Staatssammlung62 und anderes Bildmaterial durchgesickert waren – ergaben jedoch, dass es sich beim Chiemsee - Kessel nicht um eine Fälschung im Sinne einer Kopie, sondern eher um eine „Kontrafaktur des berühmten Kessels von Gundestrup“ mit auffälligen „Gegensätzen“ zum antiken Stück handelt.63 Diese Variation allerdings entsprach ja genau dem Vorgehen bei der Fälschung der Adlerfibel. Der Gundestrup - Kessel64 war größer ( Durchmesser 69 cm, Höhe 42 cm ) als der Chiemsee - Kessel und bestand aus 97 Prozent Silber – allerdings sind einige Teile auch vergoldet. Der Chiemsee - Kessel (50 cm breit, 28 cm bzw. 32 cm hoch – letzteres wohl mit Bodenblech gemessen – und 10,9 kg schwer ) bestand aus 17 kt Gold. Der Gundestrup - Kessel wurde gewaltsam zerlegt in zwölf Platten, eine Bodenzierscheibe und zwei Randbruchstücke gefunden; weitere Elemente fehlten, nämlich eine weitere Platte, der Rest des Randes, die äußere Bodenplatte und die verbindenden Zwischenstege. Aus dem Vorhandenen wurde 1892 der Kessel in seiner heutigen Form rekonstruiert, mit fünf Platten auf der Innenund sieben auf der Außenseite ( die achte fehlte ), dazu eine Bodenplatte mit der Zierscheibe innen. Die äußeren Platten zeigen vier männliche und drei weibliche Köpfe, die nach dem Erstbearbeiter vermutlich alternativ angebracht waren; die fehlende achte Platte müsste demnach einen weiblichen Kopf dargestellt haben. Während die fünf inneren Platten gemäß der ursprünglichen Reihenfolge zusammengesetzt werden konnten, vermochte man nur bei zwei äußeren Platten den genauen Platz [ wohl : im Verhältnis zu den Innenplatten ] anzugeben. Der komplette Chiemseekessel bestand dagegen aus neun Platten – sechs Außen- und drei Innenplatten – plus einer Bodenplatte. Das theoretische Fassungsvermögen des Gundestrup - Kessels betrug ca. 100 Liter, das des Chiemsee- Kessels ca. 63 Liter. Während der Chiemsee - Kessel wasserdicht war – vielleicht entweder um mit einer Flüssigkeit gefüllt zu werden oder auf ihr zu

61

Als Gerücht kursiert die Behauptung, der Kessel sei zusammen mit einer eisernen [ Heiligen ] Lanze – Ursache der Durchlochung des Bodenblechs – nicht nur gefunden, sondern auch der Archäologischen Staatssammlung in München übergeben worden. Vgl. Claus / Hauer, Der Goldkessel, S. 200. Diese Geschichte gehört in die Okkult - Mythen; Ludwig Wamser verneint diesen angeblichen Fund definitiv ( mündliche Auskunft vom 26. 2. 2010). 62 Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Aus diesem Fundus stammen vermutlich das dpa - Foto aus dem Kurzbericht „Rätselhafter Goldfund“ ( Süddeutsche Zeitung vom 7. 8. 2002, S. 48) und die damit nicht identische Abbildung in Seewald, Geheimnis, S. 101. 63 Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. 64 Zum Folgenden Müller, Det store sølvkar fra Gundestrup, S. 62.

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schwimmen – war der Gundestrup - Kessel niemals wasserdicht.65 Des Weiteren heißt es von archäologischer Seite zurecht : „Die angebliche Verwandtschaft [des Chiemsee - Kessels ] zum berühmten Silberkessel zu untersuchen ist Aufgabe von Keltologen, Archäometrikern und Historikern.“66 Die wenigen veröffentlichten Bilder des Chiemsee - Kessels ergeben jedenfalls für das Bildprogramm den komplexen Hinweis, dass sowohl Motive des Gundestrup - Kessels aufgegriffen als auch neue Bildmotive für den Chiemsee - Kessels geschaffen worden waren : „Innen - und Außenseite des Kessels sind mit einem durchkonstruierten Bildprogramm versehen, das Stieropferkulte, eine gehörnte Schlange und Menschenopfer darstellt. Daneben sind Motive wie eine Mondfigur zu sehen, die nach Wamsers Einschätzung für die Kelten untypisch wären.“67

4.

Denkmalschützerische Kontroverse : Hehlerei oder Rettung von Kulturgut ?68

Im Falle des Künzinger Römerschatzes war – wir kommen hier nochmals auf den Leserbrief von Friedenberger zurück69 – vom Leiter der Staatssammlung Ludwig Wamser nicht die Kriminalpolizei gerufen worden,70 obwohl er angeblich gewusst habe – wie er einem Journalisten gegenüber zugegeben haben soll71 –, dass der Fund „aus dunklen Kanälen“ stammte. Vielmehr habe er dem Handel zugestimmt, an dem sich die Einlieferer – der Händler Thorsten Krauss und seine „Kumpane“, darunter ( wie sich später herausstellte ) als Fundvermittler Jens Essig – „goldene Nasen“ verdient hätten, die Gemeinde Künzing und ihr „Museum Quintana – Archäologie in Künzing“ aber leer ausgegangen seien.72 Als Endpreis wurden in der Presse 98 000 Mark genannt,73 finanziert 65 66 67 68

Mündliche Auskunft Wamser vom 26. 2. 2010; Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Maier - Albang, Rätsel, S. 38. Roland Gschößl, Museen : Hehler oder Retter ? Wenn Museen raubgegrabene Fundstücke ankaufen, scheiden sich die Geister. In : Bayerische Archäologie, 3/2007, S. 18 und 21; Kritik an dieser Darstellung bei [ Wamser ], Interview, S. 75–80. 69 Friedenberger, Der zentrale Schlüssel, S. 14; Friedenberger, Dunkle Kanäle. 70 Wamser hatte jedoch bereits vom Zeitpunkt des Erwerbs an ( September 1998) nachweislich die im Landesrecht erforderliche Anzeige über diesen Fund bei der zuständigen Fach - und Meldebehörde erstattet : dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege in München und Landshut sowie den Kreisarchäologien in Passau resp. Deggendorf, welche die Staatssammlung dann auch bei ihren jeweiligen Recherchen und Einzelschritten zur Aufklärung der Fundumstände und zur Sicherung des Schatzfundes stets kontaktiert hatte ( Nachweise bei den Unterlagen zur Einstellung des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens gegen Ludwig Wamser; Az. 267Js228674/03 vom 10. 5. 2004). 71 Stephan Handel, Staatsanwalt gegen Staatsmuseum. In : Süddeutsche Zeitung vom 11./12.10. 2003, S. 49. 72 Der Hintergrund dieser Klage scheint Folgendes zu sein : Friedenberger suchte im Vorfeld Einfluss auf die anstehende Verbleibsregelung des Hortfundes zu nehmen und eine rechtsverbindliche Zusicherung der Archäologischen Staatssammlung zur Überstellung des Fundes an das örtliche Museum Quintana zu erwirken. Hingegen hatte die Archäo-

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durch Spendengelder des Vereins „Freunde der bayerischen Vor - und Frühgeschichte e. V.“ im Rahmen seines satzungsgemäßen Vereinszwecks ( Förderung einschlägiger Museen ). Zuvor hatte der Römerschatz mehrmals den Besitzer gewechselt : Der Finder und Sondengänger Josef D. aus Eging am See ( Lkrs. Passau ) hatte ihn für 27 000 Mark an den Kunsthändler Werner M. aus Bergen am Chiemsee verkauft, dieser für 32 000 Mark an Ralph S. aus Ruhpolding, welcher ihn für den gleichen Preis und wohl einer zusätzlichen Provision von 1 000 bis 2 000 Mark an Jens Essig ( München ) veräußerte. Schließlich erstand der Münchner Kunst - und Antiquitätenhändler Thorsten Kraus den Kessel für 43 697,72 DM von eben diesem Jens Essig. Als Friedenberger fünf Jahre nach diesem Fundankauf durch die Staatssammlung erfuhr, dass Thorsten Krauss auch den Goldkessel eingeliefert hatte, erstattete er eine Anzeige wegen Hehlerei ( § 259 StGB ) gegen Unbekannt in Sachen des Künzinger Römerfunds. Dadurch kam es zu Vorermittlungen gegen Wamser persönlich wegen Hehlerei. Im Frühjahr 2003 war in der gleichen Sache bereits der Raubgräber Josef D. vom Amtsgericht Deggendorf wegen Verstoß gegen Art. 7 (1) ( Ausgrabung eines Bodendenkmals ohne Erlaubnis ), Art. 8 (1) ( keine unverzügliche Fundmeldung ) und Art. 8 (2) ( keine unveränderte Belassung des Fundes im Boden ) des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes nach dessen Art. 23 (1) zu 3 000 EUR Geldstrafe verurteilt worden.74 Gegenüber dem Kunsthändler Thorsten Krauss dagegen ließ die Staatsanwaltschaft Landshut den Vor wurf der Hehlerei fallen, „weil kein Tatbeweis geführt werden konnte“.75 Die staatsanwaltlichen Vorermittlungen gegen Wamser wegen Hehlerei wurden schließlich vier Monate nach ihrer Aufnahme von der Münchner Staatsanwaltschaft eingestellt mit der Begründung, dass sich „das Verhalten der Archäologischen Staatssammlung, insbesondere des Beschuldigten, als rechtmäßig logische Staatssammlung im Juni 2003 mit der Gemeinde Künzing ( Trägerin des örtlichen Museums Quintana, das seit Mai 2001 auch Partnermuseum der Archäologischen Staatssammlung ist ( vgl. http ://www.museum - quintana.de / html / Partner / body_staatssammlung.html, 20. 12. 2009), die aufgrund der im Mai 2003 erfolgten exakten archäologischen Lokalisierung der tatsächlichen Fundstelle des Horts auf Gemeindegrund zu dessen Miteigentümerin geworden war, eine auch die Interessen der Archäologischen Staatssammlung berücksichtigende schriftliche Vereinbarung zum Fundverbleib geschlossen, nach welcher der Schatz im fünfjährigen Rhythmus abwechselnd in München und in Künzing gezeigt werden sollte ( Handel, Staatsanwalt ). Diesen „Partnerschaftsvertrag“ ([ Wamser ], Interview, S. 77) lehnte Friedenberger ab. 73 Stephan Handel, Dunkle Kanäle, die nach München führen. In : Süddeutsche Zeitung vom 11./12.10. 2003, S. 51. Tatsächlich wurden 92 250 DM bezahlt; Einzelnachweise, auch zu den nachfolgenden Geldangaben, in der staatsanwaltschaftlichen Begründung des eingestellten Ermittlungsverfahrens gegen Ludwig Wamser ( Az. 267Js228674/03) vom 10. 5. 2004. 74 Ludwig Wamser wies zurecht auf das Unverständliche und Ärgerliche der geltenden Rechtslage in Bayern hin : In § 984 BGB sei faktisch eine „Belohnung illegaler – nach Art. 23 (1) des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes daher zu ahndender – Grabungsaktivitäten durch die Zuerkennung des gesetzlichen Finderanteils“ festgeschrieben. Vgl.: [ Wamser ], Interview, S. 80. 75 So zitiert Handel, Staatsanwalt, S. 49, den Sprecher der Landshuter Staatsanwaltschaft.

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darstellt“ und der Tatbestand der Hehlerei aus objektiven und subjektiven Gesichtspunkten nicht vorliege.76 Die ambivalente Situation von Sammlungsleitern zwischen Legalität und Illegalität wurde in den damals gegenüber der Presse geäußerten Statements deutlich :77 Der Generalkonservator des bayerischen Landesamts für Denkmalpflege, Professor Dr. Egon Johannes Greipl,78 kritisierte die Vorgehensweise von Wamser : „Es widerspricht jeder internationalen Konvention, wenn staatliche Museen Gegenstände von unklarer Herkunft ankaufen. Sie bewegen sich dabei in einer Grauzone und belohnen Straftaten.“ Wamser dagegen rechtfertigte sich u. a. damit : „Wenn wir den Fund nicht gekauft hätten, dann wäre er weg gewesen. Der Händler hätte ihn an irgendwelche Private verkauft, alles wäre auseinander gerissen worden, für die Wissenschaft und die Öffentlichkeit wäre er verloren gewesen.“ Greipl dagegen : „Der Erhalt von Funden für die Öffentlichkeit kann kein Argument dafür sein, mit Schwarzhändlern zusammenzuarbeiten. Damit schaffen staatliche Stellen erst einen Anreiz.“ Übrigens waren und sind Greipl sowie Dr. C. Sebastian Sommer, Landeskonservator, Abteilung Bodendenkmalpflege am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege,79 Vorkämpfer für die Einführung eines staatlichen Schatzregals auch in Bayern – und ernteten damit heftigen Widerspruch von Seiten der bayerischen Sondengänger.80 Da die Gefahr deutlich ist, dass ein solches Schatzregal dazu führt, dass bedeutsame Funde z. B. von Sondengehern unter der Hand an Private veräußert, Hortfunde danach im Handel zersplittert werden und so wichtige bewegliche Bodendenkmäler dem bayerischen Staat verloren gehen könnten („Fundortverschleierung und Fundabwanderung“), plädierte Wamser für ein die deutschen Bundesländer übergreifendes einheitliches Schatzregal und dafür, dass dessen Einführung „aus

76 [ Wamser ], Interview, S. 76; Staatsanwaltschaft München I an Wamser vom 10. 5. 2004 ( Az. 267/ Js /228674/03); stha [ Stephan Handel ], Ermittlungen gegen Wamser eingestellt. In : Süddeutsche Zeitung vom 17. 5. 2004, S. 46. 77 Zum Folgenden Handel, Staatsanwalt, S. 49. 78 Vgl. http ://de.wikipedia.org / wiki / Egon_Johannes_Greipl – 4. 3. 2010. 79 Vgl. Fehlendes Schatzregal : „Das ist eine große Gesetzeslücke“. Interview mit Landeskonservator C. Sebastian Sommer. In : Bayerische Archäologie, 3/2007, S. 17. 80 Vgl. das ausführliche Statement im Anschluss an die Sendung des ZDF Wissenschaftsmagazins „Abenteuer Wissen“ : „Raubgräber in Deutschland“ ( Sendung vom 25. 1. 2007) im [ Internet - ] Forum zum Wissenschaftsmagazin, erstellt am 20. 2. 2007 von „Bayernfunde“ [ Jens Essig ?]. Darin heißt es u. a. : „Ich habe eine Initiative mitgegründet ‚Chiemgauer Heimatforscher‘ – unser Ziel ist es gegen die Einführung eines Schatzregals in Bayern zu kämpfen“ ( http ://www.zdf.de / ZDFforum / ZDFde / inhalt/ 20/0,1872,5249236,00/ F312/ thread1110957.php – 4. 3. 2010). Dagegen wies die Süddeutsche Zeitung immer wieder nachdrücklich auf das für das historische Erbe zerstörerische Wirken der „Raubgräber mit Metallsonden“ hin. So Hans Kratzer, Jäger des verlorenen Schatzes. In : Süddeutsche Zeitung vom 18. 5. 2003; ders., Das große Plündern, ebd. vom 17./18. 7. 2010 ( Leserbriefe dazu unter der Überschrift : Echte und falsche Helden der Archäologie, ebd. vom 26. 7. 2010, S. R 16); ders., Der verlorene Schatz, ebd. vom 17. 12. 2010, S. R 2.

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pragmatischen Erwägungen jedoch nach Möglichkeit mit einem Entschädigungssystem kombiniert werden sollte“.81 Das der Staatssammlung vorgesetzte bayerische Kultusministerium ( damaliger Minister Hans Zehetmair ) zog sich in Sachen des Künzinger Schatzes mit dem Argument aus der Affäre : Grundsätzlich habe das Ministerium „das Vertrauen in die Museumsleiter, dass das korrekt gemacht wird“. Wolle ein Museum über den offiziellen Ankaufsetat des Ministeriums ein Kunstwerk kaufen, dann sei auch die Kontrolle gewährleistet : Der Kauf müsse beantragt werden, entschieden werde dann in der Direktorenkonferenz, in der alle Leiter der staatlichen Museen sitzen – und „diese schauen sich schon gegenseitig auf die Finger“. Im vorliegenden Falle habe aber der Förderverein der „Freunde der bayerischen Vor - und Frühgeschichte e. V.“ das Geld zur Verfügung gestellt : „Wenn die Museumsleute ihre Ankäufe aus anderen Quellen finanzieren als aus unserem Etat, dann können sie praktisch kaufen, was sie wollen.“82 Ludwig Wamser betonte freilich, dass durch diesen Ankauf in zwei Schritten 1998 und 1999 der Verlust eines landesgeschichtlich wichtigen, zum Zeitpunkt seines Bekanntwerdens bereits auseinander gerissenen und in den Handel gelangten Hortfunds gemäß den satzungsgemäßen Zwecken des Fördervereins, „unter Einschaltung der zuständigen Stellen und Behörden“ und unter Ausschöpfung der derzeit gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten verhindert worden sei.83 Die Sammlung sei zu diesem Handeln sogar verpflichtet gewesen.84

5.

Erste wissenschaftliche Bewertung : „Instrumentalisierte Archäologie“

Am 1. Februar 2002 stellte der Leiter der Archäologischen Staatssammlung Ludwig Wamser den Chiemsse - Kessel im Toskana - Saal der Julius - Maximilians - Universität Würzburg85 eingeladenen archäologischen Fachleuten aus Anlass einer „Akademischen Feier zum Gedenken an [ den im April 2001 verstorbenen ] 81 [ Wamser ], Interview, S. 79. Wamser wies 2008 ausdrücklich darauf hin, dass die letzten eineinhalb Jahrzehnte „durch eine zunehmend kritische, nicht immer konform gehende Auseinandersetzung der beiden staatlichen Institutionen [ Landesamt für Denkmalpflege und Archäologische Staatssammlung ] mit dem Problem der Sondengängerei und der Frage des richtigen Umgangs mit Detektorfunden geprägt war“. Vgl. [ Wamser], Interview, S. 78. 82 Stephan Handel, Staatsanwalt will Museumschef an den Kragen. In : Süddeutsche Zeitung vom 14.10. 2003, S. 42. 83 [ Wamser ], Interview, S. 75. 84 Laut eines ministeriellen Erlasses vom 15. 3. 1983 haben sowohl Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege als auch die Archäologische Staatssammlung dafür Sorge zu tragen, dass Funde aus Staatsgrund dem Staatsbesitz nicht entfremdet werden. Vgl. [ Wamser ], Interview, S. 76. 85 Ludwig Wamser leitete von 1978 bis 1995 die archäologische Außenstelle Würzburg des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, außerdem hatte er von 1978 bis 1995 einen Lehrauftrag an der Julius - Maximilians - Universität Würzburg ( http ://de.wikipedia.org / wiki / Ludwig_Wamser – 19. 12. 2009).

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Walter Janssen“, Ordinarius am Institut für Vor - und Frühgeschichte der Universität Würzburg, vor. Der Titel seines Vortrages lautete : „Instrumentalisierte Archäologie. Perversion einer Idee zur Ideologie ? Zu einem Neufund aus Bayern.“86 Er beeindruckte seine Zuhörerschaft mit ausgewählten Farbfotos des Kessels einschließlich von Vergleichsfunden und ging davon aus, dass dieser „wahrscheinlich im Auftrag der Nazis gegen Ende der 30er Jahre in einer Münchener Goldschmiedewerkstatt entstanden ist“.87 Von Wamser erfuhr ferner die Süddeutsche Zeitung 2002 : „Auftraggeber für den Topf könnte das sogenannte ‚Amt Rosenberg‘ gewesen sein, dessen Leiter, Alfred Rosenberg, ab1934 Beauftragter für die Überwachung der geistigen Erziehung im Deutschen Reich war. Möglicher weise wurde der Topf von den Nazis entsorgt, als die Amerikaner näher rückten. Auch die Darstellungen auf dem Topf sprechen nach Ansicht Wamsers für einen Auftrag des Nazi - Chef - Ideologen, der mythologisches Gedankengut liebte.“88 Damit spielte der Verfasser auf Alfred Rosenbergs bekanntes Werk „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ an, das den „erwachenden Mythus des Blutes“ und die „rassische Weltrevolution“ verkündete.89 Wamser stellte bei seinem Vortrag insbesondere einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Fundort und einer unweit davon geplanten „Hohen Schule der NSDAP“ her, bei welcher der Kessel „womöglich für seltsame Weiheriten“ habe dienen sollen.90 Mit Hilfe seiner „Hohen Schule“ – bestehend aus dem geplanten monumentalen Zentrum am Chiemsee einschließlich einer großen Festhalle, später eventuell als „Gedenkstätte der geistigen und weltanschaulichen Kämpfer der deutschen Geschichte auszugestalten“ ( kultischer Weiheraum ),91 und aus Außenstellen / Außeninstituten – wollte Rosenberg seine Mythus - „Wissenschaft“ auf dem Hochschulsektor durchsetzen.92 Denn die „Hohe Schule“ sollte keine „dem Kadernachwuchs dienende ‚Parteiuniversität‘“ sein, sondern die nationalsozialistische „Alternativ - Universität“.93 Sie hatte freilich in Heinrich Himmlers „Forschungs - und Lehrgemeinschaft“ Das Ahnenerbe e. V. und ihrer Strategie der Wissenschaftssteuerung durch die SS - Infiltration der Hochschulen eine mächtige Konkurrentin.94 86 87 88 89 90 91 92 93

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Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Zit. nach ebd., S. 35. Maier - Albang, Rätsel, S. 38. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 4. Auflage München 1932, S. 666 ff. Dazu Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chef ideologe, München 2005, S. 197–212. Röbel, Gral, S. 62. Vgl. Wolfgang Jacobeit / Hannsjost Lixfeld / Olaf Bockhorn ( Hg.), Völkische Wissenschaft, Wien 1994, S. 282–284. Jacobeit / Lixfeld / Bockhorn ( Hg.), Völkische Wissenschaft, S. 280–286; Piper, Rosenberg, S. 462–773. Reinhard Bollmus, Zum Projekt einer nationalsozialistischen Alternativ - Universität : Alfred Rosenbergs „Hohe Schule“. In : Manfred Heinemann ( Hg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 2 : Hochschule, Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S. 125–152, hier 128; Kater, Ahnenerbe, S. 278 f. Josef Ackermann, Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 444. Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 130–144 und 273–290. Symptomatisch für das Machtgefälle zwischen Himm-

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Wie es in einer archäologischen Veröffentlichung lakonisch heißt : Dies „sollte der erste und letzte Diskursversuch zum Goldkessel aus dem Chiemsee bleiben“.95 Da die Wissenschaft schwieg bzw. auf Staatsanweisung schweigen musste, blühten die sensationellen Pressevermutungen umso reichlicher und bedienten sich der bekannten Klischees aus dem Fundus der „Okkultisierung“ des Nationalsozialismus.

