Die Verwarnung mit Strafvorbehalt: Ihre Entstehung, gegenwärtige rechtliche Gestaltung, praktische Handhabung und ihr Entwicklungspotential [1 ed.] 9783428493142, 9783428093144

Die Verwarnung mit Strafvorbehalt - ein (zu) wenig beachtetes Rechtsinstitut? Seit über 20 Jahren führt sie in den §§ 59

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Die Verwarnung mit Strafvorbehalt: Ihre Entstehung, gegenwärtige rechtliche Gestaltung, praktische Handhabung und ihr Entwicklungspotential [1 ed.]
 9783428493142, 9783428093144

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EVA-MARIA NEUMAYER-WAGNER

Die Verwarnung mit Strafvorbehalt

Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen Begründet als "Kriminologische Forschungen" von Prof. Dr. HeUmuth Mayer Herausgegeben von Prof. Dr. Dedev Frehsee und Prof. Dr. Eckhard Horn

Band9

Die Verwarnung mit Strafvorbehalt Thre Entstehung, gegenwärtige rechtliche Gestaltung, praktische Handhabung und ihr Entwicklungspotential

Von Eva-Maria Neumayer-Wagner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Neumayer-Wagner, Eva Maria: Die Verwarnung mit Strafvorbehalt : ihre Entstehung, gegenwärtige rechtliche Gestaltung, praktische Handhabung und ihr Entwicklungspotential/ von Eva-Maria Neumayer-Wagner.- Berlin: Duncker und Humblot, 1998 (Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen ; Bd. 9) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09314-3

D21 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany

© 1998 Duncker &

ISSN 0933-078X ISBN 3-428-09314-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersernester 1997 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Soweit möglich, sind Rechtsprechung und Literatur bis Juli 1997 berücksichtigt worden. Den "Vätern" dieser Doktorarbeit gebührt mein besonderer Dank, zuallererst Herrn Prof. Dr. Ulrich Weber fiir sein mir entgegengebrachtes Vertrauen, seine stets wohlwollende Unterstützung sowie die mir gewährte Freiheit bei der Anfertigung meines Werkes. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner fiir seine überaus zügige und kritische Begutachtung der Arbeit. Der v. Breitschwert'schen Stiftung sei fiir die Förderung der Promotion verbindlich gedankt. Herrn Prof. Dr. Eckhard Horn und Herrn Prof. Dr. Detlev Frehsee bin ich fiir die Aufnahme der Dissertation in die von ihnen herausgegebene Schriftenreihe "Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen" sehr zum Dank verpflichtet, ebenso dem Verlag Duncker & Hurnblot, Berlin, bei dem die Reihe erscheint. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Herrn Dr. Wolfgang März bedanken, der ohne zu zögern die mühevolle Arbeit, eine perfekte, druckfertige Satzvorlage zu erstellen, auf sich genommen und in kürzester Zeit erledigt hat. Schließlich schulde ich meiner Familie Dank, die einen nicht unerheblichen Anteil zum Gelingen beigetragen hat, und die nicht selten unter meiner "Problerngeladenheit" zu leiden hatte. Herrenberg, im Juli 1997

Eva-Maria Neumayer-Wagner

Inhaltsverzeichnis Einleitung

15

I. Teil

Die geschichtliche Entwicklung

17

A. Die "bedingte Verurteilung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II. Gestaltungsmöglichkeiten der "bedingten Verurteilung" . . . . . . . . . . . .

19

1. Der bedingte Aufschub der Strafverfolgung durch die Anklagebehörde

19

2. Die bedingte Aussetzung des Hauptverfahrens durch den Richter

. . .

19

. . . . .

20

4. Der bedingte Aufschub der Straffestsetzung ("probation") . . . . . . . .

3. Der bedingte Aufschub des Schuldspruchs im Hauptverfahren

20

5. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

6. Die Verurteilung unter auflösender Bedingung ("sursis") . . . . . . . . .

21

7. Die Strafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

8. Die Zurtickstellung der Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

9. Die bedingte Begnadigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

10. Der bedingte Erlaß eines Strafrestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

m. Die geschichtliche Entwicklung der "bedingten Verurteilung" im Aus-

land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

1. Hauptentwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

2. "probation" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

3. "sursis" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

4. Vorzüge der "probation" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

5. Schwachstellen der "probation" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

6. Vorzüge des "sursis" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

7. Schwachstellen des "sursis" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

IV. Die geschichtliche Entwicklung der "bedingten Verurteilung" in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

8

Inhaltsverzeichnis

B. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt . . . . . . . . . . . .

I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die geschichtliche Entwicklung der Verwarnung mit Strafvorbehalt in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 31 33 33

a) Die Strafrechtsreformbestrebungen . . . . . ..

33

b) Zielsetzung

. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .

33

c) Verworfene Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . .

35

d) Die Verwarnung mit Strafvorbehalt als Variante der "probation" .

35

e) Einwände gegen die Verwarnung mit Strafvorbehalt . . . . . . . . .

36

f) Entwurfsfassung der Verwarnung mit Strafvorbehalt im E 1936 . . .

37

2. Die geschichtliche Entwicklung der Verwarnung mit Strafvorbehalt nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

3. Die Große Strafrechtskommission . . . . . . .

40

a) Diskussionsschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

b) Die Vorteile der Verwarnung mit Strafvorbehalt nach Auffassung der Großen Strafrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

c) Die Nachteile der Verwarnung mit Strafvorbehalt nach Auffassung der Großen Strafrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

d) Ergebnis der Diskussionen in der Großen Strafrechtskommission . .

47

4. Der Alternativentwurf (AE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

. . ....

47

b) Ausgestaltung . . . . .

48

c) Resümee . . . . . . . .

49

a) Zielsetzung

5. Der Sonderausschuß Strafrecht des Vierten Deutschen Bundestags .

49

a) Diskussionsschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .

49

b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

6. Der Sonderausschuß Strafrecht des Fünften Deutschen Bundestags

51

a) Arbeitsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

b) Argumente für die Einführung der Verwarnung mit Strafvorbehalt im Sonderausschuß Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

c) Argumente gegen die Einführung der Verwarnung mit Strafvorbehalt im Sonderausschuß Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

7. Die §§ 59- 59c des 2. StrRG auf der Basis der §§ 80a- 80d des Sonderausschußentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Inhaltsverzeichnis

9

a) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

. . .. . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . .. .. . . . . .. . . . .

61

8. Das Dreiundzwanzigste Strafrechtsänderungsgesetz (23. StrÄndG) . . .

62

a) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

b) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

9. Weiterentwicklung seit 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

a) Bundestagsanfrage zum Sanktionensystem . . . . . . . . . . . . . . . .

65

b) Bericht der Bundesregierung zum strafrechtlichen Sanktionensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

c) Große Anfrage zur Weiterentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

d) Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage . . . . . . . . .

66

b) Fazit

e) ,,SPD"-Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

f) Gesetzentwurf der CDU/CSU- und FDP-Fraktionen . . . . . . . . . .

69

g) Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses . . . . . . . . . . . . . . .

71

h) Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses

. .. . . . . . .. .

72

i) Gegenwärtige Fassung der §§ 59 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

2 . Te i l

Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

73

A. Statistischer Überblick zur Anwendungshäufigkeit des § 59 und des § 153a StPO in der gerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

I. Gegenstand der Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

II. Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . .

74

III. Entwicklung in Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

IV. Kurzauswertung der Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform . . . . . . . . . . . . . . .

79

I. Überblick

79

II. Einwände

79

I. Gesetzliche Ausgestaltung der §§ 59 ff.

. . . . . ... . . . . . . . . .. .

79

2. Verstoß gegen das Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

3. Widerspruch zum Ordnungswidrigkeitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

84

10

Inhaltsverzeichnis 4. Die Konkurrenz prozessualer Rechtsinstitute

86

a) Spannungsverhältnis zu den §§ 153 f. StPO . . . . . . . . . . . . . . .

86

b) VorzUge des § 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

c) Nachteile des § 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

d) Vorteile der Verwarnung mit Strafvorbehalt gegenüber § 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

5. Verlust der generalpräventiven Wirkung

. . . .. ... . .. . .. . . . ..

89

ill. Befürworter des Rechtsinstituts im Schrifttum

90

C. Reaktionen der Rechtsprechung auf die §§ 59 ff.

92

D. Bevorzugte Anwendungsfelder für die §§ 59 ff. . . . . . . . . . . . . . . . .

93

I. Fälle des Zustimmungsmangels eines Verfahrensbeteiligten gemäß § 153a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

II. Fälle mit Verständnis flir Täter und Tat bei den Justizorganen . . . . . . .

95

1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Minimaler Unrechtsgehalt der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

3. Erhebliche Folgewirkungen der Tat flir das Opfer . . . . . . . . . . . . .

96

4. Verständliche Motivationslage oder Tatsituation . . . . . . . . . . . . . . .

96

5. Mitverantwortung Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

6. Unverhältnismäßige außerstrafrechtliche Tatauswirkungen beim Täter

97

Taten von Tätern mit Therapieerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

IV. Aufrechterhaltung des sozialethischen Unwerturteils . . . . . . . . . . . . . .

99

m.

1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

2. Überzeugungstäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

V. Personenbezogene Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

VI. Fälle mit negativen Auswirkungen der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . .

102

VII. Verkehrsdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102

1. Kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

2. Ausweitungsansatz des OLG Zweibrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

Vill. Überlange rechtsstaatswidrige Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

Inhaltsverzeichnis IX. Verstöße gegen die Abgabenordnung (AO)

11

. .. .. ... . . . . . . . . . . .

109

1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

2. Der "Stuttgarter Parteispendenprozeß" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

3. Der Fall "Sport Billy" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

4. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

X. Weitere medienwirksame Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

1. Der "Hamburger Kessel" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

2. Der Fall "M." . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

3. Der "Bugwellen-Prozeß"

125

4. Die "Toto-Lotto-Aff

%b)

§ 153 a I §153al/ Summe

%d)

1975

137

86.454

86.591 0,15

-

1.530

-

-

1976

170

86.709

86.879 0,19

-

3.045

-

-

1977

122

87.397

87.519 0,13

-

4.162

-

-

1978

135

84.491

84.626 0,15

-

5.186

-

-

1979

136

85.356

85.492 0,15

16.754

5.371

22.125

0,61

1980

171

85.757

85.928 0,19

19.052

5.889

24.941

0,68

1981

183

85.157

85.340 0,21

19.926

6.154

26.080

0,70

1982

182

88.318

88.500 0,20

21.812

5.954

27.766

0,65

1983

299

92.145

92.444 0,32

22.499

6.037

28.536

1,04

1984

397

92.256

92.653 0,42

21.116

6.383

27.499

1,44

1985

364

91.433

91.797 0,39

20.507

6.354

26.861

1,35

1986

371

92.459

92.830 0,39

20.971

6.352

27.323

1,35

1987

331

92.856

93.187 0,35

21.387

6.610

27.997

1,18

1988

315

95.631

95.946 0,32

21.857

6.516

28.373

1,11

1989

446

96.361

96.807 0,46

21.449

7.210

28.659

1,55

1990

533

94.792

95.325 0,55

21.587

7.372

28.959

1,84

1991

458

95.702

96.160 0,47

21.452

6.623

28.075

1,63

1992

397

96.491

96.888 0,40

19.857

6.024

25.881

1,53

1993

400

93.961

94.361 0,42

21.016

5.572

26.588

1,50

1994

456

112.536

112.992 0,40

40.454

3.371

43.825

1,04

1995

424

107.662

108.086 0,39

21.210

5.379

26.589

1,59

• Zu a): Summe der Verwarnten und Verurteilten. • Zu b): Prozentzahl der Verwarnten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Verwarnten und Verurteilten. • Zu c): Summe der Einstellungen nach§ 153a Abs. I, 2 StPO. • Zu d): Prozentzahl der Verwarnten im Verhältnis zur Summe der Verfahrenseinstellungen nach § 153a StPO. Quelle: Amtliche Mineilung des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Die Zahlen zu der Verwarnung mit Strafvorbehalt und den Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht basieren auf den Strafverfolgungsstatistiken, diejenigen zu § 153a Abs. I StPO auf den Staatsanwaltschaftenstatistiken, zu § 153a Abs. 2 StPO auf den Strafsachenstatistiken.

A. Statistischer Überblick zur Anwendungshäufigkeit

77

IV. Kurzauswertung der Statistik Schon auf den ersten Blick folgt aus den Zahlen zu den Verfahrensausgängen sowohl in Baden-Württemberg wie auch auf Bundesebene, daß die Verwarnung mit Strafvorbehalt eine Entscheidungsform von sehr geringer quantitativer Bedeutung ist. Ihr Anteil an den Verurteilungen insgesamt bewegt sich auch zu Anfang der neunziger Jahre noch im Bereich von lediglich etwas mehr als einem halben Prozent. In Baden-Württemberg liegt die Quote sogar noch etwas darunter. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, daß die Anzahl der Entscheidungen, die auf Verwarnung mit Strafvorbehalt lauten, seit der Einführung des Rechtsinstituts bundesweit um etwa das 4fache zugenommen hat. Von 956 Verwarnungen mit Strafvorbehalt im Jahr 1975 ausgehend wurde bis zum Abschluß der Arbeit der statistisch belegbare Höchststand im Jahr 1994 mit 3.946 solcher Entscheidungen erreicht. In Baden-Württemberg, dessen Zahlen weniger linear verlaufen, ist dagegen seit 1990 ein Rückgang von 533 auf 424 Verwarnungen mit Strafvorbehalt im Jahr 1995 zu verzeichnen. Bei einer ansonsten eher stetigen Zunahme der Verwarnungen mit Strafvorbehalt fallt auf, daß in den Jahren 1982-1984 ein deutlicher Sprung erfolgte und zwar von 1.500 über 2.143 auf 2.516 auf Bundesebene und von 182 über 299 auf 397 Urteile in Baden-Württemberg. Wenn auch die Ursachen hierfiir nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden können, so liegt doch ein Zusammenhang mit der vorausgegangenen Diskussion über den Fortbestand der Verwarnung mit Strafvorbehalt im Schrifttum5 und die Beschäftigung einiger Oberlandesgerichte mit dem Rechtsinstitut6 nahe. Mit der absoluten Zunahme der Verwarnungen mit Strafvorbehalt geht eine Steigerung ihrer prozentualen Bedeutung einher, nämlich von 0,17% im Jahr 1975 auf 0,56% im Jahr 1994. Entsprechendes gilt fiir Baden-Württemberg. Hier stieg der Anteil der Entscheidungen gemäß § 59 von 0,15% im Jahr 1975 auf 0,39% im Jahr 1995, bei einem Höchststand von 0,55% im Jahr 1990. Die Zahl der Verwarnungen mit Strafvorbehalt steigt also schneller als diejenige der Gesamtverurteilungen. In einer ganz anderen Dimension bewegt sich die Zahl der Verfahrenseinstellungen gegen Auftage gemäß § 153a StPO, der zur gleichen Zeit wie die Verwarnung mit Strafvorbehalt Eingang in das Gesetz fand. Allein die Zahl der Einstellungen in der Hauptverhandlung hat sich bezogen auf die BundesBaumann, JZ 1980, 464 ff.; Cremer, NStZ 1982, 449 ff.; Horn, NJW 1980, 106 f. Z.B.: OLG Zweibrücken, Beschluß vom 13.7.1983 - 1 Ss 163/83, VRS 66, 196 ff.; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 24.11.1983- 1 Ss 250/83, VRS 66, 198 ff. = NStZ 1984, 312 f. 5 6

78

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

republikzwischen 1975 und 1989 von 12.880 auf 73.145, das heißt auf das 5,6fache erhöht. Im Gegensatz zu den Verwarnungen gemäß § 59 nimmt die Zahl der Einstellungen nach § 153a StPO ausnahmslos Jahr ftir Jahr zu. Bis 1981 wuchs sie nicht nur absolut, sondern auch relativ schneller als die Verwarnung mit Strafvorbehalt, so daß im Bund das Verhältnis der Zahlen der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu denjenigen der Einstellung nach § 153a StPO von 1,21:100 im Jahr 1977 auf bis zu 0,8:100 im Jahr 1981 zurückging. Erst ab 1983 kehrte sich das Verhältnis der relativen Zuwächse um, mit der Folge, daß jetzt ca. 1,5 Verwarnungen mit Strafvorbehalt auf 100 Einstellungen gemäß § 153a StPO kommen. Der Entwicklungsverlauf in Baden-Württemberg unterscheidet sich insofern von dem auf Bundesebene, als hier bereits 1981 der Stand von über 26.000 Einstellungen nach § 153a StPO erreicht worden war und seither - mit Ausnahme des Jahres 1994, in dem die Zahl auch unter Berücksichtigung der wachsenden Gesamtzahl der Verurteilten und Verwarnten nicht nachvollziehbar auf über 43.000 hochschnellte - stets im Bereich zwischen knapp 26.000 und knapp 29.000 blieb. Entsprechend der Schwankung der Zahl der Verwarnungen mit Strafvorbehalt bewegte sich der Quotient von ihr zur Anzahl der Einstellungen gegen Auflage seit 1983 uneinheitlich zwischen I ,04: I 00 und 1,84:100, wobei wie auf Bundesebene ein Trend zur I ,5 erkennbar ist. Im Ergebnis läßt sich also feststellen, daß die Praxis der Einstellung des Verfahrens bei Erftillung von Auflagen und Weisungen gegenüber der Verwarnung mit Strafvorbehalt eindeutig den Vorzug gibt. 7 Die Verwarnung mit Strafvorbehalt wird daher quantitativ nie zu einer Konkurrenz fiir § 153a StPO erwachsen. Gleichwohl hat sie einen festen, wenn auch kleinen Platz im Sanktionengeftige, der mit der Einstellung nach § 153a StPO nicht oder nur schwer besetzt werden kann. Die Stagnation der Verwarnung bei unter 4000 Entscheidungen jährlich und einem Anteil von starken 0,5% an der Zahl der Gesamtverurteilungen auf der Bundesebene deutet jedoch an, daß sie das ihr in der alten Gesetzesfassung mögliche Volumen erreicht hat. Ihre zukünftige Entwicklung hängt somit von dem Erfolg, das heißt insbesondere der Praktikabilität der Änderungen ab, die sie Ende 1994 durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz erfahren hat und durch weiter vorzunehmende Novellierungen noch erfahren wird.

7

Zu den Vorzügen des § 153a StPO vgl. 2. Teil, B.II.4.b), S. 86 f.

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform

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B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform I. Überblick

Die zu Beginn sehr zögerliche Anwendung des Rechtsinstituts fiihren die Autoren unter anderem darauf zurück, daß die Praxis und insbesondere die Strafverteidiger8 es zunächst schlicht übersehen haben. 9 Sie machen hierfiir die Lehre verantwortlich, die sich kaum mit diesen Vorschriften beschäftigte, 10 zumal die Autoren des in der Praxis wohl geläufigsten StGB-Kommentars nicht als Befürworter der Verwarnung mit Strafvorbehalt gelten und zeitweise sogar dessen Abschaffung forderten. 11 Im Laufe der Jahre fand jedoch im Schrifttum eine kritische Auseinandersetzung mit der neuen Sanktionsform statt. II. Einwände 1. Gesetzliche Ausgestaltung der §§ 59 ff.

Die gesetzliche Ausgestaltung der Verwarnung mit Strafvorbehalt steht mit an vorderster Stelle im Blickpunkt der Kritik. Einem Teil der Kritiker geht der Anwendungsbereich der Sanktion von bis zu 180 Tagessätzen aufgrund des Vorrangs der Geld- vor der Freiheitsstrafe zu weit, da auf diese Weise die Verwarnung mit Strafvorbehalt die Geldstrafe bis zur Hälfte ihres Höchstbetrages verdrängen könne. 12 Der größere Teil empfindet jedoch die tatbestandliehen Voraussetzungen als viel zu restriktiv, 13 weil sie die Verwarnung mit Strafvorbehalt auf Ausnahmefälle beschränken. 14 Insbesondere die Anhänger des AE erkennen in der Gesetzesfassung wenig Verständnis fiir ihren - "völlig entwerteten und 8

Legat, DAR 1985, 106; Buschbe/1, DAR 1991, 168; Schütz, Jura 1995, 462.

9

Rössner I Wulf, Opferbezogene Strafrechtspflege, S. 85.

10

Legat, DAR 1985, 106; Buschbell, DAR 1991, 168.

Dreher, in: FS für Maurach, S. 294: "Man verzichte auf das Institut"; Tröndle, vor § 59 Rn. 4: "In der Praxis wird immer zu prüfen sein, ob dem schwerfalligen Weg der §§ 59 ff. nicht der elastischere des § 153a StPO .. . vorzuziehen ist." 12 Bocke/mann / Volk, Strafrecht AT,§ 41 li, S. 276. 11

13 Schönke / Schröder-Stree, §59 Rn. 4; Legat, DAR 1985, 106 f.; Wiss, Jura 1989, 622; BayObLG, Urteil vom 4.11.1975 - RReg 5 St 231 I 75, JR 1976, 511 ff. mit Anm. Zipf; Eisenberg, Kriminologie, § 38 li Rn. 6, S. 537.

14 Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, S. 206 Rn. 693; Ulsamer, Lexikon des Rechts, Strafrecht, Strafverfahrensrecht, S. 779; Bocke/mann / Volk, § 41 li, S. 276; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts AT, § 80 li, S. 766; Hirsch, in: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, S. 138; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984 - 2 Ss 593 / 83 - 253/83 III, GA 1985,273 ff. = VRS 68, 263 ff. = JR 1985, 376 ff.

80

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

total verwässerten" - Vorschlag und kritisieren eine zu weitgehende Anpassung an die Strafaussetzung zur Bewährung. 15 Als arn gravierendsten bezeichnen sie folgende Änderungen des 2. StrRG arn AE: Die Streichung der Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, der Geldstrafe über 180 Tagessätze und des Fahrverbots aus dem Anwendungsbereich der Verwarnung mit Strafvorbehalt, die Einschränkungen in § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 3 sowie die Ausweitung gemäß § 59 Abs. 2 auf Rückfalltäter, bei denen eine Verurteilung oder Verwarnung länger als 3 Jahre zurückliegt. Des weiteren bemängeln sie die Verlängerung der Bewährungszeit auf ein bis drei Jahre und die Einfiihrung von Auftagen entsprechend der Strafaussetzung zur Bewährung. Sie halten das ursprünglich von ihnen verfolgte Gesamtkonzept als nicht erkannt. Der Gesetzgeber habe sowohl das Ziel der Spezialprävention als auch das der Generalprävention verfehlt. 16 Weiter beanstanden die Kritiker unter Hinweis auf die unklare Rechtsnatur der Verwarnung mit Strafvorbehalt 17 ein Theoriedefizit Denn diese wird zum Beispiel als eine "Art von Strafe" 18, ,,maßregelähnliches Institut" 19, "kleine Strafaussetzung zur Bewährung",20 "Dritte Spur der Bewährungsmaßnahmen"21 und als "strafrechtliches Reaktionsmittel sui generis mit maßnahmeähnlichem Charakter" bezeichnet.22 Die letztgenannte Qualifizierung, der vornehmlich die Kommentarliteratur folgt/ 3 gilt nicht zu Unrecht als inhaltsleer, da die Information, die diese "Definition" vermittelt, ohne Kenntnis der sie voraussetzenden Bedingungen unverständlich ist. 24 Welche Sichtweise letztendlich die richtige ist, kann im Rahmen dieser Arbeit dahin stehen.25 Eine exakte Analyse und rechtstheoretische Klärung dieser Frage steht jedenfalls noch aus. 15 Baumann I Weber, Strafrecht AT, 9. Aufl., § 43 III 2, S. 733 f. ; Baumann, JZ 1980, 465 f.; ders., DRiZ 1970, 8; Rezbach, S. 127 ff.; vgl. AE, 2. Aufl., S. 210.

Baumann, DRiZ 1970, 8; ders., JZ 1980, 465. Legat, DAR 1985, 106. 18 Rezbach, S. 129, spricht von einem "Strafersatz". 19 Grau, 2. Auf!., S. 193, ordnet das Institut im E 1936 zwischen einer Strafe und einer bessernden und sichemden Maßnahme ein. 16

17

Baumann, JZ 1980, 465. SK-Hom, § 59 Rn. 2; Maurach / Gössel / Zipf, § 66 I Rn. 3, S. 659, erkennen in dem Institut eine Ergänzung zu § 56. 22 Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 294. 23 Tröndle, vor § 59 Rn. 3; Lackner / Kühl, §59 Rn. 2; Schönke/Schröder-Stree, §59 20

21

Rn. I.

Legat, DAR 1985, 106. Zur Problematik vgl. Barte/t, Die Verwarnung mit Strafvorbehalt, S. 15 ff., insb. 72 ff., der in der Verwarnung mit Strafvorbehalt eine Dritte Spur zwischen Strafen und Maßregeln sieht. 24 25

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform

81

An der gesetzlichen Ausformulierung der Vetwarnung mit Strafvorbehalt wird bemängelt, daß sie den Rechtsanwender eher verunsichere, als daß sie ihm Interpretationsansätze aufzeigen würde, da sie wie zum Beispiel die Tatbestandsmerkmale "besondere Umstände" oder "angezeigt"26 zu vage und unbestimmt sei. Zudem fehle es an einer konturierten Beschreibung des Täterkreises. Datüber hinaus wird die dogmatische Kompliziertheit der Gesetzesfassung getiigt. 27 Die Richter würden von einer Anwendung des Instituts abgehalten, da die Anwendungsvoraussetzungen und Prognoseentscheidungen einiges an kriminologischer Erfahrung erforderten, die diese in der Regel nicht besäßen. Der erforderliche Verfahrensaufwand, also die Feststellung der günstigen Sozialprognose, die Überptüfung der Bewährungszeit etc., sei insbesondere in Fällen der sogenannten kleinen Geldstrafen, im Verhältnis zur verhängten Strafhöhe zu groß. 28 Schließlich bringe die Vetwarnung mit Strafvorbehalt unter anderem wegen § 267 Abs. 3 Satz 4 StP029 eine weitaus größere Arbeitsbelastung mit sich als die Einstellung nach § 153a StP0/0 weil danach zu begrunden sei, aus welchem Grund das Institut angewendet oder entgegen einem in der Verhandlung gestellten Antrag nicht angewendet wurde. Dies alles fiihre zu einer restriktiven Gerichtspraxis. Insoweit bleibt anzumerken, daß ein Mehr an Arbeitsbelastung keinesfalls den Ausschlag fiir beziehungsweise gegen die Anwendung einer bestimmten Sanktionsform geben darf, es jedoch auf der Hand liegt, daß die Praxis sich gerade an diesem Kriterium orientiert. Die Möglichkeit, eine Vetwarnung mit Strafvorbehalt im Strafbefehlsverfahren gemäß § 407 Abs. 2 Nr. I StPO zu verhängen, wobei allerdings die Ptüfung der Voraussetzungen des § 59 nicht immer angemessen erfolgen kann, ändert daran nichts, weil die Bewährungsübetwachung als zusätzliche Arbeit bleibt. Die Kritik an der Gesetzesfassung der §§ 59 ff. ist grundsätzlich nachvollziehbar, insbesondere wenn man die Sanktion des § 57 AE vor Augen hat. Dem Gesetzgeber fehlte es bei der Einfiihrung und Ausgestaltung der Verwarnung mit Strafvorbehalt am Mut, eine neue, innovative erste Sanktionsstufe im Bereich der Massenkriminalität zu schaffen. Ob die gesetzgebensehe 26

Wiss, Jura 1989, 625; Cremer, NStZ 1982, 450.

