Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945–1990): Eine ordnungstheoretische Analyse 9783515118446, 3515118446

Mit Hilfe der KPD/SED-Kader übertrug die Sowjetische Militäradministration (SMAD) nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges

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Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945–1990): Eine ordnungstheoretische Analyse
 9783515118446, 3515118446

Table of contents :
ZWEITER TEIL
I. Die Neustrukturierung der globalen Einflußsphären nach 1945. Gründung der beiden deutschen Teilstaaten 1949 – Integration der Bundesrepublik in die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG). Die DDR wird Teil des „Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW)
1. Staatsordnung und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion als Führungsmächte in der bipolaren Welt nach 1945
2. Das von der Sowjetunion geführte sozialistische Lager
2.1. Stalins aggressive Strategie der dritten Etappe der sowjetischen Expansion
2.2. Wosnessenski, N. A.: Die Kriegswirtschaft der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges (1941-1945) und globale Standortbestimmung der Sowjetunion (1947)
2.3. Auszüge aus dem Drahtbericht von George F. Kennan aus Moskau vom 22. Februar 1946 und aus „Die Vereinigten Staaten und Rußland“ (Winter 1946)
3. Die Staats- und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika als Vorbild für die Bundesrepublik und die der Sowjetunion als Vorbild für die Deutsche Demokratische Republik
4. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik
4.1. „Mit dem 23. Mai 1949 trat die Bundesrepublik Deutschland ein in die Geschichte“
4.2. Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949
5. Die Grundlagen der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
5.1. Die Bedeutung und Ausgangssituation bei der Staats- und Rechtsordnung als übergeordneter Rahmen für die Gestaltung der Wirtschaftsordnungen
5.2. Die Entwicklung der beiden deutschen Teilstaaten
5.3. Merkmale der neu geschaffenen Staats- und Rechtsordnung in der SBZ / DDR
6. Die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG) und der „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) waren in die Ost-West-Konfrontation eingebettet
6.1. Wirtschaftliche Integration der „Europäischen Gemeinschaften“ (EG)
6.2. Naturalhandel und keine integrierte internationale Wirtschaft im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)
II. Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949: Die SBZ / DDR wird Teil der von der Sowjetunion dominierten Länder und die Westzonen / BRD Teil der von den Vereinigten Staaten geführten Welt
1. Alexander Fischers zwölf Thesen zur Geschichte der SBZ / DDR
2. Deutschland unter alliierter Besatzung nach der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 und Aufteilung in vier Besatzungszonen
3. Der „Eiserne Vorhang“ trennt die bi-polare Welt von 1945 bis 1990: Die SBZ / DDR wird Teil der von der Sowjetunion dominierten sozialistischen Länder und die Westzonen / BRD Teil der von den Vereinigten Staaten von Amerika geführten Welt
4. Die Wirtschaftssysteme: Das deutsche Wirtschaftschaos (1945-1948) – Diagnose und Therapie. Von Walter Eucken
5. Aufwendungen für die Besatzungsmächte, öffentliche Haushalte und Sozialprodukt in den einzelnen Zonen 1946/47
6. Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in den Westzonen / BRD (1939 bis 1950) und in der SBZ / DDR (1939 bis 1958)
6.1. Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in den Westzonen / BRD (1939-1950)
6.2. Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in der SBZ / DDR (1939-1958)
7. Der Schwarzmarkt in den drei Westzonen und der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands
7.1. Der Schwarzmarkt in den Westzonen
7.2. Der Schwarzmarkt in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands
8. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten als Modell
8.1. Die Sowjetunion als Modell: „Der Traum des sozialistischen Überflusses in der Sowjetunion war in den USA Realität“
8.2. Die Vereinigten Staaten als Modell: „Die Erschließung des eigenen Marktes durch planmäßige Aufzucht einer starken Kaufkraft bei den breiten Massen ist das Wirtschaftswunder der amerikanischen Wirtschaft“
III. Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945 und die Währungsreform vom 20. Juni 1948 in den Westzonen
1. Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945: Ordnungspolitische Grundlage für die Globalisierung
1.1. Lernen aus der Geschichte: Die Bedeutung historischer Perzeptionen für politische Entscheidungen
1.2. Analyse des Vertrages von Versailles (1919), der Reparationen, der interalliierten Verschuldung und der Weltwirtschaftskrise (1929-1933)
1.3. Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945: Ordnungspolitische Grundlagen für die Globalisierung
1.3.1. Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank)
1.3.2. Der Internationale Währungsfonds (IWF)
1.3.3. Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT)
1.4. Die Truman-Doktrin, der Marshallplan, die Gründung des Europäischen Wirtschaftsrates und der Europäischen Zahlungsunion
1.4.1. Die Truman-Doktrin vom 12. März 1947: „Jedes Land, das eine kommunistische Bedrohung nachweisen kann, hat Anspruch auf amerikanische Hilfe“
1.4.2. Der Marshallplan vom 5. Juni 1947 (European Recovery Program)
1.4.3. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC / OECD)
2. Die Währungsreform am 20. Juni 1948 in den Westzonen, die Bedeutung der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die europäische Integration
2.1. Ludwig Erhards ordnungspolitische Konzeption
2.2. Radikale Änderung der Wirtschaftsordnung: Das Gutachten vom 18. April 1948: „Die Währungsreform ist nur sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden ist“
2.3. Die Bedeutung der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau (1948-1953)
2.4. Die Entwicklung der westdeutschen Industrie nach der Währungsreform am 20. Juni 1948
2.5. Löhne, Preise und Lebenshaltung: Die Reallöhne waren Mitte 1955 in West-Berlin 40 % höher als in Ost-Berlin
IV. Die von Stalin gesteuerte Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) transformierte die Sowjetische Besatzungszone nach sowjetischem Modell
1. Die wirtschaftliche Ausgangslage in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands 1945 im Vergleich zu 1936: Beste Ausgangslage der vier Besatzungszonen
2. Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD): Transformation von Staat, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft in der SBZ (1945-1949). Von Jan Foitzik
3. Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen. Von Rainer Karlsch
4. Die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone und die Kollektivierung in der DDR. Von Arnd Bauerkämper
4.1. Die Bodenreform und ihre Folgen
4.2. Der Übergang zur Kollektivierung
4.3. Wirtschaftliche Grenzen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, abweichendes Verhalten und der Abschluss der Kollektivierung
4.4. Die Gigantomanie der agro-industriellen Komplexe
5. Von den Zentralverwaltungen über die Deutsche Wirtschaftskommission zur Staatlichen Plankommission
6. Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ war das Etikett für die Transformation der Wirtschaft der SBZ nach dem sowjetischen Modell
7. Von den privaten Unternehmen (Personen- und Kapitalgesellschaften) zum Volkseigentum: Sequestration durch die SMAD und Konfiskation durch die SED (1945/48). Abwanderung in den Westen
7.1. Von privaten Unternehmen durch Konfiskation zum Volkseigentum
7.2. Abwanderung von 36.000 Unternehmen aus der SBZ / DDR in den Westen, davon werden dort 9.000 Unternehmen fortgeführt
8. Transformation zum „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem“ nach sowjetischem Modell
8.1. Die Banken werden nach der Schließung am 28.4.1945 und der Transformation Kassen- und Abrechnungsapparate im „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem“ der DDR
8.2. Von den Emissions- und Girobanken in den 5 Ländern (19.2.1947) zur Deutschen Notenbank am 20. Juli 1948 und zur Staatsbank 1968
8.3. Der Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 in der SBZ nach dem Modell des Geldumtauschs im Dezember 1947 in der Sowjetunion
8.4. Das SBZ / DDR-Geld bleibt wie die RM eine reine Binnenwährung und wird nicht konvertibel. Leere Schaufenster
8.5. Bilanzkontinuität im Rechnungswesen der Volkseigenen Betriebe nach dem Geldumtausch
8.6. Die Einbeziehung der Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe in die Finanzwirtschaft des Staates: „Eine Maßnahme von grundsätzlicher Bedeutung in der Entwicklung des neuen Finanzsystems“
8.7. Der einheitliche Staatshaushalt als umfassender Hauptfinanzplan und sein Verhältnis zur politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft
9. Westliches Handelsembargo im Gefolge der Berlin-Blockade behindert Wiederaufbau in Sachsen nach 1945 stärker als sowjetische Demontagen und Reparationen. Von Gerd R. Hackenberg
10. Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961. Von Gunter Holzweißig
11. Die antagonistische Drei-Klassen-Struktur der DDR-Gesellschaft
12. Das Kadernomenklatursystem und die Rekrutierung des Leitungspersonals in der DDR-Wirtschaft. Von Axel Salheiser
V. Die Übertragung von Stalins Industrialisierungsmodell der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln auf die SBZ / DDR führte zur Mangelversorgung und verursachte den Volksaufstand vom 17. Juni 1953
1. Die Übertragung des Modells des Stalinschen „Fünfjahrplans“ (1928-1932/33) auf die SBZ / DDR (ab 1948) führte dort zu hohen Disproportionalitäten (= Ungleichgewichten) und hohen Instabilitäten
2. Stalins Gesetz der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln beim Wiederaufbau der Wirtschaft der SBZ / DDR führte zur Mangelversorgung und zum Volksaufstand am 17. Juni 1953
3. „Die Versorgung der Bevölkerung in der SBZ / DDR lag auch noch 1949 unter dem Existenzminimum“
4. Die II. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952. Walter Ulbricht: Beschleunigter Aufbau des Sozialismus in der DDR
5. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juli 1950 forciert Stalin den Ausbau der Schwerindustrie (= Rüstungsindustrie) in den Volksdemokratien und in der DDR
5.1. Der forcierte Ausbau der Schwerindustrie in Polen und in der Tschechoslowakei
5.2. Die überstürzte Kapazitätserweiterung der Schwerindustrie im 1. Fünfjahrplan 1951-1955 geht auf Kosten der Konsumgüterindustrien
5.3. Der beschleunigte Aufbau des Sozialismus in der DDR war ein Strategiefehler von Stalin / Ulbricht und führte zum Volksaufstand am 17. Juni 1953
5.4. Die Herrnstadt-Dokumente: Das Politbüro der SED und der Volksaufstand am 17. Juni 1953
5.5. Der neue Kurs der SED: Änderungen des 1. Fünfjahrplans (1951-1955)
5.6. Das Fiasko des Neuen Kurses
VI. Das Grundmodell der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der SBZ / DDR (1948-1989)
1. Die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) und die Staatliche Plankommission (SPK) waren Exekutiv-Organe der sowjetischen Gosplankommission
2. Das Grundmodell der politisch natural gesteuerten Zentralplanwirtschaft. Von Gernot Gutmann und Hannsjörg F. Buck
2.1. Aufgaben, Organisation und Befugnisse der Wirtschaftsverwaltung
2.2. Die Methodik der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft
3. Der VEB-Plan und die Bilanzierung. Die Bilanzierung ist eine Methode mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zu erreichen. Im Ergebnis entstehen betriebliche Bilanzen der VEB
4. Die praktische Nichtbeherrschbarkeit des Bilanzsystems als tragendes Gerüst der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft
5. W. S. Nemtschinow weist wissenschaftlich nach, daß von der Sozialistischen einfachen Reproduktion (= statische Theorie) kein Weg zur Sozialistischen erweiterten Reproduktion (= dynamische Theorie) führt
5.1. Totale Liquidierung von Privateigentum und Marktwirtschaft mit Geldrechnung in der UdSSR
5.2. Die Sozialistische erweiterte Reproduktion: Akkumulation ohne technischen Fortschritt
5.3. Nemtschinow: Von der statischen Theorie der Sozialistischen einfachen Reproduktion führt kein Weg zu einer dynamischen Theorie der Sozialistischen erweiterten Reproduktion
VII. Systemimmanente Dysfunktionen im Spiegel der Berichte der „Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK) und der Stellungnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
1. Die Berichte der „Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK)
1.1. „Es gibt Fakten, daß die Regierung betrogen wird“ (2. Januar 1953)
1.2. „In der DDR kommt es zu großen Vergeudungen bei der Ausgabe staatlicher Mittel. Besonders unbefriedigend steht es um die Verwendung der Lohnfonds (9. Januar 1953)“
1.3. Vermerk über die Vorschläge der Genossen Sokolowski, Semjonow und Judin im Zusammenhang mit der in der DDR entstandenen Lage nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953
2. Der Bericht und die Stellungnahmen der Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für Staatssicherheit
2.1. Der Bericht Nr. 170/61 über die Lage auf dem Gebiet der Versorgung vom 23. März 1961
2.2. Die Stellungnahme zum Fünfjahrplan 1981-1985
2.3. Die Stellungnahme zum Fünfjahrplan 1986-1990
VIII. Das Scheitern der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft am technischen Fortschritt und an der Basisinnovation Informationstechnik
1. Innovation und Diffusion in Joseph A. Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1912)
2. Der wissenschaftliche Nachweis, dass eine Diffusion von Innovationen in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft systemimmanent nicht möglich ist
3. Determinanten des Betriebstyps in verschiedenen Wirtschaftsordnungen: Autonomieprinzip (Marktwirtschaft) und Organprinzip (Zentralplanwirtschaft) als Determinanten des Betriebstyps
4. Der empirische Befund: Das Scheitern des technischen Fortschritts in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft
4.1. Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der DDR
5. Das Scheitern der sozialistischen Zentralplanwirtschaft an der Basisinnovation Informationstechnik
5.1. Die Basisinnovation Informationstechnik in marktwirtschaftlichen Ländern
5.2. Zum Stand der Informationstechnik in der DDR 1986 im Vergleich zur Bundesrepublik
5.3. Die Ursachen für den verhinderten Fortschritt in der Informationstechnik in den Volkseigenen Betrieben (VEB)
IX. Ohne ökonomische Aussagekraft: Preise, Löhne, Kosten, Gewinne und Investitionen
1. Das Modell Sowjetunion in der Preispolitik der SBZ / DDR. „Der Sowjetstaat benutzt die Planung der Preise als ein Instrument der sozialistischen Industrialisierung des Landes“. Von Gerhard Thimm
1.1. Das Planpreissystem sowjetischen Typs als Mittel zur Loslösung des Preises von Kosten und Bedarf
1.2. Die Preispolitik in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft als Instrument zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Ziele
1.3. Die Preispolitik im Rahmen der sowjetischen Wirtschaftspolitik
1.4. Das HO-Preissystem und die Preise für industrielle Verbrauchsgüter im Einzelhandel: „Die Unterstützung des Aufbaus unserer Schwerindustrie ohne das Akziseaufkommen der HO ist nicht mehr denkbar“
1.5. Die bevorzugte Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln (Schwerindustrie) geschieht auf Kosten der elementarsten Bedürfnisse der Bevölkerung
1.6. Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL). Die fehlgeschlagene „Industriepreisreform“ in den Jahren 1964-1967
1.7. Vom nationalsozialistischen Preiskosmos (1936/44) zum sozialistischen Preischaos in der SBZ / DDR (1945-1990)
2. Willkürliche Löhne
2.1. Lohnstruktur und Lohndifferenzierung in der DDR
2.2. Von den nationalsozialistischen Leistungslöhnen zur Nivellierung der Einkommen bei der Verbindung der Löhne mit der sozialistischen Zentralplanerfüllung ab 1948
2.3. Leistungsorientierte Lohnpolitik: „Nirgendwo hinterließ die zentrale Kommandowirtschaft ein solches Chaos, wie bei den Lohnfragen“
3. Gewinn: „Dann sollte es der Gewinn sein, nach dem kapitalistischen Modell! Ich habe immer gelacht. Der wird ja gar nicht gemessen, der wird nur als Zahl eingetragen. Das ist das Betrugssystem!“
4. Investitionen: Weder vorher noch nachher konnte bei Investitionen festgestellt werden, ob sie ökonomisch sinnvoll waren
X. Das sozialistische Außenhandels- und Valutamonopol. Ein Außenhandel ohne Wirtschaftsrechnung
1. Das sozialistische Außenwirtschaftsmonopol
2. Naturaltausch im „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW)
3. Sowjetunion, DDR und RGW in der Ära Gorbatschow 1985-1991 – Die SU subventioniert Honeckers „Sozialpolitik“ allein 1988 mit 3,3 bis 4 Milliarden US $. Von Leonid I. Zedilin
4. Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel: Die DDR Ende 1989 am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt
5. Export von mehr als 300.000 Uniformen 1984/85 für die ägyptische Armee und der Handel der DDR 1988 mit westlichen Industrie- und Entwicklungsländern
6. Sozialistisches Mega-Dumping: Die 190 größten Volkseigenen Kombinate erlösten 1988 für 1 DDR-Mark 0,309 DM. Der Devisenerlös zeigt die Arbeitsproduktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Kombinate
7. Die Zahlungsbilanz regiert: DDR-Produkte werden im Westen gegen harte Devisen verramscht, verscherbelt. Der Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) unter Schalck-Golodkowski ab 1966-1989
XI. Das Ende der Planbarkeit. Krise und Niedergang der Landwirtschaft in der DDR
1. Der Übergang zur „industriemäßigen Produktion“ in der Landwirtschaft
2. Die Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion und ihre Folgen
3. Zögernde Korrektur in den achtziger Jahren
4. Bilanz
XII. Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90)
1. Zu den Ausgangsbedingungen
2. Zur Industriepolitik in der Schlußphase der DDR
3. Forschungs- und Technologiepolitik
4. Zusammenfassung: Hauptziele und Fehlschläge der Investitionspolitik
XIII. Die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der Verschwendung der knappen Ressource Energie in der DDR
1. Wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen der Energieversorgung
2. Schwerpunkte der Energiepolitik der achtziger Jahre
3. Außenwirtschaftliche Unbeweglichkeit
4. Unwirtschaftliche Energieverwendung
5. Ökologische Folgen und Risiken
XIV. In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR konnte nie das produziert werden, was der Konsument sich wünschte
1. Konsumentensouveränität in der Marktwirtschaft
2. Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus. Kritik am utopischen sozialistischen Gedankengut
2.1. Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus
2.2. Wissenschaftliche Kritik am utopischen sozialistischen Gedankengut
3. Interpersonelle Nutzenvergleiche sind wissenschaftlich nicht möglich
4. Das SED-Politbüro und die administrative Dienstklasse legten autoritär und politisch willkürlich fest, was produziert und damit konsumiert werden sollte
5. Die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Das sozialistische Füllhorn von Erich Honecker und dem Politbüro
6. Lebensstandard und Versorgungslage. Von Gernot Schneider
6.1. Ein Situationsbericht zur Versorgungslage
6.2. Die Ursachen der Versorgungsprobleme
6.3. Die Ausstattung der Haushalte mit technischen Konsumgütern
6.4. Lösungsvorschläge der SED-Führung: Verzicht auf die subventionierten Verbraucherpreise
6.5. Die Versorgung der DDR-Bevölkerung mit PKW
7. Die Aura der westlichen Warenwelt – Intershops in der DDR. Von Katrin Böske
8. Kein Strukturwandel bei den Verbrauchsausgaben der Haushalte in der DDR im Vergleich zu den 1920er und 1930er Jahren: Das Überleben der schmack- und nahrhaften Hausmannskost
9. In der sozialistischen Mangelgesellschaft existierte für die Politbüroangehörigen in Wandlitz (bei Berlin) ein Paradies für Westwaren
XV. Der Staatshaushalt der DDR: Zwei Drittel aller Ausgaben für die Staatswirtschaft in den 1980er Jahren hatten stagnativen Subventionscharakter
1. Begriff und Aufgaben des Staatshaushalts im SED-Staat
2. Haushaltsvolumen und Haushaltsexpansion in den 1980er Jahren
2.1. Die Einnahmen des Staatshaushalts der DDR
2.2. Die Ausgaben des Staatshaushalts der DDR
3. Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR. Von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt
4. Das Referenzmodell: Zurückgestaute Inflation in den sozialistischen RGW-Staaten. Der letzte Jahresbericht 1989 der Staatsbank der DDR
4.1. Zurückgestaute Inflation in den sozialistischen RGW-Staaten
4.2. Die Haupttendenzen der Entwicklung des Geld- und Kreditvolumens im Spiegel des letzten Jahresberichts 1989 der Staatsbank der DDR
XVI. Die Hauptursachen für den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten: Extensives Wachstum und Mangelwirtschaft
1. Das Referenzmodell: Technischer Fortschritt und Automation führen zum Dienstleistungssektor und zum Strukturwandel in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland
1.1. Technischer Fortschritt beim Wiederaufbau der Wirtschaft der Bundesrepublik: Substitution des Produktionsfaktors Arbeit durch Kapital 1950-1960
1.2. Automation
1.3. Dienstleistungen in der Entwicklung der Wirtschaftsstruktur
2. Die Ursachen des extensiven Wachstums in sozialistischen Zentralplanwirtschaften: Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts führt zu hoher Innovationsschwäche. Der zentralbilanzierte Plan war starr und besaß keine Flexibilität für Innovationen
2.1. Hat es eine Innovationskultur in der DDR überhaupt gegeben, geben können? Von Reinhard Buthmann
2.2. West-Ost-Technologietransfer und das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand im Bereich von Elektronik und Computertechnik. Von Frank Dittmann
2.3. Extensives Wachstum: „Noch 1989 befand sich die Volkswirtschaft der DDR bei der Ausschöpfung der Strukturpotentiale der wissenschaftlich-technischen Revolution erst am Anfang“
2.4. Die Ursachen des extensiven Wachstums: Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts führt zu hoher Innovationsschwäche. Der zentralbilanzierte Plan war starr und besaß keine Flexibilität für Innovationen
2.5. Extensiver Primärenergieverbrauch, d. h. kein ressourcensparendes Wachstum in den sozialistischen Ländern
3. Die Ursachen der Mangelwirtschaft: In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft konnte der Konsument nie seine individuelle Präferenzstruktur realisieren
4. Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR. Von Paul R. Gregory
5. Stalins Erben und der ökonomische Untergang des SED-Staates
XVII. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus als Utopie. Das Scheitern an der wissenschaftlich-technischen Revolution und an der Basisinnovation Kommunikationstechnik führt zum Erstarren in den Strukturen der Schwerindustrie in der Vor-Computer Zeit (1865-1956)
1. Die dogmatisch erstarrte Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus im totalitären SED-Staat
1.1. Die Erstarrung der in einem Dogmensystem kodifizierten Ideologie von K. Marx, F. Engels, W. I. Lenin und J. W. Stalin (= Marxismus-Leninismus-Stalinismus). Von Klaus Hornung
1.2. Kollektivismus: Das Individuum hat gegenüber dem Gewaltmonopol der sozialistischen Nomenklatura keine Rechte, sondern nur Pflichten. Von Manfred Spieker
1.3. Marxistisches Menschenbild: Die Utopie des Neuen Menschen im realen Sozialismus. Von Michael Beintker
1.4. Sozialistische Moral und Ethik: Radikaler Bruch mit der christlichen und philosophischen Tradition in Deutschland. Von Reinhard Turre
1.5. Der Neue Mensch, die sozialistische Persönlichkeit? Das süße Leben der ausbeuterischen und privilegierten SED-Nomenklatura im Kommunismus (Wandlitz)
2. Die Utopien beim XXII. Parteitag der KPdSU (1961)
3. Ist der ideologische Überbau des Marxismus-Leninismus-Stalinismus mit der wissenschaftlich-technischen Revolution kompatibel?
3.1. Der ideologische Überbau des Marxismus-Leninismus-Stalinismus
3.2. Die wissenschaftlich-technische Revolution im Wettbewerb zwischen der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft (=Sozialismus) und der Marktwirtschaft (= Kapitalismus)
3.3 Das Parteiprogramm der Honecker-Ära war tief verankert im dogmatisch erstarrten Marxismus-Leninismus-Stalinismus und zielte vorwiegend auf die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse
3.4. Der Richta-Report (1968): Mit Stalins Industrialisierungsmodell ist kein evolutionärer Übergang zur wissenschaftlich-technischen-Revolution möglich. Damit war der Zusammenbruch aller sozialistischen Länder 1989/91 determiniert.
XVIII. Funktionsmechanismus und Regeln in der Marktwirtschaft. Politische Willkür als Regel in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft
1. Funktionsmechanismus und Regeln in der Marktwirtschaft. Von Helmut Leipold
2. Zur Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Sanktionssysteme: Auslese durch Sanierung und Insolvenzen
3. Die sozialistische Zentralplanwirtschaft im realen Sozialismus wurde politisch natural gesteuert und war eine Wirtschaft ohne Theorie und Regeln
4. Politische Willkür (Voluntarismus, Subjektivismus) als Regel in der politisch naturalen Steuerung der sozialistischen Zentralplanwirtschaft
5. Die Grenzen der Kontrolle. Das statistische Informationssystem und das Versagen zentralistischer Planwirtschaft in der DDR. Von Markus Güttler
5.1. Die Rolle der staatlichen Statistik in der DDR
5.2. Das statistische Informationssystem der DDR. Aufbau, Funktionsweise und Aufgaben
5.3. Das statistische Informationssystem und das Scheitern der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung in der DDR
XIX. Bilanz der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente. Geldwirtschaft und Naturalwirtschaft. Evolutionäre Universalien
1. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der DDR bis 1989. Von Udo Ludwig
2. Versuch der Einordnung in größere Zusammenhänge der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente. Von David S. Landes und Peter Jay
3. Evolution versus Konstruktivismus
4. Markt und Geld: Nur der Gewinn gibt Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln. Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft ist orientierungslos
4.1. Eine Basisinnovation: Die Erfindung des Münzgeldes um 550 v. Chr.
4.2. Markt und Geld in der langen Evolution: Nur der Gewinn gibt Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln
4.3. Radikaler Bruch in der langen Evolution: Im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ wurden auf der Basis von Marx und unter Führung von Lenin und Stalin Marktwirtschaft und Geld liquidiert. Damit war der Zusammenbruch der UdSSR und der anderen sozialistischen Länder 1989/91 determiniert
4.4. Evolutionäre Universalien: Demokratie, Marktwirtschaft mit Privateigentum und konvertiblem Geld führen zu Wohlstand
5. Der unaufhaltbare zunehmend rapide Verfall der Wettbewerbsfähigkeit aller DDR-Kombinate 1980 bis 1989
5.1. Die Beschleunigung des rapiden Verfalls des Sachanlagevermögens 1980 bis 1989
5.2. Die Verschleißquote der Ausrüstungen der DDR-Kombinate zwischen 1980/89 ist nur vergleichbar mit dem Substanzverzehr in der Weltwirtschaftskrise (1929/33) und den Kriegsschäden und Demontagen bis zur Währungsreform in den Westzonen (1944/48)
5.3. Der Zusammenbruch der sozialistischen Länder des Ostblocks 1989/91 hatte auf die Weltwirtschaft nicht so große Rückwirkungen wie die Weltwirtschaftskrise 1929/33
6. Evolutionäre Übergänge waren im demokratischen Zentralismus des realen Sozialismus ausgeschlossen
6.1. Marktwirtschaften: Evolutionärer Übergang von den Hierarchien der Unternehmen zu Netzwerken der Unternehmen in den Informationsgesellschaften bei der Globalisierung
6.2. Der Organisationsgrundsatz des demokratischen Zentralismus war erstmals 1847 auf Initiative von Karl Marx und Friedrich Engels im Statut des Bundes der Kommunisten verankert worden und blieb es bis zum Zusammenbruch des realen Sozialismus 1989/91
6.3. Effizienzkriterien bei den evolutionären Übergängen am Beispiel des Superorganismus von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten
Schlußbemerkungen zur Sowjetunion und zur DDR
Fazit: Demokratie mit Marktwirtschaft, Privateigentum und konvertiblem Geld als universelle Werte

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Jürgen Schneider

Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945–1990) Eine ordnungstheoretische Analyse

Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 132.2 In Kommission bei Franz Steiner Verlag Stuttgart

Jürgen Schneider Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945–1990)

BWSG beiträge zur wirtschaftsund sozialgeschichte band 132.2 Herausgegeben von Markus A. Denzel, Jürgen Schneider, Andrea Leonardi, Jürgen Nautz, Philipp R. Rössner, Margarete Wagner-Braun Schriftleitung: Prof. Dr. Markus A. Denzel Historisches Seminar Universität Leipzig Postfach 100920 04009 Leipzig Redaktion: Mechthild Isenmann Andrea Bonoldi Werner Scheltjens Sabine Todt

Jürgen Schneider

Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR (1945–1990) Eine ordnungstheoretische Analyse

In Kommission bei:

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Das Bild auf der Titelseite zeigt eine Szene vom Volksaufstand im Juni 1953, hier 17. Juni in Leipzig. Quelle: Bundesarchiv, B 285 Bild-14676 Fotograf: ohne Angabe Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Jürgen Schneider In Kommission bei Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11844-6 (Print) ISBN 978-3-515-11847-7 (E-Book)

5

ZWEITER TEIL I.

Die Neustrukturierung der globalen Einflußsphären nach 1945. Gründung der beiden deutschen Teilstaaten 1949 – Integration der Bundesrepublik in die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG). Die DDR wird Teil des „Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW)

23

Staats- und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion als Führungsmächte in der bi-polaren Welt nach 1945

23

2.

Das von der Sowjetunion geführte sozialistische Lager

27

2.1.

Stalins aggressive Strategie der dritten Etappe der sowjetischen Expansion

27

Wosnessenski, N.A.: Die Kriegswirtschaft der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges (1941-1945) und globale Standortbestimmung der Sowjetunion (1947)

30

Auszüge aus dem Drahtbericht von George F. Kennan aus Moskau vom 22. Februar 1946 und aus „Die Vereinigten Staaten und Rußland (Winter 1946)“

40

Die Staats- und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika als Vorbild für die Bundesrepublik und die der Sowjetunion als Vorbild für die Deutsche Demokratische Republik

63

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik

69

„Mit dem 23. Mai 1949 trat die Bundesrepublik Deutschland ein in die Geschichte“

69

Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949

76

Die Grundlagen der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik

81

Die Bedeutung und Ausgangssituation bei der Staats- und Rechtsordnung als übergeordneter Rahmen für die Gestaltung der Wirtschaftsordnungen

81

5.2.

Die Entwicklung der beiden deutschen Teilstaaten

82

5.2.1.

Staatsform: Bundesstaat oder zentralistischer Einheitsstaat

83

5.2.2.

Kommunale Selbstverwaltung

83

1.

2.2.

2.3.

3.

4. 4.1. 4.2. 5.

5.1.

6

5.2.3.

Rechtsstaat

88

5.2.4.

Gewaltenteilung

91

5.2.5.

Verwaltungsgerichtsbarkeit

92

5.3.

Merkmale der neu geschaffenen Staats- und Rechtsordnung in der SBZ / DDR

96

Die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG) und der „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) waren in die Ost-WestKonfrontation eingebettet

110

Wirtschaftliche Integration der „Europäischen Gemeinschaften“ (EG)

110

Naturalhandel und keine integrierte internationale Wirtschaft im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)

128

Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949: Die SBZ / DDR wird Teil der von der Sowjetunion dominierten Länder und die Westzonen / BRD Teil der von den Vereinigten Staaten geführten Welt

139

1.

Alexander Fischers zwölf Thesen zur Geschichte der SBZ / DDR

139

2.

Deutschland unter alliierter Besatzung nach der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 und Aufteilung in vier Besatzungszonen

146

Der „Eiserne Vorhang“ trennt die bi-polare Welt von 1945 bis 1990: Die SBZ / DDR wird Teil der von der Sowjetunion dominierten sozialistischen Länder und die Westzonen / BRD Teil der von den Vereinigten Staaten von Amerika geführten Welt

152

Die Wirtschaftssysteme: Das deutsche WirtschaftsChaos (1945-1948) – Diagnose und Therapie Von Walter Eucken

155

Aufwendungen für die Besatzungsmächte, öffentliche Haushalte und Sozialprodukt in den einzelnen Zonen 1946/47

160

Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in den Westzonen / BRD (1939 bis 1950) und in der SBZ / DDR (1939 bis 1958)

166

Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in den Westzonen / BRD (1939-1950)

166

Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in der SBZ / DDR (1939-1958)

169

Der Schwarzmarkt in den drei Westzonen und in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands

174

6.

6.1. 6.2. II.

3.

4.

5. 6.

6.1. 6.2. 7.

7

7.1.

Der Schwarzmarkt in den Westzonen

174

7.2.

Der Schwarzmarkt in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands

179

8.

Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten als Modell

189

8.1.

Die Sowjetunion als Modell: „Der Traum des sozialistischen Überflusses in der Sowjetunion war in den USA Realität“

189

Die Vereinigten Staaten als Modell: „Die Erschließung des eigenen Marktes durch planmäßige Aufzucht einer starken Kaufkraft bei den breiten Massen ist das Wirtschaftswunder der amerikanischen Wirtschaft“

202

Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945 und die Währungsreform vom 20. Juni 1948 in den Westzonen

205

Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945: Ordnungspolitische Grundlage für die Globalisierung

205

Lernen aus der Geschichte: Die Bedeutung historischer Perzeptionen für politische Entscheidungen

207

Analyse des Vertrages von Versailles (1919), der Reparationen, der interalliierten Verschuldung und der Weltwirtschaftskrise (1929-1933)

211

Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945: Ordnungspolitische Grundlage für die Globalisierung

216

Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank)

216

1.3.2.

Der Internationale Währungsfonds (IWF)

217

1.3.3.

Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT)

218

1.4.

Die Truman-Doktrin, der Marshallplan, die Gründung des Europäischen Wirtschaftsrates und der Europäischen Zahlungsunion

221

Die Truman-Doktrin vom 12. März 1947: “Jedes Land, das eine kommunistische Bedrohung nachweisen kann, hat Anspruch auf amerikanische Hilfe“

221

Der Marshallplan vom 5. Juni 1947 (European Recovery Program)

227

8.2.

III.

1.

1.1. 1.2.

1.3.

1.3.1.

1.4.1.

1.4.2.

8

1.4.3.

Die Organisation für Europäischen Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC / OECD)

231

Die Währungsreform am 20. Juni 1948 in den Westzonen, die Bedeutung der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die europäische Integration

236

2.1.

Ludwig Erhards ordnungspolitische Konzeption

236

2.2.

Radikale Änderung der Wirtschaftsordnung. Das Gutachten vom 18. April 1948: „Die Währungsreform ist nur sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden ist“

243

Die Bedeutung der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau (1948-1953)

259

Die Entwicklung der westdeutschen Industrie nach der Währungsreform am 20. Juni 1948

262

Löhne, Preise und Lebenshaltung: Die Reallöhne waren Mitte 1955 in West-Berlin 40 % höher als in Ost-Berlin

270

2.5.1.

Lohn- und Arbeitsverdienste in West- und Ost-Berlin

275

2.5.2.

Preise und Lebenshaltungskosten in West- und Ost-Berlin

282

2.5.3.

Reallohn und Lebenshaltung in West- und Ost-Berlin

292

IV.

Die von Stalin gesteuerte Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) transformierte die Sowjetische Besatzungszone nach sowjetischem Modell Die wirtschaftliche Ausgangslage in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands 1945 im Vergleich zu 1936: Beste Ausgangslage der vier Besatzungszonen

2.

2.3. 2.4. 2.5.

1.

2.

3. 4.

Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD): Transformation von Staat, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft in der SBZ (1945-1949) Von Jan Foitzik Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen Von Rainer Karlsch

306

306

310 322

Die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone und die Kollektivierung in der DDR Von Arnd Bauerkämper

327

4.1.

Die Bodenreform und ihre Folgen

327

4.2.

Der Übergang zur Kollektivierung

329

9

4.3.

Wirtschaftliche Grenzen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, abweichendes Verhalten und der Abschluss der Kollektivierung

332

4.4.

Die Gigantomanie der agro-industriellen Komplexe

335

5.

Von den Zentralverwaltungen über die Deutsche Wirtschaftskommission zur Staatlichen Plankommission

337

Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ war das Etikett für die Transformation der Wirtschaft der SBZ nach dem sowjetischen Modell

341

Von den privaten Unternehmen (Personen- und Kapitalgesellschaften) zum Volkseigentum: Sequestration durch die SMAD und Konfiskation durch die SED (1945-1948). Abwanderung in den Westen

343

Von privaten Unternehmen durch Konfiskation zum Volkseigentum

343

Abwanderung von 36.000 Unternehmen aus der SBZ / DDR in den Westen, davon werden dort 9.000 Unternehmen fortgeführt

347

Transformation zum „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem“ nach sowjetischem Modell

352

Die Banken werden nach der Schließung am 28.4.1945 und der Transformation Kassen- und Abrechnungsapparate im „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem“ der DDR

352

Von den Emmissions- und Girobanken in den 5 Ländern (19.2.1947) zur Deutschen Notenbank am 20. Juli 1948 und zur Staatsbank 1968

354

Der Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 in der SBZ nach dem Modell des Geldumtauschs im Dezember 1947 in der Sowjetunion

356

8.3.1.

Terminologische Vorbemerkungen

356

8.3.2.

Außenhandels- und Valutamonopol und reine Binnenwährung in der Sowjetunion nach 1918

357

8.3.3.

Der Geldumtausch in der Sowjetunion im Dezember 1947

358

8.3.4.

Der Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 in der SBZ

358

8.3.5.

Fazit: Minderwertiges sozialistisches Geld in der Sowjetunion, der SBZ und den Volksdemokratien

365

Das SBZ / DDR-Geld bleibt wie die RM eine reine Binnenwährung und wird nicht konvertibel. Leere Schaufenster

366

6.

7.

7.1. 7.2. 8. 8.1.

8.2.

8.3.

8.4.

10

8.5.

Bilanzkontinuität im Rechnungswesen der Volkseigenen Betriebe nach dem Geldumtausch

373

Die Einbeziehung der Finanzwirtschaft der Volkseigenen Betriebe in die Finanzwirtschaft des Staates: „Eine Maßnahme von grundsätzlicher Bedeutung in der Entwicklung des neuen Finanzsystems“

384

Der einheitliche Staatshaushalt als umfassender Hauptfinanzplan und sein Verhältnis zur politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft

387

Westliches Handelsembargo im Gefolge der Berlin-Blockade behindert Wiederaufbau in Sachsen nach 1945 stärker als sowjetische Demontagen und Reparationen Von Gerd R. Hackenberg

392

Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 Von Gunter Holzweißig

413

11.

Die antagonistische Drei-Klassen-Struktur der DDR-Gesellschaft

416

12.

Das Kadernomenklatursystem und die Rekrutierung des Leitungspersonals in der DDR-Wirtschaft Von Axel Salheiser

427

Die Übertragung von Stalins Industrialisierungsmodell der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln auf die SBZ / DDR führte zur Mangelversorgung und verursachte den Volksaufstand vom 17. Juni 1953

436

Die Übertragung des Modells des Stalinschen „Fünfjahrplans“ (1928-1932/33) auf die SBZ / DDR (ab 1948) führte dort zu hohen Disproportionalitäten (= Ungleichgewichten) und hohen Instabilitäten

436

Stalins Gesetz der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln beim Wiederaufbau der Wirtschaft der SBZ / DDR führte zur Mangelversorgung und zum Volksaufstand am 17. Juni 1953

440

„Die Versorgung der Bevölkerung in der SBZ /DDR lag auch noch 1949 unter dem Existenzminimum“

451

Die II. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952. Walter Ulbricht: Beschleunigter Aufbau des Sozialismus in der DDR

455

Nach dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juli 1950 forciert Stalin den Ausbau der Schwerindustrie (= Rüstungsindustrie) in den Volksdemokratien und in der DDR

460

Der forcierte Ausbau der Schwerindustrie in Polen und in der Tschechoslowakei

463

8.6.

8.7.

9.

10.

V.

1.

2.

3. 4. 5.

5.1.

11

5.2.

Die überstürzte Kapazitätserweiterung der Schwerindustrie im 1. Fünfjahrplan 1951-1955 geht auf Kosten der Konsumgüterindustrien

467

Der beschleunigte Aufbau des Sozialismus in der DDR war ein Strategiefehler von Stalin / Ulbricht und führte zum Volksaufstand am 17. Juni 1953

474

Die Herrnstadt-Dokumente: Das Politbüro der SED und der Volksaufstand am 17. Juni 1953

481

Der neue Kurs der SED: Änderungen des 1. Fünfjahrplans (1951-1955)

492

5.6.

Das Fiasko des Neuen Kurses

496

VI.

Das Grundmodell der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der SBZ / DDR (1948-1989)

501

Die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) und die Staatliche Plankommission (SPK) waren Exekutiv-Organe der sowjetischen Gosplankommission

501

Das Grundmodell der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft Von Gernot Gutmann und Hansjörg F. Buck

504

Aufgaben, Organisation und Befugnisse der Wirtschaftsverwaltung

506

Die Methodik der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft

509

Der VEB-Plan und die Bilanzierung. Die Bilanzierung ist eine Methode mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zu erreichen. Im Ergebnis entstehen betriebliche Bilanzen der VEB

513

Die praktische Nichtbeherrschbarkeit des Bilanzsystems als tragendes Gerüst der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft

528

W. S. Nemtschinow weist wissenschaftlich nach, daß von der Sozialistischen einfachen Reproduktion (= statische Theorie) kein Weg zur Sozialistischen erweiterten Reproduktion (= dynamische Theorie) führt

529

Totale Liquidierung von Privateigentum und Marktwirtschaft mit Geldrechnung in der UdSSR

529

Die Sozialistische erweiterte Reproduktion: Akkumulation ohne technischen Fortschritt

536

5.3.

5.4. 5.5.

1.

2.

2.1. 2.2. 3.

4.

5.

5.1. 5.2.

12

5.3.

VII.

Nemtschinow: Von der statischen Theorie der Sozialistischen einfachen Reproduktion führt kein Weg zu einer dynamischen Theorie der Sozialistischen erweiterten Reproduktion

542

Systemimmanente Dysfunktionen im Spiegel der Berichte der „Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK) und der Stellungnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)

555

1.

Die Berichte der „Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK)559

1.1.

„Es gibt Fakten, daß die Regierung betrogen wird“(2. Januar 1953) 555

1.2.

„In der DDR kommt es zu großen Vergeudungen bei der Ausgabe staatlicher Mittel. Besonders unbefriedigend steht es um die Verwendung der Lohnfonds“ (9. Januar 1953)

559

Vermerk über die Vorschläge der Genossen Sokolowski, Semjonow und Judin im Zusammenhang mit der in der DDR entstandenen Lage nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953

569

Der Bericht und die Stellungnahmen der Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für Staatssicherheit

573

Der Bericht Nr. 170/61 über die Lage auf dem Gebiet der Versorgung vom 23. März 1961

573

2.2.

Die Stellungnahme zum Fünfjahrplan 1981-1985

582

2.3.

Die Stellungnahme zum Fünfjahrplan 1986-1990

606

VIII.

Das Scheitern der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft am technischen Fortschritt und an der Basisinnovation Informationstechnik

613

Innovation und Diffusion in Joseph A. Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1912)

613

Der wissenschaftliche Nachweis, dass eine Diffusion von Innovationen in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft systemimmanent nicht möglich ist

625

Determinanten des Betriebstyps in verschiedenen Wirtschaftsordnungen: Autonomieprinzip (Marktwirtschaft) und Organprinzip (Zentralplanwirtschaft) als Determinanten des Betriebstyps

635

Der empirische Befund: Das Scheitern des technischen Fortschritts in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft

639

1.3.

2. 2.1.

1. 2.

3.

4.

13

4.1. 4.1.1.

4.1.2.

4.1.3. 4.1.4. 4.1.5.

4.1.6.

5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.3.1. 5.3.2.

IX. 1.

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der DDR

639

Die eisenschaffende Industrie in der SBZ / DDR und das Beispiel von EKO Stahl (1951-1999) in der DDR (1951-1990) und Neuaufbau 1990-1999

657

Die technische Ausrüstung der Werke der eisenschaffenden Industrie in der DDR 1960: Veraltet, geringe Produktivität, störanfällig

665

Systemimmanente Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft am Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989

670

Netzwerke, Innovationen und Wirtschaftssysteme am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland (1945-1990)

682

Kleinwagen im Innovationsstau. Der PKW-Bau in der DDR, 1955-1990 Von Sönke Friedreich

689

Die Implantation des VW Motors in den DDR Automobilbau. Ein Beitrag zur Geschichte der Innovationskultur in der DDR Von Peter Kirchberg

699

Das Scheitern der sozialistischen Zentralplanwirtschaft an der Basisinnovation Informationstechnik

709

Die Basisinnovation Informationstechnik in marktwirtschaftlichen Ländern

709

Zum Stand der Informationstechnik in der DDR 1986 im Vergleich zur Bundesrepublik

720

Die Ursachen für den verhinderten Fortschritt in der Informationstechnik in den Volkseigenen Betrieben (VEB)

721

Betriebswirtschaftliche Planung und Produktlebenszyklen als Basis der Unternehmensplanung in der Marktwirtschaft

722

Die Ursachen für den verhinderten technischen Fortschritt in den Volkseigenen Betrieben: Die VEB als Exekutiv-Organe der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft

731

Ohne ökonomische Aussagekraft: Preise, Löhne, Kosten, Gewinne und Investitionen

737

Das Modell Sowjetunion in der Preispolitik der SBZ / DDR. „Der Sowjetstaat benutzt die Planung der Preise als ein Instrument der sozialistischen Industrialisierung des Landes“ Von Gerhard Thimm

737

14

1.1.

Das Planpreissystem sowjetischen Typs als Mittel zur Loslösung des Preises von Kosten und Bedarf

738

Die Preispolitik in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft als Instrument zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Ziele

745

1.3.

Die Preispolitik im Rahmen der sowjetischen Wirtschaftspolitik

751

1.4.

Das HO-Preissystem und die Preise für industrielle Verbrauchs güter im Einzelhandel: „Die Unterstützung des Aufbaus unserer Schwerindustrie ohne das Akziseaufkommen der HO ist nicht mehr denkbar“

754

Die bevorzugte Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln (Schwerindustrie) geschieht auf Kosten der elementarsten Bedürfnisse der Bevölkerung

766

Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL). Die fehlgeschlagene „Industriepreisreform“ in den Jahren 1964-1967

770

Vom nationalsozialistischen Preiskosmos (1936/44) zum sozialistischen Preischaos in der SBZ / DDR (1945-1990)

774

2.

Willkürliche Löhne

776

2.1.

Lohnstruktur und Lohndifferenzierung in der DDR

776

2.2.

Von den nationalsozialistischen Leistungslöhnen zur Nivellierung der Einkommen bei der Verbindung der Löhne mit der sozialistischen Zentralplanerfüllung ab 1948

779

Leistungsorientierte Lohnpolitik: „Nirgendwo hinterließ die zentrale Kommandowirtschaft ein solches Chaos, wie bei den Lohnfragen“

782

Gewinn: „Dann sollte es der Gewinn sein, nach dem kapitalistischen Modell! Ich habe immer gelacht. Der wird ja gar nicht gemessen, der wird nur als Zahl eingetragen. Das ist das Betrugssystem!“

787

Investitionen: Weder vorher noch nachher konnte bei Investitionen festgestellt werden, ob sie ökonomisch sinnvoll waren

789

Das sozialistische Außenhandels- und Valutamonopol. Ein Außenhandel ohne Wirtschaftsrechnung

799

1.

Das sozialistische Außenwirtschaftsmonopol

803

2.

Naturaltausch im „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW)

810

1.2.

1.5.

1.6.

1.7.

2.3.

3.

4. X.

15

3.

Sowjetunion, DDR und RGW in der Ära Gorbatschow 1985-1991 – Die SU subventioniert Honeckers „Sozialpolitik“ allein 1988 mit 3,3 bis 4 Milliarden US $ Von Leonid I. Zedilin

814

Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel: Die DDR Ende 1989 am Rande der Zahlungsunfähigkeit Von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt

849

Export von mehr als 300.000 Uniformen 1984/85 für die ägyptische Armee und der Handel der DDR 1988 mit westlichen Industrie- und Entwicklungsländern

875

Sozialistisches Mega-Dumping: Die 190 größten Volkseigenen Kombinate erlösten 1988 für 1 DDR-Mark 0,309 DM. Der Devisenerlös zeigt die Arbeitsproduktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Kombinate

878

Die Zahlungsbilanz regiert: DDR-Produkte werden im Westen gegen harte Devisen verramscht, verscherbelt. Der Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) unter Schalck-Golodkowski 1966-1989

895

Das Ende der Planbarkeit. Krise und Niedergang der Landwirtschaft in der DDR Von Arnd Bauerkämper

903

Der Übergang zur „industriemäßigen Produktion“ in der Landwirtschaft

903

2.

Die Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion und ihre Folgen

906

3.

Zögernde Korrektur in den achtziger Jahren

909

4.

Bilanz

911

XII.

Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90) Von Klaus Krakat

912

1.

Zu den Ausgangsbedingungen

912

2.

Zur Industriepolitik in der Schlußphase der DDR

914

3.

Forschungs- und Technologiepolitik

923

4.

Zusammenfassung: Hauptziele und Fehlschläge der Investitionspolitik

938

Die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der Verschwendung der knappen Ressource Energie in der DDR Von Wolfgang Stinglwagner

941

4.

5.

6.

7.

XI.

1.

XIII.

16

1.

Wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen der Energieversorgung

942

2.

Schwerpunkte der Energiepolitik der achtziger Jahre

943

3.

Außenwirtschaftliche Unbeweglichkeit

948

4.

Unwirtschaftliche Energieverwendung

954

5.

Ökologische Folgen und Risiken

963

XIV.

In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR konnte nie das produziert werden, was der Konsument sich wünschte

972

1.

Konsumentensouveränität in der Marktwirtschaft

972

2.

Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus. Kritik am utopischen sozialistischen Gedankengut

975

2.1.

Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus

975

2.2.

Wissenschaftliche Kritik am utopischen sozialistischen Gedankengut

980

Interpersonelle Nutzenvergleiche sind wissenschaftlich nicht möglich

981

Das SED-Politbüro und die administrative Dienstklasse legten autoritär und politisch willkürlich fest, was produziert und damit konsumiert werden sollte

982

Die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“: Das sozialistische Füllhorn von Erich Honecker und dem Politbüro

984

Lebensstandard und Versorgungslage Von Gernot Schneider

994

6.1.

Ein Situationsbericht zur Versorgungslage

994

6.2.

Die Ursachen der Versorgungsprobleme

999

6.3.

Die Ausstattung der Haushalte mit technischen Konsumgütern

1009

6.4.

Lösungsvorschläge der SED-Führung: Verzicht auf die subventionierten Verbraucherpreise

1010

6.5.

Die Versorgung der DDR-Bevölkerung mit PKW

1011

7.

Die Aura der westlichen Warenwelt – Intershops in der DDR Von Katrin Böske

1018

Kein Strukturwandel bei den Verbrauchsausgaben der Haushalte in der DDR im Vergleich zu den 1920er und 1930er Jahren: Das Überleben der schmack- und nahrhaften Hausmannskost

1022

3. 4.

5. 6.

8.

17

9.

In der sozialistischen Mangelgesellschaft existierte für die Politbüroangehörigen in Wandlitz (bei Berlin) ein Paradies für Westwaren

1034

Der Staatshaushalt der DDR: Zwei Drittel aller Ausgaben für die Staatswirtschaft in den 1980er Jahren hatten stagnativen Subventionscharakter Von Hannsjörg F. Buck

1043

1.

Begriff und Aufgaben des Staatshaushalts im SED-Staat

1043

2.

Haushaltsvolumen und Haushaltsexpansion in den 1980er Jahren

1046

2.1.

Die Einnahmen des Staatshaushalts der DDR

1049

2.2.

Die Ausgaben des Staatshaushalts der DDR

1064

3.

Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR Von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt

1085

Das Referenzmodell: Zurückgestaute Inflation in den sozialistischen RGW-Staaten. Der letzte Jahresbericht 1989 der Staatsbank der DDR

1103

4.1.

Zurückgestaute Inflation in den sozialistischen RGW-Staaten

1103

4.2.

Die Haupttendenzen der Entwicklung des Geld- und Kreditvolumens im Spiegel des letzten Jahresberichts 1989 der Staatsbank der DDR

1112

Die Hauptursachen für den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten: Extensives Wachstum und Mangelwirtschaft

1115

Das Referenzmodell: Technischer Fortschritt und Automation führen zum Dienstleistungssektor und zum Strukturwandel in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland

1115

Technischer Fortschritt beim Wiederaufbau der Wirtschaft der Bundesrepublik: Substitution des Produktionsfaktors Arbeit durch Kapital 1950-1960

1117

1.2.

Automation

1118

1.3.

Dienstleistungen in der Entwicklung der Wirtschaftsstruktur

1130

2.

Die Ursachen des extensiven Wachstums in sozialistischen Zentralplanwirtschaften: Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts führt zu hoher Innovationsschwäche. Der zentralbilanzierte Plan war starr und besaß keine Flexibilität für Innovationen

1132

XV.

4.

XVI. 1.

1.1.

18

2.1.

Hat es eine Innovationskultur in der DDR überhaupt gegeben, geben können? Von Reinhard Buthmann

1136

West-Ost-Technologietransfer und das Ringen um wissenschaftlich-technischen Höchststand im Bereich Elektronik und Computertechnik Von Frank Dittmann

1148

Extensives Wachstum: „Noch 1989 befand sich die Volkswirtschaft der DDR bei der Ausschöpfung der Strukturpotentiale der wissenschaftlich-technischen Revolution erst am Anfang“

1174

Die Ursachen des extensiven Wachstums: Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts führt zu hoher Innovationsschwäche. Der zentralbilanzierte Plan war starr und besaß keine Flexibilität für Innovationen

1187

Extensiver Primärenergieverbrauch, d. h. kein ressourcensparendes Wachstum in den sozialistischen Ländern

1199

Die Ursachen der Mangelwirtschaft: In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft konnte der Konsument nie seine individuelle Präferenzstruktur realisieren

1208

Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR Von Paul R. Gregory

1222

5.

Stalins Erben und der ökonomische Untergang des SED-Staates

1234

XVII.

Die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus als Utopie. Das Scheitern an der wissenschaftlich-technischen Revolution und an der Basisinnovation Kommunikationstechnik führt zum Erstarren in den Strukturen der Schwerindustrie in der Vor-Computer Zeit (1865-1956)

1237

Die dogmatisch erstarrte Ideologie des Marxismus-LeninismusStalinismus im totalitären SED-Staat

1237

Die Erstarrung der in einem Dogmensystem kodifizierten Ideologie von K. Marx, F. Engels, W. I. Lenin und J. W. Stalin (= Marxismus-Leninismus-Stalinismus) Von Klaus Hornung

1237

Kollektivismus: Das Individuum hat gegenüber dem Gewaltmonopol der sozialistischen Nomenklatura keine Rechte, sondern nur Pflichten Von Manfred Spieker

1243

2.2.

2.3.

2.4.

2.5. 3.

4.

1. 1.1.

1.2.

19

1.3.

Marxistisches Menschenbild: Die Utopie des Neuen Menschen im realen Sozialismus Von Michael Beintker

1247

Sozialistische Moral und Ethik: Radikaler Bruch mit der christlichen und philosophischen Tradition in Deutschland Von Reinhard Turre

1252

Der Neue Mensch, die sozialistische Persönlichkeit? Das süße Leben der ausbeuterischen und privilegierten SED-Nomenklatura im Kommunismus (Wandlitz)

1255

2.

Die Utopien beim XXII. Parteitag der KPdSU (1961)

1279

3.

Ist der ideologische Überbau des Marxismus-Leninismus-Stalinismus mit der wissenschaftlich-technischen Revolution kompatibel?

1305

Der ideologische Überbau des Marxismus-Leninismus-Stalinismus

1305

Die wissenschaftlich-technische Revolution im Wettbewerb zwischen der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft (= Sozialismus) und der Marktwirtschaft (= Kapitalismus) Von Clemens Burrichter, Eckart Förtsch, Hans-Joachim Müller

1308

Das Parteiprogramm der Honecker-Ära war tief verankert im dogmatisch erstarrten Marxismus-Leninismus-Stalinismus und zielte vorwiegend auf die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse Von Fred Oldenburg

1327

Der Richta-Report (1968): Mit Stalins Industrialisierungsmodell ist kein evolutionärer Übergang zur wissenschaftlichtechnischen Revolution möglich. Damit war der Zusammenbruch aller sozialistischen Länder 1989/91 determiniert

1334

1.4.

1.5.

3.1. 3.2.

3.3.

3.4.

XVIII. Funktionsmechanismus und Regeln in der Marktwirtschaft. Politische Willkür als Regel in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft 1. 2. 3.

1367

Funktionsmechanismus und Regeln in der Marktwirtschaft Von Helmut Leipold

1367

Zur Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Sanktionssysteme: Auslese durch Sanierung und Insolvenzen

1371

Die sozialistische Zentralplanwirtschaft im realen Sozialismus wurde politisch natural gesteuert und war eine Wirtschaft ohne Theorie und Regeln

1379

20

4.

Politische Willkür ( Voluntarismus, Subjektivismus) als Regel in der politisch naturalen Steuerung der sozialistischen Zentralplanwirtschaft

1381

Die Grenzen der Kontrolle. Das statistische Informationssystem und das Versagen zentralistischer Planwirtschaft in der DDR Von Markus Güttler

1392

5.1.

Die Rolle der staatlichen Statistik in der DDR

1393

5.2.

Das statistische Informationssystem der DDR. Aufbau, Funktionsweise und Aufgaben

1395

Das statistische Informationssystem und das Scheitern der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung in der DDR

1399

Bilanz der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente. Geldwirtschaft und Naturalwirtschaft. Evolutionäre Universalien

1409

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der DDR bis1989 Von Udo Ludwig

1409

Versuch der Einordnung in größere Zusammenhänge der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente Von David S. Landes und Peter Jay

1449

3.

Evolution versus Konstruktivismus

1457

4.

Markt und Geld: Nur der Gewinn gibt Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln. Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft ist orientierungslos

1462

Eine Basisinnovation: Die Erfindung des Münzgeldes um 550 v. Chr.

1462

Markt und Geld in der langen Evolution: Nur der Gewinn gibt Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln

1464

5.

5.3. XIX.

1. 2.

4.1. 4.2. 4.3.

Radikaler Bruch in der langen Evolution: Im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ wurden auf der Basis von Marx und unter Führung von Lenin und Stalin Marktwirtschaft und Geld liquidiert. Damit war der Zusammenbruch der UdSSR und der anderen sozialistischen Länder 1989/91 determiniert 1480

4.3.1.

Radikaler Bruch 2500 Jahre nach der Basisinnovation Münzgeld verliert Geld im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ seine Funktion als Wertmesser (Recheneinheit)

1481

M. S. Gorbatschow beim XXVII. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1986: „Eine radikale Reform tut not.“

1482

4.3.2.

21

4.3.3.

Wissenschaft und Technologie in der Sowjetunion

1505

4.3.4.

Nur Anpassung sichert das Überleben in der Evolution

1512

4.4.

Evolutionäre Universalien: Demokratie, Marktwirtschaft mit Privateigentum und konvertiblem Geld führen zu Wohlstand

1514

Warum freiheitlich rechtsstaatliche Demokratien noch nie einen Krieg gegeneinander führten Von Spencer R. Weart

1524

4.4.2.

Das Privateigentum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1945

1528

5.

Der unaufhaltbare zunehmend rapide Verfall der Wettbewerbsfähigkeit aller DDR-Kombinate 1980 bis 1989

1532

Die Beschleunigung des rapiden Verfalls des Sachanlagevermögens 1980 bis 1989

1533

Die Verschleißquote der Ausrüstungen der DDR-Kombinate zwischen 1980/89 ist nur vergleichbar mit dem Substanzverzehr in der Weltwirtschaftskrise (1929/33) und den Kriegsschäden und Demontagen bis zur Währungsreform in den Westzonen (1944/48)

1547

Der Zusammenbruch der sozialistischen Länder des Ostblocks 1989/91 hatte auf die Weltwirtschaft nicht so große Rückwirkungen wie die Weltwirtschaftskrise 1929/33

1555

Evolutionäre Übergänge waren im demokratischen Zentralismus des realen Sozialismus ausgeschlossen

1563

Marktwirtschaften: Evolutionärer Übergang von den Hierarchien der Unternehmen zu Netzwerken der Unternehmen in den Informationsgesellschaften bei der Globalisierung

1563

Der Organisationsgrundsatz des demokratischen Zentralismus war erstmals 1847 auf Initiative von Karl Marx und Friedrich Engels im Statut des Bundes der Kommunisten verankert worden und blieb es bis zum Zusammenbruch des realen Sozialismus 1989/91

1566

Effizienzkriterien bei den evolutionären Übergängen am Beispiel des Superorganismus von Ameisen, Wespen und Termiten

1567

Schlußbemerkungen zur Sowjetunion und zur DDR

1574

Fazit: Demokratie mit Marktwirtschaft, Privateigentum und konvertiblem Geld als universelle Werte

1641

4.4.1.

5.1. 5.2.

5.3.

6. 6.1.

6.2.

6.3.

22

23

ZWEITER TEIL I. Die Neustrukturierung der globalen Einflußsphären nach 1945. Gründung der beiden deutschen Teilstaaten 1949 – Integration der Bundesrepublik in die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG). Die DDR wird Teil des „Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) 1. Staatsordnung und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion als Führungsmächte in der bipolaren Welt nach 1945 Staatsordnung, Rechtssystem und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion sollen kurz skizziert werden, um die fundamentalen Unterschiede der beiden Führungsmächte sichtbar zu machen. Vereinigte Staaten von Amerika: Beeinflußt vom Gedankengut der europäischen Aufklärung erklärten die Kolonien schließlich am 04.07.1776 ihre Unabhängigkeit. Entstehung der Verfassung: Die Idee des Verfassungsstaates, der durch geschriebenes, von der Souveränität des Volkes getragenes Grundgesetz konstituiert wird, und in dem alle Staatsgewalt nur nach Maßgabe und in den Grenzen der Verfassung ausgeübt werden darf, ist erstmals in Amerika verwirklicht worden. Struktur der Bundesverfassung: Föderalismus. Ziel der Amerikaner war die Entwicklung einer Bundesform, die einerseits die Gliederstaaten nicht entmachtet, andererseits eine genügend starke Zentralgewalt für alle Aufgaben sicherte, die von den einzelnen Staaten nicht effektiv wahrgenommen werden konnten. Demokratie: In den USA hat die repräsentative Demokratie auf allen Ebenen von Beginn an als die einzig legitime Regierungsform gegolten. Ihre Kennzeichen sind die Volkssouveränität und die Ausübung der Staatsgewalt durch auf Zeit gewählte Vertreter des Volkes. Der Kongreß als Legislativ- und der Präsident als Exekutivorgan des Bundes gehen aus periodischen Volkswahlen hervor, die dem Modell des relativen Mehrheitswahlsystems folgen. Sie sind insofern dem Volk gegenüber periodisch politisch verantwortlich. Die Richter nehmen aus rechtsstaatlichen Gründen einen Sonderstatus ein. Rechtstaatlichkeit. Der Gedanke, daß das Recht herrschen müsse, nicht der Mensch, ist in den USA tief verwurzelt. Der Vorrang des Rechts vor politischer Macht und persönlicher Willkür wird auf vielfältige Weise zu gewährleisten, die Staatsgewalt sorgsam zu umgrenzen (limited government) versucht. Institutionelle Vorkehrungen gegen Machtmißbrauch schafft neben Föderalismus v. a. ein ausgeklügeltes System der horizontalen Gewaltenteilung im Bund wie

24

in Mitgliedsstaaten: Gesetzgebung, Vollziehung und Gerichtsbarkeit werden verschiedenen Organen zugeordnet, die sich gegenseitig kontrollieren und ausbalancieren (checks and balances). Vollziehende Gewalt und Rechtsprechung sind an die Gesetze gebunden. Die Exekutive bedarf zu Eingriffen in Leben, Freiheit und Eigentum einer gesetzlichen Grundlage. Die Richter sind unabhängige Wächter über die Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit der Amtsführung der anderen Organe. Auf Bundesebene und in vielen Gliedstaaten werden sie zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit auf Lebenszeit ernannt und können nur wegen schwerer Straftaten amtsenthoben werden (impeachment). Die Bundesrichter werden vom Präsidenten nominiert und vom Senat bestätigt. Einige Staaten kennen eine Richterwahl auf Zeit. Judikative. Bund wie Gliedstaaten besitzen eine voll ausgebaute mehrstufige Gerichtsbarkeit, wobei die Rechtsprechungskompetenz bei den Gliedstaaten liegt. Wenn die Bundesverfassung nicht ausnahmsweise die Bundesgerichte für zuständig erklärt. Die Rechtsordnung besteht aus dem Bundesrecht, dem Recht des District of Columbia (mit der Hst. Washington), den Rechtsordnungen der 50 Gliedstaaten sowie denen der „territories“ (z. B. Puerto Rico). Die Verteilung der Rechtssetzungskompetenzen durch die Bundesverfassung bewirkt, daß die Kernmaterien des Rechts (Zivil-, Handels-, Gesellschafts-, Straf- und Prozeßrecht) weitgehend gliedstaatlich geregelt sind. Da die Gliedstaaten in sehr enger Verbindung zueinander stehen, kommt es häufig zu grenzüberschreitenden Sachverhalten, bei denen das Kollisionsrecht festlegt, nach welcher gliedstaatlichen Rechtsordnung ein Streitfall zu entscheiden ist.1 Wirtschaftsordnung: Der Staat, insbesondere die Bundesregierung, soll sich jedes Eingriffs in die Wirtschaft enthalten, wenn es nicht im Interesse der Wohlfahrt oder der Sicherheit des Landes dringend erforderlich ist. Eigentum: Privateigentum an den Produktionsmitteln und auf dem Leistungsprinzip beruhende Lohnarbeit.2 Sowjetunion Verfassungsform und Verfassungswirklichkeit: „Nach den ideologischen Vorgaben sollte in der 1922/24 gegründeten und Ende 1991 untergegangenen Sowjetunion ein sozialistisches und dann kommunistisches Gemeinwesen errichtet werden, in dem Staat und Recht absterben sollten. Die tatsächliche Entwicklung ist anders verlaufen. Das Recht starb zwar nicht ab, ihm wurde aber in Anbetracht des Vorrangs politischer Zweckmäßigkeitserwägungen nur eine sekundäre Rolle beigemessen. Seine abgeschwächte Normativität wurde im Konzept der ‚sozialistischen Gesetzlichkeit‘ auf den Begriff gebracht, das die 1

Steinberger, Helmut / Giegerich, Thomas: Vereinigte Staaten von Amerika III. Verfassung und Recht, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 6. Bd., 1995, S. 377 ff. Fraenkel, E.: Das amerikanische Regierungssystem, Köln 1960

2

Woytinsky, Wladimir S. / Woytinsky, Emma S.: Vereinigte Staaten von Amerika, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 29, 60.