6.

Die sensationelle Interpretation : „Okkultisierung“ des Nationalsozialismus

In die seriösen Deutungsabsichten des Kessels schlichen sich fragwürdige Erklärungen. Sie kreisten schnell um das Reizwort vom „Heiligen Gral“. Vielleicht lag der Anfangspunkt dafür schon im Jahre 2002 : Laut „Spiegel“ - Bericht kam offenbar bei Wamsers Würzburger Vorstellung des Goldkessels Anfang 2002 aus dem Teilnehmerkreis der Fachkollegen – angeregt durch Wamsers Ausführungen selbst – auch der Hinweis : „Hatte SS - Chef Heinrich Himmler seinerseits nicht den selbsternannten Gralsforscher Otto Rahn beschäftigt, der in den Burgruinen der mittelalterlichen Katharer - Sekte in Südfrankreich nach dem mystischen Kelch suchte, der einst das Blut des gekreuzigten Jesu aufgefangen haben soll ? Wollten sich die Nazis etwa den Gralsmythos zunutze machen, indem sie den keltischen Gundestrup - Kessel kopieren ließen ?“96 Seitdem hatte jedenfalls die Presse mit dem „Heiligen Gral“ aus dem Chiemsee ihr Thema gefunden und kopierte dabei auch Elemente aus der Literatur des „NS - Okkultmythos“.97 Dessen Wurzeln reichten bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurück, erlebten aber ihren Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich und Amerika, als etwa Louis Pauwels und Jacques Bergier ihren „Le Matin des Magiciens“ (1960)98 veröffentlichten, oder der französische Neo- Naziführer99 Jean - Michel Angebert „Hitler et la tradition cathare“ (1971),100 Trevor Ravenscroft seine „The Spear of Destiny“ (1972) und „The

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lers Ahnenerbe und Rosenbergs „Hoher Schule“ war Rosenbergs vergeblicher Versuch 1939, die vom Ahnenerbe mitveranstalteten „Salzburger Wissenschaftswochen“ auch in Verbindung mit der Hauptstelle der „Hohen Schule“ am Chiemsee abzuhalten. Vgl. Kater, Ahnenerbe, S. 143. Claus, Gundestrup - Kessel, S. 34. Röbel, Gral, S. 62. Zur „Okkultisierung“ des Nationalsozialismus vgl. Nicholas Goodrick - Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz 1985, S. 186 ff., und Hans Thomas Hakl, Nationalsozialismus und Okkultismus, ebd. ( Nachwort ), S. 194–217. Deutsche Übersetzung : Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Von der Zukunft der phantastischen Vernunft, Bern 1962. So Daniela Müller, Otto Rahn und die Rezeption des Katharismus im Spiegel der nationalsozialistischen Propaganda. In : Zeitschrift der Savigny - Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung, 114 (1997), S. 431–443, hier 436. Bekannter in der englischen Übersetzung : The occult and the Third Reich. The mystical origins of Nazism and the search for the Holy Grail, New York 1974.

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Cup of Destiny“ (1981),101 oder Michael Baigent / Richard Leigh / Henry Lincoln „The Holy Blood and the Holy Grail“ (1982),102 oder Howard Buechner „Adolf Hitler and the Secrets of the Holy Lance“ (1988)103 und seinen „Emerald Cup – Ark of Gold. The Quest of SS Lt. Otto Rahn of the Third Reich“ (1991). Angebert und Buechner wiederholten bzw. variierten die historischen Phantasien, Rahn sei „Himmler’s emissary to the Languedoc“ gewesen;104 von Himmler sei er 1937 erneut nach Montségur zu einer „check - up visit“ entsandt worden.105 Buechner wiederholte auch die Story von Otto Skorzeny, der 1944 in einer geheimen Kommandomission schließlich in den Pyrenäen den von Rahn vielleicht schon gefundenen Gral und andere Schätze aufgespürt und für die Nationalsozialisten geborgen habe.106 Der Gral sei dann zur Wewelsburg gebracht worden. Dort durfte Himmlers „innermost circle of senior Knights of the Holy Lance“ mehrmals den Gral in feierlicher Zeremonie betrachten, zusammen mit einer Kopie der Heiligen Lanze.107 Schließlich sei er von den Nationalsozialisten dem Zugriff der Siegermächte entzogen worden. Gebündelt wurden diese okkulten Versatzstücke, was den Chiemsee - Kessel betrifft, erstmals 2007 durch das „Wissensmagazin“ „Welt der Wunder“.108 Dort hieß es : „Die Nazis versuchten, den Kelch Jesu zu finden. Doch warum ? Historiker entdeckten jetzt : im Auftrag Hitlers plante das Regime eine neue Weltreligion – mit dem ‚Führer‘ als Heiland. Adolf Hitler wollte den Heiligen Gral zum zentralen Symbol einer arischen Religion machen. [...] Er legte fest, dass man ihn zukünftig als Gralsritter zu verehren habe, als einen Messias, der die Deutschen erlöst und ihnen die mystische Reliquie [ den Heiligen Gral ] 101 Deutsche Übersetzung : Der Speer des Schicksals, Zug 1974; ders., Der Kelch des Schicksals, Basel 1982. 102 Deutsche Übersetzung : Der Heilige Gral und seine Erben. Ursprung und Gegenwart eines geheimen Ordens, sein Wissen und seine Macht, Gladbach 1982. 103 Bei diesem Buch wird als zweiter Autor ein Wilhelm Bernhart genannt; nach Daniela Siepe, Die Rolle der Wewelsburg in der phantastischen Literatur in Esoterik und Rechtsextremismus nach 1945. In : Jan Erik Schulte ( Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 488–510, hier 494, Anm. 31, „vermutlich eine Fiktion Buechners“. 104 Howard Buechner, Emerald Cup – Ark of Gold. The Quest of SS Lt. Otto Rahn of the Third Reich, 2. Auflage Lousiana 1993, S. 159. 105 Buechner, Emerald Cup, S. 170. 106 Ebd., S. 189–195. 107 Ebd., S. 205. Nach Sandra Franz, Die Religion des Grals, Schwalbach / Ts. 2009, S. 543, gehört die Behauptung von der Existenz dieser Kopie der Heiligen Lanze in der Wewelsburg zu den erstmals von Trevor Ravenscroft in seinem „Der Speer des Schicksals“ erfundenen NS - Okkult - Mythen. Zur Rolle der Wewelsburg in der Phantastischen Literatur siehe Siepe, Rolle der Wewelsburg, S. 488–497, bes. 494 : „Die Wewelsburg stellt in diesem Szenario das geheime Einweihungszentrum für die Rituale der SS dar, wo sich die höchsten Eingeweihten nach Art der Artusritter treffen.“ 108 Holger Diedrich, Hitlers Suche nach dem Heiligen Gral. In : Welt der Wunder ( Printausgabe, Bauer - Verlag ), 1/2007, S. 48–54. Massive Kritik in dem Blog von 2mRaidR „Grail Diary – online“ : „Der ‚Heilige Gral‘ ... Neuigkeiten und Notizen“, hier : „Welt der Wunder“ und der „Nazi Gral“ vom 10. 1. 2007 ( http ://graildiary.blog.de /2007/01/10/ welt_der_wunder_und_der_nazi_gral 1539831 – 26. 2. 2010).

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geschenkt habe.“109 Völlig unklar ist in dem Artikel, wer jene „Historiker“ denn sein sollen – Fachhistoriker sind es jedenfalls nicht. Denn zitiert werden namentlich nur der „Gralsexperte“ Howard Buechner, der „Dokumentarfilmer und Experte für pseudo - wissenschaftliche Vorhaben der SS“ Jürgen Czwienck110 und – als Internet - Literaturempfehlung – Marco Bischof.111 Dafür tauchen Buechners bekannte Versatzstücke aus der Okkultgeschichte des Nationalsozialismus um den Heiligen Gral auf : Himmler und die SS, Otto Rahn und Otto Skorzeny, Montségur und die Wewelsburg. „Die Gralssuche der Nazis“, so Diedrich weiter, „ist bis heute ein Mysterium. Viele Spuren verlieren sich im Dunkel jener Jahre. Es gibt Zeugen, die von SS Expeditionen in Südfrankreich berichten. Schriftliche Hinweise, eindeutige Dokumente fehlen jedoch. Hat es diese Dokumente nie gegeben, gingen sie verloren oder wurden sie vernichtet ? Die Faktenlage lässt nur zwei Deutungen zu: Die SS - Aktionen könnten perfekter Geheimhaltung unterlegen haben. Indizien sprechen jedoch dafür, dass die Skorzeny - Expedition [1944 nach Montségur ] nur der spektakuläre Nachhall eines gigantischen Täuschungsmanövers Hitlers war.“112 Denn Hitler habe, im Gegensatz zu Himmler, nicht geglaubt, dass man den Gral jemals finden könne. Es sei ihm völlig egal gewesen, ob bei der nach dem Zweiten Weltkrieg geplanten „triumphalen Präsentation des Heiligen Grals und der Heiligen Lanze“ auf der Wewelsburg „ein echter Gral oder eine gefälschte Reliquie zum Einsatz gekommen wäre. Es ging ihm nicht um den Kelch an sich. Es ging ihm um die Idee, die der Kelch repräsentierte : Der Diktator wollte diesen christlich - heidnischen Mythos, Heiliger Gral, zu einer NS Reliquie umfunktionieren, zu einem Machtinstrument, um seine Herrschaft zu sichern – und um sich zu einer unsterblichen Legende zu machen.“113 Deshalb habe er „die größte Fälschung in der Geschichte der Menschheit“ in Auftrag gegeben – eben die des Heiligen Grals, der 2001 im Chiemsee gefunden worden sei.114 Auf den Spuren dieser Pseudohistorie wandelte zwei Jahre später auch Michael Seewald im Magazin „P. M. History“115 mit seiner Inszenierung der 109 Diedrich, Hitlers Suche, S. 48 f. 110 Der meist „Jürgen Czwienk“ geschriebene Filmemacher hat besonders Komponistenporträts verfasst. Ferner firmiert er im Internet mit den einschlägigen TV - Filmen „The Nazi Expedition to Tibet“ (2002, Ifage Film Produktion im Auftrag von ARD und Channel 4), zusammen mit Georg Graffe „Expeditionen der Nazis – Abenteuer und Rassenwahn“ (MDR - Fernsehen vom 4. 1. 2005) ( Czwienks Filmprojekte „Himmlers Wahn – Reise nach Atlantis“, 2009, und „Von Thule bis Atlantis – Himmlers Kreuzzug“, 2010, sind wohl Fortsetzungen dieses Themas ). Für 2010 kündigte er außerdem an : „Himmlers Kreuzritter“ (2010, JC Filmproduktion im Auftrag des Discovery Channel ). 111 Der „Berater für Grenzgebiete der Wissenschaft“ hat auf seiner Internetseite www.marcobischof.com u. a. den Text „Die Suche nach dem Gral zwischen Politik und Mystik“, erschienen u. d. T. „Finale am Grale“ in der Zeitschift „Spuren“ ( Zürich ), 13 ( Herbst 1989), S. 77 f. 112 Diedrich, Hitlers Suche, S. 51. 113 Ebd., S. 53. 114 Ebd., S. 52. 115 Zum Folgenden Seewald, Geheimnis.

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Wahrheitssuche : „Sensationelle Entdeckung [...] Wer Licht in das Dunkel um den [...] Goldkessel [...] bringen will, sticht in ein Wespennest. Überall gibt es Menschen, die etwas wissen, die vorsätzlich in die Irre führen, die sich fürchten, um ihre Pension bangen, die keinesfalls mit Namen genannt werden wollen. Und jene, denen es nach dem Kontakt mit dem Kessel richtig schlecht geht. Um das Geheimnis des Chiemsee - Kessels zu lüften, muss man sich [...] zu heimlichen Treffen in Cafés und Wohnzimmer begeben. Bis die Indizienkette zwingend den Kessel als Hitlers Heiligen Gral ausweist, müssen etliche Nebelkerzen ausgetreten werden.“ Und dann nochmals die Schlussfolgerung : „Wir haben hier den mysteriösen Gral der Nazis vor uns.“116 Die banalen Tatsachen hinter diesem geheimnisvollen Getue haben wir bereits oben genannt : Die exakte Lokalisierung der Fundstelle am angegebenen Fundort des Kessels gelang bisher nicht. Auch ist die Datierung durch das Institut für Zeitgeschichte und dann durch das Bayerische Finanzministerium unsicher. Das Schweigegebot des Freistaates an alle ihm unterstellten Beteiligten gegenüber der Öffentlichkeit hat eigentlich aber erst die okkulten Spekulationen ins Kraut schießen lassen – wie jene vom „Spiegel“ zitierte : „Die bayerische Staatsregierung, raunten die einen, halte geheime Analysen über den heidnischen Topf zurück‚ vermutlich auf Druck der katholischen Kirche. In seinen goldenen Reliefs, behaupten die anderen, seien zudem verschlüsselte Botschaften versteckt.“117 Zusammengefasst lautete die Botschaft von „P. M. History“ : „Nach dem Krieg wollten Hitler und Himmler [...] das Prunkstück [ den Chiemsee - Kessel ] als ‚Gral‘ in der Wewelsburg präsentieren, in der Mitte eines unterirdischen ‚Weiheraums‘.“118 Die hier auftauchenden Versatzstücke aus der „Okkultisierung“ des Nationalsozialismus sind bekannt :119 Hitler ließ angeblich nach der Machtübernahme weltweit nach dem Gral fahnden, den er als „höhere Legitimation“ für seine Herrschaft ansah. „Hitlers Mann für Mystik und pseudoreligiösen Unterbau“ aber war der Reichsführer SS Heinrich Himmler, und der wiederum verpflichtete für die Gralssuche Otto Rahn und Karl - Maria Wiligut, genannt Weisthor. Zudem habe Himmler die Wewelsburg bei Paderborn erworben und zum „‚arcanum‘, zum geheimnisvollen Heiligtum des SS - Ordens“ ausbauen lassen. Der dabei getriebene Aufwand für dieses „neue religiöse Zentrum der Nazis“ mache keinen Sinn, „wenn im Mittelpunkt nicht etwas ganz Unerhörtes, ganz und gar Einmaliges stünde : der Heilige Gral“. In der Krypta des Nordturms der NS - „Kultstätte“ sei jetzt noch eine Vertiefung zu sehen – „wie geschaffen für den Gral“ als NS - „Reliquie“. Die Wewelsburg sei also die neue „Gralsburg“ der Nazis, dafür sprächen auch weitere architektonische Details, wie die Gestaltung von Burg und Zufahrtsstraße als Abbild der Heiligen Lanze oder die zwölf Steinsitze um die Gralsvertiefung „für die Ritter der Artusrunde

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Ebd., S. 100. Röbel, Gral, S. 60. Seewald, Geheimnis, S. 101. Zum Folgenden Seewald, Geheimnis, S. 103–105.

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beziehungsweise deren braune Imitatoren“. Doch als die militärische Niederlage sich abzeichnete, seien die Pläne und Kultgegenstände der Wewelsburg durch Hitlers Top - Agenten Otto Skorzeny, Offizier der Waffen - SS, in Sicherheit gebracht worden : „Das Gold des Nazi - Zaubers fällt nicht in ‚Feindeshand‘ – und landet im Chiemsee“. Eine ironische Konsequenz aus dem „P. M. History“Bericht besteht freilich darin, dass dieser die Okkultisierung – wie schon oben bei Diedrich – relativiert : Das Herzstück des nationalsozialistischen neureligiösen „Mittelpunkts der Welt“ in der Wewelsburg war eine Fälschung – immerhin aus echtem Gold. Gerade populärwissenschaftliche Magazine scheinen für die Rezeption und Tradierung solcher Okkult - Geschichten anfällig, und wenn nur aus dem simplen Grund, dass sie ihre harmlose Story damit aufpeppen wollen und dabei noch ihren Lesern – so wie der Autor in „Welt der Wunder“ – einzureden suchen, man wolle damit Licht in eine „von Legenden umwobene Grauzone“ bringen.120 Himmler, der Schwarze Orden, die Wewelsburg, die Gralssucher Otto Rahn und Otto Skorzeny usw. gehören als Stereotypen zu diesen Okkult - Geschichten. Elemente solcher Krypto - Historie bzw. phantastischer Literatur ( Fantasy ) werden aber auch über sich seriös gebende Filme weiter tradiert. So heißt es etwa in dem Film „Hitler, Himmler und der Schwarze Orden der SS“,121 Himmler habe den klaren Auftrag an Rahn gegeben : „Suchen Sie den Gral für die Wewelsburg !“ Denn dort sollte er als ein Weiheobjekt für die neuen schwarzen Ritter der Tafelrunde dienen. Rüdiger Sünner äußerte etwas vager, Rahn und der Gralsmythos habe zumindest in die Wewelsburg „hineingespielt“.122 Beispielhaft zeigt sich hier der an Sünners „Schwarzer Sonne“ generell kritisierte Mangel, dass „Beweise für die Existenz und Intensität der meisten der von Sünner erwähnten Rezeptionsvorgänge“ fehlen.123 Eine neuere Untersuchung sagt dem gegenüber klipp und klar : „Es deutet [...] bisher nichts auf eine überragende Bedeutung der Gralsmythologie für Himmler oder das Wewelsburge Projekt hin, von einem Einfluss Rahns ganz zu schweigen.“124 Denn für alle diese okkulten NS - Grals - Phantasien fehlen jegliche quellenmäßige Beweise. Den Gral im materiellen Sinne ließ Hitler sicher nicht suchen, 120 Diedrich, Hitlers Suche, S. 51. 121 Film von Susanne Aernecke und Michael Görden im Auftrag von Komplett Media, München - Grünwald ( Der Heilige Gral, Teil 3). 122 Rüdiger Sünner, Schwarze Sonne. Entfesselung und Missbrauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik, Freiburg i. Brsg. 1999, S. 97. Vgl. den Dokumentarfilm : Schwarze Sonne. Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus. Buch und Regie Rüdiger Sünner, Produktion Elisabeth Müller Filmproduktion in Kooperation mit ARTE und WDR (1997). Hans - Jürgen Lange hatte Sünner dabei zu Leben und Werk Rahns beraten ( Hans - Jürgen Lange, Otto Rahn und die Suche nach dem Gral. Biographie und Quellen, Engerda 1999, S. 261). 123 Bernd Sösemann, Audiovisuelle Assoziationen. Anmerkungen zur Deutung der völkisch- nationalsozialistischen Vorstellungen im Film „Schwarze Sonne“. In : Uwe Puschner / G. Ulrich Großmann ( Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 341–353, hier 148. 124 Siepe, Wewelsburg und Okkultismus, S. 278.