27

Zipf, in: FS fiir Jescheck, S. 981.

28 Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 290, der mit kleinen Geldstrafen solche zwischen (damals noch zulässigen) 5,- DM und 50,- DM meinte. Heute beträgt die Tagessatzzahl bei Geldstrafen mindestens 5 (§ 40 Abs. 1), die Tagessatzhöhe mindestens 2,- DM (§ 40 Abs. 2 S. 3). 29 Horn, NJW 1980, 106. 30

Zipf, in: FS fiir Jescheck, S. 982; Wiss, Jura 1989, 625.

6 Neumayor-Wagner

82

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Intention bei der Ausgestaltung der Verwarnung mit Strafvorbehalt letzendlich dahin ging, eine reine Ausnahmeregelung zu schaffen, steht nicht zweifelsfrei fest. Es sei hier auf die hohen Erwartungen bei ihrer gesetzlichen Einführung verwiesen,31 die einer solchen Annahme entgegenstehen. Ebensowenig zwingen die engen Tatbestandsvoraussetzungen zu einem derartigen Schluß. Deren Zweck kann auch darin bestehen, die Ausuferung der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu einer Regelsanktion fiir alle Ersttäter in der Masse der Fälle und eine Verdrängung der Geldstrafe in diesem Bereich zu verhindem,32 was aufgrund ihres Anwendungsbereichs bis zu 180 Tagessätzen Geldstrafe prinzipiell hätte geschehen können. Die historischen Argumente zu der Eingrenzung des Rechtsinstituts auf Ausnahmefälle beziehen sich lediglich auf einzelne Diskussionsbeiträge,33 ohne daß diese jedoch im Abschlußbericht des Sonderausschusses - dort ist lediglich bei § 59 Abs. 2 davon die Rede, daß das Institut aufgrund seiner milden Sanktion auf "noch tragbare Fälle zu begrenzen sei" - und im Gesetzeswortlaut explizit Beriicksichtigung gefunden hätten. 34 Ein eventuell beabsichtigter Ausnahmecharakter kam jedenfalls nicht eindeutig zum Ausdruck. 35 Es spricht daher einiges fiir die Ansicht, daß sich der Gesetzgeber über die Reichweite seiner Einschränkungen bei § 59 nicht vollständig im klaren war6 und nicht ausschließlich daran dachte, eine Ausnahmebestimmung zu schaffen. Der These kommt aber im Ergebnis keine wesentliche Bedeutung zu, da die enge Gesetzesfassung nur eine Interpretation in diesem Sinne zuläßt. Es macht wenig Sinn, heute für eine Ersetzung des Rechtsinstituts entsprechend der Ausgestaltung des AE zu plädieren, um so deren vermehrte Anwendung zu bewirken. Dieser enthielt einen wertvollen Ausgestaltungsvorschlag bei der Neuschaffung der Sanktion, hätte sich aber ebenfalls erst in der Praxis zu bewähren gehabt. Ob die Praxis ihn akzeptiert hätte, ist nicht feststellbar, da dies im Bereich der unteren Geld- und Freiheitsstrafe ein vollständiges Umdenken der Richterschaft vorausgesetzt hätte.

31

BT-Drs. V I 4095, S. 25.

Sturm, Sa V. Wp., 43. Sitzung, S. 812; Schöch, in: Anm. zu OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593183-253 183 III, JR 1985, 379; ders., in Anm. zu BayObLG, Beschluß vom 30.9.1975- RReg 2 St 171/75, JR 1978,74. 32

33

So z.B.: Güde, Sa V. Wp., 6. Sitzung, S. 46; Corves, Güde, Sa V. Wp., 44. Sitzung,

s. 830 f.

34 Baumann, JZ 1980,466 f.; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 24.11.1983- I Ss 2501 83, VRS 66, 200, mit Bezug auf BT-Drs. V I 4095, S. 24 f.; BT-Drs. V I 4171, S. 3. 35 In diesem Sinne auch Dölling, ZStW 104, 270. 36 Baumann, JZ 1980, 466.

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform

83

2. Verstoß gegen das Schuldprinzip

Ein weiterer Hauptkritikpunkt in der Literatur ist die angebliche Verletzung schuldstrafrechtlicher Maximen durch die §§ 59 ff. Schlagwortartig wird die Verwarnung mit Strafvorbehalt als "bedeutendste Konzession an die Spezialprävention auf Kosten des Schuldprinzips" bezeichnet. 37 Insbesondere Dreher vertritt diese These vehement. 38 Seiner Ansicht nach dringt mit diesem Rechtsinstitut die Spezialprävention in den Kernbereich des Erwachsenenstrafrechts ein, wodurch bis in den mittleren Kriminalitätsbereich hinein ausschließlich spezialpräventive Gesichtspunkte über das Ob der Strafe entscheiden würden. Denn der unter Strafvorbehalt Verwarnte habe es allein in der Hand, ob er eine Strafe erhalte oder ob er gänzlich straflos bleibe, weil erst eine neue Straftat in der Bewährungszeit der Auslöser für die Strafe der zur Verwarnung führenden Tat sei. Wenn er keine weitere Straftat während seiner Bewährungszeit begehe, entziehe er den Gerichten die Strafentscheidung und bedinge dadurch eine Verletzung des Schuldstrafrechts. Die nunmehr wegen der ersten Tat verhängte Strafe sei nicht mehr Reaktion auf die Tat beziehungsweise den Täter, wie diese oder dieser sich zur Zeit der ersten gerichtlichen Hauptverhandlung dargestellt hätten. Entscheidend für das Ob der Strafe seien nun Fakten, welche nach der Tat und der gerichtlichen Schuldfeststellung lägen und mit der Tatschuld nichts zu tun hätten. Die Strafe sei nunmehr die Antwort auf das spätere Fehlverhalten. Indessen erfolgt auch bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt die Strafbestimmung gemäß dem Schuldprinzip. 39 Die vorbehaltene Strafe ist das Ergebnis der Hauptverhandlung wegen der ersten Tat. Im übrigen ist es gerade Ausdruck des Schuldprinzips, noch keine Strafe zu verhängen, wenn die Tat und damit die in ihr zum Ausdruck gekommene Schuld dies nicht gebietet. Der Einwand, die Strafe sei hier nur Antwort auf späteres Fehlverhalten und nicht mehr auf die Tat, läßt sich der Verwarnung mit Strafvorbehalt genausowenig entgegenhalten wie der Strafaussetzung zur Bewährung. Denn die bereits für die Ausgangstat festgesetzte (beziehungsweise verhängte) Strafe wird nicht für, sondern wegen des zweiten Delikts verhängt (beziehungsweise vollstreckt). Die gegenläufige Argumentation verkennt gerade den Sinn und Zweck der Bewährung, dem Täter einerseits eine Chance zu gewähren, durch eine straffreie Lebensführung der Strafe zu entgehen, ihn andererseits aber durch die Strafdrohung auch dahingehend unter Druck zu setzen, was spezialpräventiv mehr Wirkung erzielt als die Strafverhängung oder -Vollstreckung. Das Argument, die Strafe verliere bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt 37 Bocke/mann / Volk, § 41 I!, S. 275; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts AT, § 80 I, S. 764; Rössner ! Wulf, S. 85. 3R 39

Dreher, in: FS für Maurach, S. 283 f.; vgl. Tröndle, vor § 59 Rn. 3. Wiss, Jura 1989, 627; vgl. zur Thematik auch Braun, S. 136 ff., insb. 178 ff., 190 ff.

84

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

ihren Charakter als ein dem Verbrechen folgendes und dieses ausgleichendes Übel, überzeugt nicht. Denn es richtet sich gegen jede spezialpräventiv wirkende Reaktion auf Straftaten und bedeutet einen Rückfall in die reine Vergeltungstheorie.40 Da die Sanktion nur bei Taten mit geringem Unrechts- und Schuldgehalt Anwendung finden soll, wofür unter anderem die Rechtsprechung zu der sogenannten "Würdigkeitsklausel" verantwortlich ist, erkennen die Gerichte selten in dem mittleren Kriminalitätsbereich auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt,41 auch wenn § 59 sie bei Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen zuläßt, so daß sich diese Kritik relativiert. 3. Widerspruch zum Ordnungswidrigkeitenrecht

Immer wieder äußern sich Stimmen in der Literatur, denen zufolge die Verwarnung mit Strafvorbehalt einen Wertungswiderspruch zum Ordnungswidrigkeitenrecht begründe,42 weil dieses weder eine Aussetzung der Geldbuße zur Bewährung noch eine Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt kennt. Insbesondere trete dieses Spannungsverhältnis bei Verkehrsverstößen auf. Dreher hat dies mit folgendem Beispielsfall verdeutlicht: 43 Zwei Kraftfahrzeugführer (A und B) verursachen einen Verkehrsunfall. Beide werden wegen einer Gefahrdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. I Nr. 2) angeklagt. Am Ende der Hauptverhandlung steht A als "schwererer Verkehrssünder" fest. Das Gericht spricht ihn schuldig, eine Straßenverkehrsgefährdung begangen zu haben, und verwarnt ihn unter Vorbehalt einer Geldstrafe (20 Tagessätze zu je 25,- DM, also 500,- DM). Die Bewährungszeit beträgt ein Jahr. Bei B ergibt die Hauptverhandlung "nur" eine Verkehrsordnungswidrigkeit Ihm wird dafür eine Geldbuße in Höhe von 200,- DM auferlegt. Begeht A während seiner Bewährungszeit keine neue Straftat, bleibt sein Verhalten für ihn ohne Sanktion. Er muß keine Strafe bezahlen und sein Führungszeugnis weist nach wie vor keine Eintragung auf (§ 32 Abs. 2 Nr. I BZRG). Letztlich bleibt er abgesehen von einem Eintrag in das Verkehrszentralregister (§ 28 Nr. I StVG) völlig verschont. B muß dagegen die Geldbuße bezahlen und erhält ebenfalls einen Eintrag in das Verkehrszentralregister (§ 28 Nr. 3 StVG). Baumann, JZ 1980, 468. 1994 standen 3.601 Verwarnungen mit Strafvorbehalt bis zu 90 Tagessätzen Geldstrafe 345 Verwarnungen mit Strafvorbehalt über 90 Tagessätze gegenüber; Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1994, Tab. 3.4. 42 Schönke/Schröder-Stree, §59 Rn. 4; Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 290; Zipf, JuS 1974, 146; ders., ZStW 86, 536 Fn. 50; Horn, NJW 1980, 106; Cremer, NStZ 1982, 451; Legat, DAR 1985, 108; Wiss, Jura 1989, 627; BayObLG, Urteil vom 4.11.1975- RReg 5 St 231/75, MDR 1976, 333 = JR 1976, 512; Schöch, in: Anm. zu OLG Düsseldorf Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593/83-253 / 83 III, JR 1985, 379. 43 Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 290. 40

41

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsfonn

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Diese unterschiedlichen Folgen betrachten Teile der Literatur als unerträglich. Ein Ausgleich ist jedoch über eine Geldauflage gemäß § 59a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 n.F. zu erreichen44 • Das Gericht kann zum Beispiel eine solche Geldauflage in gleicher Höhe wie für die gemäß § 21 Abs. 1 OWiG von der Strafverurteilung verdrängte Verkehrsordnungswidrigkeit zugunsten der Staatskasse oder einer gemeinnützigen Einrichtung verhängen. Der "nur" verwarnende Richter kann so den A die Verwarnung mit Strafvorbehalt spüren lassen und dieses Spannungsverhältnis abbauen. 45 Diesen Ausgleich hält wiederum die Gegenauffassung für paradox,46 da ihn der rechtsunkundige Täter nicht verstehe. Dieser sehe sich zu einer Geldstrafe verurteilt, die er nur dann bezahlen müsse, wenn er sich nicht bewähre, während ihm gleichzeitig die unbedingte und sofort zu erfüllende Zahlung einer unter Umständen gleich hohen Geldsumme auferlegt werde. Den unterschiedlichen Charakter der Zahlungspflicht könne er aber im Zweifel nicht erkennen und frage nach dem Sinn der Bewährung, wenn er doch sofort eine Zahlung leisten müsse. Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, daß es sich bei dem Verkehrsstrafrecht und dem Ordnungswidrigkeitenrecht um zwei unterschiedliche Rechtsbereiche mit verschiedenen Tatbeständen und Rechtsfolgen handelt.47 Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist einer Bewährung und einer Verwarnung mit Bußgeldvorbehalt gerade nicht zugänglich, weil es zur Durchsetzung seiner Vorschriften einen unmittelbar spürbaren Pflichtenappell an den Betroffenen für nötig ansieht und diesen durch die Geldbuße verwirklichen will.48 Taten von niedrigem Unrechtsgehalt können gemäß § 47 Abs. 2 S. 1 OwiG eingestellt werden, wenn nach tatrichterlichem Ermessen eine Ahndung nicht geboten erscheint, was dem Auftreten solcher Spannungen entgegenwirkt49 • Ferner ist zu bedenken, daß es aus sozialethischer Sicht einen fundamentalen Unterschied macht, ob einem Täter eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit zur Last gelegt wird. Trifft einen Täter der Vorwurf einer Straftat, das heißt von kriminellem Unrecht, folgt für ihn als Konsequenz insbesondere bei einem Bewährungsversagen die Abstempelung zum Vorbestraften mit allen ihm daraus erwachsenden beruflichen, familiären und sozialen Nachteilen. Den Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit, zum Beispiel wegen eines Fehlverhaltens im Straßenverkehr, hingegen betrachtet die Gesellschaft unter sozial44 SK-Horn, § 59 Rn. II ; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts AT, § 80 li, S. 766; Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 291 ; Dencker, StV 1986, 405; Wiss, Jura 1989, 627. 4s Horn, NJW 1980, 106.

46 47

48

49

Ulsamer, S. 779. Buschbell, DAR 1991, 169 f. BayObLG, Urteil vom 4.1 1.1976 - RReg 5 St 231175, JA 1977, 94. Wiss, Jura 1986, 627; Legat, DAR 1985, 108.

86

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

ethischen Gesichtspunkten als nicht verwerflich, da nahezu jeder Bürger als Teilnehmer am Straßenverkehr selbst jederzeit ein potentiell Betroffener ist und dies auch weiß. Einzuräumen ist allerdings, daß diese theoretischen Aspekte dem Angeklagten, der trotz einer "Bewährung" eine Zahlung leisten muß, die Entscheidung weder rational noch emotional näherbringen. 50 Dies ist jedoch ein Problem der Verwarnung mit Strafvorbehalt an sich und begründet keinen Wertungswiderspruch zum Ordnungswidrigkeitenrecht 4. Die Konkurrenz prozessualer Rechtsinstitute

a) Spannungsverhältnis zu den §§ 153 f StPO

Weitere Ursache für die nicht unerheblichen Anlaufschwierigkeiten des Rechtsinstituts ist der gleichzeitig mit ihm eingeführte § l53a StP0. 51 Da diese Norm (in Verbindung mit § 153 StPO) für Ersttäter kaum eine durch das materielle Strafrecht zu füllende Lücke beläßt, ist von einer Abschöpfungswirkung,52 einem erheblichen Gewichts- und Bedeutungsverlust53 , bis zu einem Herabdrängen der Verwarnung mit Strafvorbehalt zur Bedeutungslosigkeit durch sie die Rede.54 b) Vorzüge des § 153a StPO

Im Vergleich der tatbestandliehen Voraussetzungen der beiden Rechtsinstitute fällt auf, daß § 153a StPO im Unterschied zu § 59 weniger einschränkende Merkmale enthält. Die prozessuale Einstellung bietet daher zwangsläufig geringere Angriffsstellen und damit auch weniger potentielle Fehlerquellen bei der Anwendung. 55 Die Vorschrift weist auch Vorteile für sämtliche Verfahrensbeteiligten auf. So kann der Richter im Laufe der Hauptverhandlung noch vor dem endgültigen Abschluß der Beweisaufnahme, wenn er deren Ergebnis bereits grob

°

5 Cremer, NStZ 1982, 451. Ein ähnliches Problem stellt sich im Fall der Nichtzahlung einer Geldstrafe beziehungsweise Geldbuße im Ordnungswidrigkeitenrecht Während der Straftäter durch VerbüBung der Ersatzfreiheitsstrafe von der Pflicht zur Zahlung der Geldstrafe entbunden wird, befreit die Erzwingungshaft im Ordnungswidrigkeitenrecht den Betroffenen nicht von seiner Pflicht zur Zahlung der Geldbuße, sondern dient nur als Druckmittel zur Durchsetzling der Zahlungspflicht (§ 96 OwiG). 51 SK-Horn, § 59 Rn. 3; Eisenberg, § 38 II Rn. 6, S. 538; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts AT, § 80 II, S. 766; Maiwa/d, GA 1983, 50.

52 53 54

55

Dölling, ZStW 104, 269. OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984- 2 Ss 593 I 83-253 I 83 III, JR 1985, 377. Rieß, ZRP 1983, 93; Ulsamer, S. 779. Cremer, NStZ 1982, 451.

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform

87

überschaut, das Verfahren einstellen, und allen Beteiligten einen weiteren Zeitaufwand ersparen. 56 Das Gericht entledigt sich im Gegensatz zu § 59 der Aufgabe, das Urteil zu verkünden und schriftlich begründen zu müssen, und vermeidet damit einen erheblichen Arbeitsaufwand. Eine Überprüfung seiner Entscheidung durch die Rechtsmittelinstanz ist ausgeschlossen. Bei einer Einstellung gemäß § 153a Abs. I StPO braucht die Staatsanwaltschaft keine Anklageschrift abzufassen, was sie selbst wie auch des Gericht entlastet. Der Vorteil für den Beschuldigten liegt darin, daß keine öffentliche Feststellung seiner Schuld erfolgt und er weder mit einem Registereintrag noch mit Verfahrenskosten belastet wird. 57

§ 153a StPO erreicht den mit der Einführung der Verwarnung mit Strafvorbehalt verfolgten Zweck, nämlich die Vermeidung des Vorstrafenmakels, effektiver als § 59,58 überwiegend sogar ohne Hauptverhandlung, da - gegebenenfalls mit richterlicher Zustimmung - eine prozessuale Einstellung bereits im staatsanwaltschaftliebem Ermittlungsverfahren ergeht. Der prozessuale Weg gilt daher als prozeßökonomischer,59 elastischer,60 und milder.61 Aus den amtlichen Justizstatistiken geht der klare Vorsprung der prozessualen Einstellungsmöglichkeiten nach § 153a StPO aufgrund der weit höheren Anwendungszahlen im Vergleich zu § 59 auf den ersten Blick hervor. 62 c) Nachteile des § 153a StPO Die prozessuale Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft entzieht weite Bereiche juristischer Sachentscheidungen der gerichtlichen Überprüfung und Entscheidung.63 Die Staatsanwaltschaft wird auf diese Weise zur entscheidenden Instanz. Bedenken ergeben sich hieraus wegen der Durchbrechung des Legalitätsprinzips,64 des Gewaltenteilungsaspekts und des Richtervorbehalts für Rechtssachen. Weitere Vorbehalte bestehen gegen die Beschränkung des strafrechtlichen Schutzes auf die Fälle, in denen die Strafverfolgungsbehörde ein öffentliches Interesse annimmt. Tatsächlich ist jedoch 56

OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593183-253183 III, GA 1985,275.

57

Dencker, StV 1986, 399.

Horn, ZStW 89, 552; BayObLG, Urteil vom 9.6.1989 - RReg 2 St 133 I 89, NJW 1990, 58. 59 Wiss, Jura 1989, 626; Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 293; Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, S. 206 Rn. 693. 60 Tröndle, vor § 59 Rn. 4; OLG Düsse1dorf, Urteil vom 15.5.1984 - 2 Ss 593 I 83 253 I 83 III, GA 1985, 275. 58

61

Boxdorfer, NJW 1976, 319.

Vgl. 2. Teil, A.II, III, S. 74 ff. Legat, DAR 1985, 109. 64 Kaiser, Kriminologie, § 115 Rn. 37, S. 917.

62

63

88

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

die Anklagebehörde ebenso wie das Gericht zur Objektivität (§ 160 StPO) verpflichtet, deren Einhaltung die Notwendigkeit einer gerichtlichen Zustimmung in gewichtigeren Fällen garantiert, so daß diese Kritik verfehlt ist. Problematischer ist in dem Bereich die Einstellung des Verfahrens vor der Anklageerhebung, die der Beschuldigte unter Umständen als halben Freispruch wertet und so den Eindruck gewinnt, daß die Justiz ihn gewähren lasse.65 Das Verfahren fUhrt ihm sein Tatumecht nicht vor Augen und kann so keine positiven Änderungen in seinem künftigen Verhalten bei ähnlichen Situationen bewirken. Ein weiterer neuralgischer Punkt bei den prozessualen Einstellungen nach

§ 153a StPO ist, daß bisweilen die Beteiligten zur Vermeidung einer schwie-

rigen Schuldprüfung oder einer Verfahrensverzögerung durch Vertagung, ohne vollen Tatnachweis einer Verfahrenseinstellung gegen Zahlung einer bestimmten Geldsumme zustimmen und so in undurchsichtigen Fällen in der Öffentlichkeit der Eindruck eines Freikaufs durch den Angeklagten entsteht.66 Letzterer steht vor einer schwierigen Entscheidung. Zum einen erscheint ihm die Geldauflage als Voraussetzung ftir die Einstellung des Verfahrens als erhebliche Sanktion, zum anderen riskiert er andernfalls eine Fortsetzung der öffentlichen Hauptverhandlung und die Verurteilung zu einer Geldstrafe, die höher ausfallt als die Geldauflage, die seinem Ansehen schadet und noch mehr Zeit kostet. Um dem zu entgehen wird er in seiner "notstandsähnlichen" Situation dazu neigen, die prozessuale Einstellung zu akzeptieren. Die Praktikabilität der prozessualen Lösung ftir alle Verfahrensbeteiligten geht so letztendlich auf Kosten der Rechtssicherheit, Gleichbehandlung von Reich und Arm und der Strafregisterwahrheit und bildet eine zusätzliche Gefahr ftir die überregionale Einheitlichkeit der Rechtsanwendung.67

d) Vorteile der Verwarnung mit Strafvorbehalt gegenüber § 153a StPO Unter spezialpräventiven Aspekten bietet § 59 den Vorteil, daß - mit Ausnahme des Strafbefehlsverfahrens - den Täter eine Pflicht zum Erscheinen vor Gericht trifft und so unter dem Eindruck einer öffentlichen Hauptverhandlung beim Erst- und beim Konflikttäter eine nachhaltigere Wirkung erzielt und die Justiz auf Dauer eher entlastet werden kann. Die Kombination mit Auflagen und Weisungen verstärken diesen erzieherischen Langzeiteffekt Wiss, Jura 1989, 627. Legat, DAR 1985, 109. Zur neueren Diskussion zum Thema "Absprachen im Strafprozeß" vgl. z.B.: Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986. 65

66

67

Schöch, in: FS fiir Baumann, S. 262; ders., Gutachten C zum 59. DJT, S. 34.

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform

89

ebenso wie der Bewährungsdruck. 68 In undurchsichtigen Fällen besteht bei § 59 eine geringere Gefahr der Privilegierung und interner Absprachen mit wirtschaftlich und sozial besser situierten Angeklagten, die durch einen Verteidiger beraten werden, da in jedem Fall - und regelmäßig öffentlich - eine vollständige Schuldprüfung stattfindet. Unter Rechtssicherheits- und Klarstellungsgesichtspunkten ist diese Verfahrensweise vorteilhafter. 69 Der Grundsatz "gleiches Recht fiir alle" bleibt eher gewahrt. Zumindest bei vollständig aufgeklärten Sachverhalten läßt sich der behaupteten Schwerfälligkeit des § 59 durch ein Ausweichen auf das Strafbefehlsverfahren begegnen (§ 407 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StP0). 70 Aus registerrechtlicher Sicht bietet § 59 den Justizbehörden - bis zur Einsetzbarkeit des zentralen staatsanwaltschaftliehen Verfahrensregisters (§§ 474 ff. StPO) - Vorteile bei der Verfolgung von Wiederholungstätern. Dem Täter bleibt bei einer prozessualen Verfahrenseinstellung jeglicher Registereintrag erspart. Zwar wird eine Verwarnung mit Strafvorbehalt auch nicht über den Ablauf der Bewährungsfrist hinaus in das behördliche Führungszeugnis übernommen (§§ 32 Abs. 2 Nr. 1; 12 Abs. 2 S. 2 BZRG), doch geht sie fiir die Dauer der Probezeit aus dem Zentralregister hervor (§§ 4 Nr. 3; 5 Abs. 1 Nr. 6 BZRG). Dies fiihrt zumindest in der Bewährungszeit zu einer erleichterten Erkennung von Wiederholungstätern. Vorliegend geht es nicht darum, die prozessualen Einstellungen durch die Verwarnung mit Strafvorbehalt abzulösen. Damit wäre das Rechtsinstitut insbesondere im Bereich der Bagatellkriminalität auch überfordert. Hier ist der prozeßökonomische Vorteil des § 153a, schnell und unkompliziert eine Entscheidung herbeifUhren zu können, unverzichtbar. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen ein Bedürfnis nach der Durchfiihrung eines förmlichen Verfahrens besteht, die Sanktion sich aber letztlich auf niedriger Stufe bewegen kann. Zum Beispiel in Verfahren von öffentlichem Interesse fiihrt zumindest von der Seite der Staatsanwaltschaft aus kaum ein Weg an einer Anklage zwecks einer gerichtlich ausgesprochenen Verwarnung vorbei. 5. Verlust der generalpräventiven Wirkung

Weiter kritisiert die Literatur an den §§ 59 ff., daß ein häufiges Vorbehalten kleiner Geldstrafen die generalpräventive Wirkung des Geldstrafensystems stark abschwächen würde. 71 Auf diese Weise würden Rechtsbrecher 68 Schöch, in: Anm. zu BayObLG, Beschluß vom 30.9.1975 - RReg 2 St 171 / 75, JR 1978, 74; Buschbell, DAR 1991, 170. 69 Legat, DAR 1985, 110. 70 Legat, DAR 1985, 110. 71 Lackner/Küh/, vor §59 Rn. I; Cremer, NStZ 1982, 451; BayObLG, Urteil vom 4.11.1975 - RReg 5 St 231/75, JR 1976, 511 f.