25

antithetischen Elemente der Bindungswirkung der Rechtsnormen und der Parteilichkeit ihrer Anwendung zugleich propagiert“.3 „Die äußere Form des Sowjetstaates hat sich seit der 1. Verfassung der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) von 1918, die zum Vorbild aller späteren Sowjetverfassungen, darunter der ersten Verfassung der UdSSR von 1923 (bzw. 1924) und der geltenden Unionsverfassung von 1936 geworden ist, nur geringfügig gewandelt. Die formelle Rechtsverfassung der SU wird durch das Rätesystem bestimmt, das massendemokratische und national-föderale Züge aufweist. Den ideologischen Ausgangspunkt der Sowjetdemokratie bildet die soziologische Unterstellung des Arbeiter- und Bauernstaates (Art. l Unionsverfassung von 1936). Durch den Wandel in der sozialen Struktur der Sowjetunion ist der soziologischen Rechtfertigung der ‚Diktatur des Proletariats‘ als der unmittelbaren Herrschaft der Volksmassen der Boden entzogen worden. Infolge des sozialen Umschichtungsprozesses, der maßgeblich durch die planökonomische ‚Revolution von oben‘ bewirkt wurde, ist die als ‚Zwischenschicht‘ bezeichnete ‚neue Intelligenz‘ zur führenden sozialen Klasse aufgestiegen. Die proletarische ‚Übergangsdiktatur‘ hat sich zur stationären Diktatur der Funktionäre (‚Apparatschiki‘) gewandelt. Die bolschewistische Partei, deren Satzung das Kernstück der materiellen Rechtsverfassung der Sowjetunion bildet, ist in immer stärkerem Maße zur Partei der Funktionärsklasse geworden. […] Partei und Staatspolizei sind als die beiden Hauptträger des diktatorischen Regimes anzusehen. Sowjetwehrmacht, Sowjetexekutive und Wirtschaftsverwaltung weisen ein geringeres politisches Gewicht auf. Erst recht gilt dies für die Sowjetlegislative, die Sowjetgewerkschaften und sonstige Massenorganisationen“.4 Staatsaufbau und Staatswillensbildung. „Die Partei: Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), die bis zum 19. Parteikongreß im Oktober 1952 in Klammern den Zusatz ‚Bolschewisten‘ trug, ist aus der 1898 begründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) hervorgegangen. Auf ihrem zweiten Kongreß, 1903 in Brüssel und London, spaltete sich die Partei in zwei Richtungen: die radikalen Bolschewisten (‚Mehrheitler‘) und die gemäßigteren Menschewisten (‚Minderheitler‘. Auf dem 7. Parteikongreß (1918) wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewisten) in Kommunistische Partei Rußlands (Bolschewisten) umbenannt, aus der auf dem 14. Parteikongreß (1925) die Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewisten) hervorging. Die Satzung der KPdSU(B) von 1925 ist 1934, 1939 und 1952 geändert und neu gefaßt worden. Gemäß Art. 126 der Unionsverfassung bildet die KPdSU den lenkenden Kern sowohl des Staates als auch sämtlicher gesellschaftlicher Organisationen. In der Verfassungswirklichkeit kommt der Partei trotz ihres Vorranges gegenüber den 3

Brunner, Georg: Sowjetunion. III. Verfassung, Recht, Verwaltung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 6. Bd., 1995, S. 317.

4

Meissner, Boris: Sowjetunion (II) Verfassung (1) Politische Verfassung, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 321 ff.

26

anderen Institutionen nicht das alleinige Machtmonopol zu. Träger der letzten Entscheidungsgewalt und damit der Souveränität im Staate ist nicht die Gesamtpartei, sondern die Spitze ihrer Exekutivorgane, die sich als autokratische Staatsführung institutionalisiert und ihre Schlüsselstellung, die auf der Kontrolle mehrerer gleichwertiger Machtquellen beruht, durch ein Gleichgewicht der Kräfte gesichert hat. Bei der Parteikontrolle ist die 1934 aus der Zentralen Kontroll-Kommission (ZKK) hervorgegangene Kommission für Parteikontrolle in ein Komitee für Parteikontrolle (KPK) umgewandelt und mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet worden. Die Zentrale Revisions-Kommission (ZRK) hat ihre bisherige Stellung beibehalten. Die Sowjetlegislative, die mit ihren umfangreichen Vertretungskörperschaften das äußere Bild des Sowjetstaates bestimmt, besitzt dekorativen Charakter. Die Sowjetexekutive, die den Staatsapparat im engeren Sinn bildet, erfüllt dagegen im Mechanismus der stationären Diktatur teilweise sehr wesentliche Funktionen. Wenn die Sowjets auch durch die Partei gelenkt und kontrolliert werden, so hat doch die Bedeutung der Sowjetexekutive im Verhältnis zur Parteiexekutive in der Nachkriegszeit allgemein zugenommen. Da die Unionsverfassung auf dem Prinzip der Gewaltenvereinigung beruht, ist nicht nur die Legislative, sondern auch die Justiz, an deren Spitze der Oberste Gerichtshof der UdSSR steht, weitgehend der Sowjetexekutive untergeordnet. Die Rechtsprechung ist nicht nur von den Weisungen des Justizministeriums abhängig, sondern untersteht auch der unmittelbaren Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft. Der Generalstaatsanwalt der UdSSR, der auf 7 Jahre ernannt wird, übt als Hüter der ‚sozialistischen Gesetzlichkeit‘ die Aufsicht über die Einhaltung der Gesetze und Verordnungen in erster Linie unter den Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit und nicht nur der Gesetzmäßigkeit aus. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ist der SU unbekannt, dafür wird die Strafgerichtsbarkeit in weitgehendem Maß durch die Staatspolizei auf dem Verwaltungswege ausgeübt. Der Polizei und nicht der Justiz untersteht seit 1934 das Gefängniswesen (einschließlich der Zwangsarbeitslager) und damit der gesamte Strafvollzug. Recht und Gerichtsverfassung. Die Gesetzgebung der Sowjetregierung behandelte naturgemäß zunächst nur Einzelfragen: ihre Kodifizierung erfolgte zuerst am 17.10.1918 für das Familienrecht und am 28. 11. desselben Jahres für das Arbeitsrecht: am 12.12.1919 wurden ‚Allgemeine Grundsätze des Strafrechts‘ (entsprechend dem Allgemeinen Teil eines Strafgesetzbuches – über die Zweckmäßigkeit eines Besonderen Teils gab es damals noch Meinungsverschiedenheiten unter den Sowjetjuristen) veröffentlicht. Bei Gelegenheit der Abfassung des Bürgerlichen Gesetzbuches betonte Lenin, daß es ‚in ökonomischen Dingen nur öffentliches, kein Privatrecht geben kann‘. Gerichtsverfassung: Es gibt ein einheitliches Gerichtssystem, das für alle Zivilund Strafrechtsfälle kompetent ist, obzwar nur im Volksgerichtshof (dem Gericht der ersten Instanz) der Richter mit seinen Beisitzern alle Fälle behandelt. Strafrecht: Die Kodifikationen des Sowjetstrafrechts waren beherrscht von der Kombination einer sehr milden Behandlung des gewöhnlichen Rechtsbrechers (dessen Vergehen als ein Produkt der früheren Gesellschaftsordnung und dessen

27

Umerziehung als eine relativ leichte Aufgabe angesehen wurde) mit (durch das Bestehen einer Sondergerichtsbarkeit noch verschärfter) äußerster Härte gegen den Feind des Regimes oder den seine Amtsgewalt mißbrauchenden Beamten“.5 „Das politische System verwandelte sich unter Gorbatschow aus einer totalitären Einparteidiktatur zu einem autoritären System mit zunehmenden politischen Pluralismus und diffusen Strukturen. Der Übergang zu einer funktionsfähigen Demokratie wurde wegen der Rückständigkeit der politischen Kultur, des Widerstandes der reaktionären Kräfte, der Unentschlossenheit Gorbatschows und der unbewältigten Nationalitätenprobleme des Vielvölkerstaates nicht vollzogen“.6 2. Das von der Sowjetunion geführte sozialistische Lager 2.1. Stalins aggressive Strategie der dritten Etappe der sowjetischen Expansion Die Strategie der Ausspielung der „imperialistischen Gegensätze durch die Außenpolitik erreichte ihren Höhepunkt in der Schließung des Nichtangriffspakts mit Hitler am 23. August 1939. Mit diesem Pakt glaubte Stalin, zwei für die damalige Zeit wichtige Ziele seiner Politik verwirklichen zu können: a) grünes Licht für die Aggression der deutschen Wehrmacht im Westen zu geben und so die ‚imperialistischen Mächte‘ – Frankreich, England und Deutschland – an der Westfront ausbluten zu lassen und b) als Entgelt für die sowjetische Nichteinmischung in den Krieg die Billigung der Erweiterung der sowjetischen Herrschaft auf Moldawien (Bessarabien), Ostpolen, Litauen, Lettland, Estland von Hitler zu erhalten. 1940 konnte Stalin diese Länder einverleiben. Nur die Eroberung von Finnland erlitt ein schmachvolles Fiasko. Das kleine finnische Volk wies die sowjetische Aggression heroisch zurück. Der Hitler-Stalin-Pakt markierte den Übergang der sowjetischen Politik zu der zweiten, diesmal großangelegten sowjetischen Expansion in Osteuropa. Somit wurden Keime in den künftigen Zusammenbruch des sowjetischen Systems und des militanten Sozialismus gelegt. Die Zeitbombe begann für die Sowjetunion zu ticken. Dieser Pakt verdeutlichte auch eine enge Verflechtung der messianischen kommunistischen Ziele der sowjetischen Außenpolitik mit den hegemonialen Großmachtambitionen der führenden Elite der Sowjetunion. Man konnte kaum unterscheiden, wo die ‚klassenmäßigen‘ Ziele Moskaus endeten und wo seine nationalen Interessen begannen. Die Parole lautete: was der Sowjetunion zugutekommt, ist auch für die kommunistische Weltbewegung vorteilhaft. Moskau verwandelte sich zum Hüter und Förderer der kommunistischen Parteien in westlichen Ländern und betrachtete sich als Basis für die Ausweitung des kommunistischen Systems.

5

Schlessinger, Rudolf: Ebd., S. 324-328.

6

Brunner, Georg: Sowjetunion III, S. 317.

28

Die Einverleibung der Länder Osteuropas, die gemäß dem Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion abzutreten waren, sah in den Augen des Westens als nichts anderes aus als die Erweiterung der Herrschaftssphäre Moskaus. Das barg in sich eine Herausforderung an andere Großmächte und Weltmächte und die Gefahr einer zukünftigen Konfrontation mit ihnen“.7 Die dritte Etappe der aggressiven sowjetischen Expansion begann 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. „Sie erstreckte sich nicht nur auf Europa, sondern auch auf andere Regionen der Welt. In den Jahren 1945-1948 erzwang die sowjetische Führung die Herrschaft in Mittel- und Osteuropa: in Polen, Ostdeutschland, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Albanien und Bulgarien. Bezeichnend für die europäische Geschichte nach1945 war die Sowjetisierung des östlichen Teils und die Atlantisierung (Amerikanisierung) des westlichen Teils Europas sowie die Entstehung und die Vertiefung der Unvereinbarkeit ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Im Westen herrschten die bürgerliche Demokratie und eine freie, sozial orientierte Marktwirtschaft, im Osten die kommunistischen totalitären Regime und die Staatsplanwirtschaft. Die Konfrontation mit den weit überlegenen Kräften des Westens, die Aufrüstung, die Notwendigkeit, die sowjetische Herrschaftssphäre in Osteuropa politisch, militärisch, wirtschaftlich und propagandistisch abzusichern – all das, vermehrt durch das ineffiziente, inflexible sowjetische Wirtschaftssystem, hat der Sowjetunion eine unerträgliche politische und wirtschaftliche Last aufgebürdet und von der Lösung wichtigerer Aufgaben der Innenpolitik abgelenkt. Die Politik der sowjetischen Führung gegenüber den Ländern Osteuropas hat sich im Laufe der Zeit modifiziert. Das Anfangsstadium der Errichtung der kommunistischen Regime in dieser Region von 1945 bis 1948 (der sogenannten Volksdemokratien) war durch gewaltsame Methoden, durch die Übertragung der stalinistischen Repressalien und Säuberungen auf dem Boden der ostmitteleuropäischen Länder, die Umstürze der bürgerlichen Regierung und die Durchdringung der Staatsapparate dieser Länder mit moskautreuen Kadern, besonders in Verteidigungs- und Innenministerien, in Massenmedien und im Finanzwesen gekennzeichnet“.8 Zur Frage des Zerfalls des einheitlichen Weltmarktes und der Vertiefung der Krise des kapitalistischen Weltsystems führte Stalin 1952 aus: „Als wichtigstes ökonomisches Ergebnis des zweiten Weltkrieges und seiner wirtschaftlichen Folgen muß der Zerfall des einheitlichen, allumfassenden Weltmarktes betrachtet werden. Dieser Umstand bedingt die weitere Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Weltsystems. Der zweite Weltkrieg selbst ist durch diese Krise hervorgebracht worden. Jede der zwei kapitalistischen Koalitionen, die sich während des Krieges ineinander verbissen hatten, rechnete darauf, den Gegner zu schlagen und die Weltherrschaft zu 7

Daschitschew, Wjatscheslaw: Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik, Hamburg / Berlin / Bonn 2002, S. 42 f.

8

Ebd., S. 42.

29

erlangen. Darin suchten sie den Ausweg aus der Krise. Die Vereinigten Staaten von Amerika rechneten darauf, ihre gefährlichsten Konkurrenten, Deutschland und Japan, auszuschalten, die ausländischen Märkte sowie die Weltrohstoffressourcen an sich zu reißen und die Weltherrschaft zu erlangen. Der Krieg hat diese Hoffnung jedoch nicht erfüllt. Zwar wurden Deutschland und Japan als Konkurrenten der drei wichtigsten kapitalistischen Länder, der USA, Englands, Frankreichs, ausgeschaltet. Aber zugleich fielen China und in Europa die anderen volksdemokratischen Länder vom kapitalistischen System ab und bildeten zusammen mit der Sowjetunion das einheitliche und mächtige sozialistische Lager, das dem Lager des Kapitalismus gegenübersteht. Das ökonomische Ergebnis der Existenz der zwei gegensätzlichen Lager ist, daß der einheitliche, allumfassende Weltmarkt zerfallen ist und wir infolgedessen jetzt zwei parallele Weltmärkte haben, die ebenfalls einander gegenüberstehen“.9 „Bis zum Tode Stalins 1953 wurden die Beziehungen der Sowjetunion zu den ostmitteleuropäischen Ländern nach den Parteiprinzipien des ‚demokratischen Zentralismus‘ unter dem Deckmantel des ‚proletarischen Internationalismus‘ gestaltet. In Wirklichkeit bedeutete dies die vollständige Unterwerfung dieser Länder unter den Willen Moskaus (mit Ausnahme von Titos Jugoslawien und später Albaniens von Enver Hodsha). Unter Chruschtschow (1953-1964) kam es zu vagen Versuchen einer allmählichen Liberalisierung dieser Beziehungen. Dieser Prozeß wurde nach dem Aufstand in Budapest 1956 unterbrochen. In der Breschnew-Ära (1965-1982) kam es zu einer neuen Verhärtung der sowjetischen Politik gegenüber den ostmitteleuropäischen Ländern. Der Warschauer Vertrag und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe wurden von Moskau bis in die Ära von Gorbatschow zentralistisch gelenkt. Das Streben der oppositionellen politischen Kreise und der breiten Schichten der Bevölkerung ostmitteleuropäischer Länder, sich von der sowjetischen Bevormundung und von der sowjetischen Dominanz zu befreien, wurde brutal niedergeschlagen (der Aufstand der Berliner Arbeiter am 17. Juni 1953, die Ungarische Revolution 1956, der Prager Frühling 1968). Die Herrschaft der Sowjetunion und ihr Sendungsbewußtsein stießen auf wachsenden Widerstand und die Eigenwilligkeit der regierenden Kreise der sozialistischen Länder, vor allem Jugoslawien, Albanien, Polen, Rumänien, Nordkorea sowie China. Die Gegensätze zwischen der sowjetischen und der chinesischen Führung gipfelte 1961 in einem offenen militärischen Konflikt. Die hegemonialen Ansprüche des Kremls, die in der während des Prager Frühlings verkündeten ‚Breschnew-Doktrin‘ der ‚eingeschränkten Souveränität‘ ihren Niederschlag fanden, erlaubten nicht, harmonische, partnerschaftliche Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern zu gestalten. Sie versperrten den Weg zur Reformation der politischen und wirtschaftlichen Systeme der Länder Ostmitteleuropas.

9

Stalin, J.: Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin (-Ost) 1952, S. 31.

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Die Breschnew-Führung konnte und wollte nicht begreifen, daß der Prager Frühling, der die Bewegung zum Sozialismus mit menschlichem Antlitz symbolisierte, eine historische Chance schuf, vom überholten Stalinismus in politischen und wirtschaftlichen Strukturen sowie im geistigen Leben abzurücken, das Problem der Menschenrechte und Menschenfreiheiten auf eine neue, demokratische Weise zu lösen, einer herannahenden Krise des Systems vorzubeugen und Perspektiven für den Dritten Weg der Entwicklung sowohl für die ostmitteleuropäischen Länder, als auch für die Sowjetunion zu öffnen – einen Weg, der den Osten und Westen Europas näherbringen und auf lange Sicht zur Einheit des Kontinents führen könnte“.10 2.2. Wosnessenski, N. A.: Die Kriegswirtschaft der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges (1941-1945) und globale Standortbestimmung der Sowjetunion (1947) 1947 erschien als 3. Beiheft zur Sowjetwissenschaft der Beitrag von Nikolai Alexejewitsch Wosnessenski,11 „Die Kriegswirtschaft der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges“.12 Die beiden Reihenherausgeber Jürgen Kuczynski13 und Wolfgang Stein schreiben in der Vorbemerkung: „Diese mit dem Stalin-Preis ausgezeichnete Schrift von N. Wosnessenski gibt dem Leser einen umfassenden Einblick in die Dynamik der sowjetischen Kriegswirtschaft. In dieser Monographie ist nicht nur das grundlegende statistische Tatsachenmaterial über die Entwicklung der sowjetischen Kriegswirtschaft zusammengestellt. Wir finden in der Arbeit zugleich auch tiefgehende theoretische Darlegungen über die Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Wirtschaft im Frieden wie im Kriege“. Die leitenden Ideen werden hier wortwörtlich wiedergegeben, da sie eine Einsicht in die Bewertung der Kriegswirtschaft der Sowjetunion bieten und eine Beurteilung der globalen Lage nach Kriegsende 1945. Einleitung:14 Der Große Vaterländische Krieg von 1941 bis 1945 hat die Volkswirtschaft der Sowjetunion von Grund auf verändert, die sowjetische Wirtschaft im Interesse des siegreichen Krieges umgestaltet und die für die Kriegszeit typischen Gesetzmäßigkeiten geschaffen. In der Geschichte der UdSSR stellt dieser Vorgang 10 Daschitschew, W.: Moskaus Griff, S. 43 f. 11 Nikolai Alexejewitsch Wosnessenski (1903-1950), ab 1937 stellvertretender und ab 1938 Vorsitzender von GOSPLAN, ab 1939 stellvertretender, ab 1941 Erster stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare / Ministerrats der UdSSR, ab 1939 Mitglied des ZK, ab 1941 Kandidat, von Februar 1947 bis März 1949 Mitglied des Politbüros des ZK der WKP(B), im Oktober 1949 verhaftet, 1950 zum Tode verurteilt und erschossen, 1954 rehabilitiert. Wittenburg, Gertrud: Wosnessenski, Nikolai Alexejewitsch (1903-1950), in: Krause, Werner et al. (Hrsg.): Ökonomenlexikon, Berlin (-Ost) 1989, S. 619-621. 12 Der Beitrag erschien erstmals 1947 in Moskau. Auch als Buch 1949, Berlin (-Ost). 13 Kuczynski war von 1947 bis 1950 Präsident der Gesellschaft zum Studium der Sowjetunion. 14 Wosnessenski, N. A.: Die Kriegswirtschaft in der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges, Berlin (-Ost) 1947, S. 5 ff.

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eine besondere Periode der sozialistischen Wirtschaft dar – die Periode der Kriegswirtschaft. Ihr entspricht auch ein besonderes Kapitel in der politischen Ökonomie des Sozialismus – die politische Ökonomie des Vaterländischen Krieges. Der Vaterländische Krieg begründete eine besondere Periode in der Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft – die Periode der Kriegswirtschaft. Die sowjetische Kriegswirtschaft ist durch besondere ökonomische Gesetzmäßigkeiten auf dem Gebiet der Produktion und der Verteilung charakterisiert. Der Periode der sowjetischen Kriegswirtschaft kommt ein besonderes Kapitel in der Wissenschaft der politischen Ökonomie zu. Die Theorie der sozialistischen Kriegswirtschaft wurde durch die Werke unseres Führers – des Genossen Stalin – geschaffen. Die Erfolge der sozialistischen Industrialisierung der Wirtschaft und die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion, die den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung vollendeten, schufen vor dem Vaterländischen Krieg somit die materiellen und moralisch-politischen Voraussetzungen für die erfolgreiche Verteidigung und die Unabhängigkeit unseres sozialistischen Vaterlandes. Das Bündnis der demokratischen Staaten im Kriege gegen Hitlerdeutschland und seine Satelliten, ein historischer Erfolg der sowjetischen Außenpolitik, beschleunigte die Niederwerfung des faschistischen Staatenblocks. Die Grundlagen der Kriegswirtschaft der UdSSR:15 Der Vaterländische Krieg erforderte die unverzügliche Umstellung der sowjetischen Wirtschaft auf das Gleis der Kriegswirtschaft. In den Beschlüssen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (B), der Sowjetregierung und in den Anordnungen des Genossen Stalin wurde bereits in den ersten Tagen des Vaterländischen Krieges das Programm für die Überführung der sozialistischen Friedenswirtschaft auf die sozialistische Kriegswirtschaft festgelegt. Die Errichtung des Staatlichen Verteidigungskomitees, das die sowjetische Legislative und Exekutive sowie die Parteileitung des Landes in sich vereinigte, gab die Gewähr für die Planmäßigkeit und Einheitlichkeit aller Aktionen in bezug auf die Mobilisierung sämtlicher Ressourcen der Wirtschaft für die Bedürfnisse des Großen Vaterländischen Krieges. Ein Vergleich der Kriegswirtschaft des zaristischen Rußland in den Jahren von 1914 bis 1917 mit der Sowjetunion in den Jahren von 1941 bis 1945 demonstriert die gewaltige Überlegenheit der sowjetischen Kriegswirtschaft, die es dem Sowjetstaat ermöglichte, trotz des zeitweiligen Verlusts einer Reihe von industriellen und landwirtschaftlichen Gebieten, die Versorgung der Front mit Kriegsausrüstung und Verpflegung sicherzustellen. Die Kriegswirtschaft der Sowjetunion stützte sich auf die Herrschaft des sozialistischen Eigentums an den Produktionsmitteln. Die Konzentration der hauptsächlichsten Produktionsmittel in den Händen des Sowjetstaates sicherte die rasche Umstellung der Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Krieges. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln im zaristischen Rußland stellte bei dem niedrigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Abhängigkeit vom Auslandskapital das 15 Ebd., S. 16 ff.

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Land während der Jahre 1914 bis 1917 vor unlösbare Schwierigkeiten in der Kriegsführung. Die ökonomische Grundlage der sowjetischen Kriegswirtschaft ist das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln, das die Konzentration aller materiellen Kräfte der sowjetischen Wirtschaft auf die siegreiche Beendigung des Vaterländischen Krieges gewährleistet hat. Die Umstellung der Wirtschaft auf das Ge-leis der Kriegswirtschaft, die Verlagerung der Produktivkräfte und ihr Wiederaufbau in den östlichen Gebieten waren die Vorbereitung für den Gesamtaufschwung der Kriegswirtschaft in der UdSSR. Die Umstellung der Volkswirtschaft: Das Programm der durch den Krieg bedingten Umstellung der sowjetischen Volkswirtschaft ist in den Reden Stalins in erschöpfender Form enthalten, vor allem in seinem Rundfunkaufruf an das Volk vom 3. Juli 1941 und in seinem Bericht zum 24. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution am 6. November 1941. Im November 1941, als in den Augen der Welt die Tage des Sowjetstaates „gezählt“ waren, machte der Leiter unserer Kriegswirtschaft, Genosse Stalin, den Vorschlag, einen großen Plan für den Aufbau neuer Kapazitäten der Eisenhüttenindustrie im Ural und in Sibirien als Basis der Kriegsproduktion auszuarbeiten und anzunehmen. Ein derartiges Einzelgeschehen in der Stalinschen Leistung genügte allein schon, um die große Ausdauer und das Vertrauen auf den Endsieg zu beleuchten, einen Sieg, zu dem ein Stalinscher Wille und ein heroischer Arbeitseinsatz der Werktätigen erforderlich waren. Der sozialistische Charakter der sowjetischen Wirtschaft und das daraus entspringende Prinzip der Planung sicherten somit den schnellen Übergang von der Friedens- zur Kriegswirtschaft der Sowjetunion. Die Verlagerung der Produktivkräfte aus den Front- und frontnahen Gebieten in das östliche Hinterland der Sowjetunion entzog die Produktionsbetriebe dem Zugriff der deutschen Okkupanten und gab unter der Leitung der Partei Lenins und Stalins die Gewähr für die ständige Festigung und Entwicklung der sowjetischen Kriegswirtschaft. Für die Periode der Kriegswirtschaft der UdSSR ist das schnelle Tempo der erweiterten sozialistischen Reproduktion in den östlichen Gebieten der Sowjetunion charakteristisch. Die erweiterte sozialistische Reproduktion fand ihren Ausdruck im Anwachsen der Arbeiterklasse, in der Vergrößerung der Industrieproduktion und in neuen Kapitaleinlagen, die die Entwicklung der Produktivkräfte der UdSSR gewährleisten. Den deutschen Okkupanten gelang es nicht, in den von ihnen besetzten Gebieten der Sowjetunion die Produktion zu organisieren und auch nur einen Teil der sowjetischen Menschen in diesen Gebieten auf ihre Seite zu ziehen. Während des Vaterländischen Krieges wurde trotz des Abzugs beträchtlicher materieller und geistiger Kräfte der Völker der Sowjetunion für die Bedürfnisse des Krieges eine heldenhafte Leistung in den befreiten Gebieten zum Wiederaufbau der von den Okkupanten zerstörten Wirtschaft vollbracht. Die Bevölkerung der befreiten Gebiete hat durch heroische Arbeit ihren Beitrag zur Bilanz der sowjetischen Kriegswirtschaft geleistet.

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Eine charakteristische Besonderheit der volkswirtschaftlichen Bilanz der UdSSR in der Periode der Kriegswirtschaft ist die planmäßige Neuverteilung des Volkseinkommens, des gesellschaftlichen Produktes, der materiellen Fonds und der Arbeitskräfte zugunsten des Vaterländischen Krieges. Infolge der siegreichen sozialistischen Industrialisierung war die Unabhängigkeit der sowjetischen Kriegswirtschaft auch in den Tagen schwerster Belastung sichergestellt. Die Industrie und die Kriegsproduktion:16 Unter Einsatz des gesamten Potentials ihrer Produktivkräfte rüstete die sozialistische Industrie der UdSSR die Sowjetarmee mit erstklassigem Kriegsmaterial aus. Trotz der Evakuierung einer beträchtlichen Anzahl von Rüstungsbetrieben, trotz des zeitweiligen Ausfalls einer Reihe von hochentwickelten Industriegebieten aus der Bilanz der sowjetischen Kriegswirtschaft vermehrte sich die Rüstungsproduktion allein in den östlichen und den zentralen Gebieten der Sowjetunion im Verlaufe des Vaterländischen Krieges um das 2 ½-fache gegenüber dem Produktionsniveau auf dem Gesamtgebiet der UdSSR im Jahre 1940. Die sozialistische Industrie ist der Stolz des Sowjetvolkes. Sie wurde von der Arbeiterklasse und der Intelligenz der UdSSR nach dem Plan Lenins und Stalins geschaffen. An dieser Stelle ist es notwendig, die Hauptergebnisse in der Entwicklung der sozialistischen Industrie zu erwähnen, die die Unabhängigkeit und das kriegswirtschaftliche Potential der Sowjetunion gewährleistet haben. Das hohe Wachstumstempo der Industrie. Im Jahre 1940 war die Produktion von Produktionsmitteln in der Großindustrie der UdSSR im Vergleich zum Jahre 1913 um das 17-fache und die Produktion von Konsumtionsmitteln um das 7,6fache angewachsen. Im Vergleich zum Jahre 1920 war die Produktion von Produktionsmitteln im Jahre 1940 um das 91-fache und die Produktion von Konsumtionsmitteln um das 59-fache angestiegen. Die Errichtung einer hochentwickelten inländischen Produktionsmittelindustrie unter besonderer Berücksichtigung des Maschinenbaus und der metallverarbeitenden Industrie. Im Jahre 1913 belief sich die Produktion von Produktionsmitteln in Rußland auf nur 33,6 % der gesamten Industrieproduktion, der Maschinenbau und die metallverarbeitende Industrie betrugen insgesamt nur 8,9 %. Die russische Industrie war vor der Revolution von den in industrieller Hinsicht stärkeren kapitalistischen Ländern abhängig, wobei der Bedarf an Industrieausrüstungen vorwiegend durch Import gedeckt wurde. Rußland war im ersten Weltkrieg nicht in der Lage, den Rüstungsbedarf seiner Armee aus der Inlandsproduktion zu decken. Seit dieser Zeit setzte sich die Entwicklung der Kriegsindustrie unentwegt fort. Äußerst lehrreich ist ein Vergleich des Tempos und des Niveaus der sowjetischen Kriegsproduktion während des Vaterländischen Krieges mit den entsprechenden Daten Rußlands aus der Zeit des ersten Weltkriegs, die in der Arbeit von A. A. Manikowskij „Die Versorgung der russischen Armee im Weltkrieg“ angeführt werden.

16 Ebd., S. 49 ff.

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Zum Vergleich der Rüstungsproduktion in Rußland während des imperialistischen Krieges von 1914 bis 1917 mit der Sowjetunion in der Zeit des Vaterländischen Krieges während der Jahre 1941 bis 1945 genügt die Feststellung, daß die Sowjetunion in der Kriegszeit das 29-fache an Artilleriegerät hergestellt hat, als im zaristischen Rußland während des ersten Weltkrieges in sämtlichen regierungseigenen und privaten Unternehmen produziert worden war. Die Produktion von Granatwerfern in der UdSSR hatte sich während der gleichen Zeit im Vergleich zur Produktion des zaristischen Rußland um das 89-fache vermehrt. In der Sowjetunion wurden während des Vaterländischen Krieges an Maschinengewehren aller Art um 78-mal mehr hergestellt als im zaristischen Rußland während des ersten Weltkrieges und an Gewehren das 6,4-fache. Die Produktion von Granaten aller Kaliber lag in der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges um das 8,2-fache und die von Patronen aller Art um das 6,9-fache höher als die, die während des ersten Weltkrieges der Armee geliefert wurde. Zu diesem quantitativen Anwachsen der Waffen- und Munitionsproduktion müssen die in keiner Weise vergleichbaren qualitativen Veränderungen in dem Kriegsmaterial der Sowjetunion während des Vaterländischen Krieges gegenüber dem Kriegsmaterial des zaristischen Rußland während des ersten Weltkrieges hinzugefügt werden. Es muß die Produktion von Raketengeschossen und -wurfgeräten, die Produktion einer erstklassigen schweren und Flakartillerie, moderner, leistungsfähiger Panzer, schneller Flugzeuge, von Schlachtflugzeugen, schweren Granatwerfern, Schnellfeuer-MGs, Maschinenpistolen und die Herstellung von automatischen Gewehren angeführt werden, auf die die Sowjetarmee mit Recht stolz ist. Diese technischen Errungenschaften waren der russischen Armee im ersten Weltkrieg völlig unbekannt. A. A. Manikowskij, der Leiter der Hauptverwaltung für Artilleriewaffen der russischen Armee im Kriege 1914 bis 1917, machte in seinem Buche eine überaus instruktive Feststellung über die Erfahrungen aus der Organisation der Kriegsproduktion in Rußland während des ersten Weltkrieges. Er schrieb: „Aus einer ganzen Reihe der oben angeführten Dokumente wird zweifellos klar, daß man erst nach der Kriegserklärung an die Notwendigkeit dachte, Munition auch während des Krieges selbst herzustellen. Unsere größte Unterlassungssünde und unser größtes Unglück bestand darin, daß wir der Annahme waren, einen modernen Krieg einzig und allein mit den in Friedenszeiten hergestellten Reserven führen zu können. Darum hatten wir uns auch nicht in genügendem Maße um die Entwicklung unserer regierungseigenen und privaten Unternehmungen gekümmert und keinerlei Pläne für die technische (betriebsmäßige) Mobilisierung aufgestellt. Der Erfolg war, daß wir in der Kriegszeit zu einer Reihe von übereilten und wenig zweckmäßigen Improvisationen Zuflucht nehmen mußten“. Es muß anerkannt werden, daß der Sowjetstaat diesen gewaltigen, durch die Herrschaft des Privateigentums und die industrielle Rückständigkeit des zaristischen Rußlands bedingten Fehler im Vaterländischen Krieg vermieden hat. Bereits in der Vorkriegszeit (vor 1941) war in der Sowjetunion eine Rüstungsindustrie ge-

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schaffen worden, die über spezialisierte Werke der Flugzeug-, Panzer- und Schiffsbauindustrie sowie der Waffen- und Munitionsindustrie verfügte. Auf dieser Basis wurde während des Vaterländischen Krieges die Kapazität der sowjetischen Rüstungsindustrie erweitert. Gerade dieser Umstand erlaubte es dem Oberkommando der Sowjetarmee, trotz des Verlustes eines großen Teiles der am Vorabend des Vaterländischen Krieges geschaffenen kriegstechnischen Reserven die Front mit Kriegsmaterial zu versorgen. Während des ersten Weltkrieges hatten Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei gegen Rußland 127 Divisionen ins Feld geworfen. Während des zweiten Weltkrieges stellten Deutschland, Rumänien, Italien und Ungarn an der Ostfront 257 Divisionen gegen die Sowjetunion auf, davon Deutschland allein 207 Divisionen, d. h. 2,4-mal mehr als während des ersten Weltkrieges. Nichtsdestoweniger wurden die deutschen Divisionen und deren Söldlinge von der Sowjetarmee geschlagen. Während des ganzen ersten Weltkrieges wurden der Armee des zaristischen Rußland 55,6 Mill. Artillerie- und Wurfgranaten aller Kaliber geliefert. Während des zweiten Weltkrieges erhielt die Sowjetarmee von der sozialistischen Industrie 775,6 Mill. Artillerie- und Wurfgranaten, d. h. 14-mal mehr als der russischen Armee im ersten Weltkrieg geliefert wurden. In dieser Lawine von Eisen und Feuer lebten der Zorn des Sowjetvolkes und seine unüberwindliche Kraft im Kampf um den Sieg über die räuberischen Hitlerimperialisten. Infolge der heldenhaften Anstrengungen der Arbeiterklasse und der sozialistischen Industrie in der UdSSR erhielt die Sowjetarmee eine technisch erstklassige Kriegsausrüstung. Gegen Ende des Vaterländischen Krieges mit Hitlerdeutschland lagen die Bestände der Sowjetarmee höher als in der Friedenszeit und zwar an Divisionen um das 4-fache, an Artillerie um das 5-fache, an Panzern um das 15-fache und an Flugzeugen um das 5-fache. Die Schlagkraft der Sowjetarmee zeigte sich in ihrer ganzen Macht im Endkampf um Berlin im April 1945. In dieser letzten Schlacht wurden von der Sowjetarmee eingesetzt: 41.000 Geschütze und Granatwerfer, 8.400 Flugzeuge, die den Schlag der Artillerie aus der Luft unterstützten, und über 6.300 moderne Panzer und Sturmgeschütze. Alle diese Siegeswaffen wurden von den Händen, dem Geist und der Arbeit des Sowjetvolkes geschaffen. Der Sieg der Sowjetarmee über Hitlerdeutschland wurde mit eigenen Waffen, mit eigenem Kriegsgerät errungen. Die Sowjetarmee war in der Periode des Vaterländischen Krieges mit erstklassigem, in den eigenen Betrieben des Landes geschaffenen Kriegsgerät ausgerüstet worden. Das Anwachsen der Rüstungsproduktion und die Versorgung der Armee mit Kriegsmaterial wurden durch die mächtige Entwicklung der Rüstungsindustrie in der Periode der Kriegswirtschaft und durch die feste, vor dem Vaterländischen Krieg in der Sowjetunion geschaffene industrielle Basis gewährleistet. Die sozialistische Landwirtschaft hat trotz der zeitweiligen Abtrennung reichster Landwirtschaftsgebiete der UdSSR die Sowjetarmee und die Bevölkerung in der Periode der Kriegswirtschaft mit Nahrungsmitteln versorgt. Die im Vergleich zum

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ersten imperialistischen Krieg beträchtliche Erhöhung der Marktreserven an landwirtschaftlichen Produkten der UdSSR wurde durch den Sieg der Kolchosordnung auf dem Land ermöglicht. Das Transportwesen und die Organisation des Güterverkehrs:17 Trotz der größten Schwierigkeiten in der Kriegszeit gelang es dem sowjetischen Transportwesen, den Erfordernissen der Sowjetarmee und der Kriegswirtschaft der UdSSR gerecht zu werden. Um das gesamte Eisenbahnnetz mit rollendem Material zu versorgen, müssen die sowjetischen Eisenbahner durch Beschleunigung der Wagenumlaufgeschwindigkeit Zehntausende von Waggons freimachen und für die Befriedigung der wachsenden Bedürfnisse in der sowjetischen Wirtschaft bereitstellen. Die Organisation der Arbeit und der Arbeitslohn:18 Unter den schwierigen Bedingungen der Kriegszeit hat der Sowjetstaat eine hochproduktive Arbeitsorganisation und das Anwachsen des Lohnes für die Arbeiter und Angestellten, unter Beibehaltung des höchsten Lohnniveaus in der Schwerindustrie gewährleistet. Dank dem organisierten System der Ausbildung und Verteilung der Arbeitskräfte sind in der Kriegswirtschaft der UdSSR keinerlei ernste Schwierigkeiten durch Mangel an Arbeitskräften aufgetreten. Der Warenumlauf und die Preise:19 In der Periode der Kriegswirtschaft haben sich die Formen des Warenumsatzes und die Versorgungsorganisation der Bevölkerung wesentlich verändert. Das fand seinen Ausdruck: im rationierten Verkauf von Lebensmitteln und Massenbedarfsgütern (Kartensystem); in der Differenzierung der Lebensmittelnormen und der Verkaufsbedingungen für die Werktätigen in den verschiedenen Zweigen der Kriegswirtschaft; in der Organisation von speziellen Arbeiter-Versorgungsabteilungen in den Betrieben. Die Anzahl der Bevölkerung die vom Staat mit Brot und anderen Lebensmitteln versorgt wurde, stieg in der Periode der Kriegswirtschaft auf 76,8 Mill. Menschen. Die Rationierung in der Nahrungsmittelversorgung unterstellte die Konsumtion den Interessen der Produktion und sicherte den Arbeitern in den kriegsentscheidenden Industriezweigen, in der Kriegsindustrie, in der Brennstoff-, Metall- und Energieerzeugung sowie im Eisenbahntransport, ein höheres Verbrauchsniveau. Im Zusammenhang mit der Praxis der genormten Nahrungsmittelversorgung erlangte während der Periode der Kriegswirtschaft die Gemeinschaftsverpflegung große Bedeutung (Betriebsküchen, Kantinen). Diese öffentliche Speisung wurde für viele Arbeiter und Angestellte zur Hauptverpflegung. Der Anteil dieser Gemeinschaftsverpflegung am gesamten Einzelhandelsumsatz erhöhte sich von 13 % im Jahre 1940 auf 25 % im Jahre 1943. 17 Ebd., S. 63 ff. 18 Ebd., S. 68 ff. 19 Ebd., S. 76 ff.

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In den kapitalistischen USA gelang es der Regierungskontrolle nicht, die Preise auf dem Vorkriegsniveau zu halten. Während des zweiten Weltkrieges stieg der Großhandelsindex für landwirtschaftliche Produkte im Vergleich zum Vorkriegsniveau auf 196 %, für Nahrungsmittel auf 151 % und für Textilerzeugnisse auf 144 %. Dieses Ansteigen der Großhandelspreise mußte sich unausweichlich auf das Niveau der Einzelhandelspreise und des Arbeitslohnes auswirken. Der Sowjetstaat legte staatliche Einzel- und Großhandelspreise fest und lenkte damit die Sicherung einer normalen Lebenshaltung für die Werktätigen in Stadt und Land. Die Herrschaft des sozialistischen Eigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln, die Konzentration des größeren Teiles der im Inland zirkulierenden Waren in den Händen des Staates, die planmäßige Verteilung der Warenfonds, das Außenhandelsmonopol – all das sicherte in der Periode der sowjetischen Kriegswirtschaft die Stabilität der durch die sowjetische Regierung schon vor dem Kriege festgelegten staatlichen Einzelhandelspreise. Andere Gesetzmäßigkeiten herrschten auf dem freien Kolchosmarkt. Hier wirkte das Wertgesetz in seiner marktmäßigen Form als Gesetz von Angebot und Nachfrage. Demzufolge erhöhte sich in den Städten der Preisindex auf dem Kolchosmarkt im Jahre 1943 im Vergleich zum Vorkriegsniveau des Jahres 1940 für pflanzliche Produkte um das 12,6-fache und für tierische Erzeugnisse um das 13,2fache. Das Ansteigen der Einzelhandelsumsätze auf dem Kolchosmarkt in den Jahren 1942 und 1943 im Vergleich zum Vorkriegsjahr 1940 ist mit der Erhöhung der Einzelhandelspreise unter dem Einfluß einer das Angebot übersteigenden Nachfrage verbunden. Mit dem Wiederaufbau der Landwirtschaft und dem erweiterten Verkauf von Nahrungsmitteln auf den Kolchosmärkten setzte vom Jahre 1944 eine fühlbare Preissenkung ein; im Jahre 1945 fielen die Preise im Kolchoshandel im Vergleich zu 1943 um das 2,3-fache. Das Absinken der Preise im Kolchoshandel in den Jahren 1944 und 1945 ist auch mit dem im Jahre 1944 organisierten staatlichen kommerziellen Handel zu erhöhten Preisen verbunden. Die Einführung des staatlichen kommerziellen Handels gab die Gewähr für den Rückgang der Einzelhandelspreise auf dem freien Markt. Außerdem gab der kommerzielle Handel der sowjetischen Intelligenz wie auch den qualifizierten Arbeitern die Möglichkeit, für ihre steigenden Arbeitslöhne und Prämien über die festgelegten Rationen hinaus eine zusätzliche Menge an Nahrungsmitteln und anderen Bedarfsartikeln zu erwerben. Das Vorhandensein von zweierlei staatlichen Einzelhandelspreisen für rationierte und für im kommerziellen Handel erhältliche Waren hatte jedoch – besonders unter Beibehaltung eines freien Marktes, in dem sich die Preisbildung auf der Basis von Angebot und Nachfrage vollzog – auch seine negativen Seiten und war lediglich eine vorübergehende Maßnahme. Das Nebeneinanderbestehen von zwei verschiedenen Einzelhandelspreisen für ein und dieselbe Ware leistet der Spekulation Vorschub. Die außerordentlich große Spanne zwischen den staatlichen und den freien Marktpreisen auf Bedarfsartikel erlaubt spekulativen Elementen, die sich bis zu einem gewissen Grade auch heute noch in der Sowjetgesellschaft erhalten haben, auf Kosten der Bevölkerung und des Staates zu verdienen und somit in großem Ausmaße arbeitslose Geldeinkommen zu erzeugen.

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Die staatliche Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgegenständen für viele Millionen Werktätige wurde durch den Sowjetstaat in der Periode der Kriegswirtschaft auf der Basis der festen staatlichen Einzelhandelspreise für rationierte Waren organisiert. Unabhängig vom wirklichen Wert oder den Produktionskosten der Waren hielt der Sowjetstaat in der Periode der Kriegswirtschaft die für die rationierten Waren festgesetzten Einzelhandelspreise für die hauptsächlichsten Bedarfsartikel auf dem Vorkriegsniveau. Die Beibehaltung eines stabilen Niveaus für die staatlichen Einzelhandelspreise auf Konsumgüter sowie auch der Tarife für soziale Dienstleistungen, die der Bevölkerung zugutekamen, sicherten in der Periode der sowjetischen Kriegswirtschaft den unbedingt notwendigen Lebensstandard der Werktätigen in Stadt und Land. Das materielle Lebensniveau der Arbeiter und Angestellten der UdSSR wurde in der Zeit der Kriegswirtschaft auch durch die steigenden Arbeitslöhne und die Einbeziehung der nichtberufstätigen Bevölkerung in den Produktionsprozeß sichergestellt, was zur Erhöhung des Gesamtlohneinkommens der Familien sowie des Haushalts der Arbeiter und Angestellten beitrug. Wir fassen zusammen. Der genormte Handel mit Nahrungsmitteln und anderen vordringlichen Bedarfsartikeln gab in der Periode der Kriegswirtschaft der UdSSR die Gewähr für die relativ besten Versorgungsbedingungen für die Arbeiter, die Angestellten und die Intelligenz in den führenden Zweigen der Kriegswirtschaft. Die von der Sowjetregierung für die wesentlichen Versorgungs- und Massenbedarfsartikel durchgeführte Politik der festen Preise sicherte in den Jahren des Vaterländischen Krieges ein stabiles Niveau der Reallöhne. Wenn man die sozialistische Produktion der UdSSR in die I. Abteilung, die Produktionsmittel produziert, und in die II. Abteilung, die Konsumptionsmittel produziert, aufteilt, so wird es offensichtlich, daß der Wert der Produktionsmittel, die der Staat den Betrieben der II. Abteilung zuteilt, in einem bestimmten im Plan festgelegten Verhältnis zu dem Wert der Konsumtionsmittel stehen muß, die den Betrieben der I. Abteilung zugeteilt werden. In der Tat, wenn die Betriebe der I. Abteilung auf Konsumtionsmittel und die der II. Abteilung auf Produktionsmittel verzichten müßten, wäre die erweiterte sozialistische Reproduktion unmöglich. Die Arbeiter der Produktionsmittel produzierenden Betriebe hätten keine Konsumtionsmittel und umgekehrt die Konsumtionsmittel produzierenden Betriebe keine Produktionsmittel, d. h. keine Brennstoffe, Rohstoffe und Ausrüstungen. Das Wertgesetz ist somit das in der sozialistischen Wirtschaft umgewandelte und elementarste in den Dienst der staatlichen Planung gestellte Gesetz der Produktionskosten, der Verteilung und des Austausches der Produkte. Die sozialistische Produktionsplanung setzt die Kenntnis der ökonomischen Gesetze der Produktion und Verteilung sowie die kluge Ausnutzung dieser Gesetze im Interesse des Sozialismus voraus. Die Erfahrungen in der Planung der Volkswirtschaft der UdSSR erfordern die Errichtung von normalen Materialreserven und -vorräten als unerläßliche Bedingung für die Beseitigung des saisonbedingten Abfalls im Produktionszuwachs und für die Beschleunigung des Tempos der erweiterten Reproduktion.

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Die sozialistische Wirtschaft in der Nachkriegszeit:20 Der große Vaterländische Krieg von 1941 bis 1945 wurde mit der völligen Vernichtung Hitlerdeutschlands siegreich beendet. Unmittelbar nach Einstellung der Kampfhandlungen in Europa wurde auch der Krieg im Fernen Osten mit der Niederlage des japanischen Imperialismus zum Abschluß gebracht. Damit fand der zweite Weltkrieg sein Ende. Es begann der Übergang vom Krieg zum Frieden. In den kapitalistischen Ländern vollzieht sich dieser Übergang gewöhnlich durch eine Krise und Massenarbeitslosigkeit. Die Sowjetwirtschaft ist in der glücklichen Lage, diese Umstellung der Wirtschaft frei von Krisen und jedweder Arbeitslosigkeit durchführen zu können. Der Übergang von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft in der UdSSR vollzieht sich ohne Krisen und Depressionen auf Grund der planmäßigen Lösung folgender Umstellungsaufgaben der Nachkriegswirtschaft durch den Staat: durch Festsetzung neuer Proportionen in der Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft im Vergleich zu denen der kriegswirtschaftlichen Periode. Es ist vollkommen klar, daß die Proportionen in der Entwicklung der Wirtschaft der UdSSR, die sich in der Friedensperiode der Vorkriegszeit ergeben haben, nicht genau so in der Nachkriegsperiode wiederholt werden können; aber die Grundgesetze der erweiterten sozialistischen Reproduktion sind auch für den Wiederaufbau und die Entwicklung der Sowjetwirtschaft in der Nachkriegszeit bindend. Das bedeutet die notwendige, vordringliche und schnelle Wiederherstellung der Hütten- und Brennstoffindustrie, der Energiewirtschaft, des sowjetischen Eisenbahntransports sowie auch des inländischen Maschinenbaues, der die technischwirtschaftliche Unabhängigkeit unserer Heimat gewährleistet; wird der Übergang zur Friedenswirtschaft durch die Neuverteilung der Arbeitskräfte sowie auch der Grund- und Umlaufsfonds auf die Zweige der Wirtschaft durchgeführt. Dies bedeutet, daß es notwendig ist, den Anteil der Schwerindustrie und des Bahntransports im Vergleich zur Kriegswirtschaftsperiode in der volkswirtschaftlichen Bilanz zu erhöhen. Es bedeutet ferner aber auch die Schaffung von materiellen Reserven und Vorräten in der dem Arbeiter bei der Umschulung und zahlt ihm während der Zeit der Produktionsumstellung einen mittleren Arbeitslohn aus. Die Aufgabe besteht auch darin, die mit dem Umbau der Volkswirtschaft verbundenen Ausgaben auf ein Minimum zu beschränken und die Umstellungszeit soweit wie möglich zu verkürzen, um ein hohes Reproduktionstempo zu sichern. Das hohe Wachstumstempo der sozialistischen Reproduktion ist in vieler Hinsicht von den richtigen Größenverhältnissen (Proportionen) zwischen den verschiedenen Zweigen der materiellen Produktion, zwischen Produktion und Verkehr abhängig. Disproportionen in der Wirtschaftsentwicklung führen zu einer Verminderung des Tempos in der Produktion und der Reproduktion. Ein Mißverhältnis z. B. zwischen dem Produktionsniveau und dem Transportvolumen könnte die Volkswirtschaft in eine Sackgasse führen. Zur Verhütung derartiger Mißverhältnisse in der Volkswirtschaft muß für die Entwicklung des Transportwesens, für die Schaffung und Vergrößerung des rollenden Materials und für die Vervollkommnung der Verkehrstechnik unablässig Sorge getragen werden. 20 Ebd., S. 110 ff.

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Das antiimperialistische demokratische Lager mit der UdSSR an der Spitze führt einen Kampf gegen die imperialistische Expansion und eine neue Kriegsbedrohung. Von der Kraft und der Einigkeit des demokratischen, antiimperialistischen Lagers hängt das Scheitern der aggressiven, provokatorischen Kriegspläne ab. Infolge des ersten Weltkrieges und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hat der Kapitalismus seine Macht in Rußland verloren, in Gestalt der UdSSR entstand und erstarkte das System des Sozialismus; es begann die allgemeine Krise des Kapitalismus. Im Gefolge des zweiten Weltkrieges und der demokratischen Umgestaltung der Länder Zentral- und Osteuropas entstanden neue Volksrepubliken, die Länder der Volksdemokratie. Der Weltkapitalismus hat auch in einer Reihe demokratischer Länder an Macht verloren. Die Kräfte der Demokratie und des Sozialismus sind gewachsen, die allgemeine Krise des Kapitalismus hat sich weiter verschärft. Die Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft der UdSSR muß die Nachkriegsveränderungen in der internationalen Lage berücksichtigen. Die Besonderheiten der sozialistischen Reproduktion in der UdSSR, die sich in der Nachbarschaft mit kapitalistischen Ländern entwickelt, verpflichten den Sowjetstaat, das notwendige Rüstungspotential und seine militärische und wirtschaftliche Macht aufrecht zu erhalten. Solange eine kapitalistische Einkreisung besteht, muß das Pulver trocken gehalten werden. Solange der Imperialismus existiert, besteht auch die Gefahr eines Überfalls auf die Sowjetunion, die Gefahr eines neuen dritten Weltkrieges. Diesen aber kann nur ein gerüstetes Volk verhüten, das über gewaltige Produktivkräfte verfügt. Die Aufgabe der Nachkriegsentwicklung der Sowjetwirtschaft besteht demnach darin, in den nächsten Jahren die in den befreiten Gebieten der UdSSR von den deutschen Okkupanten zerstörte Wirtschaft wiederherzustellen und auf dem gesamten Gebiet der Sowjetunion das Produktionsniveau der Vorkriegszeit wesentlich zu übertreffen. Wenn wir die Aufgabe des Wiederaufbaues und der weiteren mächtigen Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft meistern, dann machen wir einen beträchtlichen Schritt vorwärts im Aufbau der kommunistischen Gesellschaft und in der Verwirklichung unserer wirtschaftlichen Hauptaufgabe, nämlich die großen kapitalistischen Länder in ökonomischer Hinsicht einzuholen und zu überholen. 2.3. Auszüge aus dem Drahtbericht von George F. Kennan aus Moskau vom 22. Februar 1946 und aus „Die Vereinigten Staaten und Rußland“ (Winter 1946) Bereits vor der Gesamtkapitulation der Wehrmacht am 7./9. Mai 1945 hatten sich die „Siegermächte über die Aufteilung Deutschlands in drei und dann – nachdem Frankreich in den Kreis der Sieger aufgenommen worden war – in vier Besatzungszonen verständigt, deren Grenzen von der EAC21 festgelegt und in Jalta von 21 Weiß, Hermann: European Advisory Commission (EAC), in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 256-259.

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Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin – den ‚Großen Drei‘ bestätigt wurden“. Die Militärgouverneure waren „Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen, standen an der Spitze der Militärregierung als jeweils oberster zonaler Instanz und waren verantwortlich für die amerikanische,22 britische,23 französische,24 sowjetische Besatzungspolitik25 in Deutschland; die vier Militärgouverneure als Vertreter der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs bildeten gemeinsam den Alliierten Kontrollrat. Mit Gründung der BRD bzw. DDR wurden die Militärgouverneure durch Hohe Kommissare ersetzt“.26 Die vier Militärgouverneure Dwight D. Eisenhower (USA), Georgij Konstantinowitsch Schukow (UdSSR), Bernard Law Montgomery (Großbritannien) und Jean de Lattre de Tassigny (Frankreich) übernahmen die oberste Gewalt in Deutschland und in den jeweiligen vier Zonen: die Vier-Mächte-Erklärung von Berlin. Sie waren grundsätzlich an die Weisungen ihrer jeweiligen Regierung in Washington, Moskau, London und Paris gebunden. Die bipolare Welt war für George F. Kennan schon früh erkennbar. In seinen Erinnerungen schreibt er unter dem Kapitel „Von der deutschen Kapitulation (7./9. Mai 1945) bis Potsdam (17.7.-2.8.1945)“: „In einem Bericht der Moskauer Botschaft der USA vom 19. Mai 1945 über die Haltung der sowjetischen Presse in den letzten Wochen vor der deutschen Kapitulation finden sich folgende Beobachtungen: ‚Man kann getrost behaupten, daß kein anderer Personenkreis irgendwo auf der Welt sich der entscheidenden Wichtigkeit der Zeit nach dem Waffenstillstand, ihrer Möglichkeiten und Gefahren stärker bewußt ist als der Führer der Sowjetunion. Selber Träger eines Regimes, das aus dem chaotischen Nachspiel des Ersten Weltkriegs erwuchs, sehen sie in aller Klarheit, daß es die jetzt während des auf die Militäraktion folgenden allgemeinen Durcheinanders gezogenen Linien sind, die sich verfestigen und Bestand haben und das Gesicht der Zukunft bestimmen werden. Die Entscheidungen der nächsten paar Wochen halten sie für wichtiger als selbst die Beschlüsse zukünftiger Friedenskonferenzen. Denn diese werden nach Auffassung der Sowjets wenig mehr ergeben als eine Bestätigung der Landmarken, die aufgestellt wurden, als alles im Fluß war‘. Ich selber, der ich an der Abfassung des Berichtes nicht ganz unbeteiligt war, hegte verständlicherweise den Wunsch, unsere Regierung möge schon jetzt die Probleme analysieren, die das Nachkriegsrußland uns bescheren würde, und eine Politik entwerfen, die den Schaden möglichst klein hielte, der der erhofften Stabilität Europas aus der letzten militärisch-politischen Entwicklung im Gebiet der russischen Front erwachsen war. Aus diesem Grund füllte ich nicht nur meine privaten 22 Rupieper, Hermann-J.: Amerikanische Besatzungspolitik, in: ebd., S. 33-47. 23 Jürgensen, Kurt: Britische Besatzungspolitik, in: ebd., S. 48-59. 24 Wolfrum, Edgar: Französische Besatzungspolitik, in: ebd., S. 60-72. 25 Scherstjanoi, Elke: Sowjetische Besatzungspolitik, in: ebd., S. 73-89. 26 Ebd., S. 273, 283.

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Notizbücher mit meinen Sorgen und Nöten, sondern plagte auch alle, von denen ich Verständnis erhoffte, in erster Linie den Botschafter mit Protesten und Appellen und ständigem Drängen. Und meiner Feder entflossen, wie ich errötend gestehe, derart viele Aufzeichnungen, daß ihre Wiedergabe diesen Band sprengen würde. Andererseits haben die darin ausgeführten Gedanken in einigen meiner späteren, von der Öffentlichkeit vielbeachteten Publikationen eine große Rolle gespielt, und deshalb möchte ich sie hier zusammenfassen. Ich werde mich dabei im wesentlichen auf Fragen der amerikanischen Politik beschränken. Meine Analyse der russischen Situation ist in den beiden langen Abhandlungen enthalten, auf die ich schon verwiesen habe. Während der ganzen ersten Nachkriegszeit befürwortete ich – wohl als einziger in den oberen Rängen der Regierungsbeamten – die sofortige und klare Anerkennung der Aufteilung Europas in Einflußsphären und eine darauf aufbauende Politik. Dafür hatte ich zwei Gründe. Erstens war ich noch genauso davon überzeugt wie schon vor der deutschen Kapitulation, daß es müßig wäre, uns in der Hoffnung zu wiegen, wir könnten den Gang der Dinge in dem bereits der russischen Herrschaft anheimgefallenen Gebiete noch irgendwie beeinflussen. Ich fand, daß wir nur uns selbst und die Öffentlichkeit im Westen täuschen würden, wenn wir uns weiter einredeten, der Großteil dieser Länder habe in absehbarer Zukunft etwas anderes zu erwarten als vollständige Isolierung vom Westen nach sowjetischem Muster. Unter diesen Umständen sah ich nicht ein, weshalb wir uns besonders anstrengen sollten, um es den Russen bequemer zu machen, sei es durch Hilfsaktionen der einen oder anderen Art, sei es durch Mitübernahme der Verantwortung für ihr Vorgehen. Es schien mir besser, wenn wir an dem, was sich jetzt nur allzu offensichtlich ereignen würde, nicht beteiligt wären“.27 Der russischen Herrschaft anheimgefallen waren Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Sowjetisch besetzte Zone Deutschlands. Der Wirtschaftspublizist Gustav Stolper (1888-1947), der nach der Machtergreifung Hitlers 1933 in die USA emigriert war, diente dem früheren Präsidenten Hoover auf dessen Europareise 1947 als Wirtschaftsberater.28 Er sah sehr klar die Stellung des sowjetischen Militärgouverneurs G. K. Schukow in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands. Schukow erhielt seine Weisungen aus Moskau und war gegenüber dem Generalsekretär der KPdSU J. W. Stalin Rechenschaft schuldig. Stolper führte zur Sowjetzone aus: „Wenn die Sowjetunion je die Absicht hatte, im Sinne des Potsdamer Abkommens (17. Juli bis 2. August 1945) ein geeintes Deutschland aufzurichten, so hat sie das nie mit einem Zeichen verraten. Vom ersten Augenblick der Okkupation an begann Moskau die Ostzone zu sozialisieren. In diesem Werk hat sie so umfassenden Erfolg erzielt, daß es äußerst zweifelhaft ist, ob es selbst durch völlige Umkehrung der politischen Voraussetzungen rückgängig zu machen wäre. Wie konnte es unter den gegebenen Umständen auch anders sein?

27 Kennan, George F.: Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1950, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 257 f. 28 Collier, Irwin L.: Gustav Stolper (1888-1947), DBE, Bd. 9, 2001, S. 553.

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Wir müssen einsehen, daß die Sowjetmethoden des täglichen Lebens, der politischen Verwaltung, der sozialen, finanziellen und wirtschaftlichen Organisation, die einzigen Methoden sind, für die die Sowjetorgane je geschult wurden, die sie je kennenlernten. In der fiktiven Atmosphäre der aufrichtigen, kameradschaftlichen Freundesgespräche der Ära Roosevelt tauchte die Frage wahrscheinlich gar nicht auf, wie eine russische Verwaltung in irgendeinem Teil der Welt es vermeiden könnte, die bestehende soziale und wirtschaftliche Ordnung umzustürzen.29 Ob aus freiem Willen oder aus militärischer Notwendigkeit; jedenfalls überließen die Westmächte die Besetzung Berlins und des industriellen Sachsen und Thüringen den russischen Armeen. Da Berlin zum gemeinsamen Mittelpunkt der vier Besatzungsmächte ausersehen war, wäre es von äußerster Bedeutung gewesen, daß alle vier Berlin gleichzeitig besetzten.30 Aber nachdem die Russen Berlin einmal erobert hatten, hielten sie die anderen lange genug fern, um mit ihren Plänen einen guten Vorsprung zu erzielen. Als es dann schließlich den amerikanischen und britischen Armeen gestattet wurde, in Berlin einzumarschieren und die ihnen zugesprochenen Sektoren zu besetzen, blieb ihnen nichts übrig, als alle vollendeten Tatsachen zu akzeptieren“.31 Ähnlich argumentiert auch John H. Backer:32 „Was die Entscheidung über die deutsche Teilung betrifft, so gibt es keinen Hinweis, daß irgendeine langfristige Wirtschaftspolitik – von einem nebulösen ‚Multilateralismus‘ einmal abgesehen – eine entscheidende Rolle vor der Marshall-Plan-Gesetzgebung gespielt hatte. Es versteht sich von selbst, daß es den verständlichen Wunsch in den USA wie auch in der UdSSR gab, die Welt so weit wie möglich in Übereinstimmung mit der jeweils eigenen Gesellschaft neu zu ordnen. […] Auf der einen Seite wird man sich an George Kennans Kommentar erinnern, daß die Gedanken an eine amerikanischsowjetische Zusammenarbeit bloße ‚Hirngespinste‘ seien,33 eine Ansicht, die offensichtlich von Charles Bohlen geteilt wurde.34 Es wäre anmaßend, die Ansichten dieser hervorragenden Experten für die UdSSR beiseite zu wischen“.35

29 Der Demokrat Franklin Delano Roosevelt (1882-1945) wurde erstmals 1933 und danach 1936, 1940 und 1944 zum amerikanischen Präsidenten gewählt. Am 12. April 1945 starb Roosevelt plötzlich. Am gleichen Tag folgte Harry S. Truman als Präsident der USA. 30 Die erste Sitzung der amerikanischen, britischen und sowjetischen Stadtkommandanten erfolgte am 11. Juli 1945. 31 Stolper, Gustav: Die deutsche Wirklichkeit. Ein Beitrag zum künftigen Frieden Europas, Hamburg 1949, S. 132. 32 Backer, John H., nach 1945 vier Jahre lang Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung in Deutschland, war von 1955 bis 1970 als Diplomat in der Bundesrepublik und der Sowjetunion tätig. Später war er Berater eines US-Senators in Washington, D. C. 33 Kennan, George F.: Memoirs, 1925-1950, Boston 1967, S. 178. 34 Clay, Lucius D.: Decision in Germany, New York 1950, S. 131. 35 Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1943-1981, München 1981, S. 167 f.