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wenn auch der Wagner - Verehrer vom Gralsmythos nicht unbeeindruckt blieb.125 Himmler förderte den „Gralssucher“ Otto Rahn – aber war die Wewelsburg126 wirklich „Himmlers Gralsburg“, wie Heinz Höhne 1967 behauptete ?127 Die Meinungen darüber sind bis heute geteilt : Karl Hüser meinte noch, Himmler wollte „auf der Burg eine ‚neu - germanische‘ Tradition schaffen und sie [ die Wewelsburg ] selbst zum Mittelpunkt einer pseudo - religiösen ‚nationalsozialistischen Glaubenspflege‘ machen“.128 Sandra Franz äußert etwas vorsichtiger, Himmler habe sich in der Burg eine nicht - christliche Kultstätte erbauen lassen: „Orientiert man sich an den wenigen, vorhandenen Quellen, die belegen, dass die Gralsmythologie zumindest eine gewisse Rolle bei der Gestaltung der Burg spielte, so muss man die Bezeichnung mit einem Fragezeichen versehen. Versteht man den Begriff hingegen als Chiffre für eine quasireligiöse, außerchristliche Kultstätte, die die Wewelsburg [...] werden sollte, so wäre das Wort ‚Gralsburg‘, wie es das völkische Lager damals auffasste, durchaus zutreffend.“129 Freilich müsste im Rahmen unserer Untersuchung nochmals einschränkend gesagt werden, dass schon nach den Feststellungen von Karl Hüser in der Burg einschließlich des berühmten Nordturms der Anlage mit dem „Gruft“ oder „Krypta“ genannten Untergeschoss, keinerlei „liturgische“ Rituale, kultische Feiern oder Totenehrungen stattfanden – ja auch gar nicht stattfinden konnten, weil die Räume des Nordturms 1945 noch nicht fertig gestellt waren.130 Und 125 Franz, Religion des Grals, S. 485–491 und 550 f. 1937 soll eine Luxusausgabe von Otto Rahns gerade erschienenem „Luzifers Hofgesind“ als Geschenk Himmlers Hitler zum Geburtstag überreicht worden sein. Vgl. Ackermann, Himmler, S. 58, Anm. 98; Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 65. Leider ist es in den erhaltenen Büchern aus Hitlers Bibliothek nicht mehr enthalten und konnte deshalb nicht auf evtl. Anstreichungen ausgewertet werden. Vgl. Philipp Gassert / Daniel S. Mattern, The Hitler Library. A Bibliography, Westport 2001; Timothy W. Ryback, Hitler’s Private Library, New York 2008. Die Echtheit der angeblichen Führervorlage vom 14. 8. 1943 zur Religionspolitik nach dem Endsieg ( Hitler als „Gralsritter“; vgl. Wilfried Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab, Wien 1985, S. 216 und 218, Faksimile S. 217) ist mehr als fraglich ( ebd., S. 299, Anm. 513 und 514). 126 Vgl. Karl Hüser, Wewelsburg 1933 bis 1945. Kult - und Terrorstätte der SS, Paderborn 1982; Stuart Russell / Jost W. Schneider, Heinrich Himmlers Burg. Das weltanschauliche Zentrum der SS. Bildchronik der SS - Schule Haus Wewelsburg 1934–1945, Essen 1989, 2. Auf lage Aschau i. Ch. 1998; Projektschwerpunkt III : Wewelsburg 1933–1945. Kult - und Terrorstätte der SS. In : Kerzel ( Hg.), Gedenkstättenarbeit, S. 196–290; Jan Erik Schulte ( Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009; Franz, Religion des Grals, S. 538–550. 127 Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Hamburg 1967, S. 142 ( ebd. im neuesten Reprint München 2008). 128 Hüser, Wewelsburg, S. 67. 129 Franz, Religion des Grals, S. 550. 130 Hüser, Wewelsburg, S. 60 ff. Danach soll auf der Burg nur eine einzige Gruppenführerbesprechung im Jahre 1941 stattgefunden haben ( ebd., S. 3 und 65); künftig sah Himmler dort jährliche Vereidigungen für SS - Gruppenführer vor. Markus Moors, Das „Reichshaus der SS - Gruppenführer“. Himmlers Pläne und Absichten in Wewelsburg. In : Schulte ( Hg.), SS, Himmler und die Wewelsburg, S. 161–179, hier 176 f., fügt ausdrücklich hinzu, es sei unbekannt, ob dort solche schon durchgeführt worden seien.

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Markus Moor schlussfolgerte anhand der Quellen jüngst, die Burg sollte für Himmler lediglich die Funktion eines „repräsentativ ausgestalteten und vor der Öffentlichkeit abgeschirmter Versammlungsort für die SS - Gruppenführer“ haben.131 Lediglich die öffentliche Wahrnehmung hänge noch an der älteren, inzwischen überholten Auffassung von der „pseudo - religiösen Kultstätte“.132 Und Himmlers angeblicher „Rasputin“ Karl - Maria Wiligut, genannt Weisthor? Der soll nach Rudolf J. Mund 1946 kurz vor seinem Tod im Rahmen seiner „ortungswissenschaftlichen Erwähnungen“133 geäußert haben : „Der Chiemsee hegt und birgt den Gral.“134 Mund überlieferte ferner, gestützt auf die Angabe von Wiliguths ehemaliger Sekretärin Anita Rein, zur Bedeutung des Chiemsees für Wiliguth : „Kiem - see des Atmens; Keimsee des Keimens [ und Werdens ] ?135 Er [ Wiliguth ] meint damit, dass auch in den größten Katastrophen der Chiemgau verschont bleibt.“136 Tatsache ist, dass jedenfalls erst Rudolf J. Mund,137 ab Mitte der 1960er Jahre Mitglied, ab 1976 der letzte Großmeister des ariosophischen Neuen Templer Ordens ( Ordo Novi Templi – ONT ), diese auf den Chiemsee bezogenen Grals - Zitate veröffentlicht und durch die angebliche Autorschaft von Wiliguth legitimiert hat.138 Bekanntermaßen hatte sich bereits der Gründer des ONT, Jörg Lanz von Liebenfels ( alias Adolf Lanz), vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Gral und seiner rassistischen Interpretation beschäftigt139 und zudem auf Burg Werfenstein – seiner „Gralsburg“ – Zeremo-

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Nach Lange, Weisthor, S. 50, hielt Wiligut in der Wewelsburg Heiratszeremonien zwischen SS - Männern und ihren Partnerinnen unter Benutzung seines runengeschmückten „Gotenstocks“ ab. Auch Hüser ( Wewelsburg, S. 33) spricht von auf der Burg abgehaltenen SS- Eheweihen. Die „Gruft“ bzw. „Krypta“ sollte der Totenehrung dienen, aber über Art und Gestaltung der vorgesehenen Feiern sei nichts bekannt ( ebd., S. 293). Lediglich Russel / Schneider ( Heinrich Himmlers Burg, S. 85) behaupten, es gebe Hinweise, dass es Himmlers Wunsch war, in diesem unterirdischen Gewölbe begraben zu werden. Die Existenz von Urnen in der „Gruft“ wird zunächst von Höhne ( Orden, S. 142) behauptet, dann von der phantastischen Literatur ( Siepe, Rolle der Wewelsburg, S. 496) aufgegriffen und manchmal auch mit dem Chiemsee - Kessel assoziiert. Moors, Reichshaus, S. 179. Ebd., Anm. 67. Rudolf J. Mund, Der Rasputin Himmlers. Die Wiligut - Saga, Wien 1982, S. 179. Mund, Rasputin Himmlers, S. 178 f.; Lange, Weisthor, S. 72, veränderte aus unbekanntem Grund das Zitat in : „Der Chiemsee trägt und birgt den Gral.“ Dieser Zusatz bei Mund, Rasputin Himmlers, S. 179. Lange, Weisthor, S. 72. Vgl. Lange, Weisthor, S. 251–259; Rudolf J. Mund, Jörg Lanz von Liebenfels und der Neue Templer Orden. Die Esoterik des Christentums, Stuttgart 1976. Freilich war die Deutung der angeblichen Aussagen Wiliguths über den Gral unter seinen „Erben“ Rudolf J. Mund, Günther Kirchhoff und Emil Rüdiger kontrovers. Kirchhoff etwa schrieb an Rüdiger am 26. 1. 1948, dass „Wiligut gerade den Gral immer wieder ablehnte und nichts davon wissen wollte“ ( Lange, Weisthor, S. 250). Der heilige Gral als das Mysterium der arisch - christlichen Rassenkultreligion, Ostara 1. Serie, Heft 69 (1913). Vgl. Ekkehard Hieronimus, Lanz von Liebenfels. Eine Bibliographie, Toppenstedt 1991; ferner die Bildwerbung für die 3. Ostara - Serie 1930, die einen Tempelritter mit dem Heiligen Gral in Kelchform zeigt ( ebd., S. 212). In der zitierten Schrift stellte Lanz „die Verknüpfung der Gralssage mit dem Templerorden her. Er verweist darauf, dass in der Gralsüberlieferung die Gralsritter als ‚Templeisen‘ bezeich-

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nien und Kulthandlungen abgehalten, die „Gralsfeiern“ genannt wurden.140 Lanz und die Fratres des ONT sollen auch enge Kontakte zu Wiligut gehabt haben.141 Mund hatte außerdem 1960 auch bei Otto Vogelsang, Otto Rahns erstem Verleger, nachgefragt : „Hat Rahn den Gral irgendwie auch mit dem Chiemsee in Verbindung gebracht ?“142 Mund hatte auch enge Verbindung zu seinem eigenen Verleger Wilhelm Landig, einem Alt - Nazi,143 der in seiner Romantrilogie „Götzen gegen Thule“ ( Hannover 1971), „Wolfszeit um Thule“ ( Wien 1980) und „Rebellen für Thule. Das Erbe von Atlantis“ ( Wien 1991) den ThuleMythos als Bestandteil des NS - Okkult - Mythos vertrat, das heilige und ewige Reich der Deutschen ebenso wie die „Urheimat des Grals“ im Norden („Urheimat Thule“) lokalisierte und verkündete : „Zusammenfassend weiß man nun, dass die Urform des Grals in den alten arischen Glaubensvorstellungen entstanden ist.“144 Die Chiemsee- These Munds hängt also eng mit ariosophischen Gral- Spekulationen zusammen und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg virulent. Mund verstand jedoch Lanz von Liebenfels’ und Wiliguts Gral - Spekulationen als Teil einer rein geistigen „metaphysischen Geographie“.145 Es scheint auch, dass sich Mund den Heiligen Gral selbst nicht als konkretes Gefäß dachte: „Zur Beruhigung von weltanschaulichen Geheimniskrämern : Den Gral kann man zwar suchen, es findet ihn aber nur der, der dazu berufen ist. Wenn gewisse Kreise heute behaupten, der Heilige Gral wäre von einem SS - Kommando nach Chile gebracht worden, so widerspricht dies Grundsätzen und Überlieferungen.“146 Und Rahn ?147 Seine literarischen Werke stellten zumindest „die umfassendsten Religionsentwürfe im Zeichen des Grals dar, die in der Zeit des National-

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net werden, was für ihn ein Hinweis auf den Templerorden ist und die Namenswahl für seine – die O. N. T. - Ritter – motiviert : sie werden als Templeisen bezeichnet“ ( ebd., S. 14). Dazu Nicholas Goodrick - Clarke, Die okkulten Wurzeln, S. 97, mit Bezug auf die genannte Schrift von Lanz : „Die Suche der ‚Templeisen‘ nach dem Gral wäre eine Metapher für die strengen rassenhyygienischen Praktiken der Templer, um Gottmenschen zu züchten.“ Ferner Mund, Rasputin Himmlers, S. 178. Franz, Religion des Grals, S. 329–333. Lange, Weisthor, S. 33–38 und 314, Anm. 104. Ebd., S. 252. Siepe, Rolle der Wewelsburg, S. 508. Wilhelm Landig, Rebellen für Thule. Das Erbe von Atlantis, Wien 1991, S. 422. Mund, Rasputin Himmlers, S. 178. Ebd., S. 179. Eine erste Grundlage legte Christian Bernadac, Le Mystère Otto Rahn ( Le Graal et Montségur ). Du Catharisme au Nazisme, Paris 1978 ( Neuauflage u. d. T. Montségur et le Graal. Le Mystère de Otto Rahn, Paris 1994), in welchem er als Quellen u. a. den – quellenkritisch allerdings problematischen ( vgl. Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 145 f.) – Briefwechsel Rahns mit Antoine Gadal und das NS - Aktenmaterial – letzteres allerdings selektiv ausgewählt unter Weglassung von seiner Deutung widersprechenden Dokumenten ( Müller, Otto Rahn, S. 437 und 439) erstmals erschloss. Er vermutete hinter Rahns Dilemma vor allem eine jüdische Herkunft. Zudem verbreitete er auch einige unsinnige Behauptungen wie : Rahn sei schon vor 1933 als Agent der Nazis bzw. SA nach Südfrankreich gekommen, oder : Rahns Tod sei 1939 nur vorgetäuscht worden, er habe als Diplomat Rudolf Rahn weitergelebt. Solchen Spekulationen hat Lan-

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sozialismus entstanden sind“148 – zumindest gilt das für „Luzifers Hofgesind“ (1937)149 als „nationalsozialistischer Religionsentwurf aus der näheren Umgebung Himmlers“.150 Er suchte aber keineswegs in den Pyrenäen oder anderswo einen „Heiligen Gral“ im Sinne eines materiellen Kultgegenstands für Hitler oder für Himmlers Wewelsburg. Auch eine irgendwie geartete Verbindung seiner Gralssuche mit Aktivitäten Otto Skorzenys ist ebenfalls ein reines Phantasieprodukt : Dergleichen wird nicht in dessen Erinnerungen „Meine Kommandounternehmen“151 erwähnt; und in einem Nachkriegsinter view mit Christian Bernadac bekräftigte Skorzeny, er habe Rahn weder gekannt noch von ihm sprechen hören : „Ni de lui, ni du Gral.“152 Und mag auch Rahns „Gral“ für seine Förderer Wiligut und Himmler nicht gänzlich uninteressant gewesen sein, so ergibt sich aus den Quellen klipp und klar, dass der Nationalsozialismus und speziell die SS an Rahns Ketzergeschichten über die Katharer vor allem ihr möglicher propagandistischer Einsatz als historisch - ideologische „Aufklärungs“ Waffe gegen das („römische“) Christentum und die ( katholische ) Kirche bedeutsam war.153

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ge ( Otto Rahn und die Suche ) den Boden entzogen; u. a. indem er zusätzlich Rahns Briefwechsel mit Albert H. Rausch veröffentlichte; denn nun ließen sich viele bisher um Rahns Leben und Tod vorhandene Rätsel aus Rahns Homosexualität erklären. Rausch war wohl dem Studenten Rahn im Umfeld der Universität Gießen begegnet und hatte mit ihm eine sexuelle Affäre, aus der eine bleibende Freundschaft erwuchs. Vgl. Hans Jürgen Lange, Kurt Eggers, Otto Rahn und Albert H. Rausch. Eine Dokumentation in Briefen und Rezensionen. In : Michael Keller ( Hg.), Albert H. Rausch – Henry Benrath. Ein vergessener Dichter ?, Friedberg ( Hessen ) 2002, S. 203–237, hier 204. Verblüffend allerdings, dass in Aernecke / Gördens Grals - Film Rahn zum reinen Anti - NS - Toren stilisiert wird und seine Homosexualität mit keinem Wort Erwähnung findet und damit sein Selbstmord zum Widerstandsakt eines Reinen heroisiert wird („Er nahm die ‚endura‘ [der Katharer ]“). Zu Himmlers Bekämpfung der Homosexualität bei SS und Polizei vgl. Geoffrey Giles, The Denial of Homosexuality : Same - Sex Incidents in Himmler’s SS and Police. In : Journal of the History of Sexuality, 11 (2002), S. 256–290; vgl. zum Fall Rahn in diesem Zusammenhang Peter Longerich, Heinrich Himmler, München 2008, S. 250. Franz, Religion des Grals, S. 551. Otto Rahn, Luzifers Hofgesind. Eine Reise zu Europas guten Geistern, Leipzig 1937. Mit dem Untertitel „Reise zu den guten Geistern Europas“ erschienen Neuauf lagen Struckum 1985, Dresden 2004 und Dresden 2006. Ebd., S. 529 und 538. München 1981. Christian Bernadac, Le mystère Otto Rahn, Paris 1978, S. 326. Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 72 und 202. Diese Bedeutung hatten Rahns Werke für Himmler sogar noch während des Zweiten Weltkriegs, wie dessen Förderung eines Wiedererscheinens von „Kreuzzug gegen den Gral“ und „Luzifers Hofgesind“ gegen den Einspruch Rosenbergs zeigt. Vgl. Ackermann, Himmler, S. 58 f. mit Anm. 96–102. Auch der Besuch von Rahns erstem Verleger Otto Vogelsang („Kreuzzug gegen den Gral“) bei Himmler am 17. 3. 1941 ( Thema : „Erinnerungen an Otto Rahn“ – Peter Witte / Michael Wildt / Martins Voigt [ Hg.], Heinrich Himmler. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, S. 133 mit Anm. 53; dort fälschlich mit einem Franz Vogelsang identifiziert ) muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

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Otto Rahn : Stifter einer nationalistischen Grals - Religion ?

Aber stiftete Rahn nicht wenigstens theoretisch eine nationalsozialistische „völkische [ Grals - ] Religion“ ?154 Die literarischen Hauptquellen – Rahns „Kreuzzug gegen den Gral“ (1933)155 und „Luzifers Hofgesind“ (1937)156 – ergeben folgenden differenzierten Befund : Was den „Kreuzzug gegen den Gral“ betrifft, so lautet eine zentrale These französischer Forschung, sei Rahns Werk lediglich eine germanische Version der von ihm aufgegriffenen „historisch - esoterischen Phantasmen“ örtlicher französischer Gelehrter157 in der Zeit nach Napoléon Peyrat und dessen „Histoire des Albigeois“ (3 Bände 1870–1872; 2 Bände 1880–1882), der Montségur bereits als das „golgatha de la patrie romane“ bezeichnet hatte.158 René Nelli sprach bei Rahn von einer „syncrétisme germanico - occitan, plus illusoire à vrai dire que véritable“.159 In der Tat hat Rahn ja selbst in seinen beiden Werken deutlich auf solche persönlichen Begegnungen und Befruchtungen durch jenen „petit circle de lettrés et d’érudits locaux“, von denen Nelli spricht,160 während seiner beiden Aufenthalte 1930 und 1932 in der Ariège hingewiesen. Es ist ferner nicht zu übersehen, dass Rahns Katharer - Bild von jenen französischen Heimatforschern geprägt wurde, von denen Nelli sagt : „Eine Art unglückliches Verhängnis wollte es, dass die Werke, die am meisten dazu beitrugen, das okzitanische Denken aus seiner Jahrhunderte alten Lethargie zu erwecken, durchaus keine gelehrten historischen Abhandlungen waren, sondern echte Prosa - Epen, welche die Einbildungskraft zu phantastischen Horizonten fortzureißen vermochten.“161 Tatsache ist außerdem, dass zu dem Rahn durch 154 So Franz, Religion des Grals, S. 498 ff. 155 Otto Rahn, Kreuzzug gegen den Gral, Freiburg i. Brsg. 1933. Erweiterte Neuauf lage, bearb. von Karl Rittersbacher als : Kreuzzug gegen den Gral. Die Tragödie des Katharismus, Stuttgart 1964 und 1974. Ein Nachdruck der Ausgabe von 1933 erschien Struckum 1984. Lizenzausgaben der Stuttgarter Ausgaben erschienen mit dem Untertitel „Die Geschichte der Albigenser“ Struckum 1985 und 1989. Weitere Ausgabe mit dem gleichen Untertitel Engerda 2000 und Dresden 2006. 156 Wir zitieren nach Hans - Jürgen Lange ( Hg.), Otto Rahn. Leben und Werk, Engerda 1995. Werkinterpretationen : Jean - Louis Biget, Mythographie du catharisme. In : Cahiers de Fanjeaux, 14 (1979), S. 271–342; Rolf Köhn, Eine deutsche Mystifikation der Albigenser. Otto Rahns ‚Kreuzzug gegen den Gral‘ (1933). In : Jürgen Kühnel / Hans - Dieter Mück / Ursula Müller / Ulrich Müller ( Hg.), Mittelalter - Rezeption III. Gesammelte Vorträge des 3. Salzburger Symposions : „Mittelalter, Massenmedien, Neue Medien“, Göppingen 1988, S. 295–311; Marie - Claire Viguier, Otto Rahn entre Lucifer et Jésus. In : Heresis. Revue Semesterielle d’Hérésiologie Médiévale, 18/1991, S. 55–70; Müller, Otto Rahn; Franz, Religion des Grals, S. 492–538 und 551 f. 157 Jean - Philippe Audouy, Déodat Roché. Le tisserand des catharismes, Carcassonne 1997, S. 132, unter Berufung auf Christian Bernadac. 158 Zit. nach Jacques Chouvy, Catharisme et vie politique en Languedoc au debut du XXe siècle. In : Archeologia ( Paris ), 19 ( Nov./ Dez. 1967), S. 42 f., hier 42. 159 René Nelli, Avertisement du traducteur. In : Otto Rahn. La cour de Lucifer, Paris 1974, S. 33–43, hier 35. 160 Ebd., S. 33. 161 Réne Nelli, Préface. In : Otto Rahn, Croisade contre le Gral, Paris 1974, S. 9–17, hier 9.