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2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

einer fühlbaren Strafe entgehen, da das neue Rechtsinstitut keine spürbare Sanktion enthalte. 72 Diese Kritik setzt jedoch eine falsche, zu weitgehende Anwendung des Rechtsinstituts voraus. Die engen tatbestandliehen Voraussetzungen der §§ 59 ff. schließen ihre Anwendung auf die breite Masse von Fällen aus, 73 so daß keine nachhaltigeren Einbußen an Generalprävention zu befürchten sind, als bereits die sehr häufige Anwendung der prozessualen Einstellungen mit sich bringt. 74 Insoweit ist dem Appell Baumanns beizupflichten, daß "man doch endlich aufhöre, von der Einbuße an Generalprävention bei § 59 zu lamentieren - und im gleichen Atemzug die Einbuße an Generalprävention bei den §§ 153 ff. StPO zu goutieren". Im übrigen geht die- zugegebenermaßen geringe - generalpräventive Wirkung der Verwarnung mit Strafvorbehalt nicht von der Bezahlung, sondern von der Festsetzung der Geldstrafe aus. 75 111. Befürworter des Rechtsinstituts im Schrifttum In der kriminalpolitischen Auseinandersetzung nach der Einführung der Verwarnung mit Strafvorbehalt sprachen sich jedoch auch namhafte Vertreter in der Literatur für das Rechtsinstitut aus und forderten eine Ausdehnung seines Anwendungsbereichs. Schöch76 betont die im Vergleich der §§ 59 ff. mit den §§ 153, l53a StPO bestehenden Vorteile/7 insbesondere die Kombination der Verwarnung mit Strafvorbehalt mit Auflagen, die über die ganze Bewährungszeit hinweg präventiv auf den Täter einwirken können. Er will das Rechtsinstitut im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte nicht als Ausnahme verstanden wissen.78 Horn79 möchte dem Rechtsinstitut eine Chance zur Verwirklichung in der Praxis eröffnen, indem er es für Fälle vorsieht, für die die Rechtsanwendungspraxis über keine befriedigende Lösung verfügt. Eine solche Lükke sieht er bei Sachverhalten, bei denen sich eine Einstellung nach den §§ 153 Abs. 2 und 153a Abs. 2 StPO anbietet, diese aber an der Weigerung 72

Cremer, NStZ 1982, 451.

73

Wiss, Jura 1989, 627. JZ 1980, 468; Schöch, in: FS für Baurnann, S. 265.

74

s Horn, NJW 1980, 106.

7

76

74 f. 77 78 79

In: Anrn. zu BayObLG, Beschluß vom 30.9.1975- RReg 2 St 171 / 75, JR 1978, 73,

Vgl. 2. Teil, B.II.4.d), S. 88 f. Vgl. 2. Teil, 8.11.1, S. 82. NJW 1980, 106 f.

B. Reaktionen des Schrifttums auf die Sanktionsform

91

eines Verfahrensbeteiligten, ihr zuzustimmen, scheitert. Der Zustimmungsmangel des Angeklagten ist in der Praxis der seltenere Fall. 80 Er kommt zum Beispiel vor, wenn der Angeklagte einen Freispruch erreichen will, weil er sich für unschuldig hält, noch nicht überführt sieht, Kosten vermeiden oder weniger schwerwiegende oder gar keine Auftagen durchsetzen will. Die Zustimmungsverweigerung auf seiten der Staatsanwaltschaft beruht regelmäßig auf einer von der Ansicht des Gerichts abweichenden Beurteilung der Frage, ob die materiellen Einstellungsvoraussetzungen vorliegen. Horn vertritt für diesen Fall die Auffassung, daß der Richter, der das Verfahren zunächst durch eine prozessuale Verfahrenseinstellung erledigen wollte, aufgrund der fehlenden Zustimmung nur auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt erkennen dürfe und ihm die Verurteilung des Angeklagten zu einer Geldstrafe - ohne eine Änderung des Sachverhalts durch die weitere Beweisaufnahme81 - verwehrt sei, da er sonst seinen eigenen materiellrechtlichen Ansichten widersprechen würde, weil er das für die Verurteilung zu einer Geldstrafe erforderliche öffentliche Bestrafungsinteresse verneint habe. Dies gelte bei einer Zustimmungsverweigerung sowohl des Angeklagten als auch der Staatsanwaltschaft. Er plädiert weiter für eine Kombination des Rechtsinstituts mit spürbaren Auflagen, um ihm eine Basis für seine Anwendung in größerem Ausmaß zu schaffen. Baumann82 einer der Initiatoren des AE, unterstützt Horns Auffassung, da er in § 59 eine kriminalpolitisch nützliche, wenn auch nicht zufriedenstellende Vorschrift sieht, die reanimiert werden sollte. Dies will er durch eine großzügigere Auslegung der Anwendungsvoraussetzungen erreichen, um die Leistungsfahigkeit des Rechtsinstituts zu steigern. § 153 a StPO hält er für eine Verlegenheitslösung des Gesetzgebers, der er äußerst ablehnend gegenübersteht. Der Praktiker Legat83 sieht in der Verwarnung mit Strafvorbehalt ein überzeugendes, flexibles und tatrichterliches Instrument und plädiert für ihre Ausdehnung im Verkehrsstrafrechtsbereich.

80 Als Beispielsfall vgl. den "Hamburger Kessel": LG Hamburg, Urteil vom 23.10.1991 - 830 Js 182/86; nach Bericht "Hohe Geldstrafen verhängt", FAZ vom 24.10.1991, D II Politik. 81 Horn, in: Anrn. zu OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984- 2 Ss 593 / 83-253/83 lll, NStZ 1985, 364. 82 JZ 1980, 464 ff. 83 DAR 1985, 105 ff., insb. 109 f.

92

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Auch Dencker84 spricht sich für das Rechtsinstitut aus und wendet sich speziell an die Strafverteidiger, die er dazu aufforderte, in der Hauptverhandlung protokollierte, auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt abzielende Anträge zu stellen, um auf diese Art und Weise das Gericht indirekt zu zwingen, sich eingehend mit den §§ 59 ff. im konkreten Fall auseinanderzusetzen und zwar insbesondere dann, wenn es das Institut nicht anwenden will (§ 267 Abs.3 Satz 4 StPO). Wiss 85 hält ebenfalls eine häufigere Anwendung des Rechtsinstituts für wünschenswert. Besonderen Wert legt er auf die Kombination des Sanktionsmittels mit Auflagen und Weisungen, um die spezialpräventiven Auswirkungen der Verwarnung im Sinne einer langfristigen Erziehung zu maximieren. Buschbell 86 bemängelt ebenso wie Legat die seltene Anwendung des Rechtsinstituts in verkehrsrechtlichen Strafverfahren. Er appelliert deshalb an die Verteidiger, in der Tatsacheninstanz die Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt zu beantragen, um im Falle einer Verurteilung zu Strafe die rechtliche Überprüfung im Wege der Sprungrevision herbeizufiihren.

C. Reaktionen der Rechtsprechung auf die §§ 59 ff. Nachdem die Verwarnung mit Strafvorbehalt den Strafgerichten seit über zwei Jahrzehnten als Sanktion zur Verfügung steht, stellt sich die Frage nach ihrer Akzeptanz durch die Praxis, ob sie bei bestimmten Sachverhalten oder Tatbeständen bevorzugt Anwendung findet und ob sich spezielle Fallgruppen herausgebildet haben oder noch entwickeln. Die unteren Instanzen nahmen die §§ 59 ff. nur zögerlich auf, 87 weil namentlich die Oberlandesgerichte das Rechtsinstitut als Ausnahmebestimmung qualifizierten.88 Diese räumten der Geldstrafe den Vorrang ein, weil von ihr eine nachhaltigere Warnfunktion ausgehe und sie keine sozialschädlichen Ne84 StV 1986, 399 ff.; ihm folgen Hohmann I Sander, die in der Verwarnung mit Strafvorbehalt wegen der mit ihr verbundenen registerrechtlichen Vorteile eine kriminalpolitisch sinnvolle Vorschrift für den nicht vorbestraften Täter sehen. Sie erkennen trotz der engen tatbestandliehen Voraussetzungen noch Spielraum für ihre weitere Ausschöpfung, in: Anrn. zu LG Berlin, Urteil vorn 28.9.1994- (522) 56 Js F41 /91 Ns (30/94), wistra 1996, 73 ff. 85 Jura 1989, 622 ff. 86 DAR 1991, 168 ff. 87 Vgl. 2. Teil, A, S. 73 ff.

88 Vgl. BayObLG, Urteil vom 4.11.1975- RReg 5 St 231175, JR 1976, 511 f.; OLG Hamm, Urteil vom 6.11.1975- 2 Ss 473/75, AnwBl 1976, 138; OLG Koblenz, Urteil vom 27.10.1977 - I Ss 434/77, GA 1978, 207; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984 2 Ss 593/83 - 253/83 III, JR 1985, 376 ff. =GA 1985, 273 ff. = NStZ 1985, 362 ff. = VRS 68, 263 ff.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

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benwirkungen auslöse. 89 Eine Öffnung der Verwarnung mit Strafvorbehalt durch eine Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs lehnten sie zunächst ab, weil weder die gesetzliche Begründung noch ein Bedürfnis der Praxis in diese Richtung weisen würden. 90 Die Gerichte kombinierten das Rechtsinstitut auch kaum mit Auflagen, da sie diese fiir kriminalpolitisch unzweckmäßig erachteten.91 Erst in jüngster Zeit veröffentlichten die juristischen Fachzeitschriften zunehmend tatrichterliche Urteile, in denen die Gerichte auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt in Verbindung mit einer Geldauflage erkannten. Die Tendenz weist auf eine Öffnung der Rechtsprechung92 zugunsten einer erweiterten Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt insbesondere im Bereich über 90 Tagessätze hin.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder für die §§ 59 ff. I. Fälle des Zustimmungsmangels eines Verfahrensbeteiligten gemäß § 153a StPO Erstes Anwendungsgebiet fiir die Verwarnung mit Strafvorbehalt sind die Fälle, in denen eine Verfahrenseinstellung an der fehlenden prozessualen Zustimmung eines Verfahrensbeteiligten scheitert, obwohl das Gericht die materiellen Einstellungsvoraussetzungen bejaht.93 • 94 Zum Teil findet sich in den Urteilsgründen nur ein knapper Hinweis auf dieses Anwendungsfeld, wie beispielsweise "die Staatsanwaltschaft verweigerte ihre Zustimmung zur Einstellung". In diversen Urteilen,95 in denen ein Fall des Zustimmungsmangels ei89

BayObLG, Urteil vom 4.11.1975- RReg 5 St 231/75, JR 1976, 512 mit Anm. Zipf

90

OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593/83-253/83 III, JR 1985,377 f.

91

Schöch, in: FS für Baumann, S. 259.

Vgl. 2. Teil, D.IX, X, S. 109 ff. Vgl. 2. Teil, B.III, S. 90 f. 94 Horn, NJW 1980, 106 f.; SK-Horn, §59 Rn. 3; Ulsamer, S. 779; Dencker, StV 1986, 399 ff.; Dölling, ZStW 104, 269f.; Schöch, in: FS fiir Baumann, S. 264; ders., Gutachten C zum 59. DJT, S. 33; Wiss, Jura 1989, 624; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S. 59; Baumann, JZ 1980, 464; einschränkend Tröndle, vor§ 59 Rn. 4; Cremer, NStZ 1982, 452 f. 95 OLG Zweibrücken, Beschluß vom 24.11.1983 - l Ss 250 I 83, VRS 66, 198; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593 / 83-253 / 83 III, VRS 68, 264; LG Stuttgart, Urteil vom 6.11.1990-6 KLs 183/87; nach F.U. Fack, Ein moralischer Freispruch, FAZ vom 7.11.1990, D II Politik; Schöch, in: FS für Baumann, S. 260 Fn. 38, S. 264; LG Harnburg, Urteil vom 23.10.1991 - 830 Js 182/86 sog. "Hamburger Kessel", nach "Hohe Geldstrafen verhängt", FAZ vom 24.10.1991, D II Politik; LG Dresden, Urteil vom 27.5.1993-3 (c) KLs 51 Js 4048 / 91, nach A. Funk, Verurteilt, aber nicht bestraft, FAZ vom 28.5.1993, D II Politik, S. 3; AG Tiergarten, Urteil vom 14.4.1982 - 215-26 / 81 , StV 1986, 389; LG Stuttgart, Urteil vom 3.12.1996 - 6 KLs 276 I 95, nach Bericht "Wirtschaftsstrafkammer verwarnt G. und Q.", FAZ vom 4.12.1996, Politik S. 4. 92

93

94

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

nes der Verfahrensbeteiligten vorlag, versuchten die Gerichte die Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt anderweitig zu begründen und erklärten, daß für die Anwendung der §§ 59 ff. anstelle des § 153a StPO nicht der formelle Zustimmungsmangel ausschlaggebend gewesen sei. § 153a StPO und § 59 verfügen nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht über einen fast deckungsgleichen Anwendungsbereich, 96 wenn auch § 153a StPO zumindest seinem Wortlaut nach nicht notwendig eine positive Zukunftsprognose des Täters verlangt. § 153a StPO setzt eine geringe Schuld und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung voraus, das aber durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen beseitigt werden kann, es sei denn, general- oder spezialpräventive Gesichtspunkte oder das Interesse der Allgemeinheit gebieten im Einzelfall ein Straferkenntnis. 97 Dies ist zum Beispiel bei erschwerenden Umständen, Vorstrafen oder nicht weit zurückliegende Einstellungen nach dieser Norm der Fall. Die weniger schwerwiegende Schuld in diesem Sinne ist regelmäßig gegeben, wenn die "Verteidigung der Rechtsordnung eine Verurteilung nicht gebietet" und "zu erwarten ist, daß der Täter künftig auch ohne Verurteilung keine weiteren Straftaten begeht". Damit liegt es nahe, beim Fehlen der gemäß § 153a StPO erforderlichen Zustimmung eines der Verfahrensbeteiligten der Lücke auf § 59 zurückzugreifen/8 da eine Verwarnung mit Strafvorbehalt eher als eine Geldstrafe begründbar erscheint, weil die materiellen Einstellungsvoraussetzungen erfüllt sind. Allerdings ist die Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt in dieser Konstellation nicht zwingend geboten. Auch Horn hat eingeräumt, daß es Sachverhalte gibt, in denen der gerichtlichen Erörterung des § 153a StPO keine Verwarnung mit Strafvorbehalt folgen muß. 99 Denn im Laufe des Prozesses kann sich zwischen Einstellungsangebot und Urteil eine andere Beurteilung von Tatschuld und Taterfolg ergeben, so daß sowohl eine Einstellung als auch eine Verwarnung mit Strafvorbehalt auszuschließen sind.100 Ebenso kommt in Betracht, daß sich das Gericht von der Staatsanwaltschaft überzeugen läßt, daß kein Fall des § 153a StPO vorliegt. Im Ergebnis bleibt es damit jedoch bei der Notwendigkeit, § 59 zumindest zu erörtern, wenn eine Einstellung gemäß § 153a StPO an einer fehlenden Zustimmung scheitert und die weitere Beweisaufnahme keine neuen Erkenntnisse ergibt. 96

Schöch, JR 1985, 380; Dencker, StV 1986, 40 I.

97

K.leinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rn. 7; Boxdorfer, NJW 1976,319 f.

Horn, NJW 1980, 106f: "Es gibt nämlich eine Lücke, in der die Verwarnung mit Strafvorbehalt einen wichtigen Platz einnehmen kann und muß.... Eine Lücke entsteht nun aber, wenn der Richter das Vorhandensein der materiellen Einstellungsvoraussetzungen bejahen würde, sich an einer entsprechenden Entscheidung jedoch wegen des FehJens formeller Voraussetzungen gehindert sieht." 99 Horn, in: Anrn. zu OLG Düsseldorf, Urteil vorn 15.5.1984 - 2 Ss 593 / 83 - 253 / 83 III, NStZ 1985, 364. 100 Dencker, StV 1986, 401. 98

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

95

II. Fälle mit Verständnis für Täter und Tat bei den Justizorganen 1. Begriff

Als weiteres Anwendungsfeld für die Verwarnung mit Strafvorbehalt kristallisieren sich Fallgestaltungen heraus, bei denen eine formlose Verfahrenseinstellung auf Bedenken der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts stößt, da sie zur Klärung von Sach- oder Rechtsfragen aus spezial- beziehungsweise generalpräventiven Gründen die vollständige Durchführung einer Hauptverhandlung und ein abschließendes Urteil für unabdingbar erachten oder zur Verhinderung einer erneuten Straffälligkeit begleitende Maßnahmen notwendig sind, die Justizorgane gleichzeitig aber Verständnis für den Täter und seine Tat aufbringen 101 und daher kein nachhaltiges Strafbedürfnis erkennen. In welchen Fällen eine höhere Strafverfolgungsintensität als sie § l53a StPO aufweist geboten erscheint, soll hier exemplarisch anband von Sachverhalten aus der Praxis verdeutlicht werden, in denen eine Verwarnung mit Strafvorbehalt Anwendung fand. 2. Minimaler Unrechtsgehalt der Tat

Hierher gehören Fälle von ungewöhnlich geringer Tatintensität, das heißt von außerordentlich geringem Handlungs- und Erfolgsunrecht. 102 Als Leitbeispiel103 dieser Gruppe gilt der Fall eines nicht vorbestraften Lehrers, der einen zaghaften, an der untersten Grenze strafwürdigen Unrechts angesiedelten und im Versuchsstadium steckengebliebenen sexuellen Übergriffl 04 auf eine Schülerin unternahm, wobei erst weitere Milderungsgründe zu der Anwendung des § 59 führten, wie zum Beispiel die einmalige Versuchung und ungewöhnliche außerstrafrechtliche Tatfolgen für ihn.

101 Schöch, in: FS fiir Baurnann, S. 264; Dölling, ZStW 104, 269 f.; Dencker, StV 1986, 402 f. 102 Bei Verkehrsdelikten reichen ein geringes Verschulden und geringe Folgen der Tat allein nicht aus, Schönke I Schröder-Stree, § 59 Rn. II. 103 BGH, Urteil vom 6.8.1975 - 2 StR 256/75, MDR 1976, 14 f.; weitere Beispielsfälle: AG Wennigsen, Urteil vom 11.5.1988 - 11-75/87 - 84 Js 54654/86, NJW 1989, 786 f. (ein Arzt setzt durch unrichtige Ausstellung eines Todesscheins die Ursache fiir einen weiteren unnatürlichen Tod); LG Ellwangen, Urteil vom 13.10.1988 - 3 Ns 113 / 87, StV 1989, 112 f.; vgl. 2. Teil, D.IV.2, S. 99 Fn. 133. 104 Im Zusammenhang mit Sexualdelikten ist aber bei der Anwendung des Rechtsinstituts äußerste Zurückhaltung geboten, weil der fehlende Eintrag in das Bundeszentralregister das frühzeitige Erkennen der Gefährlichkeit des Täters zur Verbrechensvorbeugung verhindert.

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2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt 3. Erhebliche Folgewirkungen der Tat für das Opfer

Darunter fallen Sachverhalte mit minimalem Täterfehlverhalten, das jedoch beim Opfer gravierende Tatfolgen hinterläßt, 105 so daß allein schon aus diesem Grund eine Verfahrenseinstellung unverständlich und untragbar wäre. Beispielhaft sind fahrlässige Verkehrsstraftaten und Arbeitsunfälle zu nennen, die zu erheblichen Körperverletzungen bei den Opfern fiihrten. 4. Verständliche Motivationslage oder Tatsituation

Eine weitere Untergruppe bilden Fälle, in denen die Tat zwar weder gerechtfertigt noch entschuldigt ist, sie und die Tätermotivation jedoch wenigstens einfiihlbar und nicht unehrenhaft sind. 106 Dies gilt fiir Taten in unerwarteten, unausweichlichen Konfliktsituationen, 107 Taten mit Ausnahmecharakter, der ihnen den Stempel des Außergewöhnlichen aufdruckt, 108 aufgrund einer persönlichen Bedrängnis, 109 bei mangelnder Sprach- und Vorschriftenkenntnis110 sowie Regelverstößen beim Sport. 111 Weiter gehören hierher auch Ersttaten,112 die aus einer besonderen Versuchung des Augenblicks entstehen, 113 und Taten von kriminell ungefährdeten Gelegenheitstätern. 114 5. Mitverantwortung Dritter

Als weitere Gruppierung sind Taten mit einem überwiegenden Tatbeitrag anderer Personen wie zum Beispiel bei der Tatprovokation durch Dritte 115 oder dem erheblichen Mitverschulden des Opfers zu nennen. 116 105 BayObLG, Urteil vom 4.11.1975 - RReg 5 St 231175, MDR 1976, 333; AG Landstuhl, Urteil vom 16.9.1975- Os 91/75, MDR 1976, 66; Dencker, StV 1986, 403.

106 Tröndle, § 59 Rn. 4; Wiss, Jura 1989, 624; BayObLG, Urteil vom 4.11.1975 - RReg 5 St 231/75, MDR 1976, 333. 107 BGH, Urteil vom 6.8.1975 - 2 StR 256/75, MDR 1976, 14 f.; BayObLG, Urteil vom 4.11.1975- RReg 5 St 231/75, MDR 1976, 333; LG Bremen, Urteil vom 13.2.1986-18 Ns 25 Js 1841 / 85, StV 1986, 388 f.; AG Alzey, Urteil vom 17.3.1975 - 7 Ls 76/75, DAR 1975, 163 f.; Lackner/ Kühl, §59 Rn. 5; Huhn, DRiZ 1975, 16. 108

LG Bremen, Urteil vom 13.2.1986 - 18 Ns 25 Js 1841 I 85, StV 1986, 388 f.

Seebald, GA 1976, 72 Fn. 25. Geppert, GA 1979, 286. 111 Naucke, § 6 IV 4 t) Rn. 167, S. 206. 112 Wiss, Jura 1989, 623. 113 BGH, Urteil vom 6.8.1975-2 StR 256175, MDR 1976, 14.

109 110

Lackner/ Kühl,§ 59 Rn. 5; Huhn, DRiZ 1975, 16. BGH, Urteil vom 23.5.1984- g.M.u.L. 1 StR 148/84, BGHSt 32, 345 ff., 355. 116 Tröndle, §59 Rn. 4; OLG Köln, Urteil vom 19.4.1977- Ss 796/76, VRS 53, 347 ff.; AG Landstuhl, Urteil vom 16.9.1975 - Os 91/75, MDR 1976, 66. 114 115

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die§§ 59 ff.

97

6. Unverhältnismäßige außerstrafrechtliche Tatauswirkungen beim Täter

In diesen Kontext gehören Fälle, in denen der Täter allein durch die Strafverfolgungsmaßnahmen unverhältnismäßig große soziale und berufliche Nachteile außerstrafrechtlicher Art erleidet, die der Strafzweck nicht mehr deckt. 117 Dieser Aspekt war im sogenannten "Lehrerfall" 118 für die milde Sanktion mit ausschlaggebend. Infolge des Strafverfahrens verschlechterte sich das Asthmaleiden des Angeklagten, traten erhebliche Eheprobleme auf und erlitt seine schwangere Frau einen Schock, so daß die Gefahr einer Fehlgeburt bestand und sie sich in stationäre Behandlung begeben mußte. Das Kind kam zu spät und mit erheblichen Behinderungen zur Welt. 111. Taten von Tätern mit Therapieerfordernis Das Gesetz nennt selbst in § 59a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 n.F. 119 ein weiteres Anwendungsfeld für die Verwarnung mit Strafvorbehalt, nämlich Täter mit "primär" therapeutischen Bedürfnissen, bei denen das Rechtsinstitut kombiniert mit ambulanten Heilbehandlungs- beziehungsweise Entziehungsweisungen angebracht erscheint, also speziell bei alkohol- und tablettenabhängigen sowie bei psychisch kranken 120 Tätern. Der Anwendungsschwerpunkt in der gerichtlichen Praxis liegt jedoch bei Betäubungsmitteldelikten, wie aus den zu diesem Bereich veröffentlichten Entscheidungen hervorgeht. 121 117 BGH, Urteil vom 6.8.1975 - 2 StR 256/75, MDR 1976, 14; OLG Hamm, Urteil vom 6.11.1975- 2 Ss 473175, AnwBI 1976, 138; OLG Hamm, Urteil vom 12.11.1975- 4 Ss 617/75, NJW 1976, 1221 f.; AG Alzey, Urteil vom 17.3.1975- 7 Ls 76/75, DAR 1975, 164; Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 293. 118

BGH, Urteil vom 6.8.1975-2 StR 256/75, MDR 1976, 14.

119

§ 59a Abs. 3 S. I Nr. 2 a.F.

Trönd/e, § 56c Rn. 10. Vgl. Lackner I Kühl, § 59 Rn. 5, der die Verwarnung mit Strafvorbehalt bevorzugt auf Taten anwenden will, die die unmittelbare Deckung des eigenen Rauschmittelbedarfs beziehungsweise die Beschaffungskriminalität zum Gegenstand haben. Fälle aus dem BtMGBereich, die mit den §§ 59 ff. geahndet wurden (Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1976, Tab. 7.3, seit 1989 Tab. 3.4): 120 121

7 Neumayer-Wagner

Jahr

Fälle

1976 1989 1990 1991 1992 1993 1994

16 133 142 168 196 185 209

98

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Der BGH hat sich in einem Fall aus dem BtMG-Bereich, in dem ein Lockspitzel die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln in einer nicht geringen Menge und das unerlaubte Handeltreiben mit diesen provoziert hatte, fur die Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen.122 Er führte dazu aus, daß der dem Tatrichter zur Verfugung stehende Spielraum zur Berücksichtigung aller Umstände bei Verbrechen dazu fuhren könne, daß ein Zurückgehen auf die gesetzliche Mindeststrafe, also die hier durch die §§ 47 Abs. 2, 59 eröffnete Verwarnung mit Strafvorbehalt ausreiche. 123 Bei den Verwarnungen mit Strafvorbehalt im Betäubungsmittelbereich fällt die im Vergleich mit anderen Deliktarten hohe Zahl der vorbehaltenen Tagessätze auf. Als Beispiele seien hier aufgeführt: 150 TS Geldstrafe wegen fortgesetzten Erwerbs und Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben. 124 Die Anwendung des § 59 begründete das Gericht mit der von der nicht vorbestraften Abhängigen selbst ausgehenden Initiative zur Therapie, die zum Zeitpunkt der Verhandlung bereits abgeschlossen war, und ihrem von Unrechtseinsicht getragenen Geständnis. Es stellte auch darauf ab, daß die Angeklagte selbst erheblich zur Aufklärung der ihr vorgeworfenen Taten beigetragen hatte und bereits wieder sozial voll integriert war; 90 TS Geldstrafe im Fall eines seit zehn Jahren betäubungsmittelabhängigen Beschaffungstäters.125 Hier erkannte das Gericht auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, um dem Täter eine freiwillige, bereits angetretene und schon im Zeitpunkt der Hauptverhandlung ein Jahr dauernde Therapie weiter zu ermöglichen, da es sich davon eine größere Erfolgschance erhoffte als von einer gerichtlich angeordneten Therapie. Auch hier hatte der geständige Angeklagte, der zur Tatzeit unter Entzugserscheinungen gelitten hatte, zur Tataufklärung beigetragen. 126

122

BGH, Urteil vom 23.5.1984- g.M.u.L. I StR 148/84, BGHSt 32, 345 ff.

BGH, Urteil vom 23.5.1984- g.M.u.L. I StR 148 / 84, BGHSt 32, 355, wobei die Ausruhrungen des BGH die Annahme eines minder schweren Falls (§ 30 Abs. 2 BtMG a.F.) implizieren, weil sonst bei Verbrechen eine auf 180 Tagessätze begrenzte Verwarnung mit Strafvorbehalt nicht in Betracht kommt. 123

124

LG Bremen, Urteil vom 13.2.1986 - 18 Ns 25 Js 1841 / 85, StV 1986, 388 f.