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George F. Kennan gibt tiefe Einblicke in die amerikanische Deutschlandpolitik und in die Unmöglichkeit dabei zu einer Übereinkunft mit Stalins Deutschlandpolitik zu kommen: „Nach der Rückkehr nach Washington im Jahre 1943 nahm mein inzwischen verstorbener Kollege Henry P. Leverich, mit dem ich Anfang des Krieges an der Berliner Botschaft zusammen gewesen war und der sich jetzt im State Department mit der Nachkriegsplanung für Deutschland befaßte, mich einmal als Gast mit zu einer Sitzung des sogenannten Deutschland-Komitees, in dem diese Fragen untersucht wurden. Dabei zeigte er mir eine damals zur Beratung anstehende grundsätzliche Weisung über die Verwendung deutschen Personals bei einer zukünftigen Militärregierung. Das veranlaßte mich zu einem schriftlichen Memorandum über die solcher Planung zugrundeliegenden Prinzipien, die in meiner Sicht über die Personalpolitik der künftigen Militärregierung im engeren Sinne hinausgingen und das Problem der Entnazifizierung und ganz allgemein unseres politischen Verhaltens gegenüber dem Nachkriegsdeutschland einschlossen. Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß mein Memorandum jemals diejenigen erreichte, die in der Zeit unmittelbar nach dem Ende der Feindseligkeiten für unsere Deutschlandpolitik verantwortlich waren. Zwar hatten die damals von mir vertretenen Ansichten sich, wie mir scheint, nach 1947 in der amerikanischen Politik allgemein durchgesetzt – während der ersten zwei oder drei Jahre nach der deutschen Kapitulation jedoch wurde größtenteils genau die Taktik verfolgt, gegen die meine Aufzeichnung gerichtet war. Da eine vernünftige Deutschlandpolitik in meinen Augen die erste Voraussetzung für eine solide Nachkriegspolitik gegenüber der Sowjetunion bildete, beobachtete ich unser Verhalten in Deutschland unmittelbar nach dem Kriege (zum Beispiel den Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß) mit einem an Verzweiflung grenzenden Entsetzen. Es erweckte in mir ein noch stärkeres Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Vergeblichkeit als selbst die Meinungsverschiedenheiten mit der Regierungsspitze wegen unserer bilateralen Beziehungen zu Moskau. Unter diesem Aspekt sind die folgenden Auszüge aus meinem Memorandum für Leverich – dem einzigen Beitrag zur Meinungsbildung über die Behandlung Deutschlands nach dem Kriege, zu dem ich Gelegenheit hatte – in diesem Bericht vielleicht nicht fehl am Platze. Ich begann mit einer kurzen Zusammenfassung des Grundgedankens, von dem die mir gezeigte Konferenzvorlage ausgegangen war. Danach ‚hielten wir es für unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß in der Verwaltung beschäftigte Deutsche keine Feinde des demokratischen Wiederaufbaus seien, und müßten folglich danach trachten, aus dem Verwaltungsapparat des deutschen Staates alle Angehörigen bestimmter großer Kategorien der Bevölkerung auszuschalten, zu denen insgesamt mindestens drei Millionen Menschen gehören‘. Ich erläuterte sodann meine Einwände gegen diese Zielsetzung. ‚Erstens läßt sich das nicht durchführen. Es bedingt ein Maß an Wissen und an Koordinierung in Personalsachen, das auf einer Drei-Mächte-Basis niemals zu erreichen ist. In der Außenpolitik gibt es keine dornigere oder undankbarere Aufgabe

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als den Versuch, die politische Vergangenheit oder die politischen Motive unzähliger Einzelpersonen in einem fremden Land zu durchleuchten. Ungerechtigkeiten, Irrtümer und Ressentiments lassen sich unmöglich vermeiden. Ein riesiger und notwendigerweise unpopulärer Untersuchungsapparat wird benötigt. Unsere eigenen Nachrichtendienste wären von einem solchen Deutschlandprogramm ganz klar überfordert. Der Versuch, es auf Drei-Mächte-Basis anzupacken, würde lediglich Meinungsverschiedenheiten unter den Alliierten auslösen. Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Alliierten sich auch nur nach außen hin darauf einigen können, welche Gruppen ausgeschaltet werden müßten. Weder Engländer noch Russen halten beim Umgang mit fremden Völkern ideologische Unterschiede für besonders wichtig; beiden dürfte die unmittelbare Brauchbarkeit jedes einzelnen für ihre Zwecke wichtiger sein als irgendwelche Ansichten, zu denen er sich früher einmal bekannt haben mag. Bei dem Versuch, dieses Programm durchzuführen, werden wir scheitern. Die Leute werden entweder unserer Aufmerksamkeit völlig entgehen; oder sie werden ihre Unentbehrlichkeit aus technischen Gründen beweisen; oder sie werden verschwinden und anderswo unter falschem Namen auftauchen; oder sie werden sich bei einem der Alliierten einschmeicheln und ihn gegen die beiden anderen ausspielen. Schließlich werden wir uns in einem Gestrüpp von Denunziationen, Verwirrung und Uneinigkeit verfangen, das keinem außer den Deutschen selbst nützen kann. Zweitens würde das Projekt, auch wenn es durchführbar wäre, nicht den Zweck erfüllen, für den es bestimmt ist. Wir würden keine andere Schicht von Menschen finden, die imstande wäre, die Verantwortlichkeiten der von uns ausgeschalteten zu übernehmen. Ob es uns nun paßt oder nicht: Neunzig Prozent alles dessen, was in Deutschland kraftvoll, fähig und geachtet ist, gehört in die einschlägige Kategorie. Die Entfernung all dieser Leute aus ihren Ämtern wäre für jede spätere Regierung – vermutlich eine aus Besatzungsoffizieren und den Alliierten genehmen liberalen Deutschen zusammengesetzte – eine Aufgabe, die ihre Kräfte weit übersteigen und sie gleichzeitig einer erbitterten, verantwortungslosen Opposition von noch nicht dagewesenem Format und Ansehen aussetzen müßte. Das könnte nur das eine Ergebnis haben, in Deutschland alles, wofür die Westmächte eintreten, endgültig in Mißkredit zu bringen, die nationalistischen Elemente mit einer Märtyrerkrone zu schmücken und damit schließlich ihrer triumphalen Rückkehr als Befreier Deutschlands von einer stümperhaften, scheindemokratischen Marionettenregierung Vorschub zu leisten. Wir dürfen keinen Augenblick vergessen, daß die Verfechter des Liberalismus in Deutschland jammervoll dünn gesät und schwach sind. Ihnen eine derartige Verantwortung aufzubürden, bevor ihre Schultern stark genug sind, sie zu tragen, könnte leicht zu ihrer völligen Vernichtung führen. Schließlich möchte ich behaupten, daß die Ausschaltung nationalistischer Elemente durch Aktionen von unserer Seite nicht nur undurchführbar und unwirksam, sondern darüber hinaus unnötig ist. Der Hauptzweck unserer postmilitärischen Operationen in Deutschland ist doch wohl, dafür zu sorgen, daß das Land nicht noch einmal zum Ausgangspunkt eines Systems militärischer Aggressionen wird,

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die unsere Sicherheit gefährden könnten. Aus diesem Grunde muß – darüber sind sich alle einig – den Deutschen vor Augen geführt werden, daß Aggression kein gewinnbringendes Geschäft ist. Aber ich sehe nicht, inwiefern das gleichbedeutend sein sollte mit der künstlichen Entfernung irgendeiner gegebenen Bevölkerungsschicht aus ihren öffentlichen Ämtern. Unterstellen wir doch lieber (wozu wir völlig berechtigt sind); das nationalistische Deutschland sei Deutschland; und gehen dann daran, dem nationalistischen Deutschland nicht etwa ausgerechnet die Verantwortlichkeiten abzunehmen, die es mit Fug und Recht selber tragen sollte, sondern es strikt zur Arbeit anzuhalten und ihm die Lektionen zu erteilen, die es verdient hat. Die beste Medizin für die derzeit in Deutschland herrschende Schicht ist nicht die zuvorkommende Entfernung aus ihren Ämtern gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die Amtsausübung eine widerwärtige Bürde geworden ist, sondern der unerbittliche Anschauungsunterricht darüber, daß Deutschland nicht stark genug ist, die Interessen anderer Großmächte ungestraft zu bedrohen, und daß jeder Versuch in dieser Richtung unausweichlich zur Katastrophe führt. Gerade die starke nationalistische Führungskaste muß sich davon überzeugen. Wenn sie erst einmal begriffen hat, wird die Erkenntnis ihrem Nationalismus den Garaus machen. Vermutlich wird das früher oder später auch für sie selbst den politischen Tod bedeuten, denn eigentlich hat sie kein Programm außer Deutschlands Größe und Deutschlands Macht. Aber wenn sie dann abtritt, wird es wegen der Logik der Geschichte und wegen der organischen Entwicklung des deutschen politischen Lebens sein, nicht wegen voreiliger und notgedrungen stümperhafter Einmischung von außen. Die politische Entwicklung großer Völker wird von ihren eigenen nationalen Erfahrungen gelenkt und bestimmt, niemals von den Manipulationen fremder Mächte in internen Angelegenheiten. Lassen wir also den Schock der Niederlage so überwältigend wie nur möglich sein. Gestalten wir den unmittelbaren Eindruck des Fehlschlags so eindringlich und unvergeßlich, daß er für alle Zeiten Bestandteil des nationalen Bewußtseins des deutschen Volkes wird. Wenn das aber getan ist, dann sollte die Idee der Bestrafung aus unserem Behandlungskonzept für Deutschland gestrichen werden. Denn anhaltende Bestrafung eines ganzen Volkes kann doch nie etwas ausrichten. Und verwischen wir nicht gegenüber jedermann die klaren Linien der Verantwortlichkeit, indem wir versuchen, die natürlichen Folgen zu verändern, die eine totale Niederlage unausweichlich haben muß. An uns ist es, den unvergeßlichen Eindruck hervorzurufen. An den Deutschen aber ist es, darauf zu reagieren‘. Aus diesen Zitaten geht eine der Ursachen meines Mangels an Vertrauen in die Pläne für die Behandlung Nachkriegsdeutschlands klar hervor, nämlich ihre starke Abhängigkeit von der guten Zusammenarbeit mit den Russen. Nicht nur war meiner Ansicht nach jeder Versuch einer solchen Zusammenarbeit zum Scheitern verurteilt; noch gefährlicher war, daß wir aus Rücksicht auf dieses Gaukelbild unterlassen würden, eigene konstruktive Ideen für die Behandlung der Westzonen zu entwickeln und so den psychologisch richtigen Moment verpassen könnten, das Leben in Deutschland in neue und hoffnungsvollere Bahnen zu lenken. Ich betonte nachdrücklich die Notwendigkeit konstruktiver Sofortmaßnahmen mit dem Ziel der

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Wiederbelebung der Wirtschaft und der öffentlichen Moral und hielt es für wichtiger, mit den eigenen Plänen weiterzukommen, als den Luftschlössern einer Zusammenarbeit mit den Russen nachzuhängen. Allerdings hatte ich bei meinen Überlegungen wohl die negativen Wirkungen der Zustände unmittelbar nach dem Zusammenbruch, soweit sie damals vorhersehbar waren, einigermaßen überbewertet: den ungeheuren Flüchtlingsstrom, die wirtschaftliche Zerrüttung, den Zusammenbruch der bestehenden Verwaltung und das politische Klima, in dem die alliierte Militärregierung zu operieren haben würde, hatte ich eindeutig zu negativ eingeschätzt. Andererseits darf man nicht übersehen, daß die unentschlossenen und konfusen Methoden, derer wir uns in der ersten Zeit nach dem Kriege in Deutschland bedienten, sich binnen ein oder zwei Jahren als unzulänglich und ungeeignet erwiesen; und hätte man sie nicht aufgegeben und 1947 (Truman-Doktrin vom 12. März 1947) durch andere ersetzt, so hätten die von mir befürchteten Konsequenzen sehr leicht Wirklichkeit werden können“.36 Die drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich waren freiheitlich rechtsstaatliche Demokratien mit marktwirtschaftlicher Ordnung. Die Sowjetunion war eine totalitäre Diktatur der KPdSU-Nomenklatura mit Stalin an der Spitze und einer politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Die Staatsund Wirtschaftsordnung der Westmächte war fundamental anders als die der Sowjetunion und dies war auch die Ursache für die bipolare Welt und den Kalten Krieg. Bei einer Synopse, d. h. einer Gegenüberstellung der Staatsordnung und der Wirtschaftsordnung, werden die fundamentalen Gegensätze deutlich. „Die Vereinigten Staaten und Rußland“ (Winter 1946)37 Angesichts der jüngsten Ereignisse werden die folgenden Anmerkungen für das Ministerium von Interesse sein: Grundzüge sowjetischen Verhaltens seit Kriegsende (wie aus der offiziellen Propaganda zu entnehmen) Die UdSSR lebt immer noch inmitten feindseliger „Kapitalistischer Einkreisung“, mit der es auf die Dauer keine friedliche Koexistenz geben kann. Wie Stalin 1927 vor einer Delegation amerikanischer Arbeiter erklärte: „Im weiteren Verlauf der internationalen Revolution werden zwei Zentren von weltweiter Bedeutung entstehen: ein sozialistisches Zentrum, das die zum Sozialismus neigenden Länder an sich zieht, und ein kapitalistisches Zentrum, das die zum Kapitalismus neigenden Länder an sich zieht. Im Kampf dieser beiden Zentren um die Beherrschung der Weltwirtschaft wird das Schicksal des Kapitalismus und des Kommunismus in der ganzen Welt entschieden“.

36 Kennan, George F.: Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1950, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 178-183. 37 Kennan, George F.: Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1950, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 553-577.

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Die kapitalistische Welt ist voll innerer Konflikte, die im Wesen des Kapitalismus liegen. Diese Konflikte sind durch friedlichen Ausgleich nicht lösbar. Der größte von ihnen ist der zwischen England und den US. Die inneren Konflikte des Kapitalismus führen unvermeidlich zu Kriegen. Solche Kriege können von zweierlei Art sein: innerkapitalistische Kriege zwischen zwei kapitalistischen Staaten und Interventionskrieg gegen die sozialistische Welt. Schlaue Kapitalisten neigen bei ihrem vergeblichen Bemühen um einen Ausweg aus den inneren Konflikten des Kapitalismus zu letzteren. Intervention gegen die UdSSR würde zwar für ihre Urheber verhängnisvoll sein, würde aber Fortschritte des sowjetischen Sozialismus erneut verzögern und muß deshalb um jeden Preis verhindert werden. Konflikte zwischen kapitalistischen Staaten bergen zwar ebenfalls Gefahren für die UdSSR, bieten jedoch der Sache des Sozialismus auch große Chancen, besonders wenn die UdSSR militärisch mächtig, ideologisch ungespalten und ihrer jetzigen genialen Führung ergeben bleibt. Es darf nicht übersehen werden, daß die kapitalistische Welt nicht durch und durch schlecht ist. Abgesehen von den hoffnungslos reaktionären und bourgeoisen Elementen enthält sie 1. bestimmte wirklich aufgeklärte und positive Elemente, die in annehmbaren kommunistischen Parteien vereinigt sind, und 2. gewisse andere Elemente (zur Zeit aus taktischen Gründen fortschrittlich oder demokratisch genannt), deren Reaktionen, Hoffnungen und Betätigungen die Interessen der UdSSR „objektiv“ unterstützen. Letztere müssen ermutigt und für sowjetische Zwecke benutzt werden. Unter den negativen Elementen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sind die gefährlichsten die, die Lenin die falschen Freunde des Volkes nannte, nämlich gemäßigt-sozialistische oder sozialdemokratische Führer (in anderen Worten, die nichtkommunistische Linke). Sie sind gefährlicher als die Erzreaktionäre, denn diese segeln wenigstens unter der eigenen Flagge, während gemäßigte Führer der Linken das Volk verwirren, indem sie sich der Instrumente des Sozialismus zur Förderung der Interessen des reaktionären Kapitals bedienen. Soweit die Voraussetzungen. Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die sowjetische Politik? Die folgenden: Es muß alles getan werden, um die relative Stärke der UdSSR in der internationalen Gesellschaft zu vergrößern. Umgekehrt darf keine Gelegenheit versäumt werden, die Stärke und den Einfluß der kapitalistischen Mächte einzeln oder in ihrer Gesamtheit zu verringern. Die Bemühungen der Sowjetunion und ihrer Freunde im Ausland müssen sich darauf ausrichten, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zwischen kapitalistischen Mächten zu verschärfen und auszubeuten. Wenn sie sich irgendwann zu einem „imperialistischen“ Krieg ausweiten, muß dieser Krieg in den verschiedenen kapitalistischen Ländern in revolutionäre Erhebungen umgewandelt werden. „Demokratisch-fortschrittliche“ Elemente im Ausland sind zu benutzen, um auf kapitalistische Regierungen in Richtung der sowjetischen Interessen Druck auszuüben.

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Sozialistische und sozialdemokratische Führer im Ausland müssen rücksichtslos bekämpft werden. Voraussetzungen für dieses Verhalten: Bevor ich der Linie der Partei in ihre vielen Verästelungen folge, seien einige Teilaspekte der Aufmerksamkeit empfohlen: Erstens stimmt die Linie der Partei mit der natürlichen Haltung des russischen Volkes nicht überein. Russen sind im allgemeinen der Außenwelt freundlich gesonnen; begierig, sie zu erleben; begierig, die eigenen Talente, deren sie sich bewußt sind, an ihr zu messen. Vor allem aber wünschen sie in Frieden zu leben und die Früchte der eigenen Arbeit zu genießen. Die Parteilinie vertritt Thesen, und die offiziellen Propagandawerkzeuge setzen sie mit großem Geschick und Beharrlichkeit einem Publikum vor, das sich im innersten Kern oft als bemerkenswert widerstandsfähig erweist. Aber die Parteilinie ist für Zielsetzungen und Verhalten von Volk und Regierung bindend – und nur damit haben wir es zu tun. Zweitens muß festgehalten werden, daß die Voraussetzungen, von denen die Linie der Partei ausgeht, in den meisten Fällen einfach nicht wahr sind. Die Erfahrung hat gezeigt, daß friedliche und für beide Seiten vorteilhafte Koexistenz kapitalistischer und sozialistischer Strukturen durchaus möglich ist. Die elementaren inneren Konflikte in hochentwickelten Ländern entstehen heute nicht in erster Linie aus kapitalistischen Besitzerrechten an den Produktionsmitteln, sondern aus der fortgeschrittenen Verstädterung und Industrialisierung, und Rußland ist bisher nicht wegen seines Sozialismus, sondern nur wegen seiner Rückständigkeit davon verschont geblieben. Heute, nach der Ausschaltung Deutschlands und Japans und dem abschreckenden Beispiel des letzten Krieges, von der Gefahr einer Intervention gegen die UdSSR zu sprechen, ist offenbarer Unsinn. Wenn man sie nicht durch Unduldsamkeit und Wühlarbeit reizt, ist die „kapitalistische“ Welt von heute durchaus in der Lage, mit sich und mit Rußland in Frieden zu leben. Und schließlich gibt es für normale Menschen keinen Anlaß, an der Aufrichtigkeit der gemäßigten Sozialisten in den westlichen Ländern zu zweifeln. Ebensowenig wäre es anständig, den Erfolg zu leugnen, den ihre Bemühungen um die Besserstellung der Arbeiter überall dort hatten, wo man ihnen wie etwa in Skandinavien Gelegenheit gab, ihr Können zu zeigen. Die Irrigkeit dieser Voraussetzungen, die samt und sonders aus der Vorkriegszeit stammen, wurde durch den Krieg selbst sattsam demonstriert. Die anglo-amerikanischen Differenzen erweisen sich nicht als die wesentlichen Differenzen der westlichen Welt. Die kapitalistischen Länder, mit Ausnahme der Achsenmächte, zeigten keine Neigung, ihre inneren Differenzen durch Teilnahme an einem Kreuzzug gegen die UdSSR zu bereinigen. Und statt daß der imperialistische Krieg sich in Bürgerkriege und Revolutionen auflöste, sah die UdSSR sich genötigt, Seite an Seite mit den kapitalistischen Mächten für ein zugegebenermaßen gemeinsames Ziel zu kämpfen. Trotzdem werden alle diese Thesen, wie grundlos und widerlegt sie auch seien, heute erneut munter vorgetragen. Worauf deutet das? Es deutet darauf, daß die sowjetische Parteilinie sich nicht auf irgendeine objektive Analyse der

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Lage jenseits der russischen Grenzen stützt; daß sie tatsächlich mit den Verhältnissen außerhalb Rußlands wenig zu tun hat; daß sie sich vielmehr im großen und ganzen aus elementaren innerrussischen Notwendigkeiten ergibt, die vor dem letzten Krieg bestanden und auch heute bestehen. Die neurotische Betrachtungsweise der Welthändel durch den Kreml geht zurück auf das traditionelle und instinktive russische Gefühl der Unsicherheit. Ursprünglich war es die Unsicherheit eines friedlichen Agrarvolkes, das versuchte, auf einer weiten ungeschützten Ebene in der Nachbarschaft wilder Nomadenvölker zu leben. Als Rußland mit dem wirtschaftlich fortgeschrittenen Westen in Berührung kam, trat die Furcht vor den tüchtigeren, mächtigeren, besser organsierteren Gemeinschaften jener Gebiete hinzu. Aber das war eine Art von Unsicherheit, die die russischen Herrscher stärker befiel als das russische Volk; denn die russischen Herrscher wußten im Grunde alle, daß ihre Herrschaft der Form nach veraltet und künstlich war, so daß sie den Vergleich mit den politischen Systemen westlicher Länder nicht aushalten konnte. Aus diesem Grunde haben sie immer vor fremder Durchdringung Furcht gehabt; Furcht gehabt vor direktem Kontakt der westlichen Welt mit ihrer eigenen; Furcht gehabt, was passieren würde, wenn die Russen die Wahrheit über die Welt draußen oder die Ausländer über die Welt drinnen erführen. Und sie sind darauf verfallen, ihre Sicherheit nur im geduldigen, aber tödlichen Ringen um die totale Zerstörung des Nebenbuhlers zu suchen, niemals in Pakten oder Kompromissen. Es war kein Zufall, daß der Marxismus, der in Westeuropa ein halbes Jahrhundert wirkungslos geschwelt hat, zuerst in Rußland aufloderte. Nur in diesem Land, das niemals einen freundlichen Nachbarn gekannt hatte oder überhaupt irgendein Gleichgewicht verschiedener einander tolerierender nationaler oder internationaler Kräfte, konnte eine Doktrin gedeihen, die ökonomische Probleme der Gesellschaft als auf friedliche Weise unlösbar bezeichnet. Nach Errichtung der bolschewistischen Herrschaft wurde das in der Leninschen Interpretation noch grausamer und unduldsamer gewordene marxistische Dogma ein perfektes Gegenmittel gegen das Gefühl der Unsicherheit, von dem die Bolschewisten noch stärker befallen waren als ihre Vorgänger. Dieses Dogma mit seiner ursprünglich altruistischen Zielsetzung lieferte ihnen die Rechtfertigung ihrer instinktiven Furcht vor der Außenwelt; der Diktatur, ohne die sie nicht zu reagieren verstanden; der Grausamkeiten, die sie nicht wagten, nicht zu begehen; der Opfer, die zu verlangen sie sich verpflichtet fühlten. Im Namen des Marxismus opferten sie ihren Methoden und ihren Taktiken alle ethischen Werte. Heute können sie ohne ihn nicht auskommen. Er ist für sie das Feigenblatt moralischer und geistiger Wohlanständigkeit. Ohne ihn würden sie vor der Geschichte bestenfalls die jüngsten in der langen Kette grausamer und verschwenderischer russischer Machthaber sein, die ihr Land erbarmungslos zu immer neuen militärischen Anstrengungen trieben, um ihrem innerlich schwachen Regime äußere Sicherheit zu garantieren. Das ist der Grund, weshalb die Absichten der Sowjets immer feierlich marxistisch verbrämt werden, und deshalb sollte keiner die Wichtigkeit des Dogmas in sowjetischen Angelegenheiten unterschätzen.

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Die Erfordernisse ihrer eigenen vergangenen und gegenwärtigen Position sind es, die die sowjetische Führung dazu zwingen, ein Dogma zu verkünden, nach dem die Außenwelt böse, feindselig und drohend, aber zugleich von einer schleichenden Krankheit befallen und dazu verurteilt ist, von immer stärker werdenden inneren Krämpfen zerrissen zu werden, bis sie schließlich von der erstarkenden Macht des Sozialismus den Gnadenstoß erhält und einer neueren und besseren Welt weicht. Diese These liefert den Vorwand für das Anwachsen von Militär und Polizei im russischen Staat, für die Isolierung der russischen Bevölkerung von der Außenwelt und für die ständigen Versuche, die russische Polizeigewalt noch mehr auszuweiten, alles Dinge, die seit je den natürlichen Instinkten russischer Herrscher entsprechen. Im Grunde zeigten sie nichts weiter als das stetige Fortschreiten des ruhelosen russischen Nationalismus, einer jahrhundertealten Bewegung, in der offensive und defensive Vorstellungen unentwirrbar verflochten sind. Aber in dem neuen Gewand des internationalen Marxismus mit seinen glattzüngigen Versprechungen an eine verzweifelte und von Kriegen zerrüttete Außenwelt ist er gefährlicher denn je. Das Gesagte bedeutet nicht notwendigerweise, daß jeder linientreue Anhänger der sowjetischen Kommunistischen Partei unredlich oder unaufrichtig ist. Es sind viele darunter, die zu unwissend und geistig zu abhängig sind, um der Selbsthypnose zu entgehen, und es ist für sie nicht schwierig, sich glauben zu machen, was zu glauben so beruhigend und bequem ist. Auch gibt es immer noch das ungelöste Rätsel, wer – wenn überhaupt jemand – in diesem großen Lande wirklich genaue und unvoreingenommene Informationen über die Außenwelt erhält. Bei der orientalischen Atmosphäre von Verschwörung und Geheimnistuerei in der diese Regierung atmet, gibt es unendliche Möglichkeiten, Informationen zu verfälschen oder zu vergiften. Gerade die Verachtung der objektiven Wahrheit, die Weigerung zu glauben, daß es so etwas gibt, verführt die Russen, alle Tatsachenbehauptungen als Instrumente zur Durchsetzung dieses oder jenes Hintergedankens zu werten. Es gibt gute Gründe für die Vermutung, daß diese Regierung tatsächlich eine Verschwörung innerhalb einer Verschwörung ist, und es fällt schwer zu glauben, daß selbst Stalin ein annähernd objektives Bild der Außenwelt erhält. Da gibt es reichlich Spielraum für die Art von subtilen Intrigen, in denen die Russen unerreicht sind. Die Unmöglichkeit für fremde Regierungen, ihre Sache direkt vor den maßgeblichen russischen Staatsmännern zu vertreten – das Maß, in dem sie bei ihren Verhandlungen mit Rußland auf das Wohlwollen obskurer und unbekannter Ratgeber angewiesen sind, die sie niemals sehen und nicht beeinflussen können -, das sind höchst beunruhigende Eigenheiten des diplomatischen Geschäfts in Moskau, und es wäre gut, wenn der Westen sich dessen bewußt bliebe, damit er verstehen lernt, warum man hierzulande solchen Schwierigkeiten begegnet. Auswirkungen der sowjetischen Betrachtungsweise auf die amtliche Politik: Auf die Untersuchung von Inhalt und Hintergründen des sowjetischen Programms folgt die Frage: Was ist von seiner Durchführung in der Praxis zu erwarten? Die sowjetische Politik wird auf zwei Ebenen gemacht: 1. auf der amtlichen Ebene, die sich in offiziell namens der sowjetischen Regierung vorgenommenen

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Handlungen niederschlägt; und 2. der unterirdischen Ebene, wo sich Agenten betätigen, für die die sowjetische Regierung die Verantwortung von sich weist. Die Politik beider Ebenen ist dazu bestimmt, den unter I. A-D skizzierten Zielen zu dienen. Auf verschiedenen Ebenen durchgeführte Aktionen werden sich erheblich voneinander unterscheiden, aber in Zielrichtung, Zeitplanung und Wirkung einander ergänzen. Auf amtlicher Ebene müssen wir erwarten: Eine Innenpolitik, bestimmt, auf jede Weise die Stärke und das Prestige der Sowjetunion zu vermehren; intensive Industrialisierung unter militärischen Aspekten; maximale Entwicklung der Streitkräfte; große Schaustellungen mit dem Zweck, Außenstehende zu beeindrucken; fortgesetzte Geheimniskrämerei in inneren Angelegenheiten, um Schwächen zu verbergen und Gegner im unklaren zu lassen. Wo es angezeigt und erfolgversprechend scheint, wird man versuchen, die äußeren Grenzen der Sowjetmacht zu erweitern. Im Augenblick beschränken diese Bemühungen sich auf gewisse Punkte in der Nachbarschaft, die man hier für strategisch notwendig hält, z.B. Nordpersien, die Türkei, möglicherweise Bornholm. Indessen können jederzeit andere Gegenden aktuell werden, wenn und sobald die sowjetische politische Einflußnahme sich im verborgenen Neuland erschlossen hat. So könnte eine „befreundete“ persische Regierung gebeten werden, Rußland einen Hafen am Persischen Golf zu gewähren. Sollte Spanien unter kommunistische Kontrolle geraten, könnte sich die Frage nach einem sowjetischen Stützpunkt an der Enge von Gibraltar erheben. Aber solche Ansprüche werden auf amtlicher Ebene nur gestellt werden, wenn die inoffizielle Vorbereitung abgeschlossen ist. Die Russen werden sich offiziell an solchen internationalen Organisationen beteiligen, die ihnen Gelegenheit geben, sowjetische Macht auszuweiten und die Macht der anderen auszuschalten oder zu verwässern. Moskau sieht die UNO nicht als einen Mechanismus für eine stabile Weltgemeinschaft, die auf gemeinsamen Zielen und Interessen aller Nationen aufgebaut ist, sondern als eine Arena, in der man die eigenen Ziele mit der Aussicht auf Gewinn verfolgen kann. Solange man die UNO hier für diese Zwecke brauchbar findet, werden die Sowjets Mitglied bleiben. Aber wenn sie zu irgendeiner Zeit feststellen sollten, sie erschwere oder vereitle die Verwirklichung ihrer machtpolitischen Expansion, und wenn sie anderswo bessere Aussichten zur Verfolgung dieser Ziele entdecken, dann werden sie nicht zögern, die UNO aufzugeben. Das würde jedoch voraussetzen, daß sie sich stark genug fühlen, die Einheit der anderen Nationen durch ihren Austritt zu spalten, die durch die UNO verkörperte Bedrohung ihrer Ziele oder ihrer Sicherheit auszuschalten und eine andere von ihrem Standpunkt aus wirksamere internationale Waffe an deren Stelle zu setzen. Die sowjetische Haltung gegenüber der UNO wird also weitgehend davon abhängen, wie loyal andere Nationen zu ihr stehen und wie entschieden und geschlossen diese Nationen die friedliche und hoffnungsvolle Konzeption internationalen Zusammenlebens verteidigen, die in dieser Organisation unserer Ansicht nach zum Ausdruck kommt. Moskau kennt, ich wiederhole, keine abstrakte

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Treue zu UNO-Idealen. Seine Haltung gegenüber dieser Organisation wird im wesentlichen pragmatisch und taktisch bleiben. Gegenüber Kolonialgebieten und rückständigen oder abhängigen Völkern wird die sowjetische Politik sogar auf amtlicher Ebene das Ziel verfolgen, Macht, Einfluß und Kontakte der hochentwickelten westlichen Nationen zu schwächen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß bei einem Erfolg dieser Politik ein Vakuum entstünde, das sowjetisch-kommunistisches Eindringen erleichtern müßte. Das sowjetische Drängen auf Beteiligung an Treuhänderschaften bedeutet somit eher, daß man nach einer Position sucht, von der aus die Ausübung westlichen Einflusses sich komplizieren oder verhindern läßt, als daß man größeren Spielraum für die eigene Machtentfaltung braucht. Das letzte Motiv fehlt zwar nicht, aber die Sowjets betreiben solche Dinge lieber auf anderen Wegen als über offizielle Treuhänderschaften. Wir dürfen also erwarten, daß die Sowjets überall Zugang zu Treuhänderschaften und ähnlichen Einrichtungen verlangen und die so erworbenen Hebel ansetzen werden, um den westlichen Einfluß bei den betreffenden Völkern zu schwächen. Die Russen werden sich energisch um den Ausbau der sowjetischen Vertretungen und die Intensivierung der offiziellen Kontakte in allen Ländern kümmern, in denen größere Möglichkeiten der Opposition gegen die westlichen Machtzentren bestehen. Das gilt für so weit voneinander entfernte Gegenden wie Deutschland, Argentinien, die Länder des Mittleren Ostens usw. In Fragen der Weltwirtschaft wird die sowjetische Politik im Grunde durch das Ziel bestimmt, die Sowjetunion und die angrenzenden sowjetisch beherrschten Gebiete zu einer autarken Einheit zu machen. Das wird jedoch nur die zugrunde liegende Tendenz sein. Hinsichtlich der offiziellen Politik ist die Lage noch nicht geklärt. Seit dem Ende der Kampfhandlungen hat die sowjetische Regierung beim Thema Außenhandel merkwürdige Zurückhaltung gezeigt. Würden ihr große langfristige Kredite gewährt, dann würde die Sowjetunion wohl wie schon in den dreißiger Jahren Erklärungen des Inhalts abgeben, daß der Ausbau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen generell wünschenswert sei. Andernfalls ist es möglich, daß der sowjetische Außenhandel weitgehend auf den sowjetischen Sicherheitsbereich einschließlich der in Deutschland besetzten Gebiete beschränkt und dem Prinzip allgemeiner wirtschaftlicher Zusammenarbeit der Nationen offiziell abgeschworen wird. In bezug auf kulturelle Zusammenarbeit wird man ebenfalls beteuern, daß man die Vertiefung kultureller Kontakte zwischen den Völkern für erstrebenswert halte; aber in der Praxis wird das nie so interpretiert werden, daß daraus eine Schwächung der Sicherheitsvorkehrungen entstehen könnte. Tatsächlich wird die sowjetische Politik in diesen Dingen nicht aus den ausgefahrenen Gleisen scharf überwachter offizieller Besuche und Pflichtübungen springen, bei denen ein Überfluß an Wodka und Reden mit einem Mangel an nachhaltiger Wirkung Hand in Hand gehen. Im Übrigen werden die amtlichen sowjetischen Beziehungen zu den verschiedenen fremden Regierungen sozusagen „korrekt“ verlaufen, mit starker Betonung der Sowjetunion und ihrer Vertreter und mit pedantischer Beachtung des Protokolls, wenn auch nicht der guten Manieren.

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Zu dem, was wir von der praktischen Anwendung sowjetischer politischer Grundsätze auf inoffizieller oder unterirdischer Ebene zu erwarten haben – also auf einer Ebene, für die die sowjetische Regierung keine Verantwortung übernimmt – läßt sich etwa Folgendes sagen: Für die Förderung der politischen Ziele auf dieser Ebene werden eingesetzt: Der innere Kern der kommunistischen Parteien anderer Länder. Wenn viele Mitglieder dieser Gruppe in der Öffentlichkeit auch voneinander unabhängig auftreten und handeln, so arbeiten sie in Wahrheit doch eng als ein Untergrundgeneralstab des Weltkommunismus zusammen, als eine heimliche von Moskau straff koordinierte und dirigierte Komintern. Es ist wichtig, im Gedächtnis zu behalten, daß dieser innere Kern trotz der Legalität der mit ihm verbundenen Parteien tatsächlich nach Untergrundgesichtspunkten arbeitet. Die gewöhnlichen Mitglieder der kommunistischen Parteien. Die Unterscheidung zwischen ihnen und den in Abschnitt A genannten Personen ist wichtig. In den letzten Jahren ist diese Unterscheidung viel schärfer geworden. Während die ausländischen kommunistischen Parteien früher ein merkwürdiges (und vom Moskauer Standpunkt oft unbequemes) Gemisch von Verschwörung und legaler Betätigung waren, hat man das verschwörerische Element jetzt säuberlich in einem inneren Kreis zusammengefaßt und in den Untergrund beordert; die gewöhnlichen Mitglieder hingegen – die man in die wirklichen Ziele der Bewegung nicht einmal mehr einweiht – werden als bona-fide-Anhänger gewisser politischer Ideen in ihren Ländern vorgeschickt und sind an den verschwörerischen Beziehungen zu auswärtigen Staaten wirklich unbeteiligt. Nur in Ländern, in denen die Kommunisten zahlenmäßig stark sind, treten sie neuerdings geschlossen auf. In der Regel werden sie in andere Organisationen eingeschleust, die nicht so stark in Verdacht stehen, Werkzeuge der sowjetischen Regierung zu sein, um sie je nachdem zu beeinflussen oder zu beherrschen; da man es nämlich vorteilhafter findet, seine Ziele durch Tarnorganisationen zu erreichen als durch direkte Aktionen als eigenständige politische Partei. Eine Vielzahl nationaler Vereinigungen oder Institutionen, die sich von solchen Eindringlingen beeinflussen oder beherrschen lassen könnten. Dazu gehören: Gewerkschaften, religiöse Gemeinschaften, soziale Organisationen, kulturelle Gruppen, liberale Zeitschriften, Verlage u. dergl. Internationale Organisationen, die auf dem Weg über verschiedene nationale Komponenten auf ganz ähnliche Weise durchsetzt werden können, namentlich Gewerkschafts-, Jugend- und Frauenorganisationen. Auf die internationale Gewerkschaftsbewegung wird dabei besonderer, fast entscheidender Wert gelegt. Moskau sieht in ihr ein Instrument, mit dem man die Westmächte bei internationalen Auseinandersetzungen ablenken und eine internationale Lobby aufbauen kann, die stark genug ist, um die Regierungen zu einem den sowjetischen Interessen entsprechenden Verhalten zu zwingen und der UdSSR unangenehme Aktionen zu lähmen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche mit ihren ausländischen Zweigen und durch sie ganz allgemein die östliche Orthodoxe Kirche.

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Die Panslawistische Bewegung und andere Bewegungen (die aserbeidjanische, armenische, turkmenische usw.), die auf Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion aufbauen. Regierungen oder regierende Kreise, die bereit sind, sich mehr oder weniger vollständig für sowjetische Zwecke herzugeben, wie die derzeitige bulgarische oder jugoslawische Regierung, das nordpersische Regime, die chinesischen Kommunisten usw. Nicht nur die Propagandamaschinerie dieser Regierungen, sondern auch ihre praktische Politik kann weitgehend in den Dienst der UdSSR gestellt werden. Es ist zu erwarten, daß die einzelnen Teile dieses weit gespannten Systems nach Maßgabe ihrer Verwendbarkeit wie folgt eingesetzt werden: Um die allgemeine politische und strategische Potenz der stärkeren Westmächte auszuhöhlen. In diesen Ländern wird man sich bemühen, das nationale Selbstvertrauen zu zerstören, nationale Verteidigungsmaßnahmen zu blockieren, soziale Unruhen zu vermehren und Uneinigkeit in jeder Form zu schüren. Alle Leute mit Ressentiments, wirtschaftlichen wie rassischen, wird man aufhetzen, Abhilfe nicht in Vermittlung und Kompromissen zu suchen, sondern in der trotzigen und gewalttätigen Zerstörung der anderen Elemente der Gesellschaft. Man wird arm gegen reich hetzen, schwarz gegen weiß, jung gegen alt, Neuankömmlinge gegen eingesessene Bewohner und so fort. Auf der inoffiziellen Ebene wird man sich ganz besonders anstrengen, die Macht und den Einfluß der Westmächte gegenüber kolonialen, rückständigen oder abhängigen Völkern abzubauen. Auf dieser Ebene ist alles erlaubt. Fehler und Schwächen westlicher Kolonialverwaltungen wird man erbarmungslos bloßstellen und ausschlachten. Man wird den Groll der abhängigen Völker anfachen. Und während man sie ermuntert, nach Unabhängigkeit von den Westmächten zu streben, werden sowjetisch gelenkte Marionettenpolitiker sich darauf vorbereiten, die Staatsgewalt in den betreffenden Kolonialgebieten zu übernehmen, sowie diese Unabhängigkeit erreicht ist. Wo einzelne Regierungen den sowjetischen Bestrebungen im Wege sind, wird man Druck ausüben, um sie aus dem Amt zu entfernen. Der Anlaß kann entweder sein, daß die Regierungen sich direkt gegen Ziele der sowjetischen Außenpolitik wenden (Türkei, Iran), daß sie ihr Gebiet gegen kommunistische Durchdringung abschirmen (Schweiz, Portugal) oder daß sie wie die Labour-Regierung in England zu starke Konkurrenten im Wettbewerb um die Bevölkerungsschichten sind, die zu beherrschen den Kommunisten wichtig scheint. (Manchmal treffen in demselben Fall mehrere solcher Anlässe zusammen. Die kommunistische Opposition wird dann besonders schrill und wütend.) Im Ausland werden die Kommunisten in der Regel auf die Zerstörung aller Formen der persönlichen Unabhängigkeit, der wirtschaftlichen, politischen und moralischen, hinarbeiten. Ihr System kann nur mit Leuten fertig werden, die in die Abhängigkeit von übergeordneten Gewalten geraten sind. Finanziell unabhängige Personen wie private Geschäftsleute, Gutsbesitzer, erfolgreiche Landwirte und Handwerker, desgleichen örtliche Honoratioren wie z. B. populäre Geistliche oder Politiker verfallen deshalb dem Bannfluch. Es ist kein Zufall, daß in der UdSSR die örtlichen Funktionäre ständig von einem Posten zum anderen versetzt werden.

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Man wird alles Erdenkliche unternehmen, um die maßgeblichen Westmächte gegeneinander aufzuhetzen. Unter den Amerikanern wird man antibritische Parolen ausstreuen, antiamerikanische unter den Briten. Den Bewohnern des Kontinents einschließlich der Deutschen wird man beibringen, beide angelsächsischen Mächte zu verabscheuen. Wo schon Mißtrauen besteht, wird man es schüren, wo nicht, entzünden. Man wird keine Mühe scheuen, um Pläne zu sabotieren, die zu einem Zusammenschluß Dritter unter Übergehung Rußlands führen könnten. Alle Arten von internationaler Organisation, die kommunistischer Infiltration und Kontrolle nicht zugänglich sind, etwa die katholische Kirche, internationale Wirtschaftskonzerne oder die internationale Gilde der Fürstenhäuser und des Hochadels müssen daher gewärtig sein, unter Beschuß genommen zu werden. Die internationale sowjetische Politik auf inoffizieller Ebene wird ganz generell negativ und destruktiv und darauf angelegt sein, alle Kraftquellen außerhalb ihrer Reichweite zu beseitigen. Das entspricht völlig dem sowjetischen Urinstinkt, mit rivalisierenden Mächten keine Kompromisse zu schließen und mit der konstruktiven Arbeit erst dann zu beginnen, wenn der Kommunismus am Ruder ist. Aber gleichzeitig wird beharrlich und unaufhörlich versucht werden, Schlüsselpositionen der Verwaltung und vor allem des Polizeiapparates fremder Länder zu erobern. Das sowjetische Regime ist ein Polizeiregime par excellence, gezeugt in der trüben Halbwelt zaristischer Polizeiintrigen und von Anfang an gewohnt, in Begriffen polizeilicher Macht zu denken. Das sollte man bei der Bewertung sowjetischer Motive niemals außer Acht lassen. Praktische Folgerungen für die amerikanische Politik: Alles in allem haben wir es mit einer politischen Kraft zu tun, die sich fanatisch zu dem Glauben bekennt, daß es mit Amerika keinen dauerhaften Modus vivendi geben kann, daß es wünschenswert und notwendig ist, die innere Harmonie unserer Gesellschaft, unserer traditionellen Lebensgewohnheiten und das internationale Ansehen unseres Staates zu zerstören, um der Sowjetmacht Sicherheit zu verschaffen. Diese politische Kraft kann uneingeschränkt über die Arbeitskraft eines der größten Völker der Erde verfügen, und sie wird getragen von dem tiefen und machtvollen Strom des russischen Nationalismus. Außerdem steht ihr ein durchkonstruierter und weitverzweigter Apparat für die Ausübung ihres Einflusses in anderen Ländern zu Gebote, ein Apparat von erstaunlicher Flexibilität und Vielseitigkeit, der von Leuten mit einer in der Geschichte wahrscheinlich einmaligen Erfahrung in Untergrundmethoden bedient wird. Ferner ist sie im Kern realistischen Erwägungen offenbar unzugänglich. Für sie ist der reiche Schatz objektiver Erkenntnisse über die menschliche Gesellschaft nicht wie bei uns ein Maßstab, um daran die eigenen Anschauungen ständig zu überprüfen, sondern eine Wundertüte, aus der man nach Belieben das eine oder andere herausfischen kann, um damit eine bereits gefaßte Meinung zu belegen. Zugegebenermaßen sind das für uns keine erfreulichen Aussichten. Die Aufgabe, sich mit dieser Kraft auseinanderzusetzen, ist zweifellos die größte, die unserer Diplomatie je gestellt worden ist und vermutlich je gestellt werden wird. Unsere politische Generalstabsarbeit sollte sie zum Ausgangspunkt machen. Sie sollte mit derselben Gründlichkeit und Sorgfalt und nötigenfalls

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mit demselben Aufwand an Planung behandelt werden wie im Kriege ein großes strategisches Problem. Ich kann hier nicht einmal versuchen, die Antworten anzudeuten. Aber ich möchte meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß es in unserer Macht steht, das Problem zu lösen, und zwar ohne uns in einen großen militärischen Konflikt zu flüchten. Und um diese Überzeugung zu untermauern, möchte ich noch einige ermutigendere Bemerkungen machen: Erstens: Im Gegensatz zu Hitlerdeutschland ist die Sowjetmacht weder schematisiert noch auf Abenteuer aus. Sie arbeitet nicht nach festgelegten Plänen. Sie geht keine unnötigen Risiken ein. Der Logik der Vernunft unzugänglich, ist sie der Logik der Macht in hohem Maße zugänglich. Daher kann sie sich ohne weiteres zurückziehen – und tut das im allgemeinen –, wenn sie irgendwo auf starken Widerstand stößt. Wenn also dem Gegner genügend Hilfsmittel zur Verfügung stehen und er die Bereitschaft zu erkennen gibt, sie auch einzusetzen, wird er das selten tun müssen. Wenn die Situation richtig gehandhabt wird, braucht es zu keiner das Prestige verletzenden Kraftprobe zu kommen. Zweitens: Gemessen an der westlichen Welt insgesamt sind die Sowjets noch bei weitem schwächer. Ob sie Erfolg haben, hängt also wirklich von dem Maß an Zusammenhalt, Festigkeit und Kraft ab, das die westliche Welt aufbringen kann. Und das ist ein Faktor, den zu beeinflussen in unserer Macht steht. Drittens: Der Erfolg des sowjetischen Systems als Form der Machtausübung nach innen ist noch nicht endgültig erwiesen. Es muß noch zeigen, daß es die schwerste Prüfung des wiederholten Machtübergangs von einer Person oder Gruppe auf die andere übersteht. Lenins Tod war der erste solche Übergang, und seine Folgen erschütterten den Sowjetstaat fünfzehn Jahre lang. Stalins Tod oder Rücktritt wird der zweite sein. Aber selbst das ist noch nicht der endgültige Test. Infolge seiner kürzlichen Territorialgewinne wird das sowjetische innere Gefüge sich einer Reihe zusätzlicher Belastungen ausgesetzt sehen, die einst für den Zarismus eine schwere Bürde waren. Wir sind hier überzeugt, daß seit dem Ende des Bürgerkrieges die Masse des russischen Volkes den Doktrinen der Kommunistischen Partei noch nie stärker entfremdet war als heute. In Rußland ist die Partei jetzt zu einem riesigen und im Augenblick höchst erfolgreichen Apparat diktatorischer Verwaltung geworden, aber sie hat aufgehört, Begeisterung zu inspirieren. Die innere Stabilität und die Dauerhaftigkeit der Bewegung brauchen daher noch nicht als gesichert angesehen zu werden. Viertens: Alle sowjetische Propaganda außerhalb des sowjetischen Sicherheitsbereichs ist grundsätzlich negativ und destruktiv. Es sollte daher verhältnismäßig leicht sein, sie durch ein intelligentes und wirklich konstruktives Programm zu bekämpfen. Aus diesen Gründen meine ich, daß wir an das Problem des Umgangs mit Rußland gelassen und guten Mutes herangehen können. Darüber, wie das zu geschehen habe, möchte ich zum Schluß lediglich folgende Bemerkungen machen: Als erstes müssen wir uns bemühen, das Wesen des Phänomens, mit dem wir es zu tun haben, zu erfassen und es objektiv zu beurteilen. Wir müssen es mit dem-

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selben Mut und derselben Distanz studieren und dürfen uns von ihm so wenig provozieren oder aus der Fassung bringen lassen wie ein Arzt von aufsässigen und unvernünftigen Individuen. Wir müssen dafür sorgen, daß unsere Öffentlichkeit darüber aufgeklärt wird, wie die Dinge in Rußland wirklich stehen. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig das ist. Die Presse allein kann es nicht. Es muß in der Hauptsache durch die Regierung geschehen, die notwendigerweise mehr Erfahrung hat und über die praktischen Probleme besser Bescheid weiß. Das Abschreckende des Bildes braucht uns nicht davon abzuhalten. Ich bin überzeugt, daß es in unserem Lande heute viel weniger antisowjetische Hysterie gäbe, wenn unser Volk mit der Situation besser vertraut wäre. Nichts ist so gefährlich oder so schrecklich wie das Unbekannte. Man könnte zwar behaupten, daß es die russisch-amerikanischen Beziehungen nachteilig beeinflussen würde, wenn wir offener über unsere Schwierigkeiten mit Rußland sprächen. Ich glaube aber, daß wir dieses Risiko, falls es eins ist, auf uns nehmen sollten, und zwar möglichst bald. Aber ich sehe nicht, was wir eigentlich riskieren. Denn selbst jetzt, nachdem wir unsere Freundschaft für das russische Volk so überwältigend demonstriert haben, verbinden uns mit dem Land bemerkenswert wenig Interessen. Wir haben keine Investitionen zu überwachen, keinen wirklichen Handel zu verlieren, praktisch keine Staatsangehörigen zu schützen, nur wenig kulturelle Kontakte zu erhalten. Unser Interesse liegt viel mehr in dem, was wir erhofften, als in dem, was wir haben; und ich bin überzeugt, daß unsere Aussicht auf Verwirklichung dieser Hoffnung steigt, wenn wir unser Volk aufklären und unsere Beziehungen zu den Russen auf eine realistische und rein sachliche Basis stellen. Viel hängt von der Gesundheit und Kraft unserer eigenen Gesellschaft ab. Der Weltkommunismus ist wie ein bösartiger Parasit, der sich nur von erkranktem Gewebe nährt. Das ist der Punkt, in dem Innen- und Außenpolitik einander begegnen. Jede mutige und einschneidende Maßnahme zur Lösung der inneren Probleme unserer eigenen Gesellschaft, zur Hebung von Selbstvertrauen, Disziplin, Moral und Gemeinsinn in unserem Volk ist ein diplomatischer Sieg über Moskau, der tausend diplomatische Noten und gemeinschaftliche Kommuniqués aufwiegt. Wenn wir nicht den Fatalismus und die Indifferenz gegenüber Unvollkommenheiten unserer eigenen Gesellschaft abschütteln, wird Moskau profitieren – muß Moskau zwangsläufig davon in seiner Außenpolitik profitieren. Wir müssen den anderen Nationen viel mehr als bisher die Welt, die uns vorschwebt, in positivem Licht zeigen. Es genügt nicht, die Leute aufzufordern, eine ähnliche Regierungsform zu entwickeln wie wir. Viele fremde Völker, zum mindesten in Europa, sind durch die erlittenen Erfahrungen ermüdet und verschreckt und interessieren sich weniger für abstrakte Freiheit als für Sicherheit. Sie suchen Führung eher als Verantwortung. Wir sollten besser befähigt sein als die Russen, sie ihnen zu geben. Und wenn wir es nicht tun, werden die Russen es bestimmt. Endlich aber brauchen wir den Mut und das Selbstvertrauen, an unseren eigenen Methoden und unseren Vorstellungen von der menschlichen Gesellschaft festzuhalten. Alles in allem liegt bei der Auseinandersetzung mit dem Problem des sowjetischen Kommunismus die größte Gefahr für uns in der Versuchung, es denen gleichzutun, mit denen wir uns messen müssen.

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Auszüge aus „Die Vereinigten Staaten und Rußland“ (Winter 1946): Die auswärtigen Beziehungen Rußlands haben sich völlig anders entwickelt als die der Vereinigen Staaten. Historisch gesehen sind unsere wichtigsten auswärtigen Verbindungen aus friedlichem Überseehandel entstanden. Das hat unsere Vorstellungswelt geprägt. Die Russen haben es in ihrer eigenen Geschichte hauptsächlich mit grimmigen feindseligen Nachbarn zu tun gehabt. Da ihnen natürliche geographische Grenzen fehlen, haben sie, um sich dieser Nachbarn zu erwehren, eine eigentümliche (inzwischen traditionell und fast automatisch gewordene) Technik der elastischen Vorstöße und Rückzüge, der Verteidigung in der Tiefe, der Geheimhaltung, des Auf-der-Hut-Seins und der Täuschung entwickeln müssen. Ihre Geschichte hat viele Waffenstillstände zwischen feindlichen Mächten gekannt; aber sie hat kein einziges Beispiel für dauerhafte friedliche Koexistenz zweier Nachbarstaaten aufzuweisen, deren einmal festgelegte Grenzen von beiden Völkern selbstverständlich hingenommen wurden. Die Russen können sich deshalb ungestörte freundschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten nicht vorstellen. Für sie sind alle Fremden potentielle Feinde. Die russische Diplomatie konzentriert sich auf die im Orient allgemein übliche Taktik, den Gegner mit der furchterregenden russischen Macht zu beeindrucken, ihn aber gleichzeitig über Art und Umfang ihrer Anwendung im Ungewissen zu lassen und ihn so dazu zu bringen, alle russischen Wünsche und Ansichten mit besonderem Respekt und besonderer Rücksicht zu behandeln. Das hat mit der Pflege freundschaftlicher Beziehungen in unserem Sinne nichts zu tun. Wir könnten uns den Umgang mit Rußland sehr erleichtern, wenn wir uns offen eingestehen würden, daß seine Führer sich aus eigener freier Entscheidung als Feinde aller Teile der Welt fühlen, die sie nicht beherrschen, und daß dies ein anerkanntes Prinzip für das Denken und Handeln des gesamten sowjetischen Apparats ist. Wir sollten ferner bedenken, daß Entscheidungen in der Sowjetunion nur selten von Einzelnen getroffen werden. Sie werden von Kollektiven gefällt. Von diesen Kollektiven verlangt man, daß sie nach der Theorie verfahren, die ganze Welt sei Rußland feindlich gesinnt und unfähig zu einer großzügigen oder selbstlosen Handlung gegen den russischen Staat oder das Volk. Daraus wiederum folgt, daß keine Handlung einer fremden Regierung offiziell als ein Akt guten Willens anerkannt werden darf. Ein sowjetischer Funktionär, der das bestritte und einem sowjetischen Gremium nachzuweisen versuchte, ein fremder Staat sei zur Sowjetunion ganz besonders liebenswürdig gewesen und verdiene dafür Anerkennung, würde zum mindesten seine Stellung riskieren. Jedermann in der sowjetischen Regierung hat zu unterstellen, daß fremde Regierungen nur im Eigeninteresse handeln und daß Dankbarkeit und Anerkennung auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten unbekannte Begriffe sind. Auf diese Weise vermag der Apparat, der die auswärtigen Angelegenheiten der Sowjets betreibt, nur greifbare sowjetische Interessen zu erkennen und nach ihnen zu handeln. Im Rat der Sowjetregierung kann niemand einen Vorschlag einbringen, ohne konkret darzulegen, in welcher Weise seine Verwirklichung den Interessen der Sowjetunion nütze oder seine Ablehnung ihnen schaden würde. Dieses Prinzip

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wird mit gelassener Objektivität angewendet. Wird die Haltung eines fremden Staates überprüft, so versuchen die Russen nicht einmal, sie aus Sicht des betreffenden Staates selbst oder auf Grund irgendeiner möglichen Gemeinsamkeit der Ziele zwischen ihnen und diesem Staat zu beurteilen. Sie unterstellen, daß die Haltung Zwecken dient, die nicht die ihren sind, und prüfen sie nur unter dem Gesichtspunkt der Wirkung auf sich selbst. Ist die Wirkung günstig, so übernehmen sie den fremden Standpunkt ohne Dankbarkeit; ist sie ungünstig, so lehnen sie ihn ohne Groll ab. Wir könnten es ihnen und uns viel leichter machen, wenn wir uns mit diesen Tatsachen abfinden würden. Im Lichte des soeben Gesagten möchte ich folgende Regeln für unseren Umgang mit den Russen vorschlagen: Tut nicht so, als ob ihr dicke Freunde wäret. Das bringt sie als Einzelpersonen nur in Verlegenheit und verstärkt ihren Argwohn. Russische Funktionäre hassen den Gedanken, vor ihren eigenen Leuten als jemand dazustehen, der mit Ausländern vertraulich umgeht. Das entspricht nicht ihren Vorstellungen von einem guten Verhältnis. Setzt nicht Gemeinsamkeiten voraus, die es in Wahrheit nicht gibt. Es hat keinen Zweck, Russen zur Vernunft bringen zu wollen, indem man sich auf gemeinsame Ziele beruft, denen wir beide irgendwann einmal Lippendienste geleistet haben mögen, etwa die Stärkung des Weltfriedens, oder die Demokratie oder etwas Ähnliches. Als die Russen sich zu diesen Zielen bekannten, verfolgten sie damit ihre eigenen Absichten. Sie glauben, daß auch wir die unseren verfolgten. Für sie gehört das zu den Spielregeln. Und wenn wir versuchen, ihnen mit Argumenten zu kommen, die sich auf solche Bekenntnisse stützen, werden sie doppelt vorsichtig. Hütet euch vor einfältigen Gesten des „guten Willens“. Kaum einer von uns kann sich vorstellen, wieviel Bestürzung und Mißtrauen wohlmeinende Amerikaner in sowjetischen Hirnen durch Gesten und Zugeständnisse hervorgerufen haben, die die Russen von ihren freundschaftlichen Gefühlen überzeugen sollten. Solche Handlungen werfen ihre Berechnungen über den Haufen und bringen sie aus dem Gleichgewicht. Sie fangen sofort an zu glauben, daß sie unsere Stärke überschätzt hätten, daß sie in ihren Pflichten gegen den Sowjetstaat nachlässig gewesen seien, daß sie von uns die ganze Zeit hätten mehr verlangen sollen. Häufig bewirkt derlei genau das Gegenteil von dem, was wir erstreben. Kommt den Russen nur dann mit Anliegen, wenn ihr darauf vorbereitet seid, ihnen euren Unwillen für den Fall einer Ablehnung praktisch zu demonstrieren. Wir sollten grundsätzlich bereit sein, jedes Vorbringen eines Wunsches mit irgendeiner Aktion zu begleiten, die beweist, daß die russischen Interessen leiden, wenn man unsere Wünsche nicht beachtet. Das verlangt Einfallsreichtum, Festigkeit und Koordinierung der Ziele. Wenn diese Eigenschaften sich in unserer auswärtigen Politik nicht finden lassen, dann sollten wir uns auf Unheil gefaßt machen. Verhandelt auf einer der Sache angemessenen Ebene und besteht darauf, daß die Russen auf dieser Ebene die volle Verantwortung für ihr Verhalten tragen.

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In der Regel sollte man Forderungen nicht nur deshalb auf einer höheren Ebene vorgetragen, weil man weiter unten keinen Erfolg gehabt hat. Das ermutigt die russische Bürokratie lediglich zu unkooperativem Verhalten und belastet unsere Beziehungen zu hohen sowjetischen Stellen mit zweitrangigen Angelegenheiten. Stattdessen sollten wir, wenn wir auf unterer Ebene keine Genugtuung erlangen, sofort und ohne Zögern die entsprechenden Vergeltungs- oder Korrektivmaßnahmen durchführen. Nur so können wir den Russen beibringen, sämtliche Ränge der Beamten zu respektieren, die mit ihnen umgehen müssen. Wenn wir unsere nachgeordneten Beamten bei ihren Verhandlungen mit den Russen nicht decken, machen wir es uns selbst schwer, in den Pausen zwischen den Gipfeltreffen irgend etwas zu erreichen. Das wirkt sich zugunsten der Russen und zu unseren Ungunsten aus. Es ist ein sehr wichtiger Punkt und trifft den Kern vieler unserer Mißerfolge der letzten zwei oder drei Jahre. Den höchsten Stellen ist es physisch unmöglich, den ganzen Bereich unserer Beziehungen mit der Sowjetregierung zu erfassen und die von uns gesuchte Zusammenarbeit zu leisten. Die dort erzielten Übereinkünfte lassen sich – und das geschieht häufig – auf unterer Ebene erfolgreich und ungestraft sabotieren. Wir müssen die Russen darauf eichen, daß ihr ganzer Apparat und nicht bloß Stalin auf unsere Demarchen vernünftig reagiert. Setzt euch nur dann für einen Meinungsaustausch auf höchster Ebene ein, wenn die Anregung dazu mindestens zur Hälfte von den Russen kommt. Mit Russen kann man nur dann befriedigend verhandeln, wenn sie selber etwas wollen und das Gefühl haben, in abhängiger Lage zu sein. Es wäre eine taktische Aufgabe, dafür zu sorgen, daß man mit ihnen auf höchster Ebene nur umgeht, wenn diese Bedingungen erfüllt sind. Schreckt nicht davor zurück, mit großen Kanonen auf scheinbar kleine Spatzen zu schießen. Das ist ebenfalls ein sehr wichtiger Punkt, einer, der bei vielen Amerikanern auf Skepsis stoßen wird. Im allgemeinen mag das Schießen mit Kanonen auf Spatzen eine schlechte Praxis sein. Bei den Russen ist es manchmal nötig. Russen verfolgen eine flexible Politik schrittweiser Einmischung und Übergriffe auf fremde Interessen in der Hoffnung, jeder einzelne Schritt werde zu unwichtig erscheinen, um bei den Gegenspielern eine heftige Reaktion auszulösen, und sie könnten so ganz allmählich ihre Position schon erheblich verbessern, bevor die andere Seite überhaupt merke, daß etwas im Busch sei. Sie treiben mit großer Hartnäckigkeit jede Frage bis dicht vor den Punkt, wo ihrer Ansicht nach die Geduld ihrer Verhandlungspartner am Ende wäre. Wenn sie erkennen, daß ihre Opponenten es ernst meinen, daß die Grenzen ihrer Geduld fest umrissen sind und daß sie mit Gegenmaßnahmen nicht zögern würden, wenn man diese Grenzen verlegte, sei es auch nur geringfügig und an vereinzelten Stellen, dann werden die Russen vorsichtig und rücksichtsvoll sein. Sie schätzen keine Kraftproben, außer wenn sie weit überlegen sind. Aber Unentschlossenheit und gutmütige Toleranz spüren sie schnell und nutzen sie aus. Wer mit ihnen umgeht, muß deshalb darauf achten, bei der Verteidigung seiner Interessen stets eine entschiedene und wachsame Haltung einzunehmen.