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seine Gewährspersonen vermittelten verklärten Bild der Katharer auch ein starker zeitgenössischer französischer Antiklerikalismus gehörte. 1910/11 war es bereits wegen der Aufstellung einer Statue der albigensischen „Ketzer - Päpstin“ Esclarmonde de Foix – der „Jeanne d’Arc du Midi“ als Stellvertreterin der in den Kreuzzügen ermordeten südfranzösischen Opfer – zur politischen Konfrontation zwischen Katholiken und den Vorkämpfern des Okkzitanismus unter Führung von Prosper Estieu gekommen.162 Dieser Antiklerikalismus war jedoch verbunden mit französischem Republikanismus; bei Peyrat waren die Katharer Vorläufer der Jakobiner der Französischen Revolution gewesen ! René Nelli betont ferner, es habe in der okzitanischen Bourgeoisie eine Germanophilie gegeben, die ihre gotische, also germanische Abstammung herausstellte und sich ihr „nordisches Blut“ zugute hielt. „Wie hätte Rahn“, so fährt er fort, „nicht auf den Gedanken kommen können, dass der Okzitanismus und der Germanismus sicherlich von nun an miteinander verbundene Parteien seien?“163 Aber, so schränkte Nelli auch gleich wieder ein, „l’Occitanie n’a jamais été raciste“.164 Antisemitismus hätte Rahn also bei seinen Gewährsleuten nicht gelernt. Wesentlich zum Verständnis der Absichten des „Kreuzzugs gegen den Gral“ ist aber, was Rahn in diesem Werk von diesen französischen Autoren und Vorbildern nicht übernahm : Viele waren mit der damaligen okkult - esoterischen Szene in Frankreich eng verbunden. So etwa der Ingenieur Arnaud aus Bordeaux mit der Theosophischen Gesellschaft, Antonin Gadal, der die Höhlen der Ariège „katharisierte“,165 ( erst später ?) mit den Rosenkreuzern, Maurice Magre mit der „Fraternité des Polaires“,166 die Gräfin Miryanne de Pujol - Murat mit der Anthroposophie und ebenfalls den Polaires;167 Déodat Roché mit den Freimaurern, den Martinisten,168 der Gnostischen Kirche, der Anthroposophie und dann den Rosenkreuzern.169 Rahn bekannte oder bekehrte sich zu keiner von diesen Richtungen;170 es sei denn, man wollte ihn, wie einige seiner französischen Gewährsleute auch, selbst 162 Chouvy, Catharisme, S. 43. 163 Nelli, Avertisement, S. 35 f. Allerdings wird als belegendes Beispiel dafür lediglich die exzentrische Gräfin Pujol - Murat genannt. 164 Nelli, Préface, S. 17. 165 Audouy, Déodat Roché, S. 130. 166 Zu Magre und der Polaren Bruderschaft vgl. Pierre Geyraud, Les sociétés secrètes de Paris, Paris 1938, S. 57–66; Joscelyn Godwin, Arktos. Das Buch der Hohlen Erde, Peiting 1997, S. 159–168; Franz Wegener, Deutscher Spiritismus, französischer Okkultismus und der Reichsführer SS, Gladbeck 2004, S. 66–112. Natürlich gehören in diesen Zusammenhang auch die ideologischen und esoterischen Uminterpretationen der antiken Berichte von „Hyperboreern“, Atlantis und Thule. 167 Audouy, Déodat Roché, S. 129 f. 168 Vgl. Geyraud, Les sociétés secrètes, S. 126–137. 169 Audouy, Déodat Rochè, passim. http ://www.rose - croix - veritas.com / otto_rahn.htm (20. 1. 2010) frägt : Otto Rahn : Arch SS adept or New Age messenger ? 170 Eine ausdrückliche Zurückweisung gab es aber nur in einem Punkt : Rahn verneinte die von Magre, der sich selbst zum Buddhismus bekannte, geäußerte Vorstellung, Albigen-

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als Neo - Katharer klassifizieren. In der Tat haben die deutsche Neuauf lage171 und die französischen Übersetzungen seiner Werke172 nach dem Zweiten Weltkrieg die Okkult - Deutung der Katharer wesentlich verstärkt und eine „periodisch auftretende Pilgerschaft“ nach Montségur mit ausgelöst.173 Rahn huldigte aber einer esoterischen Mystik eigener Art,174 wobei sich später freilich seine Mythen und Legenden auch von der deutschen völkischen Szene und dann von den Nationalsozialisten rezipieren ließen. Für Karl - Maria Wiliguts Entschluss, so wird vermutet, Rahn 1934 in die SS zu holen, „müssen die mystisch - irrationalen und antiklerikalen Tendenzen im ‚Kreuzzug‘ ausschlaggebend gewesen sein“.175 Aber schon Rahns französische geistige Helfer waren völkische Autoren in dem Sinne, dass sie dem Wiedererwachen der okzitanischen Sprache durch die Literatenvereinigung der Félibrige176 ein spirituelles Fundament geben wollten, indem sie das okzitanische Wesen mit den Troubadouren, den Albigensern bzw. Katharern des Mittelalters gleichsetzten.177 Ja, in einem kühnen Sprung in die Gegenwart wurden schließlich schon nach 1900 in der Provence auch sozialpolitische Konflikte, wie etwa der Protest einheimischer Winzer gegen Zuckersüßung, zu einer Unterdrückung des „Midi“ durch nordfranzösische Industriebarone stilisiert und dabei an den Kampf der Albigenser um ihre Freiheiten erinnert.178 Nichts dergleichen in Rahns „Kreuzzug gegen den Gral“ – keiner-

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ser / Katharer seien quasi „abendländische Buddhisten des Mittelalters“ gewesen und die indischen Lehren von Seelenwanderung und Nirwana seien zuvor von einem tibetanischen Weisen in Frankreichs leichtlebigen Süden gebracht worden ( Rahn, Kreuzzug. In : Lange, Otto Rahn. Leben und Werk, S. 14) mit dem Argument, die Bekehrung der dortigen keltiberischen Druiden sei durch Manichäer erfolgt, deren Lehre auch im Buddhismus verankert sei ( ebd., S. 254). Magre wiederum wies dies in „La clef des choses cachées“ (1935) mit dem Argument zurück, Rahns habe natürlich eine solche Verbindung zu einem unbekannten Meister aus Tibet bei Wolfram von Eschenbach nicht finden können ( nach Bernadac, Le mystère, S. 104, Anm. 1). Die gelegentlich geäußerte Vermutung, Rahn sei vor 1933 bereits durch die Anthroposophie Rudolf Steiners beeinflusst gewesen ( Köhn, Eine deutsche Mystifikation, S. 300 und 309, Anm. 8) ist durch nichts belegt. Otto Rahn, Kreuzzug gegen den Gral, Stuttgart 1974 ( der Herausgeber Karl Rittersbacher war Anthroposoph ); Lange, Otto Rahn. Leben und Werk. Otto Rahn, ( La ) croisade contre le Graal, Paris 1934, 2. Auf lage 1974; 3. Auf lage 1985, 4. Auf lage 1999; La Cour de Lucifer, Paris 1974, 2. Auf lage 1994. Nelli, Préface, S. 10. Armin Mohler, Die Konser vative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1972, S. 398, schrieb : „Auch er passt nicht in die üblichen Vorstellungen von ‚völkisch‘. Man kann ihn als Außenseiter neben die deutsch - gläubige Bewegung stellen.“ Lange, Kurt Eggers, S. 212. Vgl. auch Franz, Religion des Grals, S. 511 ff. Eine von Frédéric Mistral u. a. 1854 gegründete Gemeinschaft von Dichtern zum Zwecke der Wiederherstellung der provenzalischen, dann der okzitanischen Sprache insgesamt und der Kodifizierung ihrer Orthografie. In diesen Zusammenhang gehörte auch Déodat Rochés Dichter - Freund Prosper Estieu. Umfangreiche Hinweise dazu bei Audouy, Déodat Roché, passim. Chouvy, Catharisme, S. 42.

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lei Hinweis auf das bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichende okzitanische Revival und die darin enthaltenen politischen Implikationen !179 Freilich ist bei der Interpretation zu bedenken, dass der Begriff „okzitanisch“ damals noch nicht in Mode war, und Rahn deshalb schlicht von „des Pyrénées“ schrieb.180 Erst in „Luzifers Hofgesind“ tauchte als Neuheit zweimal der Hinweis auf „la secte possédait des écrits et des chants nationaux“ plus Rahns Zusatz : „Diese Schriften und Lieder hat man vernichtet, wie man auch diejenigen ausgerottet hat, die sie einst gehütet hatten.“181 Und schließlich gab es noch einen dritten Punkt, den Rahn nicht von seinen französischen Gewährsleuten übernahm : Sein Lob der „Minne“ – der weltlichen, wie sie die Troubadoure besangen, der himmlischen, zu der sich die Katharer bekannten – bezog sich auch auf die von ihm praktizierte gleichgeschlechtliche Liebe. Seinem Freund Albert H. Rausch schrieb er 1933 in einer Formulierungshilfe für eine von diesem beabsichtigte Rezension des „Kreuzzugs“ zum besagten Thema : „Sie [ die Minne ] begünstigt zum ersten und einzigen Male im Abendland einen gewissen übergeschlechtlichen Typus mann weiblicher und weib - männlicher Menschlichkeit. Sie werden das vorsichtiger auszudrücken wissen und dem wird gut so sein.“182 Rausch war in der Tat klug genug, diese homophile Anspielung auf Kategorien Hans Blühers „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“ (2 Bände, Jena 1917/1919)183 in seiner Besprechung mit dem vielsagenden Satz zu kaschieren : „Beide Begriffe [ Minne und Eros ] liegen jenseits verstandesmäßiger Deutung. Sie können nur erfühlt und gelebt werden von den Berufenen und Auserwählten.“184 Maurice Magre hatte sich bereits 1935 ironisch über diese Sache ausgelassen : „Ich kann mir nicht erklären, wieso [ Rahn ] im Verlauf seines Buches über die Katharer der Pyrenäen hartnäckig darauf besteht, die Liebe ( l’amour ) eine ‚Minne‘ zu nennen.“185 Es spricht vieles dafür, dass Rahn das Thema Jugendfreundschaft und Sexualität selbst als jugendbewegter Wander vogel am eigenen Leib erfahren hatte.186 Vielleicht versuchte er später seine Homosexualität dadurch SS - kon-

179 Auch sein bekannter Brief an La Dépeche ( Toulouse ) von 1932 ( in : Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 37 f.) lässt nicht erahnen, dass diese Zeitung Katharer - Ketzern und Okzitanien günstig gesonnen war ( Chouvy, Catharisme, S. 43). 180 Paul Ladame, Le mystère Otto Rahn. In : Rahn, La cour de Lucifer, S. 7–32, hier 16. 181 Rahn, Luzifers Hofgesind. Zit. nach Lange, Otto Rahn. Leben und Werk, S. 49 und 72; er zit. Edmond Broeckx, Le Catharisme. Étude sur les doctrines, la vie religieuse e morale, l’activité littéraire et les vicissitudes de la secte cathare avant la croisade, Hoogstraten 1916, S. 202. 182 Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 120. 183 Vgl. Ulfried Geuter, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung, Frankfurt a. M. 1994, u. a. S. 170. 184 Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 47. 185 Magre in : La clef des choses caches (1935). Zit. nach Bernadac, Le mystère, S. 104, Anm. 1. 186 Lange, Otto Rahn und die Suche, S. 44 f., nennt Rahns Kontakte zu ehemaligen Wandervögeln.

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form zu machen, dass er „Luzifers Hofgesind“ männerbündisch „meinen Kameraden“ widmete. In „Luzifers Hofgesind“ – inzwischen war Rahn NS - Parteigenosse, SS - Mann im Persönlichen Stab des Reichsführers SS187 und damit geistiger Zuarbeiter Himmlers geworden – bündelte er die romantischen religiösen Sehnsüchte seines „Kreuzzugs“ in eine klare weltanschauliche NS - konforme Botschaft – eine „Frohe Botschaft“188 nannte er ausdrücklich sein nunmehriges dezidiert antijüdisches und antichristliches Evangelium : Die wesentliche Arbeit des Historikers bestehe in der „Über windung des vordergründigen Materialismus und Psychologismus“.189 In einer an Natur wissenschaft, Technik und äußerlichen geschichtlichen Geschehnissen sich orientierenden Welt, gelte es, wieder den Gemeinschaft stiftenden „Mythos“ und „Kult“ zu erneuern.190 Der wahre Historiker war also ein Mythen - Schöpfer. Rahns eigener „Mythus des 20. Jahrhunderts“ hatte im Zentrum die Botschaft von des Lichtbringer Luzifers Gral : nicht der Kelch von Jesu Abendmahl und Jesu Blut von Golgatha,191 sondern ein heidnischer Gral nordisch - rassischer Bluts - Reinheit :192 „Unser Himmel ist nicht Jerusalems oder Roms Himmel. Unser Himmel spricht nur zu den Reinen, zu denen, die nicht niederrassige oder mischrassige Kreaturen sind – zu den Arya. Das heißt Edle und Herren !“193 Damit hatte Rahn nichts Neues und Originelles gesagt, sondern einfach die völkische Auslegung der dem Gral „innewohnenden Blutmystik [...] in einer rassistischen Weise“194 sich zu eigen gemacht und diesen arisierten Gral mit einem sich selbst erlösenden „Parzifal“ - Helden verbunden. Und doch wird darauf hingewiesen, dass Rahns „rassistische Verschärfung esoterischer Ideen“ ganz eigene Züge trug : Für ihn „seien die Angehörigen des nordischen Bluts in einer Minnegemeinschaft zusammengeschlossen“ gewesen; für Rahn bliebe „der Gral immer der aus der Krone Luzifers gefallene Stein, Symbol eines tieferen, mystischen Wissens und damit Symbol der Minne, da Minne ‚Erinnern‘ heißt“.195

187 Vgl. Elisabeth Kinder, Der Persönliche Stab Reichsführer - SS. Geschichte, Aufgaben und Überlieferung. In : Heinz Boberach / Hans Booms ( Hg.), Aus der Arbeit des Bundesarchivs. Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Zeitgeschichte, Boppard a. Rh. 1977, S. 379–397. 188 Rahn, Luzifer. Zit. nach Lange, Otto Rahn. Leben und Werk, S. 277. 189 Rahn, Luzifer. Zit. nach ebd., S. 274. 190 Rahn, Luzifer. Zit. nach ebd., S. 268–277. Er legte diese Botschaft einem Kameraden, „der ‚christlicher‘ als ich denkt“ als Sommersonnwend - Rede in den Mund. 191 Rahn, Luzifer. Zit. nach ebd., S. 42. 192 Rahn, Luzifer. Zit. nach ebd., S. 42, 52, 96. 193 Rahn, Luzifer. Zit. nach ebd., S. 160. 194 Franz, Religion des Grals, S. 440. 195 Müller, Otto Rahn, S. 441.

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Keltologie und Nationalsozialismus

Das Chiemsee - Kessel - Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte hielt auch wegen des keltischen Kontexts des Kessels dessen zeitliche Verortung im Nationalsozialismus für „wenig plausibel“: „Die im Bundesarchiv Berlin exemplarisch eingesehenen Akten einschlägiger NS - Provenienz ( v. a. Amt Rosenberg und SS - Ahnenerbe ) enthalten zudem keinerlei Hinweise auf ein spezielles Interesse an der keltischen Thematik.“196 Offenbar gibt es die Meinung, dass sich die nationalsozialistische Germanomanie schlecht mit dem Keltenkult verbinden ließ. Dieser Zusammenhang war aber tatsächlich dadurch unproblematisch, dass die „Vorstellung einer keltisch germanischen Gemeinsamkeit [...] bis in den Humanismus zurück[ reicht ], bis auf Conrad Celtis, seinen Schüler Johannes Aventinus und den Schweizer Egidius Tschudi, und sie hält sich noch bis ins Ende des 18. Jahrhunderts hinein : die Verbreitung des Ossianismus in Deutschland und die deutsche Bardendichtung wäre ohne sie kaum möglich gewesen“.197 Im 18. Jahrhundert „rücken Nordisches und Keltisches auch zeitlich in unmittelbare Nähe zueinander“,198 und im 19. Jahrhundert schlossen bei Friedrich Nietzsche die Bewohner der „Nordländer“ die Kelten mit ein, bei Houston Stewart Chamberlain die „[ Indo - ]Germanen“ auch Kelten und Slawen.199 Eine Abwertung des Keltischen erfolgte erst im 19. Jahrhundert und in der Zeit um den Ersten Weltkrieg mit der nationalistischen Feindbildpflege gegen die „keltischen“ Franzosen oder das „perfide Albion“.200 In der „germanisch - deutschen“ Kritik an den „Keltomanen“ äußerten sich nun die „Konfliktpotentiale nationaler Identifikationen“.201 Beide Positionen – die Zugehörigkeit der Kelten zu den „Nordvölkern“, betont auch von den völkischen Rassenanthropologen,202 und die nationalistische Abwertung der Kelten – ließen sich selbst noch in der Zeit des Nationalsozialismus mit dem Hinweis vereinbaren, dass in der vorgeschichtlichen Zeit die Kelten ein nordisches Volk gewesen seien, das sich aber dann unter Einfluss der Römer ( mit Nietzsche müsste man hinzufügen : und des Christentums ) „entnordet“ habe.203 Diese „nordisch - rassischen“ Kelten, so jüngst der Wiener Keltologe Helmut Birkhan unter Bezug auf die entsprechende wissenschaftsgeschichtliche Arbeit von Joachim Lerchenmüller,204 erfreuten sich auch aus politischen Gründen im 196 Zit. nach Claus / Hauer, Goldkessel, S. 191. 197 Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 64 und 302. 198 Ebd., S. 74 f. 199 Ebd., S. 288, 293 und 302. 200 Ebd., S. 302 und 304. 201 Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 128–147; ebd. auch die Differenzierung zwischen dem archäologischen und dem ethnischen Keltenbegriff. 202 Ebd., S. 305–313. 203 Von See, Barbar, S. 303. 204 Joachim Lerchenmüller, „Keltischer Sprengstoff“. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie über die deutsche Keltologie von 1900–1945, Tübingen 1997.

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Nationalsozialismus einer „beachtlichen Beliebtheit“ : „Keltologen wie Ludwig Mühlhausen und Leo Weisgerber wurden als Vermittler zwischen dem Reich und keltischen Nationalisten [ in Irland und in der Bretagne ], die gegen England und Frankreich im Widerstand waren, eingesetzt und sollten die antifranzösische und antibritische Propaganda schüren. Schon aus diesem Grund war die Keltologie, die von ihrer Entstehung her als ‚deutsche Wissenschaft‘ galt, durchaus wohlgelitten, ja sogar angesehen.“205 Lerchenmüller vertritt die These einer „Kontinuität im Bereich der deutschen Keltologie“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – bezogen „sowohl auf das Selbstverständnis der Keltologie als ‚politische‘ Wissenschaft [...] als auch auf die politische Einstellung ihrer führenden Vertreter“.206 Von zentraler Bedeutung sei dabei gewesen, dass sich „die Völker des ‚Celtic fringe‘ im Einflussbereich der politischen und militärischen Gegner Deutschlands befanden : Großbritannien und Frankreich. Vor allem in den drei Jahrzehnten zwischen Ausbruch des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs war für alle auf dem Gebiet der keltischen Studien in Deutschland tätigen Wissenschaftler / - innen der aktive Einsatz für die politisch - militärischen Ziele Deutschlands integraler Bestandteil ihrer Arbeit.“207 So wurde die Protektion von Mühlhausen durch das Ahnenerbe während des Zweiten Weltkriegs „geistespolitisch“ damit begründet, „unseren Führungsanspruch ebenfalls in Richtung auf die westlichen Völker zu untermauern“.208 Himmlers Ahnenerbe zeigte also durchaus Interesse an der Keltologie als Teil der Indogermanen - Forschung : Das Ahnenerbe wurde 1937 korporatives Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für keltische Studien;209 im gleichen Jahr kam es zum Versuch eines Ankaufs keltischer Funde aus der Schweiz für Devisen durch den Präsidenten des Ahnenerbes210 sowie zur Ausgrabung des hallstattzeitlichen sogenannten Fürstengrabes „Hohmichele“ bei Hundersingen

205 Helmut Birkhan, Nachantike Keltenrezeption. Projektionen keltischer Kultur, Wien 2009, S. 757. Dazu Lerchenmüller, Keltischer Sprengstoff; Gerd Simon, Zündschnur zum Sprengstoff. Leo Weisgerbers keltologische Forschungen und seine Tätigkeit als Zensuroffizier in Rennes während des 2. Weltkriegs. In : Linguistische Berichte, 79 (1982), S. 30–52; Martin Rockel, Zur Geschichte der Berliner Keltologie bis 1945. In : Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt - Universität zu Berlin, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe, 33 (1984), S. 197–201; Sabine Heinz ( Hg.), Die deutsche Keltologie und ihre Berliner Gelehrten bis 1945, Frankfurt a. M. 1999. 206 Lerchenmüller, Keltischer Sprengstoff, S. XI. 207 Ebd., S. XI f. 208 Kater, Ahnenerbe, S. 196. 209 Kater, Ahnenerbe, S. 126; Lerchenmüller, Keltischer Sprengstoff, S. 397. Das 1. Heft der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für keltische Studien von 1937 endet mit dem Satz : „Die stolze Freude über den Anteil, die die deutsche Wissenschaft an der Keltenforschung gehabt hat, wird zur Verpflichtung, künftig in gleichem Maße sich dieser Arbeit zu widmen und damit eine Überlieferung fortzuführen, die die besten deutschen Forscher der verschiedensten Disziplinen aufbauen halfen.“ So Helmut Bauersfeld, Die Entwicklung der keltischen Studien in Deutschland, Berlin 1937, S. 20. 210 Claus / Hauer, Goldkessel, S. 192.