125

AG Tiergarten, Urteil vom 14.4.1982-215-26 / 81 , StV 1986, 389 ff.

Dieser Fall gilt als problematische Entscheidung; vgl. Lackner / Kühl, § 59 Rn. 5; Schöch, in: FS filr Baumann, S. 261, sah ihn zu Recht als "kaum" mit den Voraussetzungen der Verwarnung mit Strafvorbehalt vereinbar an (vgl. § 59 Abs. 2), da der Angeklagte wegen gleichartiger Delikte bereits im Juni 1980 zu einer Geldstrafe in Höhe von 180 Tagessätzen verurteilt und im Juli 1981 verwarnt worden war. In letztgenanntem Urteil war die Verhängung der 180 Tagessätze während einer zweijährigen Bewährungsfrist vorbehalten, die zur Zeit der dritten Tat noch andauerte. 126

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die§§ 59 ff.

99

Im Betäubungsmittelbereich ist jedoch aus spezialpräventiven Gründen bei dem Ausspruch einer Verwarnung mit Strafvorbehalt Zurückhaltung geboten, da § 59a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 nur ambulante Therapien als Weisungen vorsieht, die insbesondere bei langjährigem Drogenkonsum seltenst zum Erfolg führen 127 und die Wiederholungsgefahr selbst bei Ersttätern als hoch einzuschätzen ist. IV. Aufrechterhaltung des sozialethischen Unwerturteils 1. Begriff

Ein weiterer Anwendungsschwerpunkt der §§ 59 ff. sind Taten, bei denen kein gravierendes Sanktionsbedürfnis besteht, da ein "Handeln mit gemindertem Unrechtsbewußtsein" angenommen wird, 128 aber das sozialethische Unwerturteil dennoch aufrechterhalten werden soll. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt stellt für sie eine erträgliche Sachantwort dar. Sie ist zum einen für den Täter akzeptabel, zum anderen zeigt sie der Allgemeinheit auf, daß man für Straftaten einzustehen hat. 2. Überzeugungstäter

Hierher gehören Fälle mit Bezug zu aktuellen Ereignissen in Politik und Gesellschaft, vornehmlich Delikte von sogenannten Überzeugungstätern, die bereit sind, die Strafe für ihre Tat zu akzeptieren, es aber gleichzeitig ablehnen, sich von ihr zu distanzieren, 129 da sie aus einer nachvollziehbar achtenswerten Motivationslage heraus gegen Strafvorschriften verstoßen haben. Beispiele hierfür sind: die Verkehrsblockade bei einer Demonstration gegen die Nutzung von Kernenergie (auch) zu friedlichen Zwecken. 130 Das Gericht erblickte die besonderen Umstände der Tat darin, daß die Aktion ein altruistisches Ziel, nämlich das Aufmerksammachen auf die Gefahren der Kernenergie, gehabt und es sich um eine kleine Demonstration von ca. 25 Personen mit wenigen Sympathisanten gehandelt hatte, die kaum von Zuschauern beachtet worden war, so daß sie nur geringe Störungen verursacht und keine erhebliche Gefahr gewalttätiger Ausschreitungen begründet hatte. Auch 127

Im Ergebnis ähnlich Tröndle, § 59a Rn. 2d.

128

Legat, DAR 1985, 107 f.; Schöch, in: FS für Baumann, S. 264.

Einer Verfahrenseinstellung, der in solchen Fällen oftmals der eben durch sie hervorgerufene Eindruck eines staatlichen Handlungsunvermögens entgegenstehen würde, stimmen sie wegen ihrer Überzeugung regelmäßig nicht zu; Dencker, StV 1986, 403 f. Fälle der sog. "Wahrung des Gesichts". 130 BayObLG, Urteil vom 9.6.1989 - RReg 2 St 133 / 89, NJW 1990, 58 f. 129

100

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

seitens der Demonstranten war es zu keinen verbalen AusfäHigkeiten oder Gewalttätigkeiten gegenüber der Polizei gekommen. Die Festnahme erfolgte anstandslos, ohne daß ein Wegtragen oder -schleifen der Demonstranten erforderlich wurde; die Sitzblockade im Rahmen einer Demonstration gegen eine Wiederaufarbeitungsanlage; 131 die Sitzblockadendemonstration132 gegen atomare Hochrüstung, 133 die subjektiv von dem Willen, ein Zeichen gegen die widersinnige Friedenssicherung durch Waffen mit einem unvorstellbaren Vernichtungspotential zu setzen, getragen war und bei der Angeklagten persönlich, die ihren Vater und einen Großvater im Krieg verloren hatte, einen einmaligen Vorgang darstellte, da sie sich nur an einer Blockade beteiligt und während dieser, nachdem sie von Polizeibeamten weggetragen worden war, auch nicht wieder auf die Straße gesetzt hatte; das Fotografieren eines Bundesgrenzschutzbeamten, der die Aufgabe gehabt hatte, während einer Demonstration verdächtige Handlungen zu filmen oder zu fotografieren, und anschließende Veröffentlichung des Fotos ohne Einwilligung des abgebildeten Beamten; 134 das Tragen einer "Anti-Strauß"-Plakette durch einen Demonstranten, 135 wobei der Name Strauß im konkreten Fall am Ende mit zwei "s" in Form von SS-Runen geschrieben war. Hier wäre unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Verteidigung der Rechtsordnung eine Verurteilung zu einer Geldstrafe jedoch vertretbar gewesen. Weitere Fälle, die die freie Meinungsäußerung betreffen, sind gesellschaftskritische Taten als Reaktionen auf Tagesstreitigkeiten oder Akte zivilen Ungehorsams. Als Beispiele mögen folgende Sachverhalte dienen: Mitglieder eines Allgerneinen Studentenausschusses verfUgten aufgrund eines ihnen angeblich zustehenden politischen Mandats unbefugt über zweckgebundene Mittel; 136 Redakteure der Verbandszeitung einer politischen Jugendorganisation versahen einen Artikel über eine Demonstration für die Einrichtung eines 131

BayObLG, Urteil vom 14.7.1989- RReg 2 St 85/89, NJW 1990, 59 f.

Bei den sogenannten "Sitzblockaden" setzt das Tatbestandsmerkmal der günstigen Sozialprognose voraus, daß sich der Täter in Zukunft nicht mehr an solchen Aktionen beteiligen will, was nicht als selbstverständlich anzusehen ist. 132

lll

LG Ellwangen, Urteil vom 13.10.1988-3 Ns 133/87, StV 1989, 112 f.

134

LG Frankfurt, Urteil vom 26.6.1981 -10/50 Js 2573/80 Ns, NStZ 1982,35 f.

135

OLG Frankfurt, Vorlagebeschluß vom 29.3.1982 - 4 Ss 173 I 81, NStZ 1982, 333.

136

BGH, Beschluß vom 23.10.1981-2 StR 477/80, MDR 1982, 335 f.

101

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

Schwangerschaftskonfliktzentrums mit der Schlagzeile "Maria hättest Du abgetrieben, der Papst wäre uns erspart geblieben" und beschimpften so die Bekenntnisse der katholischen Glaubenslehre; 137 ein nicht vorbestrafter, gesellschaftlich engagierter Student, der uneigennützig für die Schaffung und Erhaltung preisgünstigen Wohnraums eintrat, besetzte fiir wenige Stunden ein seit acht Jahren leerstehendes, zum Abriß vorgesehenes Haus, wobei er irrig davon ausging, daß noch eine baurechtliehe Erlaubnis zur Renovierung des Gebäudes erteilt würde, 138 und leistete bei der Räumung keinen Widerstand; Eindringlinge verspritzten Blut in der Redaktion der "BILD"-Zeitung, weil deren Artikel nach ihrem Empfinden die Organisation, der die Täter angehörten und die zur Friedensbewegung zählte, diffamiert und kriminalisiert hatten. Der Richter begründete die Verwarnung mit Strafvorbehalt damit, daß die Täter ihr Verhalten einräumten und sich öffentlich dazu bekannten und die eingetretenen Schäden von ihnen zwar in Kauf genommen, aber nicht beabsichtigt gewesen waren. Auch hatten sie die Tat fiir politisch richtig und rechtlich gerechtfertigt gehalten. 139

V. Personenbezogene Taten Die Rechtsprechung erkannte auch wiederholt bei Taten mit Personenbezug auf Verwarnung mit Strafvorbehalt Der Schwerpunkt liegt dabei auf den §§ 223, 223a, 240, 185 und 170b. 140 Die letzte Gesetzesnovellierung 141 eröffnete mit dem neu eingefügten § 59a Abs. 2 S. 1 Nr. I, der das gerichtlich angewiesene Bemühen um einen TäterOpfer-Ausgleich und die Schadenswiedergutmachung umfaßt, eine Chance, die §§ 59 ff. insoweit noch vermehrt anzuwenden. Bislang hatte es hier nur eine Wiedergutmachungsauflage (§§ 59a Abs. 2, 56b Abs. 2 Nr. I a.F.) gegeben. Die unverzügliche Schadenswiedergutmachung vor Entdeckung der Tat und die beispielhafte Betreuung des Opfers nach einer fahrlässigen Verkehrsstraftat galten jedoch schon bisher als besondere, im Rahmen des § 59 zu berücksichtigende Umstände. 142 137

LG Düsseldorf, Beschluß vom 5.11.1981 -11-11 / 81 , NStZ 1982, 290 f.

138

OLG Köln, Urteil vom 10.6.1982- I Ss 738 / 81 , NStZ 1982, 333 f.

865.

= MDR

1982,

AG Bremen, Urteil vom 26.9.1984- 75 Cs 15 Js 2532 I 84, StV 1985, 19 f. 1994 endeten 147 Fälle des § 223, 74 Fälle des § 223a, 44 Fälle des § 240, 70 Fälle des § I 85 und 115 Fälle des § 170b mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1994, Tab. 3.4). 139

140

141

Vgl. I. Teil, B.II.9.t)-i), S. 69 ff.

Buschbe/1, DAR 1991 , 170; Schönke / Schröder-S/ree, § 59 Rn. 13; OLG Zweibrükken, Beschluß vom 24.11.1983 - I Ss 250 / 83, NStZ 1984, 312 f. 142

I 02

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

VI. Fälle mit negativen Auswirkungen der Geldstrafe 143 Oft erkennen die Gerichte auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt auch bei Tätern, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, zum Beispiel aufgeund von Unterhaltsverpflichtungen oder Überschuldung, bei denen im zu beurteilenden einmaligen Konfliktfall jedoch eine hohe Zahl von Tagessätzen angebracht erscheint. Würde das Gericht in solch einem Fall auf eine hohe Geldstrafe erkennen, so wäre im nochmaligen Konfliktfall, der infolge der materiellen Not des Täters zumindest nicht unwahrscheinlich ist, eine Freiheitsstrafe vorprogrammiert. Um dies zu vermeiden, weichen deshalb die Gerichte auch oft auf den Ausnahmetatbestand des § 47 Abs. I (kurze Freiheitsstrafe unter 6 Monaten mit Aussetzung zur Bewährung) oder des § 56 Abs. 3 aus. Jedoch ist auch hier bei erneuter Straffalligkeit eine Freiheitsstrafe für den mittellosen Täter schwer zu umgehen. Ein Vorgehen über § 59 verbunden mit einer maßvollen Geldauflage bietet zwar ebenfalls keine Gewähr für die künftige Straffreiheit. Die Chancen für den mittellosen Täter sind jedoch günstiger, da sie ihn nicht mit weiteren, für ihn untragbar erscheinenden finanziellen Verpflichtungen belastet und er auch im erneuten Konfliktfall nicht unmittelbar mit einer sofortigen Freiheitsstrafe beziehungsweise Ersatzfreiheitsstrafe rechnen muß. VII. Verkehrsdelinquenz Ein äußerst umstrittenes Anwendungsfeld der Verwarnung mit Strafvorbehalt sind die Vergehen im Straßenverkehr. Ihr wird dort bei durchschnittlichen Straftaten kaum ein Anwendungsspielraum zugestanden. 144 Dies zeigt schon die Strafverfolgungsstatistik des Bundes, derzufolge sich die Zahl der Verwarnungen mit Strafvorbehalt im Bereich der Straßenverkehrsdelikte seit ihrer Einführung über die Jahre hinweg auf niedrigem Niveau hielt. 145 Schöch, in: FS fiir Baumann, S. 264; ders., Gutachten C zum 59. DJT, S. 33. Für die Anwendbarkeit in diesem Bereich: OLG Zweibrücken, Beschluß vom 24.11.1983- I Ss 250/83, VRS 66, 198 ff.; OLG Stuttgart, Urteil vom 10.5.1994-3 Ss 100/94, DAR 1994, 332; AG Landstuhl, Urteil vom 16.9.1975- Os 91/75, MDR 1976, 66; Janiszewski, NStZ 1994, 573; ders., Verkehrsstrafrecht, S. 206 Rn. 693; - weder generell ablehnend noch grundsätzlich befiirwortend: SK-Horn §59 Rn. 13; Horn, in: Anm. zu OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593/83-253 I 83 III, NStZ 1985, 364; - fiir eine restriktive Anwendung: OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984 - 2Ss 593/83253/83 III, JR 1985, 376 ff. mit Anm. Schöch = VRS 68, 263 ff.; Meyer-Goßner, in: Anm. zu BayObLG, Urteil vom 4.12.1981- RReg I St 392 / 81, NStZ 1982,258 f.; - nur bei sich kaum wiederholenden Ausnahmesituationen: AG Alzey, Urteil vom 17.3.1975-7 Ls 76/75, DAR 1975, 163 f.; - nicht bei durchschnittlichen Verkehrsdelikten: OLG Hamm, Urteil vom 12.11.1975 4 Ss 616/75, NJW 1976, 1221 f.; Schönke/Schröder-Stree, §59 Rn. 15. 143

144

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

103

I. Kritische Stimmen

Diejenigen, die sich in diesem Bereich fiir eine restriktive Anwendung des Rechtsinstituts aussprechen, berufen sich zum einen auf den "Ausnahmecharakter" der Sanktion 146 und zum anderen auf einen Wertungswiderspruch zum Ordnungswidrigkeitenrecht. 147 · 148 Verkehrsstraftaten heben sich dieser Ansicht nach selten aus dem Kreis von Durchschnittstaten ab. Es sei nicht ehrenrührig, wegen eines Verkehrsverstoßes verurteilt zu werden. Ebensowenig entstünden dadurch unverhältnismäßig große soziale Nachteile, 149 so daß im Regelfall die Voraussetzungen des § 59 nicht vorlägen. 150 Zudem erfordere der Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung bei Verkehrsstrafsachen unter generalpräventiven Aspekten einen Strafausspruch und nicht nur eine Verwarnung mit Strafvorbehalt. 151

145 Zahl der Verkehrsstraftaten, die nach § 59 geahndet wurden (Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1976, Tab. 7.3, seit 1989 Tab. 3.4):

Jahr

§ 230 StGB

§ 222 StGB

§ 142 StGB

1976 1989 1990 1991 1992 1993 1994

47 139 122 70 67 71 77

16 20 21 28 23 28 24

13 45 25 40 46 27 34

146 BayObLG, Beschluß vorn 30.9.1975- RReg 2 St 171/75, JR 1978, 73 f. = NJW 1976, 301 f.; BayObLG, Urteil vorn 4.11.1975- RReg 5 St 231175, JR 1976, 511 f.; OLG Harnrn, Urteil vorn 12.11.1975 - 4 Ss 616175, NJW 1976, 1221 f.; OLG Koblenz, Urteil vorn 27.10.1977 - I Ss 434177, GA 1978, 207 f.; OLG Düsseldorf, Urteil vorn 15.5.1984 - 2 Ss 593 I 83-253 I 83 III, NStZ 1985, 362 ff. mit Anm. Horn = VRS 68, 263 ff. = JR 1985, 376 ff.; Meyer-Goßner, in: Anm. zu BayObLG, Urteil vorn 4.12.1981 - RReg I St 392181, NStZ 1982, 258 f.; Zipf, JuS 1974, 146; Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 290 ff.

Vgl. 2. Teil, B.Il.3, S. 84 ff. x BayObLG, Urteil vorn 4.11.1975 - RReg 5 St 231/75, JR 1976, 511 f. ; Meyer-Goßner, in: Anm. zu BayObLG, Urteil vorn 4.12.1981- RReg I St 392181, NStZ 1982, 258 f. ; Dreher, in: FS fiir Maurach, S. 290. 147 14

149 OLG Harnrn, Urteil vorn 12.11.1975 - 4 Ss 616175, NJW 1976, 1221 f. = MDR 1976, 418; OLG Düsseldorf, Urteil vorn 15.5.1984 - 2 Ss 593183-253183 III, NStZ 1985, 362 ff.; Lackner I Kühl, § 59 Rn. 5. 150

Schönke i Schröder-Stree, §59 Rn. 15; so bereits Güde, Sa IV. Wp., 24. Sitzung,

s. 428. 15 1

AG Alzey, Urteil vorn 17.3.1975 - 7 Ls 76175, DAR 1975, 164.

I 04

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Ausnahmecharakter der Verwarnung mit Strafvorbehalt keineswegs unzweifelhaft ist. 152 • 153 Ebensowenig wollte der Gesetzgeber die Verkehrsverstöße generell aus dem Anwendungsbereich der §§ 59 ff. ausschließen. Auch das Argument, § 59 sei bei durchschnittlichen Verkehrsdelikten deshalb nicht angebracht, weil dem Täter durch die Verurteilung keine unverhältnismäßige Belastung entstünde, ist nicht schlüssig, weil die aus einer Strafe erwachsenden Nachteile in allererster Linie von deren Höhe abhängen und nicht von der Tat, deretwegen sie ergeht. Der Einwand, die Eigenschaft der Verkehrsstraftaten als Massendelikte verbiete eine Anwendung des § 59, weil dann ein zu großer Verlust an generalpräventiver Wirkung eintrete, geht ebenso fehl. Träfe dies zu, so müßte man dies auch den Verfahrenseinstellungen nach den §§ 153 f. StPO entgegenhalten. Diese werden jedoch akzeptiert, ohne daß insoweit ein relevanter Unterschied zur Verwarnung mit Strafvorbehalt bestünde. Vor allem aber dürfen allein aus der absoluten Häufigkeit eines Delikts für den einzelnen Angeklagten keine Nachteile erwachsen. Aufgrund der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls kann eine Verwarnung mit Strafvorbehalt deshalb auch bei Massendelikten gerechtfertigt sein. 154 2. Ausweitungsansatz des OLG Zweibrücken

Eine Initiative zur Öffnung des Anwendungsfeldes "Verkehrsstrafrecht" für die §§ 59 ff. ging von dem OLG Zweibrücken aus. 155 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte A hielt ein von ihm geführtes Kfz an und öffnete die Fahrertür zum Aussteigen, nachdem er sich zuvor im Außenspiegel vergewissert hatte, daß er dadurch niemanden gefährden würde. Mit der Tür stieß er dabei an das rechte Knie einer im Außenspiegel nicht erkennbar gewesenen vorbeifahrenden Radfahrerin, die daraufhin stürzte und sich Brüche des linken Arms und des rechten Beins sowie erhebliche Prellungen und Abschürfungen zuzog. Die erste Instanz verurteilte A wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von zehn Tagessätzen zu je 50,- DM. Die Berufungsinstanz reduzierte die Anzahl der Tagessätze auf sieben. Vgl. 2. Teil, B.II.l, S. 82. Vgl. zur Problematik OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984-2 Ss 593/ 83-253 / 83 III, JR 1985, 376 ff., insb. zur Begrenzung des Instituts auf tragbare Fälle. 154 AG Alzey, Urteil vom 17.3.1975-7 Ls 76175, DAR 1975, 163 f.; AG Landstuhl, Urteil vom 16.9.1975- Ds 91 / 75, MDR 1976, 66. 155 OLG Zweibrücken, Beschluß vom 13.7.1983 - I Ss 163 / 83, VRS 66, 196 ff.; OLG Zweibrücken Beschluß vom 24.ll.l983 - I Ss 250 I 83, VRS 66, 198 ff. = NStZ 1984, 312 f. mit Anm. Lackner/ Gehrig. 152 153

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die§§ 59 ff.

105

Die Revision zum Schuldspruch blieb erfolglos, der Strafausspruch wurde aufgehoben. Das OLG vermißte im Berufungsurteil Ausfiihrungen zu § 59 und konnte deshalb nicht ausschließen, daß die Berufungskammer sich der Möglichkeit, eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aussprechen zu können, bei der Strafzumessung nicht bewußt gewesen sei. Zwar müsse ein Urteil grundsätzlich nur dann Ausfiihrungen zu § 59 enthalten, wenn in der Hauptverhandlung ein diesbezüglicher Antrag gestellt worden sei und das Gericht von dem Rechtsinstitut keinen Gebrauch mache. Anderes gelte jedoch, wenn sich dessen Anwendung wie hier nach dem festgestellten Sachverhalt geradezu aufdränge. Denn das Berufungsgericht sei an einer Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a Abs. 2 StPO nur durch die fehlende Zustimmung der Staatsanwaltschaft gehindert worden, im übrigen jedoch davon ausgegangen, daß die nur geringe Schuld des Angeklagten eine Verurteilung nicht erfordere.l56

Die zweite kleine Strafkammer des Landgerichts, an das die Sache wegen der Teilaufhebung des Berufungsurteils zurückverwiesen wurde, beließ es in ihrem Urteil bei den Rechtsfolgen des ersten Berufungsurteils und begründete lediglich die Nichtanwendung des § 59. Die erneute Revision hatte wiederum vorläufigen Erfolg. 157 Im Grundsatz waren sich das Tat- und das Revisionsgericht zwar einig, daß Verkehrsdelikte nicht aus dem Anwendungsbereich des § 59 ausgeschlossen seien, da dieser allen Straftatenarten und Schuldformen offenstehe. Eine Ausnahme bestünde nur, wenn deren Verwirklichung ständig mit den Vorschriften zur Verwarnung mit Strafvorbehalt kollidieren würde. Nach Ansicht des OLG standen die übrigen Ausfiihrungen des Berufungsgerichts dazu jedoch im Widerspruch, da dieses die Anwendbarkeit der §§ 59 ff. bei leicht fahrlässigen Verkehrsverstößen verneint hatte. Eine günstige Zukunftsprognose im Sinne des § 59 Abs. l S. I Nr. I, das heißt die Erwartung, daß der Angeklagte auch künftig ohne Verurteilung keine gleichgelagerten Straftaten begehen werde, hatte das Landgericht mit dem Argument, daß selbst fiir leicht fahrlässige Straßenverkehrsdelikte keine "auch nur annähernde Zukunftsprognose" gestellt werden könne, verneint. Eine günstige Prognose schließe schon der Deliktstypus aus, da unfallträchtige Situationen von vielen Zufälligkeilen abhängig seien, so daß die von dem Gesetz geforderte Erwartung nicht belegt werden könne. Dies gelte speziell fiir Berufskraftfahrer wie den Angeklagten. Das OLG teilte zwar insoweit die Auffassung des Landgerichts, daß es sich bei den meisten der durchschnittlichen Verkehrsdelikte um Massenerscheinungen in typisierter Form handle, die von vielen Zufälligkeilen abhän156 157

OLG Zweibrücken, Beschluß vom 13.7.1983 - 1 Ss 163 / 83, VRS 66, 196 ff. OLG Zweibrücken, Beschluß vom 24.11.1983- 1 Ss 250 / 83, VRS 66, 198 ff.

I 06

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

gig seien, sah es jedoch als möglich an, daß ein nach § 59 Verwarnter zukünftig größere Sorgfalt als bisher anwende und somit weiteres fahrlässiges Verhalten vermeide. Ferner gebe der Gesetzeswortlaut keine Begrenzung auf Vorsatztaten her. Deshalb gehe die Ansicht des Berufungsgerichts, künftiges fahrlässiges Verhalten im Straßenverkehr lasse sich nicht verhindern, fehl. Weiter hatte das Berufungsgericht die besonderen Umstände in der Tat gemäß § 59 Abs. I S. I Nr. 2 verneint. Es handle sich um ein alltägliches Versehen eines Kraftfahrers, das im Rahmen der hier vorliegenden Fahrlässigkeitsform nicht nach unten von der Norm abweiche. Der Angeklagte habe selbst eingeräumt, daß er den sogenannten "toten Winkel", der den Überblick durch den Rückspiegel begrenze und der ihm auch damals bekannt gewesen sei, nicht beachtet habe. Das OLG sah diese Auslegung als rechtsirrig an. Nach dem Wortlaut der Vorschrift seien alle Strafzumessungstatsachen von besonderem Gewicht zu beachten, die die Verwarnung mit Strafvorbehalt als nicht unangebracht erscheinen ließen und nicht den allgemeinen, vom Strafrecht geschützten Interessen zuwiderliefen. Es nannte eine Vielzahl solcher Umstände bei der zu beurteilenden Tat, so die besonders geringe Schuld, da der Angeklagte die Kfz-Tür nicht "blind" geöffnet habe, sondern sich vergewissert und lediglich an den toten Winkel nicht gedacht habe, die langjährige unfallfreie Verkehrspraxis des Angeklagten - zwanzig Jahre als Kfz- und sieben Jahre als Berufskraftfahrer -, seine beispielhafte Sorge um die Verletzte und deren Mitverschulden. Häufig vorkommende mildernde Umstände bei Durchschnittstaten sind indessen keine besonderen Umstände im Sinne des § 59. Nur deutlich herausstechende, besonders gewichtige Milderungsgründe, die das Tatgeschehen und den Täter als ungewöhnlich charakterisieren, sind insoweit in Betracht zu ziehen. 158 Eine reine Aneinanderreihung sogenannter "besonderer Umstände" ohne nähere Kommentierung läßt nicht erkennen, ob die einzelnen Punkte allein oder in der Zusammenschau aufgrund ihres Gesamtgewichts einen Milderungsgrund ergeben, der die Voraussetzungen dieses Tatbestandmerkmals erfiillt. 159 Eine lediglich "leichte" Tat reicht hierzu - wie das OLG Zweibrükken richtig erkannte - nicht aus. 160 Die mitgeteilten Tatsachen weisen auf ein eher alltägliches Unfallgeschehen hin, bei dem eine Geldstrafe angebracht erscheint. Die Ausführungen des OLG Zweibrücken zu § 59 Abs. I S. I

158 BayObLG, Urteil vom 4.11.1975- RReg 5 St 231175, MDR 1976, 333; Lackner / Kühl, § 59 Rn. 5. 159 Vgl. I. Teil, B.II.7.a), S. 55 ff. 160 Trönd/e, §59 Rn. 4; Schönke / Schröder-Stree, §59 Rn. II ; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.5.1984 - 2 Ss 593 / 83 - 253 / 83 III, NStZ 1985,362 ff.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fur die§§ 59 ff.