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Habt keine Angst vor Szenen und vor der Austragung von Meinungsverschiedenheiten in der Öffentlichkeit. Die Russen haben nichts gegen Szenen und Skandale. Wenn sie entdecken, daß andere etwas dagegen haben und sie unter allen Umständen vermeiden möchten, werden sie das als ein Mittel der Erpressung benutzen, weil sie glauben, von der Zimperlichkeit der anderen profitieren zu können. Wenn wir unser Prestige bei der Sowjetregierung wiederherstellen und in Rußland Ansehen gewinnen wollen, müssen wie zu einer „Zähmung der Widerspenstigen“ bereit sein, wobei sich ein Haufen Ärger nicht vermeiden läßt. Andererseits brauchen wir nicht zu fürchten, daß gelegentliche harte Worte unsere Beziehung langfristig stören müßten. Der Russe ist niemals zugänglicher als wenn man ihm kräftig auf die Finger geklopft hat. Er rauft sich gerne und trägt deswegen nicht nach. Denken wir nur an Stalins erste Worte an Ribbentrop. Es waren gemütliche und zynische Witzeleien über den erbitterten Propagandakrieg, der so viele Jahre lang zwischen den beiden Ländern geführt worden war. Die russische regierende Klasse respektiert nur die Starken. Zaghaftigkeit beim Streiten empfindet sie als eine Form der Schwäche. Bemüht euch, in unseren Beziehungen zu Rußland sämtliche Vorhaben, sowohl von Regierungsstellen wie auch von privater Seite, soweit sie durch die Regierung beeinflußbar sind, in Übereinstimmung mit unserer politischen Generallinie zu bringen. Die Russen sind schnell damit bei der Hand, Streitigkeiten, Widersprüche und die Verfolgung abweichender Ziele unter unseren Landsleuten oder unseren Regierungsstellen auszunutzen. Ihr eigenes System ist darauf ausgelegt, die größtmögliche Zusammenfassung der nationalen Energien zu erreichen. Wir können ihnen nicht wirksam gegenübertreten, wenn wir nicht alles in unseren Kräften Stehende tun, um auch unsere eigenen Bemühungen zu koordinieren. Verstärkt und unterstützt unsere Vertretung in Rußland. Die Amerikanische Botschaft in Moskau ist für die Russen das Symbol unseres Landes. Viele Leute beobachten sie gespannt. Sie sollte nicht bloß ein Spiegelbild unserer Gesellschaftsform sein, sondern auch ein impulsgebendes Hirnzentrum unserer Rußlandpolitik. Obwohl häufig vernachlässigt und entmutigt, stets den Angriffen mißgünstiger Ehrgeizlinge und unzufriedener Liberaler ausgesetzt, niemals voll unterstützt oder verstanden von den Leuten in Washington, niemals ausreichend besetzt oder ausreichend untergebracht, ist unsere Botschaft dennoch zu einer Mustereinrichtung des amerikanischen Auswärtigen Dienstes und zu der am meisten geachteten diplomatischen Vertretung in Moskau geworden. Sie könnte weit mehr tun und in der Sowjetunion eine weit größere Rolle spielen, wenn sie die richtigen Hilfen erhielte. So müßte das Versagen der sowjetischen Regierung bei der Beschaffung von Wohnraum und anderen Erleichterungen der diplomatischen Arbeit in Moskau früher oder später offen zur Sprache kommen und Druck ausgeübt werden, um diese Zustände zu bessern. Ferner müßte die Vertretung angemessen mit amerikanischem Personal ausgestattet werden. Und schließlich müßte die Vertretung immer nur von einem Mann geleitet werden, der zu harter und mühsamer Arbeit über lange Zeiträume fähig und bereit ist; der über ein hohes Maß an Bescheidenheit und Geduld verfügt; der sich nur von den Interessen unseres Landes

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leiten läßt und der ganz allgemein seiner Person und seiner Herkunft nach geeignet ist, die Achtung einer in der psychologischen Analyse des menschlichen Charakters unübertroffenen Nation zu erwerben. Im Falle von Botschafter Harriman kann ich aufrichtig sagen, daß mir diese Voraussetzungen erfüllt scheinen. Mit meinen Bemerkungen ziele ich auf die Zukunft. Der Posten des Botschafters in Moskau ist keine Sinekure, die man leichthin vergeben kann; und das Ministerium muß bereit sein, seinen ganzen Einfluß für eine wirkungsvolle Besetzung aufzubieten. Die Moskauer Vertretung arbeitet unter Belastung und hat vielfältige Hindernisse zu überwinden. Das hat sie immer gewußt. Ein eitler, kleinlicher und unwissender Botschafter kann ihr das Rückgrat brechen und dem Gefüge der russisch-amerikanischen Beziehungen bleibenden, wenn auch vielleicht nicht sofort sichtbaren Schaden zufügen. 3. Die Staats- und Wirtschaftsordnung der Vereinigten Staaten von Amerika als Vorbild für die Bundesrepublik und die der Sowjetunion als Vorbild für die Deutsche Demokratische Republik Die Interdependenz von Staatsordnung und Wirtschaftsordnung 38 Staatsordnung Kriterien

Vereinigte Staaten von Amerika

Sowjetunion

„Rechtsstaat: Absolutes und oberstes Entscheidungskriterium aufgrund der Rechtsstaatsidee ist der ‚Primat des Rechts‘. Die oberste Staatshandlungskategorie verpflichtet den Staat zu dauernder Selbstbindung an das von ihm gesetzte Recht, auf die Maßstäbe Sachlichkeit und Unparteilichkeit und auf die Anerkennung des Rechts als Eigenwert in allen Lebensbereichen. Ausgeschlossen ist dadurch selektiver Rechtsgehorsam unter Berufung auf eine übergeordnete Legitimität (Legalität, Legitimität)“.39

„Das politische System der USA ist durch eine weitreichende Dezentralisierung der Gewalten bestimmt. Die Gliedstaaten nehmen viele Funktionen wahr, die in den europäischen Staaten heute als Aufgaben des Zentralstaates angesehen werden. Entstehung des Verfassungsstaates. Die Idee des Verfassungsstaates, der durch ein geschriebenes, von der Souveränität des Volkes getragenes Grundgesetz konstituiert wird und in dem alle Staatsgewalt nur nach Maßgabe und in den Grenzen der Verfassung ausgeübt werden darf, ist erstmals in Amerika verwirklicht worden.

„Da die Unionsverfassung auf dem Prinzip der Gewaltenvereinigung beruht, ist nicht nur die Legislative, sondern auch die Justiz, an deren Spitze der Oberste Gerichtshof der UdSSR steht, weitgehend der Sowjetexekutive untergeordnet. Die Rechtsprechung ist nicht nur von den Weisungen des Justizministeriums abhängig, sondern untersteht auch der unmittelbaren Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft. Der Generalstaatsanwalt der UdSSR, der auf 7 Jahre ernannt wird, übt als Hüter der ‚sozialistischen Gesetzlichkeit‘ die Aufsicht über die Einhaltung der Gesetze und Verordnungen in erster Linie

38 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 332 ff. 39 Albrecht, Alfred: Rechtsstaat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl., 1995, Sp. 741.

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In den USA hat die repräsentative Demokratie auf allen Ebenen von Beginn an als die einzig legitime Regierungsform gegolten. Ihre Kennzeichen sind die Volkssouveränität und die Ausübung der Staatsgewalt durch auf Zeit gewählte Vertreter des Volkes. Der Kongreß als Legislativ- und der Präsident als Exekutivorgan des Bundes gehen aus periodischen Wahlen hervor“.40 Gewaltenteilung:42 Trennung von (1) Gesetzgebung, (2) ausführender Gewalt und (3) unabhängiger richterlicher Gewalt.

„Dagegen ist die Gewaltenteilung im Sinne des Montesquieuschen Dreiteilung in der Präsidialdemokratie des amerikanischen Typs konsequent durchgeführt. Eine strenge Trennung von Exekutive und Legislative wird dadurch erreicht, daß der Präsident als Chef der Bundesverwaltung eine von den Häusern des Parlaments (Kongreß) vollständig getrennte eigenständige demokratische Legitimation besitzt und ein hohes Maß an Unabhängigkeit von der Parlamentsmehrheit hat“.43

unter den Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit und nicht nur der Gesetzmäßigkeit aus. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit ist der SU unbekannt, dafür wird die Strafgerichtsbarkeit in weitgehendem Maß durch die Staatspolizei auf dem Verwaltungswege ausgeübt. Der Polizei und nicht der Justiz untersteht seit 1934 das Gefängniswesen (einschließlich der Zwangsarbeitslager) und damit der gesamte Strafvollzug“.41 „In den sozialistischen Ländern [war die] dominierende Stellung der kommunistischen oder sozialistischen Partei regelmäßig in der Verfassung garantiert (z. B. Art. 1 Abs. 1 DDR-Verf.; Art. 6 UdSSRVerf.; Art. 3 Abs. 1 poln. Verf.). Die sozialistische Staatstheorie lehnt die klassische Gewaltenteilung ab, da der Schutz vor Machtmißbrauch gegenüber einer historisch im Recht befindlichen Partei nicht mehr notwendig sei“.44

40 Woytinsky, Wladimir S. / Woytinsky, Emma S.: Vereinigte Staaten von Amerika, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 27. 41 Meissner, Boris: Sowjetunion II Verfassung (1) Politische Verfassung, in: HdSW, Bd. 9, 1956, S. 321-324. Totalitäre Diktatur: gemäß Art. 12 der Unionsverfassung bildet die KPdSU den lenkenden Kern sowohl des Staates als auch sämtlicher gesellschaftlicher Organisation Verfassungen von 1918, 1923/24, 1936. Die Stalinsche Verfassung, Berlin (-Ost) 1950: Der Wortlaut der Verfassung der UdSSR von 1936 unter Berücksichtigung der Veränderungen bis einschließlich 1947. 42 Tettinger, Peter J.: Gewaltenteilung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 1995, Sp. 1023-1030. 43 Ebd., Sp. 1025. 44 Ebd.

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„Verwaltungsgerichtsbarkeit: In einem materiellen Sinn bezeichnet Verwaltungsgerichtsbarkeit die Tätigkeit staatlicher Rechtsprechungsorgane zur Gewährung von Rechtsschutz gegenüber öffentlich-rechtlicher Verwaltungstätigkeit“.45

Fazit Staaten mit ähnlicher Staatsform

„Anders als in der Bundesrepublik wird die Verwaltungsgerichtsbarkeit im materiellen sinn vielfach durch die ordentlichen Gerichte ausgeübt, so vor allem in den angelsächsischen Ländern. In den USA geht dem Gerichtsverfahren ein streng formalisiertes Verwaltungsverfahren voraus“.46 Freiheitlich rechtsstaatliche Demokratien Großbritannien, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien, Japan

In allen sozialistischen totalitären Diktaturen existierte kein Verwaltungsgericht.

Totalitärer KPdSU-Staat Volksdemokratien: Polen, DDR, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien

Die Interdependenz von Staatsordnung und Wirtschaftsordnung Wirtschaftsordnung Kriterien

Vereinigte Staaten von Amerika

Sowjetunion

(1) Marktwirtschaft mit Privateigentum und konvertibler Währung oder (2) Politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft mit Volkseigentum und minderwertigem sozialistischem Geld

Wirtschaftsordnung. „Vorherrschende politische Anschauung, die wenn auch nicht im gleichen Maße, so doch im Prinzip von den beiden großen Parteien, der Republikanischen und der Demokratischen Partei vertreten wird, ist, daß sich der Staat insbesondere die Bundesregierung, jedes Eingriffs in die Wirtschaft enthalten soll, wenn es nicht im Interesse der Wohlfahrt oder der Sicherheit des Landes dringend erforderlich ist. Der Ruf nach solchen Eingriffen und der Einfluß der Regierung in wirtschaftlichen und sozialen Fragen sind jedoch seit der Weltwirtschaftskrise beträchtlich gestiegen“.47

Politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft mit Volkseigentum und minderwertigem sozialistischen Geld. Seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 und insbesondere seit dem ersten Fünfjahrplan (1928-1932/33) von Stalin stand immer die vorrangige Produktion von Produktionsmitteln im Vordergrund. Erst 70 Jahre danach dachte man in der Sowjetunion im Gefolge der Perestroika an den Konsumenten. „Die Maßnahmen zur Entwicklung der Landwirtschaft verbinden sich organisch mit einem beschleunigten Zuwachs beim Angebot an

45 Lorenz, Dieter: Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl., 1995, Sp. 744. 46 Ebd., Sp. 747. 47 Woytinsky, Wladimir S. / Woytinsky, Emma S.: Vereinigte Staaten von Amerika, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 29.

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Die Grundlagen des Wirtschafts- und Gesellschafssystems sind in den USA die der klassischen Nationalökonomie: „Privateigentum an den Produktionsmitteln und auf dem Leistungsprinzip beruhende Lohnarbeit. Jedoch haben diese Voraussetzungen eine tiefgreifende Wandlung durchgemacht. Eigentum an den Produktionsmitteln bedeutet im 20. Jh. nicht mehr dasselbe, was es im 18. und 19. Jh. bedeutete. Die Rolle des Eigentümers im Produktionsprozeß ist eine andere geworden, und seine Machtbefugnisse sind durch Arbeitsund Sozialrecht, behördliche Kontrollen, die Sozialversicherung, das moderne Steuersystem und die Gewerkschaften eingeschränkt worden. Die Lohnstruktur und die Methoden der Lohnfestsetzung haben eine ähnliche Änderung durchgemacht und ein neues System sozialer Beziehungen hat sich entwickelt. Dabei geht die Tendenz in den USA in der gleichen Richtung wie in Westeuropa, hat jedoch eine etwas andere Form angenommen: Geringere Beteiligung des Staates am Wirtschaftsleben, keine Nationalisierung, keine direkte Lohn- und Preisfestsetzung, dafür aber wachsame Monopolkontrolle, mehr indirekte Kontrollen, breitere Streuung des Eigentums und größere soziale Gleichheit. Die Sozialstruktur der USA zeichnet sich durch das Fehlen einer Klassenschichtung, in

industriell gefertigten Konsumgütern und an Dienstleistungen. Wir planen, die Konsumgüterindustrie gegenüber der Schwerindustrie langfristig bevorzugt zu fördern. Dazu sollen eine allgemeine technische Erneuerung und andere Maßnahmen zur vermehrten Herstellung von Konsumgütern durchgeführt werden. Hierzu werden Konstruktionsbüros und Produktionskapazitäten einzelner Branchen der Verteidigungsindustrie herangezogen, die durch den in Gang gekommenen Abrüstungsprozeß freiwerden. Um die technische Umrüstung dieser Branchen zu beschleunigen, wird in der Bundesrepublik und Italien ein zweckgebundener Kredit zum Ankauf von Ausrüstung für die leichtund Nahrungsmittelindustrie aufgenommen“.49 Der sowjetische Alltag blieb von einem außerordentlich niedrigen Lebensstandard und von stalinistischer Repression bestimmt. […] 1963 konnte eine Hungerkatastrophe nur durch Weizenkäufe im ‚kapitalistischen‘ Ausland (Kanada, USA) verhindert werden“.50

49 Aganbegjan, Abel: Ökonomie und Perestroika. Gorbatschows Wirtschaftsstrategien, Hamburg 1989, S. 22. 50 Fischer, Alexander: Sowjetunion, II. Historische und politische Entwicklung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 1995, S. 315.

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Außenhandel: Grundsätzlich Freihandel mit konvertiblen Währungen. Oder: Staatliches Außenhandels- und Valutamonopol.

Geldordnung: „Terminologisch versteht man unter Geld alles, was Geldfunktionen

Lebensstil und Konsumverhalten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und durch die grundsätzliche Hochachtung vor jeder Art von Arbeit aus. […] Es wurde eine dem tätigen Alltag zugewandte, in ihren Grundzügen egalitäre Zivilisation geboren. Ihre hervorstechendsten Kennzeichen sind bis heute ihre Ungezwungenheit und Dynamik, ihre Toleranz und die übersteigerte Achtung vor persönlichem Erfolg und der geringe Respekt vor ererbtem Reichtum, vor eigener oder importierter Aristokratie und prahlerischem Luxus“.48 In der Marktwirtschaft der USA stand immer der Konsument im Mittelpunkt. Freihandel: Vorteile der internationalen Arbeitsteilung. Konvertible Währungen, die an den Devisenmärkten weltweit notiert werden.

Politisch unabhängige Zentralbanken sind für die Stabili-

Politisch gesteuerter Naturalhandel zwischen den sozialistischen Ländern, der mit westlichen Währungen alle 5 Jahre verrechnet wird. Bei Exporten der sozialistischen Länder gilt die Heckscher-Ohlin-Aussage: „Ein Land exportiert dasjenige Gut, dessen Produktion faktorintensiv ist in Bezug auf den relativ reichlich vorhandenen Produktionsfaktor“.51 Sozialdumping oder Lohndumping, (rückständige Arbeitsbedingungen bzw. niedrige Löhne) liegt vor, „wenn durch Verkauf zu ‚Schleuderpreisen‘ kurzfristig notwendige Devisen beschafft werden sollen. Dies trifft für alle RGW-Länder zu“.52 Bei der Lenkung der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft

48 Ebd., S. 60. 51 Siebert, Horst: Außenwirtschaft, 7. Aufl., Stuttgart 2000, S. 61. 52 Fehl, Ulrich: Preisdifferenzierung (Preisdiskriminierung), in: HdWW, 6. Bd., 1988, S. 170.

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ausübt. Geld ist von seinen folgenden drei Funktionen her definiert: (1) Als Tausch- und Zahlungsmittel ermöglicht Geld überhaupt erst die moderne, arbeitsteilige Wirtschaft. An die Stelle des sonst nötigen Tauschs Ware gegen Ware tritt der Verkauf von Gütern gegen Geld und der Kauf von Gütern mit Hilfe des Geldes. Kredit wird in Geld gegeben und in Geld (samt Zinsen) zurückerstattet. (2) Als Wertaufbewahrungsmittel überbrückt das Geld die zeitliche Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben und erlaubt den Transfer von Werten im Zeitablauf. (3) Schließlich ermöglicht die abstrakte Eigenschaft der Recheneinheit die Angabe des Wertes der verschiedenen Dinge in einer Summe. Dies gilt z. B. für den Umsatz oder das Vermögen eines Betriebes, den Export, Import, das Sozialprodukt einer Volkswirtschaft etc.“.53

tät der Währung verantwortlich. Konvertible Währungen, die an den Devisenmärkten weltweit notiert werden. US Dollar als Leitwährung und Bindung an Gold.

besaß das sowjetische Geld (Rubel) und das Geld der anderen sozialistischen Staaten keine Funktion. Als Zahlungsmittel hatte der Rubel eine sehr eingeschränkte Funktion, da dies nur für Konsumwaren (= Persönliches Eigentum im Sozialismus) galt.54 Er war auch kein Wertaufbewahrungsmittel und keine Recheneinheit (Preischaos),55 so daß man den Rubel als minderwertiges sozialistisches Geld bezeichnen muß. In Publikationen der Politischen Ökonomie des Sozialismus wurde beim transferablen Rubel ein Goldgehalt von 0,987412 g Feingold angegeben. Ebenso wurde ein multilaterales Clearing im RGW behauptet.56 Real war kein minderwertiges sozialistisches Geld konvertibel.

53 Issing, Ottmar: Geld, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Auf., 1995, S. 799. 54 Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Institut für Ökonomie. Politische Ökonomie. Lehrbuch, Berlin (-Ost) 1955, S. 453-455. 55 Clark, Colin: A Critique of Russian Statistics, London 1939. 56 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 105.

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4. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik 4.1. „Mit dem 23. Mai 1949 trat die Bundesrepublik Deutschland ein in die Geschichte“ „Die Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 gegenüber Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den USA besiegelte die Niederlage des Reiches. Wie wurde als Epochenwende empfunden. Deren Erscheinungsformen nahmen in der Vorstellung der besiegten Deutschen apokalyptische Züge an. Aber unbeschadet des Zusammenbruchs und der Zerstörungen in weiten Teilen des Reiches gab es keine ‚Stunde Null‘. Eine solche Chiffre ist erst später entdeckt und mit dem Vorwurf verknüpft worden, daß sie nicht für gesellschaftspolitische Veränderungen im Sinne sozialistischer Vorstellungen genutzt worden sei. Nach dem 8. Mai 1945 besetzten Truppen der Alliierten auch die letzten Teile Deutschlands, das die Hauptsiegermächte bereits vor Kriegsende in vier Besatzungszonen aufgeteilt hatten, bei gemeinsamer Verwaltung von Berlin. Am 5. Juni 1945 übernahmen die vier Mächte ‚in Anbetracht der Niederlage Deutschlands‘ dessen oberste Regierungsgewalt. Die Berliner Deklaration wurde zum ‚Grundgesetz der Besatzungsära‘. Danach sollte die oberste Gewalt von den Zonenbefehlshabern gemeinsam durch einen Kontrollrat in den ‚Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten‘ ausgeübt werden. Das besetzte und vom Nationalsozialismus befreite Deutschland stand zur Disposition der Siegermächte. Die Staats- bzw. Regierungschefs von Großbritannien (Winston Churchill [*1874, †1965], Clement Richard Attlee [*1883, †1967], der Sowjetunion (Josef Stalin [*1879, †1953]) und der USA (Harry S. Truman [*1884, †1972]) gingen auf der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 vom Fortbestand des Reiches aus. Es sollte während der Dauer der Besatzung als ‚wirtschaftliche Einheit‘ behandelt werden und ‚bis auf weiteres‘ keine zentrale Regierung besitzen, wohl aber zentrale Verwaltungsabteilungen unter Aufsicht des Kontrollrats. Dem deutschen Volk wurde der Wiederaufbau ‚auf demokratischer und friedlicher Grundlage‘ in Aussicht gestellt. Die in Potsdam erzielte Einigung auf die ‚Vier-D‘: Demilitarisierung, Demontage, Dezentralisierung (der Wirtschaft) und Demokratisierung – eingeschlossen die Entnazifizierung – erwiesen sich als Formelkompromiß. Die Westmächte lehnten auch künftig die von Stalin geforderte Höhe der Reparationen ebenso ab wie eine Mitkontrolle des Ruhrgebiets. Hingegen wollten sie bei der ‚bevorstehenden Friedenskonferenz‘ die Forderung der Sowjetunion auf das bereits von ihr annektierte nördliche Ostpreußen unterstützen, ebenso diejenige Polens auf die ‚ehemaligen‘ deutschen Gebiete östlich der Oder und der Lausitzer Neiße. Diese sollten bis zur ‚endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens‘ der Verwaltung der neuen polnischen Regierung ‚unterstellt werden‘. Die Westmächte stimmten auch der ‚Überführung‘ derjenigen Deutschen in ordnungsgemäßer und humaner Weise zu, die nach der Massenflucht seit Anfang 1945 noch in Polen, der Tschechoslowakei

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und Ungarn ‚zurückgeblieben‘ waren. Mit ihrer Zustimmung zur Vertreibung von Millionen Deutscher sanktionierten sie die Abtrennung Ostdeutschlands. Die Potsdamer Beschlüsse, denen Frankreich nur unter Vorbehalt, so gegen die Errichtung von Zentralverwaltungen, zustimmte, bildeten die letzte grundlegende Vereinbarung der Hauptsiegermächte über Deutschland als Ganzes; der vorgesehene Friedensvertrag kam nicht zustande. So konnte die Sowjetunion ihre Machtposition in Ost-Mitteleuropa ungeschmälert behaupten, gleichzeitig aber auch in die Westzonen hineinwirken. Da sich der Alliierte Kontrollrat nur selten auf grundlegende Beschlüsse einigen konnte, entstanden in raschem Tempo voneinander abgegrenzte Verwaltungs- und Wirtschaftsräume. Deren Sonderentwicklung wurde durch einen unterschiedlich harten Besatzungsalltag ebenso gefördert wie durch ein unterschiedliches Vorgehen beim Wiederaufbau des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Verwaltung, bei der Zuteilung von Nahrungsmitteln, Wohnraum und Rohstoffen wie bei der Entnazifizierung. Zu den wenigen gemeinsamen Unternehmungen der Alliierten über die Schnittlinie des ‚Eisernen Vorhangs‘ hinaus gehörte die Abwicklung des Prozesses gegen die ‚Hauptkriegsverbrecher‘ in Nürnberg (18. Okt. 1945 – 1. Okt. 1946). Die Art dieser ‚Siegerjustiz‘ verleitete allerdings dazu, durch Personalisierung der ‚Hauptverantwortung‘ viele Mittäter und Mitläufer der verbrecherischen Hitler-Herrschaft zu entlasten. Die anfängliche Härte der Besatzungspolitik und die Greuel, die an Deutschen im Zuge der Vertreibung aus ihrer Heimat in Ostdeutschland und OstMitteleuropa auch weiterhin verübt wurden, trugen dazu bei, die moralische Grundlage der Vergeltungspraxis in Frage zu stellen. In der SBZ diente die Entnazifizierung vor allem dazu, die soziale Basis des mit dem ‚Kapitalismus‘ gleichgesetzten ‚Faschismus‘ zu zerstören und den kommunistischen Umbau des Staates durch Austausch der Führungseliten zu erleichtern. Ab 1946 blieb die Deutschlandpolitik der Besatzungsmächte von wachsenden Spannungen zwischen den Blockmächten bestimmt. Mit der im April erfolgten Gründung der SED durchbrach die Sowjetunion das in allen Zonen eingeführte Vierparteienschema und schuf damit die Voraussetzungen für den angestrebten Umwälzungsprozeß. Die bereits im Juli 1945 in (Ost-) Berlin errichteten elf Deutschen Zentralverwaltungen sollten die Keimzelle einer Zentralregierung bilden. Gründung der Länder Nach der ergebnislos verlaufenen Pariser Außenministerkonferenz von AprilJuli 1946 entschlossen sich die Regierungen der USA und Großbritanniens, ihre Zonen gemeinsam zu verwalten. Frankreich und die Sowjetunion lehnten das Angebot eines Anschlusses ihrer Zonen ab. Im Winter 1946/47 erlebte die neue Bizone eine wirtschaftliche Lähmungskrise, die Bevölkerung eine Hungersnot. Während in der amerikanischen Zone bereits 1945 neue Länder gebildet worden waren – Bayern, (Groß-) Hessen und Württemberg-Baden, Bremen kam 1947 hinzu –, wurden in der britischen Zone 1946 Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen gegründet, Hamburg blieb selbständig. In der französischen Zone entstand neben den schon 1946 errichteten Ländern Baden und Württemberg-Hohenzollern

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das Land Rheinland-Pfalz. Das Saargebiet wurde Ende 1946 in das Wirtschaftsgebiet Frankreichs einbezogen. In der SBZ bestanden seit 1945 die Länder Mecklenburg, Thüringen und Sachsen sowie die Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt (die 1947 ebenfalls in Länder umgewandelt wurden). Der im Zuge der amerikanischen ‚Eindämmungspolitik‘ gegenüber dem sowjetischen Expansionismus verkündete Marshallplan (Juni 1947) setzte zu seinem Gelingen die Einbeziehung Westdeutschlands voraus. Dies erforderte das Einverständnis der französischen Regierung, die damit lange zögerte; denn die ERP-Lösung bedeutete auch eine Vorentscheidung für die politische Stabilisierung eines künftigen Weststaates im Rahmen des Westblocks. Eine Lösung des Deutschlandproblems zusammen mit der Sowjetunion, die ihre Zone immer stärker in das eigene Machtsystem einbezog und die Marshallplan-Hilfe abgelehnt hatte, erschien nicht mehr möglich. Anfang Juni 1947 scheiterte der Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard (CSU; *1887, †1980), mit einer Konferenz der Ministerpräsidenten aller vier Zonen in München zur ‚Steuerung der unmittelbaren Not des deutschen Volkes‘ und zum ‚Neuaufbau unseres staatlichen Lebens‘ beizutragen. Die Regierungschefs der SBZ blieben von anderslautenden Weisungen der SED-Führung abhängig. Im Dezember verschärfte das Scheitern der Außenministerkonferenz der Vier Mächte in London den Ost-West-Konflikt. Jede Seite machte die jeweils andere für eine Verfestigung des Status quo in Deutschland verantwortlich und suchte für ihre Position nunmehr die Deutschen mit in die Verantwortung zu nehmen. In der ‚Zusammenbruchgesellschaft‘ (C. Kleßmann) dieser Jahre führte die Bevölkerung weiterhin einen Kampf ums Überleben. Während des zentralstaatlichen Interregnums blieben die Ministerpräsidenten als ‚Treuhänder des deutschen Volkes‘ die Ansprechpartner der Machthaber, auch bei der Verteilung von Not und Mangel. Gleichwohl schritt der äußere Wiederaufbau langsam voran. Die ‚Substanz des industriellen Anlagevermögens‘ (W. Abelshauser) war, ungeachtet der Trümmerwüste, nicht entscheidend zerstört worden. Der wirtschaftliche Wiederaufbau in den Westzonen erhielt jedoch seine Schwungkraft erst durch die Währungsreform vom 21. Juni 1948 und die mit ihr verbundene, durch Aufhebung bzw. Lockerung der Zwangswirtschaft von Ludwig Erhard eingeleitete ordnungspolitische Wende (‚soziale Marktwirtschaft‘). Sie begünstigte die Wiederherstellung der überkommenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Sowjetunion antwortete auf diese Währungsreform am 23. Juni 1948 mit einer eigenen Geldumwandlung in ihrer Zone sowie in Berlin. Daraufhin bezogen die Westmächte die Westsektoren ebenfalls in die Währungsreform ein, so daß in Berlin bis zum März 1949 zwei Währungen – mit höchst unterschiedlichem Kurswert – galten. Die zweite Antwort Stalins bestand in einer Blockade der Westsektoren. Währenddessen gelang es den USA und Großbritannien, mit einer Luftbrücke die Versorgung der alliierten Truppen sowie der 2,2 Millionen Einwohner in WestBerlin bis zum Mai 1949 sicherzustellen. Dieser Erfolg beschleunigte die innere Zustimmung der Deutschen zur Westorientierung. Inzwischen hatten in den Westzonen die Parteien, die auf Zonenebene – bzw. in der französischen Zone nur in-

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nerhalb der Länder – organisiert waren, an Bedeutung gewonnen. Von den elf Ländern besaßen seit 1946/47 bereits acht eine demokratische Verfassung, auch GroßBerlin. Die Verfassungen der Länder bzw. Provinzen in der SBZ standen weitgehend nur auf dem Papier. Gegenüber der im Westen Deutschlands durch freie Wahlen legitimierten Entwicklung erfolgte der Wiederaufbau in der SBZ unter dem Vorzeichen eines ‚antifaschistisch-demokratischen‘ Neubeginns durch eine Umwälzung des Wirtschaftsund Gesellschaftssystems. Seit den ersten Wahlen von 1946, die für die Kommunisten ungünstig ausgefallen waren, ließen die Machthaber keine freien Abstimmungen mehr zu. Als ‚Antwort‘ auf die Bildung der Bizone wurden die in (Ost-) Berlin bereits 1945 errichteten Zentralverwaltungen einer ‚Deutschen Wirtschaftskommission‘ unterstellt, die bereits regierungsähnlich organisiert war. Die von der SED kontrollierte ‚Blockpolitik‘ erleichterte ihr den forcierten Transformationsprozeß im Übergang zur ‚Volksdemokratie‘. Staatsgründungen Am 1. Juli 1948 erhielten die elf Ministerpräsidenten in den Westzonen von den Militärgouverneuren Großbritanniens, Frankreichs und der USA in Frankfurt a. M. das Angebot, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die eine demokratische Verfassung für einen Weststaat, mit einer ‚Regierungsform des föderalistischen Typs‘ ausarbeiten sollte. Ergänzt war diese Ermächtigung um die Grundzüge eines künftigen Besatzungsstatuts. Die ‚Frankfurter Dokumente‘ wurden die ‚Geburtsurkunden‘ für die Bundesrepublik Deutschland. Am 26. Juli 1948 gelang den Regierungschefs eine Verständigung mit den Militärgouverneuren über die ‚Organisation der drei Zonen‘. Ein von den Landtagen gewählter ‚Parlamentarischer Rat‘ sollte das ‚Grundgesetz‘ eines westdeutschen Föderativstaats ausarbeiten und dann durch die Landtage bestätigen lassen. Berlin blieb wegen seines Viermächtestatus ausgeschlossen. Die Ministerpräsidenten sahen die Möglichkeit, für 48 Millionen Deutsche einen ‚Kernstaat‘ (mit Provisoriumsvorbehalt) zu errichten. Ihm sollten sich die 17 Millionen in der SBZ anschließen (‚Magnetwirkung‘), sobald sie die Möglichkeit erhielten, ihr politisches Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Der von den Regierungschefs eingesetzte ‚Verfassungskonvent‘ erarbeitete vom 10. Bis 23. August 1948 auf Herrenchiemsee einen Entwurf, der das anschließend vom Parlamentarischen Rat, der seit dem 1. September 1948 in Bonn tagte – im Zeichen des ‚Bedrohungstraumas‘ der Berliner Blockade –, geschaffene Grundgesetz vorstrukturierte. Der aus 65 Delegierten und 5 Berlinern (ohne Stimmrecht) bestehende Rat verabschiedete es am 8. Mai 1949 mit 53 zu 12 Stimmen. Das Grundgesetz trat, nachdem es die Militärgouverneure genehmigt und ihm auch, mit Ausnahme des Bayerischen Landtags, die Länderparlamente zugestimmt hatten, am 23. Mai 1949 in Kraft. Es entfaltete auf der Grundlage eines Provisoriumsvorbehalts – für das Bundesgebiet, nicht aber für den Verfassungskern – die Ordnung einer wertbestimmten, gewaltenteilenden und wehrhaften liberalen Demokratie. Nach der Wahl zum 1. Deutschen Bundestag am 14. August 1949 konstituierten sich am 7. September in Bonn Bundesrat und Bundestag. Am 12. September wählte

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die Bundesversammlung den FDP-Politiker Theodor Heuss (*1884, †1963) zum Bundespräsidenten, drei Tage später der Bundestag Konrad Adenauer zum Bundeskanzler. Der Vorsitzende der CDU in der britischen Zone bildete eine Koalition aus CDU, CSU, FDP und DP. Am Tage der Regierungserklärung (20. September 1949) trat das Besatzungsstatut in Kraft. Es sicherte den Westmächten Vorbehaltsrechte zu, überließ ihnen aber auch den Schutz der Bundesrepublik Deutschland. Die von Moskau abhängige SED-Führung hatte sich seit Jahresfrist jeweils dem Vorgehen in Westdeutschland angepaßt und der von einem – nicht gewählten – (2.) ‚Deutschen Volkskongreß‘ im März 1948 in Ost-Berlin eingesetzte ‚Deutsche Volksrat‘ einen Verfassungsentwurf für eine ‚deutsche demokratische Republik‘ ausgearbeitet. Er wurde allerdings ‚auf Eis gelegt‘, um die als ‚Separatismus‘ angeprangerte Entwicklung in den Westzonen abzuwarten. Bereits im März 1949 vom ‚Deutschen Volksrat‘ verabschiedet, bestätigte ihn erst am 29. Mai 1949 ein (3.) ‚Deutscher Volkskongreß‘ – wiederum im Nachvollzug, nach dem Abbruch der gescheiterten Berlin-Blockade (12. Mai) und nach der Verkündung des Grundgesetzes. Ein neuer (2.) ‚Deutscher Volksrat‘ proklamierte dann, nachdem sich in Bonn die Bundesorgane konstituiert hatten, am 7. Oktober 1949 in einem erneuten Nachvollzug die Gründung der DDR. Die Verfassung dieses ‚Gegenstaats‘ (A. Hillgruber) kannte keine Gewaltenteilung und kein Verfassungsgericht. Damit existierte in der bisherigen SBZ, ohne Legitimation durch Wahlen, eine – wie die Westmächte am 12. Oktober 1949 in einem Protest in Moskau formulierten – ‚sowjetische Staatsschöpfung auf deutschem Boden‘. Sie blieb in das Moskauer Hegemonialsystem einbezogen“.57 Konrad Adenauer (*1876, †1967), der als Vorsitzender des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verkündete, notierte sich in der Rückschau seiner ‚Erinnerungen“ über diesen Tag: ‚Damit begann ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes: mit dem 23. Mai 1949 trat die Bundesrepublik Deutschland ein in die Geschichte‘.58

57 Morsey, Rudolf: Niederlage, Befreiung, Neubeginn. In: Schäfer, Hermann (Hrsg.): 50 Jahre Deutschland Ploetz. Ereignisse und Entwicklungen. Deutsch-deutsche Bilanz in Daten und Analysen. Einleitung von Helmut Kohl, Freiburg 1999, S. 15-21. 58 Kohl, Helmut: Freiheit in Verantwortung, ebd., S. 9.

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Schaumbergturm zu Tholey

Foto: Helmut Stock

Der Schaumberg zu Tholey mit einer Höhe von 571 m gehört zu den höchsten Erhebungen des Saarlandes. Ab 1912 wurde ein Kaiser-Wilhelm-Turm auf dem Schaumberg geplant und am 28. Juni 1914 erfolgte die Grundsteinlegung. Der Turm konnte jedoch aus politischen Gründen nie zu Ende gebaut werden. Ab 1925 wurde eine Krieger-Gedächtniskapelle geplant, die 1930 feierlich eingeweiht wurde. Nach dem Scheitern der EWG-Pläne, eine „Europäische politische Union“ (EPU) zu gründen, unterzeichnen Adenauer und de Gaulle in Paris am 22. Januar 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Er besiegelt die Aussöhnung zwischen beiden Staaten und verpflichtet sie zur engen Zusammenarbeit in der Außen-, Verteidigungs-, Bildungs- und Jugendpolitik, vor allem zur Förderung des Jugendaustausches als Gemeinschaftsaufgabe. Die praktische Durchführung des Vertrags gewährleisten regelmäßige Konsultationen auf Regierungsebene: der Regierungschefs zweimal, der zuständigen Minister viermal im Jahre. Im Zuge der Restaurierungsarbeiten seit etwa 1965 entstand ein neuer Turm, der 1976 eingeweiht wurde und den Namen „Deutsch-französische Begegnungsstätte“ erhielt.

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Mahnmal des Friedens

Foto: Helmut Stock

Die Plastik im Bogenfeld ist Ausdruck der Unmenschlichkeit eines jeden Krieges. Das Geflecht menschlicher Körper zeigt die schicksalhafte Verstrickung und Ausweglosigkeit verfeindeter Völker von den ekstatischen Bewegungen der Körper gehen Not, Tod und Verzweiflung aus. Indirekt sieht man das Symbol des Kreuzes Christi. Material: Bronze, Größe – 4 x 4 Meter. Der Altar sichtlich zweigeteilt weist auf die beiden Nationen Deutschland und Frankreich hin. Das Bronzeband, das die beiden Blöcke fest umschließt, fordert: Suchet den Frieden – cherchez la paix – Dazu die Jahreszahlen der drei letzten Kriege 1870/71 – 1914/18 – 1939/45. Material: Marmor. Die Schranken zeigen eine Vielfalt von Händen und Köpfen. Sie eilen aufeinander zu und mahnen eindringlich zu Eintracht und Friede unter allen Völkern. Material: Bronze, Künstl. Gestaltung: R. Hoffmann.

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4.2. Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 „Im Zuge der Deutschlandpolitik der Sowjetunion (Sowjetunion und SBZ / DDR;59 SED und deutsche Frage)60 erklärte im September 1947 der II. Parteitag der SED den ‚Kampf um die Einheit Deutschlands‘ zur Hauptaufgabe. Im Vorfeld der alliierten Außenministerkonferenz vom November/Dezember 1947, auf der die alliierten Mächte noch einmal über die Lösung der Deutschlandfrage verhandelten, rief die SED zu einem ‚deutschen Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden‘ auf. Ziel der Volkskongreßbewegung sollte die Mobilisierung des ‚ganzen Volkes‘ sein; ein Anspruch, der von der tatsächlichen Zusammensetzung des am 6. und 7. Dezember in Berlin zusammengetretenen 1. Volkskongresses keineswegs eingelöst wurde. Die 2.215 ‚Delegierten‘, von denen trotz des teilweisen Verbots der Volkskongreßbewegung durch die Westmächte 664 aus den Westzonen kamen, waren nach einem undurchsichtigen Verfahren von Landtagen, Parteien, Massenorganisationen61 oder Betriebsversammlungen entsandt worden. Der wenig später in den Westen geflohene Erich Gniffke, Mitglied des Zentralsekretariats der SED und früherer Sozialdemokrat, berichtete von 62 % SED- und 10 % (West-) KPD-Mitgliedern unter den Teilnehmern.62 Die deutliche Dominanz der SED kam vor allem durch die Einbeziehung der Massenorganisationen zustande. Der Volkskongreß verabschiedete eine Entschließung, in der u. a. der Abschluß eines Friedensvertrags und eine gesamtdeutsche Regierung gefordert wurde, und er wählte neben einem Ständigen Ausschuß eine 17-köpfige Delegation unter Leitung der SED-Vorsitzenden Pieck und Grotewohl, die der Londoner Konferenz diese Forderungen vorlegen sollte. Die Delegierten erhielten allerdings kein britisches Visum.

59 Wettig, Gerhard: Sowjetunion und SBZ / DDR, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 2: N-Z, S. 711720. 60 Wilke, Manfred / Schroeder, Klaus / Alisch, Steffen: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), in: Ebd., S. 740-755. 61 Eckert, Rainer: Massenorganisationen, in: Ebd., S. 546-549. 62 Gniffke, Erich Walter (1895-1964): Der SED-Funktionär, Berlin (-Ost) 1947. Ders.: Jahre mit Ulbricht, Köln 1966 und 1990.

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Wilhelm Sprick – Bilder gegen das Vergessen. Am 25. September 1945 wurde Wilhelm Sprick, damals 17 Jahre alt, zusammen mit anderen in dem kleinen mecklenburgischen Dorf Fincken auf Grund von Denunziationen von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD verhaftet. „Das Dorf wurde in den Abendstunden umstellt, und viele junge Menschen wurden einfach zusammengetrieben. Aus diesen wurde eine sechsköpfige Gruppe konstruiert. In den dann folgenden Verhören wurden uns von den NKWD-Offizieren die Lügen oktroyiert, die dann später in den Anklagen nach dem Art. 58,8, 58,9 und 58,11 kulminierten“. Es folgten nach der Verhaftung sieben Monate schwerster Untersuchungshaft in den NKWDKellern in Röbel, Waren / Müritz und Schwerin mit dem Ziel, die Häftlinge psychisch zu brechen und Geständnisse zu erpressen. Im April 1946 wurden sie vor einem sowjetischen Militärtribunal – einem Terrorgericht – nach dem Strafgesetzbuch der Russischen Föderativen Sozialistischen Republik vom 22.11.1926 „konterrevolutionärer Verbrechen“ angeklagt. Im einzelnen bedeutete das Begehen terroristischer Handlungen (Art. 58,8), Zerstörung oder Beschädigung öffentlichen Eigentums (Art. 58,9), Organisation und Teilnahme an Organisationen zur Begehung solcher Straftaten (Art. 58,11). Als „schwerste Maßnahme des sozialen Schutzes“ sah das Gesetz Erschießung oder Erklärung zum „Feind des Volkes“ vor, als Mindeststrafe Freiheitsentzug von drei Jahren. Das Tribunal konnte in dem von den NKWD-Organen vorgelegten Material keine strafbaren Handlungen erkennen und verwies die Fälle zurück an die Voruntersuchung. Nach vielen weiteren Verhören, darunter acht Tage Strafzelle im Keller des Schweriner Justizgebäudes, wurde Wilhelm Sprick am 7. August 1946 mit den anderen fünf Häftlingskameraden zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt. Von den ursprünglichen Anklagen war nichts übriggeblieben. Das Delikt lautete jetzt, auf Sprick persönlich bezogen, antisowjetische Propaganda (Art. 58,10), konkret „Beleidigung und Verleumdung des großen Stalin“. „War uns im April 1946 ‚Erschießung und Lebenslänglich‘ angedroht worden, so wurden wir Monate später – am 7. August 1946 – zu jeweils 3 mal 8 Jahren und 3 mal 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ich persönlich wurde mit meinem jüngeren Bruder und dem Bruder meiner Frau zu acht Jahren verurteilt. An diesem Beispiel ist die ganze Perversion und stalinistische Willkür zu erkennen. Nach fast einem Jahr der Verhöre wollte man uns nicht aus der Haft entlassen. Von diesen sechs jungen Menschen kamen drei in den Zuchthäusern Torgau und Bautzen um“. Nach zwei Jahren im Zuchthaus Torgau kam Sprick in das zum sowjetischen Straflager umfunktionierte KZ Sachsenhausen, nach dessen Auflösung ins Zuchthaus Luckau und schließlich ins Zuchthaus Bautzen. Als todkranker Häftling wurde er am 6. Oktober 1950 entlassen. 63

63 Deutschland Archiv, 25. Jg., Dezember 1992, S. 1242.

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Der am 17./18. März 1948 stattfindende 2. Volkskongreß wählte gemäß den Forderungen des SED-Parteivorstands, denen sich auch der LDPD-Vorsitzende Külz weitgehend angeschlossen hatte, einen 400-köpfigen ‚Deutschen Volksrat‘ (3/4 der Mitglieder stammten aus der SBZ), der mit quasiparlamentarischen Funktionen und Gremien ausgestattet wurde (Präsidium, Sekretariat, Ausschüsse). In allen Gremien verfügte die SED über die absolute Mehrheit, die sie entgegen dem Konsensprinzip der Blockpolitik auch ausnutzte, um CDU und LDPD zu überstimmen. Mit dem Volksrat war erstmals ein zentrales repräsentatives Gremium für die SBZ geschaffen worden, das die Bedeutung der Landtage als Legislative einschränkte. Der Volksrat zog sehr schnell Länderkompetenzen an sich und verstärkte dadurch Zentralisierungseffekte, die auf der Verwaltungsebene bereits mit der Gründung der ‚Deutschen Wirtschaftskommission‘ im Jahre 1947 gegeben waren. Der 3. Volkskongreß vom 15./16. Mai 1949 wurde dann erstmals mit Einheitsliste ‚gewählt‘ und mit einem Plebiszit über folgende Sätze verbunden: ‚Ich bin für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag. Ich stimme darum für die nachstehende Kandidatenliste zum Dritten Deutschen Volkskongreß‘. Trotz auf Weisung der Innenminister der Länder durchgeführter Manipulationen (ca. 27 % vorher als ungültig eingestufter Stimmen wurden nach einer ersten Zählung nachträglich als Ja-Stimmen gewertet), kam es noch zu 34,2 % Nein- und 6,7 % ungültigen Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 95,3 %), was angesichts der gigantischen Propagandakampagne im Vorfeld und der suggestiven Formulierung allgemein als Niederlage der SED angesehen wurde. Im 3. Volkskongreß saßen 1.441 Delegierte aus der SBZ und 647 aus den Westzonen. Der Ende Mai gewählte 2. Volksrat hatte 330 ostdeutsche und wiederum 100 kooptierte westdeutsche Mitglieder. Auf seiner konstituierenden Sitzung nahm der 2. Volksrat den im März von seinem Vorgänger verabschiedeten Entwurf einer ‚Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik‘64 an. Diese basierte auf dem Entwurf zu einer ‚Reichsverfassung‘, den die SED schon 1946 vorgelegt hatte. Nachdem der Volksrat dann im Juli die ‚Weiterentwicklung der Volkskongreß-Bewegung‘ zur Nationalen Front65 debattiert hatte, erklärte er sich am 7. Oktober 1949 offiziell zur ‚Provisorischen Volkskammer der DDR‘. Auf die beteiligten Westdeutschen gründete die SED den Anspruch, daß die aus der Volkskongreßbewegung hervorgegangene DDR ihrem Charakter nach eigentlich ein gesamtdeutscher Staat sei (SED und deutsche Frage). Für die SED hatte die Volkskongreßbewegung somit eine doppelte Funktion: Während die Wahlen zum 3. Volkskongreß als Plebiszit für die deutsche Einheit propagiert wurden und damit auch für die Westarbeit der SED66 von Bedeutung waren, arbeitete die

64 Brunner, Georg: Verfassung, in: Ebd., S. 883-889. 65 Suckut, Siegfried: Nationale Front, in: Ebd., S. 583-587. 66 Stadt, Jochen: Westarbeit der SED, in: Ebd., S. 931-935.

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Partei längst an der Vertiefung der Spaltung des Landes und installierte den mittelbar aus diesen Wahlen hervorgegangenen und von ihr dominierten Volksrat als angeblich legitime Vertretung eines ostdeutschen Separatstaates“.67 Das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und der SBZ / DDR war – wenngleich in abnehmendem Umfang – bestimmt „von der Tatsache, daß die am 7. Oktober 1949 proklamierte DDR eine koloniale Gründung der UdSSR war. Die innenund außenpolitischen Selbstbestimmungsrechte, die dem ostdeutschen Staat bei seiner Konstituierung, in der Souveränitätszuerkennung vom 25. März 1954 und schließlich in dem Vertrag mit der UdSSR vom 20. September 1955 zugestanden wurden, unterlagen weitreichenden Einschränkungen nicht allein aufgrund der rechtlich fortbestehenden sowjetischen Deutschland- und Berlin-Kompetenzen (Außenpolitik).68 Noch tiefer reichen die Selbständigkeitsmängel, die sich aus der Entstehungsgeschichte der DDR ergaben. Regime, System und Separatstaatlichkeit wurden von kommunistischen Funktionären geschaffen, die zwar Deutsche waren, aber nicht allein von sowjetischer Sozialisation geprägt wurden, sondern auch bis in Einzelheiten hinein dem Willen Moskaus folgten. Ihre Tätigkeit entfaltete sich gegen den Willen der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit aufgrund der Macht, die ihnen die Besatzungsbehörden liehen. Auch nachdem der ‚Aufbau des Sozialismus‘ abgeschlossen war, erhielten die Machthaber nie – sei es nun durch demokratische Wahlen oder auf andere Weise – das Einverständnis und den Rückhalt der Bevölkerung. Sie benötigten daher auch bezüglich des Aspekts ihrer innerstaatlichen Herrschaftssicherung neben den eigenen Machtapparaten, wie insbesondere Polizei, Armee und Staatssicherheit,69 die im Lande stationierten sowjetischen Streitkräfte. Da nicht die DDR als der kleinere und weniger attraktive Teil Deutschlands im Bewußtsein der Bevölkerungsmehrheit die Nation repräsentierte, erschienen nicht allein Regime und System, sondern auch der Staat selbst als Resultat sowjetischen Oktrois“.70 5. Die Grundlagen der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 5.1. Die Bedeutung und Ausgangssituation bei der Staats- und Rechtsordnung als übergeordneter Rahmen für die Gestaltung der Wirtschaftsordnungen Die modernen Volkswirtschaften mit einer hochentwickelten Arbeitsteilung und wachsenden gegenseitigen Abhängigkeiten setzen als gesellschaftliche Wirtschaft eine Ordnung voraus. Diese ist im weitesten Sinne Rechtsordnung als Summe der in einem Staatsgebiet geltenden und auf das Wirtschaften direkt und

67 Schroeder, Klaus / Wilke, Manfred, in: Ebd., S. 905-908. 68 Weilemann, Peter R., in: Ebd., S. 101-110. 69 Fricke, Karl Wilhelm: Staatssicherheit, Ministerium für (MfS), in: Ebd., S. 806-816. 70 Schroeder, Klaus / Wilke, Manfred: Volkskammer, in: Ebd., S. 905-908.

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indirekt einwirkenden kodifizierten Norm.71 Diese „gesetzten“ Normen sind in der Verfassung, Gesetzen, Verordnungen usw. fixiert. „Das Wirtschaftssystem wird durch die politische Willensbildung bestimmt und auch verändert“.72 Von dem Gesetzgeber nicht oder nur teilweise kodifizierte Bereiche werden nach Franz Böhm durch „selbst geschaffenes Recht der Wirtschaft“ ausgefüllt.73 Als Folge der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 erlosch faktisch die staatliche Existenz Deutschlands und die bestehende Staats- und Rechtsordnung. Die politische Gewalt übernahmen bis zur Errichtung der beiden deutschen Teilstaaten die vier Besatzungsmächte.74 Auf dieser Grundlage und den noch vorhandenen und auch notwendigen Überresten der NS-Rechtsordnung mußte die Staats- und Rechtsordnung für die beiden späteren deutschen Teilstaaten neu gestaltet werden. 5.2. Die Entwicklung der beiden deutschen Teilstaaten Für die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik soll anhand von elementaren Charakteristika untersucht werden, ob es Kontinuitäten oder einen Bruch mit der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus (1933-1945) gab. Für die beiden deutschen Staaten werden die gleichen Charakteristika zur Analyse herangezogen:75 a) Staatsform b) Kommunale Selbstverwaltung c) Rechtsstaat d) Gewaltenteilung e) Verwaltungsgerichtsbarkeit.

71 Ritschl, Hans: „Wirtschaftsordnung“, in: HdSW, 12. Bd. Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1965, S. 189. 72 Tuchtfeldt, Egon: „Wirtschaftssysteme“, in: HdWW, 9. Bd., Stuttgart und New York, Tübingen, Göttingen und Zürich 1982, S. 327. 73 Ebd., S. 329. 74 Graml, Hermann: Vom Kriegsende bis zur doppelten Staatsgründung 1945-1949, in: Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Hrsg. Weidenfeld, Werner / Zimmermann, Hartmut, München, Wien 1989, S. 35-47 (36). 75 Draht, Martin: Staat, in: Herzog, Roman et al. (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Bd. II, Sp. 3304-3353. Mantl, Wolfgang: Staatsorganisation, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, Sp. 208-212.

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5.2.1. Staatsform Bundesstaat oder zentralistischer Einheitsstaat Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) Nationalsozialistischer zentralistischer Einheitsstaat mit Gauen als Mittelbehörde. Auflösung der Länder. Einheitsstaat, Zusammenfassung des Volkes zu einem Staat zum Unterschied vom zusammengesetzten Staat (Bundesstaat, Föderativstaat). Das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs v. 20. Jan. 1934 beseitigte den bundesstaatlichen Charakter des Deutschen Reiches und begründete den deutschen Einheitsstaat. 76 Fazit: Nationalsozialistischer zentralistischer Einheitsstaat.

Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) „Der demokratische Staat weist nur sachlich unterscheidbare Funktionen auf. Sie nach Art der Gewaltenteilung zu gliedern, also zu sondern, bleibt sinnvoll, da der moderne Staat angesichts seiner umfassenden Einwirkungsmöglichkeiten auf das Leben des einzelnen der Mäßigung bedarf. Diesem Zweck dient nicht mehr nur die Gewaltenteilung, sondern auch die bundesstaatliche Verteilung der Staatsfunktionen auf Bund und Länder (Bundesstaat) und nicht zuletzt die kommunale Selbstverwaltung“.77 Fazit: Keine Kontinuität. Bundesstaat.

Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) Sozialistischer zentralistischer Einheitsstaat. Auflösung der Länder. Bezirke als Mittelbehörde. „In dem auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus organisierten sozialistischen Einheitsstaat üben die Werktätigen die politische Macht durch ihre demokratisch gebildeten Vertretungsorgane aus“.78

Fazit: Sozialistischer zentralistischer Einheitsstaat.

5.2.2. Kommunale Selbstverwaltung Die kommunale Selbstverwaltung „bedeutet, daß bestimmte öffentliche Aufgaben nicht durch den Staat, sondern in weitgehender rechtlicher Unabhängigkeit (‚Autonomie’) durch eigenständige juristische Personen des öffentlichen Rechts (Staatsorganisation) erfüllt werden, im Falle der kommunalen Selbstverwaltung eben durch kommunale Körperschaften, unter denen die Gemeinden den ersten Rang einnehmen (Kommunalrecht). Daß sich mit dieser Selbstverwaltung im Rechtssinne heute ebenso wie im 19. Jahrhundert zugleich die Vorstellung bürgerschaftlicher Selbstverwaltung, also weitgehender Beteiligung der Bürger an den sie betreffenden Entscheidungen, verbindet, muß hier ebenso angemerkt werden wie die bare Selbstverständlichkeit, daß mit ‚Selbstverwaltung’ entgegen dem Wortsinn 76 Der Neue Brockhaus, 1. Bd., Leipzig 1937, S. 654. 77 Forsthoff, Ernst: Gewaltenteilung, in: Herzog, Roman u. a. (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Bd. 1, 1987, Sp. 1132. 78 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 4, S. 136; Mielke, Henning: Die Auflösung der Länder in der SBZ/DDR 1945-1952. Von der deutschen Selbstverwaltung zum sozialistisch-zentralistischen Einheitsstaat nach sowjetischem Modell 1945-1952, Stuttgart 1995.

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nicht etwa der Vollzug anderweitig getroffener Entscheidungen, sondern die Entscheidung selbst gemeint ist; man spräche also besser von Selbstentscheidung, Selbstgestaltung o. ä.“.79 Die „tragende Idee der deutschen kommunalen Selbstverwaltung stellte keine Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts dar, sondern wuchs ebenso kernhaft und eigenartig wie ihre Organisationsformen aus der Tiefe der deutschen Geschichte heraus. […] Die deutsche Gemeinde, durch Dezentralisation politischer Gewalt und Verwaltung ins Leben getreten, ist immer eine öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaft gewesen. Ihre Entwicklungskurve zeigt nach einem übersteigerten Aufstieg im ausgehenden Mittelalter einen tiefen Absturz in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit, aber der grundsätzliche, wesenhafte geschichtliche Zusammenhang ist in der Idee und in den Organisationsformen niemals abgerissen. Die Idee der deutschen kommunalen Selbstverwaltung hat ihre beherrschende Mitte in der Selbstverantwortung der Gemeinden. Ihre Lebenskraft und ihre großen Leistungen in der Geschichte sind darauf in erster Linie begründet. In unüberbrückbarem Gegensatz zur herrschenden monistischen Staatslehre, die alle politische Gewaltbildung nur über eine zentrale Spitze sich vorstellen kann, aber in Übereinstimmung mit germanisch-dualistischer Staatsauffassung aller Zeiten und in bewußtem Einklang mit der älteren Rechtsgeschichte der Gemeinden hat daher der Freiherr vom Stein der Entwicklung des 19. Jahrhunderts die viel beachtete aber nicht immer in ihrer vollen Bedeutung verstandene Unterscheidung nicht nur zwischen Selbstverwaltungsangelegenheiten und Auftragsangelegenheiten, sondern darüber hinaus zwischen eigenen und übertragenen Selbstverwaltungsangelegenheiten auf den Weg gegeben. So schwer es der zentralistischen Denkweise unserer Zeit fällt, diese Unterscheidung theoretische zu begreifen, der praktische Sinn und Nutzen ist leicht zu erfassen: Erhaltung und Stärkung des Bewußtseins eigener unabwälzbarer Verantwortung der Gemeinde“.80 Der Freiherr vom Stein benutzte in der von ihm 1808 geschaffenen Städteverordnung das Wort „Selbstverwaltung“ nicht. „Stein legte aber das heutige Verständnis zugrunde, wenn er schrieb, daß die Gemeindeangelegenheiten durch selbstgewählte Vorsteher möglichst frei und selbständig verwaltet werden müssen“.81

79 Herzog, Roman: II. Kommunale Selbstverwaltung, in: Roman Herzog u. a. (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, Bd. II, N-Z, 1997. 80 Steinbach, Franz unter Mitwirkung von Erich Becker, Geschichtliche Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, Bonn 1932, S. 12, 202 f. 81 Wunder, Bernd: Verwaltung, Amt, Beamter, in: Otto Brunner et al. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Verw.-Z, Stuttgart 2004, S. 81. Stier-Somlo, Fritz: Selbstverwaltung und Staatsaufsicht, in: Fritz Stier-Somlo et al. (Hrsg.): Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, 5. Bd., 1928, S. 434442.

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Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945)

„Der organische Begriff der Selbstverwaltung, der alle in diesem Werke näher erörterten Selbstverwaltungsgebilde, ob Gemeinde, ob Stand, durchzieht, lautet demnach: Selbstverwaltung ist das mit der Volksgemeinschaft organisch verbundene, ihr verantwortliche Eigenleben einer Teilgemeinschaft bei Erfüllung einer Aufgabe der konkreten völkischen Ganzheit durch die Gemeinschaft, welche selbst in ihren Gliedern und durch sie als verantwortungsbewusste, gemeinschaftsverantwortliche Persönlichkeiten tätig wird. Daraus ergeben sich einige wesentliche Folgerungen: a) Selbstverwaltung ist in erster Reihe Pflicht zu Initiative, kraftvoller Ausgestaltung des Teilbereichs der völkischen Ganzheit. b) Selbstverwaltung ist aber auch Recht in dem Sinne, daß der Teil, die engere Gemeinschaft, im eigenen Bereiche Macht hat, zur Verkörperung der in ihr lebenden Energien der Ganzheit, der Volksgemeinschaft. c) Selbstverwaltung ist stets Teilgestaltung der organischen Ganzheit des Volkes. Dessen Führung muß also darüber wachen, daß die engere Gemeinschaft sich wirklich gliedhaft verhält, insbesondere nicht den Belangen der Volksgemeinschaft und damit sich selbst zuwiderhandelt. … Die Reichsaufsicht gegenüber Selbstverwaltungsgemeinschaften ist also eine gegliederte Führungsordnung im gegliederten Aufbau organisch ineinander und in die Ganzheit der Volksgemeinschaft gefügter Gemeinschaften. … Daß der Führer des Gesamtvolkes (Adolf Hitler), selbst oder durch seine Unterführer, bei der Bestellung der Führer von Selbstverwaltungskörperschaften mitwirkt, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Selbstverwaltung“.82

82 Küchenhoff, Günther: Selbstverwaltung, in: Volkmar, Erich et al. (Hrsg.), Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36. Handwörterbuch der Rechtswissenschaft. Bd. VIII, Berlin und Leipzig 1937, S. 657 f. Der Neue Brockhaus, 4. Bd., Leipzig 1938, S. 190: Der nationalsozialistische Staat hat die Selbstverwaltung der Gemeinden mit neuem Ideengehalt erfüllt: alleinige Verantwortung des Gemeindeleiters, der an keinerlei Beschlüsse von gemeindlichen Körperschaften gebunden ist, sondern nur von Gemeinderäten beraten wird; verstärkte Staatsaufsicht; Mitwirkungsrecht der NSDAP bei bestimmten Angelegenheiten, das durch den Beauftragten der Partei ausgeübt wird. (Gemeinde, Verwaltungsreform).

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Bundesrepublik Deutschland (ab 1945)

Deutsche Demokratische Republik (DDR 1949- 1990)

„Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistet die kommunale Selbstverwaltung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze.

„Die Zielsetzung der Arbeiterklasse blieb stets … die Beseitigung des bürgerlichen Staates und die Errichtung einer neuen Staatsordnung. … Dies erreichen die Werktätigen nicht durch die Selbstverwaltung in Städten und Gemeinden, sondern durch die Übernahme der Staatsgewalt. Deshalb ist … die Ersetzung des Klassenkampfes durch die Losung von einem Kampfe der Arbeiterklasse für die kommunale Selbstverwaltung … unmarxistischer Sozialdemokratismus. …Man unterliegt einem … Irrtum, wenn …man die Gemeinden und Kreise als Fundamente des Staates bezeichnet. … Träger unserer staatlichen Ordnung ist das gesamte Volk und nicht das „Volk der Gemeinde“ oder das „Volk des Kreises“. Kreise und Gemeinden sind deshalb keine eigenen Herrschaftsgebiete innerhalb des Staatsgebietes. Infolge der grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ostzone und der dadurch bedingten Veränderung der Staatsfunktionen ist kein Raum für selbstherrliche, die Staatsmacht dezentralisierende „Selbstverwaltung“.84

Kommunale Selbstverwaltung ist heute eine Form dezentraler staatlicher Verwaltung zur eigenverantwortlichen Erledigung öffentlicher Angelegenheiten durch Organe, die von dem Volk in den Gemeinden und Kreisen gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG konstituiert werden (Gemeinde, politische, Kreis). Selbstverwaltung im Rechtssinne ist die hauptsächliche Dezentralisation des Staatshandelns (Staatsorganisation). Sie ermöglicht Mitwirkung und sogar Mitbestimmung der jeweils besonders berührten Bürger im Hinblick auf die Art und Weise, wie die sie betreffenden Verwaltungsangelegenheiten durchgeführt werden sollen. Der Grundgedanke der Selbstverwaltung wurzelt in dem Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates (Demokratie, Gewaltenteilung). Der Staat zieht die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte zur Ordnung der sie besonders berührenden (Verwaltungs-) Angelegenheiten in eigener Verantwortung heran (BVerfGE 33, 125, 159) und nutzt ihren Sachverstand für das Zustandekommen richtiger Verwaltungsentscheidungen, insbes. für die Setzung sachgerechter Verwaltungsrechtsnormen in Form von Satzungen und Verordnungen. Für die Einrichtung und normative Gestaltung der Selbstverwaltung gilt ein demokratisch-rechtsstaatlicher Gesetzesvorbehalt.83

Walter Ulbricht 1948: „Wir haben im Land keine Selbstverwaltung, sondern eine demokratische Staatsverwaltung, die kommunale Selbstverwaltung ist ein Teil unserer demokratischen Verwaltungsorganisation. Man soll keine Theorien aufstellen, daß die kommunale Selbstverwaltung aus unserer Gesamtverwaltung herausgelöst und der Staatsverwaltung nebengeordnet sei“.85

83 Weides, Peter: Selbstverwaltung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp. 1164. 84 Zuckermann, Leo: Demokratische Ordnung und Selbstverwaltung. In: Demokratischer Aufbau 3 (1948), Heft 8, S. 170. Barth, Bernd Rainer: Zuckermann, Leo (1908-1983) in: MüllerEnbergs, Helmut et al. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR?, 2001, S. 956. Der SED-Funktionär war Leiter der Präsidialkanzlei Wilhelm Piecks. 27.11.1950 demissioniert wegen angeblicher Fehler (1947 der jüdischen Gemeinde Berlin beigetreten), die seine Funktion nicht mehr gestatte; ab Februar 1952 Prorektor für Fernstudium der DVA; Mitglied des Verfassungsaussch. der Volkskammer; Okt. 1952 Direktor des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaften (Nachf. von Johannes Gerats); 20.12.1952 ZK der SED wegen zion. Abweichungen während der Emigration als Helfershelfer von Paul Merker beschuldigt; Dez. 1952 Flucht in die Bun-

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„Ebenso wie die Länder büßten die Kreise und Gemeinden die letzten Reste ihrer Selbstverwaltungsrechte mit der Haushaltsreform von Anfang 1951 ein“. 86 Die kommunale Selbstverwaltung war im sozialistischen Jargon „unter staatsmonopolistischen Herrschaftsbedingungen und dem Wirken des bürokratischen Zentralismus eine scheindemokratische Einrichtung, die auf einige parlamentarisch-demokratische Äußerlichkeiten und Entscheidungen reduziert ist und damit das staatsmonopolistische Herrschaftssystem nicht antastet“. Damit war die kommunale Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland gemeint. Ganz anders sah es in der Utopie des kommunistischen Zukunftsstaates aus: „Als kommunistische Selbstverwaltung die Form der gesellschaftlichen Selbstverwaltung, die im Kommunismus an die Stelle des absterbenden Staates tritt. Voraussetzung dafür ist die politischideologische und tatsächliche Vorbereitung des werktätigen Volkes auf diese kommunistische Selbstverwaltung. Da der Kommunismus nur bei Teilnahme aller Mitglieder der Gesellschaft errichtet werden kann, muß die sozialistische Demokratie weiterentwickelt und vervollkommnet werden. Der Hauptweg dazu ist die volle Entfaltung der sozialistischen Staatlichkeit, die Vervollkommnung der Struktur und Arbeitsmethoden der Staatsorgane, die Festigung ihrer Verbundenheit mit dem Volk, die weitgehende Heranziehung aller Werktätigen an die unmittelbare Leitung des Staates. Auf diese Weise müssen sich Bewußtsein, Disziplin und Fähigkeiten aller Gesellschaftsmitglieder so gestalten, daß sie freiwillig und sachkundig die Leitungs- und Verwaltungsaufgaben der

desrepublik Deutschland; Übersiedlung nach Mexiko; dort Rechtsanwalt; Anfang der 80er Jahre traf er mit Erich Honecker zusammen, der zu einem Staatsbesuch in Mexiko weilte; gestorben in Mexiko. 85 Ulbricht, Walter: Die gegenwärtigen Aufgaben unserer demokratischen Verwaltung. Aus dem Referat auf der ersten staatspolitischen Konferenz der SED in Werder an der Havel. 23. und 24. Juli 1948. In: Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Walter Ulbricht (Hrsg.). Aus Reden und Aufsätzen. Bd. III, 1946-1950, Berlin (Ost) 1953, S. 275. 86 Mielke, Henning: Die Auflösung der Länder in der SBZ/DDR. Von der deutschen Selbstverwaltung zum sozialistisch-zentralistischen Einheitsstaat nach sowjetischen Modell 19451952, Stuttgart 1995, S. 64.