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im Auftrag Himmlers durch den Tübinger SS - Dozenten Gustav Riek;211 ferner gab es einen, allerdings gescheitertern, Versuch, 1942 für den bisherigen Berliner Keltologen Ludwig Mühlhausen einen Lehrstuhl für Keltistik in „Reichsuniversität“ Straßburg zu schaffen,212 und seine Bestallung 1942 durch Himmler als Abteilungsleiter der neu geschaffenen „Lehr - und Forschungsstätte für keltische Volksforschung“ im Ahnenerbe.213 „Unter der Regie von Deutscher Gesellschaft für keltische Studien und Ahnenerbe wurde die Keltologie zur reinen Zweckwissenschaft“ mit „politisch - militärischer Zielsetzung“, urteilt Lerchenmüller.214 Und auch in Rosenbergs „Hoher Schule“ war ausdrücklich eine Arbeitsstelle für Keltenforschung vorgesehen.215 Bedauerlicher weise fehlt bisher eine systematische Darstellung der wissenschaftlichen und esoterischen Deutungen der Bildsymbolik des Gundestrup Kessels von seiner Auffindung bis in den Nationalsozialismus und darüber hinaus.216 War die toreutische Arbeit 1896 als „mithräisches Denkmal im Norden“ interpretiert worden,217 so sah im Ersten Weltkrieg der Leipziger Philosophieprofessor Hermann Schneider „die Felszeichnungen von Bohuslän, das Grab von Kivic, die Goldhörner von Gallehus und der Silberkessel von Gundestrup als Denkmäler der vorgeschichtlichen Sonnenreligion“.218 Mit Schneider begann die Ideologisierung dieses keltischen Funds, galt ihm doch Europa als „Ursitz der Sonnenreligion“ : „Die Sonnenreligion der Steinzeit ist die erste Weltreligion der Geschichte und heute noch der lebendige, gemeinsame Kern aller Weltreligionen“.219 Der völkische Okkultist Rudolf John Gorsleben sah 1930 („Hoch - Zeit der Menschheit“, Leipzig 1930) nicht nur Kelten und Germanen als gleichsam identische „Arier“,220 sondern besprach auch die „Initia211 Achim Leube, Politische und ideologische Aspekte der archäologischen Germanen - und Keltenforschung im Dritten Reich. In : Heinz ( Hg.), Die deutsche Keltologie, S. 223– 246, hier 241; wissenschaftliche Publikation der Grabung : Gustav Riek, Der Hohmichele, Berlin 1962. Dazu jetzt : Landesamt für Denkmalpflege Hessen ( Hg.), Archäologie und Politik. Archäologische Ausgrabungen der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts im zeitgeschichtlichen Kontext, Wiesbaden 2011. 212 Kater, Ahnenerbe, S. 196 und 286; Lerchenmüller, Keltischer Sprengstoff, S. 405 f. 213 Kater, Ahnenerbe, S. 196 und Tafel II dort im Anhang; Lerchenmüller, Keltischer Sprengstoff, S. 398. 214 Lerchenmüller, Keltischer Sprengstoff, S. 409. 215 Jacobeit / Lixfeld / Bockhorn ( Hg.), Völkische Wissenschaft, S. 286; Piper, Rosenberg, S. 473. 216 Eine anthroposophische Deutung gibt Rudolf Grosse, Der Silberkessel von Gundestrup. Ein Zeugnis des Läuterungs - und Einweihungsweges bei den Kelten, Dornach 1963, 2. Auf lage 1983. 217 Albert Voss, Der große Silberkessel von Gundestrup in Jütland, ein mithräisches Denkmal im Norden. In : Adolf Bastian als Festgruß zu seinem 70. Geburtstag, Berlin 1886, S. 369–413. 218 Hermann Schneider, Die Felszeichnungen von Bohuslän, das Grab von Kivic, die Goldhörner von Gallehus und der Silberkessel von Gundestrup als Denkmäler der vorgeschichtlichen Sonnenreligion : Ein Deutungsversuch, Halle ( Saale ) 1918. 219 Ebd., S. 42. 1923 veröffentliche Schneider dann : Die jungsteinzeitliche Sonnenreligion im ältesten Babylonien und Egypten, Leipzig 1923. 220 Birkhan, Keltenrezeption, S. 576–579.

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tionsplatte“ des Gundestrup - Kessels und sah im „Initiationsmeister“ den „Deutschen Michel“ verkörpert.221 Herman Wirth von Himmlers Ahnenerbe bezog sich in seiner Deutung der – gefälschten222 – „Ura - Linda - Chronik“ ebenfalls auf einige Motive des Kessels.223 Der Kessel war also in der völkischen Religiosität der NS - Zeit durchaus präsent.

9.

Eine mögliche historische Interpretation : Völkische Esoteriker und Okkultisten vor und im Nationalsozialismus

Mit der Veröffentlichung der Dissertation von Sandra Franz „Die Religion des Grals“224 ist die Suche nach der ideologischen und kultischen Einordnung des Chiemsee - Kessels auf eine neue Forschungsgrundlage gestellt. Diente doch ihre umfassende Untersuchung „der Frage, inwieweit die von [ Richard ] Wagner mitbegründete ‚Religion des Gral‘ als völkische Ersatzreligion fungierte, die sich in einer Kontinuitätslinie von Wagner und seinem Umfeld, verschiedenen völkischen Sektierern und Religionsstiftern bis hin zu Hitler und Himmler verfolgen lässt“.225 So wird die große Bandbreite der Gralsrezeption vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus sichtbar. Insbesondere zeigt sie auch auf, wo Gralsliteratur in kultische Praxis umschlug – ein für die Einordnung des Chiemsee Kessels wesentlicher Aspekt. Theoretisch könnte – die technische Zeitanalyse der Kesselentstehung auf die Jahre nach 1925 zugrunde gelegt – der Kessel von einer der in der Weimarer Republik bestehenden und im Nationalsozialismus weiterwirkenden Gruppierungen in Auftrag gegeben oder für sie gedacht gewesen sein. Diese Meinung vertritt Franz ausdrücklich : Es erscheint ihr „nicht ganz abwegig, eine Verbindung des Kessels mit einer völkischen Gruppierung der zwanziger Jahre wie dem Germanenorden oder seinem Umfeld zu vermuten“.226 Im Germanenorden werde über den Gral als ein keltisches Opfergefäß für Menschenopfer spekuliert, dessen Blut getrunken worden sei; es habe dort außerdem auch tatsächliche Weiherituale mit einem „Gral“ genannten Gefäß gegeben.227 Franz weist darauf hin, dass der Gralsmythos „mit seiner Blutmystik und Erlösungslehre relativ leicht ‚völkisch uminterpretiert und in eine esoterisch - okkultistisch verstandene NS - Ideologie integriert werden‘ konnte“.228 So gesehen, engt sich der Kreis derer, welche eine dezidiert antichristliche nordische und 221 222 223 224 225 226 227 228

Ebd., S. 757. Vgl. Rieth, Vorzeit, S. 133–136. Birkhan, Keltenrezeption, S. 757. Franz, Religion des Grals. Zuvor hatte sich bereits Jost Hermand des Themas angenommen; u. a. Gralsmotive um die Jahrhundertwende. In : Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 36 (1962), S. 531–543. Franz, Religion des Grals, S. 15. Ebd., S. 432, Anm. 120. Ebd., S. 430–432. Ebd., S. 15; Zitat aus Köhn, Eine deutsche Mystifikation, S. 304.

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rassistische Deutung des Gralsmythos – der Gral als „Symbol einer völkischen Blutmystik“229 – literarisch vertraten, auf einen relativ kleinen Personenkreis aus dem völkisch - okkultistischen Milieu ein, zu dem vor allem die Ariosophen Guido von List und Lanz von Liebenfels und ihre Nachfolger zählten. List gab eine „druidische“ Auslegung des Grals, als er 1891 – im Jahr der Auffindung des Gundestrup - Kessels ! – den heidnischen Ursprung des christlichen Grals im „Kessel“ einer keltischen Naturgöttin Ceridwen ausmachte und diesen Kessel als Abbild „des siegreichen Lebens gegenüber dem Tod“ und als Ursprung der christlichen Abendmahl - „Schüssel“ und des Taufbeckens zur „Bluttaufe“ – also eines heilbringenden Menschenopfers – deutete. Allerdings begriff List diesen „Kessel der Ceridwen“ noch als „unsichtbares Symbol“, das aber für ihn in christlichen Wannen - , Schüssel - und Kessel - Reliquien weiterlebte.230 Auf den Ariosophen aufbauend, lieferte dann Rudolf John Gorsleben „die wohl klarste und eindeutigste Umdeutung des Grals aus völkischer Sicht, den er als ‚das reine Blut der arischen Rasse, das uns und alle erlöst‘, definierte“.231 Interessanter weise gehörte seiner 1925 gegründeten Edda - Gesellschaft – ein Studienzirkel, der eine arische Religion rekonstruieren wollte und ebenso wie der ONT232 gute Kontakte zu Wiligut besaß233 – auch Mathilde Ludendorff, die zweite Ehefrau des Weltkriegsgenerals, an.234 Es ist auch die Behauptung aufgestellt worden, Mathilde Ludendorffs Bund für Gotteserkenntnis könnte „federführend für die Fertigung des Chiemseekessels verantwortlich gewesen“ oder vielleicht „auch nur mit eigenen Experten ausgeholfen haben“.235 Tatsache ist, dass ein Bund dieses Namens erst 1951 gegründet wurde, sein Vorgänger war seit 1937 ein Verein Deutsche Gotterkenntnis ( Ludendorff ), nachdem der frühere Verein Deutsch - Volk 1933 verboten worden war; ein ausgeprägter Kult scheint nicht bestanden zu haben.236 Die literarischen Werke der Ariosophen und Gorslebens wurden wiederum von Himmler rezipiert, in dessen direkten persönlichen Umfeld auch Otto Rahn, der Autor von „Luzifers Hofgesind“, wirkte. Insbesondere Rahn entwarf eine die christlichen Symbole aufgreifende und sie gleichzeitig heidnisch umdeutende 229 Ebd., S. 442. 230 Zu Guido von Lists „Die Sage vom heiligen Gral und deren mythologischer Ursprung“ (1891) vgl. Franz, Religion des Grals, S. 308 –310. Auch Gorsleben griff auf Lists „Kessels der Ceridwen“ zurück. Vgl. Franz, Religion des Grals, S. 439. 231 Franz, Religion des Grals, S. 439. Gorslebens „Hoch - Zeit der Menschheit“ ( Leipzig 1930) befand sich auch in Hitlers Bibliothek vgl. Gassert / Mattern, Hitler Library, S. 118. 232 Lange, Weisthor, S. 36–38. 233 Ebd., S. 40, 42, 50–52. 234 Franz, Religion des Grals, S. 434. 235 Bürgin, Bayerns „Gral“, S. 12, unter Berufung auf das letzte erschienene Heft der inzwischen eingestellten Schatzsucher - Zeitschrift „Nugget – Abenteuer, Schätze, Gold, Mineralien“, Nr. 53, o. J. 236 Gert Borst, Die Ludendorff - Bewegung 1919–1961, Diss. phil. München 1969, S. 240– 245; Friedrich Wilhelm Haack, Wotans Wiederkehr. Blut - , Boden - und Rasse - Religion, München 1981, S. 131–156.

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„arteigene“ Grals - Religion, welche die christliche Deutung des Grals als Kelch des Josef von Arimathia samt Christi Erlöserrolle ablehnte und stattdessen eine Religion heroischer Selbsterlösung propagierte. Himmler selbst beabsichtigte, wie sein Konkurrent Alfred Rosenberg, an die Stelle des Christentums eine auf der „Erschließung des germanischen Erbes“ (Ahnenerbe) aufbauende „arteigene“ Religion treten zu lassen.237 Besonderes Gewicht hatten dabei neue Feierformen und kultische Zeremonien einschließlich dabei zu gebrauchender Kultgegenstände und religiöser Symbole.238 Als Parallele zu Rosenbergs „Lebensfeiern“ entwickelte die SS sogenannte Sippenfeste zur Feier von Geburt, Hochzeit und Tod :239 „Die ‚Sippenfeiern‘ drückten das Selbstverständnis der SS als ‚heroische Elite‘ aus und prägten es zugleich.“240 Während des Krieges wurde dabei insbesondere der Heldenkult für gefallene SS - Leute von Bedeutsamkeit.241 Weitere Klarheit verspricht die Analyse der symbolischen Aussage des Kessels selbst, insbesondere was die Abweichungen vom inspirierenden Gundestrup - Kessel betrifft. Nach Wamsers erstem Anlauf zur Interpretation des Goldkessels 2002 dauerte es aufgrund des öffentlichen Fehlens einer umfassenden Bilddokumentation des angeblichen Chiemsee - Funds bis 2010, ehe eine solche neue Deutung durch Thomas Claus und Thomas Hauer unternommen wurde.242 Ihre Basis scheint eine ziemlich komplette Dokumentation des Bildprogramms zu sein, welche sich die Autoren zu verschaffen wussten; denn nach eigener Aussage gelang es ihnen, „etwa 95 Prozent des Bildprogramms zu rekonstruieren“.243 Als wesentlichsten Unterschied zum Gundestrup - Kessel halten sie fest : „Auffällig ist weiterhin, dass es sich bei den Außenmotiven ausnahmslos um männliche Figuren handelt, während auf der Außenseite des Kessels von Gundestrup auch drei weibliche Figuren dargestellt sind. Weibliche oder androgyn gedachte Bildmotive kommen beim Goldkessel nur auf der Innenseite vor, so dass eine strikte geschlechtliche Trennung der Motive zu vermuten ist : innen die Frauen und außen die Männer. Zudem wurden zahlreiche Attribute der Gottheiten geändert oder ergänzt, wie ein stilisiertes 237 Ackermann, Himmler, S. 40–96; Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941, Paderborn 2002; Longerich, Himmler, S. 274–284. 238 Jacobeit / Lixfeld / Bockhorn ( Hg.), Völkische Wissenschaft, 1994, S. 218 f.; Longerich, Himmler, S. 297–304. 239 Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 97–99; Ackermann, Himmler, S. 84–88, bes. die Bildtafeln nach S. 80 zu Weiheraum und Kultgeschehen bei der SS - Namensweihe mit Beschreibung ebd. S. 84–88. Im Hinblick auf eine mögliche Funktion des Chiemsee - Kessels sind insbesondere die abgebildete Feuerschalen von Interesse. 240 Behrenbeck, Kult um die toten Helden, S. 504. 241 Ebd., S. 502–506. 242 Claus / Hauer, Goldkessel, S. 179–186. 243 Ebd., S. 179. Eine erste verbale Beschreibung dieses Materials bei Birkhan, Keltenrezeption, S. 758–760, allerdings fast nur auf die Innenseite des Kessels beschränkt und damit ohne Beachtung eines möglichen thematischen Zusammenhangs zwischen den zugehörigen Platten der Innen - und Außenseite.

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sechsspeichiges und ein achtspeichiges Rad, eine geschwungene Carnyx mit Drachenkopf sowie zahlreiche Tiere, Pflanzen und Fabelwesen, die auf dem Gundestrup - Kessel fehlen. Besonders die Darstellung der Innenseite unterscheidet sich bis auf ganz wenige Zitate vom Gundestrup - Bildprogramm. Dominierend sind dort drei fast identische Köpfe, die ohne Ohren dargestellt sind [...]. Auch bei den Symbolen, von denen Baum und Rad auf beiden Kunstwerken vorhanden sind, werden Unterschiede deutlich [...]. Als besonders auffällig, quasi als Leitmotiv, kann der Baum angesehen werden.“244

Außerdem kommen sie zu dem Gesamturteil, „das Bildprogramm des Goldkessels erscheint wesentlicher ‚blutrünstiger‘ als das seines dänischen Vorbildes“.245 Wesentliches Ergebnis der Auswertung dieses Bildprogramms – auch durch den Wiener Keltologen Helmut Birkhan246 – sei, dass „es nicht möglich erscheint mittels archäologischen Fachwissens über antike keltische oder germanische Ikonografie die Symbolsprache [ und ] das Bildprogramm des Kessels zu deuten“, sondern dass die Symbole und die Ordnung ihrer Darstellung eindeutig auf die „Bildsprache völkischer Esoterik“ ver weisen.247 Genauer : Sie glauben nachweisen zu können, „dass der Schöpfer des Bildprogramms ein intimer Kenner der ‚armanischen Heraldik‘ von [ Guido von ] List gewesen sein muss“;248 denn der Kessel sei „ein armanisches Bilderrätsel aus Gold“.249 Diesen Kenner vermuten sie speziell in Rudolf John Gorsleben.250 Während ihre Argumente so weit nachvollziehbar sind, bleibt ihre genauere zeitliche Zuordnung des Kessels in die 1930er Jahre ( also den Nationalsozialismus )251 und die Verortung in den Kontext der Wewelsburg252 doch weiterhin bloße Vermutungssache.

10.

Argumente gegen eine rein esoterische Verortung des Bildprogramms des Kessels

Während Claus und Hauer also vorschlugen, das Bildprogramm des Kessels mit Hilfe esoterischer völkischer Schriften zu deuten, beschritt Ludwig Wamser inzwischen einen anderen Weg : Zwar vermutet auch er im Bildprogramm „bis zu einem gewissen Grad“ esoterische Anspielungen, hält sie jedoch nicht so sehr für die primäre Aussage des Kessels. In der Hauptsache erschließe sich diese vielmehr bei Analyse seiner bildlichen Darstellungen auf der Grundlage antiker 244 245 246 247 248 249 250 251

Claus / Hauer, Der Goldkessel, S. 180. Ebd., S. 193. Ebd., S. 185. Ebd., S. 181. Ebd., S. 184. Ebd., S. 182. Ebd., S. 181, 192, 194–197, 199. Ebd., S. 185, 188. Sie stützen sich dabei u. a. auf die Einschätzung von Ludwig Wamser in seinem Würzburger Vortrag im Jahre 2002 und auf ein Interview von Claus mit Wamser am 12.10. 2004 mit Wamsers Aussage: „1938 oder später“ ( Claus an Verfasser vom 14. 7. 2011). 252 Ebd., S. 197–199.

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und zeitgeschichtlicher Quellen, in welchen spezielle zentrale Aspekte thematisiert seien : „Aus der Beschaffenheit zahlreicher typologisch - inhaltlicher Details der gestalterischen Ausführung des Kessels und der Komposition seiner verschiedenen, zu thematischen Sinneinheiten gruppierten Einzeldarstellungen zu einem komplexen, in sich stimmigen Bildprogramm ist klar ersichtlich : seine Urheber verfügten über einschlägige archäologisch - numismatische Fachkenntnisse und waren auch erstaunlich gut über die Nachrichten griechischer und römischer Autoren, epigraphische Zeugnisse und antike Bildreliefs zur keltischen Religion und deren elementare Bestandteile informiert; sie dürften daher zumindest partiell akademische Kenntnisse besessen oder sich angeeignet haben. Solches Sachwissen beinhaltete vor allem die archaische Idee des Menschen - und Tieropfers mit überlieferter Tötung von Menschen und Rindern bzw. Stieren namentlich durch Enthaupten im Sinne einer zeitlichen – auch dem Bilderzyklus der Reliefplatten entsprechenden – Abfolge derartiger Opferungen vornehmlich an Taranis, den keltischen ‚Schutzgott der Kriege und größten aller Götter‘ ( so in den Commenta Bernensis zu Lucans ‚Bellum Civile‘ ) wie auch die diesen Handlungen zugrunde liegenden Beweggründe.“253

Nach Wamser lassen sich letztere bei gedanklicher „Zusammenschau“ der drei inneren Reliefplatten mit den sechs rückseitig positionierten ( halb so breiten ) äußeren – thematisch stets auf das jeweilige Innenrelief bezogenen – „Gegenplatten“ wie folgt umreißen : „Eine keltische Kriegergemeinschaft versucht durch Menschenopfer respektive Gelübde und Opfermut das Wohlwollen der in androkephaler Pferdegestalt dargestellten Gottheit zur Ermöglichung eines glücklichen Kriegsausgangs zu erlangen. Die folgenden Reliefplatten veranschaulichen sodann in logischer Fortsetzung besagten Beeinflussungsbemühens im Wesentlichen einen militärischen Sieg durch das hilfreiche Eingreifen der Gottheit in die Schlacht, aber auch den Tatenruhm der siegreichen Kriegerschaft durch demonstrative Vorführung der erbeuteten Waffen, Vorweisung der abgeschlagenen Feindeshäupter und das Intonieren von Siegesgesängen im Rahmen eines triumphalen FeierRituals. Auf den abschließenden Platten sind gleichsam das Resultat und die Sinnerklärung des ganzen Opfergeschehens thematisiert, nämlich die Verheißung oder Gewährung göttlichen Beistands als Lohn für die Erfüllung des göttlichen Willens, insbesondere die lebenserhaltende Bedeutung des Menschen - und Tieropfers für die menschliche und tierische Kreatur als eines integrierenden Bestandteils der druidischen Glaubenslehre von der fortwährenden menschlichen Existenz nach dem Tode und deren religiöse Ver wurzelung in einem eurasienweit belegbaren Glauben an eine besondere Bedeutung des Mondes, der seit alters als ein göttliches Zeichen der Widerspiegelung des ewigen Kreislaufs menschlichen Werdens und Vergehens erachtet wurde – dies alles in synkretistischer Verbindung mit mythischen, auch im Latènekreis wirksam gewordenen Vorstellungen mediterran - vorderasiatischen Ursprungs. Hierbei spielten nicht nur verschiedene – in kennzeichnenden Attributen auch auf dem Chiemseekessel dargestellte – Elemente des Artemis - , Selene - und Cernunnos - Kults in Kombination mit der göttlichen, schicksalweisenden Widderhornschlange eine konstitutive Rolle, sondern auch das – gerade im vorliegenden Falle einer goldenen ‚Kontrafaktur‘ des berühmten Gundestrup - Kessels hervortretende – Phänomen eines magischen Kessels als omnipräsentes Symbol von Wiedergeburt und Erneuerung, Reichtum und Fülle.“

253 Die folgenden Zitate stammen aus einer brief lichen Mitteilung von Ludwig Wamser an den Verfasser vom 16. 6. 2011 und 27. 6. 2011.