107

Nr. 2 reichen daher nicht aus, um die Voraussetzungen der Verwarnung mit Strafvorbehalt als gegeben zu betrachten. Das OLG Zweibrücken teilte auch den Standpunkt des Berufungsgerichts zum Tatbestandsmerkmal der Verteidigung der Rechtsordnung (§ 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3) nicht, das eine Erschütterung der Rechtstreue der Bevölkerung befiirchtet hatte, wenn bei leicht fahrlässigen Straßenverkehrsdelikten gemäß § 59 verfahren werde, mit der Folge, daß die verkehrsrechtlichen Verhaltenspflichten nicht mehr ernst genommen und nachlässige Verhaltensweisen im Straßenverkehr weiter um sich greifen würden. Dagegen argumentierte der Strafsenat, daß- wenn man dies als richtig unterstelle- der Gesetzgeber diese Taten bereits von vornherein vom Anwendungsbereich des § 59 ausgenommen hätte. Mit der Begründung des Landgerichts lasse sich ein öffentliches Interesse an der Bestrafung nicht verneinen, das dann auch einer Einstellung des Verfahrens entgegenstehen würde. Schließlich könne das Gericht durch die Erteilung von Auflagen der Mißachtung von Verkehrsvorschriften sinnvoll entgegenwirken. Eine dritte kleine Strafkammer des Landgerichts stellte letztendlich das Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO gegen Zahlung eines Geldbetrags in Höhe von 350,- DM ein. 161 Dies entspricht der zunächst von dem Berufungsgericht verhängten Geldstrafe. Das OLG hat sich mit dem Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt in einem bislang vernachlässigten Ausschnitt des Strafrechts näher beschäftigt, sich fiir dessen Anwendung eingesetzt und so die Grundlage dafiir geschaffen, diesen Bereich den §§ 59 ff. weiter zugänglich zu machen. Seine Auffassung, daß das Gericht auch dann, wenn im Laufe der Hauptverhandlung kein Antrag nach § 59 gestellt worden war, dessen Nichtanwendung näher zu begründen hätte, falls sich die Anwendung der Verwarnung mit Strafvorbehalt im Sachverhalt aufdränge, 162 ist geeignet, zum einen das Revisionsgericht in die Lage zu versetzen, die Ausübung des tatrichterlichen Ermessens bei der Rechtsfolgenbestimmung auf Rechtsfehler hin zu überprüfen, zum anderen eine Sensibilisierung der Untergerichte fiir die Verwarnung mit Strafvorbehalt zu bewirken. 163 Doch hat sich dieser Auffassung - soweit ersichtlich - bislang kein anderes Oberlandesgericht angeschlossen. 164 161

Schöch, in: FS fiir Baumann, S. 260.

OLG Zweibrticken, Beschluß vom 13.7.1983- I Ss 163 / 83, VRS 66, 196 ff. Vgl. zur Erörterungspflicht der Verwarnung mit Strafvorbehalt in den Urteilsgrtinden Horn, NStZ 1985, 364. 164 Das OLG Düsseldorf setzte sich zwar mit der Entscheidung des OLG Zweibrticken auseinander, lehnte sie aber fiir den Fall ab, daß sie so zu verstehen sei, daß die Anwendbarkeit des § 59 bei Straßenverkehrsdelikten stets zu prtifen und dies im Urteil darzulegen sei, weil sonst ein Revisionsgrund bestünde, vgl. Urteil vom 15.5.1984 - 2 Ss 593/ 83-253/83 III, NStZ 1985, 362 ff. = JR 1985, 376 ff. Schöch sah darin eine vom OLG 162

163

108

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

VIII. Überlange rechtsstaatswidrige Verfahrensdauer Die §§ 59 ff. kommen auch in Fällen einer überlangen Verfahrensdauer in Betracht. Gemäß Art. 6 Abs. 1 MRK hat jedermann einen Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung binnen einer angemessenen Frist. Da der Gesetzgeber bisher keine Rechtsfolgen für die Verletzung des Beschleunigungsgebots im Strafverfahren bestimmt hat, ist es Aufgabe der Staatsanwälte und Strafrichter, durch Auslegung des Straf- und des Stratprozeßrechts über die verfassungsmäßig gebotenen Folgen einer solchen Verletzung zu entscheiden.165 Nach Ansicht des BGW 66 und eines großen Teils des Schrifttums 167 begründet ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot kein Verfahrenshindernis, weil ein solches seiner Natur nach zum Ausgleich der erlittenen Benachteiligung gänzlich ungeeignet wäre. 168 Auch könne ein Verfahrenshindernis nicht von der Bewertung der Zeitdauer als zu lang oder extrem lang abhängen, 169 da es nur an eine bestimmte für das Verfahren erhebliche Tatsache angeknüpft werden könne. Des weiteren komme es nicht auf die Verfahrensverzögerung als solche, sondern nur auf deren Angemessenheit beziehungsweise Unangemessenheit, also ein Werturteil an. 170 Das Bundesverfassungsgericht widerspricht der strikten Ansicht des BGH, daß "in keinem Fall" ein Verfahrenshindernis bei dieser Konstellation vorliegen könne. 171 Nach dessen Ansicht kann in Extremfallen, in denen das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders schwer wiege und in denen den Beschuldigten zusätzliche besondere Belastungen träfen, unmittelbar aus der schwerwiegenden Verletzung des Rechtsstaatsgebots (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Zweibrücken abweichende Rechtsauffassung, so daß das Verfahren gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem BGH hätte vorgelegt werden müssen, vgl. JR 1985, 380. - Eine von der Auffassung des OLG Zweibrücken abweichende Meinung bringt das OLG Düsseldorf nicht deutlich genug zwn Ausdruck, da es nicht zwischen der Darlegung der Verwarnung mit Strafvorbehalt in den Urteilsgründen bei ihrer Ablehnung und deljenigen bei ihrer Annahme, die stets zu begründen ist, differenziert, vgl. Horn, NStZ 1985, 364. 165

128

BVerfG, Beschluß vom 24.11.1983-2 BvR 121183, StV 1984, 97 f. = NStZ 1984, 1984, 967 f.

= NJW

166 BGH, Urteil vom 10.11.1971- g.M. 2 StR 492/71, BGHSt 24, 239 ff.; BGH, Urteil vom 12.10. 1977 -2 StR 287/77, BGHSt 27, 274 ff. = JR 1978, 246 f.; BGH, Urteil vom 3.2.1982 - 2 StR 374 / 81, StV 1982, 339 ff. = NStZ 1982, 291 ff.; BGH, Beschluß vom 2.9.1983 - 2 StR 413 / 83, StV 1983, 502.

167

Vgl. Kleinknecht I Meyer-Goßner, Anh. A 4, Art. 6 MRK Rn. 9 ff. m.w.N.

168

BGH, Urteil vom 3.2.1982-2 StR 374/81, StV 1982, 339 f.

169

Kleinknecht I Meyer-Goßner, Anh. A 4, Art. 6 MRK Rn. 9.

170

BGH, Urteil vom 3.2.1982-2 StR 374/81, StV 1982, 340 = NStZ 1982, 292.

= NStZ 1982, 291 f.

BVerfG, Beschluß vom 24.11.1983-2 BvR 121 / 83, StV 1984, 97 f. = NJW 1984, 967 f. = NStZ 1984, 128. 171

D. Bevorzugte Anwendungsfelder für die §§ 59 ff.

109

Art. 20 Abs. 3 GG) ein Verfahrenshindernis erwachsen, so daß aus rechtsstaatlicher Sicht kein anerkennenswertes Interesse an der Verfahrensfortsetzung bestehe. Jedenfalls außerhalb dieser extremen Fälle überlanger Verfahrensdauer bietet sich eine Lösung des Problems über die Strafzumessung 172 und damit auch das Rechtsinstitut der Verwarnung mit Strafvorbehalt 173 an. Art. 6 Abs. I MRK befreit jedoch die Verwarnung mit Strafvorbehalt nicht von ihren tatbestandliehen Voraussetzungen. 174 Diese müssen unabhängig von der langen Verfahrensdauer gegeben sein. Da der Gesetzgeber die diversen Sanktionsfolgen untereinander aus Rechtssicherheitsgründen und zur Gewährleistung ihrer einheitlichen Durchsetzung weit auffacherte, ist es weder zulässig noch erforderlich, außerhalb der gesetzlich vorgegebenen Rahmenbedingungen nach Ausgleichsmöglichkeiten zu suchen. Innerhalb der Verwarnung mit Strafvorbehalt kann eine überlange Verfahrensdauer in verschiedenen Tatbestandsmerkmalen Berücksichtigung finden, so bei der Täterprognose gemäß § 59 Abs. 1 S. I Nr. 1, die aufgrund des Zeitablaufs seit der Tat günstiger erscheinen kann, und in § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, die darauf abstellt, ob zur Verteidigung der Rechtsordnung noch eine Verurteilung zur Strafe geboten ist. Ob die überlange Verfahrensdauer im Rahmen des § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, der "Würdigkeitsklausel", Bedeutung erlangen kann, ist umstritten, 175 richtigerweise aber zu verneinen. Das Merkmal kommt als Ansatzpunkt für die Berücksichtigung der Verfahrensdauer schon deshalb nicht in Betracht, weil der Gesetzeswortlaut nur "Tat" und "Persönlichkeit des Täters", nicht aber Verfahrensbesonderheiten umfaßt. IX. Verstöße gegen die Abgabenordnung (AO) 1. Anwendungsbereich

Die Verwarnung mit Strafvorbehalt rückt zunehmend in das öffentliche Interesse, weil sie in Strafverfahren gegen Personen des öffentlichen Lebens 172 BGH, Urteil vom 10.11.1971- g.M. 2 StR 492 / 71, BGHSt 24, 239 ff.; BGH, Urteil vom 3.2.1982- 2 StR 374/81, StV 1982, 339 f. = NStZ 1982, 291 f.; BGH, Beschluß vom 2.9.1983 - 2 StR 413/83, StV 1983, 502. 173 BGH, Urteil vom 12.10.1977 - 3 StR 287/77, JR 1978, 246 f. mit Anm. Peters; BVerfG, Beschluß vom 24.11.1983 - 2 BvR 121/83, StV 1984, 97 f. = NJW 1984, 967 f. = NStZ 1984, 128; BGH, Beschluß vom 25.8.1994-5 StR 156/94, wistra 1994,345 f. 174 Schönke / Schröder-Stree, §59 Rn. I. 175 Dagegen BGH, Urteil vom 12.10.1977 - 3 StR 287 /77, BGHSt 27, 247 ff. = JR 1978, 246 f.; Baumann, JZ 1980, 467; a.A. Peters, JR 1978, 248, der die unmittelbare, jedoch mindestens entsprechende Berücksichtigung des § 59 Abs. I S. I Nr. 2 fordert.

110

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Anwendung findet und so aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Brisanz der Sachverhalte die Aufinerksamkeit der Medien und damit der Allgemeinheit auf sich zieht. In diesem Zusammenhang sind Verfahren wegen Verstößen gegen die AO, zum Beispiel Steuerhinterziehung, zu nennen, die relativ häufig mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt enden. 176 Es fällt dabei auf, daß sich trotz der Zuwachsrate in diesem Bereich kaum Urteile 177 und Kommentierungen in den juristischen Veröffentlichungen finden, auch nicht in Fällen mit großer Öffentlichkeitsresonanz. Die folgenden Ausruhrungen zu in Baden-Württemberg entschiedenen Fällen basieren auf dem Tenor und auf Berichten überörtlicher Tageszeitungen, bei denen naturgemäß die aktuelle Brisanz und nicht die juristische Problematik der angewandten Sanktionsform im Vordergrund steht. Da die zuständigen Stellen eine Einsichtnahme in die Entscheidungsgründe verweigerten, sind auch keine Ausruhrungen zu den problematischen Punkten des § 59 möglich. 178 2. Der "Stuttgarter Parteispendenprozeß"

Dieses Verfahren aus dem Jahr 1990 richtete sich gegen den früheren Vorsitzenden der Geschäftsfiihrung eines fuhrenden deutschen Elektrokonzems. Dabei war folgender Sachverhalt zu beurteilen: 179 Der Angeklagte, Prof. M., 176 Anzahl der die AO betreffenden und gemäß § 59 beendeten Strafverfahren (Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1976, Tab. 7.3, seit 1989 Tab. 3.4):

177

Jahr

Fälle

1976 1989 1990 1991 1992 1993 1994

20 86 93 111 86 100 111

Z.B.: OLG Koblenz, Urteil vom 27.10.1977- 1 Ss 434 / 77, GA 1978, 207 f.

Sowohl der 1994 zuständige Vorsitzende der 6. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart als auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart beschieden einen Antrag der Verfasserio auf Einsichtnahme in die Urteile vom 6.11.1990 (6 Kls 183 / 87) und vom 13.6.1994 (10 Kls 109 I 92) unter anderem mit der Begründung abschlägig, daß das Informationsinteresse zum Zweck einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit § 59 gegenüber dem Schutz des in § 30 AO geregelten Steuergeheimnisses als gesetzlicher Geheimhaltungsvorschrift und dem Persönlichkeitsrecht des Verurteilten und der weiteren im Urteil aufgeführten Personen im Rahmen einer Güterahwägung weichen müsse. 178

179 Nach Schöch, in: FS für Baumann, S. 263 f.; nach F.U. Fack, Ein moralischer Freispruch, FAZ vom 7.11.1990, D II Politik, Bericht "Der M.-Prozeß endet mit einer Verwarnung", ebd.; S. Geiger, Spagat der Richter, Stuttgarter Zeitung vom 7.11.1990.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

111

war Mitbegründer der "Gesellschaft zur Förderung der Wirtschaft BadenWürttembergs e.V.", die den Status eines von den Finanzbehörden anerkannten Berufsverbandes genoß. 180 Als solchem war es der Gesellschaft möglich, an sie gezahlte Mitgliedsbeiträge an politische Parteien als Spenden zu überweisen und diese dann steuerlich abzusetzen. Die Finanzverwaltungspraxis akzeptierte insoweit eine Weiterleitung von 25% der Einnahmen. Der Transfer darüber hinausgehender Teile der Einnahmen hätte zur Folge gehabt, daß der Berufsverband steuerrechtlich zu einem politischen Verein hätte herabgestuft werden müssen. Tatsächlich überwies die Fördergesellschaft im Durchschnitt mehr als 55% ihrer Einnahmen an die Parteien. Der Angeklagte ließ so über die Fördergesellschaft den Parteien Millionenbeträge des Konzerns zukommen, um diese dann als Betriebsausgaben des von ihm geführten Unternehmens - da an einen Berufsverband gezahlt - von der Steuer abzusetzen. Die Anklage warf ihm vor, auf diesem Weg in den Jahren 1971 bis 1981 Parteispenden in Höhe von vier Mio. DM zu Unrecht von der Steuer abgezogen zu haben. Am Ende der Hauptverhandlung, in der die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a Abs. 2 StPO verweigert hatte, 181 stellte das Gericht 182 das Strafverfahren für den Zeitraum von 1971 bis 1977 wegen Veijährung ein und sprach den Angeklagten von dem das Jahr 1981 betreffenden Vorwurf frei. Ein Schuldspruch erfolgte wegen tateinheitlicher Körperschaft- und Gewerbesteuerhinterziehung in zwei Fällen und Gewerbesteuerhinterziehung in einem weiteren Fall, wobei das Spendenvolumen in den Jahre 1978 bis 1980 1,5 Mio. DM betragen hatte. Das Gericht verwarnte ihn deswegen und behielt seine Verurteilung zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 5.000,- DM für die Dauer der Bewährungszeit von einem Jahr vor. Er erhielt die Auflage, 600.000,- DM an drei gemeinnützige Organisationen zu bezahlen. Die Richter sahen den angeklagten Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens als die für die Weiterleitung der Gelder an die Fördergesellschaft in strafrechtlicher Hinsicht verantwortliche Person an. Sie erachteten seine Schuld jedoch als nur gering. Strafmildemd berücksichtigten sie, er habe nicht damit zu rechnen brauchen, eines Tages strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, da politische Mandatsträger und hochrangige Amts180 Erst für 1983 erfolgte die rückwirkende Aberkennung als Berufsverband, da die Gesellschaft entgegen ihrer Satzung Vermögen sammelte und Reserven anlegte. Auch stellte sich ihr Vorgehen als verschleierte Parteienfinanzierung dar, da durch die Weiterleitung der an sie gezahlten Gelder Parteien an der Regierungsmacht gehalten werden sollten, die der Wirtschaft besonders nahe standen. 181 Schöch, in: FS für Baumann, S. 264. 182 LG Stuttgart, Urteil vom 6.11.1990 - 6 KLs 183 I 87.

112

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

personen dieses System der finanziellen Unterstützung von Parteien durch steuerbegünstigte Zuwendungen initiiert, lange hingenommen, aktiv abgeschirmt und die Spender zu weiteren Zahlungen gedrängt hätten. Auch die Finanzverwaltung habe das System gekannt, sei aber vorsätzlich untätig geblieben. Weiter hielt das Gericht dem Angeklagten zugute, daß die Amtsinhaber trotz ihrer Mitwisserschaft und Mitschuld aufgrund inzwischen eingetretener Vetjährung strafrechtlich keine Konsequenzen mehr zu erwarten hatten. 3. Der Fall "Sport Billy'' Das zweite medienwirksame Strafverfahren in Baden-Württemberg, das mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt endete, fand 1994 statt. Es betraf den bekannten, im Unterhaltungs- und Immobilienbereich tätigen Stuttgarter Multiunternehmer D. Dem Urteillag folgender Sachverhalt zugrunde: 183 1979 hatte der Angeklagte die Urheberrechte an der Figur "Sport Billy" zur Herstellung von Zeichentrickfilmen an eine Abschreibungsgesellschaft, die Investoren mit der Aussicht auf hohe Verlustzuweisungen und entsprechende Steuerersparnisse warb, verkauft. Die Verträge wurden rückdatiert. Dadurch konnten fiir 1979 Abschreibungen in Höhe von 1.300.000,- DM geltend gemacht werden, die tatsächlich dem Jahr 1980 zuzuordnen gewesen wären. Deswegen entstand dem Finanzamt ein rechnerischer Zinsverlust in Höhe von 35.000,- DM. Nach dem Geständnis des Angeklagten, er habe die vertraglichen Rückdatierungen hingenommen, sprach ihn das Gericht 184 der Beihilfe zur Einkommensteuerhinterziehung schuldig und verwarnte ihn. Die Verurteilung zu der Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 7.000,- DM wurde fiir die Dauer einer zweijährigen Bewährungszeit vorbehalten. Daneben erteilte es ihm die Auflage, 800.000,- DM an gemeinnützige Organisationen zu bezahlen. 4. Stellungnahme

Verstöße gegen die Abgabenordnung ordnen einige Autoren 185 in die Kategorie "Aufrechterhaltung des sozialethischen Unwerturteils bei geringem Sanktionsbedürfnis aufgrund geminderten Unrechtsbewußtseins" der Verwarnung mit Strafvorbehalt ein. 186 Diese Ansicht vertreten gewöhnlich auch die Verwarnten. 187 183

Nach Bericht "Geldbuße für D.", FAZ vom 15.6.1994, Wirtschaft, S. 19.

184

LG Stuttgart, Urteil vom 13.6.1994- 10 K.Ls 109/92.

Schöch, in FS für Baumann, S. 264; ders., Gutachten ner I Kühl, § 59 Rn. 5. 186 Vgl. 2. Teil, D.IV.l, S. 99. 18'

C zum 59. DJT, S. 92; Lack-

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

113

Dieser Einordnung der Sachverhalte läßt sich nicht zustimmen. Sie leistet dem Trend, die Steuerehrlichkeit wegen zunehmender Belastungen mit öffentlichen Abgaben zu vernachlässigen, Vorschub. Die bloße Verwarnung hochrangiger Personen des Wirtschaftslebens bei zahlenmäßig schwerwiegenden Verstößen gegen die Abgabenordnung - wenn auch in Verbindung mit einer hohen Geldauflage - und die Attestierung einer geringen Schuld und eines geminderten Unrechtsbewußtseins, die sie in ihrer Ansicht bestärkt, nicht strafbar gehandelt zu haben, erweckt leicht der Anschein der Privilegierung dieser Täterkreise, die auch die bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt notwendige Entscheidung durch ein Urteil nicht vollständig ausräumen kann. Dies gilt um so mehr, als zumindest der Angeklagte in dem zuerst genannten Sachverhalt aufgrund seiner Geschäfts- und Rechtskenntnisse das Verbotene seines Tuns genau kannte und sich sein geringes Schuldbewußtsein nur damit begründen ließ, daß es sich um eine verbreitete und von hochrangigen Politikern und Beamten gebilligte Form der Steuerhinterziehung handelte. Es erscheint dann äußerst fragwürdig, ob bei einem derart weitreichenden kollusiven Zusammenwirken von Politikern, Beamten und Wirtschaftsführern zum Nachteil des Staates letzteren tatsächlich zugute gehalten werden darf, daß erstere den Anschein der Rechtmäßigkeit wahrten, um ihren Parteien den weiteren Zufluß von Geldmitteln zu sichern. Jedenfalls ist es gerade der Zweck der Verwarnung mit Strafvorbehalt, durch eine öffentliche Entscheidungsfindung die Schaffung solcher Privilegien zu verhindern. 188 Nachdem die Urteile in dieser Form Rechtskraft erlangt haben, besteht aber die Hoffnung, daß zusätzliche, in den Medien nicht erwähnte Strafmilderungsgründe die Verwarnung mit Strafvorbehalt tragen.

X. Weitere medienwirksame Sachverhalte 1. Der "Hamburger Kessel"

Im ersten von fünf weiteren öffentlichkeitsrelevanten Fällen aus den letzten Jahren, die mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt endeten, handelte es sich um die strafrechtliche Beurteilung des sogenannten "Hamburger Kessels".189 Vor dem Landgericht Harnburg waren vier ranghohe Polizeiführer 187 Nach Bericht "Der M.-Prozeß endet mit einer Verwarnung", FAZ vom 7.11.1990, D II Politik: "Der Verwarnte empfand das Urteil als moderat"; S. Geiger, "Spagat der Richter", Stuttgarter Zeitung vom 7.11.1990: "Der Verwarnte konstatiert moralischen Freispruch"; dazu auch Schöch, in: FS fur Baumann, S. 263 f.: "Der Verwarnte empfand subjektiv kein Unrechtsbewußtsein"; nach Bericht: "Geldbuße fur D.", FAZ vom 15.5.1994, Wirtschaft, S. 19: "Der Angeklagte hielt sich fur unschuldig." 188 Schöch, in: Anrn. zu BayObLG, Beschluß vom 30.9.1975- RReg 2 St 171175, JR 1978, 74. 189 LG Hamburg, Urteil vom 23.10.1991-830 Js 182/86.

8 Newnayer-Wagner

114

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

angeklagt, 190 unter deren Verantwortung vier Hundertschaften 191 der Polizei am 8.6.1986 auf dem Heiligengeistfeld mindestens fiinthundertfiinfzig Demonstranten ohne Verpflegung 192 und bei eingeschränkten Möglichkeiten, eine Toilette aufzusuchen, eingeschlossen 193 und diese Einschließung mit Schlagstockeinsatz fiir einen Zeitraum zwischen vier bis sechzehn Stunden 194 aufrechterhalten hatten, 195 bevor sie sie in eine Gefangenenleitstelle bringen konnten. 196 Die Polizeifiihrung war davon ausgegangen, daß es zu gewalttätigen Ausschreitungen auf seiten der Demonstranten kommen würde, 197 die sich im Anschluß an eine tags zuvor am Kernkraftwerk Brokdorf durchgefiihrte Großkundgebung aus Verärgerung über das dortige polizeiliche Vorgehen zusammengefunden hatten, das zum Teil eine Ankunft der Demonstranten in Brokdorf zu Beginn der Veranstaltung oder sogar gänzlich verhindert hatte. 198 Eine Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 2 StPO scheiterte an der Zustimmungsverweigerung eines der Angeklagten. 199 Das Gericht sprach die vier Angeklagten der mittäterschaftliehen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung im Amt und fahrlässiger Körperverletzung schuldig und verwarnte sie mit Strafvorbehalt Die vorbehaltenen Strafen bewegten sich zwischen 60 und 120 Tagessätzen zu je 120,- bis 180,- DM200 verbunden mit Geldauflagen zwischen 8.400,- und 16.200,- DM zugunsten gemeinnütziger Organisationen. Das Landgericht begründete die Verwarnungen mit Strafvorbehalt wie folgt: 201 Die günstige Prognose nach § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 stütze sich bei allen Angeklagten auf das von diesen gewonnene Persönlichkeitsbild. Alle wiesen ein straffreies Vorleben auf. Weitere Straftaten seien von ihnen auch ohne Verurteilung zu der verwirkten Geldstrafe nicht zu erwarten. Das Gericht beließ es insoweit also nahezu bei einer Wiedergabe des Gesetzeswortlauts. Vgl. Vgl. 192 Vgl. 193 Vgl. 194 Vgl. 19s Vgl. 196 Vgl. 197 Vgl. 190 191

198 199 200

201

2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil,

D.X.1, D.X.1, D.X.1, D.X.1 , D.X.1, D.X.1, D.X.1, D.X.l,

S. S. S. S. S. S. S. S.

113 113 113 113 113 113 113 113

Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn. Fn.

189, LG 189, LG 189, LG 189, LG 189, LG 189, LG 189, LG 189, LG

Hamburg, Hamburg, Hamburg, Hamburg, Hamburg, Hamburg, Hamburg, Hamburg,

S. 21. S. 36. S. 93. S. 33. S. 85. S. 264 ff. S. 85. S. 33.

Vgl. 2. Teil, D.X.1, S. 113 Fn. 189, LG Hamburg, S. 12. Nach Bericht "Hohe Geldstrafen verhängt", FAZ vom 24.10.1991, D li Politik. Vgl. 2. Teil, D.X.l, S. 113 Fn. 189, LG Hamburg, S. 3. Vgl. 2. Teil, D.X.l , S. 113 Fn. 189, LG Hamburg, S. 284 ff.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder für die §§ 59 ff.

115

Die besonderen Umstände im Sinne des § 59 Abs. I S. I Nr. 2 sah die Strafkammer in der notstandsähnlichen Situation der Angeklagten zur Tatzeit, die ihre Pflichten zur Gefahrenabwehr in zeitlicher Bedrängnis und mit zur Pflichterfullung unzureichenden und umstrittenen Mitteln ausüben mußten. Zudem hätte die Zustimmung des politisch verantwortlichen Innensenators die Angeklagten von der Richtigkeit ihrer Auffassung, die Einschließung aufrecht zu erhalten, bestärkt. Im Rahmen des § 59 Abs. I S. I Nr. 3 erörterten die Richter, ob trotz der langen Verfahrensdauer noch eine Verurteilung geboten sei. Sie ließen diesen Punkt schließlich offen und betonten, daß die "Verteidigung der Rechtsordnung" keine Verurteilung zu einer Geldstrafe erfordere, weil schon das Verwaltungsgericht Harnburg die Rechtswidrigkeit der Einschließung festgestellt und die Hansestadt Harnburg im Anschluß an ein Urteil des LG Harnburg den Geschädigten bereits ein Schmerzensgeld in Höhe von je 200,- DM bezahlt habe. Diese Argumentation ist zumindest insoweit angreifbar, als die berücksichtigten Entscheidungen der anderen Gerichte die Angeklagten nur am Rande betrafen. Eine gegenteilige Entscheidung wäre zumindest vertretbar gewesen und die Verurteilung zu Geldstrafen hätte sich begründen lassen. 2. Der Fall "M."