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kommunistischen ren“.87 Fazit: Mit der kommunalen Selbstverwaltung knüpft die Bundesrepublik Deutschland an die Entwicklung an, die mit der Städteverordnung des Freiherrn vom Stein 1808 initiiert wurde und sich dann bis 1933 ausgebreitet hatte. Totaler Bruch mit dem nationalsozialistischen Einheitsstaat.

Gesellschaft

durchfüh-

Fazit: Fortführung des totalitären zentralistischen nationalsozialistischen Einheitsstaates. Im Nationalsozialismus (1933-45) wurden die Länder beseitigt und die NSDAP gebietlich und verwaltungsmäßig in Gaue gegliedert mit Gauleitern an der Spitze. In der DDR wurden gemäß dem Gesetz vom 23.7.1952 an Stelle der früheren Länder 15 Bezirke geschaffen. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus war mit der kommunalen Selbstverwaltung unvereinbar. Fortführung des zentralistischen nationalsozialistischen Einheitsstaates.

Nach der Ermordung des Präsidenten der Treuhandanstalt Karsten Rohwedder am 1. April 1991 wurde Birgit Breuel am 15. April 1991 seine Nachfolgerin. In ihrem Buch „Treuhand intern. Tagebuch“ findet sich unter dem 4. November 1992 ein Kapitel „Auf dem Weg zur kommunalen Selbstverwaltung“: „Der kritische Zustand in der kommunalen Infrastruktur der DDR veranlaßt zu Beginn des Jahres 1990 eine Verfassungsdiskussion. Zahlreiche Ideen und Konzepte werden entwickelt, um an die Stelle einer bevormundenden obrigkeitsstaatlichen Verwaltung das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung treten zu lassen. Mit dem Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassungsgesetz) vom 17. Mai 1990 wird die Autonomie der Gemeinden noch vor der Wiedervereinigung eingeführt. Ein altes Verwaltungsprinzip besagt: Der Aufgabe muß die Ausstattung folgen. Das Kommunalvermögensgesetz vom 6. Juli 1990 trägt dem Rechnung. Das Gesetz sieht vor, volkseigenes Vermögen, das kommunale Dienstleistungen unterstützt, den Gemeinden, Städten und Landkreisen kostenlos zu übertragen“.88 5.2.3. Rechtsstaat Rechtsstaatsmaßstäbe: „Absolutes und oberstes Entscheidungskriterium aufgrund der Rechtsstaatsidee ist der ‚Primat des Rechts’. Die oberste Staatshandlungskategorie verpflichtet den Staat zu dauernder Selbstbindung an das von ihm

87 Selbstverwaltung, in: Meyers Neues Lexikon. 2. Aufl., Bd. 12, Leipzig 1975, S. 435. 88 Breuel, Birgit: Treuhand intern. Tagebuch, 2. Aufl., Frankfurt/Main, S. 378 f. Schneider, Dirk Marc: Renaissance und Zerstörung der kommunalen Selbstverwaltung in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 457-497.

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gesetzte Recht, auf die Maßstäbe Sachlichkeit und Unparteilichkeit und auf die Anerkennung des Rechts als Eigenwert in allen Lebensbereichen“.89 „Rechtsstaat im formellen Sinne ist ein Staat ‚in dem Maße, in dem seine Rechtsordnung die Bahnen und Grenzen der öffentlichen Gewalt normalisiert und durch unabhängige Gerichte kontrolliert, deren Autorität respektiert wird’ (Richard Thoma). Der Rechtsstaat im formellen Sinne läßt sich demgemäß als ‚Gesetzesstaat’ umschreiben, d. h. als ein Staat, in welchem jeder Staatsakt entweder auf die Verfassung oder auf einfaches Gesetz zurückführbar sein muß (Theodor Maunz/Günter Dürig)“.90 Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) Nationalsozialismus (NSDAP) steht über dem Recht. Rechtsstaat: „Der Nationalsozialismus ordnet alle Rechte des Einzelnen dem Recht der Volksgemeinschaft unter; er erstrebt die Freiheit des Volksganzen aus der Erkenntnis heraus, daß dadurch die wohlverstandene Freiheit der einzelnen überhaupt erst ermöglicht wird“. 91 Die Bindung der Staatsführung und Verwaltung an Gesetze, die Kontrolle der Staatsmacht durch unabhängige, nur dadurch verbürgte Schutz des Einzelnen gegen den Staat die zu diesem Zweck durchgeführte Trennung der Gewalten – das sind die Kriterien des „Rechtsstaates“. „Der nationalsozialistische Staat Adolf Hitlers, das Deutsche Reich, ist also kein Rechtsstaat in diesem Sinne. Diese vertiefte, organisch, biologische Auffassung vom Staat ist es, die der Führer stets selbst als Zielbild gesehen hat“. 92 Fazit: Nationalsozialistischer Unrechtsstaat. Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) Die Rechtsstaatsidee ist durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) und die Landesverfassungen als staatsprägendes Prinzip in der Konkretisierung als sozialer Rechtsstaat durch eine breite öffentliche Meinung anerkannt und verfassungsgesetzlich gesichert.

Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) Sozialismus (SED) steht über dem Recht. Rechtsstaat: „Heute wird der Begriff Rechtsstaat auch ‚sozialer Rechtsstaat’, von der bürgerlichen Staatslehre vielmehr mit der imperialistisch-militarisierten Staatsordnung gleichgesetzt, dient damit der Verschleierung der Rechtsbeschränkung demokratischer Kräfte wie der Werktätigen überhaupt sowie der antikommunistischen Hetze und Verleumdung der sozialistischen Staaten. In Wirklichkeit sind die Rechte der Werktätigen

89 Albrecht, Alfred: Rechtsstaat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp. 742; Menger, Christian-Friedrich: Rechtsstaat, in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 768-772. Jahrreiß, Hermann: Demokratischer Rechtsstaat und Rechtsprechung. Der Rechtswegstaat des Bonner Grundgesetzes, in: H. Wandersleb (Hrsg.), Recht, Staat, Wirtschaft, II., Stuttgart, Köln 1950. 90 Menger, Christian-Friedrich: Rechtsstaat, in: HdWW, Bd. 9, 1988, S. 855. 91 Der Neue Brockhaus, 3. Bd., Leipzig 1937, S. 673. 92 Freisler, Roland: Rechtsstaat, in: Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36. Hrsg. von Erich Volkmar. Zugleich Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. VIII. Der Umbruch 1933/1936, Leipzig 1937, S. 568, 572, 574.

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Fazit: Recht steht über dem Staat. Keine Kontinuität zum NS-Staat.

allein nach der Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung gesichert, und erst durch die Arbeiter-undBauern-Macht haben die Werktätigen die sozialen und materiellen Garantien und den notwendigen juristischen Schutz ihrer Interessen und Rechte und eine Vielzahl von wirksamen Handhaben und Institutionen zur Durchsetzung ihrer Rechte“.93 Fazit: Sozialistischer Unrechtsstaat.

Die Wurzeln des Gegensatzes zwischen Ost und West liegen in der Auffassung vom Staat. „ Uns ist er als Rechtsstaat Diener und Schützer des vor ihm bestehenden und ihm Schranken setzenden Rechtes. Für die amtliche sowjetzonale Doktrin ist der Staat vor dem Recht, und das Recht ist nur für den Staat da, als sein Produkt und Ausdruck seines Machtwillens. Die alte Basis-ÜberbauKonstruktion wird allerdings immer wieder einmal hervorgeholt. Offenbar nicht nur aus konventionellen Gründen. Sie bildet vielmehr, ebenso wie die längst gegenstandslos gewordene Klassenkampftheorie, die Kulisse, hinter der sich die oligarchische Machtzusammenballung am unverfänglichsten vollziehen läßt“.94 Die Willkür im Recht hielt bis zum Ende der DDR 1989/90 an, wie der von Peter Przybylski (Staatsanwalt, Publizist) geschilderte Fall von Vera Wollenberger95 zeigt. „Am 17. Januar 1988, auf der alljährlichen Demonstration zu den Gedenkfeiern für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, waren eine Reihe Mitglieder von Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen mit eigenen Forderungen aufgetreten. Einige hatten Rosa Luxemburgs Ausspruch auf ihrem Transparent: ‚Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden’, ein Satz, der von der Honecker-Gilde als lästiger Spiegel empfunden wurde. Vera Wollenberger wiederum wollte mit einem Plakat zur Demo, auf dem nichts weiter als nur ein Satz aus Art. 27 der DDR-Verfassung stand: ‚Jeder Bürger der DDR hat das Recht, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern’. Frau Wollenberger wurde schon auf dem Wege zum Treffpunkt verhaftet. Sie war jahrelang – hautnah durch den eigenen IM-Ehemann Knud – im Visier der Stasi gewesen, so wie die meisten ihrer Gesinnungsfreunde auch.

93 In: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1975, S. 400; Brunner, Andreas: Rechtsstaat gegen Totalstaat, 2 Bde., Diss. Zürich 1949. 94 Draht, Martin: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der DDR, 2. Aufl., Bonn 1954, S. 89; Weber, Werner: Gewaltenteilung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 4. Bd., 1965, S. 502 ff. 95 Wollenberger, Vera, geb. Lengsfeld 4.5.1952. Bürgerrechtlerin. In: Müller-Enbergs, Helmut et al. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Bonn 2001, S. 938.

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Mielkes Apparat hatte seinen großen Tag, verhaftete etwa 120 der Gegendemonstranten von der Straße weg und zettelte Strafverfahren gegen die Prominentesten unter ihnen an“.96 5.2.4. Gewaltenteilung Gewaltenteilung ist ein Grundsatz für die Organisation der Staatsgewalt, der Machtmißbrauch bei deren Ausübung verhindern und die Freiheit der Bürger sichern soll.97 Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) Gewaltenteilung: Vor allem die Entwicklung in Deutschland zeigte, daß die Gewaltenteilung besonders in Verbindung mit dem Parlamentarismus, der einheitlichen Staatsführung und der geschlossenen Machtentfaltung des Staates entgegensteht. Darum verwirft der Nationalsozialismus die Gewaltenteilung grundsätzlich, als mit seiner Staatsauffassung unvereinbar. Er schuf den nationalsozialistischen Führerstaat, in dem alle Macht ungeteilt und uneingeschränkt in der Hand des Führers und Reichskanzlers vereint ist. 98 Fazit: Keine Gewaltenteilung. Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) „In den rechtsstaatlichen Demokratien ist die Rechtsprechung unabhängig von den beiden anderen Gewalten. Neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivil- und Strafjustiz; Gerichtsbarkeit, Gerichtsverfassung), gibt es Verwaltungsgerichtsbarkeit, die gegen Akte oder Unterlassungen der Verwaltung angerufen werden kann. Die Institution der gerichtlichen Normenkontrolle ist als besondere Ausprägung der Gewaltenteilung zu bewerten, da sie ermöglicht, die Mehrheitsentscheidungen des Parlaments zu kontrollieren und auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und im Falle der Verfassungswidrigkeit unangewendet zu lassen. Die Normenkontrolle kann einem besonderen Verfassungsgericht zugewiesen sein, das die Befugnis hat, verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären. […] Bundesstaatlichkeit – eine Grundidee der Organisation der staatlichen Gewalt – bewirkt eine vertikale Teilung der staatlichen Funktionen“.99

Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) „In den sozialistischen Ländern ist diese dominierende Stellung der kommunistischen oder sozialistischen Partei regelmäßig in der Verfassung garantiert (z. B. Art. 1 Abs. 1 DDR-Verf.: Art. 6 UdSSR-Verf.: Art. 3 Abs. 1 poln. Verf.). Die sozialistische Staatstheorie lehnt die klassische Gewaltenteilung ab, da der Schutz vor Machtmißbrauch gegenüber einer sich historisch im Recht befindlichen Partei nicht mehr notwendig sei“.100 Der sozialistische Staat kennt keine Gewaltenteilung, die Souveränität des werktätigen Volkes findet ihren Ausdruck in der Einheit der Staatsgewalt, die sich im System der Volksvertretungen verkörpert.

96 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Bd. 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Berlin 1992, S. 90. 97 Starck, Christian: Gewaltenteilung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 2. Bd., 1995, Sp. 1023. 98 In: Der Neue Brockhaus, 2. Bd., Leipzig 1937, S. 222. 99 Starck, Christian: Gewaltenteilung, Sp. 1025.

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Fazit: Gewaltenteilung

Fazit: Keine Gewaltenteilung im Sozialismus

5.2.5. Verwaltungsgerichtsbarkeit101 Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine insbesondere dem Rechtsschutz des Bürgers gegen Akte der öffentlichen Gewalt dienende Einrichtung; sie wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt.102 Sie ist in der Bundesrepublik Deutschland „ein Teil der rechtssprechenden Gewalt (Art. 20 Abs. 3, 92, 95 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Durch sie wird von unabhängigen, allein Gesetz und Recht unterworfenen Richtern (Art. 20 Abs. 2, 97 GG) Rechtsschutz gegen Akte der Verwaltung gewährt und werden sonstige Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts entschieden. Die Existenz einer Gerichtsbarkeit, die auch Maßnahmen der Exekutive überprüft, ist Bestandteil des rechtsstaatlichen Prinzips des GG. Zusätzlich gewährt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ein subjektives Recht, ein Grundrecht, auf Anrufung der Gerichte im Falle der Verletzung von Rechtspositionen des Bürgers durch die öffentliche Gewalt“.103 Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) Die Tätigkeit der Verwaltungsgerichte wurde nach 1933 laufend eingeschränkt und kam schließlich zum Erliegen. Nationalsozialistische Definition der Verwaltungsgerichtsbarkeit: „die Gerichtsbarkeit in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten; die von Verwaltungsgerichten im Verwaltungsstreitverfahren ausgeübt wird. Nach nationalsozialistischer Auffassung hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht den einzelnen gegen den Staat zu schützen, sondern die allgemeine Volksordnung aufrechtzuerhalten, wenn und soweit diese infolge der Beeinträchtigung der Belange einzelner durch einen Verwaltungsakt gestört ist“.104 Fazit: Im Nationalsozialismus keine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit.

100 In: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 5, Leipzig 1973, S. 433 und Brunner, Georg: Einführung in das Recht der DDR, München 1979, S. 19, 56 f. 101 Stern, Klaus: Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: HdWW, Bd. 8, 1988, S. 345-351. 102 Sendler, Horst: Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Roman Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 2. Bd., 1997, Sp. 384. Lorenz, Dieter: Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, Sp. 744-748. 103 Stern, Klaus: Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW) Bd. 8, 1988, S. 345. 104 Der Neue Brockhaus. Allbuch in vier Bänden und einem Atlas, 4. Bd., Leipzig 1938, S. 587.

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Westzonen / Bundesrepublik Deutschland105

Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990)

Nach 1945 wurden in den Ländern auf landes- oder besatzungsrechtlicher Grundlage wieder Verwaltungsgerichte eingerichtet. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine insbesondere dem Rechtsschutz des Bürgers gegen Akte der öffentlichen Gewalt dienende Einrichtung; sie wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt, und zwar durch die (allg.) Verwaltungsgerichte und durch die Finanzund Sozialgerichte als besondere Verwaltungsgerichte. Als Verwaltungsgerichtsbarkeit wird üblicherweise nur die allgemeine Verwaltung bezeichnet.

„In der DDR wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit beseitigt“.106 Sozialistische Definition der Verwaltungsgerichtsbarkeit: „Besondere Form der Entscheidung von Streitigkeiten auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts entweder durch ordentliche Gerichte (angelsächsisches System) oder durch spezielle Verwaltungsgerichte (kontinentales System). Sie besteht in den meisten bürgerlichen Staaten; in Frankreich seit 1790, in Preußen und Österreich seit 1875. Als Ausdruck der sog. Gewaltenteilung liegt ihr formal der Gedanke zugrunde, die Rechtsmäßigkeit von Verwaltungsakten richterlich überprüfbar zu machen. In der DDR und den meisten sozialistischen Staaten gibt es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im Sinne der einheitlichen sozialistischen Staatsgewalt kann die Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsmaßnahmen nicht nur im Beschwerdewege von der übergeordneten Stelle überprüft werden, sondern unterliegt auch der Kontrolle durch die staatlichen Machtorgane, bes. der Volksvertretungen und der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion“.107

Fazit: Sofortige Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Westzonen / Bundesrepublik Deutschland.

Fazit: Im Sozialismus keine Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Das Kontrollratsgesetz Nr. 36 vom 10. Oktober 1946108 hatte die Errichtung von Verwaltungsgerichten in ganz Deutschland zwingend vorgeschrieben. Nur in Thüringen war am 26. November 1945 ein Gesetz zur Wiedererrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit verabschiedet worden, das am 4. Juni 1946 in Kraft trat. In den Ländern der SBZ wurden Verwaltungsgerichtsgesetze verabschiedet. Es gelang den Innenministerien der Länder der SBZ schließlich doch, „anstelle der Justizministerien die Aufsicht über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu erhalten.

105 Sendler, Horst: Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Bd., 1997, Sp. 3840. 106 Ebd., Sp. 3841. 107 In: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1976, S. 516 und Brunner, Georg: Einführung in das Recht der DDR, S. 21. 108 Amtsblatt des Kontrollrats vom 31.10.1946.

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Ihre Rolle als Parteiministerien war damit gewahrt; der wichtigste Angriff auf das Prinzip der parteilichen Gewaltenballung war abgewehrt. Die Qualität der Rechtsgarantie durch diese Gerichtsbarkeit wird daran erkennbar, daß nur vier Jahre später diese Gerichte im Zuge der Verwaltungsreform von 1952 durch interne Anweisung des DDR-Innenministers einfach aufgelöst wurden“.109 Durch Gesetz vom 23.7.1952 waren in der DDR an Stelle der früheren Länder die Bezirke geschaffen worden. „Die Diktion des sowjetischen Staats- und Verwaltungsdenkens der fünfziger Jahre, die in der DDR tradiert wurde, unterschied zwischen ‚Kontrolle’ und ‚Kontrolle der Durchführung’. Beide seien unerlässliche Bestandteile der sozialistischen staatlichen Verwaltung. Die ‚Kontrolle der Durchführung’ meinte die konkrete Überprüfung staatlicher Entscheidungen, Gesetze und Verordnungen durch die Staatliche Kontrolle einerseits und weitere spezielle Kontrollinstitutionen andererseits. Die Staatliche Kontrolle war damit das einzige Organ, das einen faktisch allumfassenden Kontrollauftrag hatte“.110 Den Bewohnern der Sowjetzone blieb ein wirksamer Rechtsschutz gegenüber den Maßnahmen der Verwaltungsbehörden versagt.111 Durch Einführung der Kassation112 konnten in der DDR rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen aufgehoben oder abgeändert werden. Dieser Rechtsbe-

109 Müller, Hans-Peter: Unterhöhlung der Gewaltenteilung: Das Schicksal der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Manfred Wilke (Hrsg.), Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 403. 110 Horstmann Thomas: Logik der Willkür. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle in der SBZ/DDR von 1948 bis 1958, 2002, S. 4 f.: Studenikin, Sowjetisches Verwaltungsrecht, (Allgemeiner Teil. Berlin (O) 1954, Übersetzung des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft; russisches Orig. 1950), § 2, Abs. 1 und 2, 242-246 (2). Die Spitzenfunktionäre der ZKK besuchten am 21.10.1954 eine Gastvorlesung Studenikins an der Verwaltungsschule Weimar über „Der Sowjetdeputierte – ein wahrer Diener seines Volkes“. Studenikin war zu diesem Zeitpunkt Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht und internationales Recht an der Juristischen Akademie in Moskau. Mitschrift des Vortrages durch Organisations-InstrukteurAbteilung der ZKK in: BAP, DC-1 2389. Das einzige zeitgenössische Lehrbuch des Verwaltungsrechtes der DDR von 1957 (Bönninger, Verwaltungsrecht) folgte konzeptionell und inhaltlich dem sowjetrussischen Verwaltungsrechtslehrbuch von 1950 (Studenikin, Verwaltungsrecht). Das DDR-Buch wurde in der juristischen Ausbildung offiziell wenig genutzt, denn bald nach Erscheinen wurde auf der ‚Babelsberger Konferenz’ von 1958 die Existenz eines Rechtszweiges Verwaltungsrecht zu einer bürgerlichen Abweichung erklärt. Dennoch wurde das Buch vermutlich informell weiterbenutzt. Mollnau, Karl A.: Normdurchsetzung in der SBZ/DDR (1945-1958). Beschlußchronik der KPD/SED-Führungszentrale nebst kommentierter Auswahlbibliographie. In: Mohnhaupt, Heinz / Schönfeldt, Hans-Andreas (Hrsg.): Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944-1989). Einführung in die Rechtsentwicklung mit Quellendokumentation. Bd. 1: Sowjetische Besatzungszone in Deutschland – Deutsche Demokratische Republik (1945-1960). Frankfurt 1997, S. 291-468. Stolleis, Michael: Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009, S. 49 ff. Die Babelsberger Konferenz 1958. 111 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands. Zusammengestellt vom Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, Bonn 1955, S. 69.

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helf sollte einer einheitlichen und richtigen Gesetzesanwendung dienen sowie die Rechte und Interessen der Bürger und der sozialistischen Gesellschaft schützen. Zur Stellung des Antrags waren der Direktor des Bezirksgerichts, Präsident des Obersten Gerichts bzw. die jeweiligen Staatsanwälte berechtigt. Zuständig für die Kassation sind das Bezirksgericht für die Entscheidung über rechtskräftige Entscheidungen der Kreisgerichte und das Oberste Gericht für die Entscheidung über rechtskräftige Entscheidungen der Senate des Obersten Gerichts, der Bezirks- und Kreisgerichte.113 Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland als freiheitlich rechtsstaatliche Demokratie wurde in der DDR ebenso wie durch die nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) eine totalitäre Diktatur errichtet, wie eine vergleichende Gegenüberstellung der vorstehenden Charakteristika zeigt. Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) Nationalsozialistischer zentralistischer Einheitsstaat Teil des totalitären zentralistischen nationalsozialistischen Einheitsstaates

Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) Sozialistischer Einheitsstaat

Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) Bundesstaat

Teil des totalitären zentralistischen sozialistischen Einheitsstaates

Kommunale Selbstverwaltung im Grundgesetz verankert.

Rechtsstaat

NSDAP steht über dem Recht: Unrechtsstaat

SED steht über dem Recht: Unrechtsstaat

Rechtsstaat

Gewaltenteilung

Keine Gewaltenteilung im Nationalsozialismus Keine Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus

Keine Gewaltenteilung im Sozialismus Keine Verwaltungsgerichtsbarkeit im Sozialismus

Gewaltenteilung

Nationalsozialistische totalitäre Diktatur

Sozialistische totalitäre Diktatur

Freiheitlich rechtsstaatliche Demokratie

Staatsform

Kommunale Selbstverwaltung

Verwaltungsgerichtsbarkeit Fazit

Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die Synopse zeigt mit sehr großer Deutlichkeit, daß die Deutsche Demokratische Republik (1949-1990) ebenso wie die Nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) eine totalitäre Diktatur war. „Indem die totalitäre SED ihre Prinzipien auf Gesellschaft und Staat übertrug, war die 1949 gegründete DDR ein totalitärer SED-Staat, der weder Gewaltenteilung noch kulturellen, sozialen oder politischen Pluralismus kannte“.114 Der „demokratische Zentralismus“ war das grundlegende Organisationsprinzip aller kommunistischen/sozialistischen Parteien. „Es regelt in erster Linie den

112 Lexikon der Wirtschaft Arbeit, Redaktionskollektiv, Bley, H. et al., Berlin (-Ost) 1969, S. 371. 113 Ebd., S. 371. 114 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München, Wien 1998, S. 645.

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innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß, bestimmt aber in allen Ländern, in denen kommunistische Parteien die Macht errungen haben, auch die Organisation von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. (Art. 9,3 und 47,2 der Verfassung der DDR von 1968/1974). Das Prinzip des d. n Z. besagt vor allem, daß den Entscheidungen der Parteiführung absolute Verbindlichkeit für die jeweils untergeordneten Parteiorgane, für die Staatsgewalt, die anderen Parteien, sofern es solche gibt, die Massenorganisationen und die Wirtschaft zukommt. […] Die Parteimitglieder werden mittels des „demokratischen Zentralismus“ durch die Parteiführung indoktriniert, mobilisiert und kontrolliert. […] Da die Interessen der Parteiführung und der Gesellschaft als identisch gelten, kann es keinen Konflikt zwischen Partei bzw. Parteiführung und Gesellschaft geben. Jeder Widerspruch gegen die Parteiführung aus der Gesellschaft gilt per definitionem als Widerspruch gegen das Volk, als Unterhöhlung der Demokratie. Das Prinzip des D. n Z. ist in Verbindung mit der Dialektik und der behaupteten Interessenidentität somit der Schlüssel zur totalitären Herrschaft kommunistischer Parteien“.115 5.3. Merkmale der neu geschaffenen Staats- und Rechtsordnung in der SBZ / DDR Carl Joachim Friedrich und Zbigniew K. Brzezinski entwickelten eine „allgemeine, beschreibende Theorie“ der totalitären Diktatur.116 Die totalitäre Diktatur wird durch sechs Wesenszüge charakterisiert:117 „Erstens: Was die offizielle Ideologie, die offizielle Lehre angeht, so erstreckt sie sich auf alle wichtigen Gebiete des menschlichen Lebens, und jeder, der in einer solchen Gesellschaft lebt, hat ihr eine gewisse Loyalität zu bezeigen. Hierbei ist zu beachten, daß eine solche Ideologie charakteristischerweise einen Endzu-

115 Spieker, Manfred: Demokratischer Zentralismus, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 1, 1995, Sp. 1201-1203. 116 Lietzmann, Hans-J.: Von der konstitutionellen zur totalitären Diktatur, Carl Joachim Friedrichs Totalitarismustheorie, in: Söllner, Alfons / Walkenhaus, Ralf / Wieland, Karin (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 175: „Die klassische Totalitarismustheorie beschreibt ein idealtypisches Modell „totalitärer Diktatur“, dem sie (a.) eine offizielle Ideologie, deren Repräsentanz durch (b.) eine Massenpartei, beider Unterstützung durch (c.) eine terroristische Geheimpolizei, (d.) ein Nachrichten- und (e.) ein Waffenmonopol sowie (f.) ein System zentraler Wirtschaftslenkung zuschreibt. Dieser Merkmalskatalog ist idealtypisch ganz im Sinne Max Webers; er ist es trotz Friedrichs vehementer Kritik an Max Weber. Das, was Friedrich mit seiner Theorie beabsichtigt, nämlich eine „generalisierende Beschreibung“, die sich über gegenläufige realistische Details hinwegsetzt, entspricht der Grundform des von Max Weber geprägten idealtypischen Modells, von dem her die Realität letztlich „wertend beurteilt“ wird. So geht auch Friedrich vor“; Wippermann, Wolfgang: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997. 117 Friedrich, Carl Joachim / Brzezinski, Zbigniew K.: Totalitäre Diktatur, Stuttgart, 1957, S. 7.

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stand der Menschheit, ein Paradies auf Erden, proklamiert,118 der eine radikale Verwerfung der bestehenden Gesellschaft mitbeinhaltet. Zweitens: Die für die totalitäre Diktatur typische Massenpartei, die im alleinigen Besitz der formellen Herrschaft ist, wird in der Regel von einem Mann, dem Diktator, geführt. Sie besteht aus einem verhältnismäßig kleinen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung (bis zu 10 %). Zum mindesten eine aktive Minderheit dieser Parteimitglieder ist leidenschaftlich und kompromißlos der Ideologie ergeben und deshalb bereit, in jeder Weise ihre Ausbreitung zu fördern. Eine solche totalitäre Partei ist hierarchisch und oligarchisch aufgebaut. Sie ist typischerweise entweder der staatlichen Bürokratie übergeordnet oder vollkommen mit ihr verflochten. Drittens: Die terroristische Geheimpolizei unterstützt einerseits die Partei, aber andererseits überwacht sie sie auch für ihre Führer. Charakteristischerweise bekämpft sie nicht nur die nachweisbaren Feinde des Regimes, sondern auch eigenmächtig ausgewählte Gruppen der Bevölkerung, die sogenannten „potentiellen Feinde“. Es ist hierbei wichtig, daß der Terror der totalitären Geheimpolizei systematisch die wissenschaftlichen Ergebnisse der modernen Psychologie verwertet. Viertens: Das nahezu vollkommene Monopol aller Nachrichtenmittel in der Hand der Partei und ihrer Kader ist technisch bedingt durch die moderne Entwicklung von Presse, Radio, Film usw. Es stellt eine noch nie dagewesene Vergewaltigung des Menschen dar, in deren Verlauf eine Entwurzelung des Einzelnen und seine Verschmelzung mit der Masse befördert wird. Fünftens: Ebenso ist das fast vollkommene Waffenmonopol technisch bedingt, was das Verschwinden jeder Möglichkeit bewaffneten Widerstandes bedeutet. Sechstens: Die zentrale Lenkung und Beherrschung der gesamten Wirtschaft wird verwirklicht durch eine bürokratische Gleichschaltung aller vorher unabhängigen Wirtschaftskörper, Vereinigungen usw., die dann typischerweise auch auf alle sonstigen Vereinigungen und Gruppen übergreift. Die Betonung dieser sechs Wesenszüge soll nicht bedeuten, daß es nicht auch noch andere geben mag, die gegenwärtig nicht hinreichend erkannt sind. Aber diese Eigenschaften sind heute ganz allgemein als Wesenszüge der totalitären Diktatur anerkannt, und zwar nicht nur von Schriftstellern des Westens, sondern ebenso sehr von den Totalitären selber“.119 Nach Schroeder sind diese sechs Grundmerkmale „konstitutiv miteinander verflochten und erlauben in dieser Kombination die Charakterisierung von Systemen als totalitär“.120 Mit den sechs Wesenszügen werden die nationalsozialistische Herrschaft (1933-1945) und das kommunistisch-sozialistische Regime (1945-1990) in der 118 Artikel „Kommunismus“, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 7, 1973, S. 658 f. 119 Friedrich / Brzezinski: Totalitäre Diktatur, S. 19 f. 120 Schroeder, Klaus: Die DDR: eine (spät-)totalitäre Gesellschaft, in: Manfred Wilke (Hrsg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 548.

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SBZ / DDR charakterisiert: „Der von der stalinistischen Sowjetunion mit Hilfe deutscher Kommunisten implantierte Sozialismus hatte anfangs zweifellos eine totalitäre Gestalt. Spätestens ab Anfang der fünfziger Jahre erfüllte die SBZ/DDR alle von der klassischen Totalitarismustheorie aufgestellten Kriterien: eine allgemeinverbindliche Ideologie mit chiliastischem Anspruch; eine hierarchisch und oligarchisch organisierte Monopolpartei als ausschließlicher Träger der Macht; ein von der Partei und ihrer Geheimpolizei organisiertes und kontrolliertes physisches und psychisches Terrorsystem; ein nahezu vollkommenes Monopol der Massenkommunikationsmittel; ein Waffen- bzw. Gewaltenmonopol sowie eine zentrale Kontrolle und Lenkung der gesamten Wirtschaft“.121 Ein Vergleich der Diktatur der SED mit der NS-Diktatur bedeutet aber nicht eine Gleichsetzung.122 Wo liegen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und SED-Regime? 1. „Die SED hat keinen Weltkrieg ausgelöst […] und auch trotz aller menschenfeindlichen Brutalität ihrer Repressionsmethoden keinen Massenmord, wie etwa den staatlich organisierten millionenfachen Judengenozid des NS-Regimes“,123 verübt. 2. „Der Nationalsozialismus entstand zwar alles andere als unabhängig von der internationalen Konstellation des Ersten Weltkrieges, der Niederlage, des Versailler Vertrages, der Reparationen, der Weltwirtschaftskrise seit 1929, war aber doch im Kern ein ‚hausgemachtes’ Produkt der deutschen Gesellschaft. […] Die DDR dagegen ging nicht aus genuin deutschen Antriebskräften hervor, sondern blieb von Anfang bis zum Ende ein Geschöpf der Sowjetpolitik – ein Satellit der russischen Hegemonialmacht“.124 3. Während im Nationalsozialismus der Rassenkampf eine zentrale Rolle spielte, stand für die SED – wie für alle marxistisch-leninistischen Regime – der Klassenkampf im Zentrum ihrer politischen Strategie. 4. „Die sozialökonomische Struktur beider Systeme blieb erheblich unterschieden. Die NS-Diktatur respektierte weiterhin das Privateigentum in der Wirtschaft, auch ihre Investitions- und Gewinnentscheidungen, steigerte das Leistungsprinzip im Sinne ihrer arischen ‚egalitären Leistungs-Volksgemeinschaft’“.125 Die DDR dagegen zerstörte das private Eigentum an Produktionsmit-

121 Ebd., S. 557. 122 Kosiek, Rolf: Historikerstreit und Geschichtsrevision, Tübingen 1987. Jesse, Eckhard: Die Totalitarismusforschung im Streit der Meinungen, in: Jesse, Eckhard (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 9-39. Vollnhals, Clemens: Der Totalitarismusbegriff im Wandel in Politik und Zeitgeschichte 39/2006, S. 21-27. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, Bonn 2009, insbes. S. 414-419. 123 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, S. 415 f. 124 Ebd., S. 416. 125 Ebd.

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teln und den Mittelstand und baute eine politisch güterwirtschaftlich gelenkte sozialistische Zentralplanwirtschaft auf. Die Nomenklatura in der DDR verfügte neben der politischen auch über die wirtschaftliche Macht. Auf der anderen Seite zeigen sich strukturelle Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. 1. „Die SED errichtete, wie auch die NSDAP, ein Einparteiensystem, in dem die Blockparteien als machtloses Feigenblatt fungierten“.126 Beide Systeme verachteten und blockierten den Parlamentarismus. Die Volkskammer der DDR trat jährlich nur wenige Male zusammen, verabschiedete vor allem die Gesetze über den Volkswirtschaftsplan mit einstimmigen Voten per Akklamation und diente ansonsten hauptsächlich als Zustimmungskulisse für außenpolitische Erklärungen der SED-Führer. 2. „Eine institutionelle Begrenzung der Staatsmacht (Gewaltenteilung) sah die Realverfassung der DDR nicht vor“.127 Die DDR blieb von Anfang bis Ende ein Unrechtsstaat, auch darin stand sie mit der „Führerdiktatur“ auf einer Stufe. In beiden Diktaturen wurde die Justiz politisch gesteuert und die Grund- und Menschenrechte kontinuierlich verletzt.128 3. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte mit der Gestapo eine vergleichbare Funktion eines Repressions- und Terrorinstruments. 4. Wie die NS-Diktatur wirkte auch das SED-Regime auf eine Militarisierung der Gesellschaft hin.129 Äußere Kennzeichen dafür waren Orden, Aufmärsche vor der politischen Führung, Militärparaden mit Stechschritt, vormilitärische Wehrertüchtigung etc. 5. Letztlich ging es in beiden totalitären Systemen um die Herausbildung eines neuen Menschentyps – der arischen Rasse oder der „sozialistischen Persönlichkeit in einer klassenlosen Gesellschaft“. Terror und Umerziehung waren Instrumente gesellschaftlicher Strukturbrüche. Der Zweck heiligte in beiden Systemen die Mittel. Nach allem ist ein Vergleich möglich, aber eine „schlichte Gleichsetzung der beiden deutschen Diktaturen nicht zulässig, da einige Unterschiede zu auffällig sind“.130 Für ein Urteil bleibt aber unbestreitbar, daß der SED-Staat zum Regimetypus der totalitären Diktaturen gehört.131

126 Ebd., S. 417. 127 Ebd. 128 Ebd., S. 417. 129 Ebd., S. 417 f. 130 Ebd., S. 419. 131 Ebd., S. 419.

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Unrecht als System in der DDR 132 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen gab in Verbindung mit dem Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen für die Jahre 1952 bis 1961 eine vierteilige Dokumenten-Sammlung „Unrecht als System“133 heraus, in dem nur Tatsachenmaterial vorgelegt wurde. Die Dokumente zeigen, wie die SED mit dem Recht umging. „Neue unerhörte Verstöße gegen die fundamentalen Rechtsprinzipien sind in der DDR inzwischen begangen worden. Sie verpflichten uns, wiederum an die Weltöffentlichkeit zu appellieren. Wir haben nicht die Absicht, eine politische Idee oder eine Wirtschaftskonzeption anzugreifen. Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet sind Aufgaben der Politiker. Die Mißachtung der Menschenrechte in Mitteldeutschland aber können wir nicht schweigend hinnehmen, denn die Rechtsnot hält unverändert an. Mochten in Kenntnis der ersten Dokumenten-Sammlung manche noch glauben, es handele sich um eine Übergangserscheinung, wie sie bei Umwälzungen in Staat und Gesellschaft in den ersten Phasen der Entwicklung regelmäßig auftreten, so zeigen die neuen Fälle, daß auch in den letzten zwei Jahren die Herrscher der Zone auf dem Wege des Unrechts immer weiter fortschreiten. Daher muß von einem ‚Unrecht als System’ gesprochen werden. Die politischen Ziele werden erstrebt ohne Rücksicht auf die Grenzen, die in einem Rechtsstaat das Recht auch dem Herrschenden setzt. In der Zone herrscht nicht etwa ein anderes Rechtssystem; es fehlt vielmehr am Rechtsstaat, weil das Regime die Grundrechte der Menschen mißachtet und sich damit außerhalb dessen stellt, was im Völkerrecht als Grundprinzip einer Rechtsordnung anerkannt wird. Die Machthaber der Zone mißachten die einfachsten menschlichen Rechtsgüter der persönlichen Freiheit, der Gewissensfreiheit, der Glaubensfreiheit und des Eigentums. Gesetztes Unrecht tritt an die Stelle des Rechts, auch wenn es äußerlich zum Teil noch Formen zeigt, die rechtsstaatlich wirken sollen. Selbst die eigene Verfassung wird planmäßig verletzt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung steht nur auf dem Papier. Erschreckend ist der Einbruch des Unrechts-Systems in die Justiz. Die Unabhängigkeit der Richter ist praktisch beseitigt. Allein beim Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen sind bei einem Planbestand von 1050 Richtern und 250 Staatsanwälten 946 Juristen registriert, die auf Grund politischer Gefährdung die Sowjetzone als Flüchtlinge verlassen mußten. Es gibt kein Gericht in der Sowjetzone, das seit 1945 die gleiche Richterbesetzung aufweist, dagegen aber zahlreiche, in denen heute schon die fünfte oder sechste Garnitur tätig ist. Die Anwälte werden unter Druck gesetzt, um ihre Mandanten nicht ordnungsgemäß zu vertreten. Im Jahre 1946 gab es nach Ausschaltung aller nationalsozia-

132 Grundsätzlich Stolleis, Michael: Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009, S. 39 ff. Der Unrechtsstaat DDR. 133 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands. Zusammengestellt vom Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, Bonn. Teil I: 1952, Teil II: 1952-1954 (1955), Teil III: 1954-1958 (1958), Teil IV: 1958-1961 (1962).

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listisch belasteten Juristen noch 1200 Anwälte in der Zone. Heute sind für 18 Millionen Einwohner nur noch 500 freie Anwälte tätig – im Vergleich zu 13.500 für 48 Millionen Einwohner der Bundesrepublik. Politische Zweckmäßigkeit und nicht Recht beherrscht das öffentliche Leben. In den letzen 2 Jahren hat das Regime vielerlei Anstrengungen unternommen, um die Bevölkerung ‚umzustimmen’. Die Proklamation des sogenannten Neuen Kurses sollte dazu dienen, durch Steigerung der Verbrauchsgüterproduktion und durch andere wirtschaftliche Zugeständnisse an die Bevölkerung ihr Vertrauen zu gewinnen. Für die Beseitigung des Grundübels, die Rechtlosigkeit, wurden keine Anstalten gemacht. Sie aber ist gerade die tiefe Ursache der Abneigung und des Widerstandes der Bevölkerung gegen das herrschende Regime“.134 Die Sicht des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen zu Beginn der 1950er Jahre wurde nach Öffnung der Archive im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 eindrucksvoll bestätigt. Hans-Andreas Schönfeldt hebt die politische Instrumentalisierung des Rechts durch die SED hervor: „Im Spannungsfeld zwischen dem jeweils geltenden Recht und dem ‚revolutionären’ Gestaltungsanspruch der SED bot zunächst die Rezeption der dynamisch-instrumentalen Rechtslehre sowjetischer Prägung, wie sie durch A. J. Wyschinski entwickelt und in der DDR vor allem durch Karl Polak verbreitet worden war, den theoretischen Schlüssel für die schrittweise Ausgestaltung einer Rechtsordnung, deren Strukturen grundsätzlich das Primat der politischen Entscheidung gegenüber dem juristischen Geltungsanspruch und die rechtliche Nichtbindung der politischen Entscheidungsträger in den jeweils obersten Etagen der ‚demokratisch-zentralistischen’ Machtpyramiden. Die Organisation der Gerichte unterlag starken strukturellen Veränderungen. Der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurde in mehreren Schritten die Zuständigkeit für ganze Rechtszweige, einzelne Rechtsinstitute oder Adressatenkreise entzogen. Rechtsanwendung wurde auf ‚quasijustitielle’ Einrichtungen im Bestand der ‚vollziehend-verfügenden’ Staatsorgane oder auch auf Entscheidungsgremien im Verantwortungsbereich der SED bzw. der von ihr gelenkten kommunistischen Massenorganisationen übertragen. Eine Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit widersprach der Doktrin von der Gewalteneinheit. […] Die Konstanten der Rechtsprechung des Obersten Gerichts sind sowohl extra- als auch intrakonstitutionell, die Interpretationsmethoden ihrem Wesen nach politisch und unjuristisch, bzw. nur insofern juristisch, als sich juristische Konstruktionen aus dem Blickwinkel des Gerichts zur Legitimierung jener rechtspolitischen Zielstellung eigneten, die zu einer Kassationsentscheidung führten“.135

134 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Unrecht als System, Teil II 19521954, S. 5 f. 135 Schönfeldt, Hans-Andreas: Grundzüge der Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Prozeß der gesellschaftlichen Transformation der SBZ/DDR von 1945 bis 1960, in: Mohnhaupt, Heinz / Schönfeldt, Hans-Andreas (Hrsg.): Sowjetische Besatzungszone, S. 182. Zur Lenkung der Justiz durch das Politbüro der SED Schroeder, Klaus: Der SED-Staat,

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Die Sowjetisierung des Strafrechts auf dem Gebiet der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung und des Strafvollzugs war vollständig durchgeführt mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der DDR“ am 1. Juni 1952. Richter und Staatsanwälte waren Funktionäre der SED. „Obwohl nach der Verfassung der Sowjetzone alle Bürger das Recht haben, ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und sich zu diesem Zweck friedlich und unbewaffnet zu versammeln, waren über 26.000 Männer, Frauen und Jugendliche deshalb unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, weil sie von diesem Recht Gebrauch machen, weil sie wegen ihrer abweichenden politischen Einstellung zu ‚Saboteuren’, ‚Agenten’ und ‚Volksfeinden’ erklärt wurden. Obgleich nach Artikel 20 der Verfassung die Privatwirtschaft in der Entfaltung ihrer privaten Initiative unterstützt werden soll, wurden viele Tausende Bürger der Sowjetzone wegen angeblichen Wirtschaftsverbrechens zu meist hohen Strafen und Vermögenseinziehung verurteilt, um auf diese Weise eine entschädigungslose Enteignung von Privatbetrieben zu erreichen“.136 „Artikel 23 der Verfassung der DDR bestimmte z. B., daß Enteignungen nur auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden dürfen. Wie es mit Einhaltung dieser Verfassungsbestimmung in Wirklichkeit aussieht, zeigt ein Beispiel aus dem Berliner Ostsektor. Hier wurden im September/Oktober 1950 in einer geschlossenen Aktion durch das ostsektorale Amt für Wirtschaft gleichzeitig 900 Firmen, Läden, Gewerbebetriebe usw. beschlagnahmt. Die Beschlagnahmeverfügung bestand aus hektographierten, gleichlautenden Zetteln, die meist nur mit einem Amtsstempel versehen waren und keine Unterschrift (!) trugen. Anfang des Jahres 1951 wurde diese Beschlagnahmeaktion bis auf 2.000 Fälle gesteigert. Die Betroffenen wurden aus ihren Betrieben zum Teil zwangsweise herausgesetzt, bekamen keinerlei Nachricht, geschweige denn eine Abrechnung oder Geld. Sie sind auf dem Verwaltungswege enteignet und mittellos gemacht worden. Eine Klage gegen den Magistrat von Ostberlin war undurchführbar, denn in Ostberlin gab es niemals ein Verwaltungsgericht. Die in der Sowjetzone bis zur Verwaltungsreform im Jahre 1952 noch vorhandenen – wenn auch nicht tätigen – Verwaltungsgerichte sind mit Durchführung der Verwaltungsreform stillschweigend aufgelöst worden, so daß es jetzt eine Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR überhaupt nicht mehr gibt“.137 In der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 hieß es in Art. 24: „Äußerlich wies sie manche wörtlichen Anklänge an die Weimarer Reichsverfassung von S. 108. Rottleuthner, H. (Hrsg.): Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994. 136 Unrecht als System, Bonn 1952, S. VII. Im Strafrecht kam es zu folgenden Tatbeständen: (1) Freie Meinungsäußerung – „gefährdet den Frieden. (2) Unterdrückung der Gedankens- und Religionsfreiheit. (3) Willkürliche Festnahmen und Verhaftungen. (4) Folter, unmenschliche, demütigende Bestrafung. (6) Aburteilung ohne Verteidigung und Schuldnachweis. (7) Beseitigung der Unabhängigkeit der Gerichte. 137 Rosenthal, Walther / Lange, Richard, Blomeyer, Arwed: Die Justiz in der sowjetischen Besatzungszone, Bonn 1954, S. 39 f.

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1919 auf, schien also auf den ersten Blick einem bürgerlich-republikanischen Leitbild verpflichtet. Im Rückblick ist allerdings nicht zu übersehen, daß die Verfassung zugleich ein Einfallstor für kommunistische Staats- und Wirtschaftsauffassungen darstellte. Als Beispiel sei Art. 24 zitiert: (1) „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen. (2) Der Missbrauch des Eigentums durch Begründung wirtschaftlicher Machtstellung zum Schaden des Gemeinwohls hat die entschädigungslose Enteignung und Überführung in das Eigentum des Volkes zur Folge. (3) Die Betriebe der Kriegsverbrecher und aktiven Nationalsozialisten sind enteignet und gehen in Volkseigentum über. Das gleiche gilt für private Unternehmungen, die sich in den Dienst einer Kriegspolitik stellen. (4) Alle privaten Monopolorganisationen, wie Kartelle, Syndikate, Konzerne, Trusts und ähnliche auf Gewinnsteigerung durch Produktions-, Preis- und Absatzregelung gerichtete private Organisationen sind aufgehoben und verboten. (5) Der private Großgrundbesitz, der mehr als 100 ha umfaßt, ist aufgelöst und wird ohne Entschädigung aufgeteilt. (6) Nach Durchführung dieser Bodenreform wird den Bauern das Privateigentum an ihrem Boden gewährleistet“.138 Die Art der inhaltlichen Bestimmung des Gemeinwohls ergibt sich aus dem Charakter des jeweiligen politischen Systems. In einem demokratischen Staatswesen ist das „Gemeinwohl – nach E. Fraenkels bereits klassisch gewordener Formulierung – erst die ‚Resultante’, die ‚sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird’. Es ist demnach das jeweilige, nie fest zu umreißende, dem ständigen Wandel ausgelieferte Ergebnis des dynamischen demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses selbst, an dem die Bürger, Gruppen, gesellschaftlichen Organisationen, politischen Parteien und staatlichen Organe in verschiedenen Rollen teilhaben. Insofern ist seine konkrete inhaltliche Bestimmung aposteriorischen Charakters“.139 Im totalitären nationalsozialistischen Staat (1933-1945) und im totalitären realsozialistischen Staat der DDR (1949-1990) wurde die Gemeinwohlidee missbraucht. Der nationalsozialistische Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ (Punkt 24 des Programms der NSDAP) ordnet die Interessen des Einzelnen der

138 Kroeschell, Karl: Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Göttingen 1992, S. 152. 139 Schwan, Alexander: Gemeinwohl aus politikwissenschaftlicher Sicht. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. Bd. 2. Freiburg / Basel / Wien 71995, Sp. 859. Stolleis, Michael: Gemeinwohl. In: Evangelisches Staatslexikon. Bd. I. Stuttgart 31987, Sp. 1062.

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Volksgemeinschaft unter. „Für die Nazis bedeutete der Vorrang des Gemeinwohls eben die unbedingte Unterwerfung des Individuums unter die Forderungen des Staates. Und in diesem Sinn war der Nationalsozialismus zweifellos ein sozialistisches System. Nach nationalsozialistischer Anschauung standen das Parteiprogramm der NSDAP und der Führerwille über dem Recht“.140 „Gemeinwohl im realsozialistischen Staat der DDR: Im Gegensatz zur individualistischen Auffassung (Adam Smith) geht die idealistische Auffassung vom Gemeinwohl von a priori gültigen Normen für das wirtschaftspolitische Handeln aus. ‚In einer geschlossenen Gesellschaft mit einheitlicher weltanschaulicher Grundlage und autokratischer Spitze ist das Gemeinwohl ein vorgegebener, von den aktuellen, empirisch feststellbaren Wünschen und Bedürfnissen der Menschen unabhängiger Wert’. Die Realisierung der jeweiligen Gemeinwohlkonzepte führte im Nationalsozialismus und im realen Sozialismus der DDR zur Diktatur. Der Begriff Gemeinwohl wurde aus sozialistischer DDR-Sicht in der vor- und nichtmarxistischen Sozialphilosophie gebraucht. Nur in einer klassenlosen Gesellschaft ist ein echtes Gemeinwohl möglich. Die Bundesrepublik wurde von DDRIdeologen als Klassengesellschaft angesehen: ‚In einer antagonistischen Klassengesellschaft kann es Gemeinwohl in diesem Sinne nicht geben, da z. B. die Stärkung des von der herrschenden Klasse gesteuerten Gemeinwesens nicht den Unterdrückten zugute kommt. Der Terminus Gemeinwohl trägt zur Verschleierung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft bei’. Bei der willkürlichen Festsetzung aller Ziele des Gemeinwohls und der individuellen Bedürfnisse besaß die nicht abwählbare Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein Monopol. Das Gemeinwohl kann nur in einer rechtsstaatlichen Demokratie im politischen Kommunikationsprozeß realisiert werden. Wie breit das Spektrum des Gemeinwohls ist, zeigt der vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) herausgegebene Sammelband“.141 In Art. 24 der DDR-Verfassung von 1949 wurden die Konfiskationen der privaten Unternehmungen und der bäuerlichen Betriebe über 100 ha festgeschrieben. „Die normative Kraft dieser Verfassung war von Anfang an äußerst gering. Nicht nur Gesetze, sondern auch einzelne Anordnungen setzten sich immer wieder über den klaren Wortlaut der Verfassung hinweg. Das bekannteste Beispiel einer sol-

140 Stolper, Gustav: Deutsche Wirtschaft 1870-1940, Stuttgart 1950, S. 146. 141 Schneider, Jürgen: Aspekte der ethischen Grundlegung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Blessing, Werner K. / Kestler, Stefan / Wirz, Ulrich (Hrsg.): Region – Nation – Vision. Festschrift für Karl Möckl zum 65. Geburtstag, Bamberg 2005, S. 349. Gemeinwohl. In: Ökonomisches Lexikon. A – K. Berlin (Ost) 1967, S. 753. Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin (Ost) 1967, S. 221. Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR. Berlin 1995. Klaus, Georg / Buhr, Manfred (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Bd. 1. Berlin (-Ost)121974, S. 451. Mollmann, Karl A.: Der Mythos vom Gemeinwohl. Zur Kritik der politisch-klerikalen Sozial- und Staatsideologie. Berlin (Ost) 1962, S. 58, 69. Schuppert, Gunmar / Folke / Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.): Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz. Berlin 2002.

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chen Verfassungsdurchbrechung bildet die Beseitigung der Länder im Jahre 1952“.142 Auf der Basis einer breiten Quellenlage analysierte Falco Werkentin die politischen Strafurteile in der DDR. Er resümiert: „Ungeachtet offener theoretischer Fragen läßt sich bewerten, von welcher Qualität Recht im realen Sozialismus war. Vom ersten bis zum letzten Tage blieb die Verfügung der SED-Spitze über die Gesetzgebung, über das konkrete Strafverfahren, über die Rechtsauslegung und schließlich über Entscheidungskorrekturen im Rahmen und außerhalb des Gnadenrechts gewahrt. Im Lauf der Jahre wurde zwar die Entscheidungsüberlastung des Politbüros abgebaut, wurden mehr und mehr Einzelentscheidungen an das MfS delegiert. Am strukturellen Grundverhältnis änderte sich nichts. Die SED und ihre Führung standen, wie es Roggemann ausdrückte, außerhalb des Regelungsanspruchs der Staatsverfassung, die erst zusammen mit der Parteiverfassung in Gestalt des SED-Status … die materielle Gesamtverfassung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus bildet.143 Der Verfassungsbruch war kein gelegentliches Einzelereignis, das – wie im bürgerlichen Verfassungsstaat – öffentlicher Kritik und nachträglicher Korrektur unterlag. Vielmehr war der Verfassungsverrat das politische Grundprinzip dieses Herrschaftssystems. Nicht im Sinne einer analytischen Qualifizierung, wohl aber im Sinne einer politischen Bewertung, die ihre eigene Bedeutung hat, läßt sich begründet von der DDR als Unrechtsstaat reden“.144 Die von der sowjetischen Rechtswissenschaft (Stalin, Wyschinski) auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus gewonnenen Erkenntnisse über das Wesen des Rechts wurden von Hermann Klenner in der DDR propagiert.145 Die Prinzipien der SED waren die „Grundlage für die Rechtsentwicklung. … Aus der Erkenntnis des Klassencharakters des Rechts ergab sich die Parteilichkeit des Rechts und des Richters“.146 Lenin hatte es so formuliert: „Das Gericht ist ein Organ der Macht. Das vergessen die Liberalen mitunter. Für einen Marxisten aber ist es eine Sünde, das zu vergessen“.147 In der DDR entstand für das Gebiet der Justiz „ein System der Lenkung und Steuerung, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Die Parteibeschlüsse wa-

142 Kroeschell, Karl, a. a. O., S. 153. 143 Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 404. 144 Roggemann, Herwig: Die DDR-Verfassungen, Berlin 1989, S. 194. 145 Klenner, Hermann: Der Marxismus-Leninismus. Über das Wesen des Rechts, Berlin(-Ost), 1955, S. 9. Ders.: Formen und Bedeutung der Gesetzlichkeit, Berlin (-Ost) 1953. Ders.: Gesetz und Richter, Staat und Recht, Berlin (-Ost), S. 800-809. 146 Klenner, Hermann: Marxismus-Leninismus, S. 29, 39, 43. 147 Stalin: Werke, Band 3, Berlin 1951, S. 157 f. Lenin-Stalin: Das Jahr 1917, Berlin 1949, S. 238. Geschichte der KPdSU (B), Kurzer Lehrgang, Berlin 1951, Kapitel VII, 4. Abschnitt, S. 247 f.

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ren geltendes Recht und mußten nur noch umgesetzt werden. Diese Aufgabe hatte Hilde Benjamin (1902-1989) übernommen“.148 Anton Plenikowski (1899-1971), der von 1946-54 Leiter der Abteilung Staatliche Verwaltung des ZK der SED war, beschrieb 1952 das Verhältnis von SED, Staat und Justiz in einem Referat so: „Die Organe der Justiz sind Teile des Staatsapparates, und deshalb gelten alle die Anweisungen, Maßnahmen, Beschlüsse der Partei, die sich auf den Staatsapparat beziehen, unmittelbar auch für die Genossen im Justizapparat“.149 Die Gründung der DDR 1949 war das „Ergebnis kommunistischer Gewaltakte in Deutschland“.150 Der KPD/SED war jedes Mittel recht, um die Macht zu erobern und nach der Eroberung darf man sie unter keinen Umständen wieder abgeben. Die Machtergreifung geschah mit Hilfe der Sowjettruppen und die Existenz der DDR beruhte auf der Anwesenheit sowjetischer Truppen. „Die formelle Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland erfolgte auf dem Wege einer manipulierten Einheitswahl zu einem sogenannten Deutschen Volkskongreß, bei der die Wähler vor die Suggestivfrage gestellt wurden, ob sie für die Einheit Deutschlands und einen Friedensvertrag seien. Damit verbunden war eine Einheitsliste eines sogenannten ‚Blocks der antifaschistischen und demokratischen Parteien und Massenorganisationen’. Die Wähler konnten nur mit ‚Ja’ oder ‚Nein’ stimmen. Trotzdem gaben über 6 Prozent der Wähler ungültige Stimmen ab, 4 Millionen stimmten überhaupt mit ‚Nein’. Der erste Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, erklärte damals, der einzige Zweck der Gründung der DDR sei die deutsche Wiedervereinigung. Die Verfassung wurde ebenso wie die aus dem Volkskongreß umgebildete Volkskammer für provisorisch erklärt und sollte 1950 in Wahlen bestätigt werden. Doch seit 1950 lehnt die Führung der SED eben gerade Wahlen, bei denen sich die Bevölkerung wenigstens zwischen Kandidaten der SED und den Kandidaten der DDR-Blockparteien entscheiden könnte, ab und präsentierte statt dessen eine sogenannte Einheitsliste, die im Politbüro der SED beschlossen wird“.151

148 Wagner, Heike: Hilde Benjamin und die Stalinisierung der DDR-Justiz, Diss. Berlin 1999, S. 265. 149 Plenikowski, Anton: Die Aufgaben der Parteiorganisationen in der Justiz, (Ost-) Berlin 1952, S. 21. „Für das Verständnis des Verhältnisses zwischen SED, besonders ihres Parteiapparates, und der Justiz in den 50er Jahren kommt dem Referat eine Schlüsselfunktion zu“, in: Heinz Mohnhaupt, Heinz / Schönfeldt, Hans-Andreas (Hrsg.): Sowjetische Besatzungszone in Deutschland – Deutsche Demokratische Republik (1945-1960), Frankfurt am Main 1997, S. 393. 150 Seiffert, Wolfgang: Die DDR – Herrschaftsinstrument der SED und Produkt sowjetischer Deutschlandpolitik, in: von Berg, Hermann / Loeser, Franz / Seiffert, Wolfgang: Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000, Köln 1987, S. 29 f. 151 Ebd., S. 30.

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Der unumstritten führende Mann der SPD nach Kriegsende im Mai 1945 war Kurt Schumacher,152 der vom ersten Parteitag der SPD (Mai 1946) bis zu seinem Tod im August 1952 Parteivorsitzender war. Im März 1930 gab Schumacher auf einer Gaukonferenz des Reichsbanners Württemberg in seiner offenen Auseinandersetzung mit den Kommunisten folgende Bewertung ab: „Der Weg der leider ziemlich zahlreichen proletarischen Hakenkreuzler geht über die Kommunisten, die in Wirklichkeit nur rotlackierte Doppelausgaben der Nationalsozialisten sind. Beiden ist gemeinsam der Hass gegen die Demokratie und die Vorliebe für Gewalt“. Nach 1945 verwendete Kurt Schumacher diesen Begriff immer wieder in der offensiven Auseinandersetzung mit der kommunistischen Politik, vor allem in der SBZ und DDR. Helmut Bärwald, Leiter des Ost-Büros der SPD in den 60er und 70er Jahren, bestätigt als Zeitzeuge, daß Schumacher diese Bezeichnung sehr oft in Gesprächen, bei Besprechungen in Parteigremien und bei anderen Gelegenheiten zur prägnanten Charakterisierung der Kommunisten (nicht nur der deutschen Kommunisten), ihrer Politik und ihrer Zwangsherrschaft benutzte. In zahlreichen Reden, Referaten und Diskussionsbeiträgen setzte sich Schumacher – so sein Biograf Peter Merseburger – zumeist sehr detailliert mit den Kommunisten und ihrer Politik auseinander und hob insbesondere die geistige, politisch-ideologische Verwandtschaft von Nationalsozialisten und Kommunisten bzw. von nazistischer

152 Kurt Schumacher (1895-1952) hatte sich im Januar 1918 der SPD angeschlossen. Nach kurzer Tätigkeit im Reichsarbeitsministerium war er 1920-30 politischer Redakteur der „Schwäbischen Tagwacht“ in Stuttgart. Als Abgeordneter des Reichstages (seit 1930) rechnete er in einer Reichstagsrede im Februar 1932 mit den Nationalsozialisten ab. Nach dem Machtantritt Adolf Hitlers beteiligte sich Schumacher sofort am Widerstand gegen das NS-Regime, er wurde verhaftet und in Gefängnissen und Konzentrationslagern in Haft gehalten. Auf einer von Schumacher einberufenen Parteikonferenz der wiedererstehenden Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in den Westzonen im Oktober 1945 in Wennigsen wurde er als Sprecher bestätigt und der Führungsanspruch des Berliner „Zentralausschusses der SPD“ unter Otto Grotewohl abgewiesen. Schumacher verstand sich als der berufene Sprecher und Repräsentant des „anderen Deutschland“, das sich dem NS-Regime nicht gebeugt hatte und darum von den Siegermächten Gleichberechtigung einfordern könne. Mit seiner erfolgreichen Abwehr kommunistischer Ansprüche verfestigten sich die Westorientierung der SPD und ihre Begrenzung auf den westlichen Teil Deutschlands. Schumachers politisches Ziel war die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. Er akzeptierte zwar – wegen der Sowjetisierung der SBZ – die Gründung eines „Weststaates“ als unumgänglich, lehnte aber „kleineuropäische“ Lösungen – Europarat, Montanunion, Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) – ebenso wie die Wiederbewaffnung ab, weil sie die Spaltung Deutschlands und Europas zementieren würden. Die internationalen Mächtekonstellationen und die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland verhinderten eine Durchsetzung von Schumachers aussen-, national- und innenpolitischen Vorstellungen. Neben Adenauer blieb Schumacher die beherrschende Gestalt der Anfangsphase der Bundesrepublik in: Pothoff, Heinrich: Schumacher, Kurt (1895-1952), in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp.1095 f. und Scholz, Günther: Kurt Schumacher, Düsseldorf, Wien und New York 1988, insb. S. 152 ff. und S. 211 ff.