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Ein zeitgeschichtlicher Bezug ergibt sich nach Wamser vor allem aus dem Umstand, dass „sich jene vorerwähnten Opferhandlungen und das mit dem Kult einhergehende Ritual bei den Kelten augenscheinlich im Rahmen einer kriegerischen, gefolgschaftlich organisierten Schwur - Gemeinschaft vollzogen, die sich auch im Bildprogramm des Kessels widerspiegelt. Dieses Verständnis ist seit langem Gegenstand althistorischer, später auch germanistischer, volkskundlicher, prähistorischer, wissenschaftspolitischer und völkischer Betrachtungen zur kultisch motivierten Devotion innerhalb der keltischen ( partiell auch auf die Verhältnisse bei den Germanen übertragenen ) Kriegergemeinschaften im Sinne einer totalen Selbsthingabe der Gefolgsleute, die im Rahmen eines Weiheakts mit der scheinbar völligen Aufgabe der eigenen Persönlichkeit besiegelt wurde. Sowohl den weltanschaulichen Vorstellungen der völkischen Sammlungsbewegung als auch denen des Nationalsozialismus kam solch ein archaisches Kriegerethos mit seinem radikal lebensfeindlichen Heroismus, wie er auch auf dem Goldkessel zum Ausdruck kommt, sehr zupass.“ In diesem Sinne vermittle „das Bildprogramm des Kessels ( dessen inhaltlicher Aussagewert von seinem / seinen geistigen Urheber / n gewiss auch weiteren ‚eingeweihten‘ Mitgliedern der betreffenden – nach Sandra Franz am ehesten im Germanenorden oder dessen ideologischem Umfeld anzusiedelnden – Gruppierung um den / die Inhaber respektive Nutzer besagten Kessels habe weitervermittelt werden können ) zugleich die altüberlieferte, seit dem Ersten Weltkrieg wieder virulente Ideologie einer ‚soldatischen Elite‘, d. h. eines die ‚Kameradschaft‘ und den ‚Opfermut‘ betonenden ‚männerbündischen‘ kriegerischen ‚Gefolgschaftswesens‘ als programmatisches Vermächtnis und Auftrag der Ahnen“, in anderen Worten : als Kern einer politischen Erneuerung.254

11.

Fazit

Eindeutig klar ist beim Entstehungszeitraum des aus technischen Gründen nichtantiken Chiemseekessels lediglich der Zeitpunkt post quem : nach der Erstpublikation der Bildmotive des Gundestrup - Kessels 1891 und ante 2002 ( Einlieferung des Chiemseekessels ). Weiter einengen ließe sich dies, wenn man die mündliche Angabe einer Herstellung zwischen 1925 und 1939 oder gar 1925 bis 1933 für belastbar hält – was Ludwig Wamser, der den betreffenden Zeu-

254 An Publikationen solcher damaliger Vorstellungen nennt Wamser u. a. Johann Scherrer, Die Gallier und ihre Verfassung, Heidelberg 1865; Otto Höf ler, Kultische Geheimbünde der Germanen, Frankfurt a. M. 1934 ( u. a. mit Bezugnahme auf die wissenschaftlichen Auswertungen des mittelthüringischen Gräberfeldes von Großromstedt vor allem seit 1927). Vgl. auch Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln 1961, 2. Auflage 1977, u. a. mit Bezugnahme auf die in den antiken Quellen überlieferte „männerbündische Folgeordnung als ein psychagogisches Merkmal des keltischen Glaubens“.

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gen intensiv befragt hat, bejaht.255 Wamser hat jüngst in einem Vortrag256 erneut für eine Entstehungszeit des Kessels in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, vielleicht noch Anfang der 1930er Jahre plädiert, jedenfalls noch vor 1933 und während der Zeit der Weimarer Republik. Dann habe der Kessel seine eigene weitere Geschichte gehabt, eine während der Friedensjahre des Nationalsozialismus, wieder eine andere während der Kriegsjahre und vielleicht nochmals eine während einer denkbaren Deponierung des Kessels zur Zeit der Eroberung Deutschlands durch die Alliierten 1945. Eine Entstehung des Kessels und/ oder seine Versenkung erst nach dem Zweiten Weltkrieg seien doch eher auszuschließen. Diese verschiedenen Überlieferungsphasen des Kessels seien als „diskordante zeitliche Abfolge“ mit ihren Widersprüchen zu verstehen. Aber auch Wamser kann diese zwanzigjährige Geschichte des Kessels lediglich durch plausible Kombinationen von historischen Vorgängen und persönlichen Verflechtungen rekonstruieren, es gibt dazu bisher keine einzige schriftliche historische Quelle. Gerade weil es die nicht gibt, scheint die Versuchung groß zu sein, solche Quellen nachträglich zu schaffen.257 Die pseudohistorischen Okkult - Deutungen des Kessels haben wir ausführlich geschildert. Es wurde deutlich, dass sich insbesondere populärwissenschaftliche Magazine – in unserem Falle „Welt der Wunder“ und „P. M. History“258 – 255 Mündliche Auskunft von Ludwig Wamser am 17. 4. 2010. 256 Ludwig Wamser, Archäologie und Zeitgeschichte. Der goldene „Gral“ aus dem Chiemsee und sein Bildprogramm. Rezeption keltischer Glaubensvorstellungen als völkische Vision einer neuen, „arteigenen“ Religion, Vortrag am 10. Mai 2011 im Toskana - Saal der Universität Würzburg und mündlicher Bericht Wamsers über die dortigen Ausführungen an den Verfasser vom 15. 6. 2011. 257 Sehr dubios erscheint deshalb das neuerdings durch Luc Bürgin ( Ist das der dreizehnte Kristallschädel ? Brisante Schätze von Hitler und Himmler in Bayern entdeckt. In : mysteries, 2/2011, S. 10–17) veröffentlichte Beweisstück einer angeblich von der NSDAP, Gauleitung Schwaben, im April 1945 verfassten „Depositarliste“ : In ihr ist u. a. aufgelistet eine „Ebenholzkiste, Wewelsburg / III Otto Gahr / München“ aus dem Besitz des Reichsführers SS Himmler mit dem Inhalt „Goldkessel, keltisch“. Man kann sich – auch angesichts der sonstigen dort genannten Wertgegenstände – des Eindrucks einer nach 2001 entstandenen Fälschung nicht erwehren, deren Ziel darin bestehen könnte, einem vorhandenen „Kristalltotenkopf“ und / oder dem Goldkessel eine sichere Provenienz (auch im Sinne einer finanziellen Aufwertung ) dadurch zu verschaffen, dass beide als aus Himmlers Besitz stammend bezeichnet werden – der Schädel übrigens mit dem Zusatz „Sammlung Rahn, No 25592“. Auf eine solche umfangreiche Sammlung Rahns in Himmlers Besitz gibt es bislang keinerlei reale Hinweise. Der in Bürgins Liste im Zusammenhang mit dem Goldkessel genannte Goldschmied „Otto Gahr / München“ ist jedem NS - Devotionalienhändler bzw. - sammler bekannt durch das Buch Heinrich W. Schild / Arthur Meyer, Die Werkstatt Otto und Karolina Gahr in München und ihre Arbeiten für die NSDAP und deren Gliederungen. Otto und Karoline Gahr, die Silberschmiede der NSDAP und der SS, Marsberg 1993. Otto Gahr starb am 1. 1. 1932; damit wäre durch die Fälschung eine Entstehungszeit des Kessels vor der NS - Machtübernahme nachgewiesen. 258 Jörg Michael Seewald und Sascha Priester, letzterer der Chefredakteur von „P. M. History“, haben für November 2011 eine dtv - Monographie mit dem Titel „Das Rätsel des Chiemsee - Kessels. Mythos, Wahn und Wirklichkeit : die Nazis und ihr Heiliger Gral“ angekündigt.

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aber auch Fernsehfilme aus diesem Reser voir bedienen. Wir haben diese Pseudogeschichten aus fachhistorischer Sicht zu entkräften gesucht. Manche bisherige Deutungslinie des Chiemsee - Kessels lässt sich damit ausschließen, etwa ein Zusammenhang mit der spirituellen Gralssuche von Otto Rahn, mit unentschlüsselbaren angeblichen Weisheitsworten Karl - Maria Wiligut oder mit gänzlich erfundenen Aktivitäten von Otto Skorzeny. Ebenfalls als Beweiskontext entfällt ein Zusammenhang mit antichristlichen, für ein breites Publikum gedachten kultischen Feierveranstaltungen, wie sie im Nationalsozialismus praktiziert wurden und sich in den Kriegsjahren insbesondere als Heldengedenkfeiern ausprägten.259 Rosenberg und Himmler betrieben zwar das Projekt der „Lebensfeiern“ bzw. „Sippenfeiern“, die kriegsbedingt vor allem zu Totenfeiern wurden.260 Wie beim gesamten nationalsozialistischen „Kult um die toten Helden“ bildeten auch hier Heldenkult und Kultgemeinde eine Einheit mit Architektur, Liturgie und Symbolsprache.261 Himmler und Rosenberg entwarfen zudem spezielle Kultstätten für einen elitären heroischen Totenkult : Himmler in der Wewelsburg ( sog. „Krypta“ oder „Gruft“ im Nordturm ), Rosenberg am Chiemsee ( Zentrale der „Hohen Schule“ mit Festhalle und evtl. späterer Ausgestaltung zur „Kämpfer - Gedenkstätte“). Bis jetzt gibt es aber keinerlei belastbaren Hinweis, dass in diese projektierten Kultstätten der kostbare Chiemsee - Kessel irgendwie integriert war. Schließlich lag ja bis 1945 das Chiemsee - Zentrum der „Hohen Schule“ lediglich als Entwurf vor, der Ausbau des Nordturms der Wewelsburg war unvollendet und die von Himmler dort vorgesehenen Totenehrung( en ) war( en ) nie verwirklicht worden. Andererseits hätte es durchaus seine Plausibilität, den Kessel im heroischen Totenkult anzusiedeln – gemäß der Deutung Guido von Lists, der Ceridwen - Kessel sei Abbild „des siegreichen Lebens gegenüber dem Tod“. Aber auch der Wiener Keltologe Helmut Birkhan resigniert im Anschluss an seine Beschreibung des Bildprogramms des Chiemsee - Kessels : „Eine durchgehende Kulthandlung oder ein neuheidnisches Credo etwa der SS - Ideologie oder der Rosenbergschen Rassenphilosophie kann ich ( noch ?) nicht erkennen.“262 Eine bedenkenswerte Auswirkung der pseudohistorischen Okkult - Deutungen des Kessels könnte darin bestehen, dass nun auch seriöse Historiker versuchen, eine esoterische Lesart des Bildprogramms des Kessels zu unternehmen, wie das Claus und Hauer mit ihren Verweisen auf List und Gorsleben, auf ariosophische Lehren, „armanische Heraldik“ und völkische Kabbalistik taten. Hier erscheint die Lesart Ludwig Wamsers ein gutes Gegengewicht zu bilden, da sie ohne solche esoterische Deutungen auskommen will. Zugespitzt formuliert : Ist

259 Behrenbeck, Kult um die toten Helden, S. 492–502. 260 Vondung, Magie, S. 55–57, 97–112; Jacobeit / Lixfeld / Bockhorn ( Hg.), Völkische Wissenschaft, S. 276–280; Behrenbeck, Kult um die toten Helden, S. 502–504; Piper, Rosenberg, S. 419–423. 261 Vgl. Behrenbeck, Kult um die toten Helden, S. 343–446. 262 Birkhan, Keltenrezeption, S. 768.

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das Bildprogramm des Kessels nur verständlich als Ausdruck völkischer Esoterik oder ist sein Programm nicht vielmehr doch das des völkisch - religiösen Mainstream ? Darüber wird in Zukunft sicher noch kontrovers diskutiert werden. Vielleicht wird man sogar das Wort völkisch - „religiös“ bei der Deutung des Kessels als weitere esoterische Grals - Projektion entlar ven und den Kessel in einen profaneren völkischen Kontext einordnen und somit die bisherige Deutungsrichtung von „Hitlers Nachttopf“263 zum heiligen Nazigral wieder umkehren, sozusagen : Vom Heiligen NS - Gral zurück zu Hitlers Nachttopf.

263 So etwa Röbel, Hitlers Nachttopf, S. 73; Effern; Kessel doch kein Nazigold, S. 45; Effern, Wie aus Hitlers Nachttopf der Heilige Gral wurde, S. 33.

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IV. Anhang

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Abkürzungsverzeichnis AC ADFM ADG ADW AG ARD ARE ARW BArch BArchP BB BBKL BDC BDG BdL BdM BFGD BGB BK BVE BWKG CdSDHA CuW DAF DAR Db Db - Bl DC DDP DDR DEK DG DGK DM DNVP dpa DR DVP EHH EUR EZA EZW FRD FS GDV

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572 Gestapa Gestapo GG GGG GKR GNM GStAPK HJ IfZ IVB JAM KDG KDC KPD KSA KZ LA - B LKA LMB MDR NG NNSAP NS NSBO NSDAP NSDDB NSLB NSV NVDS NWDR OAM ONT OSB PEN Pg. PNP REM RFSS RR RSHA SA SD SDHA SD - OA SD - UA SHLB

Anhang Geheime Staatspolizei Amt Geheime Staatspolizei Geschichte und Gesellschaft Germanische Glaubens - Gemeinschaft Gemeindekirchenrat Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz Berlin Hitlerjugend Institut für Zeitgeschichte Internationale Bibelforscher - Vereinigung Archiv Johann Adam Möhler - Institut Kampfring Deutscher Glaube Thüringische Kirchenbewegung Deutsche Christen Kommunistische Partei Deutschlands Kritische Studienausgabe Konzentrationslager Landesarchiv Berlin Landeskirchliches Archiv Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek Kassel Mitteldeutscher Rundfunk Nordische Glaubensgemeinschaft Norges Nasjonal - Socialistiske Arbeiderparti ( Norwegische National - Sozialistische Arbeiterpartei ) Nasjonal Samling Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Nationalverband Deutscher Soldaten Nordwestdeutscher Rundfunk Osoby Arkhiv Moskau Ordo Novi Templi ( Neutempler Orden ) Ordo Sancti Benedicti ( Orden der Benediktiner ) poets essayists novelists Parteigenosse Passauer Neue Presse Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Reichsführer - SS Reichsring der gottgläubigen Deutschen Reichssicherheitshauptamt Sturmabteilung der NSDAP Sicherheitsdienst des Reichsführers - SS Sicherheitshauptamt Sicherheitsdienst des Reichsführers - SS - Oberabschnitt Sicherheitsdienst des Reichsführers - SS - Unterabschnitt Schleswig - Holsteinische Landesbibliothek

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Abkürzungsverzeichnis Sowi SPD SRRF SS StA StGB THStW TU UAG UAJ USPD VDSt VfG VfZ VHB. HJ VVN W. T. B. WAB WDR ZAHDS ZDF ZfG ZKG

573

Sozialwissenschaftliche Informationen Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sveriges Religiösa Reformförbund ( Schwedischer Verband für religiöse Reformen ) Schutzstaffel der NSDAP Staatsarchiv Strafgesetzbuch Theologische Studien aus Württemberg Technische Universität Universitätsarchiv Gießen Universitätsarchiv Jena Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verein Deutscher Studenten Volksbund für Geistesfreiheit Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vorschriftenhandbuch der Hitler - Jugend Verein der Verfolgten des Naziregimes Wolffs Telegraphisches Bureau Wandervogel - Archiv Berlin Westdeutscher Rundfunk Zentrum für die Aufbewahrung historisch - dokumentarischer Sammlungen, Moskau Zweites Deutsches Fernsehen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Kirchengeschichte

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Personenregister Åberg, Nils 410 Achterberg, Eberhard 430 Adam, Karl 318–321, 323, 332–334 Ahlmann, Axel 280 Algermissen, Konrad 301, 312–314, 434 Almquist, Ernst B. 269 f. Althaus, Paul 279, 294 Altpeter, Werner 173 Andersen, Friedrich 204 f. Angebert, Jean - Michel 543 f. Aquin, Thomas von 308 Arimathia, Josef von 562 Arnaud 553 Aron, Raymond 30 Assmann, Jan 493 Astel, Karl 105, 108, 110 f., 114 f., 117–119, 124 Augdahl, Odin 518 f. Augustinus 272, 308 Aventinus, Johannes 557 Bach, Sebastian 175 Bachem, Franz Carl 302 Baetke, Walter 422, 431, 435 Baeumler, Alfred 96, 344, 480, 488 Baigent, Michael 544 Balzer, Erwin 242 Bantzer, Carl 469 Bartels, Adolf 204 f., 211 Barth, Richard 173 Barth - Heyderdahl, Stein 516 f. Bartsch, Erhard 488 f. Bassermann, Albert 168 Bauer, Wilhelm 153 Bechthum, Martin 164 Bednarski, Gerhard 152, 159 f., 190 Beethoven, Ludwig van 190 Beger, Bruno 98 Behrens, Johann Gerhard 216 Bergengruen, Werner 18 Berger, Arno 157 Bergier, Jacques 543 Bergmann, Ernst 68, 73–83, 93, 95 f., 104, 114, 155–157, 161, 272, 301, 309, 350, 392, 395, 413

Bergmann, Louise 76, 93 f. Bernadac, Christian 551 Bernadotte, Jean - Baptiste [= Carl Johann XIV ] 266 Bernhard, Otto 507 Bertram, Adolf 301 Berve, Helmut 96 Best, Werner 92, 367, 506 Bewer, Max 205, 497 Birkhan, Helmut 557, 563, 567 Bischof, Marco 545 Bischoff, Diedrich 501 Bismarck, Otto von 342 Bloch, Gustav Adolf 151, 183, 185 Bloch, Octave 183 Blüher, Hans 555 Bluhm, Erich 465 Blumenberg, Hans 427 Blümke, Johannes 177 Bock, Emil 186 Bode, Julius 496–498 Boepples, Ernst 206 Boer, Wilhelm de 371 Böhme, Jakob 175 Bollmus, Reinhard 415 Bonaparte, Napoléon 266 Bonus, Arthur 153, 349, 428, 497 Bopp, Walter 481 Borkenau, Franz 30 Bormann, Martin 346–348, 353, 372, 480 f., 483 Born, Eric von 268 f. Bösch, Karl 205 Bosch, Sophie Gijsberta Roeper 400, 416 Brachmann, Wilhelm 352 Brandt, Rudolf 214 Breuer, Hans 47 Breuer, Stefan 103, 344 Bröse, Richard 502 Brosius, Hugo 173 Brücher, Heinz 108, 110, 114, 119 Brücker, Alois 318, 322 f., 325–333 Büchter, Richard 185 Buddensieg, Herrmann 81 Buechner, Howard 544 f.