In diesem Fall, der sich im brisanten politischen Bereich von Wahlfälschungen (§ 107a) bei den letzten Kommunalwahlen der ehemaligen DDR im Bezirk Dresden abspielte, erkannte das Landgericht Dresden bei allen vier Angeklagten auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt.202 Angeklagt waren Dr. M., der zum Tatzeitpunkt Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden/03 W., der Vorsitzende des Bezirksrates Dresden204 und der Bezirkswahlkommission,205 S., der Zweite Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden206 und N., der Sekretär fiir Landwirtschaft der SED-Bezirksleitung Dresden.207

202 LG Dresden, Urteil vom 27.5.1993 - 3(c) KLs 51 Js 4048/91; nach A. Funk, "Verurteilt, aber nicht bestraft", FAZ vom 28.5.1993, D li Politik, S. 3; Bericht "Urteil in Dresden: Die Verwarnung", ebd. S. 3; Bericht "Ein schlechter Witz", ebd. S. 14; Bericht "Mittelweg in Dresden", FAZ vom 29.5.1993, D II Politik, S. 2; K. Wal/baum, Richter Lips baut M. den "goldenen Mittelweg", Stuttgarter Zeitung vorn 28.5.1993. 203 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 7 ff.

204 205 206 207

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil,

D.X.2, S. D.X.2, S. D.X.2, S. D.X.2, S.

115 115 115 115

Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202,

LG Dresden, S. LG Dresden, S. LG Dresden, S. LG Dresden, S.

I 0 f. 128. 12 f. 14 f.

116

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Nachdem die Parteispitze der SED Dr. M. gegenüber ihren Willen klar zum Ausdruck gebracht hatte, daß zum 40. Jahrestag der DDR nur ein gutes Wahlergebnis, welches mit denen der letzten Jahren vergleichbar sei, die besonders hohe Bevölkerungsakzeptanz gegenüber dem damaligen Regime dokumentiere/08 wies dieser unter anderem die Mitangeklagten N. und S. an, auf andere Wahlkommissionsmitglieder einzuwirken, damit die von der SEDZentrale Berlin für notwendig erachteten Wahlergebnismanipulationen auch tatsächlich vorgenommen würden. Auf die gleiche Weise verfuhr W., der auch das Wahlabschlußprotokoll unterschrieb. 209 Gefälscht wurden daraufhin die Ergebnisse aus den Sonderwahllokalen, die für am Wahltag verhinderte Bürger eingerichtet worden waren und am 6.5.1989 um 12 Uhr schlossen, 210 die endgültigen Wahlergebnisse der Kreise am 7.5.1989/ 11 sowie des Bezirks Dresden am 8.5.1989.212 Aufgrund der Manipulationen, die sich sowohl auf die Wahlbeteiligung als auch die Anzahl der Gegenstimmen erstreckten, erreichten die Angeklagten eine Wahlbeteiligung von ca. 98% und eine minimale Anzahl von Gegenstimmen gegen die Einheitsliste der nationalen Front in den amtlichen Wahlunterlagen. Allen Angeklagten war nach eigener Aussage ihre politische Verantwortung als Funktionsträger im Bezirk Dresden bekannt. Sie wiesen jedoch jegliche strafrechtliche Schuld von sich, indem sie auf die allgemeinen politischen Vorgaben für die Wahl, nach denen sie sich gerichtet und für die sie geworben hätten, verwiesen. Dr. M. räumte in seinem Schlußwort seine persönliche Schuld insoweit ein, als er die Wahlfälschung nicht verhindert hatte. 213 Nachdem eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO gescheitert war,214 wurden die Angeklagten wegen Anstiftung zur Wahlfälschung in bis zu 3 tateinheitliehen Fällen, ein Angeklagter darüber hinaus in Tateinheit mit Wahlfälschung, gemäß § 59 verwarnt. m Die mit einer Geldauflage verbundenen vorbehaltenen Geldstrafen betrugen bei: Dr. M. 80 Tagessätze zu 300,- DM i. V m. 20.000,- DM Geldauflage, - W. 70 Tagessätze zu 70,- DM i. V. m. 3.500,- DM Geldauflage,

Vgl. Vgl. 21 0 Vgl. 211 Vgl. 212 Vgl. 208 209

2. Teil, D.X.2, S. 2. Teil, D.X.2, S. 2. Teil, D.X.2, S. 2. Teil, D.X.2, S. 2. Teil, D.X.2, S.

115 115 115 115 115

Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202,

LG Dresden, S. 26 ff., 70. LG Dresden, S. 16- 89, 128. LG Dresden, S. 42 ff., 63 ff. LG Dresden, S. 68 ff. LG Dresden, S. 85 ff.

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 92. Nach K. Wal/baum, Richter Lips baut M. den "goldenen Mittelweg", Stuttgarter Zeitung vom 28.5.1993. 215 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 2 f., 110 ff. 213 214

D. Bevorzugte Anwendungsfelder ftir die §§ 59 ff.

117

S. 50 Tagessätze zu 30,- DM i. V. m. I.200,- DM Geldauftage, N. 50 Tagessätze zu 70,- DM i. V. m. 2.600,- DM Geldauftage. 216 Dr. M. und S. wurden ferner von Teilen der Anklage freigesprochen. 217 Das Landgericht Dresden begründete die Verwarnungen mit Strafvorbehalt wie folgt: 218 Die günstige Prognose im Sinne von § 59 Abs. I S. I Nr. I beruhe auf dem Umstand, daß sämtliche Angeklagten lebenserfahrene, bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Männer seien, bei denen auch ohne Verurteilung bedenkenlos von einer zukünftigen Straffreiheit ausgegangen werden könne. Die besonderen Umstände gemäß § 59 Abs. I S. I Nr. 2 sah die Kammer in gewichtigen strafmildemden Gesichtspunkten, wie der tiefen Prägung der Angeklagten Dr. M., S. und W. durch die Zeit des Nationalsozialismus und die (Nach-)Kriegszeit und ihrem Einsatz für die Partei zum Aufbau eines "besseren deutschen Staates", von dem nie wieder Faschismus und Krieg ausgehen sollte, und der langjährigen SED-Zugehörigkeit der Angeklagten, die sich innerlich an diese gebunden und sich auch als Führungsmitglieder der herrschenden Parteidisziplin unbedingt untergeordnet hätten. 219 Besonderes Gewicht maß das Gericht dem Umstand bei, daß durch die von den Angeklagten maßgeblich mitveranlaßten Wahlmanipulationen die Zusammensetzung der einzelnen Volksvertretungen nicht einmal eine geringfügige Veränderung des im tatsächlichen Wahlergebnis zum Ausdruck gekommenen Wählerwillens erfahren hatte. Denn der Gegenstimmenanteil hatte sich bei einer tatsächlichen Wahlbeteiligung von 85-90%220 allenfalls auf 15% der abgegebenen Stimmen belaufen. Eine genaue Feststellung der Zahlen war wegen der von der Wahlkommission der Republik am 13.4.1989 an die Bezirkswahlkommissionen übermittelten Weisung, sämtliche Wahlunterlagen zu vernichten, nicht mehr möglich gewesen. 221 Positiv werteten die Richter, daß die Angeklagten bei dem Auswahlverfahren vor der offiziellen Kandidatenaufstellung nicht eingegriffen hätten. Dort hatten die DDR-Bürger noch am ehesten- wenn auch eingeschränkt- Einfluß auf die Zusammensetzung der Kommunalvertretungen nehmen können.222 Vgl. Vgl. 218 Vgl. 219 Vgl. 220 Vgl. 221 Vgl. 222 Vgl. 216 217

2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil,

D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2,

S. S. S. S. S. S. S.

115 115 115 115 115 115 115

Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202,

LG Dresden, LG Dresden, LG Dresden, LG Dresden, LG Dresden, LG Dresden, LG Dresden,

S. 3, 127 ff., 133. S. 49 ff., 90. S. 116 ff., 130 ff. S. 111 ff. S. 120 ff. S. 85, 120. S. 121.

118

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Berücksichtigung fand ferner der völlig anders geartete Stellenwert der Wahlen in der DDR mit dem besonders ritualartigen Charakter und ihrer letztlich nur akklamativen Funktion. Wahlen seien als gesellschaftlicher Höhepunkt einer Volksbewegung verstanden worden. Mit demokratischen Wahlen hätten sie nur wenig gemeinsam, so daß das Unrecht der vorgenommenen Manipulationen von geringerem Gewicht sei. 223 Ein weiteres entlastendes Moment bildete in der Argumentation des Landgerichts der massive politische Druck auf die Dresdener SED-Bezirksleitung durch die sogenannte "Mittag-Kommission". Diese hatte Anfang 1989 ihre Arbeit kontrolliert, heftig kritisiert und der Bezirksleitung jegliche Verantwortung für die Probleme des Bezirks zugeschoben,224 so daß diese sich gezwungen gesehen hatte, um ihr politisches Überleben zu kämpfen, nachdem die Parteileitung ihren personellen Fortbestand unabdingbar von gleich guten Wahlergebnissen wie in den Jahren zuvor abhängig gemacht hatte. 225 Weiter wertete die Kammer zugunsten des Dr. M. sein zuletzt noch am Wahltag wiederholtes Bemühen, eine "Ausnahmegenehmigung" für den Bezirk Dresden von der zentralen Vorgabe zu erhalten, obwohl er diesbezüglich schon wiederholte Absagen von der SED-Führung erhalten hatte und aufgrund der "zentralen Orientierung" der Partei eine Entpflichtung nur eines Bezirks grundsätzlich nicht denkbar gewesen und er deswegen von der Erfolglosigkeit seines Vorhabens ausgegangen war. 226 Als schuldmindernd erachtete die Kammer, die bei allen Angeklagten ein Handeln aus Eigeninteresse und eigensüchtigen Motiven verneinte, ihr Handeln im Interesse der Zentrale auf deren massiven Druck hin und in der Absicht, ihre Ämter und damit ihre politischen Einwirkungsmöglichkeiten nicht zu verlieren, wobei das Gericht einen mitursächlichen persönlichen Ehrgeiz, sowie das Streben nach weiteren herausgehobenen politischen Gestaltungsmöglichkeiten für unschädlich hielt. 227 Ebenfalls strafmildernd berücksichtigte das Gericht die überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer von vier Jahren sowie die aufwendige, belastende und von ungewöhnlichem Medieninteresse begleitete Hauptverhandlung. 228 Die Situation, in der sich die Angeklagten zur Zeit der Kommunalwahl 1989 befunden hätten, sei aus ihrer Sicht mit einer Notstandslage vergleichbar gewesen, da sie nur die Wahl zwischen Anpassung und Absturz gehabt hätten. 223

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 121 f.

224

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 18 ff., 122 f.

225

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 26 f.

226

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 124, 127.

227

V gl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 124 f.

22R

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 125.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder für die§§ 59 ff.

119

Weitere besondere Umstände sah das Gericht in den tiefgreifenden epochalen Veränderungen der Verhältnisse in der ehemaligen DDR seit der Kommunalwahl 1989. Eine Tatwiederholung sei deswegen kaum vorstellbar, da es nach menschlichem Ermessen nie wieder zu einer solchen Situation komme. 229 Die Tat war nach Ansicht der Richter auch deswegen als nicht so gravierend zu beurteilen, weil ihre Folgen aufgrund der Wiedervereinigung längst überholt seien. Die Angeklagten hätten sich bis auf Dr. M. aus der Politik zurückgezogen. Letzterer bekleide als Bundestagsabgeordneter ein kleines Amt als Mitglied einer Oppositionspartei, das mit seiner früheren Position nicht vergleichbar sei. Das Lebenswerk der Angeklagten, der Aufbau eines Staates, sei in weiten Teilen gescheitert. Sie lebten unter ständiger öffentlicher Kritik, da ihnen indirekt die Verantwortung fiir zahlreiche staatliche Übergriffe zugewiesen werde. 230 Die Strafkammer bezeichnete bei der Gesamtwürdigung der Motive fiir die Tat diese aus heutiger Sicht als nachvollziehbar und nicht unehrenhaft.231 Die Angeklagten hätten bei der Tat sowohl als Machthaber wie auch als Untertanen des Systems gehandelt und seien somit quasi Täter und Opfer zugleich gewesen. Die Notwendigkeit, eine Geldstrafe zur "Verteidigung der Rechtsordnung" im Sinne des § 59 Abs. I S. I Nr. 3 zu verhängen, hielt die Kammer nicht fiir gegeben. Denn hier habe eine historisch einzigartige, vollständige Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse stattgefunden. Die Richter betonten ausdrücklich, daß sie damit nicht einer Gruppe von Straftätern einen Freibrief fiir systemimmanentes Unrecht erteilten oder diese ungerechtfertigt bevorzugten. Dies sei fiir die über den Prozeß unterrichtete Öffentlichkeit nachvollziehbar, deren Rechtstreue durch den Verzicht auf einen Strafausspruch nicht geschädigt werde. 232 Sie sahen es aber selbst als erforderlich an, ihr Urteil von strengeren Entscheidungen in anderen Wahlfälschungsprozessen gegen in der Partei- und Staatshierarchie weiter unten angesiedelte Täter abzugrenzen und die Verwarnung mit Strafvorbehalt im Verhältnis zu ihnen besonders zu begründen. Die Kammer war der Auffassung, daß zum vorliegenden Fall gravierende Unterschiede bestünden.233 Zum einen seien hier bereits zwischen Tatgeschehen und Hauptverhandlung vier Jahre verstrichen, zum anderen handele es sich 229

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 130.

230

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

231 232 233

2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil,

D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2,

S. S. S. S.

115 115 115 115

Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202, Fn. 202,

LG LG LG LG

Dresden, Dresden, Dresden, Dresden,

S. S. S. S.

130 f. 131. 132. 126.

120

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

im Gegensatz zu den angesprochenen Urteilen um keine Entscheidung aus der Zeit vor dem 3.10.1990, so daß die strengere Strafzumessungspraxis von DDR-Gerichten auf sie keinen Einfluß mehr besitze. Als graviereoLl erachtete die Kammer den zeitlichen Umfang der Beweisaufnahme und den umfangreichen Prozeßgegenstand. Vorliegend sei quantitativ - wegen der Anzahl der Angeklagten und der ihnen vorgeworfenen Taten - als auch qualitativ - wegen der Situation im Bezirk Dresden, insbesondere der Vorgänge um die "Mittag-Kommission" - inhaltlich eine deutlich umfassendere Auseinandersetzung mit dem Prozeßstoff erforderlich gewesen als bei anderen, zum Teil im Strafbefehlsverfahren erledigten Wahlfälschungsprozessen. 234 Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil zum Nachteil aller Angeklagten Revision ein, die sie mit der Sachrüge begründete. Im übrigen griff sie die Strafzumessung an, da eine Verwarnung mit Strafvorbehalt dem Unrechtsgehalt der Taten nicht gerecht werde. 235 Der zuständige dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs hob das Urteil des Landgerichts Dresden hinsichtlich des Teilfreispruchs von Dr. M. und der Strafaussprüche bei allen Angeklagten auf und änderte die Schuldsprüche bei Dr. M., W. und N. 236 Zur Verwarnung mit Strafvorbehalt führte der BGH in den Revisionsgründen wie folgt aus: Die Berücksichtigung "der tiefgreifenden epochalen Veränderung der Verhältnisse der ehemaligen DDR seit der Kommunalwahl 1989" bei der Gesamtwürdigung im Sinne des § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 sei rechtlich bedenklich.237 Diesem Umstand habe bereits der Gesetzgeber Rechnung getragen. Denn nach dem Einigungsvertrag seien Verstöße gegen das Strafrecht der DDR nur weiter verfolgbar, wenn und soweit sie zur Zeit der Aburteilung auch nach dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik geschützte Rechtsgüter betreffen würden. Der Untergang der DDR und die Beseitigung des SED-Unrechtsregimes (Art. 17 EinigungsV) könne daher prinzipiell kein wesentlicher Grund dafür sein, Täter, deren Straftaten nach dem Willen der Parteien des Einigungsvertrags auch noch nach der Wiedervereinigung geahndet werden sollten, von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen. 238 Darüber hinaus fehle dem landgerichtliehen Urteil eine tragfähige Gesamtwürdigung im Sinne von § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, da bei der Strafzumessung Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 126, 131 f. BGH, Urteil vom 3.11.1994 - 3 StR 62 / 94, insb. S. 5 = NJW 1995, 1564 ff. (gekürzt); nach Bericht "Wegen der Wah1falschung im Mai 1989 muß M. wieder vor Gericht", FAZ vom 4.11.1994, D Politik, S. 1 f.; Bericht "M. ohne Maske", ebd., S. 1. 236 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 3 f. 237 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 130. 238 Vgl. oben 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 24 mit Hinweis auf BGH, Urteil vom 26.11.1992 - g.B.u.M. 3 StR 319 I 92, BGHSt 39, 54 ff., 68 ff. 234 235

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

121

Rechtsfehler zum Vorteil der Angeklagten Berücksichtigung gefunden hätten.239 Die Strafkammer habe die Bedeutung der Wahlfälschung in der früheren DDR verkannt, indem sie schuldmindernd berücksichtigt habe, daß diese wegen der bestehenden Einheitsliste zu keinen personellen Veränderungen in den zu wählenden Volksvertretungen geführt hätten. 240 Der Senat sah darin eine unzutreffende Wertung des tatsächlichen Unrechtsgehalts der Wahlfälschungen, da weder die Angeklagten noch die SED eine gesetzeswidrige Veränderung der personellen Zusammensetzung angestrebt hätten. Ziel sei vielmehr gewesen, eine so nicht vorhandene Zustimmung der Bevölkerung zur Partei vorzutäuschen und sich über die noch vorhandenen restlichen Elemente parlamentarisch-demokratischer Wahlen hinwegzusetzen. 241 Als sachfremd und zur Minderung der Strafe nicht geeignet erachtete der BGH die Abstandnahme der Angeklagten von einer Einflußnahme auf die Wählerentscheidung bereits beim Auswahlverfahren vor der offiziellen Kandidatenaufstellung.242 Ein Eingriff zu diesem Zeitpunkt wäre in der ehemaligen DDR systemkonform gewesen und eine Einflußnahme hätte kein Unrecht dargestellt. 243 Die Feststellungen der Kammer, die Angeklagten hätten "im Interesse der Zentrale" und nicht "im eigenen Interesse oder aus eigensüchtigen Motiven gehandelt",244 träfen so nicht zu. Insbesondere Dr. M. habe klar die Rechtswidrigkeit seiner Tat erkannt. Ein ihn bindender Beschluß der SED-Gremien zur Vornahme der Fälschungen habe nicht vorgelegen. Im übrigen hätten alle Angeklagten im eigenen beruflichen Interesse, aus Gründen wirtschaftlicher Sicherheit, wegen der Tätigkeit an herausgehobener Stelle und teilweise auch aus eigensüchtigen Motiven heraus gehandelt. 245 Für nicht nachvollziehbar hielt der Senat die Wertung der Strafkammer, die zur Wahlfälschung führenden Motive seien aus heutiger Sicht nicht unehrenhaft/46 da nach heutigem Demokratieverständnis wie auch nach den zur Tatzeit geltenden sozialistischen Normen eine strafbare Wahlfälschung vorliege. Selbst SED-Parteifunktionäre hätten die Tathandlungen nicht allgemein als normwidrige Faktizität akzeptiert. Darauf deute der teilweise heftige Widerstand in den Wahlkreiskommissionen und Kreisleitungen gegen das Fäl239 240 241 242 243 244

245 246

Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 25. Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 120 f. Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 25 f. Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 121. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil,

D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2,

S. S. S. S.

120 Fn. 235, BGH, S. 27. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 124. 120 Fn. 235, BGH, S. 27 f. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 131.

I22

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

schungsverlangen hin. Damit zusammenhängend sahen es die Revisionsrichter als besonders verwerftich an, daß die Angeklagten selbst Druck auf abhängige Weisungsempfänger veranlaßt, zum Teil selbst massiv ausgeübt und zur Durchsetzung ihrer Weisungen filr den Fall einer Weigerung die Amtsenthebung angedroht hätten. Diesen Strafschärfungsgrund habe die Strafkammer bei § 59 Abs. I S. I Nr. 2 im Rahmen ihrer Gesamtabwägung nicht beachtet.247 Als nur unwesentlichen Milderungsgrund sah der BGH-Senat die Hoffnung der Angeklagten an, später einmal an der Reform der sozialistischen Einheitspartei mitzuwirken, wenn sie sich zur Tatzeit der Parteidisziplin unterwarfen.248 Insgesamt bewertete der Strafsenat die landgerichtliche Beurteilung der Schuld der Angeklagten als nicht widerspruchsfrei und nicht nachvollziehbar. In der Neuauflage des Prozesses ging es nur noch um die Strafzumessung.249 Am 9.8.1995250 verurteilte die vierte Strafkammer des Landgerichts Dresden Dr. M. zu 9 Monaten Freiheitsstrafe zur Bewährung i. V. m. einer Geldauflage in Höhe von 5.000,- DM, W. zu 9 Monaten Freiheitsstrafe zur Bewährung i. V. m. einer Geldauflage in Höhe von 4.000,- DM, S. zu 6 Monaten Freiheitsstrafe zur Bewährung i. V. m. einer Geldauflage in Höhe von 3.500,- DM, N. zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60,- DM. Zur Begründung verwies das Gericht darauf, daß bei den Angeklagten Dr. M., W. und S. ein gerechter Schuldausgleich zwingend die Verurteilung zu Freiheitsstrafen erfordere. 251 Dabei wurde berücksichtigt,252 daß den Angeklagten die Strafbarkeit der Wahlfälschung nach dem Recht der DDR voll bewußt gewesen sei, sie sich aber aufgrund rücksichtsloser Linientreue durch ihr rechtswidriges Handeln darüber hinweggesetzt hätten. Dadurch hätten sie dem Wahlvolk den Rest seiner politischen Aussagemöglichkeiten geraubt und Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 28 f. Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 29. 249 LG Dresden, Urteil vom 9.8.1995 - 4 KLs 51 Js 4048 / 91, vgl. S. 5 f., rechtskräftig seit 17.8.1995; hinsichtlich der Aufhebung des Teilfreispruchs von Dr. M. durch den BGH beschränkte die Kammer mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung gemäߧ 154a StPO durch Beschluß vom 17.7.1995. 2so Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 122 Fn. 249, LG Dresden, S. 27 ff.; nach Bericht "M. zu Haft auf Bewährung verurteilt", FAZ vom 10.8.1995, S. 1; Bericht "M. wegen Wahlfalschung zu Bewährungsstrafe verurteilt", ebd. S. 2. 2s1 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 122 Fn. 249, LG Dresden, S. 26. 2s2 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 122 Fn. 249, LG Dresden, S. 22 f. 247 248

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

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es in Kauf genommen, daß diejenigen, die unverfälschte Ergebnisse einforderten, sich der Gefahr von Einschüchterungsversuchen, Verfolgung und Inhaftierung aussetzten. Des weiteren hätten sie untergeordnete Funktionsträger, die nicht zu der Tat bereit gewesen seien und sich dagegen zur Wehr gesetzt hätten, in die Organisation und die Durchfiihrung der Verfälschung der Wahlergebnisse verstrickt, indem sie sie mit unterschiedlich großer Intensität unter Druck gesetzt und in die Strafbarkeit getrieben hätten. Schließlich berücksichtigte die Kammer noch die Tatsache, daß eine Vielzahl von in der Hierarchie weiter unten stehenden Funktionären, die in weit geringerem Maße Schuld auf sich geladen hatten, bereits rechtskräftig zu empfindlichen Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt worden seien.253 Bei den drei zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Angeklagten wurde deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt, da ihnen aufgrund ihres Nachtatverhaltens und ihrer Persönlichkeit eine positive Prognose gestellt werden konnte. Neue Straftaten seien von ihnen nicht zu erwarten. Zudem gebiete die Verteidigung der Rechtsordnung nicht die Strafvollstreckung. Diesbezüglich wurde auf die besondere Situation, aus der heraus die Taten begangen worden waren, verwiesen. 254 Zur Einwirkung auf N. hielt das Gericht dagegen eine Geldstrafe fiir ausreichend, weil dieser in der Hierarchie unterhalb der anderen Angeklagten gestanden und bereits vor der 3. Strafkammer ein Teilgeständnis abgelegt hatte und auch schwer an seiner moralischen Last trage. Bei ihm sei besonders zu berücksichtigen, daß er zwar Täter, aber gleichzeitig auch Opfer der Mitangeklagten gewesen sei. Zudem habe er die ihm erteilten Anweisungen sehr zögerlich und moderat ausgefiihrt. 255 Die Entscheidungen des BGH und der 4. Strafkammer des Landgerichts Dresden nach der Zurückverweisung verdienen Zustimmung. Im Rahmen der Gesamtwürdigung des § 59 Abs. l S. l Nr. 2 war insbesondere bei dem Angeklagten Dr. M. deutlicher auf seine Position in der Partei und bei den Wahlen 1989 abzustellen. Als Erster Sekretär war er im Bezirk Dresden der ranghöchste SED-Funktionär und damit die staatliche Autorität vor Ort. Er hatte die maßgebliche Position bei der Erfiillung staatlicher Aufgaben inne256 und damit die Organisationsherrschaft in seinem Bezirk auch fiir die Durchfiihrung der Kommunalwahlen. Diese setzte er bei den ihm Weisungsunterworfenen mit denselben Mitteln durch, wie es die SED-Zentrale Berlin ihm 253 254 255 256

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

2. Teil, 2. Teil, 2. Teil, 2. Teil,

D.X.2, D.X.2, D.X.2, D.X.2,

S. S. S. S.

122 Fn. 122 Fn. 122 Fn. 115 Fn.

249, LG Dresden, S. 26. 249, LG Dresden, S. 32. 249, LG Dresden, S. 26. 202, LG Dresden, S. 5-9.