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und kommunistischer Politik hervor.153 Diese teilweise sehr ausführlichen analytischen Feststellungen lassen sich durchweg auf die sehr prägnante Formel „rotlackierte Nazis“ reduzieren. Nach einer Sitzung der COMISCO (Comité Consultativ International Socialiste) im Juni 1947 in Zürich, auf der Schumacher den Antrag auf Aufnahme der SPD in diese Institution stellte und in seinem Referat den Kommunismus hart attackierte, führte er unter anderem mit einem Redakteur der norwegischen Zeitung „Arbeiderbladet“ (Oslo, 12. Juni 1947) ein langes Gespräch. In dem danach in diesem Blatt veröffentlichten Bericht heißt es: „Schumacher ist Demokrat und ein starker Fürsprecher des Individuums, und er hebt besonders hervor, daß die Kommunisten die Tyrannei nur von braun auf rot umfärben wollen. Er nennt sie rotlackierte Nazis“. Der sozialdemokratische Politiker Prof. Carlo Schmid erinnerte in einer Kurt Schumacher gewidmeten Gedenkrede 1962 daran: „Schumachers Wort, daß der Totalitarismus eine Scheußlichkeit bleibe, auch wenn er rot gestrichen ist statt braun, und daß Konzentrationslager mit Hammer und Sichel über dem Torbogen eine größere Schande sind als solche mit dem Hakenkreuz, hat die Masse der deutschen Arbeiterschaft in Ost und West gegen Drohungen und Lockungen aus Moskau und Pankow immun gemacht“. Horst Möller geht beim Vergleich der nationalsozialistischen totalitären Diktatur mit der sozialistischen totalitären Diktatur ähnlich wie hier im V. Kapitel vor: „Ein historischer Vergleich der Diktaturen des 20. Jh. Geht von folgenden Prämissen aus: 1. vom grundsätzlichen und unaufhebbaren Gegensatz von Demokratie und Diktatur. Daraus folgt eine Verwandtschaft aller diktatorischen aber auch aller demokratischen Systeme. 2. Ein historischer Vergleich erstrebt nicht Gleichsetzung. 3. Ein historischer Vergleich ist weder Apologie noch Entschuldigung. So entschuldigt beispielsweise die Feststellung, Stalins Verbrechen seien denen Hitlers vergleichbar, weder die einen noch die anderen. 4. Vergleiche erstrecken sich nicht zwangsläufig auf das gesamte System, das auch in seinen jeweiligen epochalen Bezügen interpretiert werden muß, sondern in der Regel auf Strukturmerkmale, die eine spezifische Herrschaftsform, in diesem Fall eine moderne, ideologiegeleitete Diktatur konstituieren. So gelten beispielsweise die Mehrzahl der aus dem Totalitarismusmodell Carl Joachim Friedrichs, Zbigniew Brzezinskis u. a. stammenden Merkmale mit spezifischen Modifikationen für die meisten Diktaturen des 20. Jh. Dies sind vor allem:

153 Merseburger, Peter: Der schwierige Deutsche Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995. Schober, Volker: Der junge Kurt Schumacher 1895-1933. Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichten des Historischen Forschungsseminars der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 53, Bonn 2000.

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das Ziel einer totalen Erfassung und Gleichschaltung der Bevölkerung durch eine Partei und der ihr untergeordneten gesellschaftlichen Massenorganisationen; das Nachrichtenmonopol des Herrschaftssystems, d. h. also die Unterdrückung einer freien Presse und eines politischen Pluralismus der Medien; die rechtliche oder faktische Existenz eines Einparteienstaats mit dem Entscheidungsmonopol der Partei, die als Massenpartei organisiert ist, zugleich aber den Anspruch erhebt, die politische Elite zu verkörpern; Einsatz vergleichbarer terroristischer Machttechniken, greifbar in der Existenz einer Geheimpolizei und eines entsprechenden Überwachungs-, Spitzel- und Unterdrückungsapparats; Eine dem Anspruch nach allein- und allgemeingültige Herrschafts- und Gesellschaftsideologie.

Zu diesen Strukturmerkmalen kommen weitere hinzu, die z. T. logisch aus der ersten Gruppe hervorgehen: -

Monopolistische Machtkonzentration auf einen Führer oder eine Führungsclique innerhalb der Partei; Persönlichkeitskult um den Führer; Ausgrenzung und z. T. bis zum Mord gehende Terrorisierung größerer Bevölkerungsgruppen, seien sie nun rassisch-national, religiös, politisch oder sozial definiert; Unterdrückung von Minderheiten bzw. Zwang zur Emigration; ein ideologisches Feindbild; prinzipiell unbegrenzte Reichweite politischer bzw. rechtspolitischer Entscheidungen und Sanktionsmöglichkeiten, z. B. politische Justiz; Verbindung von Unterdrückung, Terror und Verführung, beispielsweise durch (materielle) Privilegien, ideelle Auszeichnung für Angehörige einer vermeintlichen oder tatsächlichen Funktionselite; Moderne bzw. modernste Technik zur Inszenierung von Herrschaftskulturen bzw. Durchsetzung der Herrschaft.

Mögen sich Diktaturen auch plebiszitär, besser gesagt, pseudoplebiszitär legitimieren, so basieren sie doch tatsächlich immer auf Gewalt. Diktatur ist Gewaltherrschaft auch dann, wenn es verschiedene Grade des Terrors gibt und dieser sich im Laufe jahrzehntelanger Herrschaft auch vermindern kann“.154 Möllers Fazit stimmt mit den hier gemachten Schlußfolgerungen in hohem Maße überein.

154 Möller, Horst: Der SED-Staat – die zweite Diktatur in Deutschland, in: Eppelmann, Rainer /

Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 1: A-M, 2. Aufl., 1997, 3. Kommunistische und nationalsozialistische Diktaturen im Vergleich, S. 1113.

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6. Die „Europäischen Gemeinschaften“ (EG) und der „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) waren in die Ost-West-Konfrontation eingebettet „Die beiden internationalen Wirtschaftsorganisationen in Europa – RGW und EG – waren in die Ost-West-Konfrontation eingebettet“, so W. Daschitschew.155 Die Integration der „Europäischen Gemeinschaften“ (EG) unterschied sich grundlegend von der politisch naturalen Abstimmung über den Außenhandel der RGWStaaten. Eine sozialistische ökonomische Integration (Abk. SÖI)156, die mit der westeuropäischen Integration vergleichbar wäre, hat es nie gegeben, konnte es auch gar nicht geben. Dies wird im Folgenden nachgewiesen. 6.1. Wirtschaftliche Integration der „Europäischen Gemeinschaften“ (EG) „The second World War (1939/45) and its aftermath threw into sharp relief significant shifts of power in the Western world. The extraordinary productivity and political prestige of the Unites States, the rise to world power of the U.S.S.R., and the impoverishment of western Europe were facts of tremendous importance. They marked the end of the era during which western Europe had dominated world politics and world economics. That the western European states would recover some of their former strength was more than probable. But it was highly improbable that they could ever regain the pre-eminence that had made them during the nineteenth century the organizing center of the world production and trade and the focus of political world order. The basic economic trend were running against them“.157

155 Daschitschew, Wjatscheslaw: Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hege-

monialer Politik, 2002, S. 241. 156 Sozialistische ökonomische Integration, in: Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Auflage, Berlin (-Ost) 1979, S. 103-105. 157 Condliffe, J. B.: The Commerce of Nations, London 1951, S. 656.

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Welthandel 1938 Die Größe eines jeden Landes ist im Verhältnis zu seinem Anteil am Welthandel 1938 aufgezeigt.158

Source: Calculated from data in League of Nations, Review of World Trade, 1938, Geneva, 1939, p. 21.

Die Truman-Doktrin vom 12.03.1947 zum Schutz Griechenlands und der Türkei führte zum European Recovery Program (ERP, Europäisches Wiederaufbauprogramm = Marshallplanhilfe) und zur OEEC (Europäischer Wirtschaftsrat). Die OEEC war die Keimzelle für die westeuropäische Integration. Aufgabe der OEEC war zunächst die Aufstellung der im Zusammenhang mit dem Marshallplan von den USA gewünschten koordinierten europäischen Wiederaufbaupläne und darüber hinaus eine allgemeine wirtschaftliche Zusammenarbeit der Mitgliedsländer. Ziele: Aufbau einer gesunden europäischen Wirtschaft durch wirtschaftliche Zusammenarbeit; Förderung der Produktion, Rationalisierung, Vollbeschäftigung, Ausweitung und Erleichterung des europäischen Handels- und Zahlungsverkehrs, Verminderung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen. Förderung von Zollunionen und Freihandelszonen, Aufrechterhaltung der Währungsstabilität. Aufbau. Mitglieder: Ursprüngliche: Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland. Irland, Island, Italien, Luxemburg, Norwegen, Niederlande, Portugal, Großbritannien, Schweden, Schweiz, Türkei, BR Deutschland (seit 31.10.1949). Durchführung. Befugnisse: Die OEEC hat keine supranationalen Befugnisse, ihre Beschlüsse müssen in aller Regel einstimmig gefaßt werden, die Durchführung obliegt den Mitgliedsstaaten. Tätigkeit: a) Aufstellung koordinierter Wiederaufbaupläne der Mitglieder als Grundlage für die Verteilung der ERP-Hilfe; b) Abbau von Handelshemmnissen (Kontingente, Liberalisierung) zwischen den Mitgliedern und

158 Ebd., S. 558.

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gegenüber dem Dollarraum: Liberalisierung der unsichtbaren Einfuhren; c) Multilateralisierung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs (EZU) und schließlich Übergang zur Konvertierbarkeit (EWA); d) Förderung der Produktivität (EPA); e) Erstellung statistischer Berichte über die wirtschaftliche Lage, Empfehlungen und Beschlüsse bezüglich der Wirtschaftspolitik der Mitglieder, insbes. bei Abweichungen vom Liberalisierungsprogramm. Würdigung: Die Konvention der OEEC ist so gefaßt, daß den Mitgliedern bei der Gestaltung der Organisation weitgehende Freiheit blieb. Die Entwicklung führte zu einer Koordinierungsorganisation, obwohl auch Tendenzen zur Bildung einer Wirtschaftsunion zu verzeichnen waren, die zum engeren Zusammenschluß der 6 EWG-Staaten in EGKS und EWG führten, während die übrigen Mitglieder die EFTA bildeten.159 Europäische Zahlungsunion: „Die Europäische Zahlungsunion (EZU) wurde im September 1950 gegründet, um die bis dahin einer lückenlosen Devisenbewirtschaftung unterworfenen Währungen Westeuropas zunächst untereinander übertragbar und sodann auch gegenüber dem US-Dollar und anderen Drittwährungen konvertierbar zu machen. Erfahrungen während der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatten gezeigt, daß es nur mit Hilfe eines multilateralen Abrechnungsund Kreditsystems möglich sein würde, die Handelsschranken innerhalb Westeuropas schrittweise abzubauen und auf diese Weise der Rückkehr zu einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft einen entscheidenden Anstoß zu geben. Die EZU bildete damit einen wichtigen Stützpfeiler des mit der amerikanischen Marshall-Hilfe geförderten Europäischen Wiederaufbauprogramms. Die EZU war von Beginn an als Übergangslösung geschaffen worden; als sie Ende 1958 mit der Verwirklichung der Konvertierbarkeit der europäischen Währungen ihre Aufgabe erfolgreich erfüllt hatte, trat sie in Liquidation“.160 „Durch Schaffung der EZU sind die Währungen aller ihrer Mitglieder untereinander frei austauschbar. Für die Handels- und Zahlungspolitik eines Mitglieds scheiden damit alle EZU-Länder aus der Gruppe der Clearingländer aus und bilden einen eigenen EZU-Raum. Da Großbritannien der EZU angehört, umfaßt der EZURaum auch alle Länder des Sterlinggebiets und reicht damit weit über Europa hinaus. Zwischen dem EZU- und dem Dollarraum bestehen dagegen enge Beziehungen, da das EZU-Abkommen vorsieht, daß Verbindlichkeiten und Forderungen eines jeden Landes gegenüber der EZU zu einem Teil in freien Dollar ausgeglichen werden.161

159 Sellien, R. / Sellien, H. (Hrsg.): Dr. Gablers Wirtschaftslexikon, 1. Bd., A-K, 4. Aufl., Wiesbaden 1961, S. 405-407. 160 Schleiminger, Günther: Europäischer Wirtschaftsrat (OEEC / OECD), in: HdSW, 3. Bd. 1961, S. 392 ff. 161 Block, Fred L.: The Origins of International Economic Disorder, S. 109 f.

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Es ist zu hoffen, daß Deutschland künftig die weitere Ausbreitung einer liberalen und multilateralen Handelspolitik fördert, die es in den vergangenen Jahren so tatkräftig unterstützt hat“.162 Devisenkonvertierbarkeit bedeutet das Recht, einheimische oder fremde Währung frei und unbeschränkt zu einem festen Kurs (Paritätskurs) einzutauschen. Volle Konvertibilität bedeutet Abschaffung jeglicher Devisenzwangswirtschaft. Der Übergang zur Konvertibilität. Um die Jahreswende 1958/59 entschlossen sich die westeuropäischen Staaten, zur Konvertibilität überzugehen (EWZ, EZU), d. h., „die freie Austauschbarkeit ihrer Währung nicht nur im EZU-Raum, sondern vor allem auch gegenüber dem US-$ zu gewähren. Wesentlicher als die Einführung der Ausländer-Konvertibilität für laufende Transaktionen (Wegfall der Beko-Mark-Regelungen) war, daß einzelne Länder die Konvertibilität ihrer Währungen auch für Inländer erheblich erweiterten und vor allem auf Kapitaltransaktionen ausdehnten (= Annäherung an den Stand der USA). Dadurch wurde die freie Devisenarbitrage auch gegenüber dem US-$ möglich. – Wenn auch noch nicht alle Beschränkungen des Zahlungsverkehrs, insbesondere der Kapitaltransaktionen, gefallen sind, so wurde doch im wesentlichen die freie Devisen-Konvertibilität verwirklicht. Sie bedeutet, verbunden mit den weiter geltenden Liberalisierungsvorschriften der OEEC und den Bestimmungen des GATT (Diskriminierungsverbot) einen wichtigen Schritt zur Wiederherstellung der weltweiten Außenhandelsfreiheit (Freihandel)“.163 In seinem Gutachten zur „Europäischen Zahlungsunion“ vom 5. Februar 1950 nahm der wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft Stellung: „1. Die weitgehende Aufhebung mengenmäßiger Kontrollen der deutschen Einfuhr hat die westdeutsche Wirtschaftspolitik vor allem dadurch in Schwierigkeiten gebracht, daß die deutsche Handelsbilanz auch gegenüber Europa passiv geworden ist. Trotzdem ist die Fortsetzung dieser Außenwirtschaftspolitik im dauernden Interesse der deutschen Volkswirtschaft zu befürworten. Dabei wird unterstellt, daß auch die übrigen europäischen Staaten die mengenmäßige Kontrolle ihrer Einfuhren im gleichen Umfang abbauen und Diskriminierungen der deutschen Ausfuhr beseitigen. 2. Um das bisher Erreichte zu sichern und den Weg zum weiteren Abbau der Handelsschranken mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Integration Europas freizumachen, ist es unaufschieblich, auch den Zahlungsverkehr zwischen den europäischen Ländern von den ihm angelegten Fesseln zu befreien. Die Schaffung einer ‚Europäischen Zahlungsunion‘ wird daher als ein Schritt auf die wirtschaftliche Integration Europas hin begrüßt.

162 Möller, Hans: Handelspolitik zwischen Bilateralismus und Multilateralismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 68, Heft 2, Hamburg 1952, S. 203-259. Dr. Hans Möller war 1959 Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, Frankfurt a. M., z. Z. Paris. 163 Konvertierbarkeit, in: Dr. Gablers Wirtschaftslexikon, S. 1998 f.

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3. Nur bei einer derartigen wirtschaftlichen Integration kann Europa auf die Dauer ohne fremde Hilfe lebensfähig werden und seinen Lebensstandard erhöhen. Die Schaffung größerer Märkte erlaubt die zweckmäßigste Ausnutzung der europäischen Produktionsmöglichkeiten, die bisher durch den ökonomischen Nationalismus behindert wurde. 4. Da Westdeutschland gegenwärtig zu etwa 50 % des Gesamtverbrauches an Nahrungsmitteln und Rohstoffen von der Einfuhr abhängig ist und nur etwa 10 % seiner Bezüge ans dem Dollarraum durch Export zu decken vermag, bietet seine Beteiligung an der Steigerung des westeuropäischen Handels die einzige Chance, um die mit dem Auslaufen des Marshallplans zu erwartenden Schwierigkeiten zu überwinden. 5. Eine echte Integration Westeuropas kann nur erreicht werden, wenn eine vollständige Transfermöglichkeit aller europäischen Währungen untereinander gewährleistet wird, so daß jedes Land nur noch seine Zahlungsbilanz gegenüber der Gruppe aller übrigen Teilnehmerländer zu beachten hat. 6. Dieses Ziel erfordert mindestens ein voll-multilaterales Abrechnungssystem. Das bedeutet, daß sämtliche Salden aus dem intraeuropäischen Zahlungsverkehr für die Abrechnung durch die europäische Zahlungsunion auf der Basis einer europäischen Verrechnungseinheit verfügbar sein müssen. 7. Die europäische Zahlungsunion allein genügt nicht für eine Integration der europäischen Volkswirtschaften. Dazu gehört, daß keine Zollerhöhungen mehr erfolgen, vielmehr ein koordinierter Abbau der intraeuropäischen Zollschranken vorgenommen wird. Dieser Abbau würde auf die Dauer wesentlich zur Steigerung des europäischen Realeinkommens beitragen. Wie groß die dadurch bedingten Umstellungsschwierigkeiten sein werden, läßt sich nicht voraussagen. Der Wissenschaftliche Beirat ist aber der Meinung, daß die von ihm oben vorgeschlagenen Konjunkturpolitik ein geeigneteres Mittel zur Überwindung der Übergangsschwierigkeiten ist als die von anderer Seite vorgeschlagene Konservierung der Zollpolitik. Der Beirat ist sich vor allem auch bewußt, daß die Kapitalarmut Deutschlands die Anpassung der deutschen Wirtschaftsstruktur an die Wirtschaftsstruktur Europas erschwert und eine Benachteiligung bedeutet gegenüber anderen beteiligten Ländern, die kapitalmäßig besser ausgestattet sind. 8. Neben dem vollständigen Abbau aller mengenmäßigen Einfuhrkontrollen verlangt das System eine Beseitigung oder wenigstens außerordentlich starke Einschränkung aller Subventionen und Regierungskäufe einzelner Länder. 9. Schließlich wäre das System durch eine intraeuropäische Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu ergänzen, die sich keineswegs in Massenwanderungen auszuwirken braucht. Durch die Freizügigkeit werden Verzerrungen der Lohnstruktur abgemildert und die Kapitalvernichtungen, die sich aus dem Umstellungsprozeß ergeben, teilweise vermieden. Nachteilige Folgen der Verschiebungen in der regionalen Struktur der Volkswirtschaften würden durch Produktivitätssteigerungen mehr als aufgewogen werden.

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10. Eine solche Integration würde auch zu einer politischen Entspannung in Europa führen, deren wirtschaftliche Auswirkungen hoch zu veranschlagen sind. Die wirtschaftliche Integration Europas ist im übrigen kein Selbstzweck, vielmehr als Beitrag zum Neuaufbau der Weltwirtschaft zu würdigen“.164 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion):Wolfgang Harbrecht hebt das Besondere am Schuman-Plan hervor: „Gemeinsames Kennzeichen aller nach 1945 ins Leben gerufenen internationalen Organisationen war jedoch, daß die Souveränität der Mitgliedsstaaten im Prinzip unangetastet blieb. Dieses Prinzip wurde erstmals in einem Plan des französischen Außenministers Robert Schuman durchbrochen, der vorsah, die gesamte Kohle- und Stahlproduktion Deutschlands und Frankreichs einer gemeinsamen ‚Hohen Behörde‘ zu unterstellen. Aus diesem Grunde wird heute von vielen Historikern der Beginn der europäischen Integration und die Geburtsstunde der Europäischen Gemeinschaft in der Verkündung des sog. Schuman-Plans am 9. Mai 1950 gesehen. Das Ziel Schumans war klar formuliert. Durch die Zusammenfassung der kriegswichtigen Kohle- und Stahlproduktion und deren Unterstellung unter eine gemeinsame ‚Hohe Behörde‘ sollte ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich faktisch unmöglich gemacht werden“.165 „Der Schuman-Plan entstammte dem Bemühen um eine neue Lösung für Deutschlands Schicksal in einer Zeit, in der die Bundesrepublik Deutschland ihre volle Souveränität noch nicht erlangt hatte. Die Kohleproduktion war der ‚internationalen Ruhrbehörde‘ unterstellt, die Stahlproduktion unterlag Kontrollen und Beschränkungen. Es handelte sich darum, an Stelle dieser diskriminierenden und auf die Dauer untragbaren Regelung Deutschland durch Schaffung einer europäischen Souveränität in ein größeres Ganzes einzugliedern. Die von Jean Monnet und einem kleinen Stab vorbereitete Deklaration, für die Robert Schuman die Verantwortung übernahm, wurde am 3.5.1950 redigiert, am 9.5.1950 vom Ministerrat angenommen und noch am selben Abend in einer Pressekonferenz veröffentlicht. Der darin enthaltene Vorschlag, in erster Linie Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland zu einer neuen Einheit zusammenzufassen, der sich die anderen europäischen Länder anschließen sollten, hat nicht nur die französische Außenpolitik, sondern die gesamten internationalen Beziehungen umgewandelt. Kohle und Stahl wurden wegen ihrer in Krieg und Frieden symbolischen Bedeutung gewählt. Ihre Vergemeinschaftung bereitete die Grundlage für eine wirtschaftliche Integration auf erweiterter Basis. Die in diesen Industrien auftauchenden Probleme – die Tendenz zur Konzentration, die Konjunkturempfindlichkeit, der oft abrupte Übergang von Mangellagen zu Krisen, die schon traditionellen Preisdifferenzierungen zwischen Inlands- und Auslandsmärkten – rechtfertigten die Bildung von Überwachungseinrichtungen auf diesem Markt. Sie stellten so den ersten Ansatz zu einer zukünftigen europäischen Föderation dar, wie sie in der Deklaration vom 9.5.1950 als Endziel 164 Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft. Sammelband der Gutachten von 1948-1972, Göttingen 1973, S. 59-63. 165 Harbrecht, Wolfgang: Die Europäische Gemeinschaft, 2. Aufl., Stuttgart 1984, S. 10 f.

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bezeichnet ist. Die damit skizzierte Wirtschaftspolitik bewirkt eine Synthese zwischen öffentlicher Verantwortlichkeit und privater Unternehmerinitiative“. Der Plan wurde am 19.3.1951 paraphiert und am 18.4.1951 in Paris von den Außenministern unterzeichnet. Die Hohe Behörde konnte ihre Tätigkeit unter dem Vorsitz von Monnet am 10.08.1952 aufnehmen. Mitglieder sind: Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Italien und die Bundesrepublik; die EGKS steht weiteren Staaten offen. Von der Teilintegration zum umfassenden Gemeinsamen Markt: Versucht man eine Zusammenfassung der erreichten Resultate zu geben, so ist zunächst die rapide Steigerung der Stahlerzeugung zu vermerken. Zwar ist sie grundsätzlich der Hochkonjunktur und der Steigerungstendenz der allgemeinen Expansion zuzuschreiben, das Bestehen der Gemeinschaft aber gab Anlaß zu noch größeren Investitionen, wodurch Engpässe vermieden wurden, die sonst die Expansion der einzelnen Nationalwirtschaften hätten hemmen können. Der Güteraustausch zwischen den Ländern der Gemeinschaft hat sich weiterentwickelt und durch die Herabsetzung der Zölle und Kontingente wurde eine rationellere Verteilung der Absatzgebiete ermöglicht. Der Güteraustausch mit dritten, nicht durch die Verträge liierten Ländern hat ebenfalls zugenommen. Aufs Ganze gesehen, haben sich die Unternehmungen an die neue Situation angepaßt. Die historische Bedeutung der Montanunion ist es, einen Weg zur tatsächlichen Integration Europas zu eröffnen. Man mißversteht sie, wenn man sie als Modell einer sektorenweise fortschreitenden Integration auffaßt: Sie beabsichtigte, erstmalig die Grundregeln für eine gemeinsame Entwicklung zu schaffen – und in dieser Hinsicht stellte die Schaffung von Euratom ihre Fortsetzung dar – sowie eine begrenzte Erfahrung zu Lösung von der allgemeinen Integration zu liefern. Gerade Männer der Gemeinschaft für Kohle und Stahl haben die Initiative zur Schaffung der EWG ergriffen und ihre Grundzüge festgelegt [europäische Integration]“.166 Der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft schrieb in seinem Gutachten vom 14. Dezember 1952: „Die europäische Integration eines einzelnen Wirtschaftszweiges wäre sinnlos, wenn die von ihr ausgehenden Wirkungen auf die Zahlungsbilanzen dahin führen würden, durch Rückfall in mengenmäßige Beschränkungen oder durch Währungsmanipulationen die Arbeitsteilung in anderen Sektoren wieder zu verschlechtern. Eine branchenmäßige Integration, selbst in einem für sich allein bereits so gewichtigen Wirtschaftszweig wie Kohle und Stahl, muß begleitet sein entweder von gleichzeitiger Integration möglichst zahlreicher anderer Wirtschaftszweige oder einer allgemein und gleichmäßig in allen Ländern fortschreitenden Liberalisierung“.167 EWG – Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (Gemeinsamer Markt). „Wirtschaftlicher Zusammenschluss der Staaten Belgien, Bundesrepublik Deutschland, 166 Uri, Pierre: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in: HdSW, 3. Bd., 1961, S. 369371. 167 Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft. Sammelband der Gutachten von 1948-1972, Göttingen 1973, S. 165 f.

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Frankreich, Luxemburg, Niederlande und Italien, deren überseeische Gebiete assoziiert sind. Entstehung: Die Mängel und Begrenzung der sektoralen Integration veranlaßten die Mitgliedsstaaten der EGKS eine umfassende Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen (Konferenz von Messina Juni 1955). Das Vertragswerk über die EWG (und EURATOM)168 wurde am 25.03.1957 in Rom unterzeichnet und trat am 01.01.1958 in Kraft. Ziele: „Schaffung einer Wirtschaftsunion auf der Grundlage einer Zollunion durch stufenweise Abschaffung aller Zölle und gleichartigen Abgaben, aller mengenmäßigen Handelsbeschränkungen und gleichwertigen Maßnahmen, die den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten hemmen, durch Gewährung freien Niederlassungsrechts und der Freizügigkeit der Arbeiter. Um die gewollte wirtschaftliche Integration der 6 Staaten zu erreichen, müssen und sollen ferner die Wirtschaft, insbesondere die Konjunktur- und Währungspolitik der Mitglieder koordiniert, gemeinsame Wettbewerbsregeln befolgt und für das Sondergebiet der Landwirtschaft eine gemeinsame Agrarpolitik und Marktordnung erreicht werden. Gegenüber dritten Ländern wird ein gemeinsamer Außenzolltarif (arithmetisches Mittel aus den am 1.l.57 in Kraft gewesenen nationalen Zollsätzen) angewandt und eine gemeinsame Handelspolitik betrieben werden. Diese Maßnahmen sollen die wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinschaft harmonisch fördern, den Lebensstandard heben, wobei die Mitglieder sich um einen hohen Beschäftigungsstand, stabile Preisniveaus und eine ausgeglichene Gesamtzahlungsbilanz bemühen und die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten enger gestalten“.169 Zur Frage der „wirtschaftlichen Integration Europas“ hatte der „Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft“ bereits am 1. Mai 1953 Stellung genommen: „Ziele der Integration 1. Wirtschaftliches Ziel aller freien Völker ist die nachhaltige Hebung des Lebensstandards. Dies bedeutet nicht nur eine Vergrößerung, sondern auch eine zweckmäßige Zusammensetzung des Sozialprodukts. Der Lebensstandard kann nur erhöht werden durch eine stetige Steigerung der Produktivität, d. h. der Leistung je Arbeitsstunde. In den gegebenen nationalen Räumen ist bei dem derzeitigen Stand der internationalen Arbeitsteilung eine solche Steigerung der Produktivität zwar auf sehr vielen Gebieten durchaus möglich, aber sie stößt auf wesentlich engere Grenzen, als sie in einem größeren Wirtschaftsgebiet gegeben sind.

168 Haunschild, Hans-Hilger: Europäische Atomgemeinschaft, in: HdSW, 3. Bd., 1961, S. 359361. 169 Sellien, R. / Sellien, H. (Hrsg.): Dr. Gablers Wirtschaftslexikon, Erster Band A-K, 4. Aufl., Wiesbaden 1961, S. 1126-1128. Möller, Hans: Europäische Gemeinschaften, in: HdWW, Bd. 2, 1988, S. 472-50. Hallstein, Walter: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, in: HdSW, 3. Bd., 1961, S. 404-411. Predöhl, Andreas / Jürgensen, Harald: Europäische Integration, in: HdSW, 3. Bd., 1961, S. 371-386.

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2. Die internationale Arbeitsteilung zwischen diesen nationalen Wirtschaftsräumen ist bisher durch starke Handelsschranken und durch mangelnde Freizügigkeit von Arbeitskräften und Kapital gehemmt. Infolgedessen ist der Außenhandel zwischen diesen Ländern auf den Austausch jener Güter und Leistungen beschränkt, die im Inland aus technischen, klimatischen und anderen Gründen nicht oder nur zu unverhältnismäßig hohen Kosten erzeugt werden können. Demgegenüber spielt die Ausrichtung des Außenhandels an den komparativen Kostenunterschieden nur eine untergeordnete Rolle, ganz abgesehen davon, daß die tatsächlich bestehenden komparativen Kostenunterschiede bei den unrichtigen und für die Zukunft unsicheren Wechselkursen weder erkennbar noch ohne schwere Risiken ausnutzbar sind. 3. Die Vorteile eines größeren Wirtschaftsgebietes liegen vor allem in der Chance, eine gesteigerte Arbeitsteilung durchzuführen. Sie gestattet eine bessere Verteilung der Produktionsstandorte, die deshalb vorteilhafter ist, weil wesentliche Gründe dafür wegfallen, daß man in einem Lande etwas unabhängig von der Kostenhöhe produziert, nur weil der historische Standort in dem betreffenden Gebiet liegt. Sie gestattet auch die zusätzliche Ausnutzung brachliegender Produktionsreserven, deren komplementäre Teile auf getrennte Wirtschaftsgebiete verteilt sind. Der Markt eines größeren Wirtschaftsgebietes erhöht die Absatzmöglichkeiten für die einzelne Unternehmung und damit die Chance zur Produktion in größeren Serien mit allen Vorteilen, die sich für die Rationalisierung in Produktion und Handel ergeben. 4. In einem vergrößerten Wirtschaftsgebiet kann der Unternehmer eher damit rechnen, daß die Daten seiner Investitionsplanung längere Zeit bestehen bleiben. So fallen z. B. die Risiken von Wechselkursschwankungen und sonstige die Absatzlage ungünstig beeinflussende, insbesondere diskriminierende Faktoren weg. Aus den genannten Gründen würden sich zahlreiche neue Möglichkeiten für unternehmerische Initiative eröffnen. 5. Die verbreitete Ansicht, daß strukturell gleichartige Volkswirtschaften für die Herstellung eines größeren Wirtschaftsgebietes weniger geeignet seien, ist unzutreffend. Gerade in und zwischen ihnen ist eine Verbesserung der Arbeitsteilung besonders notwendig und erfolgversprechend. Die Vorstellung, die Vereinheitlichung strukturell verschiedenartiger (komplementärer) Gebiete empfehle sich besonders, ist nur unter Autarkiegesichtspunkten richtig. 6. Man findet die Meinung vertreten, daß die genannten Vorteile im Rahmen einer internationalen Regelung erreicht werden könnten, welche die Konvertibilität der Währungen bei relativ stabilen Kursen gewährleistet und alle Handelshemmnisse abbaut. Ein solches System würde eine Geldpolitik voraussetzen, die ausschließlich an der Stabilität der Devisenkurse ausgerichtet ist, auch auf die Gefahr hin, dadurch Schwankungen der Beschäftigung zu verursachen oder hinzunehmen. Wenn vielfach geglaubt wird, daß eine solche Politik möglich sei, so zeigt die Erfahrung selbst der vergangenen Jahre, in denen eine Reihe von konjunkturell besonders günstigen Umständen wirksam war, daß auf eine aktive Konjunkturpolitik nicht verzichtet werden kann. Nichts indessen rechtfertigt die Annahme, daß solche

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besonders günstigen Umstände dauernd vorliegen werden. Daher mag eine aktive Konjunkturpolitik noch dringlicher werden. Die genannten Gründe für eine ökonomische Integration rechtfertigen diesen Prozeß für sich selbst. Im Zeichen der bereits anlaufenden politischen Bestrebungen wird er zur unabdingbaren Notwendigkeit, da eine politische Vereinheitlichung ohne ökonomische Integration undenkbar ist. Formen, Ausmaß und Ablauf der Integration auf politischem und ökonomischem Gebiet bedingen einander und müssen pari passu erfolgen. Eine vorauseilende oder nachhinkende politische Einheitsbildung läßt die Gefahr aufkommen, daß ökonomische Verlegenheitslösungen zustande kommen, deren Auswirkungen die Verwirklichung des gesteckten politischen Zieles ebenso in Frage stellen wie die der ökonomischen Integration. Der Typus der Integration 1. Die Integration Europas zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebilde erfordert die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes. Je größer dieser sein wird, um so größer werden die Vorteile der Integration sein. 2. Die Binnenmärkte der einzelnen Volkswirtschaften sind gegenwärtig charakterisiert durch Freizügigkeit der Menschen, zoll- und kontingentsfreie Beweglichkeit der Güter und Kapitalien, einheitliche Währung, relativ einheitliche Verkehrstarife und einheitliche Wirtschafts- und Sozialpolitik, außerdem durch im ganzen einheitliche Rechtsnormen und einen höheren Grad von Sicherheit beim Bezug von dauerhaften Gütern und Ersatzteilen. Unter Schaffung eines gemeinsamen Marktes sollte nur die Herstellung eines so gearteten Binnenmarktes verstanden werden. 3. Andere Vorstellungen vom künftigen europäischen Markt sind abwegig. Das gilt für den in Analogie zu den Märkten der Markenartikel entwickelten Gedanken einheitlicher Endabsatzpreise aller Produkte ebenso wie für die Idee einer Vereinheitlichung aller Ab-Werk-Preise. Bei beiden Formen entfallen ganz oder teilweise wichtige Voraussetzungen für eine rationelle Standortswahl. Gerade diese zu ermöglichen, ist aber Ziel einer echten Integration. Unrationelle Standorte erzwingen einen zusätzlichen Transportaufwand, der die gesamtwirtschaftlichen Kosten erhöht bzw. die volkswirtschaftliche Produktivität mindert. Phasen des Integrationsprozesses 1. Die Integration Europas ist ein Prozeß. Dieser kann auch Vorstufen der Annäherung an den oben skizzierten europäischen Binnenmarkt durchlaufen. Alle Maßnahmen, die in der Richtung auf Schaffung eines Binnenmarktes wirken, auch wenn sie ihn noch nicht verwirklichen, sind daher zu begrüßen. Eine Serie von additiven Teilintegrationen einzelner Wirtschaftszweige kann dagegen nicht als in Richtung auf die Schaffung eines Binnenmarktes wirksam angesehen werden. 2. Ohne Konvertierbarkeit der Währungen sind wirkliche Kosten und deren Unterschiede innerhalb der und zwischen den Branchen nicht erkennbar. Damit

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fehlt die Grundlage für eine ökonomische Wahl der Standorte und Produktionseinrichtungen, deren abgewogene Verteilung über den gesamten Integrationsraum den wirtschaftlichen Sinn aller Integrationen ausmacht. Weltwirtschaftliche Probleme der europäischen Integration 1. Bei allen Maßnahmen zur Integration, mögen sie uno actu oder schrittweise erfolgen, ist stets im Auge zu behalten, daß die europäische Integration niemals die Eingliederung in die Weltwirtschaft beeinträchtigen darf, sondern sogar einen Beitrag zur Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zu dritten Räumen leisten soll. 2. Mit dem Abbau der Zollschranken im Inneren des zu integrierenden Raumes wird zunächst eine sogenannte Freihandelszone geschaffen, solange nämlich die zollpolitische Autonomie der 3. Mitgliedsländer nach außen hin erhalten bleibt. Es ist wichtig, sich klar zu machen, daß für diese ganze Freihandelszone die jeweils niedrigsten Eingangszollsätze eines Mitgliedslandes effektiv zu werden tendieren. 4. Gemäß den bestehenden internationalen Abmachungen (GATT usw.) und gemäß dem Sinn der Integrationsbemühungen, die Eingliederung in die Weltwirtschaft zu fördern, darf der gemeinsame Zolltarif keine höhere allgemeine Belastung mit sich bringen, als einem Durchschnitt der bisher bestehenden einzelnen Zollsätze entspricht. Unter diesen Voraussetzungen hat jede Freihandelszone die immanente Tendenz, die Zollsätze zu erniedrigen. 5. Werden wirtschaftliche Störungen durch die Steigerung der Produktivität im Inneren infolge der Integration sehr bald wettgemacht, so wird auch die Chance, infolge der europäischen Integration zur Konvertibilität auf Weltbasis zu gelangen, neue Impulse für die gesamte Europawirtschaft geben. Eigentlich müßte die europäische Integration von vornherein auf der Basis bereinigter Wechselkurse gegenüber dem Dollar-Raum vollzogen werden, um nicht erneute Fehlentwicklungen in der europäischen Standortswahl aufkommen zu lassen. Wenn aber eine solche Lösung sich nicht realisieren läßt, so sollte doch wenigstens die Herstellung der äußeren Konvertibilität der Herstellung der inneren so bald wie möglich folgen. Einer solchen Herstellung der Konvertibilität auf Weltbasis wird dann nicht mehr, wie das zur Zeit der Fall ist, das Argument entgegenstehen, daß zur Herstellung der Weltkonvertibilität eine Einigung über die einzuschlagende Konjunkturpolitik aller Länder auf Weltbasis notwendig sei, diese aber bei der Vielzahl der Partner nicht erreicht werden könne. Vielmehr wird nach Herstellung der europäischen Integration die dominante Entscheidung über die Entwicklung der Weltkonjunktur bei wenigen Währungsgebieten liegen, so daß es nunmehr nur noch der Einigung dieser wenigen Partner über die von ihnen einzuschlagende Geld- und Kreditpolitik sowohl im Hinblick auf die Erhaltung stabiler Wechselkurse als auch auf die Erhaltung eines hohen Beschäftigungsniveaus bedarf.

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Ausbau und Sicherung des europäischen Binnenmarktes 1. Zur Vorbereitung und parallel mit allen Integrationsbemühungen müssen mindestens die nachstehenden Maßnahmen möglichst frühzeitig eingeleitet und möglichst frühzeitig zu Ende geführt werden. 2. Eine wesentliche Eigenschaft jedes entwickelten Binnenmarktes ist die Freizügigkeit der Menschen. Mit der Herstellung eines europäischen Binnenmarktes müssen daher die Voraussetzungen für eine freie Beweglichkeit geschaffen werden. Je weniger die Menschen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, um so größer ist die Gefahr, daß in stark bevölkerten Gebieten im Interesse der Beschäftigung der dort ansässigen Menschen Produktionen aufrechterhalten werden müssen, für die die Standortsbedingungen dort an sich nicht günstig sind. In diesem Falle können sie nur durch ein verhältnismäßig niedriges Lohnniveau konkurrenzfähig bleiben. Dies gilt natürlich nicht für Gebiete, in denen eine besondere Qualifikation der Bevölkerung ihrerseits einen entscheidenden Stadtortsvorteil darstellt oder herausbildet. Die Wirtschaftspolitik sollte jedem Menschen in Europa die Wahl eröffnen, entweder bei geringerem Einkommen an seinem Standort zu verbleiben oder Plätze höheren Einkommens aufzusuchen. Dazu gehören positive Maßnahmen, welche die Arbeitsmarkt-Transparenz erhöhen und die Verwurzelung am neuen Ort erleichtern. Keinesfalls dürfen Bestrebungen unterstützt werden, Lohndifferenzen, die dadurch entstehen, daß die Menschen von der Möglichkeit zur Wanderung keinen Gebrauch machen, etwa durch Finanzausgleich auf Kosten anderer Gebiete auszugleichen, es sei denn, daß die Abwanderung aus anderen Gründen nicht wünschenswert ist. 3. Die Verschmelzung der volkswirtschaftlichen Einzelmärkte zu einem europäischen Gesamtmarkt wird um so vollkommener, je mehr Rechtsnormen und Handelsusancen einander angeglichen werden und je mehr die Markttransparenz verbessert wird. Demselben Ziel dient eine europäische Standardisierung und Typisierung der Güter aller Produktionsstufen, insbesondere der Produktionsmittel oder Produktionsmittelteile. Da es Ziel aller Integrationsbemühungen ist, den Lebensstandard der europäischen Völker zu heben und zu sichern, ist nicht nur eine rationellere Verteilung der Produktionsstandorte notwendig, sondern auch eine europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die Voraussetzungen für das weitere Wachstum des europäischen Gesamteinkommens schafft. Dazu gehören insbesondere eine richtige Abstimmung von Konsum und Investitionen sowie die Sorge für eine gerechte Verteilung des wachsenden Sozialprodukts. Über die Grundlinien der hierzu einzuschlagenden Politik werden die politischen Instanzen eines vereinigten Europas entscheiden“.170

170 Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Der Wissenschaftliche Beirat beim Ministerium für Wirtschaft, Sammelband der Gutachten von 1948-1972, Göttingen 1973, S. 191 f.

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Im Gutachten zu „Fragen des gemeinsamen Marktes“ vom 11. Oktober 1953 schildert der Wissenschaftliche Beirat die Vision einer vollständigen Integration: „Der Sinn der vollständigen Integration der europäischen Wirtschaft liegt in der nachhaltigen Hebung des Lebensstandards der europäischen Völker in einem solchen Ausmaß, wie es innerhalb der Grenzen der einzelnen Volkswirtschaften nicht erreichbar ist. Dieses Ziel läßt sich nur durch die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes verwirklichen, der jene charakteristischen Züge tragen muß, die heute den Binnenmärkten der einzelnen Volkswirtschaften grundsätzlich eigen sind. Sie bestehen in Freizügigkeit der Menschen, zoll- und kontingentfreier Beweglichkeit der Güter und Kapitalien, einheitlicher Währung, relativ einheitlichen Verkehrstarifen und einheitlicher Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sowie in weitgehend einheitlichen Rechtsnormen und einem höheren Grad von Sicherheit beim Bezug von dauerhaften Gütern und Ersatzteilen“.171 Die Bedeutung des Wissenschaftlichen Beirats vom Bundesministerium für Wirtschaft für die wissenschaftliche wirtschaftspolitische Beratung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Faktoren von internationaler Dimension haben für die junge Bundesrepublik eine große Rolle gespielt und der Beirat hat mit dazu beigetragen, daß wichtige Grundsatzentscheidungen ordnungspolitisch richtig entschieden werden konnten. Hans Möller, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft, schrieb im Vorwort des Sammelbandes der Gutachten von 1948-1972: „Im schweren Winter 1947/1948, am 23. Januar 1948, trafen sich, eingeladen von der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, 17 deutsche Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsjuristen in Königstein im Taunus. Sie beschlossen mit der Leitung dieser in der damaligen Zeit obersten deutschen Wirtschaftsbehörde, einen Beirat zu gründen, der zu wirtschaftspolitischen Fragen wissenschaftlich Stellung nehmen sollte. Dies war die erste von nunmehr rund 170 Beiratstagungen“.172 „Die im Vergleich zu anderen Ländern tiefe Kluft zwischen Regierungs- und Verwaltungspraxis auf der einen der der Wirtschaftswissenschaft als Beruf auf der anderen Seite, die sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aufgetan hatte, sollte überbrückt werden. Als Sachverständiger für Geld und Kredit hat zunächst – bis zu seinem Tod – Dr. Eduard Wolf und später Dr. Heinrich Irmler (beide aus dem Direktorium der Deutschen Bundesbank) an vielen Beiratssitzungen teilgenommen. Die Arbeitsweise des Beirats läßt sich auf eine einfache Formel bringen. Er tritt regelmäßig zu Tagungen zusammen, diskutiert mit den zuständigen Vertretern des Ministeriums – häufig unter Hinzuziehung von wissenschaftlichen Experten für das jeweilige Thema – und legt seine Stellungnahmen in schriftlichen Gutachten fest. Die Leitung des Beirats liegt bei seinem Vorsitzenden, den er aus seiner Mitte wählt. 171 Ebd., S. 199. 172 Ebd., S. 199.

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Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Name

Fachrichtung

Geburtstag

Mitglieds c h a f t von bis

Professor Dr. Franz Böhm

Rechtswissenschaft

16.2.1895

Professor Dr. Walter Eucken

Volkswirtschaftslehre

17.1.1891

20. 3. 1950 †

Professor Dr. Walther Gr. Hoffmann

Volkswirtschaftslehre

8.2.1903

3. 9. 1969

Professor Dr. Wilhelm Kromphardt

Wirtschaftswissenschaft 30.5.1897

Professor Dr. Adolf Lampe

Volkswirtschaftslehre

8.4.1897

Professor Dr. Elisabeth Liefmann-Keil Volkswirtschaftslehre

4.6.1908

23. 1. 1948

9. 2. 1948 †

Professor Dr. Alfred Müller-Armack

Wirtschaftswissenschaft 21.1.1901

5. 8. 1966

Professor Dr. Oswald Nell-Breuning

Wirtschaftswissenschaft (Gesellschaftslehre) 8.3.1890

7. 3. 1965

Professor Dr. Erik Nölting

Wirtschaftswissenschaft 20.11.1892

4. 6. 1948

Professor Dr. Hans Peter

Volkswirtschaftslehre

17.5.1898

24. 6. 1959 †

Professor Dr. Erich Preiser

Wirtschaftswissenschaft 29.8.1900

16. 8. 1967 †

Professor Dr. Ludwig Raiser

Rechtswissenschaft

28. 3. 1968

Professor Dr. Heinz Sauermann

Wirtschaftswissenschaft 17.3.1905

Professor Dr. Karl Schiller

Volkswirtschaftslehre

Professor Dr. Otto Veit

Wirtschaftswissenschaft 29.12.1898

Professor Dr. Gerhard Weisser

Wirtschaftswissenschaft (Gesellschaftslehre) 9.2.1898

Professor Dr. Theodor Wessels

Wirtschaftswissenschaft 6.5.1902

27.10.1904

24.4.1911

Ruhend: ab Dez. 1966

14. 8. 1972 †

Folgende Hochschullehrer nahmen als Angehörige der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes von der ersten Sitzung an bis zu ihrem Ausscheiden aus der Verwaltung an den Beratungen des Beirats teil: Professor Dr. Woldemar Koch (Mitglied ab 12.6.1948) Professor Dr. Helmut Meinhold (Mitglied ab 12.9.1952) Professor Dr. Leonard Miksch (Mitglied ab 11.6.1949) Professor Dr. Hans Möller (Mitglied ab 31.5.1950) Professor Dr. Heinrich Rittershausen Stand: 1973

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Den Vorsitz der konstituierten Sitzung führte Franz Böhm. Am 29. Februar 1948 wurde Heinz Sauermann zum Vorsitzenden gewählt. Als dieser Mitte 1949 für längere Zeit nach Amerika ging, übernahm Erwin von Beckerath interimistisch die Leitung des Beirats, die ihm dann nach Sauermanns Rückkehr auf dessen Vorschlag ab 10. Juni 1950 endgültig übertragen wurde. Heinz Sauermann wurde gleichzeitig zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Erwin von Beckerath hat während eines Zeitraums von gut 14 Jahren – bis zu seinem Tod am 23. November 1964 – den Beirat geleitet und durch seine Persönlichkeit mitgeprägt. Danach übernahm Heinz Sauermann wieder den Vorsitz, den er Mitte 1970 aus gesundheitlichen Gründen niederlegte. Der Beirat hat sich in keiner Phase seiner Tätigkeit als geheimer Ratgeber verstanden. Zur Wissenschaftlichkeit seiner Betätigung gehörte die Publizität. Alle Beiratsgutachten wurden veröffentlicht, in der Regel kurz nach ihrer Abgabe. Sie sollten öffentlicher Kritik von jedermann unterliegen, insbesondere auch von im Beirat nicht vertretenen wissenschaftlichen Persönlichkeiten und Institutionen. Von Anbeginn gehörte der Beirat zur Grundsatzabteilung des Ministeriums (bzw. der Verwaltung für Wirtschaft), deren Leiter fast an allen Sitzungen während ihrer Amtsperiode teilgenommen haben. Ihre Namen seien hier genannt, da der Beirat ihnen viel zu verdanken hat: Dr. Günter Kaiser, Dr. Wolfram Langer, Dr. Rolf Gocht und Dr. Otto Schlecht. Die beiden letztgenannten hatten bereits als Angehörige der Grundsatzabteilung an zahlreichen Sitzungen teilgenommen. Die wissenschaftliche und politische Bedeutung der Beiratsgutachten zu würdigen, ist die Aufgabe von Außenstehenden. Die Wirkungen der Beiratstätigkeit dürfen allerdings nicht nur in dem ohnehin schwer feststellbaren Einfluß der Gutachten auf bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungen oder auf die öffentliche Meinung als solche gesucht werden; sie sind vielmehr auch darin zu erblicken, daß die Beiratsmitglieder und die Vertreter des Ministeriums ständig voneinander gelernt haben, was sicherlich nicht ohne Einfluß sowohl auf Forschung und Lehre der Hochschullehrer als auch auf die Verwaltungspraxis der beteiligten Ministerialbeamten geblieben ist. Aus dem Kontinuum der Beiratstätigkeit lassen sich einige Gutachten als Höhepunkte herausheben, gemessen hier allein an der intellektuellen Befriedigung, die sie den Beiratsmitgliedern selbst verschafft haben. Daß schon das allererste Gutachten über ‚Maßnahmen der Verbrauchsregelung, der Bewirtschaftung und der Preispolitik nach der Währungsreform‘ zu einem solchen Höhepunkt führte, war sicherlich für die Zukunft des Beirats von großer Bedeutung. Es trug dazu bei, daß der Beirat sich schnell zu einem arbeitsfähigen Gremium entwickelte und die große Verantwortung zu spüren bekam, die mit jedem wirtschaftspolitischen Ratschlag verbunden ist. Als weitere Höhepunkte in den Arbeiten des Beirats können bezeichnet werden die Gutachten zur Wettbewerbspolitik: Grundsatzfragen der Monopolgesetzgebung (1949), Reform des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (1962), Einführung einer Fusionskontrolle (1970); ferner die Gutachten über die Frage der wirtschaftlichen Integration Europas (1953), Instrumente der Konjunkturpolitik und

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ihre rechtliche Institutionalisierung (1956), Probleme einer rationellen Wirtschaftshilfe an die Entwicklungsländer unter Berücksichtigung der von der Bundesrepublik zu treffenden Maßnahmen (I960), wirtschaftliche Vorausschau auf mittlere Sicht (1963), Subventionen in der Marktwirtschaft (1967) und über Entwicklung der Wohnungsmieten und den geplanten Maßnahmen zur Begrenzung des Mietanstiegs (1970). Die Gesamtzahl der Gutachten beläuft sich nunmehr auf 75. Sie sind in diesem Band in chronologischer Reihenfolge vollständig und ohne Änderungen wieder abgedruckt. Sie vermitteln einen lebendigen Eindruck von den wirtschaftspolitischen Fragen, die in der Bundesrepublik im Laufe der letzten 25 Jahre aktuell waren. Der Wandel in der vom Beirat gewählten Aufgabenstellung kommt schon rein äußerlich darin zum Ausdruck, daß die ersten 25 Gutachten in gut drei Jahren und die zweiten 25 Gutachten in den darauffolgenden sechs Jahren abgegeben wurden, während die letzten 25 Gutachten einen Zeitraum von mehr als fünfzehn Jahren beanspruchten. Die Verwissenschaftlichung der Wirtschaftspolitik, zu der der Beirat beigetragen haben mag, führte dazu, daß wirtschaftspolitische Fragen zunehmend schon im Ministerium selbst und auch in der breiten Öffentlichkeit wissenschaftlich analysieret wurden; für den Beirat hatte dies zur Folge, daß er – wollte er Neues bieten – nunmehr sehr viel tiefer und grundsätzlicher in die Probleme eindringen mußte. Damit war zwangsläufig verbunden, daß er in den späteren Jahren seiner Tätigkeit weniger häufig zu aktuellen Kontroversen Stellung nahm. Dazu kam, daß im ersten Jahrzehnt des Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft wichtige Grundsatzentscheidungen zu treffen waren, während es später mehr um detaillierte Einzelregelungen ging, bei denen auch die Koordinierung mit anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen und mit der internationalen Entwicklung im Vordergrund stand. Der Wandel in der Aufgabenstellung zeigt sich weiter auch darin, daß die Beurteilung der Wirtschaftslage und Wirtschaftsentwicklung unter mehr konjunkturpolitischen Aspekten, die anfangs jährlich ein bis zwei Gutachten beanspruchte, mehr und mehr in den Hintergrund trat. Bei seiner Arbeitsweise wäre der Beirat nicht in der Läge gewesen, das immer reichhaltiger werdende statistische Material sachgerecht auszuwerten. Diese Aufgabe wurde (ab 1950) von der Arbeitsgemeinschaft der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute und später (ab 1964) vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung übernommen. Schon im Jahre 1954 hatte der Beirat in seinem Gutachten über ‚Probleme der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und ihrer Auswertung‘ darauf hingewiesen, wie wichtig und dringlich die Vervollständigung des statistischen Materials und dessen schnelle und umfassende Analyse sei, gleichzeitig aber empfohlen, zu diesem Zweck eine mit Wissenschaftlern besetzte gesonderte Behörde zu schaffen. Mit dem nach seinem Vorbild im Jahre 1949 gegründeten Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat sich eine nützliche Arbeitsteilung entwickelt, die durch Doppelmitgliedschaften (Fritz Neumark und Heinz Haller) und die Teilnahme der Vorsitzenden an den Sitzungen des anderen Beirats zwanglos gewährleistet wurde. Zu einigen Fragen haben die Beiräte ein gemeinsames Gutachten abgegeben (Einführung von direkten Tarifen im Bereich der Montan-

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gemeinschaft 1954; Kapitalmarkt und Besteuerung im Jahre 1958); am Gutachten über Instrumente der Konjunkturpolitik und ihre rechtliche Institutionalisierung hat der Wissenschaftliche Beirat heim Bundesministerium der Finanzen mitgewirkt. Unter den vom Bundesministerium des Innern ermittelten über 3.000 bei Bundesbehörden tätigen Beiräten dürften der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und ähnlich auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Finanzen eine ziemlich einzigartige Stellung einnehmen. Mehrere Minister und eine große Behörde haben die öffentliche Beratung durch Wissenschaftler institutionalisiert und über 25 Jahre hinweg die Freiheit und Unabhängigkeit dieser Institution nicht angetastet, obwohl die Beratung doch vielfach auch zeitlich ungelegen kam oder aus anderen Gründen unbequem war und zuweilen selbst offene Kritik implizierte. Die Stellung des Beirats wurde auch nicht dadurch berührt, daß drei sich so unähnliche Minister wie der spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt Schmücker und Karl Schiller die Empfänger des Beiratsgutachten waren. Ludwig Erhard fand bei seinem Amtsantritt den Beirat bereits vor und war einer größeren Zahl von Mitgliedern persönlich und wissenschaftlich eng verbunden. Karl Schiller gehörte zu den Gründungsmitgliedern. Ludwig Erhard verlieh dem Beirat aus Anlaß seines 10jährigen Bestehens die Satzung, die dessen Freiheit und Unabhängigkeit verankerte. Daß beides Wirklichkeit wurde und blieb, war aber letztlich dem tatsächlichen Verhalten zu danken, das alle drei Bundesminister ständig übten. Die Besonderheiten dieser Beziehung zwischen Ministerium und Beirat hängen sicherlich auch mit dem Verhältnis zwischen Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaft in unserer Zeit zusammen. Daß dieses Verhältnis vor dem letzten Weltkrieg in Deutschland gestört war, wurde schon erwähnt.173 Daß es nunmehr in der Bundesrepublik besonders eng ist – enger wohl als in vielen anderen Ländern – wird keineswegs nur durch die Stellung des Beirats bestätigt. Die Beiratstätigkeit in den vergangenen 25 Jahren wurde so mitgetragen von der Art und Weise wie beide Seiten, die Wirtschaftspolitiken und die Wirtschaftswissenschaftler, ihr gegenseitiges Verhältnis sahen und von den dadurch mitbestimmten gesellschaftlichen Rollen, die sie übernahmen. Beides mag sich unter dem Einfluß des gegenwärtig schnellen gesellschaftlichen Wandels ändern. Ob der Beirat seine bisherige Stellung auch künftig behält, wird die Zukunft lehren. Die Nutzung wirtschaftswissenschaftlicher Kenntnisse für die Gestaltung der Wirtschaftspolitik muss und wird jedoch bleiben“.174 Richard Büchner faßt die verschiedenen Integrationsstufen zusammen: „Besonders wirksam erwies sich die in Verbindung mit dem Europäischen Wirtschaftswiederaufbauprogramm entstandene ‚Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit‘ (1948), der es namentlich gelang, die Kontingente weitgehend zu 173 Kromphardt, Wilhelm: Wissenschaftliche Beratung der Regierenden, in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 328-330. 174 Möller, Hans: Vorwort des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft, in: Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Sammelband der Gutachten von 1948-1972, Göttingen 1973, S. XIV-XXIII.

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beseitigen und den Zahlungsverkehr von vielen Schranken zu befreien (Europäischer Wirtschaftsrat). Eine noch stärkere gegenseitige Wirtschaftsverflechtung ist im engeren Rahmen der ‚Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl‘ (1952) entstanden, die als regionale Teilintegration über eine supranationale Behörde verfügt. Die sechs Gründerstaaten der Montanunion haben einen weiteren Schritt im Sinne der Integration mit der Schaffung der ‚Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft‘ (1958) getan, die die äußere und innere Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder koordinieren soll. Die Basis dieses gemeinsamen Marktes bildet eine Zollunion, die sowohl die stufenweise Beseitigung der Abgaben im Verkehr zwischen ihren Mitgliedern als auch die Errichtung eines einheitlichen Zolltarifs nach außen zum Gegenstand hat. Eine losere Form der Zusammenarbeit ist die ‚Europäische Freihandelsassoziation‘, die 1960 von sieben Ländern ins Leben gerufen wurde und ihre Mitglieder vor allem zu schrittweisem Zollabbau verpflichtet, ohne einen gemeinsamen Außentarif vorzusehen“.175 Aus dem empirischen Befund hat Paraskewopoulos 4 Integrationsstufen herausgearbeitet. „Bestrebungen von Nationalstaaten, sich im Interesse der Förderung wirtschaftlicher (und politischer) Beziehungen zusammenzuschließen, sind dem Leitbild des Freihandels zuzuordnen. Im Prozeß wirtschaftlicher Integration durchschreiten die beteiligten Staaten 4 Integrationsstufen. 1. Die Präferenzzone stellt die niedrigste Integrationsstufe dar. 2. Die zunächst höhere Form des Zusammenschlusses mehrerer Staaten mit dem Ziel, Zölle abzubauen, ist die Freihandelszone (Freihandelsassoziation), in die in der Regel der gesamte Güterverkehr einbezogen wird. 3. In einer Zollunion hingegen werden nicht nur die Zölle zwischen den beteiligten Ländern abgebaut, sondern es besteht auch eine gemeinsame Zollpolitik gegenüber Drittländern, und es werden zusätzlich andere protektionistische Maßnahmen ihnen gegenüber abgestimmt. Innerhalb der Zollunion wird der Handel liberalisiert und bisherige inländische Monopole durch vormals ausländische nun in die Zollunion integrierte Konkurrenz neutralisiert. 4. Die Zollunion kann, wie am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft nachvollziehbar, in einen Binnenmarkt (Gemeinsamer Markt) gipfeln, in dem uneingeschränkte interne Mobilität für alle Produktionsfaktoren besteht, Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr völlig liberalisiert sind“.176 Der Wirtschaftshistoriker Gerold Ambrosius hat 1996 in einer wirtschaftswissenschaftlichen und historischen Analyse die westeuropäische Integration dargestellt. Ausgangspunkt ist der wirtschaftshistorische Hintergrund der Integration. Die wirtschaftliche Integration wird beim Austausch von Waren und Diensten sowie bei der Arbeit und beim Kapital untersucht. Die wirtschaftspolitische Integra175 Büchner, Richard: Freihandel, in: HdSW, 4. Bd., 1965, S. 137. 176 Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre. Grundriss für Studierende, Herne, Berlin 2004, S. 402 f.

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tion wird auf dem Hintergrund der Desintegration in der Zwischenkriegszeit behandelt.177 Die wirtschaftliche Integration bedeutet im Wirtschaftsraum Westeuropa das Ende der nationalen Ökonomien.178 Eine uneingeschränkte interne Mobilität aller Produktionsfaktoren, eine völlige Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs wie in der Europäischen Gemeinschaft hat es im sozialistischen Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) nie gegeben. 6.2. Naturalhandel und keine integrierte internationale Wirtschaft im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) Der sowjetrussische Außenhandel war durch Dekret vom 24. April 1918 zum Staatsmonopol erklärt worden. Für den Ein- und Verkauf von Erzeugnissen jeder Art mit dem Ausland wurden spezielle Staatsorgane bevollmächtigt. Damit wurde das gesamte außenwirtschaftliche Potential des Landes von der arbeitsteiligen Weltwirtschaft gelöst und die Außenhandelspolitik besonderen wirtschaftlichen Zielsetzungen unterstellt. Die wichtigsten Aufgaben des Außenhandelsmonopols waren in der Stalinschen Verfassung von 1936 (Art. 14)179 der Sowjetunion verankert: „1. den Warenverkehr mit dem Ausland den jeweiligen Bedürfnissen der Volkswirtschaft anzupassen, um die Verwirklichung der Wirtschaftspläne zu beschleunigen und so die optimale Förderung der Produktivkräfte zu erreichen; 2. die Einflüsse aus dem konjunkturellen Verlauf der freien Weltwirtschaft (z. B. die Preisschwankungen auf den Weltmärkten) abzufangen. Da die sowjetische Ein- und Ausfuhr nicht durch die Gesetze der komparativen Kosten und überhaupt der Wirtschaftlichkeit, sondern einzig und allein durch die Zweckmäßigkeit und Dringlichkeit des jeweiligen Planungsvorhabens bestimmt wird, können sowjetische Waren auf den Weltmärkten zu Unterpreisen angeboten (Dumpingverkäufe) oder Erzeugnisse des Auslandes zu Überpreisen aufgekauft werden; 3. alle Gewinne (‚Akkumulationen‘ aus dem Außenhandelsgeschäft dem Staate zufließen zu lassen. Diese Gewinne bestehen aus den üblichen Handelsspannen sowie aus den Zolleinnahmen. Das zunächst abgeschaffte Zollsystem wurde im Februar 1921 wieder eingeführt. Die sowjetischen Zölle dienen vielfach als Kompensation beim Abschluß von Handelsverträgen, als fiskalische Einnahmequelle, ab technisches Preisausgleichsmittel, als Kontrollmittel und erst an letzter Stelle als Schutz der einheimischen Industrie und Landwirtschaft. Das protektionistische Instrument ist das Außenhandelsmonopol selbst. 177 Schulz, Matthias: Deutschland, der Völkerbund und die Frage der europäischen Wirtschaftsordnung 1925-1933, Hamburg 1997. 178 Ambrosius, Gerold: Wirtschaftsraum Europa – Vom Ende der Nationalökonomien, Frankfurt a. M. 1996. 179 Artikel 14: Zu der Zuständigkeit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Gestalt ihrer obersten Machtorgane der Staatsverwaltung gehören u. a. der Außenhandel auf der Grundlage des Staatsmonopols.