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Anhang

Bülck, Walter 185 Burggraf, Julius 497 Burnouf, Émile 198 Burte, Hermann 197

Drews, Arthur 83 Driesmans, Heinrich 201 Dungs, Heinz 153, 215 Düpow, Otto Karl 159

Cancik, Hubert 17, 103 f. Carlberg, Carl Ernfrid 268 f., 273–275 Casper, Georg 164 f., 179 Celtis, Conrad 557 Chamberlain, Houston Stewart 72, 197 f., 204 f., 207, 307, 338–340, 557 Clauß, Ludwig Ferdinand 82, 104, 108, 110, 206 Claus, Thomas 562 f., 567 Conn, Alfred 19, 157, 413 Czepl, Theodor 451 Czwienck, Jürgen 545

Eberhard, Ernst 101 Ebert, Friedrich 168 Eckart, Dietrich 195, 197, 342 Eckert, Marie 163 Eckhardt, Karl August 215 Edenholm, Douglas 274, 276 f., 280, 282 f. Egeberg jr, Adolf 513 Eggers, Kurt 84 Eichelter, P. R. 207 Eichler, Felix 154, 164 Eichler, Otto 157 Eichmann, Adolf 506 Eisenhuth, Heinz Erich 118, 280 Elbert, Wolfgang 83 Elling, Georg 81, 83, 174 Endres, Hans 98 Engdahl, Per 269 Engelkes, Gustav 159 Eriksson, Elof 269 Esau, Abraham 114, 121 Eschenbach, Wolfram von 280 Essig, Jens 531 f., 539 Estieu, Prosper 553

D., Josef 539 Dahn, Felix 420, 426 Dahn, Therese 420 Darré, Richard Walther 22, 75, 81, 106, 108, 110 f., 375, 377, 379, 388, 396, 398, 405, 479 f., 486, 489 Darwin, Charles 145, 525 Dassel, Rainald von 168 Davin, Georg Heinrich 164 Degebrodt, Anneliese 157 Delitzsch, Friedrich 197, 204 Delp, Alfred 301, 309–311, 317 f. Dennert, Eberhard 154 Dessel, Ludwig 158 f. Dibelius, Otto 214 Dickel, Otto 165 Diederichs, Eugen 35, 37 f., 475 Diederichs, Niels 82 Diedrich, Holger 545, 547 Diehl, Ludwig 242 Dietrich, Sepp 513 Dietz, Karl [= Christoff Dietrich ] 463 Dinter, Artur 23 f., 65, 131, 154, 196–198, 205, 214, 293 Döttling, Karl 465 Dreidax, Franz 489

Fahrenkrog, Ludwig 26, 35, 52 f., 55, 81, 83, 85, 94, 104, 138, 158, 160 f., 174 f., 188, 191, 227 f. Fahrenkrog, Rolf Ludwig 158, 161 Falb, Alfred 206 Falck, Hans 171 Fallada, Hans 258 Fascher, Erich 117 Faulhaber, Michael von 304, 362, 366, 394, 434 Feuss, Rudolf 498 Fichte, Johann Gottlieb 198 f., 342, 492, 498 Fischer, Gesine [ ab 1932 von Leers ] 384–388, 391 Fischer, Hermann 75 Fischer, Karl 47 Fischer, Walther 384–386, 388

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Personenregister Flurschütz, Hildulf R. 53 f., 61, 81, 419 Foix, Esclarmonde de 553 Frank, Hans 209 Frank, Walter 115 Franz, Sandra 548, 560, 565 Freiligrath, Ferdinand von 69 f. Frenssen, Gustav 161, 212, 397 Freud, Sigmund 40 Frick, Wilhelm 123, 301, 488 Friedenberger, Werner 530, 538 f. Friedrich III. 492 f. Friedrich, Johann [= Fritz Bühler ] 51 Fritsch, Theodor 197, 204, 379, 383 f., 394, 512 Fritsche, Peter 258 Fründt, Joachim 172 Fuchs, Emil 167 Fulda, Friedrich Wilhelm 47 Furuseth, Ola Olsen 515 Gadal, Antonin 553 Gailus, Manfred 150 Galen, Clemens August Graf von 300, 302 Galley, Leonard 171 f. Gassen, Kurt 176 Gebhard, Rupert 531 Gehl, Walther 431 Gehrmann, Max 155, 172 f. Geijer, Erik Gustav 265 f., 269, 277 Gentile, Emilio 30 Gerhard, Paul 175 Gericke, Fritz 521 Gerstenhauer, Max Robert 19, 36, 220, 223–230 Glatzel, Frank 50 Gobineau, Arthur Comte de 339 Goebbels, Joseph 23 f., 32, 39 f., 75, 97, 130, 135, 170, 196 f., 234, 240, 282, 297, 347 f., 372, 389 f., 397 Goegginger, Wolf 172 Göring, Friedrich Wilhelm 502 Göring, Hermann 90, 92, 131, 270, 502 Gorsleben, Rudolf John 206, 559, 561, 563, 567

577

Grabert, Herbert 81, 84, 87, 109, 519 Graevenitz, Fritz von 81 Gräff, Otger 49 f. Gregor VII. 376 Greiner, Willi 157 Greipl, Egon Johannes 540 Grimm, Jacob 259, 427, 444 Grisson, Rudolf 173 Groener, Maria 174 Groh, Georg 174, 423 Grønbech, Vilhelm 430, 432–434 Grone, Jürgen von 485 Grund, Carl 479 Grundmann, Walter 117 f., 153, 173, 236, 242, 248, 250–257, 262–264, 277–281, 323 Grunert, Carl 498 Grunsky, Karl 205 Grünwald, Friedrich 164 f., 179 Grünwedel, Albert 446, 456 Günther, Hans Friedrich Karl [= Heinrich Ackermann ] 58, 83, 104, 106–108, 110, 206, 277, 279, 342, 396, 486, 522 Gurlitt, Ludwig 47 Gustav III. 265 Gustav Adolf II. 280 Haas, Hans 422 Haeckel, Ernst 108 f., 111, 145, 197, 200 Haeusser, Ludwig Christian 211 Hagström, Ernst 269 Hahn, Gunnar 269 Hahn, Traugott 338 Hahne, Hans 475 Halbe, Georg 479 Hambruch, Paul 410 Hannerz, Nils 271–275, 277–280, 282 f. Hansen, Joseph 442 Harmstorf, Ernst 481 Harnack, Adolf von 207 Hartl, Albert 357 f., 362, 370–373 Hartmann, Hans 167 Hartwich, Otto 498 Hasselblatt, Dora 287

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578

Anhang

Hauer, Jakob Wilhelm 17, 20, 59, 61, 80 f., 83–95, 97 f., 101, 103 f., 107, 110 f., 116, 118–125, 137– 139, 156 f., 171, 174 f., 227–229, 243, 271, 309, 319, 350 f., 370 f., 390, 394 f., 398, 412 f., 419, 421, 423, 425 f., 469, 511, 518–523 Hauer, Thomas 562 f., 567 Haupt, Paul 203 Hauptmann, Hans 205, 207, 214 Heath, Dunbar Isidore 198 Heberer, Gerhard 115, 123, 125 Hecht, Günter 109 Hecke, Bernhard 177 Heckel, Theodor 283 Heeringen, Kurt von 502 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 39 Hegele, Gotthold 481 Hegenwald, Hermann 164, 175–180 Heidegger, Martin 311 Heiden, Albrecht 534 Heiden, Erhard, 504 Heiden, Max 534 Heinrich IV. 376 Heise, Karl 475, 486 Helm, Karl 432 Hempel, Johannes 257 Hennecke, Franz Otto 171 Hentschel, Erich 171 Hentschel, Willibald 201, 450 Herder, Johann Gottfried 69, 492 Herf, Jeffrey 263 Hering, Franz 185 Herrmann, Paul 423 Heschel, Susannah 279 Heß, Rudolf 20, 84, 87, 107, 115, 123, 228, 295 f., 465, 467, 480, 488 f. Heusler, Andreas 267, 418, 428–430 Heussi, Karl 118 Heyde, Johannes Erich 176 Heydrich, Reinhard 92, 96, 358– 361, 363, 372, 480, 483, 489, 504–506 Hierl, Konstantin 127 f. Hildebrant, Gustaf 154 Hilferding, Rudolf 316

Himmler, Heinrich 22, 33, 40, 75, 92, 96, 106, 108, 110 f., 114, 117, 124, 132, 146, 195, 214 f., 341, 353, 355, 359, 361, 363, 372, 374–379, 388, 398 f., 405, 414 f., 421, 437–439, 452, 457, 463 f., 469, 472, 475, 479, 489, 504 f., 513, 522, 532, 542–549, 551, 556, 559 f., 562, 567 Hindenburg, Paul von 168. 465, 494, 502, Hippel, Ernst von 484 Hirsch, Emanuel 236, 242, 277 Hitler, Adolf 22–24, 28, 32–35, 40, 74 f., 97, 104, 129–131, 133, 135 f., 138, 153, 166, 169, 174, 184, 189, 195–197, 202, 209, 226, 234, 236, 240, 247 f., 258, 260, 262, 268, 270, 297, 300, 319, 322, 329, 338, 340, 342, 345, 347, 349, 352, 358 f., 370, 372 f., 384, 393, 403 f., 413, 445, 453, 463, 465, 470, 472 f., 478, 483 f., 487, 496, 500–502, 514 f., 534 f., 543–546, 551, 560 Hobelmann, Gustav 500 Hochfeld, Sophus 176 Hochheim, Eckhart [= Meister Eckhart ] 162, 167, 302, 307 f., 341 f. Hockerts, Hans Günter 17 Hoetker, Bernhard 11 f. Hoffmann, Adolph 167 Hoffmann, Fritz Hugo 51 f., 159 Hoffmeyer, Ellen 430 Höfler, Otto 420 f., 425, 428, 433 f., 451 f. Hohlwein, Hans 173 Höhne, Heinz 548 Holland, Rudolf 171 Holler, Kurt 58 Holtzmann, Robert 130 Hompel, Adolf August ten 159 Höppener, Hugo [= Fidus ] 52, 55, 211 Hörbiger, Hanns 146 Horneffer, August 496, 501 Hossenfelder, Joachim 236 f., 242

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Personenregister Hoßfeld, Uwe 105, 114 Hudal, Alois 300, 334 Hülle, Johannes 240, 243 Hülle, Werner 81 Hunke, Sigrid 26 Hunkel, Ernst 35, 50 Hunkel, Magarete 50 Hüser, Karl 548 Hütwohl, Heinrich 153 Ingersoll, Robert 514 Issberner Haldane, Ernst 450 Ivers, Friedrich W. 171 f. Jacobsen, Hans Solgaard 511, 518 f., 522 f. Jacolliot, Louis 198 Janssen, Walter 542 Jauß, Albert 168 Jensen, Kjeld 122 Johst, Hanns 38–40 Jung, Carl Gustav 426, 428 Jung, Emil 197, 207 Junker, Daniel 158, 160 K., Martin 529 Kaerner, C. 157 Kaltenbrunner, Ernst 355 Kämpfer, Hermann 196 Karl der Große 396 Karl XII. 268 Karutz, Richard 477 f., 482 f., 486– 488 Kater, Michael 415 Keibel, Ludwig 81 Kern, Erwin 75 Kern, Günther 521 Kernholt, Otto [= Otto Bonhard ] 206 Kerrl, Hanns 123, 214, 250 Keyserling, Hermann Graf 225 Kilian, Gerhard 159 Kittel, Gerhard 207 f., 250 Kläber, Kurt 167 Klagges, Dietrich 195, 197, 205, 227 f. Kleine, Richard 318, 321–324, 327– 334

579

Klett, Eugen 180 Kloppe, Fritz 171 Klotz, Leopold 235 Knote, Kurt 158 Kober, Adolf 115 Koch, Hugo 301, 314–318 Koch, Jakob 173 Koch, Walter 467 Koegel, Fritz 75 Koepp, Wilhelm 280 Kohlhaase, Michael 467 Kohn, Hans 30 Kojéve, Alexandre 39 Kolrep, Walter 363 f., 368 Konopath, Hanno [= Friedrich Kurt ] 57, 81 Kopernikus, Nikolaus 337 Kotzde - Kottenrodt, Wilhelm 51 Kramer, Georg 81, 91 f. Krannhals, Paul 174 Krause, Reinhold 156, 171, 261 Krauss, Thorsten 530, 538 f. Krenn, Anton 151, 159 Kreutzer, Heike 356 Krieck, Ernst 109 f., 457 Kroll, Adolf 213 Krovacek, Frank 468 Krueger, Felix 96 Kuhn, Hans 429 Kulke, Erich 51 Kulz, Werner 81 Kumlien, Kjell G. 270 Kumm, Wolfgang 156, 190 Kummer, Bernhard 26, 58, 78, 112, 114–117, 119, 125, 413, 420–423, 425, 430, 433 f., 447, 449, 452, 455 Kummer, Adolf [= Siegfried Adolf Kummer ] 459 f., 464, 468–472 Künneth, Walter 286, 288 f., 292– 296, 298, 366 Kurlander, Eric 258 Kurlbaum - Siebert, Margarete 453, 457 Kurth, Hans 88, 132 Kurth, Paul 206 Kusserow, Wilhelm 26, 57, 81, 151, 157, 162 f.

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580

Anhang

L., Stefan 531 Lagarde, Paul Anton de [= Bötticher ] 34, 39 f., 342–344 Lahn, Arthur G. 53, 61, 396 Landig, Wilhelm 550 Langbehn, Julius 40, 197 Lange, Friedrich 219, 221 Lange, Hans - Jürgen 532 Lanz von Liebenfels, Jörg [= Adolf Lanz ] 15, 39, 197, 204 f., 227, 451, 549 f., 561 Laucke, Karl 171 f. Lechler, Karl Ludwig 465 Leers, Johann von 76, 82 f., 112– 117, 138, 161, 171, 375–384, 386– 397, 405 Leese, Arnold 512 Leese, Kurt 82, 118 Leffler, Siegfried 153, 173, 208, 260–262, 327 Lehmann, Paul 153 Leigh, Richard 544 Leipoldt, Johannes 207, 212 Lenin, Wladimir Iljitsch 197 Lenz, Fritz 106 Lerchenmüller, Joachim 557–559 Leutheuser, Julius 153, 208, 214, 260, 262, 327 Ley, Robert 347 f., 488 Lienhard, Friedrich 474 Lietzmann, Hans 212, 273 Lilje, Hanns 289 Lincoln, Henry 544 Linderholm, Emanuel 274 f., 277– 280, 283 Ling, Per Henrik 266 Lingelsheim, Walther von 88 Linz, Werner 216 Lippe, Kurt Prinz zur 207 Lippe - Biesterfeld, Friedrich Wilhelm Prinz zur 58, 82 f. Lippe - Biesterfeld, Marie Adelheid Prinzessin zur [= Prinzessin Reuß zur Lippe ] 57, 454 f. Lippert, Franz 490 List, Guido von [= Guido List ] 39 f., 223 f., 449–452, 561, 563, 567 Litt, Theodor 95

Loerzer 240 Löffler, Franz 477 Lomer, Georg 201 Lothar, Helmut 350 Ludendorff, Erich 19, 25, 51, 127– 132, 134–139, 141 f., 145–147, 160, 213, 342, 349, 370, 392– 394, 449, 500 f., 511 f., 514–516 Ludendorff, Hans 145 Ludendorff, Mathilde 19, 25, 51, 127 f., 130, 132, 134–139, 141– 147, 160, 213, 349, 370, 393, 412 f., 446, 454, 457, 501, 511– 513, 515 f., 561 Ludwig XIV. 265 Ludwig, Renate 295 Lukács, Georg 16 Lüllemann, Wolfgang 190 f. Lundborg, Herman 279 Lundman, Bertil 269 Luntowski, Adalbert 49 Luther, Martin 175, 222, 234, 250, 260, 272, 279 f., 325, 514 Lüthje, Hans 177 Lysk, Franz 159 M., Werner 539 Maag, Ernst 214 Maas, Hermann 498 Magre, Maurice 553, 555 Mahnke, Friedrich 159, 169 Mailer, Hans 185 Mallmann, Klaus - Michael 355 Mandel, Hermann 82, 84, 104, 116, 119–121, 171 Manz, Friedrich 185 f. Marby, Friedrich Bernhard 459 f., 462–467, 469 f., 472 Marwitz, Herbert 536 Maschek - Gruber, Anton 163 Maschewski, Erika 157 Mascke, Erich 171 McCloud, Russell [ i. e. Stephan Mögle - Stadel ] 532 Meier, John 400 Melzer, Ralf 497 Merkel, Hans 479 Meyer, Erich 185

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Personenregister Meyer, Karl 511 Meyer - Erlach, Wolf 117, 121, 153, 256, 276, 278–282 Michaltschew, Dimitri 176 Mirbt, Rudolf 38 Mogk, Eugen 422 Mohr, Wolfgang 432 Mollison, Theodor 106 Mommsen, Hans 499 Moor, Markus 549 Morstein Marx, Fritz 30 Muck - Lamberty, Friedrich 167, 174 Mühlhausen, Ludwig 558 f. Mühlhäuser, Klara 159 Müller, Ludwig 242, 350 Müller - Hagemann, Karl 52, 159 Müller - Reimerdes, Friederike 454 Müller - Senftenberg, Margarete 81, 83, 174 Mund, Rudolf J. 549 f. Mussolini, Benito 270 Mutschmann, Martin 90 Mysing, Ernst 57 Nanko, Ulrich 156 Nansen, Fridtjof 512 Naumann, Hans 431 Neckel, Gustav 104, 409 f., 420, 422 f., 425, 429 Nelli, René 552 f. Neuberger, Helmut 495, 498 f., 505 Neumann, Sigmund 30 Neupert, Camilla 163 Neuss, Wilhelm 301 f. Niedlich, Joachim Kurd 205, 259 Nielsen, Georg Eugen 511–518 Niemöller, Martin 289 Nietzsche, Friedrich 75, 307, 557 Ninck, Martin 431 Nobiling, Siegfried 234–236 Nötges, Jakob 309 Notz, Alfred 534 Novalis 280 Nüse, Karl 171

581

Ohlendorf, Otto 480, 488 Ohlmarks, Åke 280, 425 Opitz, Hans - Georg 212 Orlowsky, Paul 88 Otto, Friedrich Karl 208 Otto, Rudolf 120 Paehlke, Kurt [= H. A. Weishaar ] 206 Pancke, Günther 490 Paquet, Alfons 185–187 Patin, Wilhelm 357 Pauli, August 486 Pauwels, Louis 543 Pelagius 272 Peter, Carl 81, 90–94 Petersen, Hugo 164, 166 f., 170, 173, 175 f., 179 Petras, Otto 395 Petri, Olaus 279 Pettersen, Hjalmar 515 f. Peukert, Detlev 493 Peyrat, Napoléon 552 f. Pferdekämper, Max 513 Pfister, Friedrich 120 Pick, Georg 81, 89 f., 149, 155, 173, 175, 188 Pietzsch, Albert 534 Pilger - Strohl, Matthias 156 Pircher, Johann 327, 331 f. Pirzl, Ludwig 536 Pius XI. 134. 362 Pleyer, Kleo 82 Pohl, Guntram Erich 52, 159 Pohl, Oswald 490 Porembski, Franziska von 83 Porzig, Walter 115 Prawitz, Gunnar 269 Precht, Ernst 159 Preisker, Herbert 252 Prothmann, Wilhelm 136 Pujol - Murat, Miryanne de 553 Puschner, Uwe 29, 31, 34, 37, 258 Quisling, Vidkun 509, 513, 516–518

Odeberg, Hugo 276, 278–282 Oelsner, Willy 244 f. Oettel, Walter 157

Rahn, Otto 543–548, 550–556, 561, 567

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582

Anhang

Rascher, Hanns 481 Raschke 245 Rathenau, Walther 75, 316 Rausch, Albert H. 555 Ravenscroft, Trevor 543 Reck, Norman 264 Reichstein, Herbert 212 Rein, Anita 549 Renan, Ernest 195, 199 f. Resch, Johannes 164, 167 f. Retzlaff, Max 158 Reuleaux, Robert 157 Reuter, Otto Siegfried 26, 49, 81, 83, 434 Reventlow, Ernst Graf zu 82–84, 86–88, 92, 95, 97, 103, 138, 161, 186, 227 f., 309, 327–330, 333, 351, 389, 393, 395 Richter, Alfred 469 Richter, Georg 469 Riek, Gustav 559 Rijn, Rembrandt Harmenszoon van 40 Ring, Matthias 153 Rittelmeyer, Friedrich 186, 488 Roché, Déodat 553 Roesicke, Gustav 380 Rogge - Börner, Sophie 76, 78, 83, 396, 453 Roggenthien, Heinrich 164, 170– 172, 175 f., 179 Röhm, Ernst 129 Rönck, Hugo 153, 172 Ropp, Friedrich von der 175 Roselius, Ludwig 11 f., 410, 429 Rosenberg, Alfred 22, 33, 62, 76, 96, 109–112, 162, 196 f., 288, 293, 295, 297, 299–304, 307 f., 310 f., 314 f., 317, 331, 337–353, 372, 377, 405, 413, 422, 426, 432, 446 f., 449, 456 f., 475, 488, 501, 512, 522, 542, 562, 567 Rossaint, Joseph Cornelius 189 Roth 280 Röth, Erich 177, 181 Roth, Karl - Heinz 505 Rothschild, Mayer Amschel 316 Rudbeck, Olof 266, 270, 277

Rupp, Franz 149 Rust, Bernhard 110, 113, 405 Rüthnick, Richard 498 Rutkowski, Arnold von 105 Rutkowski, Elisabeth von 105 S., Herbert 528 S., Ralph 539 Sasse, Martin 153, 242, 260, 262 Sauckel, Fritz 110, 113 f., 121 Sauerbrey, Gustav 172 Sawade, Wilhelm 243 Schacht, Hjalmar 502, 507 Schaper, Ewald 122 Schauenfels, Hermann 158 Scheffer, Theodor 110, 123, 164, 174 Schemann, Ludwig 206 Schirmer, Ernst A. 516 Schiweck 240 Schlawing, Adolf 159 Schleiermacher, Friedrich 80 Schloz, Wilhelm 51, 82, 174, 181, 427 Schlund, Erhard 152, 156, 289 Schlüter, Willy 287 Schmidt, Richard 120 Schmieder, Arno 158 Schmied - Kowarzik, Wolfgang 82 Schmitt, Eric - Emmanuel 40 Schmitt, E. Vital 400 Schmitt, Margarethe 400 f. Schneider, Hermann 559 Scholders, Klaus 236 Schöll, Friedrich 150 f., 161–165, 170, 172 f., 175, 177–182, 187, 191 Schönerer, Georg von 173 Schopenhauer, Arthur 198, 200 Schott, Georg 195, 197 Schrader, Friedrich 157 Schreiner, Helmuth 95 Schröder, Hein 116 Schröder, Christel Matthias 118, 120 Schubert, Franz 190 Schulte, Karl Joseph 300–302 Schulte - Strathaus, Ernst 482 Schultz, Bruno Kurt 106

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Personenregister Schultz, Walther 242 Schultze, Friedbert 57, 83 Schultze - Naumburg, Paul 75, 82, 104 Schulze - Sölde, Max 167, 173, 185 f., 189 Schumann, Friedrich Karl 176 Schumann, Gerhard 35 f. Schütze, Alfred 186 Schwaben, Rudolf von 376 Schwaner, Wilhelm 52, 122, 191, 423 Schwantes, Gustav 410 Schweitzer, Carl Gunther 285–288, 297 Sebaldt, Max Ferdinand 450 Seeberg, Erich 242 Seeberg, Reinhold 204, 207 Seewald, Michael 545 Seibertz, Norbert 57, 65, 81, 83, 157 Seidel, Richard 189 Seifert, Alwin 489 Seiler 240 Semon, Richard 411 Seuse, Heinrich [= Suso ] 175 Silesius, Angelus 175 Simon, Paul 301, 307 f. Simrock, Karl 420 Six, Franz Alfred 506 Skorzeny, Otto 544 f., 547, 551, 567 Soden, Hans von 207 Soldan, Johann Gottlieb 442 Solger, Friedrich 82 Sommer, C. Sebastian 540 Speer, Albert 11 Spengler, Wilhelm 360 Spindler, Lorenz 52 Sproll, Johannes Baptista 301, 304– 306, 317 Stalin, Josef, 329 Stammler, Georg 51, 82 Stapel, Wilhelm 72 Stauff, Philipp 223, 450 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom 168 Steinbauer, Karl 216 f. Steinberg, Josef 302 f.