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2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

gegenüber tat, nämlich mit der Drohung der Amtsenthebung im Falle des Widerstandes, obwohl seine politische Überzeugung nicht mehr dem offiziellen Kurs entsprach und er inneren Widerwillen gegen das zentrale Verlangen hegte. 257 Zwar spielten bei Dr. M. und den übrigen Angeklagten die Parteidisziplin und die zentrale Ausrichtung bei ihrem Vorgehen eine gewichtige Rolle. Das Landgericht Dresden hat insoweit ausgeführt, daß von ihnen "kein Heldentum zur Unzeit" zu verlangen gewesen sei. 258 Namentlich Dr. M. handelte indessen nicht als willenlose Marionette der Parteiführung. Er arbeitete nicht nach exakten Vorgaben, sondern mußte vielmehr eigenverantwortlich über die Vorgehensweise bei den Manipulationen entscheiden und für deren Durchführung Sorge tragen. Sein Verhalten war von dem Willen geprägt, die erworbene Macht und Autorität im System zu erhalten und sich diese für die Zukunft im Falle einer Parteireform im Sinne der "Perestroika" zu sichem. 259 Persönlicher Ehrgeiz und der Wille zum politischen Überleben beeinflußten sein Verhalten zumindest mit. Dafür war er bereit, seine revidierte politische Ansicht zur bisherigen Führungspolitik zu verleugnen und die Neinstimmen der Protestwähler zur Einheitspartei zu unterdrücken. Damit enttäuschte Dr. M. auch all diejenigen, die ihn als integeren und anderen politischen Auffassungen gegenüber toleranten und offenen Mann betrachtet260 hatten und dies zu einer Zeit, als der politische Umbruch sich bereits abzuzeichnen begann und nicht nur als bloße Vision einiger weniger Systemgegner existierte. Der Argumentation der 3. Strafkammer des Landgerichts ist schließlich entgegenzuhalten, daß eine "überlange, rechtsstaatswidrige Verfahrensdauer" schon aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlauts jedenfalls im Rahmen des § 59 Abs. I S. I Nr. 2261 keine Berücksichtigung finden darf. Denn ein Zeitraum von vier Jahren zwischen dem Tatgeschehen und der Aburteilung kann bei umfangreichen Sachverhalten und schwerwiegenden Delikten erforderlich und angemessen sein. Die Verteidigung der Rechtsordnung (§ 59 Abs. 1 S. I Nr. 3) gebietet, daß in der Bevölkerung nicht durch extrem divergierende Strafaussprüche zu dem Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 70. Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 125. 259 So auch 2. Teil, D.X.2, S. 120 Fn. 235, BGH, S. 27 f.; a.A. vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 124 f.; vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 122 Fn. 249, LG Dresden, S. 27, das dies strafmildernd bei der Bemessung der Höhe der Freiheitsstrafe berücksichtigte. Die unterschiedlichen Positionen zu diesem Punkt ergeben sich daraus, daß sein Schwergewicht jeweils verlagert wurde. Die Landgerichtskammern bewerteten das Bestreben um den Machterhalt vor dem Hintergrund, nach einer zukünftigen Parteireform an einer Neuordnung des Staates zugunsten der Bürger mitwirken zu können. Der BGH stellte dagegen auf den Erhalt der eigenen beruflichen Position und Sicherheit ab. 260 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 8. 261 So aber LG Dresden, S. 125, 130 (vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202) vgl. 2. Teil, D.VIII, S. 108 f. 257 258

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

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einheitlichen Komplex "Manipulation bei den letzten Kommunalwahlen der DDR 1989" der Eindruck entsteht, als würden die Gerichte Angeklagte unter Rücksichtnahme auf deren ehemalige Position in Partei und Staat und Mitwirken bei der Wiedervereinigung der Deutschen Staaten bevorzugen und milder bestrafen. Die Ausruhrungen im ersten Urteil des Landgerichts Dresden zu Unterschieden gegenüber anderen WahWilschungsprozessen überzeugen dagegen nicht. Zum Vergleich, welch krasses Mißverhältnis zwischen Tat und Sanktion im Fall M. herrschte, ist der Fall des ehemaligen Dresdener Oberbürgermeisters B. und des Ersten Sekretärs der SED-Stadtleitung Dresden Mo. zu nennen,262 die vom Bezirksgericht Dresden wegen Wahlfälschung und Anstiftung zur Wahlfälschung am 7.5.1989 in mehreren Fällen je zu Freiheitsstrafe von einem Jahr unter Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung verurteilt wurden. 263 Zwar waren dort weniger Angeklagte und nur eine bestimmte Stadt betroffen. Dies darf sich im Rahmen der Gesamtwürdigung der Tat jedoch nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken, da der Umfang des Prozeßstoffes ohne wesentlichen Belang fiir die Strafzumessung zu sein hat. In qualitativer Hinsicht bestand ebenfalls kein gravierender Unterschied, da auch die Stadt Dresden der Kontrolle, Einschüchterung und anderen Maßnahmen der "Mittag-Kommission" unterworfen war. 264 3. Der "Bugwellen-Prozeß"2~5

In diesem Verfahren vor der 6. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart mußten sich 1996 erstmals in der Bundesrepublik Deutschland Inhaber öffentlicher Ämter wegen Überschreitung des ihnen zur VerfUgung stehenden Haushaltsetats verantworten.266 Die Staatsanwaltschaft267 klagte den Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 53 ff., 63 ff., 68 ff. BGH, Urteil vom 26. 11.1992- g.B.u.M. 3 StR 319 / 92, BGHSt 39, 54 ff. = NStZ 1993, 231 ff. = NJW 1993, I 019 ff., vgl. dort die Ausführungen zur fortdauernden Strafbarkeit der Fälschung sozialistischer Kommunalwahlen in der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung; zur Rückwirkung milderen Rechts und Wiedervereinigung Schroeder, NStZ 1993, 216 ff. 264 Vgl. 2. Teil, D.X.2, S. 115 Fn. 202, LG Dresden, S. 20. 262

2 ~3

2 ~5 LG Stuttgart, Urteil vom 3.12.1996 - 6 KLs 276 / 95. Da die Urteilsgründe bis zur Fertigstellung der Arbeit aufgrundder eingelegten Revisionen nicht zur Verfügung standen, kann insoweit nur unter Vorbehalt auf die veröffentlichten Presseinformationen zurückgegriffen werden. Nach Bericht "G. Urteil nicht das letzte Wort", Stuttgarter Nachrichten vom 11.12.1996, S. I; W.-D. Obst, Fall G. geht in die nächste Runde, ebd., S. I 0; Bericht ,,Zweite Runde im G.-Prozeß", Stuttgarter Zeitung vom 11.12.1996. 266 Nach Bericht "Wirtschaftsstrafkammer verwarnt G. und Q.", FAZ vom 4.12.1996, Politik S. 4; J. Brand, Gericht: Schuldspruch aber Verwarnung, Stuttgarter Zeitung vom 4.12.1996: R. Nübel, Gericht verwarnt G., Stuttgarter Nachrichten vom 4.12.1996, S. I ; G. Wais, Kein Freibrief für Verschwender, ebd.

126

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

1990 zuständigen Generalintendanten Prof. G. und den ehemaligen Verwaltungsdirektor Q. der Stuttgarter Staatstheater wegen Untreue an, weil sie in diesem Jahr als haushaltsrechtlich Verantwortliche vom Haushalt nicht gedeckte Schulden zur "Förderung des künstlerischen Niveaus" in Höhe von 4,3 Mio. DM gemacht hatten, ohne die erforderlichen Genehmigungen der zuständigen Gremien einzuholen. Die entstandenen Defizite glichen sie nicht entsprechend dem damals für die Staatstheater geltenden kameralistischen Haushaltsprinzip bis Ende Dezember aus, sondern buchten diese zulasten des künftigen Haushaltes vor. Auf diese Weise schoben die Angeklagten ein Millioneruninus, die sogenannte "Bugwelle" vor sich her, ohne gegensteuernde Maßnahmen zu ergreifen. In der Hauptverhandlung war insbesondere im Hinblick auf die Strafzumessung das damals auf Expansion zielende kulturpolitische Klima in BadenWürttemberg und die damit zusammenhängende Frage, ob die Angeklagten darauf bauen konnten, daß wie in den zurückliegenden Jahren auf der politischen Ebene die Bereitschaft bestand, das Defizit auszugleichen, von zentralem Interesse. Im Laufe des Prozesses regte die Strafkammer eine Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a Abs. 2 StP0268 an, zu der die Staatsanwaltschaft jedoch die Zustimmung verweigerte, wobei sie sich auf die Zeugenaussage des ehemaligen Ministerpräsidenten Späth berief, der erklärt hatte, daß G. keinen Freibrief gehabt habe. 269 In ihren Plädoyers beantragten die Verteidiger Freisprüche, die Staatsanwaltschaft Geldstrafen für G. in Höhe von 60.000,- DM, - für Q. in Höhe von 46.000,- DM. 270 Im Urteil vom 3.12.1996 befand das Gericht Prof. G. und Q. der Untreue für schuldig, verwarnte sie deswegen und behielt die Verurteilungen zu Geldstrafen in Höhe von jeweils 150 Tagessätzen zu je 240,- DM für die Dauer einer einjährigen Bewährungszeit vor. Zusätzlich wurde den Angeklagten auferlegt, je 50.000,- DM an gemeinnützige Organisationen zu zahlen. Die Kammer sah es als erwiesen an, daß die beiden Angeklagten im Jahr 1990 mit bedingtem Schädigungsvorsatz den Haushaltsetat der Staatstheater um 2 Mio. DM überzogen hatten, indem sie allzu sorglos und risikofreudig mit den Steuergeldem umgingen und dabei das Gebot wirtschaftlicher und sparsamer Haushaltsführung ohne zwingenden Grund verletzten. Ungeachtet der 267 Nach R. Nübel, Eine Premiere voller Dramatik und mit viel Prominenz, Stuttgarter Nachrichten vom 30.9.1996, S. 3. 268 Nach Bericht "G.-Prozeß: Gericht fiir Einstellung", Stuttgarter Nachrichten vom 12.11.1996, S. I; R. Nübel, Bugwellen-Prozeß: Landgericht regt Einstellung an, ebd. S. 3. 269 Nach Bericht "G.-Prozeß: Späth wußte mehr", Stuttgarter Nachrichten vom 30.10. 1996, S. 1; R. Nübel, Späths Gedächtnislücken werfen heikle Fragen auf, ebd., S. 3. 270 Nach Bericht "Anklage: G. soll 60.000 Mark Strafe zahlen", Stuttgarter Nachrichten vom 23.11.1996, S. 1; G. Wais, Opfer von Lotbar Späths Kulturpolitik oder Täter?, ebd.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die§§ 59 ff.

127

politischen Zielsetzung, das künstlerische Niveau der Stuttgarter Staatstheater zu heben, sei der ihnen zur Verfugung stehende Finanzrahmen einzuhalten gewesen. Ein wirtschaftlicher Endschaden entstand nach Ansicht des Gerichts nicht, da das Land im Jahr 1991 mit finanzpolitischen Klimmzügen "die Bugwelle" durch einen Nachtragshaushalt auszugleichen vermochte. In der Belastung des Landes mit ungedeckten Verbindlichkeiten, die die zur Verfugung stehende Finanzmasse schmälerten, sah das Gericht aber eine Vermögensgefährdung. Bei der Strafzumessung wurde bei beiden Angeklagten von einer "nur geringen Schuld"271 ausgegangen. Da sie sich weder persönlich bereichert noch staatliche Gelder sinnlos verschwendet hätten, liege eine erhebliche Abweichung vom klassischen Täter einer Untreue vor. Zudem verneinte das Gericht bei ihnen angesichts einer Überziehung des Gesamthaushalts um lediglich 1,9% "eine besondere Bedenkenlosigkeit". Ihre Aussagen wurden als Geständnisse gewertet und die Belastung durch die lange Verfahrensdauer 72 und das große Medieninteresse beachtet. Berücksichtigung fand zudem die Untätigkeit der maßgeblichen Stellen, die in Kenntnis der Überschreitungen weder detaillierte Nachforschungen angestellt noch in das Geschehen eingegriffen hatten. Dabei gingen die Richter davon aus, daß die Angeklagten bei einem klaren Hinweis auf die Strafbarkeit ihres Tuns anders gehandelt hätten und nicht weiterhin von einer stillschweigenden Duldung ausgegangen wären. Schuldmindernd vermerkt wurde auch, daß trotz der weiten Verbreitung von Haushaltsetatüberschreitungen in Bund, Ländern und Kommunen Staatsbehörden bislang nicht eingriffen. Speziell zugunsten von G. berücksichtigte die Kammer, daß er schon wegen früherer Etatüberziehungen weder gerügt noch abgelöst worden war, er vielmehr eine Berufung als Staatsrat ins Kabinett erhielt, so daß er mit keinem Verfahren rechnen mußte. Letztendlich habe G. auch selbst die Umstrukturierung der Staatstheater eingeleitet.273 Der Angeklagte G. sah in dem Urteil wie bereits etliche andere prominente, unter Strafvorbehalt verwarnte Täter zuvor einen "moralischen Freispruch".274 Diese Ansicht läßt sich jedoch nicht teilen. Mit dem Ausspruch der Verwarnung mit Strafvorbehalt stellte das Gericht eindeutig klar, daß die Angeklagten schuldhaft gehandelt haben. Es ließ sich damit nicht von Äuße271 272

Vgl. 2. Teil, 0.11.2, S. 95. Vgl. 2. Teil, D.VIII, S. 108 f.

273 Nach Bericht "Heute ist alles anders", Stuttgarter Nachrichten vom 16.10.1996; G. Wais, Mayer-Vorfe1der: "Da muß Freispruch herauskommen", Stuttgarter Nachrichten vom 26.10.1996; R. Nübel, Bugwellen-Prozeß: Landgericht regt Einstellung an, Stuttgarter Nachrichten vom 12.11.1996. 274 Vgl. 2. Teil, D.IX.4, S. 113 Fn. 187.

128

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

rungen bekannter Politiker, welche sich bereits während des laufenden Prozesses mehr oder weniger direkt fiir einen Freispruch ausgesprochen hatten,275 bzw. in G. und Q. "als Künstler und nicht Profis" die falschen Angeklagten276 oder die Opfer eines politischen Dilemmas277 gesehen hatten, beeinflussen. Die in der Presse veröffentlichten Strafzumessungsgründe überzeugen auch im obigen Fall nur eingeschränkt. Zwar liegen Umstände vor, die die Tat in milderem Lichte erscheinen lassen. Dies gilt zum Beispiel fiir ihr Handeln ohne die Absicht einer persönlichen Bereicherung, wenn auch die Überziehung des Etats ihnen wenigstens mittelbar, nämlich ihrem Renommee, aus den Stuttgarter Staatstheatern eine bedeutende Bühne gemacht zu haben, zugute kam. Gleichfalls trifft dies auf die lange, aber nicht überlange Verfahrensdauer zu. Doch genügen diese strafinildemden Umstände fiir sich betrachtet kaum den Anforderungen der Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die übrigen von der Kammer zu ihrer Begründung herangezogenen Tatmodalitäten sind jedoch unter diesem Aspekt nicht kritiklos zu akzeptieren. Die Argumentation einer nicht zweck- oder bestimmungswidrigen Verwendung der Gelder geht an dem Vorwurf vorbei. Denn nicht zur VerfUgung stehende Mittel können nicht bestimmungsgemäß ausgegeben werden. Die Überlegung des Gerichts beruht auf der hier gerade unzulässigen Hypothese, daß wenn der Haushalt diese Mittel zugewiesen gehabt hätte, die vorgenommene Verwendung nicht zu beanstanden gewesen wäre. Ebensowenig stellt die Relation zwischen dem veruntreuten Vermögensbetrag und dem gesamten Haushaltsvolumen ein geeignetes Kriterium fiir eine Gewichtung der Schuld dar. Sie würde letztlich zu einer nicht begründbaren Privilegierung der Verwalter größerer Haushaltstitel fUhren. Daß G. bereits 1988 ein Gutachten über Strukturverbesserungen und über die Situation der Theater bestellte, kann ihn nicht nachhaltig entlasten, da er es grundsätzlich weiter beim alten Lauf der Dinge beließ ohne selbst regulierend einzugreifen und zu den Schlüssen des Gutachters auch jederzeit "ein ganz normaler Bürger" kommen konnte, wie der von 1978 bis 1991 zuständige Minister fiir Wissenschaft und Kunst Prof. Engler betonte.278 Erst Ende 1990 bestellte G. einen als geschickten Manager bekannten Theaterfachmann zu seinem Stellvertreter, der dann die überfällige Änderung des Finanzierungssystems in Angriff nahm. 279 275 Nach G. Wais, Mayer-Vorfelder: "Da muß Freispruch herauskommen", Stuttgarter Nachrichten vorn 26.10.1996. 276

Vgl. 2. Teil, D.X.3, S. 128 Fn. 275.

Nach G. Wais, Keine Arznei gefunden, um die Krankheit zu heilen, Stuttgarter Nachrichten vorn 29.10.1996. 278 Nach G. Wais, Theater hatten für mich keine Priorität, Stuttgarter Nachrichten vorn 31.10.1996. 277

279

Nach Bericht "Heute ist alles anders", Stuttgarter Nachrichten vorn 16.10.1996.

D. Bevorzugte Anwendungsfelder fiir die §§ 59 ff.

129

Auch der Gesichtspunkt, daß zuvor keine Anklagebehörde gegen die im gesamten Bundesgebiet weit verbreiteten Etatüberschreitungen vorgegangen war, erscheint nur auf den ersten Blick als ein schuldminderndes Moment. Tatsächlich würde damit nur das Vertrauen des einzelnen Straftäters in die Untätigkeit der Justiz geschützt. Da dieses Vertrauen aber in keiner schutzwürdigen Weise erworben wurde und es weder das Unrechtsbewußtsein noch die Schuld im übrigen berührt, sondern sich nur auf die Bestrafung als Konsequenz der Tat bezieht, begründet es keinen Strafmilderungsgrund. Schließlich ist die mit dem Verfahren einhergehende Medienbelastung nicht überzubewerten, da Personen des öffentlichen Lebens neben den von ihnen zum Teil durchaus geschätzten positiven Aspekten einer erhöhten Medienpräsenz als Gegenstück auch die damit verbundenen negativen Momente hinzunehmen haben, soweit diese sich in angemessenem Rahmen halten. In dem Interesse der Medien an einer aktuellen Prozeßberichterstattung kann daher keine allzu schwere Beeinträchtigung erblickt werden, da vorliegend soweit ersichtlich keine überzogen kritische Berichterstattung erfolgte. Eine abschließende Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 59 vorliegen, wird erst nach Abfassung und Bekanntgabe der schriftlichen Urteilsgründe möglich sein. Die Verhängung von Verwarnungen mit Strafvorbehalt für die beiden Angeklagten kündigte sich jedoch an, als die Kammer, die - wenn auch unter einem anderen Vorsitzenden - bereits im Stuttgarter Parteispendenprozeß280 entschieden hatte, mit der von ihr initiierten Verfahrenseinstellung scheiterte.281 Eine Parallele zum dortigen Verfahren speziell auch bezüglich der Argumentation ist nicht zu übersehen. Hier wie dort wurde die Untätigkeit der maßgeblichen Gremien zugunsten der Angeklagten berücksichtigt. Auch bestand eine starke Verflechtung zwischen den Angeklagten, der Politik und Verwaltung, die mehr oder weniger detaillierte Kenntnis vom Tatgeschehen hatten und trotzdem nicht einschritten bzw. es sogar unterstützten, dabei selbst aber zu keiner Zeit von den Justizorganen zur Verantwortung gezogen wurden. 282 Insgesamt gesehen trägt die Argumentation der 6. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart nicht dazu bei, das Vertrauen des Bürgers in den sorgsamen Umgang mit den von ihm gezahlten Steuern durch Politik und Verwaltung zu stärken, sowie die Verwarnung mit Strafvorbehalt als zutreffende Sanktion Außenstehenden verständlich zu machen und näher zu bringen. Es verbleibt der Anschein, als ob die §§ 59 ff. vornehmlich als Prominentenprivileg Verwendung finden würden. Vgl. 2. Teil, D.IX.2, S. 110 ff. Vgl. 2. Teil, D.l, S. 93 f. 282 Nach R. Nübel, Späths Gedächtnislücken werfen heikle Fragen auf, Stuttgarter Nachrichten vom 30.10.1996, S. 3. 280 281

9 Neumayor-Wagner

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2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

Abzuwarten bleibt die Revisionsentscheidung des BGH, wobei die Chancen der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf § 59 Abs. 2 nicht schlecht erscheinen.283 Denn G. wurde bereits im April 1996 von der 6. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart wegen Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrugs im Zusammenhang mit falschen Lohnabrechnungen von Hilfskräften bei den Ludwigsburger Schloßfestspielen zu einer Geldstrafe von 96.000,- DM verurteilt. 284 4. Die "Toto-Lotto-Affäre"

Ebenfalls mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt endete die sogenannte baden-württembergische "Toto-Lotto-Affäre"285 • Der ehemalige Ministerialdirektor im Finanzministerium und Vize-Aufsichtsratsvorsitzeode B. der landeseigenen Toto-Lotto GmbH billigte 1991 zehn Mitgliedern des Aufsichtsrates und der Geschäftsfiihrung, die zum Teil von ihren Ehefrauen begleitet wurden, eine dreitägige Reise nach Brüssel mit ausgeprägt touristischen Elementen. Die Reisekosten fiir die Frauen beliefen sich auf 12.000,- DM, mit denen er die Toto-Lotto-Gesellschaft belastete. Auch hier scheiterte eine gerichtlich angeregte Verfahrenseinstellung an der verweigerten Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Das Gericht erkannte wegen Untreue auf eine Verwarnung in Höhe von 15 Tagessätzen zu je 200,- DM in Verbindung mit einer einjährigen Bewährungsfrist. Nach der von der Presse mitgeteilten Urteilsbegründung wurde darauf verwiesen, daß zwar die Grundsätze von Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit aus der Haushaltsordnung nicht anzuwenden seien, aber nach allgemeinen kaufmännischen Grundsätzen eine kostenlose Mitnahme der Ehefrauen auf Gesellschaftskosten unzulässig sei, da die GmbH dadurch keinerlei Vorteile hatte. 5. Der "Stasi-RAF-Prozeß"

Bei dem letzten Verfahren handelte es sich um den sogenannten "StasiRAF-Prozeß"286, bei dem sich drei ehemalige Offiziere des Ministeriums für 283

Vgl. I. Teil, B.II.7.a), S. 58; 4. Teil, D.VII, S. 196 f.

LG Stuttgart, Urteil vom 24.4.1996 - 6 KLs 50 I 95; nach R. Nübe/, Eine Premiere voller Dramatik und mit viel Prominenz, Stuttgarter Nachricht vom 30.09.1996, S. 3; Bericht "Wirtschaftsstrafkammer verwarnt G. und Q.", FAZ vom 4.12.1996, Politik S. 4. 285 AG Stuttgart, Urteil vom 7.3. 1997- B 14 Cs 4552 I 95; nach: Bericht "Spitzenbeamter nach Lotto-Affäre verwarnt", Stuttgarter Nachrichten vom 8.3.1997, S. 12; Bericht "B. wegen Untreue verwarnt", Stuttgarter Zeitung vom 8.3.1997, S. I; Bericht "Früherer LottoAufseher wegen Untreue verwarnt", ebd. S. 6. Finanzminister Mayer-Voife/der wertete das Urteil als "Quasi-Freispruch" und als "schallende Ohrfeige" fiir die Staatsanwaltschaft. 286 LG Berlin, Urteil vom 7.3.1997 - (522) 2912 Js 231 190 KLs (21 195); nach: Bericht "Geldstrafen auf Bewährung im Stasi-RAF-Prozeß", FAZ vom 8.3.1997, S. I; Bericht "Symbolische Strafen im Stasi-RAF-Prozeß", Stuttgarter Zeitung vom 8.3.1997, S. 2. 284

D. Bevorzugte Anwendungsfelder für die §§ 59 ff.

131

Staatssicherheit der DDR vor dem Landgericht Berlin wegen versuchter Strafvereitelung verantworten mußten, weil sie zwischen 1980 und 1990 zehn steckbrieflich gesuchten Mitgliedern der "Rote-Armee-Fraktion" die Einreise in die DDR ermöglicht, ihnen falsche ldentitäten verschafft, sie bei ihrer Eingliederung in den Alltag dort finanziell unterstützt und ihre Enttarnung verhindert hatten. Alle Angeklagten wurden verwarnt. Die vorbehaltenen Geldstrafen beliefen sich auf 40, 100 bzw. 150 Tagessätze zu je 60,-, 50,- bzw. 25,-DM. Die gute Sozialprognose begründete das Gericht zum Teil mit dem relativ hohen Alter (68 bzw. 63 Jahre) der Angeklagten und bei zwei von ihnen mit der Vorstrafenfreiheit zur Zeit der Tat sowie mit dem Verlust ihrer Ämter. Die besonderen Umstände gern. § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 sah die Kammer in der Einmaligkeit der Situation und der besonderen Brisanz des Aussteigerkomplexes, welche sie an den Rand einer Pflichtenkollision brachte. Auch hätten die Angeklagten nicht bedacht, daß sie einmal für ihr Tun zur Verantwortung gezogen werden könnten. Ferner würde sich die Tat deutlich von Durchschnittsfällen abheben. Besondere Umstände in der Persönlichkeit der Angeklagten hielt das Gericht wegen ihrer Einbindung in die militärische Struktur des Ministeriums für Staatssicherheit gegeben, wo der Schutz des eigenen Staates und die Verhinderung weiterer Straftaten durch die "RAF"Aussteiger Priorität gehabt habe. Wegen der historischen Einmaligkeit der Situation vertrat das Landgericht die Auffassung, daß die Verhängung einer Strafe unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtordnung nicht erforderlich sei.

XI. Allgemeines zu den Fallgruppen Es fällt auf, daß die §§ 59 ff. im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte einen deutlichen Schwerpunkt besitzen.287 Betrachtet man die Entscheidungen, die mit einer Verwarnung mit Strafvorbehalt endeten, zeigt sich, 287 Eigentums- und Vermögensdelikte, die gemäß § 59 geahndet wurden (Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1976, Tab. 7.3, seit 1989 Tab. 3.4):

Jahr

§ 242

§ 263

1976 1989 1990 1991 1992 1993 1994

254 402 447 403 386 409 378

108 936 1.015 972 990 985 1.038

132

2. Teil: Die praktische Handhabung der Verwarnung mit Strafvorbehalt

daß sich die Begründung zumeist nicht nur auf ein charakteristisches Fallgruppenrnerkmal beschränkt, sondern ein Sachverhalt oftmals eine Kombination mehrerer Gruppen in sich vereinigt. Die Entscheidung zugunsten der Verwarnung mit Strafvorbehalt stützt sich damit in der Regel nicht nur auf eine konkrete Anwendungsgruppe, sondern kann mehreren zugeordnet werden. Eine allgemeine Bewertung des Umgangs der Gerichte mit der Verwarnung mit Strafvorbehalt ist nicht möglich, weil sich auch die juristischen Fachzeitschriften zumeist darauf beschränken nur die Leitsätze beziehungsweise Urteilsausschnitte zu zitieren und im übrigen Sachverhalt und Urteilsbegründung nur sehr verkürzt wiedergeben. Ob bei den Gerichten Klarheit über die Auslegung der Tatbestandsmerkmale herrscht, ist nur schwer zu beantworten. Es fällt bei den im Original vorliegenden Urteilen zur Verwarnung mit Strafvorbehalt auf, daß sie sich bei den Tatbestandsmerkmalen der "günstigen Sozialprognose" und der "Verteidigung der Rechtsordnung" zumeist mit einer Wiederholung des Gesetzestextes begnügen. Weitergehende Ausführungen finden sich in den Urteilsgründen allenfalls zu der "Würdigkeitsklausel". Augenscheinlich sehen die Gerichte in den Rechtsfragen zur Verwarnung mit Strafvorbehalt keinen Schwerpunkt des Urteils. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Rechtsinstitut findet in der Regel erst in der Revisionsinstanz statt. Es käme der Verwarnung mit Strafvorbehalt zugute, wenn auch die Tatsachengerichte zukünftig versuchen würden, den §§ 59 ff. durch eine vertiefte Auswertung des Sachverhalts im Hinblick auf die Tatbestandsmerkrnale mehr Substanz zu verleihen, und dem Rechtsinstitut dadurch zu mehr Transparenz und Akzeptanz zu verhelfen, daß sie die hinter ihm stehende Intention deutlicher herausarbeiten.