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Die Außenhandelspolitik: In dem Bestreben, die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Welt ‚einzuholen und zu überholen‘, hat die SU eine kontinuierliche und konsequente Außenhandelspolitik betrieben, die gegenüber den privatkapitalistischen Ländern durch einen intensiven Warenverkehr mit dem Westen im Dienste der russischen Industrialisierung gekennzeichnet ist. Ohne die Warenbezüge aus dem Westen hätte die SU ihre 1928 einsetzenden Fünfjahrespläne nicht annähernd mit dem gleichen Erfolg realisieren können. Dem sowjetrussischen Außenhandelsmonopol gelang es, 1926 einen Warenkredit von 300 Mill. RU und 1931 eine Garantie von weiteren 300 Mill. RM von Deutschland sowie 1930 8,4 Mill. £ von England und 1 Mrd. Lire von Italien zu erhalten. Die starke Position des sowjetischen Außenhandelsmonopols gegenüber dem Westen erwies sich vor allem während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, als die SU die Absatzkrise der konkurrierenden Industrieländer ausnutzte und z. B. i. J. 1932 ein Drittel des Weltexports an Maschinen und Ausrüstungen und mehr als die Hälfte des Weltexports an elektrischen Maschinen aufnahm bei gleichzeitigen Dumpingverkäufen an Getreide und anderen Nahrungsmitteln. Die SU setzte ihre Politik, nur denjenigen Warenverkehr mit dem Westen aufrechtzuerhalten und auszubauen, der das sowjetrussische Wirtschafts- und Rüstungspotential stärkt und den Weg zur völligen Autarkie ebnet, auch nach dem 2. Weltkrieg fort. Die Weltwirtschaftskonferenz vom April 1952 in Moskau, das Proklamieren der Ziele des 5. Fünfjahresplans für 1951-55 (anläßlich des 19. Parteitages der KPdSU(B) im Oktober 1952), die von der neuen Sowjet-Regierung nach dem Tode Stalins eingeschlagene Politik, sowie die Teilnahme der SU an den West-Ost-Handelsbesprechungen in Genf im April 1903 standen im Zeichen dieser Bemühungen. Die fünfte Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR vom 5. bis 8. August 1953 gilt jedoch als der eigentliche Auftakt zum ‚Neuen Kurs‘ der Wirtschaftspolitik und darunter auch der Außenhandelspolitik des Landes, wobei erstmalig der Konsumgütersektor und die Landwirtschaft eine größere Beachtung finden und sich die SU auch bereiterklärt, aus den westlichen Ländern nicht nur – wie bisher – Produktionsgüter, sondern auch größere Mengen Verbrauchsgüter aller Art einzuführen. Nach dem 2. Weltkrieg erweiterte sich die Zahl dieser Länder noch um die kommunistisch regierten Länder, die sich zum sowjetischen Wirtschaftssystem bekennen: Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien, die Ostzone Deutschlands, Nordkorea und China. Die SU strebt mit diesen Ländern wirtschaftliche Absprachen an. Die Außenhandelsrechte und -interessen der SU im Ausland werden von den sowjetischen Handelsvertretungen in den einzelnen Ländern wahrgenommen. Die Vertretungen sorgen für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der SU und den betreffenden Ländern, sie kontrollieren, regeln und fördern den Warenverkehr, führen Marktforschungsarbeiten durch und unterstützen die Import- und Exportvereinigungen bei ihren Geschäftsabschlüssen mit den ausländischen Firmen. Die Handelsvertretungen genießen exterritoriale Rechte. Die sowjetrussischen Ein- und Ausfuhren erfolgen nach Plänen, die im gesamtvolkswirtschaftlichen Plan verankert sind. Der Importplan richtet sich nach dem

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Importbedarf, der für notwendig erachtet wird, um die Vorhaben des jeweiligen Volkswirtschaftsplans verwirklichen zu können. Der Exportplan hat im wesentlichen die Kosten des Imports zu decken. Die SU zieht daher den Abschluß langfristiger Außenhandelsabkommen für gegenseitige Warenlieferung vor; ein multilateraler Warenverkehr im Sinne der westlichen Weltwirtschaft ist für das sowjetrussische monopolistische Außenhandelssystem nicht geeignet Struktur und Entwicklung des Außenhandels: Die SU exportierte vor dem Zweiten Weltkrieg in erste Linie landwirtschaftliche, forstwirtschaftliche und bergbauliche Erzeugnisse und importierte industrielle Halb- und Fertigwaren sowie einige Rohstoffe. Bei der Einfuhr von industriellen Fertigwaren handelte es sich in der Hauptsache um Investitionsmittel, während vor 1913 auch die Einfuhr an Verbrauchsgütern eine große Rolle spielte. Das Industrialisierungsprogramm ließ insbesondere während des 1. und 2. Fünfjahresplanes den Anteil der Maschineneinfuhr ansteigen. Die wichtigsten Handelspartner der SU zwischen den beiden Weltkriegen waren die Industrieländer des Westens. Etwa vier Fünftel des sowjetrussischen Imports kamen aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten (Maschinen), wohin auch vier Fünftel des Exports gingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind tiefgehende strukturelle Veränderungen im sowjetrussischen Außenhandel eingetreten: Innerhalb der Länder des Ostblocks hat die SU als die führende politische und wirtschaftliche Macht vielfach (vor allem nach 1948) die früheren Warenlieferungen der westeuropäischen Industrieländer und der überseeischen Rohstoffländer übernommen. Der sowjetrussische Export nach Osteuropa und nach China besteht daher vorliegend aus Maschinen, Industrieausrüstung, Produktionsmitteln aller Art sowie Rohstoffen und Halbwaren für weitere industrielle Verarbeitung. Auch beträchtliche Nahrungsmittellieferungen, vor allem Getreide, erfolgten in verschiedenen Jahren, um aufkommende Hungersnöte in den einzelnen osteuropäischen Ländern (Kollektivierung und Dürren führten vielfach zu Mißernten) zu verhindern. Die SU hat auch die Rolle eines Vermittlers im Warenverkehr unter den einzelnen osteuropäischen Ländern übernommen: z. B. rumänisches Erdöl, bulgarischer Tabak, ungarischer Wein, chinesische Ölsaaten u. ä. finden über Geschäftsabschlüsse mit der SU ihren Absatz in der Tschechoslowakei, in Polen oder in Ostdeutschland. Dafür liefert die SU tschechoslowakische Maschinen, polnische Chemikalien oder ostdeutsche Textilien an die erstgenannten Länder. Beim sowjetrussischen Warenaustausch mit Osteuropa und China handelt es sich infolgedessen nicht vorwiegend um den Austausch von eigenen Überschüssen gegen fehlende Erzeugnisse, sondern um den Ansatz einer wirtschaftlichen Integration innerhalb des Ostblocks, bei der der SU u. a. auch die Rolle eines ‚Maklers‘ zufällt. Die SU hat zwar bis zum Jahre 1952/53 das Außenhandelsvolumen gegenüber der Vorkriegszeit um etwa das Dreifache erhöht und damit bereits die höchsten Außenhandelsumsätze der 1930er Jahre um etwa ein Drittel überschritten, ihr Anteil

131

am Welthandelsvolumen blieb jedoch noch erheblich unter dem Anteil des Jahres 1913“.180 Anteil des sowjetrussischen Außenhandels am Welthandel 1913-1951 (in %) * Einfuhr Ausfuhr Umsatz

1913 3,6 4,2 3,9

1929 1,3 1,4 1,4

1932 2,6 2,3 2,5

1938 1,1 1,2 1,1

1951 a) 2,5 2,9 2,7

1952 a) 2,7 2,9 2,8

a) geschätzt. * Quelle: Vnešnjaja torgowlja SSSR sa 20 let 1918-1937. Moskwa 1939, S. 20, 21.

Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Das sowjetische System des Außenhandelsmonopols wurde nach 1945 auf die sozialistischen Volksdemokratien und die DDR übertragen.181 „Geschichte und Zielsetzung: Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), engl. Council of Mutual Economic Aid (C.M.E.A.; COMECON) ist eine der wenigen internationalen Organisationen im sowjetischen Einflußbereich. Sie dient in politischer Hinsicht der Stabilisierung der ‚sozialistischen Staatengemeinschaft‘ und der Führungsrolle der Sowjetunion innerhalb der Gemeinschaft sowie in ökonomischer Hinsicht der Organisation der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Der RGW wurde 1949 von der Sowjetunion, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und Ungarn in Moskau gegründet. Vollmitglieder wurden Albanien noch 1949 (es nimmt seit 1962 an den Ratstagungen nicht mehr teil) und die Deutsche Demokratische Republik 1950; teilassoziiertes Mitglied wurde 1964 Jugoslawien. Die Öffnung über die Grenzen Osteuropas und der UdSSR hinaus erfolgte mit dem Eintritt der Mongolischen VR (1962), Kubas (1972) und Vietnams (1978). Im Rat sind mit Beobachterstatus Afghanistan, Angola, Äthiopien, die VR Jemen, Laos, Mosambik und Nicaragua vertreten. Kooperationsabkommen schloß der RGW mit Finnland, Irak, Mexiko und Nicaragua. Der Prozeß der Vergesellschaftung folgte in den europäischen Mitgliedsländern nach 1948 dem sowjetischen Entwicklungsweg der Kollektivierung, Urbanisierung, Industrialisierung und Modernisierung. Zwar wurden die zentrale Planung (Planwirtschaft) als Wirtschaftsmechanismus eingeführt und das Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln abgeschafft, doch blieben die nationalen Grundformen der Rentabilitätsrechnung und der Arbeitsteilung unangetastet. Im RGW entstand keine integrierte internationale Wirtschaft. Es ist daher verständlich, wenn sich gemeinsame Regelungen der Zusammenarbeit nur sehr langsam und nur 180 Zotschew, Theodor: Sowjetunion (III, 10) Außenhandel, in: HDSW, 9. Bd., 1956, S. 372-378. 181 Boettcher, Erik: Außenhandelsmonopole in: HDSW, 1. Bd., 1956, S. 477-479. Lenin, W.I.: O Monopolii vnesnej orgovli [Über das Außenhandelsmonopol]. Gesammelte Werke (russisch) XXVII. Baykov, A. M.: Soviet Foreign Trade, Princeton 1946. Jöhr, W. A.: Außenhandel und Außenhandelspolitik der Sowjetunion. Außenwirtschaft, Bern, 2 (1947). Graf, Willi: Der Außenhandel zwischen marktwirtschaftlich organisierten und zentral geleiteten Volkswirtschaften, Zürich / St. Gallen 1951. Werner, Georg M.: Außenhandelspolitik der UdSSR nach Stalin in Osteuropa. Stuttgart, 4 (1954).

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auf einigen Gebieten durchsetzen konnten. War die Gründung des RGW noch primär politisch motiviert – als Gegenmaßnahme zum Marshallplan und zur OEEC (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) – so enthielt erstmals das Ende 1959 in Sofia unterzeichnete RGW-Statut eine Einigung auf die grundlegenden wirtschaftspolitischen Ziele: (1) planungsmäßige volkswirtschaftliche Entwicklung, (2) beschleunigter wirtschaftlicher und technischer Fortschritt, permanente Steigerung der Arbeitsproduktivität und des Wohlstandes, (3) Angleichung der Industrialisierungs- wie des allgemeinen Entwicklungsniveaus der Volkswirtschaften (Art. I). Dem waren vorausgegangen die für die UdSSR bedeutsame Einigung darüber, wissenschaftlich-technische Dokumentationen grundsätzlich unentgeltlich auszutauschen (‚Sofioter Prinzip‘) 1949, sowie die Eröffnung eines ständigen Ratsbüros (1949) bzw. des Ständigen Sekretariats (1954). N. Chruschtschows Versuch 1962, eine überstaatliche gemeinsame Wirtschaftsplanung einzuführen, scheiterte am Widerstand der Mitgliedsländer. Die 1962 beschlossenen ‚Grundprinzipien der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung‘ und das 1971 verabschiedete ‚Komplexprogramm für die weitere Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedländer des RGW‘ enthielten deshalb nur allgemeine Rahmen- und Zielsetzungen. 1974 erhielt der RGW das Recht zu vertraglichen Beziehungen mit Staaten und internationalen Organisationen. Am 25.6.1988 wurde ein Kooperationsvertrag mit der EG unterzeichnet. Organisation: Die nationalen Regierungen entsenden ihre Vertreter in die Ratstagung (Ministerpräsidenten) und in das Exekutivkomitee (stellvertretende Regierungschefs). In den Fachkomitees sowie in den über 20 Ständigen Kommissionen für einzelne Branchen und für allgemeine Aufgaben (z. B. Statistiken) beraten die jeweiligen Ressortchefs. Das Sekretariat mit etwa 650 Mitarbeitern leistet die Verwaltungsarbeit und hat für die Haupt- und Nebenorgane das Initiativrecht. Letztere werden von den Ratstagungen für begrenzte Aufgaben eingesetzt. Als Gremien, die in der Ratssatzung nicht erwähnt werden, spielten bisher Gipfelkonferenzen der Partei- und Regierungschefs eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung des RGW. Über ihre Ständigen Vertreter beeinflussen die Mitgliedsländer zudem direkt die laufende Arbeit. Da der RGW keine supranationale, sondern eine zwischenstaatliche Organisation ist, stellen die Beschlüsse seiner Gremien lediglich Empfehlungen an die Mitgliedsländer dar. Jedes Mitgliedsland verfügt in den Gremien über eine Stimme. Das Prinzip der Einstimmigkeit der Beschlüsse sichert die Wahrnehmung der nationalen Interessen. Um die Beschlußfähigkeit der Gremien zu erhöhen, gilt dieses Prinzip seit 1907 nur noch für die an der jeweiligen Regelung ‚interessierten‘ Länder. Die genannten Regelungen gelten auch für (1) die etwa 25 zwischenstaatlichen Organisationen, die der Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten der Forschung und Entwicklung, der Produktion, des Verkehrs und der Finanzierung dienen, (2) die von Betrieben und Industrieorganisationen vertraglich gebildeten Internationalen Wirtschaftsorganisationen, sowie (3) wenige bilateral geschaffene Gemeinsame Betriebe.

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Intrablockhandel der RGW-Länder 1982 (Exporte) Insgesamt Warengruppe

davon Anteile in %

(in Mill.

Bulgarien

ČSSR

DDR

Polen

Rumänien

UdSSR

Ungarn

28.541

11,0

18,0

22,1

14,3

4,9

19,7

10,1

22.548

1,0

4,0

3,5

5,7

1,7

82,8

1,5

3.115

5,6

9,9

12,4

4,8

4,3

56,4

6,6

2.962

5,3

11,1

23,9

4,8

8,5

37,2

9,2

4.888

29,6

4,3

2,3

3,0

9,2

13,4

38,3

7.040

9,6

19,1

20,0

16,7

9,3

10,4

15,0

2.780

0,6

0

3,3

0

0

94,2

1,8

8,1

11,4

13,6

9,7

4,6

43,3

9,3

TRbl.1) Maschinen, Ausrüstungen, Transportmittel Brennstoffe, mineralische Rohstoffe, Metalle Sonstige industrielle Rohstoffe, Baumaterialien Chemische Produkte, Dünger und Kautschuk Landwirtschaftliche Rohstoffe2, Ernährungsgüter Industrielle Konsumgüter nicht ausgewiesene Waren Insgesamt

71.875 1

2

Transfer-Rubel. – einschließlich Lebendvieh sowie Genußmittel

Quellen: Stat. Jbb. Des RGW und der einzelnen RGW-Länder; Außenhandels-Jbb. Der RGW-Länder; Berechnungen und Schätzungen des DIW; Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Hg. Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung. Köln 1987, 236 f.

Methoden und Formen der Zusammenarbeit: Methoden. Die wichtigste wirtschaftsorganisatorische Methode war die Koordinierung der mittelfristigen Volkswirtschaftspläne in Form der bilateralen Abstimmung des Austausches von Waren, Diensten – und am Rande – von Kapital und Wissen. Die Investitionspolitik wird nicht abgestimmt. Ein erster Schritt in diese Richtung könnten die 1976 vereinbarten langfristigen Zielprogramme gesamtwirtschaftlich wichtiger Bereiche, wie der Energie- und Rohstoffe, sein. Intrablockhandel. Die weitaus wichtigere Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist der bilaterale Warenaustausch. Über 60 % ihres Außenhandels wickeln die Mitgliedsländer untereinander ab. Auf die UdSSR entfällt über ein Drittel des Intrablockhandels. Trotzdem ist ihre Außenhandelsverflechtung relativ gering im Verhältnis zu derjenigen der Mitgliedsländer Ungarn, ČSSR, DDR und Bulgarien. Der Tendenz nach ist der sowjetische Außenhandel komplementär strukturiert. Während vor allem Rohstoffe ausgeführt werden, besteht die Einfuhr überwiegend aus Investitions- und industriellen Konsumgütern. Am weitesten ist die Zusammenarbeit in der Energiewirtschaft vorangeschritten. Hier deckt die UdSSR den Primärenergieverbrauch der europäischen RGW-Länder zu einem Drittel.

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Anteil der Primärenergieimporte1 aus der UdSSR am Inlandsverbrauch der RGW-Länder (in %) Bulgarien ČSSR DDR Polen Rumänien Ungarn RGW2

1965 44,0 17,0 15,1 9,0 1,9 19,5 14,1

1980 72,4 39,2 33,3 16,7 5,1 46,8 28,9

1982 74,6 36,8 31,5 16,2 3,2 42,9 27,5

1

Kohle, Erdöl und Erdölprodukte, Erdgas, Strom. – 2nur Osteuropa

Quellen: Datenbank RGW-Energie des DIW; Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Hg. Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung. Köln 1987, 243.

Der Warenaustausch wird auf Regierungsebene vereinbart. Er ist mengen- oder wertmäßig kontingentiert. Die Preisbildung im Außen- wie im Binnenhandel stellt eines der ungelösten Probleme dar. Im Intrablockhandel werden die Weltmarktpreise einer bestimmten Referenzperiode als Basis der Preisverhandlungen verwendet. Bis 1963 wurde der Warenaustausch nach einem Clearingverfahren verrechnet (Clearing-Rubel). Seitdem fungiert als Verrechnungsgröße der Transfer-Rubel, der ausschließlich bei der ebenfalls 1964 gegründeten Internationalen Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ, Moskau) geführt wird und nicht konvertibel ist“.182 Hannelore Hamel führt dazu aus: „Aufgrund der Planungshoheit der Mitgliedsländer und der Inkonvertibilität der Währungen wurden nahezu ausschließlich bilaterale und mengenbezogene Handelsverträge abgeschlossen. Auch die Vertragspreise, die im Intra-RGW-Handel an gleitende Fünfjahresdurchschnitte der Weltmarktpreise gekoppelt waren, wurden in bilateralen Verhandlungen auf Regierungsebene festgelegt. Daran hatte auch das 1964 eingeführte multilaterale Verrechnungssystem über die Internationale Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ) mit Hilfe des Transferrubel als künstlicher Verrechnungseinheit nichts geändert. Der Grund hierfür lag in der stark eingeschränkten Verwendungsmöglichkeit von Transfer-Rubel-Guthaben, die in der Regel von den Partnerländern nicht mit ‚volkswirtschaftlich wichtigen Gütern‘, sondern mit ‚weichen‘ Waren abgegolten wurden“.183

182 Rytlewski, Ralf: Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp. 641 ff. 183 Hamel, Hannelore: Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooze, Günter / Wilm, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 2: N-Z. 2. Aufl. 1997, S. 648 f. „Weiche Waren“ waren Waren, die aufgrund ihrer minderwertigen Qualität im Westen nicht abgesetzt werden konnten.

135

Unabhängig von dem faktisch liberalen Verrechnungsverkehr tritt die IBWZ auf internationalen Märkten als selbständiger Kreditnehmer in konvertiblen Währungen auf. Als Ersatzstrategie für eine in den Ansätzen steckengebliebene multilaterale Währungspolitik strebt Ungarn als bisher einziges RGW-Land an, die eigene Binnenwährung zur Konvertibilität zu führen. Einen anderen Weg bietet die Abwicklung auf US-$-Basis, die seit Mitte der 70er Jahre für bestimmte Waren möglich ist. Produktionsspezialisierung. Aufgrund der gleichen Industrialisierungsstrategie und des binnenwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsmechanismus der RGW-Länder ist die internationale Produktionsspezialisierung relativ schwach entwickelt. Vereinbarte Produktionseinstellungen oder -verlagerungen blieben bisher die Ausnahme. Ohnehin hat sich die UdSSR bestimmte rüstungssensible Produktionen – Luft- und Raumfahrt, Atom- und Raketentechnik – vorbehalten. Die zahlreichen in den 70er Jahren meistens bilateral geschlossenen Kooperations- und Spezialisierungsabkommen haben die historisch gewachsenen Fertigungsstrukturen bestätigt. Es dominiert die Zusammenarbeit bei Endprodukten des Maschinenbaus. Die bisherige gemeinsame Investitionspolitik bezog sich (l) auf die Koordination einzelner Investitionen, (2) vor allem aber auf die Finanzierung von Projekten, die im Interesse mehrerer Länder lagen, (3) in wenigen Fällen auch auf Gemeinsame Betriebe. Die Investitionsbeteiligung kann unmittelbar als projekt- und liefergebundene Kredite aufgrund von bilateralen Regierungsabkommen oder mittelbar als Kreditzusage an die 1979 gegründete Internationale Investitionsbank in Moskau erfolgen. Die direkten Beteiligungen werden als zeitlich gestreckte Kompensationsgeschäfte praktiziert. Fast alle RGW-Länder beteiligen sich auf diese Weise an der Erschließung von sowjetischen Rohstoffvorkommen Auswirkungen: Der RGW konnte dazu beitragen, die Makrostrukturen der Länder anzugleichen, die verarbeitende Industrie überall zum führenden Sektor auszubauen und die UdSSR mit den rohstoff- und energiearmen RGW-Ländern zu verflechten. Nicht verhindern konnte der RGW die enorme Verlangsamung des Wirtschaftswachstums seit den 70er Jahren. Der Prozeß der Zusammenarbeit im RGW wurde bisher von zwei Widersprüchen bestimmt, deren Aufhebung nicht abzusehen ist: dem Widerspruch zwischen der Tendenz zur Internationalisierung der Wirtschaft und ihrer nationalstaatlichen Organisationen einerseits sowie dem zwischen der wirtschaftlichen und politischen Großmacht UdSSR und den kleineren bis mittleren Volkswirtschaften der verbündeten Länder andererseits. Vieles spricht dafür, daß das vielfältig erprobte Krisenmanagement des RGW die Gegensätze zu lindern half. Im gewissen Umfange konnte ein eigenes Rechtssystem entwickelt werden, wie dies für internationale Organisationen typisch ist. Der Bilateralismus kennzeichnet nach wie vor alle Beziehungen im RGW, dessen Mitgliedsstaaten souverän und als Wirtschaftseigentümer

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auftraten. Das Übergewicht der UdSSR ist nicht rechtlich, sondern politisch, militärisch und wirtschaftlich fundiert“.184 Staatliches Außenwirtschaftsmonopol als konstitutives Prinzip des DDR-Wirtschaftssystems: Die staatliche Außenwirtschaftsorganisation als Garant des Außenwirtschaftsmonopols: „Dem Prinzip der individuellen Außenhandelsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland steht in der DDR das staatliche Monopol in der Außenwirtschaft (Staatshandelsland) gegenüber. Unmittelbar nach dem Ende des II. Weltkrieges wurde im Zuge der Übertragung des sowjetischen Wirtschaftssystems auf die damalige SBZ auch das von Lenin als ‚eine Kommandohöhe der Wirtschaft‘ definierte staatliche Außenhandelsmonopol installiert. Es galt als ‚die spezifische Form absoluter Gewährleistung der Leitung und Planung des Außenhandels durch die sozialistische Staatsmacht‘.185 Seine umfassende gesetzliche Regelung fand das Außenhandelsmonopol viel später im ‚Gesetz über den Außenhandel‘ von 1958, erst in der DDR-Verfassung von 1968186 wurde es in Art. 9 Abs. 5 als staatliches Außenwirtschaftsmonopol verankert. Preisbildung im Außenhandel: Die Marktpreisbildung im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland: Der ordnungspolitischen Grundentscheidung für einen freiheitlichen Außenwirtschaftsverkehr entsprechend erfolgt auch die Koordination der auf den grenzüberschreitenden Handelsverkehr gerichteten Pläne der Einzelwirtschaften durch Marktpreise. In diesem Koordinationsprozeß sollen die Preise neben der Abstimmungsfunktion zwei weitere Funktionen erfüllen: die Information der Marktteilnehmer über die relative Knappheit der Güter und deren Veränderungen und die entsprechende Lenkung der knappen Ressourcen in optimale Verwendungen. Gespaltene Parteisysteme in der DDR: Typisches Merkmal des DDR-Außenwirtschaftssystems ist nicht nur durch die durch das staatliche Außenwirtschaftsmonopol bedingte – inzwischen zwar gelockerte – organisatorische Trennung von Produktion und Außenhandel, sondern auch die auf dem Binnencharakter der ‚Mark der DDR‘ basierende Trennung von Binnen- und Außenhandelspreisen. Die Außenhandelspreisbildung: Im Handel mit ‚sozialistischen‘, d. h. vornehmlich mit den RGW-Ländern, und ‚nichtsozialistischen‘ Ländern gelten unterschiedliche Preisbildungsprinzipien. Der Handel mit den RGW-Ländern wird zu Vertragspreisen abgewickelt. Aufgrund der fehlenden Konvertibilität aller RGW-Währungen ist die Festsetzung der Vertragspreise außerordentlich kompliziert. Deshalb wird der überwiegende Teil

184 Rytlewski, Ralf: Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl. 4. Bd., 1995, S. 641-645. Ähnlich Knirsch, Peter: Comecon, in: HdWW, 2. Band, 1988, S. 81-85. 185 Faude, Eugen / Grotel, Gerhard / Luft, Christa: Sozialistische Außenwirtschaft. Lehrbuch, Berlin (-Ost) 1984, S. 19. 186 GBl I/1958, S. 69 und GBl II/1964, S. 287.

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dieser Preise auf der Basis der Weltmarktpreise (Preise auf den jeweiligen Hauptwarenmärkten) gebildet. Bis 1975 galt dafür die sogenannte Bukarester Preisformel,187 dabei wurden in der Regel konstante Preise für eine fünfjährige Periode festgelegt, die auf den Durchschnittsweltmarktpreisen der der Abkommenperiode vorangegangenen fünf Jahre basierten. Als Folge der Rohstoff- und insbesondere der Erdölpreisexplosionen wurde 1975 die Bukarester Preisformel abgelöst,188 seither werden die Vertragspreise alljährlich verändert, und zwar ab 1976 auf der Basis der durchschnittlichen Weltmarktpreise der dem jeweiligen Planungsjahr vorangegangenen fünf Jahre.189 Durch diese gleitende alljährliche Preisanpassung im RGW wirken die raschen Weltmarktpreissteigerungen der 70er Jahre zwar verzögert auf den RGW-Außenhandel, das gleiche gilt aber auch für die Preissenkungen der 80er Jahre. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen hinken entsprechend nach. So setzten z. B. die rigorosen Energiesparmaßnahmen in der DDR erst 1981 ein. Die Preise im Handel mit den übrigen ‚sozialistischen Ländern‘, das ist vor allem Jugoslawien, orientieren sich an den aktuellen Weltmarktpreisen. Für den Handel mit den ‚nichtsozialistischen‘ Ländern gilt die Marktpreisbildung. Im Handel mit diesen Ländern wird ein flexibles Reagieren auf die schnellen Veränderungen des internationalen Preisgefüges durch die systembedingte mangelhafte Preisorientierung der AHB [Außenhandelsbetriebe] erschwert. Das unter Wettbewerbsbedingungen selbstverständliche Verhalten, zu den günstigsten Preisen zu exportieren, muß in Staatshandelsländern wie der DDR erst von oben verordnet werden. So besteht seit dem X. Parteitag der SED die ausdrückliche Forderung: ‚[…] zu gewährleisten, daß die Exporterzeugnisse zu vorteilhaften Preisen und Bedingungen verkauft werden‘. Gerade hinsichtlich der sogenannten Auslandspreisarbeit und der bisher völlig unzulänglichen Marktforschungspraktiken wird von der produktionsorientierten Reformierung der Außenhandelsorganisation ab 1981 eine erhebliche Verbesserung erwartet. Die inländische Verrechnung der Außenhandelspreise: Bis zur Reformperiode der 60er Jahre wurden jegliche Einflüsse von Außenhandelspreisen nicht nur auf das Binnenpreisniveau, sondern vor allem auch auf das Betriebsergebnis der Produktionsbetriebe automatisch ausgeschaltet. Der Produktionsbetrieb hatte seinen Plan durch Ablieferung geplanter Warenmengen zu Binnenpreisen an den AHB erfüllt. Der Ausgleich von Gewinn oder Verlust aus dem Export erfolgte für den AHB aus dem Staatshaushalt über das Preisausgleichskonto. Eine Messung der betrieblichen Exportrentabilität war nicht möglich. Die unter dem Slogan ‚Konfrontation der einheimischen Produzenten mit den Weltmarktbedingungen‘ durchgeführte

187 Auf der IX. Ratstagung des RGW 1958 in Bukarest festgesetzt. 188 Auf der 70. Tagung des Exekutivkomitees des RGW im Januar 1975 in Moskau festgelegt. 189 Für 1975 wurde um der schnelleren Anpassung willen eine dreijährige Durchschnittsperiode gewählt. Offenbar zur rascheren Anpassung an die zweite Erdölkrise von 1979 lässt sich zumindest bei Erdöl und Erdgas ab 1981 rechnerisch wiederum ein Dreijahresdurchschnitt nachweisen.

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Außenhandelsreform der 60er Jahre brachte als wichtigstes Ergebnis die Einbeziehung der im Export erzielten Erlöse in die betriebliche Abrechnung, die Bildung des sogenannten einheitlichen Betriebsergebnisses. Voraussetzungen dafür waren die Erteilung von wertmäßigen Exportplanauflagen nicht mehr zu Binnenpreisen, sondern zu Devisenverrechnungspreisen, den sogenannten Valutagegenwerten, und die Veränderung der rechtlichen Beziehungen zwischen AHB und Produktionsbetrieb. Wie bereits erwähnt, verkaufen diese seither auf der Basis von Exportkommissionsverträgen die Waren auf Rechnung des Produzenten im Ausland. Bereits im Experimentierstadium der Reform stellte sich heraus, daß die ‚Exporterlöse‘ nicht ungefiltert in das Betriebssystem eingehen konnten. So ergaben sich vor allem aufgrund des gespaltenen Binnen- und Auslandspreisniveaus zu starke Verzerrungen für das einheitliche Betriebsergebnis. Deshalb werden seither regional und nach Währungen differenzierte Umrechnungskoeffizienten angewendet, die wiederum den Einfluß des tatsächlichen Exporterlöses auf das einheitliche Betriebsergebnis stark verwässern. Die Devisenverrechnungspreise werden ausschließlich im Export angewendet. Die Importe werden bei den Betrieben nach wie vor zu Inlandspreisen (Importabgabepreisen) verrechnet. Wurden diese Importabgabepreise bis in die 70er Jahre generell an das binnenländische Preisniveau (sogenannte Relationspreisbildung) angepasst, gilt heute grundsätzlich der Importaufwandspreis, um die internationale Preisentwicklung ‚sichtbar zu machen‘.190 Die fehlende Konvertibilität der Mark der DDR und der dadurch notwendige komplizierte Verrechnungsmodus für Exporterlöse und Importaufwendungen in Verbindung mit dem ungelösten binnenländischen Preisproblem sind Ursache für schwere ökonomische Bewertungsmängel. So ist z. B. die Exportrentabilität der inländischen Produzenten ebensowenig exakt meßbar wie zweigspezifische Exportverflechtungen. Gravierende Mängel weist auch die DDR Außenhandelsstatistik auf, da die Exporterlöse und Importaufwendungen im Gegensatz zu allen anderen statistischen Ausweisen in einer fiktiven statistischen Recheneinheit, der Valutamark (VM), ausgedrückt werden. Die Relation dieser Valutamark zur Binnenmark war aber Staatsgeheimnis“.191

190 Faude, Eugen / Grotel, Gerhard / Luft, Christa: Sozialistische Außenwirtschaft. Lehrbuch, Berlin (-Ost) 1984, S. 80, 204. 191 Derix, Hans-Heribert / Haendcke-Hoppe, Maria: Die Außenwirtschaftssysteme, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Bonn 1987, S. 209-213.

139

II. Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949: Die SBZ / DDR wird Teil der von der Sowjetunion dominierten Länder und die Westzonen / BRD Teil der von den Vereinigten Staaten geführten Welt 1. Alexander Fischers zwölf Thesen zur Geschichte der SBZ / DDR In der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages stellte der Historiker Alexander Fischer 1992 zwölf Thesen zur Geschichte der SBZ/DDR auf. „Jede Erörterung kommunistischer bzw. stalinistischer Politik in Deutschland – und die Geschichte der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1991 gehört zu den inzwischen bilanzwürdigen Ergebnissen dieser Politik – hat eine unumstößliche Prämisse zu beachten: Es ist erst die von deutscher Seite in entscheidendem Maße zu verantwortende Auslösung des Zweiten Weltkrieges gewesen, die im Verlaufe einer kollektiven Kraftanstrengung der internationalen Staatengemeinschaft, namentlich der sog. Anti-Hitler-Koalition, die Voraussetzungen dafür schuf, daß ein anderer Hegemonialanspruch – der des bolschewistischen Rußland bzw. Stalins – in Deutschland derart virulent werden konnte, daß heute daran gegangen werden muß, die Geschichte der daraus entstandenen SED-Diktatur und ihrer Folgen aufzuarbeiten. I.: Der in der Vorbemerkung genannte Faktor ‚Sowjetunion‘ spielt im Zusammenhang von Entstehen und Entwicklung sowie nicht zuletzt für das Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eine ausschlaggebende Rolle, jedoch ist zuvörderst festzuhalten: Die Errichtung einer deutschen demokratischen Republik ist eine deutsche Idee. Der 1949 geschaffene Staat DDR geht in wesentlichen Merkmalen auf Vorstellungen und Prinzipien der KPD aus den 30er Jahren zurück. Nachdem im Jahre 1935 mit dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale die bis dahin gültige ultralinke Parteilinie der deutschen Kommunisten aufgegeben worden war, ließen taktische Überlegungen im Rahmen der eingeschlagenen Volks- und Einheitsfrontpolitik die Forderung nach einer großen Sowjetrepublik als unzeitgemäß erscheinen. Ohne das große Ziel eines ‚Sowjet-Deutschland‘ gänzlich aus den Augen zu verlieren, machten Äußerungen führender Funktionäre der KPD seinerzeit deutlich, daß die KPD in der zweiten Hälfte der 30er Jahre für ein Deutschland nach Hitler eine ‚demokratische Volksrepublik‘ (oder ‚Volksrepublik Deutschland‘) favorisierte. II.: In seiner inhaltlichen Ausgestaltung sollte sich diese ‚demokratische Volksrepublik‘ von der Weimarer Republik deutlich unterscheiden. Dem Weimarer Staat – dessen entscheidendes Manko es nach einem Kommentar Anton Ackermanns war, nicht als ‚ein fortschrittlich revolutionäres Staatswesen‘ entstanden zu sein – wurde vorgeworfen, insbesondere die Zerschlagung des ‚reaktionären Staatsapparates‘ und die Vernichtung der ‚schlimmsten Reaktion der Monarchisten, Generäle, Junker und Großkapitalisten‘ versäumt zu haben. Demzufolge verordnete eine Ausarbeitung der KPD vom Juni 1936 einen neuen deutschen Staat nach Hitler die Auf-

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lage, sich vor allem um die – im kommunistischen Verständnis – ‚feudalen Überreste‘ und die ‚kapitalistischen Säulen‘ der deutschen Gesellschaft zu kümmern: Für den agrarischen Bereich wurde eine Bodenreform angekündigt, und auch im industriellen Sektor wurden schwerwiegende Eingriffe in Aussicht gestellt. Darüber hinaus war die Rede davon, den Staatsapparat, aber auch Heer und Marine sowie alle öffentlichen Ämter von ‚volksfeindlichen, faschistischen Elementen‘ zu säubern. Bezieht man die bis zur sog. Berner Konferenz der KPD von 1939 gemachten Aussagen der deutschen Kommunisten über ein Volksfrontdeutschland mit ein, dann wurden mit diesem Staat u. a. die folgenden – auch für die spätere DDR relevanten – Merkmale verbunden: - eine besondere außenpolitische Bindung an die Sowjetunion, - drastische Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen (u. a. Enteignung ‚des faschistischen Trustkapitals’ und Durchführung einer ‚demokratischen Bodenreform‘), - die Schaffung eines verläßlichen Beamten- und Polizeiapparates sowie einer zuverlässigen Armee (‚Volksarmee‘), - die Schaffung der ‚einigen Arbeiterklasse‘, - das Fernhalten sog. bürgerlicher Kräfte von den Schaltstellen der politischen Macht (‚die einige Arbeiterklasse […] wird das Schicksal des Landes bestimmen‘) und nicht zuletzt - die Fortsetzung des Kampfes ‚um den Sozialismus‘ (‚die Mehrheit des Volkes für das sozialistische Ziel‘ gewinnen). III.: Die Vorstellung von einer solchen deutschen demokratischen Republik ist offenbar auch in dem Moment präsent gewesen, als deutsche Truppen in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einfielen. Offensichtlich von der Überzeugung getragen, daß die deutsche Arbeiterklasse mittels einer bewaffneten, revolutionären Erhebung dem nationalistischen Spuk in Deutschland ein Ende bereiten werde, richteten die Angehörigen der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee und ihre zahlreichen deutschen Helfer – von Anton Ackermann bis Hedda Zinner – seinerzeit ihre Bemühungen darauf, diesen erwünschten revolutionären Prozeß in Deutschland zu beschleunigen und die – gelegentlich sogar als ‚Genossen‘ angesprochenen Soldaten der deutschen Angriffsdivisionen ‚in dutzendfacher Wiederholung‘ aufzufordern, zur Sowjetarmee überzulaufen, die Waffen umzukehren und für ein sozialistisches Deutschland zu kämpfen. Darüber hinaus ergingen an die Arbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie detaillierte Anweisungen, ‚was zu tun und zu lassen sei, damit die deutsche Kriegsmaschine zum Entgleisen gebracht wird, damit Räder und Getriebe stehen bleiben, Eisenbahnzüge zusammenstoßen und damit der Prozentsatz von Ausschuß und Blindgängern in der Rüstungsproduktion hoch ist‘. Mit dieser ‚politisch-moralischen Aktivierung‘ war die Erwartung verbunden, den – aus Moskauer Sicht – vermeintlich unmittelbar bevorstehenden ‚Volkskampf‘ so zu unterstützen, daß nicht nur die Ablösung Hitlers erreicht, sondern zugleich ‚die Umstrukturierung des politisch-sozialen System in Deutschland‘ eingeleitet werden könne.

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IV.: Erst die im Laufe des Herbstes 1941 unter den kommunistischen Funktionären der Moskauer Emigration um sich greifende Erkenntnis, daß es Hitler gelungen sein könnte, ‚das Klassenbewußtsein der [deutschen] Arbeiter auszulöschen‘ (K. L. Selesnjow), nicht zuletzt aber auch das spezielle – an der Existenzsicherung des Sowjetstaates orientierte – Interesse Stalins führten zu einer taktischen Variante im Vorfeld eines neuen Deutschland, die später immer wieder einmal als eine Keimzelle der DDR bezeichnet worden ist und in der Aufwertung einer - auf sowjetische Initiative hin gegründeten – nationalen Sammlungsbewegung deutscher Hitlergegner bestand: Die Rede ist vom Nationalkomitee ‚Freies Deutschland‘. Diese ‚deutsche Anti-Hitler-Koalition‘ widersprach der in Casablanca verkündeten deutschlandpolitischen Standardformel des alliierten Bündnisses gegen Hitler, der Übereinkunft über eine ‚bedingungslose Kapitulation‘, und hat zunächst eher den Eindruck erweckt, als habe es sich um ein Druckmittel der sowjetischen Politik gegenüber den westlichen Alliierten gehandelt. Indessen gibt es ernsthafte Anzeichen dafür, daß mit dem Nationalkomitee ‚Freies Deutschland‘ in erster Linie die deutsche Wehrmachtführung und eine – vermeintlich vorhandene – innerdeutsche Opposition endlich dazu veranlaßt werden sollten, zu dem – immer noch erwarteten – Schlag gegen Hitler auszuholen. Es hat den Anschein, als habe die Sowjetunion als einzige der gegen Hitlerdeutschland kämpfenden Mächte dem innerdeutschen Widerstand – gemeint ist der kommunistische – ‚einen deutlichen Hinweis‘ geben wollen, dazu bereit zu sein, ‚mit einer deutschen Widerstandsregierung über einen Waffenstillstand zu verhandeln‘. V.: Die Bewegung ‚Freies Deutschland‘ blieb zwar gegenüber der Wehrmacht und gegenüber innerdeutschen Widerstandsgruppen ohne Resonanz, löste jedoch einen Effekt aus, der eine Intensivierung der anglo-amerikanischen Bemühungen um eine Erörterung der Neuordnung Europas – und damit Deutschlands – nach dem Kriege zur Folge hatte. Das führte zu einer kurzfristigen, in der Folgezeit, d. h. in den folgenden fünfzig Jahren, nicht wieder erreichten Phase der interalliierten Kooperation. In dieser Phase einer bemerkenswerten Solidarität zwischen Moskau einerseits sowie London und Washington andererseits sind – nach einer wichtigen Vorentscheidung im Hinblick auf die Festlegung der künftigen deutschen Ostgrenze im Verlaufe der Konferenz von Teheran im Herbst 1943 – wichtige Abmachungen in der ‚deutschen Frage‘ erfolgt: zum ersten die Festlegung des Kapitulationsvorganges, zum zweiten das Abkommen über die Einzelheiten der militärischen Besetzung Deutschlands (u. a. Festlegung der Besatzungszonen, Art und Weise der Durchführung der Besetzung) und zum dritten die Vereinbarung über die alliierten Kontrolleinrichtungen. Es muß hervorgehoben werden, daß die sowjetische Seite diese eher technischen Rahmenvereinbarungen zwar akzeptierte, aber – und das ist für den weiteren Gang der Dinge in Deutschland maßgeblich geworden – nicht bereit war, Maßnahmen von politischer Tragweite – wie z.B. die Erörterung oder gar Festlegung der Prinzipien einer gemeinsamen Besatzungspolitik für Deutschland – ernsthaft zu diskutieren, geschweige denn zu entscheiden.

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VI.: Diese – frühe – sowjetische Verweigerungshaltung hängt mit der um die Jahreswende 1944/45 immer deutlicher erkennbar werdenden Absicht Stalins zusammen, in Fragen der inhaltlichen Ausgestaltung des neuen Europa wie des neuen Deutschland freie Hand zu behalten, konkreter gesprochen: auch in Deutschland den Kräften ‚der Demokratie, des Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts zum Durchbruch zu verhelfen‘. Immer noch auf eine innerdeutsche Erhebung fixiert, bereiteten sowjetische Funktionäre zusammen mit der Moskauer Parteiführung der KPD um Wilhelm Pieck den Weg aus der ‚deutschen Misere‘ (A. Abusch). Wenn man den Aufzeichnungen des Parteivorsitzenden Pieck aus seiner Moskauer Emigrationszeit folgt, dann sollte sich der Neuaufbau in Deutschland nach dogmatisierten Grundsätzen vollziehen, die er und seine Genossen aus Lenins Schrift ‚Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution‘ bezogen. Die deutschen Kommunisten identifizierten sich unter Anleitung Georgi Dimitroffs, damals Leiter der Abteilung für internationale Information beim ZK der KPdSU, vorbehaltlos mit den taktischen Ratschlägen, die Lenin im Sommer 1905 seinen bolschewistischen Anhängern in den sozialdemokratischen Gruppen und Zirkeln des zaristischen Rußlands erteilt hatte, weil sie sich in einer vergleichbaren Situation wähnten: nämlich am Vorabend einer ‚demokratischen Revolution‘. Pieck hob besonders hervor, daß Lenin seinerzeit den Rat erteilt habe, ein Aktionsprogramm aufzustellen, das ‚den objektiven Bedingungen des gegebenen historischen Augenblicks und den Aufgaben der proletarischen Demokratie‘ entspreche. Unter diesem ‚Minimalprogramm‘ hatte der Führer der Bolschewiki seinerzeit ‚das Programm der nächsten politischen und ökonomischen Umgestaltungen‘ verstanden, ‚die einerseits auf dem Boden der jetzigen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse vollauf durchführbar und andererseits für den weiteren Schritt vorwärts, für die Verwirklichung des Sozialismus, notwendig sind‘. VII.: Als ‚Minimalprogramm‘ des Jahres 1944 im Hinblick auf Deutschland erarbeitete eine zwanzigköpfige Arbeitskommission – der das Gros der führenden Funktionäre der Moskauer Emigration der KPD von Pieck, Ulbricht, Ackermann, Florin über Becher, Hernstadt und Hoernle bis hin zu Wandel, Weinert und Winzer angehörte – ein ‚Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie‘, das für den ‚Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung‘ in Deutschland unmißverständlich klar machte, daß die KPD – und damit selbstverständlich auch die sie stützende sowjetische Führung – beim Neuaufbau eines deutschen Staates nichts dem Zufall überlassen wollte und – vor allem – unter Berufung auf ihre Analysen der Lage im Lande einen politischen Führungsanspruch erhob. Jetzt bestehe die Chance, so hat Walter Ulbricht seinen Genossen in Moskau die sich aus dieser Sicht abzeichnende besondere Situation in Deutschland kurz vor dem Ende des Krieges beschrieben, nicht nur mit Hilfe der Sowjetunion und der Roten Armee wieder auf die Beine kommen, sondern auch die Führung der Nation übernehmen zu können. VIII.: Die Auffassung, daß die Kader der deutschen Kommunisten die maßgebliche Rolle bei der staatlichen Neugestaltung Deutschlands zu spielen hätten, wäre ohne Auswirkungen geblieben, wenn sie nicht von Stalin geteilt und unterstützt

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worden wäre. Diese Haltung ist frühzeitig zu erkennen gewesen. In der Situation des Jahres 1945 fiel es zudem besonders ins Gewicht, wenn Moskau seinerzeit den Anspruch erhob, mit seiner Auslegung der Beschlüsse der alliierten Gipfelkonferenzen und mit den programmatischen Ausarbeitungen der Moskauer Führungsspitze der KPD den einzig gangbaren Weg in der deutschen Frage weisen zu können. Für Stalin gehörte es in diesem Zusammenhang offenbar zu den unverzichtbaren Zielsetzungen, die deutsche Reichshauptstadt von Truppen der Roten Armee erobern zu lassen. Für ihn war die Einnahme der Hauptstadt des ‚Dritten Reiches‘ zweifellos ‚eines der wichtigsten Ziele der letzten Etappe des Krieges in Europa‘, weil aus seiner Sicht mit der Berliner Operation ‚die wichtigsten militärischen und politischen Fragen‘ entschieden werden konnten, ‚von denen die Struktur Deutschlands nach dem Krieg und die politische Stellung dieses Landes innerhalb Europas‘ abhingen (G. K. Schukow). Für ihn, der in der Tradition eines von seinen jeweiligen Hauptstädten nachhaltig geprägten Imperiums lebte, stand fest, daß von den ersten politischen Maßnahmen der Eroberer der deutschen Reichshauptstadt ‚in vielem die Nachkriegsentwicklung mit bestimmt‘ (Kutschinskaja) werden würde. IX.: Für die deutschen wie für die sowjetischen Kommunisten dürfte es zu den größten Enttäuschungen ihrer politischen Laufbahn gehört haben, im Frühjahr aus der Ferne zusehen zu müssen, wie das Ringen um Deutschland im harten Kampf gegen das deutsche Volk erfolgte. Die seit Kriegsbeginn immer wieder gehegten Hoffnungen auf einen innerdeutschen Volksaufstand erwiesen sich nunmehr endgültig als Illusion – was Anton Ackermann in einem Zeitschriftenartikel unmittelbar nach der Konferenz von Jalta heftig beklagte. Während die Moskauer Emigranten im Falle eines gewaltsamen Umsturzes im ‚Dritten Reich‘ davon ausgegangen wären, einer ‚revolutionär-demokratischen Volksmacht‘ (Günter Benser) die Schlüsselstellungen in Staat und Gesellschaft sichern zu können, komplizierte die Zerschlagung des Hitlerreiches durch die Truppen der sog. Anti-Hitler-Koalition die Lage kurzfristig beträchtlich. Im Blick auf das erforderlich werdende Arrangement mit den westlichen Besatzungsmächten mußten die Funktionäre der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee und der Parteiführung der KPD all ihre detaillierten Pläne und Vorstellungen von einer revolutionären Umgestaltung Deutschlands zurücknehmen und sich vorerst mit kleineren Schritten sowie mit einem eingeschränkten Territorium, der sowjetischen Besatzungszone begnügen. Kurzfristig konzentrierte sich der Aufbau einer ‚antifaschistisch-demokratischen Ordnung‘ sogar nur auf die Bildung ‚zuverlässiger‘ örtlicher Verwaltungen. Die bei dieser Gelegenheit von vornherein geübte Praxis warf freilich ein bezeichnendes Licht auf den Charakter der neuen Ordnung. In jedem Falle sollten nämlich die Schlüsselpositionen, z. B. die Dezernate für Personalfragen, für Volksbildung und für den Aufbau der Polizei, zuverlässigen kommunistischen Funktionären vorbehalten bleiben. ‚Es ist doch ganz klar‘, so hat Walter Ulbricht die politische Maxime in dieser Phase des Neubeginns erläutert, ‚es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten‘.

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X.: Der sowjetischen Besatzungsmacht ist es vorbehalten geblieben, in enger Zusammenarbeit mit den maßgeblichen Funktionären der KPD den Zeitpunkt festzulegen, ab dem die ersten Maßnahmen für eine ‚antifaschistisch-demokratische Umwälzung‘ in der sowjetischen Besatzungszone, stets gedacht als Vorbild für ganz Deutschland, eingeleitet wurden. Es versteht sich von selbst, daß bei dieser Gelegenheit in den Jahren 1945 bis 1949 Stichworte wie ‚Demokratisierung Deutschlands‘, ‚Vernichtung des deutschen Militarismus und Nazismus‘, ‚Liquidierung der deutschen Rüstungsindustrie‘, ‚Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands‘ oder ‚Verhinderung neuer Aggressionen von Seiten Deutschlands‘ aus den Diskussionen und Beschlüssen der Gipfelkonferenzen von Jalta und Potsdam durchaus Berücksichtigung fanden – freilich in ihrer sowjetischen Interpretation. Mit dem Aufbau eines straff kontrollierten Parteisystems (Befehl Nr. 2 der SMAD vom 10. Juni 1945), der Gründung kommunistisch kontrollierter Massenorganisationen, der Verstaatlichung von Banken und Versicherungen, dem Aufbau deutscher Zentralverwaltungen (Befehl Nr. 17 der SMAD vom 25. Juli 1945), der Durchsetzung eine ‚demokratischen Bodenreform‘ (Motto: ‚Junkerland in Bauernhand!‘), der Industrieenteignung (‚Volksentscheid‘ 1946 in Sachsen) und der ‚Demokratisierung‘ des Schulwesens bis hin zur Ausarbeitung einer Verfassung für eine Deutsche Demokratische Republik im Jahre 1946 schälte sich im Rahmen der sowjetischen Besatzungszone alsbald jenes Deutschland-Modell heraus, das den deutschen Kommunisten Moskauer Prägung und ihren sowjetischen Vorbildern schon lange vorgeschwebt hatte. Die anderen Besatzungsmächte scheinen in diesem Zusammenhang als lösbares Problem empfunden worden zu sein: ‚Wir werden den Anglo-Amerikanern zusammen mit den Truppen der Sowjetarmee ein derartiges Dünkirchen bereiten‘, so erklärte der brandenburgische Innenminister Bechler (SED), ein ehemaliger Wehrmachtsmajor, im Sommer 1949 vor dem Offiziersnachwuchs in der Polizeischule Frankfurt an der Oder, ‚daß ihnen die Lust und das Interesse an Deutschland ein für allemal vergeht‘. XI.: Dieses – in den Grundzügen also bereits in den Jahren 1945 bis 1949 ausgeprägte – Deutschland-Modell erfuhr am 7. Oktober 1949 seine staatliche Aufwertung in Form der DDR. Nicht ohne Grund schrieb Stalin in seinem vielzitierten Grußtelegramm vom 13. Oktober 1949 anläßlich dieser Gründung nicht nur von der DDR als dem ‚Wendepunkt in der Geschichte Europas‘, sondern auch davon, daß die DDR der ‚Grundstein für ein einheitliches, demokratisches und friedliebendes Deutschland‘ sei. In der Gründung der DDR, so präzisierte es ein enger Vertrauter Stalins, der stellvertretende Ministerpräsident Malenkow, komme der Prozeß ‚des Zusammenschlusses der demokratischen Kräfte des deutschen Volkes zum Ausdruck‘. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß mit diesen ‚demokratischen Kräften‘ Funktionäre wie Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl gemeint waren, nicht aber westdeutsche Politiker wie Konrad Adenauer und Kurt Schumacher. Wenn Pieck am 11. Oktober 1949 nach seiner Wahl zum Präsidenten der DDR von den ‚Brüdern und Schwestern‘ sprach, die in den Westzonen unter dem entwürdigenden Druck eines der deutschen Bevölkerung von den westlichen Besatzungsmächten

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aufgezwungenen Besatzungsstatus lebten, oder Grotewohl einen Tag später in seiner Regierungserklärung die Bundesrepublik Deutschland als einen Staat zu disqualifizieren trachtete, der schon in seiner Geburtsstunde ‚alle Krankheitszeichen eines politischen Wechselbalges‘ aufweise, dann wurde damit nur der Anspruch verdeutlicht, daß die DDR von ihren Funktionären und nicht zuletzt aus Moskauer Sicht als ‚deutsches Kerngebiet‘ (W. Pieck), als deutsches Piemont verstanden wurde. XII.: Für die Gründung wie für die weitere Entwicklung des ersten ‚Arbeiterund Bauernstaates‘ auf deutschem Boden, wie die DDR von ihren Befürwortern in Ost und West gerne verstanden werden wollte, sind zwei Faktoren ausschlaggebend gewesen: zum einen die Turbulenzen des nach 1947 offen ausbrechenden Kalten Krieges, zum anderen die Sowjetunion mit ihrem – nicht zuletzt aus der Autorität des Sieges ‚über den Faschismus‘ hergeleiteten – Anspruch, an der Neugestaltung Europas entscheidend beteiligt zu werden. Diesem Interesse Moskaus kam entgegen, daß es sich mit den Kadern der KPD bzw. SED auf eine skrupellose Machtelite stützen konnte, für die der Sowjetstaat unbedingten Vorbildcharakter besaß. Die ‚bewußten Antifaschisten‘ um Ulbricht und Honecker, die sich stets auch von den Grundsätzen ihrer ‚sozialistischen demokratischen Weltanschauung‘ leiten ließen, haben – mit der DDR als Kernstaat – über vier Jahrzehnte hinweg die Weichen in Deutschland in Richtung auf eine Auffassung von Demokratie zu stellen versucht, von der ein ‚Aktivist der ersten Stunde‘ wie der Liberaldemokrat Johannes Dieckmann, der spätere langjährige Präsident der Volkskammer der DDR, schon 1945 zu sagen wußte, daß sie, wenn sie sich gestalten kann und gestaltet hat, vermutlich der russischen Auffassung näher verwandt sein [werde] als der des Westens‘. Wer die Frühgeschichte des Sowjetstaates, etwa die Jahre zwischen 1918 und 1932, kennt, der würde bestätigen müssen, daß die KPD bzw. SED alles getan haben, um diesem bolschewistischen Vorbild nachzueifern. Maßnahmen oder Vorgänge wie beispielsweise die Einführung der staatlichen Handelsorganisation, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Durchsetzung handwerklicher Produktionsgenossenschaften, der ‚Sturm auf die Festung Wissenschaft‘, die Gleichschaltung der Gewerkschaften oder der Kampf gegen die Kirche im Zeichen eines militanten Atheismus hatten alle ihr Vorbild im frühen Sowjetrußland. Die Renommiertruppe des Ostberliner Wachregiments trug nicht ohne Grund den Namen Feliks Dzierzynskis, des Begründers der ‚Allrussischen Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage‘, der sog. Tscheka. Und um den Faktor ‚Kalter Krieg‘ nicht zu vergesse: Natürlich hat die DDR an der Seite Moskaus auch eine zentrale, bisher eher verkannte Rolle in der Ost-West-Auseinandersetzung gespielt. Diese bedingungslose Bindung an den Sowjetstaat hat freilich – Ironie des ‚unverbrüderlichen‘ Bruderbundes DDR/UdSSR – auch das Ende des deutschen ‚Friedensstaates‘ herbeigeführt und damit dessen brüchige Fundamente offengelegt. Als nämlich die polnische Solinardosc Anfang der 80er Jahre den Ostblock aufzusprengen begann und auf diese Weise den Anfang vom Ende des Kalten Krieges markierte, sich in der Folge zudem die Sowjetunion – wie der Zarenstaat des 19. Jahrhunderts – als ein ‚Koloss auf tönernen Füßen‘ erwies, war

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das Schicksal des ‚real existierenden Sozialismus‘ auf deutschem Boden besiegelt, das Ende der DDR geradezu zwangsläufig“.1 2. Deutschland unter alliierter Besatzung nach der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 und Aufteilung in vier Besatzungszonen Schon vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 hatten Churchill, Roosevelt und Stalin auf der Konferenz von Jalta (4. – 11.2.1945)2 die Einteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die gemeinsame Verwaltung durch eine Zentralkommission nach dem Sieg der Alliierten beschlossen. Frankreich wurde als vierte Macht zur Mitarbeit geladen und trat am 1. Mai 1945 dem alliierten Abkommen über das Kontrollsystem bei. Am 5. Juni 1945 erfolgte die Berliner Deklaration, d. h. die Übernahme der „obersten Regierungsgewalt“ in Deutschland durch die Regierungen der vier Mächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich.

1

Fischer, Alexander: Zwölf Thesen zur Geschichte der SBZ/DDR. Vortrag in der unveröffentlichten – 5. – Sitzung am 8.5.1992, in: Deutscher Bundestag (12. Wahlperiode) (Hrsg.): Materialien der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. 2/4, S. 2994 ff.

2

Hälg, Antje: Jalta (4. – 11.2.1945), in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945 – 1949/55, Berlin 1999, S. 212 f. Gramel, Hermann: Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941 – 1948, Frankfurt/M. 1985. Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 19431948, München 1978.

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Das deutsche Besatzungsgebiet mit Zonen und Ländern

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3. Der „Eiserne Vorhang“ trennt die bi-polare Welt von 1945 bis 1990: Die SBZ / DDR wird Teil der von der Sowjetunion dominierten sozialistischen Länder und die Westzonen / BRD Teil der von den Vereinigten Staaten von Amerika geführten Welt Als „eiserner Vorhang“ wird im Theater ein Vorhang zwischen Bühne und Zuschauerraum bezeichnet. Er besteht aus einer mit Blech verkleideten Eisenkonstruktion mit Berieselungsanlage. Das feuersichere Verschlußmittel ist meist aus gewelltem Blech, um das Bühnenhaus im Theatergebäude gegen den Zuschauerraum abzuschließen. Er wurde nach dem Brand des Ringtheaters in Wien 1881 in Deutschland 1889 gesetzlich vorgeschrieben. Beunruhigt durch Stalins Eroberungspolitik in Ost- und Südosteuropa telegrafierte Premierminister Churchill an den eben erst ins Amt gekommenen US-Präsidenten Truman: Telegramm des Premierministers Churchill an Präsident Truman, 12. Mai 19453 Streng geheim, London, 12. Mai 1945 Premierminister an Präsident Truman. Persönlich und streng geheim. Nummer 44. Ich bin zutiefst beunruhigt über die europäische Lage, wie ich sie in meiner Nr. 41 umrissen habe. Wie ich erfahre, haben die amerikanischen Luftstreitkräfte in Europa bereits zur Hälfte mit der Verlegung auf den Kriegsschauplatz im Pazifik begonnen. Die Zeitungen sind voll von Nachrichten über die umfangreichen Verlegungen der amerikanischen Armeen aus Europa. Auch unsere Armeen dürften aufgrund früherer Vereinbarungen wesentlich reduziert werden. Die kanadische Armee zieht bestimmt ab. Die Franzosen sind schwach und schwer zu behandeln. Jedermann sieht, daß unsere bewaffnete Macht auf dem Kontinent in sehr kurzer Zeit verschwunden sein wird bis auf eine geringe Zahl von Streitkräften zur Niederhaltung Deutschlands. Was aber soll währenddessen in bezug auf Rußland geschehen? Ich habe mich stets für die Freundschaft mit den Russen eingesetzt; aber ihre falsche Auslegung der Jalta-Beschlüsse (Februar 1945), ihre Haltung gegenüber Polen, ihr überwältigender Einfluß auf dem Balkan, mit Ausnahme von Griechenland, die Schwierigkeiten, die sie wegen Wien machen, die Verbindung russischer Macht mit den ihrer Kontrolle unterstehenden und von ihnen besetzten Gebieten, zusammen mit der kommunistischen Taktik in so vielen anderen Ländern, und vor allem ihre Fähigkeit, sehr große Armeen über lange Zeit im Felde stehen zu lassen, beunruhigen mich ebenso sehr wie Sie. Wie wird die Lage in ein bis zwei Jahren sein, wenn die britischen und amerikanischen Armeen dahingeschmolzen sind und die Franzosen noch keine nennenswerte Armee aufgebaut haben, und wenn wir nur über eine Handvoll Divisionen, davon die Mehrzahl französische, verfügen, während Rußland vielleicht beschließt, zwei- bis dreihundert Divisionen im aktiven Dienst zu behalten? Ein Eiserner Vorhang ist vor der russischen Front niedergegangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht. (Hervorhebung J. S.) Es ist kaum zu bezweifeln, daß die gesamten Gebiete östlich der Linie Lübeck-Triest-Korfu binnen kurzem völlig 3

Roller, Walter: Stunde Null? Die Lage 1945, in: Weber, Jürgen: Auf dem Weg zur Republik 1945-1947, 4. Aufl., München 1994, S. 28 f.

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in der Hand der Russen sein werden. Dazu muß außerdem das riesige Gebiet, das die amerikanischen Armeen zwischen Eisenach und der Elbe erobert haben, hinzugerechnet werden, das aber, wie ich annehme, in ein paar Wochen, wenn die Amerikaner sich daraus zurückziehen, von der russischen Macht besetzt wird. General Eisenhower wird alle möglichen Vorkehrungen treffen müssen, um eine zweite Massenflucht der deutschen Bevölkerung nach Westen zu verhindern, wenn dieser ungeheure moskowitische Vormarsch ins Herz Europas erfolgt. Und dann wird der Vorhang von neuem sehr weit, wenn nicht sogar ganz niedergehen. Damit wird uns ein breites Band von vielen hundert Meilen russisch besetzten Gebiets von Polen abschneiden. Inzwischen wird die Aufmerksamkeit unserer Völker ganz davon in Anspruch genommen sein, Deutschland, das zerstört darniederliegt, strenge Strafen aufzuerlegen, und den Russen stände es in sehr kurzer Zeit frei, wenn sie wollten, bis an die Küsten der Nordsee und des Atlantiks weiter vorzudringen. Es ist jetzt wirklich lebenswichtig, zu einer Verständigung mit Rußland zu kommen, beziehungsweise zu sehen, woran wir mit Rußland sind, ehe wir unsere Armeen bis zur Ohnmacht schwächen und uns auf unsere Besatzungszonen zurückziehen. Das läßt sich nur in einer persönlichen Begegnung erreichen. Ich wäre für Ihre Beurteilung und Ihren Rat sehr dankbar. Wir können uns natürlich auf den Standpunkt stellen, daß sich Rußland tadellos verhalten wird, was zweifellos die bequemste Lösung bietet. Um zusammenzufassen: dieses Problem, mit Rußland zu einer Regelung zu kommen, ehe unsere Kraft geschwunden ist, schein mir alle anderen in den Schatten zu stellen.4

„Churchill hatte am 5. März 1946 in Fulton eine weit verbreitete und viel beachtete Rede gehalten, in der er die westliche Welt vor dem Vorrücken des Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa warnte, den Begriff des ‚Eisernen Vorhangs‘ wieder benutzte und eine ‚Politik der Stärke‘ gegenüber der UdSSR forderte. Zuvor hatte Stalin am 9. Februar 1946 in Moskau öffentlich erklärt, dass zwischen Sozialismus und Kapitalismus ein Verhältnis dauernder Feindschaft (‚Antagonismus‘) bestehe und dass es so lange Krieg geben werde, bis der Kapitalismus abgelöst sei (Abdruck der Rede in: Pravda vom 10.2.1946). Am 9. März 1946 hatte sich Stalin in einem Interview mit einem ‚Pravda‘-Korrespondenten gegen die Ausführungen Churchills gewandt“.5 Der eiserne Vorhang wurde schon frühzeitig niedergelassen, wie der Befehl Nr. 034 des Obersten Chefs der SMAD und Oberbefehlshabers der GSBSD „Über die Organisation des Dienstes der Kontroll-Grenz-Passierstellen“ vom 12. Februar 1946 zeigt: „Zur Kontrolle des Übergangs von Personen über die Grenze zwischen der sowjetischen und den alliierten Besatzungszonen Deutschlands sowie für den Warentransport im interzonalen Handel befehle ich:

4

Dokumente zur Deutschlandpolitik II. Reihe/Bd. 1: Die Konferenz von Potsdam, bearb. von Gisela Biewer, Kriftel 1992, S. 9 f. Roller, S. 45 f.

5

Wettig, G. (Hrsg.): Der Tjulpanow-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012, S. 153; J. W. Stalin, Werke, hrsg. vom ZK der KPD – ML Dortmund, Bd. 14, S. 64-72.