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Steiner, Rudolf 225, 473–475, 478, 483 f., 486 f., 490 Stellrecht, Hellmut 182 Stengel von Rutkowski, Lothar 81, 83, 104–111, 113–116, 118–125, 396 Stengel, Edmund 105 Stockmeyer, E. A. Karl 477 Stoecker, Adolf 246 Stonner, Anton 301, 312–314 Strand, Tore 525 f. Straßer, Otto 377 Streicher, Julius 300, 379, 383 Strick, Hans 133 Strohbach, Karl Alfred 158 f., 161 Strothmann, Heinrich 216 Sturzo, Luigi 30 Strünckmann, Karl 150 f., 164 f., 172–180, 184–189, 191 Sünner, Rüdiger 547 Tacitus 376 Tack, Rudolf 58 Taesler, Clemens 81, 154, 172 f. Tanzmann, Bruno 51 Tegnér, Esaias 265 f., 269, 277 Teusch, Joseph 301 Themel, Karl 246 f. Thies, Ida [= Adyr Seyth ] 205, 207 Thoma, Hans 40 Thomasius, Christian 443 Thorvaldsens, Bertel 202 Tirpitz, Alfred von 168 Trenkelbach, Georg 159 Troeltsch, Ernst 16 Truckenmüller, Georg 123, 155, 180 Tschirn, Erich 81 Tschudi, [ A ]egidius 557 Tveit, Geirr 516, 519–523 Uhlig, Erich 158 Uhlig, Ewald 497, 499 Ulbricht, Justus H. 37 Vacher de Lapouge, Georges 339 Velde, Marcel van de 159 Voegelin, Eric 17, 30 Vogeler, Heinrich 167

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Anhang

Vogelsang, Otto 550 Voigt, Werner 481 Voith, Hanns 483 Vries, Jan de 419, 421, 432 Wachler, Ernst 159 Wächtler, Fritz 121 Wagner, Richard 190, 198, 339, 410, 420, 560 Wagner, Winifred 198 Walbaum, Liselotte 174 Walbaum, Rudolf 8, 89, 155, 164, 166, 171–175, 179–181, 183, 185, 187 f., 191 Walden, Herwarth 168 Walter, Kurt Leo 154 Wamser, Ludwig 527, 529, 534, 536, 538–543, 562–567 Wauer, William [= Wilhelm Pförtner] 164, 168–170, 179, 190 Weber, Max 38 Wehler, Hans - Ulrich 346 Weidemann, Heinz 175, 242 Weigle, Johannes 174 Weinel, Heinrich 118 Weinländer, Karl [= Friedrich Döllinger; Hermann Wieland ] 206 Weinreich, Otto 120 Weinrich, Friedrich 120 Weisgerber, Leo 558 Weißleder, Carl 158, 287 Werdermann, Hermann 253 Wessel, Horst 239

Wicherns, Johann Hinrich 286 Widukind 57, 159 Wiedenhöft, Bernd 88 Wiedenhöft, Bernhard 156 Wikner, Pontus 280 Wilhelm I. 492 Wilhelm II. 493 f. Wiligut, Karl Maria 81, 207, 463 f., 470, 532, 546, 549, 551, 554, 561, 567 Winsnes, Erling 511, 523 f. Wirth, Herman Felix 11 f., 76, 82 f., 110, 206, 293, 350, 377, 379, 383–388, 391, 399–416, 429, 560 Wirth, Ludwig 400 Wirth, Werner 431 Wislicenus, Gustav Adolf 199 Witt - Hoe, Felix 502 Wolf, Friedrich 167 Wolf, Martin 357 Wöll, Aloys 164 f. Wolzogen, Hans Paul von 204 f. Wulfila 279 Wüst, Walther 98, 114, 116, 120 Wydrinski, Franz [= Franz von Wendrin ] 207 Zapp, Paul 60, 81, 84, 90 Zedlacher 216 Zehetmair, Hans 541 Ziege, Eva - Maria 105 Ziegler, Matthes 81, 83, 106, 109– 112, 118, 125

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Organisationenregister Bünde, Vereine und Bewegungen (außer NSDAP und zugehörige Organisationen ) Adler und Falken 51, 61, 81, 83 f., 87, 106, 108, 111, 113 Alldeutscher Verband 47, 498, 502 Alliance Raciste Européenne Abt. Deutschland 113 Anthroposophische Gesellschaft 474, 478 f., 481, 483 Apologetische Centrale 16, 285– 293, 295–298, 366 Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung 59, 73, 76, 80, 83–85, 89–94, 107, 111, 116, 118, 122, 124, 128, 138, 174, 228 f., 351, 379 f., 390–392, 396, 412 f., 417, 423, 429, 469 Arbeitsgemeinschaft Deutsches Urtum 168, 170 Arbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde 464 Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie 125 Arbeitsgemeinschaft Germanentum und Christentum 268, 278 f., 282 f. Arbeitsgemeinschaft lebensgesetzlicher Landbau – die biologisch dynamische Wirtschaftsweise 17 Arbeitsgemeinschaft Nordischer Ring 56 Arbeitskreis für einen deutschen Volksglauben 175, 177 Artgemeinschaft e. V. ( vor 1945 : Nordische Glaubensgemeinschaft ) 158 Asgard - Kreis 293 Bayreuther Kreis 200, 206 Bekennende Kirche 27, 228 f., 241, 243, 261, 289 Berliner Freireligiöse Gemeinde 167 Bielefelder Ring 496 Biosophischer Bund 287

Bund Artaman [ Artamanen ] 51, 62, 83 f., 106 Bund Christlicher Sozialisten 189 Bund der Gemeinden Deutschen Glaubens 91, 94 Bund der Guoten 293 Bund der Kögener 59 f., 118 Bund der Kommunisten 70 Bund der Landgemeinden 49 Bund der Landwirte 380 f. Bund der Runenforscher 463 Bund Deutsche Glaubenseinigung 175 f., 178 f., 187, 190, 318 Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands 90 f., 138, 155 Bund für deutsche Art 112 Bund für Deutsche Gotterkenntnis (Ludendorff ) e. V. 25, 103, 135 f., 138–141, 147, 160, 213, 369, 512, 561 Bund für deutsche Kirche 163, 171, 175, 205, 207, 225–228, 259, 293 Bund für Deutsches Christentum 164, 233 Bund für Geistesfreiheit 92, 139 Bund für Persönlichkeitskultur 52 Bund Königin - Louise 499 Bund völkischer Europäer 113, 389 Bund völkischer Lehrer 163 Central - Ausschuss für innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche 285 Christengemeinschaft 175, 186 Christlich - Deutsch - Nordische Religion 21 Christliche Kampfschar 175 Demeter - Bewegung 489 Den nasjonale Legion 511 Deutschbund 19, 36, 163, 219–230, 388

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Anhang

Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft 226, 228 Deutsch - Christlicher Orden 507 Deutsche Christen 16, 18, 26 f., 67 f., 72 f., 81, 95, 117, 153, 164, 170, 173, 208, 212, 214, 228 f., 327, 233, 236, 238, 241–248, 260 f., 271, 275, 279, 288 f., 295, 305, 328, 330 f., 333, 350–352, 392 Deutsche Gesellschaft für keltische Studien 558 f. Deutsche Gesellschaft für Lebensreform 489 Deutsche Glaubensbewegung 17– 20, 25, 35, 51, 58–62, 65–68, 73, 81, 85–88, 90, 93, 95, 97–105, 122, 137 f., 152, 156 f., 160 f., 163, 171, 175, 181, 190, 211, 213, 217, 227, 229, 243, 271 f., 305, 319, 350 f., 370 f., 389 f., 397, 417, 419, 423, 427, 511, 516–522 Deutsche Gottgläubige Kampfgemeinschaft e. V. 156 f. Deutsche Schwesternschaft 50 Deutsche Siedlungsgemeinschaft 49 Deutsche Volkskirche e. V. 65, 87, 154, 196, 215 Deutsche Werkgemeinschaft 164 f. Deutscher Bund für freies Christentum 84, 185 Deutscher Kreis 51 Deutscher Orden 49 f., 63, 224 Deutscher Schafferbund 36, 287 Deutscher Volksbund für Geistesfreiheit e. V. 139 Deutschgläubige Gemeinschaft 19–21, 26, 35, 49, 53, 57, 81, 83, 86 f., 124, 138, 157, 213 f., 224, 293 Deutschjugend [ zunächst Deutsche Jugend ] 51 Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband 50 Deutschreligiöse Gemeinschaft [ später Deutschgläubige Gemeinschaft ] 49, 52 Deutschvolk 128, 130

Deutsch - Volk 128, 561 Deutschvölkischer Schutz - und Trutzbund 163 Dörnbergbund 61 f. Edda Gesellschaft 81, 84, 561 Ehrhardt - Bewegung 499 Evangelischer Bund 221 Förderungsgemeinschaft Deutsche Weihebühne Hellerau 154 Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V. 112, 114, 123, 388, 399, 405, 414, 421, 425, 440, 542, 557–560, 562 Forschungsinstitut für Geistesurgeschichte 82, 402 Freideutsche Jugend 48 Freie Akademie e. V. 105, 125 Freie Religionsgemeinschaft Deutschlands 92 f., 149, 155, 173, 175, 187 f. Freier Freundeskreis der Religionsgemeinschaft Freier Protestanten 172, 175, 179, 191 Freireligiöse Landesgemeinde Baden 92 Freireligiöse Landesgemeinde Bayern 92 Freundeskreis der A[ rbeitsgemeinschaft ]D[ eutsche ]G[ laubensbewegung ] 84, 412 Freundeskreis der Kommenden Gemeinde 81 f., 90 Freundeskreis ehemaliger Nordungen 61 Friesenring 496 Geistchristliche Religionsgemeinschaft 65, 196, 205 Gemeinschaft Deutsche Volkskirche 93 f. Gemeinschaft Deutsche Volksreligion e. V. 94, 155, 157 Germanenorden 205, 560, 565 Germanisch - deutschreligiöse Gemeinschaft 52

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Organisationenregister Germanische Glaubens - Gemeinschaft 26, 35, 52 f., 57, 81, 83, 85, 94, 138, 158–161, 165, 179, 188, 227, 287 Germanske SS Norge 517 [ Deutsche ] Gesellschaft der Freunde ( Quäker ) 175, 186 Gesellschaft für Geistwissenschaft 165 Gesellschaft für germanische Ur - und Vorgeschichte 113, 387 f., 391 f. Gesellschaft für nordische Kultur 94, 158 Geusen – Jungvölkischer Bund 50 Gilde Werdandi 106 Götiska förbundet 265, 269 Greifenbund 49, 51 Greifenorden 49, 53 Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland 502 Große Loge von Hamburg 502 Guido von List Gesellschaft 223 Hagalsmänner 510 f., 515 f., 523– 526 Harzburger Front 502 Hei - Land – Nordisch - evangelisch katholische Arbeitsgemeinschaft 174 Hermann Wirth Gesellschaft 379, 385 f., 387, 391, 402, 416 Hochschulring deutscher Art 499 Houston Chamberlain - Vereinigung zur Versöhnung von Germanentum und Christentum 154, 164 Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben 27, 118, 212, 217, 238, 248–251, 256 f., 260, 262 f., 279, 323, 332 f. Internationale Bibelforscher - Vereinigung 225, 365–369 Irminsgemeinschaft 229

587

Jugendring München 38 Jungborn – Bund der Jungbornorden Deutschen Ordens 49, 53, 58, 63 Jungdeutscher Bund 50 Jungdeutscher Orden 226 Jung - Germanen – Bund nordischer Jugend 55, 62 Jungnordischer Bund 58, 83, 112 Jungreformatorische Bewegung 241, 289 Jungscharen Deutschen Ordens 49, 53 Kameradschaft arteigenen Glaubens 123 Kampfbund für deutsche Kultur 268 Kampfgemeinschaft für deutsche christliche Kirche 171, 175 Kampfring Deutscher Glaube e. V. 25, 61, 156 f., 163, 190, 351 Katholisch - Nationalkirchliche Bewegung 175 Katholisch - Nationalkirchlicher Volksverein e. V. 153, 163 Keplerbund 154 Kommende Kirche 175 Kommission für die Geschichte der Juden in Deutschland 115 Landsbond der Dietsche Trekvogels 402, 404 Lappo - Bewegung 513 Loge Friedrich Wilhelm zur Eintracht 496 Loge Herder 497 Loge Nassau - Oranien zu den beständigen Quellen ( Wiesbaden ) 502 Loge Zum Ölzweig 497, 499 Loge Zur Hansa 500 Los - von - Rom - Bewegung 173, 220– 222 Ludendorff - Bewegung 52, 62, 65, 88, 103, 127 f., 130–133, 138 f., 287, 448, 457, 514–517, 523 Luther - Deutsche 233

Jesuitenorden 446 Johannes - Rehmke - Gesellschaft 176

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Anhang

Manhem Gesellschaft ( Samfundet Manhem ) 267 f., 270 f., 273– 275, 279, 283 Mazdaznan - Bewegung 203 Meister - Eckhart - Vereinigung 331 Nasjonal Samling 509 f., 517–519, 523 Nationalverband Deutscher Soldaten 499 Neugeistbewegung 165 Nietzsche Kreis 159 Nordische Gesellschaft 62, 521 f. Nordische Glaubensgemeinschaft – Deutschgermanischer Ring 57 Nordische Glaubensgemeinschaft e. V. 60, 81, 83, 157–159, 163, 179 Nordischer Kampfring 112 Nordischer Ring 58, 62, 107, 112 Nordisch - Religiöse Arbeitsgemeinschaft 57, 65, 81, 83, 87, 138, 412 Nordungen – Deutsch - Nordische Glaubensbewegung 56 Nordungen – Junggermanischer Orden 45, 53–55, 57–61, 63, 81, 85, 396, 419 Norges Nasjonal - Socialistiske Arbeiderparti 513–515, 517 f. Odal - Gesellschaft für schwedische Kulturforschung ( Odal – Samfundet för svensk kulturforskning ) 267, 278 f. Orden der Nordungen 56 Ordo Novi Templi [ Neuer Templer Orden ] 15, 549, 561 Organisation Consul 498 Otger Gräff - Kreis 159 Pfarrernotbund 241, 273 Ragnarok - Kreis 519, 521–523, 525 Ravensburger Philosophische Gesellschaft 176

Rechtsschutzverband freier, nicht christlicher Glaubensrichtungen 138 f., 393 Reichbund deutscher Gottgläubigkeit 182 Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde 481 Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände 56 Reichshammerbund 163 Reichsinstitut des neuen Deutschlands 115 Reichsring der gottgläubigen Deutschen 157 Reichsverband für biologisch - dynamische Wirtschaftsweise 488 f. Religionsgemeinschaft Freier Protestanten e. V. ( Deutsche Unitarier ) 118, 155, 172 f. Religiöser Menschheitsbund 120 Rheinischer Reformkreis 333 Rig - Kreis 138, 293, 423 Ring deutscher Jugend 55 Ring religiöser Revolutionäre 174 Ringbewegung 492, 496 Runa – Bund der arisch Unsichtbaren 469 Runa – Bund für Runenkunde und arisch - germanisches Weistum 470 Saalecker Kreis 75 Samariter - Werk der Notwende – Gesellschaft zur Förderung der Hilfs - und Notwerke m. b. H. 189 Sankt - Michaelis - Bund 189 Schwedischer Verband für religiöse Reformen ( Sveriges Reliösa Reformförbundet ) 267, 271, 274, 276 f. Stille Front – Pioniere der dritten Kirche 81, 83 f., 174 Studiorum Novi Testamenti Societas 263 Tannenberg - Bund 19, 127–129, 131 f., 137, 287, 293, 501, 514 Tat - Kreis 476

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Organisationenregister Theologische Arbeitsgemeinschaft Meister Eckhart 182 f., 187 Theosophische Gesellschaft 553 Thomas - Westerich - Gemeinde 154 Thüringer Deutsche Christen 173, 208, 215, 228 f., 253, 277 Ur - Europa e. V. 416 Verband Berliner Metall - Industrieller 384 f. Verband freireligiöser Gemeinden 138 Verband freireligiöser Gemeinden Deutschlands 83, 89–92 Verband Freireligiöser Gemeinden Süd - und Westdeutschlands 155 Verdener Kreis 151 f., 158 f. Verein Deutscher Freimaurer 501 Vereine Deutscher Studenten 236 Vereinigung anthroposophischer Ärzte 481 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes 467 Volksbund für Geistesfreiheit 90 f., 93, 155 Volksbund Rettet die Ehre 498 f.

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Volkschaft der Nordungen [ ab 1933 Nordungen – Deutsch - Nordische Glaubensbewegung ] 56, 83 Volksdeutsche Gemeinschaft 171 Volksgemeinschaft der Nordungen 138 Volkskirchliche Deutsche Glaubensbewegung ( Krause –Bewegung ) 164, 171 Wahlliste Evangelium und Kirche 241 Wandervogel – Ausschuss für Schülerfahrten 46 Wandervogel – Deutscher Bund 51 Wandervogel – Vaterländischer Bund für Jugendwandern 50 Wandervogel – Völkischer Bund 50 Wetzlarer Ring 496 Widerstandskreis 293 Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für Fragen des Deutschen Glaubens 190 Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 404

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Autorinnen und Autoren Bettina Amm, geb. 1959, Dr. sc., Dipl. - Soz., Angestellte im Öffentlichen Dienst. Wolfgang Dierker, geb. 1968, Dr. phil., M. A., Historiker, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Debora Dusse, geb. 1967, Dr. des., M. A., Skandinavistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG - Projekt „Edda - Rezeption“ an der Universität Frankfurt am Main. Terje Emberland, geb. 1956, Dr. phil., Historiker, Senior Researcher am Center for Studies of Holocaust and Religious Minorities in Oslo. Martin Finkenberger, geb. 1969, Dipl. - Pol., Doktorand am Friedrich - Meinecke Institut der Freien Universität Berlin. Manfred Gailus, geb. 1949, Dr. phil., Historiker, apl. Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Anders Gerdmar, geb. 1954, Th. D., M. Div., M. A., Theologe, Associate Professor an der Universität Uppsala und Dekan des Livets Ord Theological Seminary. Susannah Heschel, geb. 1952, Ph. D., Theologin, Professor of Jewish Studies am Dartmouth College, USA. Gregor Hufenreuter, geb. 1975, M. A., Historiker, Doktorand am Friedrich Meinecke - Institut der Freien Universität Berlin. Horst Junginger, geb. 1959, Dr. phil., Religionswissenschaftler, Privatdozent für Religionswissenschaft an der Universität Tübingen, z. Zt. Vertretungsprofessor an der Universität München. Christoph Knüppel, geb. 1957, Lehrer für Deutsch und Religion an einem Bielefelder Gymnasium. Martin Leutzsch, geb. 1956, Dr. phil., Theologe, Professor für Biblische Exegese und evangelische Theologie an der Universität Paderborn. Ulrich Linse, geb. 1939, Dr. phil., Historiker, emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München. Marcus Meyer, geb. 1975, Dr. phil., M. A., Historiker, wissenschaftlicher Leiter des Denkorts Bunker Valentin in Bremen. Winfried Mogge, geb. 1941, Dr. phil., Historiker, Journalist i. R. und freier Autor.

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Anhang

Ulrich Nanko, geb. 1948, Dr. phil., Religionswissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Religionswissenschaft der Universität Tübingen, Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und der Universität Stuttgart. Ernst Piper, geb. 1952, Dr. phil., M. A., Historiker, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Dr. theol., evangelischer Gemeindepfarrer in Germering bei München. Uwe Puschner, geb. 1954, Dr. phil., M. A., Historiker, apl. Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin und ständiges Mitglied des Centre d’études germaniques interculturelles de Lorraine an der Université de Paul Verlaine in Metz. Lucia Scherzberg, geb. 1957, Dr. theol., Dipl. theol., katholische Theologin, Professorin für Systematische Theologie an der Universität des Saarlandes. Peter Staudenmaier, geb. 1965, Ph. D., Historiker, Assistant Professor of Modern German History an der Marquette University, USA. Clemens Vollnhals, geb. 1956, Dr. phil., M. A., Historiker, stellvertretender Direktor des Hannah - Arendt - Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. Klaus Vondung, geb. 1941, Dr. phil., Literatur - und Kulturwissenschaftler, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Siegen. Bernd Wedemeyer - Kolwe, geb. 1961, Dr. phil., Dr. disc. pol., Sporthistoriker und Volkskundler, a. o. Professor für Sportwissenschaften an der Universität Göttingen und Leiter des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte e. V. in Hannover. Felix Wiedemann, geb. 1974, Dr. phil., M. A., Historiker, z. Zt. Fellow am Berliner „Excellence - Cluster TOPOI. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations“. Ingo Wiwjorra, geb. 1962, Dr. phil., M. A., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.

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