3. Teil

Zukunftsperspektiven im unteren Sanktionenbereich A. Allgemeiner Überblick Zur Ahndung der Fälle leichterer Kriminalität steht die Geldstrafe als ambulante Hauptstrafe in Konkurrenz zur Verwarnung mit Strafvorbehalt und der prozessualen Einstellung gemäß § 153a StPO. Ein Problem, das sich bereits seit geraumer Zeit angedeutet und durch die deutsche Wiedervereinigung verstärkt hat, folgt aus der faktischen Begrenztheit der Geldstrafe, die ein prosperierendes Wirtschaftssystem mit einem hohen Beschäftigungsgrad und damit ein eigenes Einkommen fast aller erwachsenen Bürger voraussetzt. Gegenwärtig und wohl auch in absehbarer Zukunft trifft dies auf die Bundesrepublik Deutschland nicht zu. Die besonders betroffenen Personengruppen, wie Langzeitarbeitslose, Kranke, Alte und Obdachlose sind trotz des Tagessatzsystems der Geldstrafe, das deren Anpassung an die Vermögensverhältnisse des jeweiligen Täters dient, oft nicht zur Zahlung der gegen sie verhängten Geldstrafe imstande, so daß fiir sie eine erhöhte Gefahr besteht, eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen zu müssen. Die Geldstrafe droht fiir sie zu einer verkappten Freiheitsstrafe zu werden, 1 da das geltende Recht bei ihr keine Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung vorsieht. Eine Ausdehnung der Geldstrafe ist deshalb im unteren Kriminalitätsbereich bei einer zukünftigen Reform des Sanktionensystems aufgrund der allgemein schlechten Wirtschafts- und Beschäftigungssituation, die die Arbeitslosigkeit und Bildung sozialer Randgruppen fordert, nicht angebracht. Andernfalls besteht die Gefahr, daß die Strafrechtsreform aufgrund der veränderten sozialen Verhältnisse ins Leere läuft, weil sich der Vollzug kurzfristiger Ersatzfreiheitsstrafen wieder häufen würde. 2 Ein zentraler Punkt der künftigen Kriminalpolitik wird daher die Erweiterung des ambulanten Reaktionsspektrums unterhalb der Geldstrafe sein. Dies kann zum einen durch die Einfiihrung neuer selbständiger ambulanter MaßAlbrecht, Strafzwnessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 316 f. Grebing, Die Geldstrafe im deutschen Recht nach Einführung des Tagessatzsystems, in: Jescheck ! Grebing, Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 40 Fn. 112. 1

2

134

3. Teil: Zukunftsperspektiven im unteren Sanktionenbereich

nahmen geschehen, die die Geldstrafe in Teilbereichen ablösen, zum anderen durch Erweiterung bereits vorhandener Sanktionen.

B. Ausbau des§ 153a StPO Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, den Anwendungsbereich des § 153a StPO zu erweitern. Indessen bestehen keine Ansatzpunkte, die zu der rechtlichen Umsetzung eines solchen Vorhabens beitragen könnten. Abstriche an der Norm lassen sich nicht vornehmen, solange noch auf eine der Schuld des Täters angemessene Minimalahndung von Straftaten Wert gelegt wird. Die Begrenzung der Verfahrenseinstellung durch die Schwere der Schuld und die Erfiillung von Auflagen und Weisungen, die geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, ist unverzichtbar. Eine Erweiterung des Auflagen- und Weisungskatalogs verheißt ebenfalls keinen Erfolg. Denn ein Defizit an Auflagen und Weisungen, das bisher eine sinnvolle Nutzung des § 153a StPO fiir bestimmte Täter- und Deliktsgruppen verhindert hätte, ist nicht ersichtlich. Überdies wäre ein Ausweichen von der Geldstrafe unmittelbar auf die Einstellung gemäß § 153a StPO systematisch kaum zu rechtfertigen, bevor insoweit nicht die zwischen diesen Sanktionsformen angesiedelte Verwarnung mit Strafvorbehalt zumindest in Erwägung gezogen wurde.

C. Ausbau des materiellrechtlichen Sanktionensystems I. Fragestellung Für einen zukünftigen Ausbau des Rechtsfolgensystems unterhalb der Geldstrafe kommt daher die Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht. Die gerichtliche Praxis wendet sie bis zum heutigen Tage viel seltener an, als dies den Vorstellungen des Gesetzgebers bei der Einfiihrung des Instituts entsprach.3·4 Auf hundert Verurteilungen in Gerichtsverfahren entfällt noch nicht einmal eine Verwarnung mit Strafvorbehalt Es drängt sich daher die Frage auf, ob es fiir das zukünftige Sanktionensystem nicht von Vorteil wäre, wenn andere Sanktionen zur VerfUgung stünden, die die §§ 59 ff. ergänzen oder sogar ersetzen könnten. Vgl. 2. Teil, A, S. 73. Auch die Autoren des AE rechneten hinsichtlich der Verwarnung unter Strafvorbehalt und des Schuldspruchs unter Strafverzicht mit jährlich zehntausend Verurteilungen, Quensel, Der Alternativ-Entwurf in Zahlen, S. 51 . 3

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C. Ausbau des materiellrechtlichen Sanktionensystems

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II. Alternativen zur Verwarnung mit Strafvorbehalt 1. Geldstrafe zur Bewährung

a) Bedürfnis nach einer Geldstrafe zur Bewährung Im Erwachsenenstrafrecht der Bundesrepublik Deutschland dominiert die Geldstrafe. 5 Den zu einer Geldstrafe Verurteilten verweigert das StGB bislang eine Bewährungschance. Es stellt nicht darauf ab, ob die Vollstreckung der Strafe unter Berücksichtigung des Bewährungsaspekts auch bei der - im Verhältnis zur Freiheitsstrafe - milderen Geldstrafe verzichtbar ist.6 Das Rechtsfolgensystem weist also eine Lücke auf. 7 Sie ist Außenstehenden und erst recht unmittelbar damit Konfrontierten kaum plausibel zu machen, zumal unter anderem das Bedürfnis nach einer Gleichbehandlung von Mittätern, bei denen der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte eine Bewährungschance erhalten kann, der zu einer Geldstrafe Verurteilte hingegen nicht, für eine Einfiihrung der Geldstrafe zur Bewährung spricht. 8 Als Ersatz fiir die Verwarnung mit Strafvorbehalt kommt somit zunächst eine Geldstrafe zur Bewährung in Betracht, da die §§ 59 ff. deren Funktion einer bedingten Strafnachsicht bei der Geldstrafe - analog zur Freiheitsstrafe zur Bewährung - nicht übernehmen konnten. 9

s 1994 wurden 693.432 Personen nach allgemeinem Strafrecht verurteilt, davon 578.419 (83,4%) zu einer Geldstrafe (Quelle: Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 1994, Tab. 2.3). 6 Hirsch, ZStW 102, 551. 7 Verh. 59. DJT, Teil 0, Caesar, S. 66. 8 Für die Einführung der Geldstrafe zur Bewährung: Schönke I Schröder-Stree, § 56 Rn. 10; Ulsamer, S. 782; Grebing, ZStW 88, lll4 f. = Auslandsteil440 f.; Zipf, in: FS für Jescheck, S. 983 ff.; - für die Einführung der Geldstrafe zur Bewährung anstelle der Verwarnung mit Strafvorbehalt: Grebing, Die Geldstrafe im deutschen Recht nach Einführung des Tagessatzsystems, in: Jescheck!Grebing, S. 133; ders., Die Geldstrafe in rechtsvergleichender Darstellung, in: Jescheck / Grebing, S. 1355; Schmidt-Hieber, NJW 1992, 2003; - für die Einführung der Geldstrafe zur Bewährung neben der Verwarnung mit Strafvorbehalt: Hirsch, ZStW I 02, 551 ff.; § 58a, BT-Drs. I 0 I 3636, S. 3 Art. I Nr. 2; § 40a, BT-Drs. 1216141, S. 4 Art. I Nr. 2, S. 9 I. B. Ziff. 3 a), S. 10 II. Ziff. I zu Art. I Nr. 2; - gegen die Einführung der Geldstrafe zur Bewährung: Zipf, ZStW 86, 535; Weigend, GA 1992, 355; Dölling, ZStW 104, 274. 9 Weber, in: Gedächtnisschrift für Horst Schröder, S. 177; Zipf, in: FS für Jescheck, s. 979.

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3. Teil: Zukunftsperspektiven im unteren Sanktionenbereich b) Die Formen der Geldstrafe zur Bewährung

Die Geldstrafe zur Bewährung läßt sich in einer voll- und in einer teilbedingten Form ausgestalten. Bei der vollbedingten Geldstrafe zur Bewährung verkündet das Gericht nach Abschluß der Hauptverhandlung einen unbedingten Schuld- und Strafausspruch, der auf eine Geldstrafe lautet. Deren Vollstreckung wird im Urteil unter der Bedingung künftiger Bewährung fiir eine bestimmte Zeit ausgesetzt. Steht der Verurteilte diese ohne erneute Straffälligkeit durch, so tritt der Vollstreckungserlaß entweder kraft Gesetzes oder aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses ein.10 Bei der teilbedingten Geldstrafe spaltet das Gericht die verhängte Geldstrafe in einen bedingten und einen unbedingten Teil auf. Der unbedingte Teil der Strafe ist stets zu bezahlen. Die Vollstreckung des bedingt verhängten Teils wird zur Bewährung ausgesetzt, die erst im Fall der Nichtbewährung widerrufen wird. c) Die Ausgestaltung einer vollbedingten Geldstrafe zur Bewährung Als Diskussionsbasis für eine Geldstrafe zur Bewährung bietet sich § 40a des SPD-Entwurfs 11 vom ll.ll.l993 zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems an. Der Anwendungsbereich der Geldstrafe zur Bewährung soll nach § 40a Abs. 1 S. 1 SPD-Entwurf grundsätzlich auf Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen beschränkt sein. Abs. 2 erfaßt als Ausnahmeregelung die darüber hinausgehenden Geldstrafen. § 40a Abs. 1 SPD-Entwurf ist als zwingende Vorschrift ausgestaltet. 12 Elementares und einziges Tatbestandsmerkmal des § 40a Abs. 1 S. 1 SPD-Entwurf ist die günstige Sozialprognose des Täters, die darauf abstellt, ob bereits die Verurteilung zu dessen Warnung ausreicht, daß also der Verurteilte auch ohne eine Strafvollstreckung von der Begehung weiterer Straftaten Abstand nimmt. Die bei der Prognoseentscheidung zu berücksichtigenden Faktoren, wie die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände der Tat, seine Lebensverhältnisse oder die für ihn zu erwartenden Auswirkungen der Strafaussetzung sind beispielhaft in § 40a Abs. I S. 2 SPD-Entwurf aufgeführt.

§ 40a Abs. 2 SPD-Entwurf erweitert die Grundvorschrift des Abs. 1 um das Tatbestandsmerkmal der sogenannten "Umständeklausel" und stellt ihre Anwendung insoweit in das richterliche Ermessen ("Das Gericht kann unter 10 11

Vgl. I. Teil, A.II.7, S. 21. BT-Drs. 12 / 6141 , S. 4 Art. I Nr. 2.

12 " • ••

setzt das Gericht ... aus".

C. Ausbau des materiellrechtlichen Sanktionensystems

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den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Geldstrafe zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen"). Für Geldstrafen von mehr als 180 Tagessätzen soll es damit grundsätzlich bei der Strafvollstreckung bleiben und deren Aussetzung zur Bewährung eingegrenzt werden.

§ 40a Abs. 3 SPD-Entwurf verweist insgesamt auf die §§ 56a-56g. Bei der Geldstrafe zur Bewährung sollen in bezug auf die Bewährungszeit, Auflagen, Weisungen, Bewährungshilfe, nachträgliche Entscheidungen, Widerruf und Straferlaß die gleichen Regelungen wie bei der Freiheitsstrafe zur Bewährung gelten. d) Vergleich des § 40a SPD-Entwurf mit den §§ 59 ff. Beide Rechtsinstitute kennen eine vollständige öffentliche Hauptverhandlung, die mit einem Schuldspruch und der Festsetzung eines konkreten Strafausspruchs endet. Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt erfolgt jedoch keine Verurteilung. Dazu kommt es erst, wenn sich der bis dahin nur Verwarnte nicht bewährt. Die Geldstrafe zur Bewährung ist dagegen eine Verurteilung, und nur die Strafvollstreckung wird bedingt ausgesetzt. Den Täter trifft die Bemakelung mit einer Vorstrafe, die in das Bundeszentralregister und - bei einer Strafe ab 90 Tagessätzen - auch in das polizeiliche Führungszeugnis Eingang findet (vgl. §§ 32 Abs. I, 2 Nr. 5a, 4 Nr. I BZRG). Die Sanktion "Geldstrafe zur Bewährung" ist nach ihren Auswirkungen im Rechtsfolgensystem des StGB somit zwischen der Geldstrafe und der Verwarnung mit Strafvorbehalt anzusiedeln.

§ 40a Abs. 1 S. 1 SPD-Entwurf beschränkt sich wie § 59 Abs. I S. 1 auf Geldstrafen bis zu I80 Tagessätzen und sieht wie § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. I das Erfordernis der günstigen Sozialprognose vor. Die Erwartungsklausel ist im Bereich der §§ 59 ff. vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Verwarnung mit Strafvorbehalt eine grundsätzlich rechtstreue Person als Angeklagten voraussetzt, die nur unter ganz besonderen Umständen straffallig wurde. Die Prognose einer straffreien Führung ohne eine Verurteilung ist daher nicht nur Bedingung für den Vorbehalt der Strafe. Sie ist vielmehr Tatbestandsmerkmal der Sanktion an sich, also Grundlage des auf die Verwarnung mit Strafvorbehalt erkennenden Urteils insgesamt und nicht nur - wie bei der Geldstrafe zur Bewährung - der von der Geldstrafe unabhängigen Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung.

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3. Teil: Zukunftsperspektiven im unteren Sanktionenbereich

Die Sozialprognose des § 40a Abs. I S. I SPD-Entwurf steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bewährungsentscheidung. Sie stellt die Frage, ob sich der Verurteilte unter dem Druck eines drohenden Vollzugs der verhängten Strafe straffrei führen wird und zielt damit auf seine Resozialisierungsfahigkeit ab. Die Prognoseentscheidung des § 59 verfolgt - zumindest vom theoretischen Ansatz her - keine solche Pression, weil kein Resozialisierungsbedarf bei dem Verwarnten besteht. Da sich aber auch diese Regelung inhaltlich an die §§ 56 ff. anlehnt, 13 ist die günstige Sozialprognose bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt und der Geldstrafe zur Bewährung mit derjenigen bei der Freiheitsstrafe zur Bewährung identisch. 14 Im Unterschied zur Verwarnung mit Strafvorbehalt kennt § 40a Abs. 1 SPD-Entwurf keine weiteren einengenden Anwendungsvoraussetzungen wie die "Würdigkeitsklausel" oder die "Verteidigung der Rechtsordnung". Weiter fallt die sowohl im Mindest- wie auch im Höchstmaß längere Bewährungszeit bei der Geldstrafe zur Bewährung auf, die im Gegensatz zu der Frist von einem bis zu drei Jahren des § 59a Abs. I S. 2 nach den §§ 40a Abs. 3 SPDEntwurf, 56a Abs. I S. 2 zwischen zwei und fünf Jahren liegt. Die Regelung von Auflagen und Weisungen stimmt teilweise überein. Bei beiden Sanktionen läßt das Gesetz die Auflage der Schadenswiedergutmachung (§§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 59a Abs. 2 S. 1 Nr. I, 2. Alt.) und der Zahlung eines Geldbetrags zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse (§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 4; § 59a Abs. 2 S. I Nr. 3) zu. Keine Entsprechung bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt hat die Auflage, gemeinnützige Leistungen zu erbringen(§ 56b Abs. 2 S. I Nr. 3). Bei den Weisungen sieht die Geldstrafe zur Bewährung einen weitaus umfangreicheren Katalog vor als die Verwarnung mit Strafvorbehalt, kennt aber im Gegensatz zu dieser keinen Täter-Opfer-Ausgleich (§ 59a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 1. Alt.). Gemeinsam sind beiden die Weisungen, seinen Unterhaltspflichten nachzukommen (§§ 56c Abs. 2 Nr. 5, 59a Abs. 2 S. I Nr. 2), sich einer ambulanten Heilbehandlung oder Entziehungskur zu unterziehen (§§ 56c Abs. 3 Nr. I, 59a Abs. 2 S. I Nr. 4) und an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen (§§ 56c Abs. 2 Nr. 115 , 59a Abs. 2 S. I Nr. 5).

Vgl. BT-Drs. 12 I 6141, S. 10 II. Ziff. I zu Art. I Nr. 2. Vgl. LK-Gribbohm, § 59 Rn. 6, §56 Rn. 10 ff., der bei den Prognoseanforderungen des § 59 Abs. I S. I Nr. I und denjenigen bei der Strafaussetzung zur Bewährung von einer "Deckung im wesentlichen" ausgeht. 15 Tröndle, § 56c Rn. 5, ordnet die Weisung der verkehrsrechtlichen Nachschulung unter die Alternative "Arbeit" des § 56c Abs. 2 Nr. I ein. 13

14

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C. Ausbau des materiellrechtlichen Sanktionensystems

e) Auslandserfahrungen 16

In den Beratungen des Bundestags kamen die guten Erfahrungen etlicher europäischer Staaten mit der Aussetzung der Geldstrafe zur Bewährung zur Sprache. 17 Aufgrund der Vielzahl der in den einzelnen Ländern verwirklichten Formen kann an dieser Stelle nur in einem kurzen Überblick auf die Praxis der ausländischen Regelungen eingegangen werden. Bereits zu Beginn der Strafrechtsreformbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts führten eine Vielzahl von Ländern eine Geldstrafe zur Bewährung in diversen Ausgestaltungen, als voll- beziehungsweise teilbedingte Variante, mit Auflagen, insbesondere der Schadenswiedergutmachung,18 und Weisungen versehen ein. Länder Belgien 19 Frankreich20 ltalien21 Niederlande22 Dänemark23 Norwegen23 Finnland23 Österreich24 Japan25 Ungarn26

Vollbedingte GeldTeilbedingte Geld- Auflagen Weisungen strafe z. Bewährung strafe z. Bewährung

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16 Die folgenden Ausfiihrungen beziehen sich insbesondere auf das von Jescheck / Grebing herausgegebene Werk "Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht", 1978. Dieses stellt (Jescheck!Grebing, ebd. S. 8) überwiegend die im Dezember 1976 geltende Rechtslage dar. 17 BT-Drs. 12/1768, S. 7 Ziff. 5.5; BT-Drs. 12/3718, S. 15 Ziff. 5.5; BT-Drs. 12 / 6141, S. 9 I. B. Ziff. 3a). IR Grebing, Die Geldstrafe in rechtsvergleichender Darstellung, in: Jescheck / Grebing, s. 1311. 19 Simon-Kreuzer, Die Geldstrafe in Belgien, in: Jescheck / Grebing, S. 323. 20 Teufel I Prade/, Die Geldstrafe in Frankreich, in: Jescheck/Grebing, S. 427. 21 Bosch, Die Geldstrafe in Italien, in: Jescheck/ Grebing, S. 483 ff. 22 Schaffmeister, Die Geldstrafe und ihre Erneuerung in den Niederlanden, in: Jescheck/ Grebing, S. 617 f. 23 Ermgassen, Die Geldstrafe in den nordischen Ländern, in: Jescheck / Grebing, S. 921 f. 24 Driend/, Entwicklung und Neuregelung der Geldstrafe nach dem Tagessatzsystem in Österreich, in: Jescheck/Grebing, S. 706 f. 25 Nishihara, Die Geldstrafe im japanischen Strafrecht, in: Jescheck/Grebing, S. 539 f. 26 Györgyi, Die Geldstrafe in Ungarn, in: Jescheck / Grebing, S. 1036 f.

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3. Teil: Zukunftsperspektiven im unteren Sanktionenbereich

Tatsächlich gibt es Länder in Europa, in denen der Geldstrafe zur Bewährung eine große zahlenmäßige Bedeutung zukommt. Zum Beispiel in Italien27 und in Belgien28 erreicht sie einen beachtlichen Anwendungsbereich. In Österreich nimmt sie in einzelnen Regionen eine starke Position im Sanktionengefüge ein, während sie allerdings in anderen Teilen des Landes wenig Bedeutung besitzt.29 Diese Erfolge der Geldstrafe zur Bewährung sind allerdings kein Präjudiz für ihre Tauglichkeit, das deutsche Sanktionensystem verbessern zu können. Insbesondere ist der Verweis auf ausländische Erfahrungen ohne Rücksichtnahme auf das dort herrschende, möglicherweise völlig anders ausgestaltete rechtliche Umfeld ohne eine Verwarnung mit Strafvorbehalt oder eine mit § 153a StPO vergleichbare Regelung wenig ergiebig. Tatsächlich gab es weder in Belgien30 noch in Italien31 in den erfaßten Jahren solche Sanktionsalternativen zu der Geldstrafe. Die Sachverhalte, die dort mit der Geldstrafe zur Bewährung geahndet werden, fallen in Deutschland wenigstens zum Teil in den Anwendungsbereich des § 153a StPO und der Verwarnung mit Strafvorbehalt Damit die Geldstrafe zur Bewährung diese Sanktionen hier verdrängen könnte, müßte sie ihre Überlegenheit durch materielle Vorteile ausweisen. j) Argumente zugunsten einer Geldstrafe zur Bewährung

Unter dogmatischen Gesichtpunkten bietet sich die Einführung der Geldstrafe zur Bewährung an, weil mit ihr eine geschlossene Kette von Sanktionsfolgen im StGB entstünde, beginnend bei der Freiheitsstrafe als stärkster Sanktion, über die Freiheitsstrafe zur Bewährung und die Geldstrafe bis zu der Geldstrafe zur Bewährung. Die Diskrepanz, nur die bei schwereren Straftaten verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen zu können, die bei leichteren Taten angewendete Geldstrafe aber nicht, wäre damit ausgeräumt. Für eine Einbeziehung der Geldstrafe zur Bewährung in das deutsche Rechtsfolgensystem spricht zudem, daß dem Täter mehr finanzielle Mittel zur Befriedigung der Schadenersatzansprüche des Opfers bleiben, weil er im Be27 1967 wurden in Italien von 23.194 Verurteilungen zu Geldstrafen 9.890 zur Bewährung ausgesetzt. Dies entspricht einem Anteil von 42,64%, zit. nach Molinari, Statistische Angaben über die Geldstrafe in Italien, in: Jescheck!Grebing, S. 509, 516 Tab. 5. 28 1965- 1968 betrug in Belgien der prozentuale Anteil von Geldstrafen zur Bewährung fast 20% bei den Korrektionalgerichten in 1. Instanz, 1969 30% bei den Korrektionalgerichten als Berufungsinstanz über polizeigerichtliche Urteile und im gleichen Jahr 18% bei den Polizeigerichten, zit. nach Simon-Kreuzer, S. 304. 29 Der Anteil an bedingten Geldstrafen betrug in Österreich 1975 zwischen 0% (Bezirksgericht Wien) und 74% (Landgericht Innsbruck), zit. nach Driendl, S. 719 Tab. 5. 30 Simon-Kreuzer, S. 311.

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Bosch, S. 473.

C. Ausbau des materiellrechtlichen Sanktionensystems

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währungsfall keine Geldstrafe bezahlen muß. 32 Ein positiver Nebeneffekt ließe sich mit der Einführung der Geldstrafe zur Bewährung insoweit erzielen, als das weit verbreitete Mißverständnis, die Verwarnung mit Strafvorbehalt sei eine zur Bewährung ausgesetzte Geldstrafe, beseitigt werden könnte. 33

g) Entwicklungsgeschichte Nachdem sich die ursprüngliche Zweckbestimmung der Strafrechtsreform, die völlige Abschaffung der kurzfristigen Freiheitsstrafe, dahin gewandelt hatte, daß die Suche nach neuen ambulanten, spezialpräventiven Resozialisierungsmöglichkeiten für den Täter in den Vordergrund trat, um die kurzfristige Freiheitsstrafe auf diesem Weg einzudämmen, stand die Geldstrafe zur Bewährung seit 192234 mehrfach als Ergänzung des strafrechtlichen Sanktionenkatalogs zur Diskussion. Ihre Befürworter vermochten sich jedoch weder in der Großen Strafrechtskommission35 noch im Sonderausschuß Strafrechtl6 oder bei späteren Gesetzesänderungen durchzusetzen. Daß weder der E 196237 noch das 1. StrRG oder der AE die Geldstrafe zur Bewährung vorsahen, bringt keine generelle Ablehnung dieser Sanktionsform zum Ausdruck. Der AE sah in diesem Kriminalitätsbereich eine voll ausgebaute Verwarnung unter Strafvorbehalt vo~ 8 , benötigte also eine zur Bewährung ausgesetzte Geldstrafe nicht. Der 59. DJT39 betrachtete die Einführung des Rechtsinstituts nur für den Fall als theoretisch wertvolle Alternative, daß die §§ 59 ff. nicht ausreichten, um eine Schadenswiedergutmachung herbeizuführen. Bei welcher Art von BT-Drs. 12 / 6141, S. 9 I. B. Ziff. 3a). So überschrieb z.B. die FAZ (vom 24.10.1991, D li Politik) den Bericht zum Urteil über den sogenannten "Hamburger Kessel" mit "Hohe Geldstrafen verhängt", obwohl das Urteil auf Verwarnungen mit Stratvorbehalt lautete. 34 Vgl. § 35 E 1922; § 35 E 1925; § 40 E 1927 und§ 40 E 1930. 35 In der Großen Strafrechtskommission wurde die Geldstrafe zur Bewährung bei den Beschlüssen ausgeklammert, NS !li, Anhang, Nr. 13, Umdruck K 26, S. 350. 36 Hierzu Corves, Sa V. Wp., II 0. Sitzung, S. 2151; für die Geldstrafe zur Bewährung: Schafheut/e, Sa IV. Wp., 25. Sitzung, S. 453; ders., Sa V. Wp., 49. Sitzung, S. 904; Sturm, Sa V. Wp., 32. Sitzung, S. 615; ders., Sa V. Wp., 33. Sitzung, S. 638; Corves, Sa V. Wp., 102. Sitzung, S. 2018 f. 37 § 71 E 1962, S. 197. 38 § 57 AE, I. Aufi., S. I 06 f., 2. Aufi., S. 112 f. 32 33

39 NJW 1992, 3022 VII. 2. 3. Alt. (Antrag Prof. Rieß): "Die Möglichkeit, die Geldstrafe zur Bewährung auszusetzen, soll allenfalls dann und insoweit in Betracht gezogen werden, wenn diese Maßnahme bewirken kann, den Vorrang der Entschädigung des Verletzten zu ermöglichen und hierzu die Möglichkeiten der Verwarnung mit Stratvorbehalt nicht ausreichen", angenommen mit 42:28:6 Stimmen.

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3. Teil: Zukunftsperspektiven im unteren Sanktionenbereich

Sachverhalten dies der Fall sein sollte, wurde jedoch offengelassen. Da sowohl die Verwarnung mit Strafvorbehalt als auch § 153a StPO Schadenswiedergutmachungsauflagen ohne eine weitere finanzielle Belastung des Täters erlauben, sind solche schwerlich vorstellbar. Aufgrund einer Vielzahl von Bedenken konnten sich schließlich weder der 59. D.rr