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Der Chef der NKWD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes der ‚Gruppe der Sowjetischen Besatzungsstreitkräfte in Deutschland‘ (GSBSD) hat bis zum 25. Februar 1946 den Dienst von Kontroll-Passierstellen an folgenden Punkten zu organisieren: Bahnhof Hernburg / östlich von Lübeck Bahnhof Bergen an der Dumme / westlich von Salzwedel Bahnhof Hörschel / westlich von Eisenach Oebisfelde, Alleringsleben / östlich von Helmstedt, Nordheim [Thüringen], Probstzella, Gutenfürst. Der Übergang und die Durchfahrt von Personen sowie der Warentransport an anderen Stellen der Berührungslinie zwischen der sowjetischen und den alliierten Zonen ist verboten. Die Chefs der Kontroll-Passierstellen sind dem Chef der NKWD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes der GSBSD unterstellt. Der Übergang von Personen aus einer Zone in die andere ist mit Passierscheinen gestattet, die vom Passierscheinbüro des Interalliierten Kontrollrats in Deutschland ausgegeben werden. Die Ausfuhr von Waren aus der SBZ in die alliierten Zonen sowie die Einfuhr von Waren aus den alliierten Besatzungszonen Deutschlands in die sowjetische Zone ist mit Passierscheinen gestattet, die von der Verwaltung Außenhandel der SMA[D] ausgegeben werden. Der Chef der Kontroll-Passierstelle hat sich in seiner Tätigkeit von der beigefügten Instruktion leiten zu lassen. Zu organisieren ist das Zusammenwirken des Dienstes der Kontroll-Passierstellen mit den Truppenteilen der Roten Armee, denen der Schutz der SBZ übertragen wurde. Der Chef des Stabes der SMAD hat die Kontroll-Passierstellen mit Kontrolleuren, Warensachverständigen und Dolmetschern zu besetzen. Zu bestätigen sind folgende Anlagen: Instruktion für den Chef der Kontroll-Passierstellen hinsichtlich der Ein- und Ausfuhr von Waren, der vorläufige Stellenplan einer Kontroll-Passierstelle, die Formblätter Nr. 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 13. Der oberste Chef der SMAD und Oberbefehlshaber der GSBSD Marschall der Sowjetunion Schukow Das Mitglied des Kriegsrates der SMAD Generalleutnant Bokow Der Chef des Stabes der SMAD Generalleutnant M. Dratwin Der Chef der NKWD-Truppen zum Schutz des Hinterlandes der GSBSD Generalmajor Simin Der Chef der Verwaltung Außenhandel der SMAD Ingenieur-Oberst6 Michin.

6

Foitzik, Jan: Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954. Dokumente. Herausgegeben und eingeleitet von, München 2012, S. 241-245.

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Provisorischer Stellenplan einer Kontroll-Passierstelle Bezeichnung der Planstelle Chef der Kontroll-Passierstelle Stellvertreter des Chefs Operativbevollmächtigter Stellvertreter des Chefs für die SMA Oberkontrolleur Kontrolleur für die SMA Gruppenführer Rotarmist Dolmetscher Fahrer Insgesamt Pkw 1

Militärischer Dienstgrad Hauptmann

Anzahl der Stellen 1

Hauptmann Hauptmann

1 1 1

Hauptfeldwebel Hauptfeldwebel Sergeant Soldat Soldat

BWSNr.

Dienstbezüge

2 2 1 8 3 1 21

4. Die Wirtschaftssysteme: Das deutsche Wirtschaftschaos (1945-1948) – Diagnose und Therapie Von Walter Eucken Mit der Devisenzwangswirtschaft wurde in der nationalsozialistischen Wirtschaft die Binnenwirtschaft von der Außenwirtschaft getrennt. Der Preisstopp 1936 und der Lohnstopp von 1938 schalteten den Preismechanismus aus und führten zur güterwirtschaftlich gelenkten Wirtschaft. Mit Kriegsbeginn 1939 wurden die Güter des täglichen Bedarfs zwangsbewirtschaftet. Das in die Rüstung gepumpte Geld ergab 1944 einen Gesamtbestand von 298 Milliarden RM an liquiden Mitteln. „Ein sofortiger Kollaps der Reichsmarkwährung konnte nur dadurch abgewendet werden, daß die Siegermächte die grundlegenden Bausteine des Rationierungs- und Bewirtschaftungssystems von 1939 in allen Zonen übernahmen“.7 Walter Eucken8 analysierte das deutsche Wirtschaftschaos (1945 – Juli 1948) vor und nach der Währungsreform.9 Nach der Schilderung der Tatsachen im deutschen Wirtschaftschaos interpretiert Eucken in einer wirtschaftswissenschaftlichen 7

Ermer, Matthias: Von der Reichsmark zur Deutschen Mark der Deutschen Notenbank. Zum Binnenwährungsumtausch in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Juni/Juli 1948), Stuttgart 2000 S. 60 f.

8

Müller, J. Heinz: Walter Eucken (1891-1950), in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. 7. Aufl., 2. Bd., 1995, S. 414.

9

Eucken, Walter: Deutschland vor und nach der Währungsreform, in: Schneider, Jürgen / Harbrecht, Wolfgang (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland (19331993), Stuttgart 1996, S. 327-360.

156

Analyse diese Fakten. Bis zur Währungsreform in den Westzonen war die Zuweisung der Bewirtschaftungsstellen an die Betriebe „ganz unzureichend“. Wenn die Betriebe zusätzliche Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe benötigten, mußten sie ihre Fertigprodukte gegen diese Güter eintauschen, d. h. es wurden Güter gegen Güter getauscht. Es gab dafür Fachleute: die Kompensatoren. „Für eine Kanne Speziallack z. B. macht ein Kompensator vier bis fünf lange Reisen. Früher genügte eine Postkarte. Schon aus diesen Gründen – sehr hohe Kosten des Tausches – sind die Kosten des Betriebes heraufgeschnellt. Trotz aller Bemühungen gelingt es der energischen Geschäftsleitung nicht, genügend Materialien heranzuschaffen, und der Betrieb könnte 30 % mehr erzeugen, wenn keine Materialschwierigkeiten bestünden. Und nun die Arbeiter: Im Betriebe sieht man heute hauptsächlich alte Arbeiter; die jüngeren sind zum erheblichen Teil gefallen, verwundet oder gefangen. Doch fehlen auch viele Frauen, die früher dort arbeiteten. Der Betrieb leidet an Arbeitermangel in einer dichtbevölkerten Gegend; und die Arbeiter arbeiten nur 35 Stunden wöchentlich statt früher 48. Wie kommt das? – In einem Arbeiterhaushalt werden wir die Antwort finden. Früher arbeiteten der Vater – ein Feinmechaniker – und zwei Töchter ganztägig in der Firma; die Frau, die das Haus besorgte, arbeitete nur vormittags. Heute erzwingt die wirtschaftliche Situation eine ganz andere Verteilung der Kräfte. Der Vater muß am Wochenende Bäume schlagen und das Holz aufbereiten, damit die Wohnung im Winter geheizt werden kann. Im Übrigen ist er infolge des Hungers zu schwach, um mehr als 35 Stunden wöchentlich zu arbeiten. Die eine Tochter ‚hamstert’. Sie tauscht auf dem Land sogenannte Kompensationsgüter, die der Betrieb an die Arbeiter ausgibt – Töpfe, Nadeln, Eisenteile – gegen Lebensmittel. Die andere Tochter muß in den Ämtern und Läden Schlange stehen, was sieben Achtel ihrer Zeit beansprucht. (Die Schlange, dieses Kennzeichen eines gleichgewichtslosen Marktes, ist zum typischen Bild in Deutschland geworden.) Die Frau bearbeitet den kleinen Garten intensiver als früher, um fehlende Lebensmittel zu gewinnen; oder sie flickt alte Wäschestücke zusammen. Alle vier Menschen sind angestrengt tätig, aber der Ertrag ist minimal. Jetzt wissen wir, warum der Betrieb an Arbeitermangel leidet. Schon in diesem kleinen Haushalt eines Arbeiters blitzt ein allgemeiner Zusammenhang auf: Der Einzelne handelt richtig – aber die Ordnung der Wirtschaft ist verfehlt. Mit den schwächlichen und alten Arbeitern produziert der Betrieb pro Kopf und Woche nur 30 % der Wochenleistung von ehedem“.10 Die zunehmende Aktivität der deutschen Bevölkerung zeigte sich auch in ihrer Mobilität.

10 Eucken, Walter: Deutschland vor und nach der Währungsreform, S. 328.

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Der größte Teil der Eisenbahnreisenden fährt zu Tauschzwecken über größere Strecken.11 „Die deutsche Bevölkerung muß rastlos tätig sein, um nicht zu verhungern“.12 Bei der wirtschaftlichen Analyse dieser Fakten hebt Eucken hervor, daß Deutschland früher ein „hochindustrialisiertes Land mit entwickelter Arbeitsteilung und großem Außenhandel war“.13 Die Kriegszerstörungen und die Verluste an Arbeitskräften minderten die Produktivität. „Die vorhandenen Menschen arbeiten weitgehend vergeblich, obwohl sie rastlos tätig sind. Wer – so wie wir es taten14 – durch deutsche Betriebe und Haushalte wandert und die Frage nach dem Warum stellt, stößt vor allem auf drei Ursachenkomplexe.“ Überall stellen wir den Abbruch alter Geschäftsverbindungen mit den Firmen in anderen Zonen und mit dem Ausland fest: Eine Desintegration, eine Zerstückelung eines großen arbeitsteilig zusammengeschlossenen Gebietes in viele kleine Räume hat sich vollzogen. Ein akuter Kapitalmangel macht es unmöglich, den Aufbau und die Reparatur der Häuser und Fabriken in Gang zu setzen oder Rohstoffe und Maschinen zu beschaffen.15 Es fehlt an einer „zureichenden Lenkung des arbeitsteiligen Wirtschaftsprozesses. Statt eines zweckmäßigen Ineinanders besteht ein Nebeneinander der Wirtschaftspläne und Tätigkeiten“.16 Das zentrale Problem für Eucken ist die Lenkung der Wirtschaft. Mit dem Preisstop von 1936 wurde der Lenkungsmechanismus der Preise überhaupt stillgelegt. Deutschland trat in das Stadium der „zurückgestauten Inflation“ ein, die Preise brachten nicht mehr die Knappheitsrelationen der Güter zum Ausdruck, d. h. die Preise versagten als Lenkungsinstrument überhaupt. „Da aber die Zuteilungen der Konsumsphäre sowie die Zuweisungen an Rohstoffen und Materialien an die Betriebe so gering wurden, daß niemand bei diesen

11 Ebd., S. 329: „Davon bekommen wir einen Eindruck, wenn wir am Sonnabend oder Sonntag aufs Land gehen oder wenn wir mit der Bahn fahren. Der größte Teil der Reisenden fährt zu Tauschzwecken. In der Eisenbahn erkennen wir deutlich gewisse Ströme. So ergießt sich Tag für Tag ein Strom von Menschen aus der Pfalz in die Gegend des Bodensees und bringt dorthin Schuhe, Textilwaren, Bügeleisen, Gold- und Silberwaren, um Kartoffeln einzutauschen; ebenso vom Rheinland nach Hessen. Die Züge sind voll von Hunderten und Tausenden dieser Menschen, die oft nur wenige Pfund Kartoffeln Hunderte von Kilometern schleppen. Wir könnten auch sagen, es werde bilateral, nicht multilateral getauscht. – Wer von Frankfurt nach Bremen fährt, stößt auf den sogenannten „Heringszug“. Das sind Tausende von Menschen, die aus Sachsen und Thüringen kommen, über die Sowjetgrenze zu Fuß gehen, um in Wesermünde und anderen Fischerstädten Heringe gegen Haushaltsgegenstände zu tauschen und wegen einiger Pfund Heringe Hunderte von Kilometern durchmessen, wobei sie schwere Gefahren auf sich nehmen“. 12 Ebd., S. 330. 13 Ebd., S. 331. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 332. 16 Ebd., S. 332 f.

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Rationen leben und kein Betrieb produzieren konnte, entthronte diese ‚Planwirtschaft’ sich selbst. Jeder Betrieb und jeder Haushalt mußte – wie wir es beschrieben haben – versuchen, außerhalb des Röhrensystems der zentralverwaltungswirtschaftlichen Beschlagnahmungen und Zuweisungen, Güter herzustellen oder einzutauschen. Und so vollzog sich vor unseren Augen eine erschreckende Primitivisierung der Wirtschaft: Ein Nebeneinander von zentralen Zuteilungen, Preisen auf dem Schwarzmarkt, Tauschwerten und subjektiven Bewertungen in den Haushalten und Betrieben entstand. Es fehlt an einer einheitlichen Rechenskala, wie es in den USA der Dollar ist. Man rechnet in Zigaretten oder Kaffe oder Branntwein oder auch in Mark, um nur einige Rechenskalen zu nennen, und diese Rechenskalen besaßen keine feste Verbindung. So hat sich eine ‚Spaltung’ des Wirtschaftsprozesses in unabsehbar viele Teile und Teilchen vollzogen. Aber ein großer industrialisierter Wirtschaftsprozeß wie der deutsche kann nur als Einheit Bestandbild haben. Man klage nicht den Einzelnen an, etwa den einzelnen Haushalt oder den einzelnen Betrieb. Er muß so handeln, wie er handelt, wenn er nicht zugrundegehen soll. In der Ordnung fehlen die einheitliche Rechenskala und die zureichende Lenkung“.17 Die Aufgabe – die Diagnose ist nach Eucken die Grundlage der Therapie – besteht darin, welcher Weg aus dem deutschen Wirtschaftschaos führt. Der Weg der Zentralverwaltungswirtschaft ist zur Lösung dieser Aufgabe verbaut, da die Zentralverwaltungswirtschaft in Deutschland keine zureichende Lenkung des Wirtschaftsprozesses erzielen kann. „In Deutschland sind alle Methoden zentraler Wirtschaftslenkung versucht worden; aber alle sind gescheitert. […] Zentrale Planstellen besitzen keine Mittel, um eine sinnvolle Lenkung des Wirtschaftsprozesses in der einzelnen Maschinenfabrik oder Weberei oder im einzelnen Bauernhof und in allen übrigen Betrieben zu bewirken. Und sie können die Produktionsprozesse in den einzelnen Betrieben nicht zureichend miteinander verbinden“.18 Wenn Deutschland einen Weg aus dem Wirtschaftschaos heraus finden will, dann gibt es nach Eucken nur einen einzigen Weg, die Rückkehr zur geldgesteuerten Lenkung: „Wenn aber die Methoden der Zentralverwaltungswirtschaft versagten, bleibt nur ein Weg: Preise – und zwar Wettbewerbspreise – sind das einzige Mittel, um die unabsehbar vielen Pläne und Entscheidungen der Millionen von Haushalten und Betrieben aufeinander abzustimmen und sinnvoll zu einem Gesamtprozeß zu verbinden. Der Preismechanismus ist das einzige Instrument, das in Deutschland zur Lösung der zentralen Aufgabe der Wirtschaftspolitik zur Verfügung steht; es ist das Preissystem, das die Knappheitsrelationen der Güter zum Ausdruck bringt. Dadurch ist eine Wirtschaftsrechnung der einzelnen Betriebe und Haushalte wieder möglich. Die Kostenrechnung, die Bilanzen und die Gewinn- und Verlustrechnungen, an denen sich die Betriebe in ihren Plänen und Entscheidungen ausrichten, führen dahin, daß die Teilstücke des gesamten Wirtschaftsprozesses, die sich im einzelnen Betrieb – z. B. im einzelnen Bauernhof oder in der Maschinenfabrik – vollziehen, ineinandergreifen. Und zwar geschieht dies so, daß die starken 17 Ebd., S. 337. 18 Eucken, Walter: Deutschland vor und nach der Währungsreform, S. 340 f.

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individuellen Kräfte, welche in frei planenden und handelnden Haushalten und Betrieben lebendig sind, wirksam werden“.19 Es muß eine Geldordnung hergestellt werden, in deren Rahmen Preise den Wirtschaftsprozeß lenken.20 Immer wieder hebt Eucken hervor, daß eine Wirtschaftsrechnung in einer Zentralverwaltungswirtschaft unmöglich ist. Im Vorwort zu seiner Studie „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ schrieb der Nationalökonom und Soziologe Alfred Müller Armack21 im Dezember 1946: „Die völlige Ausschaltung der Marktwirtschaft muß als die tiefste Ursache unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten gelten“.22 Mit der „Wirtschaftslenkung“ war die gütergelenkte nationalsozialistische Wirtschaft gemeint, in der durch den Preisstop von 1936 der Preismechanismus und damit die Marktwirtschaft ausgeschaltet worden war.23 Müller-Armack zog eine Bilanz der politisch natural gesteuerten nationalsozialistischen Wirtschaft und die Ergebnisse gelten auch ohne Einschränkung für die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft der SBZ/DDR (1945-1989/90): „Die marktwirtschaftliche Ordnung ist ferner durch ihre gegenüber anderen Wirtschaftsordnungen verschiedene Orientierung am Konsumenten bestimmt. … Der Wirtschaftslenkung fehlt jegliches Kriterium für die Übereinstimmung von Bedarf und Produktion. … Die Ausschaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung schafft so unweigerlich eine Situation, in der die Produktion die eigentliche Richtung des Bedarfs gar nicht mehr kennt. … Es ist so der klare Tatbestand gegeben, daß bei Einführung eines Lenkungssystems der Betrieb einem positiven Zwang zu

19 Ebd., S. 341 f. 20 Ebd., S. 341. 21 Müller-Armack, Alfred, Nationalökonom, Soziologe, * 28.6.1901 Essen, † 16.3.1978 Köln. Das Studium der Nationalökonomie in Gießen, Freiburg/Breisgau, München und Köln schloß Müller-Armack 1923 mit der Promotion zum Dr. rer. pol. ab, habilitierte sich 1926 in Köln und wurde hier 1934 a. o. Professor. 1938 ging er als a. o. Prof. der Nationalökonomie und Soziologie nach Münster, wurde 1940 Ordinarius und gründete die Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft. Seit 1950 war er o. Professor in Köln. Müller-Armack, der der Freiburger Schule angehörte, befaßte sich vor allem mit Problemen der Wirtschaftssystem- und Wirtschaftsstilforschung sowie mit anthropologischen und religionssoziologischen Fragen. 1952 wurde Müller-Armack als Ministerialdirektor mit der Leitung der Grundsatzabteilung im Bundesministerium für Wirtschaft unter Ludwig Erhard betraut, 1958 zum beamteten Staatssekretär ernannt und war seit 1960 Vorsitzender des Konjunkturpolitischen Ausschusses der EWG. Er prägte den Begriff soziale Marktwirtschaft, zuerst in seiner Schrift Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1947). Er schrieb auch Studien zur sozialen Marktwirtschaft (1960) und Auf dem Weg nach Europa (1971). In: Walter Killy et al., Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Bd. 7, 2001, S. 284; Starbatty, Joachim: Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, Sp. 1238-1240. 22 Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 2. Aufl., Hamburg 1947, S. 6. 23 Diehl, Markus Albert: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933-1945, Stuttgart 2005, S. 110 ff.

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wirtschaftlicher Fortschrittlichkeit nicht mehr unterliegt. … Die eigentliche ökonomische Gefahr des Lenkungssystems liegt im Fehlen jeglichen Kriteriums und jeglicher Kontrolle darüber, ob der angesetzte Dringlichkeitsplan der Güter a) der Dringlichkeit der Bedürfnisse, b) der Knappheit der wirtschaftlichen Güter entspricht und ob die gewählten Produktionsmethoden auch die ökonomischsten sind. … In der schnellen Durchsetzung des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts erwies sich die freie marktwirtschaftliche Ordnung durchaus überlegen. … Die Frage der Wirtschaftsordnung steht in unlösbarem Zusammenhange mit der der politischen und Gesamtlebensordnung, die wir erstreben. Es gilt heute Klarheit darüber zu gewinnen, wie wenig es möglich ist, die Ideale menschlicher Freiheit und persönlicher Würde zu verwirklichen, sofern die wirtschaftliche Ordnung, die wir wählten, dem widerspricht. Es ist kein Zufall gewesen, wenn in der Vergangenheit alle politischen Systeme, die die Menschenwürde verachteten und die geistige Freiheit mit Füßen traten, auch wirtschaftlich den Hang zu stärksten Eingriffen verrieten. … Ein Verzicht auf die marktwirtschaftliche Rechnungsform bedeutet daher nicht etwa den Übergang zu einer verwaltungswirtschaftlichen Rechnungsweise, sondern den Verzicht auf rechenhaftes Wirtschaften überhaupt. … Die Wahl einer marktwirtschaftlichen Organisation kann gegenwärtig (1946) als wesentliches Mittel begriffen werden, unsere geistige Freiheit, die des einzelnen wie die unseres ganzen Volkes, zu sichern. Die Lenkungswirtschaft ist gegenwärtig ein formales Instrument, jedem, der es in die Hand bekommt, die Verfügung über die nationalen Produktivkräfte zu überantworten. Es diente schon in Zeiten der Freiheit dazu, Unfreiheit zu verbreiten und den Lebensstandard breitester Schichten herabzudrücken“.24 5. Aufwendungen für die Besatzungsmächte, öffentliche Haushalte und Sozialprodukt in den einzelnen Zonen 1946/47 Für das Haushaltsjahr 1946/47 analysierte Eduard Wolf die Aufwendungen für die Besatzungsmächte und deren Anteil an den öffentlichen Haushalten und dem Sozialprodukt in Berlin und der russischen, der US-, der britischen und der französischen Zone. Die anerkannten budgetmäßigen Aufwendungen für die Besatzungsmächte. Die Tabelle „Anerkannte budgetmäßigen Aufwendungen für die Besatzungsmächte“ zeigt „welche Ausgaben über die deutschen Länder- und Zonenhaushalte sowie über den Berliner Etat und in zweiter Linie eventuell auch über eigene Haushalte der Besatzungsmächte für die in diesem Sinne abgegrenzten Zwangsleistungen im Haushaltsjahr 1946/47 getätigt und als Besatzungsleistungen anerkannt wurden. 24 Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg, Dez. 1946, 2. Aufl., S. 13, 21, 26, 28, 50, 62, 91. Wieder abgedruckt in: Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., 1976.

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Die Gesamtsumme ergibt rund 11,9 Mrd. RM, wobei schätzungsweise 5,5 Mrd. RM auf den laufenden Unterhalt der Besatzungstruppen und ihrer Einrichtungen (die eigentlichen Besatzungskosten), 2,5 Mrd. RM auf verschiedene sonstige Güterund Dienstleistungen (hauptsächlich Reparationen) und 3,9 Mrd. RM auf Geldzuwendungen aus laufenden öffentlichen Einnahmen entfallen, die in ihrer Verwendung nur teilweise substanziiert werden können und zu einem beträchtliche Prozentsatz wahrscheinlich überhaupt nicht verausgabt wurden“.25 Anerkannte budgetmäßige Aufwendungen für die Besatzungsmächte 26 Haushaltsjahr 1946/47

Zonen

Besatzungsunterhalt

Reparationen

Restitutionen

DP’s und Bezahlung deutscher Kriegsgefangener

Demilitarisierung

Geldzuwendungen G e saa m t

Mill. RM Berlin Sowj. Zone US-Zone Brit. Zone Franz. Zone Gesamt

363 1.500 1.379 1.465 775 5.500

1.600 24 44 10

3

2 -

270

236 100 2.500

68 65

3.300 563 3.900

Mill. RM 370 6.400 1.650 2.376 950 11.900

RM je Kopf der Bevölkerung 116 369 96 107 160 180

Die anerkannten und versteckten Aufwendungen für die Besatzungsmächte. Die anerkannten budgetmäßigen Aufwendungen für die Besatzungsmächte stellen nur einen Teil des Gesamtaufwandes für die betreffenden Zwecke dar. Die versteckten Aufwendungen kommen hinzu. „Fast für den gesamten Bereich der „versteckten“ Besatzungslasten mußten daher für die vorliegende Untersuchung eigene Schätzungen gewagt werden. Die versteckten „Besatzungskosten im engeren Sinne“ sind dabei für Berlin und die britische Zone in ungefähr der gleichen relativen Höhe angenommen worden wie für die US-Zone, für die zu der offiziellen amerikanischen Schätzung noch ein kleiner Zuschlag für die in dieser nicht berücksichtigten Leistungen gemacht wurde. Auf die Einsetzung eines Betrages für die Nutzung des öffentlichen Eigentums wurde jedoch hier ebenso wie in den übrigen Zonen im Hinblick auf die besonderen Schwierigkeiten einer solchen Schätzung verzichtet. Für die französische Zone sind 25 Wolf, Eduard: Aufwendungen für die Besatzungsmächte, öffentliche Haushalte und Sozialprodukt in den einzelnen Zonen, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Wirtschaftsprobleme der Besatzungszonen, Berlin 1948, S. 118 f. 26 Ebd., S. 120.

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die versteckten Besatzungskosten etwas kleiner veranschlagt worden, da nach einer Erklärung der französischen Militärregierung die Kosten der Inanspruchnahme von Reichsbahn und Post in dieser Zone im Gegensatz zu der Praxis der übrigen Besatzungsmächte vergütet worden sind. Für die russische Zone dagegen schien umgekehrt ein wesentlich höherer Zuschlag gerechtfertigt, da hier die nicht oder nur unzureichend vergüteten Leistungen allen Anzeichen nach eine ungleich größere Rolle spielen als in den übrigen Zonen und 1946/47 überdies ein erheblicher Teil der Besatzungskosten noch durch Ausgabe von Militärmark gedeckt worden ist. Das letztere gilt vor allem für die Truppenbesoldung, die bei der sowjetischen Besatzungsarmee im Unterschied zu den anderen Mächten überwiegend in Reichsmark, und zwar unter Ausschluß des Rechtes zur Konvertierung in Rubel erfolgt).27 Für die Bemessung des Zuschlages sind namentlich Angaben über die Höhe der industriellen Warenlieferungen an die Besatzungsarmee (allerdings unter Einschluß gewisser sowjetischer Einkaufsgesellschaften sowie Schätzungen über die Höhe der wichtigsten sonstigen Leistungen maßgebend gewesen. Als Anhaltspunkte dienten dabei die entsprechenden Aufwendungen für die US-Armee (wobei die Abweichungen in der Versorgungsstruktur der Sowjetarmee nach Möglichkeit berücksichtigt wurden, die mutmaßliche Stärke der sowjetischen Besatzungstruppen und Teilangaben über die Höhe der Soldzahlungen. Es wurde z. B. angenommen, daß die Sowjetarmee (einschließlich der gelegentlich zwangsweise und ohne Entgelt herangezogenen deutschen Arbeitskräfte) nur ein Viertel soviel deutsche Arbeitskraft beanspruchte wie die US-Armee, von deren innerdeutschen Unterhaltungskosten mehr als die Hälfte auf die Bezahlung einheimischer Arbeitskräfte entfiel. Der sich im ganzen gegenüber der US-Armee ergebende Mehraufwand erklärt sich vor allem aus der weitgehenden Entlohnung der Truppe mittels deutscher, nicht in Rubel konvertierbarer Zahlungsmittel sowie aus der Tatsache, daß die Sowjetarmee zum großen Teil aus der Zone verpflegt und equipiert wird. Die versteckten sonstigen Aufwendungen aus der laufenden Produktion sind für die amerikanische und britische Zone sowie für Berlin pauschal mit etwa 20-35 v. H. der anerkannten budgetmäßigen Ausgaben für die betreffenden Zwecke angenommen worden. Dabei wurde davon ausgegangen daß etwaige Verkehrsleistungen, die den wichtigsten Posten der versteckten Besatzungskosten dieser Gebiete bilden, schon in der Besatzungskostensumme berücksichtigt sind. Im übrigen kann eine etwaige Fehleinschätzung an dieser Stelle das Gesamtresultat für die betreffenden Zonen nicht wesentlich verändern, da es sich bei den betreffenden Posten sowohl in der britischen und amerikanischen Zone als erst recht in Berlin um relativ geringe Beträge handelt. Für die französische und die russische Zone sind die versteckten sonstigen Leistungen aus der laufenden Produktion dagegen z. T. bedeutend höher veranschlagt worden. In der Hauptsache handelt es sich dabei um budgetmäßig nicht in Erscheinung tretende Reparationskosten aus der laufenden 27 Für den sowjetischen Sektor Berlins mußten aus Etatmitteln der Stadt erstmalig im 1. Vierteljahr 1947 Mittel für die Truppenbesoldung bereitgestellt werden. Die Neuausgabe alliierter Marknoten ist einer offiziellen Erklärung der SMA zufolge am 30. Juni 1946, also erst nach Ablauf des ersten Viertels des Haushaltsjahres 1946/47, eingestellt worden.

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Produktion, wobei in beiden Zonen besonders an die Minderbewertung der Reparationsleistungen durch viel zu niedrige Stoppreise […]“.28 Budgetmäßig anerkannte und versteckte Aufwendungen für die Besatzungsmächte Haushaltsjahr 1946/47

Zone

Besatzungsunterhalt

Verschiedene andere Leistungen aus der laufenden Produktion

Geldleistungen (soweit nicht bereits für die vorstehenden Zwecke verwendet

in Mill. RM Berlin Russische Zone U.S.-Zone Britische Zone Französische Zone Zusammen

450 2.400 1.750 1.800 350 rd. 7.250

10 1.900 350 400 300 rd. 3.000

G e saa m t

in Mill. RM 3.300 563 rd. 3.850

460 7.600 2.100 2.775 1.150 rd. 14.100

je Kopf der Bevölkerung RM 145 438 122 124 194 214

Die anerkannten budgetmäßigen Besatzungslasten im Vergleich zu den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben. Über die Belastung der öffentlichen Haushalte durch die Leistungen für die Besatzungsmächte informiert die Tabelle über „Die budgetmäßigen Besatzungsmächte im Vergleich zu den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben“.

28 Ebd., S. 124 ff.

164

Die anerkannten budgetmäßigen Besatzungslasten im Vergleich zu den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben 29 Haushaltsjahr 1946/47 Einnahmen und Ausgaben bzw. Besatzungslasten I. E i n n a h m e n u n d Ausgaben Insges., in Mill. RM Einnahmen ……………

Berlin

Russ. Zone

{ 1.876

11.045

5.836

8.813

1.418

{ 28.988

dar. Reichssteuern

1.183

8.117

4.688

6.146

1.189

21.323

1.476

10.825

4.632

9.445

1.849

28.227

500

637

340

395

239

372

468

273

276

200

Ausgaben ……………….

464

625

270

423

311

445 323 428

II. B e s a t z u n g s l a s t e n Insges., in Mill. RM ….. In v. H. der Gesamteinnahmen …….

370

6.400

1.650

2.376

950

11.900

{19,7

57,9

28,3

27,0

67,0

41,1

31,3 25,1

78,8 59,1

35,2 35,6

38,7 25,2

79,9 51,4

55,8 42,2

Ausgaben ……………. Je Kopf der Bevölkerung in RM Einnahmen ……………. dar. Reichssteuern

Einnahmen aus Reichssteuern …………. Ausgaben ………………

1.590

{590

23,3

U.S.Zone

Brit. Zone

Franz. Zone

Alle Zonen

18.702

{440

„Die Einnahme- als auch die Ausgabenziffern der russischen Zone waren erstaunlich hoch. […] Aber auch die Einnahmen aus ehemaligen Reichssteuern waren in der sowjetischen Zone pro Kopf der Bevölkerung um fast ein Drittel höher als im Durchschnitt aller Zonen, da die Sowjetzone in der – schon 1946/47 um mehr als das Zwanzigfache erhöhten – Branntweinsteuer eine einzigartige Einnahmequelle besitzt, die mit etwa 3,1 Mrd. RM im Haushaltsjahr 1946/47 fast 40 v. H. des Aufkommens an Reichssteuern erbrachte, während in den übrigen Zonen die Einnahmen aus dem Branntweinmonopol nur rund 200 Mill. RM, d. h. nur etwa 1,5 v. H. der ‚Reichssteuer’einnahmen ausmachten. Die Hauptquelle hierfür bildete selbstverständlich nicht das produzierte Einkommen, sondern der ‚Geldüberhang‘, und zwar nicht nur der der Sowjetzone selbst, sondern auch der der übrigen Zonen einschließlich Berlins. Denn in dem Maße, in dem der in der Ostzone erzeugte Schnaps im Westen oder in Berlin abgesetzt wird (und der Anteil dieses ‚äußeren‘ Absatzes ist sicher beträchtlich), tragen auch die dortigen Abnehmer zu den Steuereinnahmen der Ostzone und damit zur Finanzierung der dortigen Besatzungslasten bei. Die Sowjetzone ist also die einzige Zone, die nicht nur bewußt den ‚Geldüberhang‘ zu einem wichtigen Steuerreservoir gemacht, sondern über die verschlungenen Pfade des Branntweinhandels dabei auch einen nennenswerten Prozentsatz ihres Steueraufkommens aus anderen Zonen bezogen hat. Hätte sie über 29 Ebd., S. 128.

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diese ungewöhnliche Einnahme nicht verfügt, so wären Zwangsleistungen in der Höhe von 1946/47 finanziell einfach untragbar gewesen. Das Gleichgewicht der Haushalte hätte sich jedenfalls schon damals nur aufrechterhalten lassen, wenn zumindest auf den Teil der Geldzuwendungen, der nicht für laufende Besatzungszwecke und Reparationen verausgabt wurde, verzichtet worden wäre. Dabei ist aber zu bedenken, daß dieser Teil nur deshalb verhältnismäßig groß war (und deshalb anscheinend einen weiten Spielraum für Einsparungen bietet), weil ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz zumindest der Besatzungskosten 1946/47 noch mit anderen Mitteln als regulären Steuereinnahmen (nämlich mit Militärmark, beschlagnahmten Reichsmarkbeständen usw.) gedeckt werden konnte. Seit Anfang 1947 hat übrigens die sowjetische Besatzungsmacht begonnen, außer über das Branntweinmonopol auch durch umfangreiche Verkäufe von Zigaretten und andern knappen Waren (über die dem sowjetischen Außenhandelskommissariat unterstehende ‚Rasno-Export-Agentur‘) Mittel des ‚Geldüberhangs‘ an sich zu ziehen, um mit ihnen Gold, Silber und andere devisenähnliche Werte zu erwerben, sofern der Verkauf nicht direkt gegen solche Werte erfolgte. Die Zigarettenherstellung für diese Zwecke ist im Herbst 1947 auf etwa 13 Millionen pro Tag geschätzt worden. Davon soll die Hälfte exportiert und die andere Hälfte auf dem deutschen Markt abgesetzt worden sein. Der Verkaufspreis betrug im Großhandel durchschnittlich etwas über 1 RM je Zigarette, die Herstellungskosten wurden auf 5 RM je 1000 Stück geschätzt. Ende 1947 ist der Verkauf anscheinend beschränkt, ja teilweise sogar eingestellt worden“.30 Aufwendungen für die Besatzungsmächte und Sozialprodukte. „Die Angaben über das Sozialprodukt sind das Ergebnis neuerer Berechnungen, die im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hauptsächlich von F. Grünig durchgeführt wurden. Es wir überraschen, daß die Ziffern wesentlich höher sind als üblicherweise angenommen wird. In der Regel ist das Sozialprodukt für 1946/47 bisher auf kaum mehr als 36 Mrd. RM geschätzt worden; einzelne Schätzungen kamen sogar zu noch niedrigeren Beträgen. Demgegenüber hat das Institut bereits im Frühjahr 1947 darauf hingewiesen, daß nach den Ergebnissen der Umatzsteuerstatistik das Sozialprodukt schon im Kalenderjahr 1946 kaum weniger als 48 Mrd. RM betragen haben müsse.31 Etwa gleichzeitig gelangte eine im Rahmen der Finance Division des OMGUS von Otto R. Donner in Anlehnung an die Methoden des Statistischen Reichsamts durchgeführte Berechnung zu annähernd demselben Resultat. 32 Neueres Material hat nun ergeben, daß selbst diese Schätzungen noch zu niedrig waren

30 Ebd., S. 130, 132 f. 31 Grünig, F.: „Die Wirtschaftstätigkeit nach dem Zusammenbruch im Vergleich zur Vorkriegszeit (Statistischer Bericht)“, in der vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung herausgegebenen Schrift: „Die deutsche Wirtschaft zwei Jahre nach dem Zusammenbruch“. Berlin 1947, S. 70. 32 Donner, Otto R.: „Das Volkseinkommen Deutschlands 1946“ (nur als Manuskript vorliegend; datiert: 12. März 1947).

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und für das Haushaltsjahr 1946/47 mit einem Sozialprodukt von rund 55 Mrd. RM (in Zeitwerten) gerechnet werden kann.33 […] Vergleicht man das Verhältnis der Besatzungslasten zum Sozialprodukt, so sollte immer im Auge behalten werden, daß das Sozialprodukt seinem Realwert nach heute außerordentlich niedrig ist. Selbst wenn nur die offizielle Preissteigerung berücksichtigt wird, betrug es 1946/47 pro Kopf der Bevölkerung höchstens 50 RM gegen 700 RM im Jahre 1932 und 1000 RM im Jahre 1936 (‚Altreichsgrenzen‘). Unter Berücksichtigung der Qualitätsverschlechterung vieler Waren und versteckter Preiserhöhungen war der Rückgang der Realeinkommen aber sicher noch viel stärker. An Industriewaren jedenfalls wurden 1946/47 pro Kopf der Bevölkerung nur etwa ein Drittel so viel erzeugt wie 1936. Je niedriger das Einkommen ist, eine um so empfindlichere Belastung aber bedeutet ein bestimmter prozentualer Abzug“.34 6. Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in den Westzonen / BRD (1939 bis 1950) und in der SBZ / DDR (1939 bis 1958) 6.1. Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in den Westzonen / BRD (1939-1950) Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem deutschen Angriff auf Polen. In der Bewirtschaftung sind zeitlich drei Abschnitte erkennbar: a) Kriegszeit (1939 bis 1945) b) Zusammenbruch bis Währungsschnitt (1945 bis 1948) c) Derationierung in den Westzonen (1948 bis 1950), Derationierung in der Sowjetisch besetzten Zone (1948 bis 1958) „Damals wie heute ging es darum, eine Regelung des Verkehrs vom Erzeuger über Groß-, Mittel und Kleinhändler bis zum letzten Verbraucher zu schaffen, wozu man der Lebensmittelbedarfsnachweise bedurfte. Die Einzelabschnitte glichen kleinen Schecks, die statt auf Geld auf Lebensmittel oder andere Waren lauteten. Obwohl zum Erwerb der Güter zusätzlich Geld benötigt wurde, wohnte ihnen ein eigener Geldwert inne, wie es die Vorgänge am Schwarzen Markt bewiesen haben. Mit einer Eintragung in Kundenlisten kam man nicht aus, weil eine Kontrolle von erhaltener und abgegebener Ware nicht möglich war und neben anderen Nachteilen der Kunde unter Umständen der Willkür des Lieferanten ausgesetzt gewesen wäre. Die Grundlage der Bewirtschaftung bildete die ‚Verordnung über die öffentliche Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Erzeugnisse‘ vom 27. August 1939. Sie regelte im ersten Teil Organisation und Zuständigkeit der Behörden, während der zweite Teil sich mit dem Kartenwesen, den Selbstversorgern, der Versorgung der 33 H. Strathus soll in einer dem Verfasser nicht zugänglich gewesenen Arbeit das Volkseinkommen für 1946 und 1947 sogar auf 63 Mrd. RM geschätzt haben. 34 Wolf, Eduard: Aufwendungen, S. 137.

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Wehrmacht, des Arbeitsdienstes und anderer Einheiten, der Beschlagnahme aller bewirtschafteten Nahrungsmittel sowie den Rechten und Pflichten der Erzeuger, der be- und verarbeitenden Betriebe und den Verbrauchern befaßt. Vom gleichen Tage war die ‚Verordnung über die Wirtschaftsverwaltung‘. Diese bis ins Einzelne gehenden Verordnungen fanden ihre Ergänzung in der Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 und der Verbrauchsregelungs-Strafordnung mit ihren Ergänzungen. Die Versorgungsregelung für die Übergangszeit der ersten vier Wochen war in der ‚Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des Lebensbedarfs des Deutschen Volkes‘ vom 27. August 1939 festgelegt, die am 25. September 1939 wieder außer Kraft trat und durch endgültige Maßnahmen vom 7. September 1939 ersetzt wurde“.35 Im Frühjahr 1945 kam es zum Zusammenbruch der Lebensmittelbewirtschaftung, der Kürzung der Lebensmittelrationen und dem Aufblühen des Schwarzmarktes.36 Nach der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 kam die zentrale Reichsstelle für die Bewirtschaftung in Berlin in Fortfall. Die englische und die amerikanische Militärregierung übertrugen schon frühzeitig die Aufgaben der Zentralbehörde auf die Länder, so daß sich in der US-Zone ein Länderrat bildete. „Der Ende 1946 zustande gekommene Zusammenschluß der englischen und amerikanischen Besatzungszone unter gemeinsamer Verwaltung entsprach wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Auf Anregung der USA kam es am 5. September 1946 zu amerikanisch-britischen Vereinbarungen über die Wirtschaftliche Vereinigung der beiden Besatzungszonen ab 1. Januar 1947: Vereinigte US- und britische Besatzungszone = Vereinigtes Wirtschaftsgebiet (VWG). Durch ein von den beiden Militärregierungen in Kraft gesetztes Abkommen zwischen den Ländern der amerikanischen Zone und den wirtschaftlichen Zonenämtern der britischen Zone wurden im Herbst 1946 u. a. der Ernährungs- und Landwirtschaftsrat (ebenso auch der Verwaltungsrat für Wirtschaft) errichtet. Die Währungsreform in den 3 Westzonen am 20. Juni 1948 leitete einen neuen Abschnitt ein. Die Ernährungslage änderte sich allmählich im positiven Sinne. Das EA (Ernährungsamt) konnte mit mehr Sicherheit arbeiten, da die dekadenweise zum Aufruf kommenden Lebensmittel auch restlos ausgeliefert werden konnten und die früher fast täglich notwendigen Umdisponierungen im Aufruf fortfielen. Diese Änderung der Situation war selbst von den größten Optimisten nicht erwartet worden. Im Juni 1948 kam endlich das seit Monaten erwartete Gemüse aus Holland, und zwar in solch reichlichem Maße, daß sogar vorübergehend ein freier Verkauf wegen der Verderbgefahr stattfinden mußte. Auch inländische Gartenbauerzeugnisse einschl. Edelgemüse wurden angeboten. In den Lebensmittelgeschäften waren

35 Schmitz, Hubert: Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950. Dargestellt an Beispielen der Stadt Essen, Essen 1956, S. 3. 36 Ebd., S. 228.

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alle Warenarten im Rahmen der Rationierung zu haben, wobei zeitweilig das Angebot die Kartenansprüche überschritt. Der Begriff ‚Mangelware‘ gehörte der Vergangenheit an. In der Sitzung des Wirtschaftsrates am 3. Dezember 1948 erklärte der Leiter der Ernährungsverwaltung Schlange-Schöningen u. a.: ‚[...] Ich möchte einmal wissen, wieviel andere Völker es wohl gibt, die mit ihrer Moral trotz aller Not so ausgehalten haben wie die deutschen Verbraucher, und ich mache darauf aufmerksam, daß der beste Beweis für diese These die Tatsache ist, daß von dem Augenblick an, wo die Menschen einigermaßen satt geworden sind, alles Bestehlen von Eisenbahnzügen, alles Berauben von Feldern usw. so gut wie ganz aufgehört hat […]‘. Auch nach dem Währungsschnitt mußte die Rationierung bei fast allen Lebensmitteln beibehalten werden, wenn auch einzelne Warenarten freigegeben werden konnten. Bei den übrigen der Bewirtschaftung noch unterliegenden Nahrungsmitteln konnten die Rationssätze nicht gleich erhöht werden, ja es traten noch empfindliche Mangellagen bei der einen oder anderen Warenart auf. Immer häufiger ergaben sich im Handel Spitzenmengen bewirtschafteter Lebensmittel. Sie reichten meist nicht für eine allgemeine Rationserhöhung aus. Wenn es sich hierbei um verderbgefährdete Waren (insbesondere Wurst und Käse) handelte, mußte das Landesernährungsamt bzw. die EA diese markenfrei an Großverbraucher (Krankenanstalten, Werk- und Großküchen) abverfügen. Waren die Mengen so groß, daß sie für eine allgemeine Verteilung ausreichten, und handelte es sich um nicht-lagerfähige Ware, so wurden durch zentrale Bewirtschaftungsstellen Sonderaufrufe erlassen. Bei Sauermilchkäse und Fisch bestand wiederholt örtlich ein Bedürfnis zu einem weitergehenden Aufruf solcher nicht lagerfähiger Ware, der dann mit Zustimmung des LEA erfolgte. Reichten die Mengen für die gesamte Bevölkerung nicht aus, so hatte der Aufruf eines Sonderabschnittes der entsprechenden Lebensmittelkarte nicht den Charakter einer zusätzlichen Rationsmenge, sondern einer Warenlenkung. Für die deutsche Versorgung war der 22. August 1949 wichtig, als der Marshallplan-Administrator Hoffmann die volle Teilnahme der Bundesrepublik am Marshallplan verkündete. Mit der Normalisierung der Versorgungslage nahm der Schwarzmarkt, der auch nach dem Währungsschnitt noch blühte, stetig an Bedeutung ab. Die verbesserte Ernährungslage führte zur schrittweisen Aufhebung der Bewirtschaftung. Da die formale Aufhebung der Bewirtschaftung vielfach erst einige Monate später ausgesprochen wurde, kann der Verzicht auf Einreichung der Abrechnung seitens der Kleinverteiler als Ende der Bewirtschaftung angesehen werden. Meilensteine auf diesem Wege war die Umstellung von der 14tägigen auf die monatliche Abrechnung des Kleinhandels ab 1. August 1949 durch Bevorratung (Ausstellung zusätzlicher Bezugscheine), ab 1. Dezember 1949 erhielten Gaststätten Bezugscheine für Butter, Handelsfette und Zucker ohne Abrechnungspflicht, ab 1. Februar 1950 kein Rationsaufruf mehr, praktisch die Aufhebung der Rationierung bewirtschafteter Erzeugnisse, formal mit Ausnahme des Zuckers.

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Die Freigabe der Lebensmittel in der Bundesrepublik begann zu einer Zeit, als in den Siegerländern und der Ostzone noch an der Bewirtschaftung im vollen Umfange festgehalten wurde. In Großbritannien wurden die Reste der dortigen Rationierung nach 14 Jahren mit dem 3. Juli 1954 aufgehoben“.37 6.2. Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter in der SBZ / DDR (1939-1958) Sowjetisch besetzte Zone Deutschlands. Im 76. bis 81. Versorgungszeitraum (VZ) „erschienen Karten, in Anlehnung an die letzte Reichskarte mit einem schrittweisen Ausbau der Aufrufabschnitte zu solchen mit Mengenangabe, als örtliche Ausgaben. Daneben sind in der Zeit vom 78. bis 80. VZ Karten gleicher Art mit dem Aufdruck ‚Thüringen‘ festzustellen. Ab November 1945 wurden in den 5 Ländern der russischen Zone (Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen) Karten in der dort üblichen Einteilung ausgegeben. Man unterschied die Kategorien I und II, jeweils mit 6 Stufen, so daß es monatlich 12 verschiedene Karten (I/1 bis I/6 und II/1 bis II/6) gab. Die Stufen lauteten: 1. Schwerstarbeiter 2. Schwerarbeiter 3. Arbeiter

4. Angestellte 5. Kinder bis zu 15 Jahren und Schüler 6. sonstige Bevölkerung

Außer diesen üblichen Gruppen sah man vereinzelt auch Karten mit der Stufe: 6a Invalide Personen über 60 Jahre. Die Karten hatten, bei einer monatlichen Laufzeit, das Riesenformat DIN A 4 und waren mit Kontrollabschnitten für den nächsten Kartenempfang ausgestattet. Mit der Zeit kam man zu einer Verkleinerung der Karten bis auf DIN A 5. In der grundsätzlich gleichen Art mit geringen Abweichungen gab es Karten für das ‚Land Thüringen‘, die ‚Provinz Sachsen‘, die ‚Provinz Sachsen-Anhalt‘, das ‚Land bzw. Bundesland Sachsen‘, das ‚Bundesland Mecklenburg-Vorpommern‘ und die ‚Provinz Mark Brandenburg bzw. das Land Brandenburg‘.38 Das Mißverhältnis von Produktionsmöglichkeit und Verbrauch verschob sich noch weiter zu Ungunsten des Westens durch die Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostprovinzen und dem Ausland sowie mehrerer Millionen ‚verschleppter Personen‘ (DPs). Der Westen hatte nur 45 % des Ackerlandes, aber 73 % der Bevölkerung des Reiches. Einer völlig intakten heimischen Landwirtschaft wäre es nicht möglich gewesen, eine solche Bevölkerungsmasse zu ernähren, noch viel weniger konnte das gelingen, da die Landwirtschaft des Westens durch unmittelbare Kriegsauswirkungen in ihrer Erzeugungskraft schwer getroffen war und sie unter dem Mangel an Saatgut, Düngemitteln, Vieh und Maschinen litt. Die Bevölkerungsdichte mit 7,23 Einwohnern auf 1 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche gegen37 Ebd., S. 3, 571. 38 Ebd., S. 67.

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über dem Durchschnitt der britischen Zone zeigt die besonders geringe Nahrungsgrundlage des Industriebezirks. Daher waren auch nur etwa 10 % der Bevölkerung der Nord-Rheinprovinz Voll- oder Teilselbstversorger, während 14 % als Zulageempfänger zusätzlich zu versorgen waren, wobei der Bergbau vorweg sichergestellt werden mußte. Niedersachsen hatte im Gegensatz zu unserem Bezirk 34 % Vollund Teilselbstversorger und nur 8 % Zulageberechtigte. Dazu kam, daß die Bevölkerung der Großstädte, besonders die der Stadt Essen, rapide wuchs. Ohne nach Unterkunft und Versorgungsmöglichkeiten zu fragen, kehrten die Evakuierten zu Tausenden in ihre Trümmerheimat zurück“.39 Ration: „bedeutet allgemein ‚Maß‘, ‚Portion‘, dann besonders die dem einzelnen in Not- und Kriegszeiten zukommende beschränkte Menge an Lebensmitteln und anderen Verbrauchsgütern“.40 Rainer Gries hat den Versorgungskampf und die Vergleichsmentalität der „Rationen-Gesellschaft“ vergleichend für die Städte Leipzig, München und Köln aufgearbeitet.41 Er resümiert: „Die bayerische Landeshauptstadt München stand noch vergleichsweise gut da. Am Ende des Krieges hatte sie zwar gelitten, war aber längst nicht zu einem unübersehbaren Trümmerfeld zerbombt wie etwa Köln. Wenige Wochen nach ihrem Einmarsch hatten die Amerikaner ihre föderalen Absichten in die Tat umgesetzt: Bereits im Mai 1945 schufen sie sich mit der bayerischen Landesverwaltung einen verantwortlichen obersten Ansprechpartner. Ohne zu zögern installierten die Pragmatiker in ihrer Zone unangefochtene und weisungsbefugte Verwaltungen. Solch bruchlose Kontinuität sicherte Effizienz: Die Strukturen der von den Nationalsozialisten aufgebauten Versorgungsverwaltung blieben unangetastet, mit ihnen überlebte im Westen das nach dem Lebensalter gestaffelte Rationierungssystem. Die erste empfindliche Versorgungskrise kam für die Münchner vergleichsweise spät: erst im Frühjahr 1946 wurde das Brot gefährlich knapp. Es dauerte fast noch ein weiteres Jahr, bis die Bayern wirklich das ganze, lebensbedrohliche Ausmaß der Versorgungskrise am eigenen Leib wahrnahmen – eine bittere Erfahrung, welche die anderen beiden Städte schon seit 1945 machen mußten. Schließlich mangelte es 1947 an Brot und an Kartoffeln, den beiden hauptsächlichen Kalorienträgern. Gleichwohl, München hatte gegenüber Köln und Leipzig große Standortvorteile: Unangefochten regierte die Isarmetropole wie ehedem die bayerischen Agrarlandschaften, München blieb Umschlagplatz der Warenströme und Mittelpunkt Bayerns. Die große besatzungspolitische Alternative ‚–Prinzip oder Effizienz?‘ hatten Deutsche und Amerikaner, die beiden Münchner Besatzungspartner, einmütig und eindeutig beantwortet. In der US-Zone triumphierte die ökonomische und politische Effizienz.

39 Ebd., S. 364. 40 Pfeiffer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3. Aufl., München 1997, S. 1087. 41 Gries, Rainer: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität: Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991.

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Das Hungerjahr 1947 desavouierte nicht nur in den Augen der Bayern den wirtschaftlichen Zusammenschluß des britischen mit dem amerikanischen Besatzungsgebiet. Köln und Leipzig lagen in mancher Hinsicht näher beieinander als Köln und München. Beide Handelsstädte mußten sich gegen die harte Konkurrenz nahegelegener Industriereviere behaupten, die womöglich gezielt von der Besatzungsmacht bevorzugt wurden. So hatte die rheinische Metropole regelmäßig das Nachsehen gegenüber den Arbeiterstädten des Ruhrgebietes und gegenüber Düsseldorf, der aufstrebenden Nachbarstadt. Im Gegensatz zu Köln konnte Leipzig allerdings einen wuchtigen Trumpf ausspielen: Als unbestrittene Messemetropole und damit als Tor zum Westen war sie die bedeutendste Stadt der sowjetischen Besatzungszone, den Ostteil Berlins ausgenommen. Zumindest zu Messezeiten war es also umgekehrt: Um das Leistungsvermögen der ostdeutschen Wirtschaft unter sichtbaren Beweis zu stellen, wurden auf Kosten anderer sächsischer Städte die Regale in Leipzig aufgefüllt. Hinzu kommt, daß sowohl Amerikas Juniorpartner, die Briten, wie auch ihr Gegenpart, die Sowjets, am Ende des Krieges dem finanziellen und wirtschaftlichen Ruin ins Auge sehen mußten, beide standen tief verschuldet in der Kreide der Vereinigten Staaten. Nahrungsmittelhilfe konnten diese beiden Siegermächte aus eigener Kraftanstrengung nicht oder nur in geringem Umfang leisten. Allein die Amerikaner galten dann im Zonendeutschland als die Gebenden. Die Besetzten warfen die Briten zusammen mit den Franzosen und den ‚Russen‘ in den Topf der Ausbeutenden, der Nehmenden, ungeachtet der drückenden finanziellen Aufwendungen des britischen Steuerzahlers. Es waren die Leipziger und die Kölner, welche die schlimmsten Versorgungserfahrungen nach dem Kriege machen mußten: Weite Bevölkerungskreise, angewiesen allein auf die Normalverbraucherkarte, vegetierten in beiden Städten monatelang bei ‚Friedhofsrationen‘ um 800 Kalorien pro Tag. Das östliche System kopierte die sowjetischen Verhältnisse und verteilte die Lebensmittel nicht nach dem physiologischen Bedarf, also dem Schweiß, der bei der Arbeit floß, sondern nach der gesellschaftlichen Relevanz des Verbrauchers. Diese Arbeit zeigt, wie weit beide Systeme davon entfernt waren, auch nur eine halbwegs ‚gerechte‘ Verteilung zu gewährleisten. Die hoch differenzierte ostzonale Versorgungshierarchie, die mit voller Absicht gerade die körperlich Arbeitenden, die ‚Werktätigen‘, also die vorgebliche Klientel der SED, kräftig benachteiligte, war in der Sowjetzone keineswegs akzeptiert und stellte auch für die vielen Unzufriedenen im Westen keine erstrebenswerte Alternative dar. Zwar hatte man in der sowjetischen Besatzungszone bereits 1945 große Umstrukturierungen im Versorgungswesen vorgenommen. So wurden die Institutionen des Reichsnährstandes hier konsequent aufgelöst, und die beiden Verwaltungsstränge (Erfassung und Verteilung) wieder entflochten. Die neuen Machthaber brachen den dominierenden Einfluß der Bauern auf die Versorgungsadministration. Wer sein Ablieferungssoll nicht erreichte, mußte in der Sowjetzone anfangs mit Gefängnisstrafen rechnen. Jedoch, das neue System der ‚Lieferanweisungen‘ richtete sich nicht etwa nach dem Bedarf der Verbraucher. Es setzte beim Produzenten an und verfuhr blindlings ‚von oben nach unten‘. Bei diesem, die Wünsche und

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Bedürfnisse des Konsumenten mißachtenden Verständnis von ‚Planwirtschaft‘ sollte es fortan bleiben. Den Leipzigern blieb der Weg auf die Straße verwehrt. Sie nutzten die ersten, noch relativ freien Nachkriegswahlen, um ihrem Unmut über die ‚Russenpartei‘ SED und über ihre schlechte Versorgung zum Ausdruck zu bringen. In sächsischen und thüringischen Industriestädten, in welchen zu Zeiten der Weimarer Republik die beiden Arbeiterparteien dominiert hatten, gingen Christdemokraten und Liberaldemokraten als Wahlsieger hervor. Daß die beiden bürgerlichen Gruppierungen die Einheitspartei überflügeln konnten, zeugt auch davon, daß das Konzept eines Modell-Deutschland auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone nicht wahrgenommen worden war – weder im ‚roten Sachsen‘, dem Musterland, noch in Leipzig, dem Messe-Aushängeschild der Zone. Auch die Möglichkeit, sich per Stimmzettel womöglich kritisch zu Wort zu melden, wurde den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Osten von jetzt an genommen. Die erste Abstimmung nach dem Kriege in München war richtungsweisend. Die Bewohner der Bayernmetropole waren aufgerufen, sich zu entscheiden, ob sie künftig ihr Obst und Gemüse beim ambulanten Handel oder im ‚stationären‘ Einzelhandel beziehen wollten. ‚Gewählt‘ wurde, wer eine vorteilhaftere Versorgung versprechen konnte: eine frühe Einübung in die Konsumdemokratie der fünfziger Jahre. Für eine hoffnungsvolle Zukunft inmitten der düsteren Versorgungstristesse standen die Schulspeisungen und die hochwertigen US-Markenprodukte, die – wie schon nach dem Ersten Weltkrieg – ab und an zur Verteilung kamen“.42 Der Zeitzeuge Erich W. Gniffke bestätigt die Forschungsergebnisse von Gries: Hunger, Krankheit und „Pajoks“. „Schon Ende Mai 1945 war Anastas Mikojan, damals Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR, nach Berlin gekommen, um sich über die Versorgungslage zu unterrichten, nachdem die ‚Prawda‘ geschrieben hatte, ‚dem Sowjetkommando waren von den Soldaten und Offizieren der Roten Armee eine Reihe von Meldungen zugegangen über die unzureichende Lebensmittellage der Bevölkerung der Stadt Berlin‘. Die Sowjets setzten Hausobleute ein, deren vordringlichste Aufgabe darin bestand, die Unterlagen für eine neue Einwohnerkartei zu schaffen, um daraufhin beschleunigt Lebensmittelkarten auszugeben; die alte Einwohnerkartei war von den Nazis vollständig vernichtet worden. Die Besatzungstruppen schafften Lebensmittel und vor allem Mehl heran. Fahrzeuge der Roten Armee lieferten die Waren an die Geschäfte, die die Verteilung übernahmen. Dennoch blieb die Ernährungslage lange Zeit hindurch äußerst kritisch. Die Sowjets hatten ein mehrstufiges Kartensystem eingeführt, das die Hausfrauen an letzter Stelle einstufte. Infolge der Zerstörung aller hygienischen und sanitären Einrichtungen und Anlagen hatte nach Kriegsende die Seuchengefahr außerordentlich zugenommen. 42 Ebd., S. 323 ff.

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Sämtliche 87 Pumpwerke der Abwässerbetriebe standen viele Wochen still. Da auch das Rohrnetz der Berliner Trinkwasserversorgung zum größten Teil zerstört war, mußte das Trinkwasser eine Zeitlang von einzelnen in der Stadt vorhandenen Pumpen geholt werden. Was alle befürchteten, trat sehr bald ein: Der Tod durch Ruhr und Typhus hielt grausame Ernte. Den Höhepunkt erreichte die Ruhrepidemie in der dritten Juliwoche 1945 mit rund 2.500 Neuerkrankungen. Die Typhusepidemie zeigte an ihrem Kulminationspunkt einen wöchentlichen Zugang von 900 Fällen. Von den rund 33.000 Krankenbetten der Vorkriegszeit standen nur noch 8.500 zur Verfügung, von 6.500 Ärzten waren nach der Kapitulation nur noch 2.400 in Berlin. Die Todeskurve war von 13,5 im Jahre 1939 auf 53,5 je Tausend hinaufgeschnellt; die Kindersterblichkeit von 5,8 auf 36,2 je Tausend. Aber auch die Erkrankungen an Lungenentzündung und Tuberkulose, Herzkrankheiten, Erkrankungen der Gefäße nahmen erschreckend zu. Im Juli 1945 arbeiteten in Berlin wieder 600 Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten gegenüber rund 40.000 der Vorkriegszeit. Von den damals 60.000 Handwerksbetrieben waren 19.000 übriggeblieben. Am besten ernährt wurden jetzt die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die Künder der klassenlosen Gesellschaft. Abgesehen davon, daß jedes Komiteemitglied einen Generalspajok – ein wöchentliches Lebensmittelpaket analog der Zuteilung an sowjetische Generale – erhielt, war im Haus des Zentralkomitees in der Wallstraße eine Küche eingerichtet worden, die täglich drei unterschiedliche Menüs zu liefern hatte. Für die Parteisekretäre: Suppe, Vorgericht, Fleischgericht und Nachspeise, dazu Rot- oder Weißwein oder andere Getränke. Ein zweites, etwas bescheideneres Essen für die Referenten und Abteilungsleiter und ein Eintopfessen für die übrigen Angestellten. Wir wunderten uns bei unseren Besuchen weniger über die opulente Mahlzeit, zu der wir bei längerer Sitzungsdauer eingeladen wurden, als über die Tatsache, daß die hier tätigen Kommunisten an der Dreiteilung, die nach unserem Empfinden aufreizend war, keinen Anstoß nahmen. Auch in unserem Parteihaus war sogleich eine große Küche eingerichtet worden. Enttäuschungen in Sachsen. Meine zweite Reise führte mich im September 1945 nach Sachsen. Ich reiste über Elsterwerda. Hier tat ich zum erstenmal, was ich später auf jeder Reise zur Gewohnheit werden ließ: ich hielt irgendwo unangemeldet, um das Leben, den Alltag auf dem Lande und in den Kleinstädten, ein halbes Jahr nach der Kapitulation kennenzulernen. War die Not in Berlin schon groß, in der Zone herrschte bitterstes Elend. In Elsterwerda täuschte mein Fahrer, den ich vorher verständigt hatte, eine Panne vor. In Begleitung von Hauptmann Popow suchte ich den Ortskommandanten auf, um Quartier zu erbitten. Popow palaverte mit ihm, und dann verließen beide das Zimmer. Ich blieb allein zurück. Nach geraumer Zeit erschien der Kommandant freudestrahlend, in seiner Begleitung der Dolmetscher, den er suchen gegangen war.

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Erst jetzt begrüßte er mich und rückte sofort mit dem Vorschlag heraus, alle Einwohner zu einer Versammlung zusammenzurufen. Es war 18 Uhr. Ich lehnte ab. Er, hartnäckig: ‚Du wirst sehen, große Versammlung‘. Ich lehnte wieder ab und ließ auch nicht zu, daß er den Ortsvorsitzenden der SPD heranholte. In meinem Hotelzimmer, in das man mich gebracht hatte, war außer zwei Betten nichts vorhanden. Früher war das Hotel eines der ersten Häuser im Ort gewesen, heute war es ausgeraubt. Und auch die Wirtsleute konnten mir nichts geben, sie besaßen selbst nur noch das Notdürftigste. Natürlich erhielt ich Bettzeug und ausreichend Wäsche, dafür sorgte der Kommandant aus ‚seinen Beständen‘. Dann suchte ich den Ortsvorsitzenden der SPD auf. Er freute sich sehr, hätte mich auch gern zum Essen eingeladen, aber er hungerte und darbte mit seiner Familie. ‚Und die Kommunisten?‘ fragte ich ihn. ‚Ja, da gibt es drei Sekretäre in dieser Kleinstadt. Sie gehen bei dem Kommandanten aus und ein und bekommen von ihm alles, was sie brauchen‘. Verbittert berichtete er weiter: ‚Seit Monaten haben wir nicht ein Gramm Fett bekommen. Dabei haben wir hier eine Großmolkerei. Dort lagert die Butter aus der Erzeugung des ganzen letzten Vierteljahres. Ein großer Teil ist schon ranzig. Nur Teilmengen wurden bisher abgegeben an Truppenteile und an Stäbe, an den Kommandanten und an die kommunistischen Sekretäre und Stadträte‘. Ich erkundigte mich, wie die Bevölkerung zur Besatzungsmacht eingestellt sei. ‚Wir leben in einer kleinen Stadt. Einer weiß vom anderen, und alles, was hier vorgeht, wird beredet. Durch die Truppen ist es immer unruhig. Wenn es dunkel wird, geht keine Frau mehr auf die Straße. Dann kommen die Einbrüche von den Deserteuren, die sich zu Banden zusammengeschlossen haben und die ganze Gegend unsicher machen. Die Kommunisten haben für alles eine Entschuldigung, und dafür hat die Bevölkerung kein Verständnis‘. Schon von meiner Reise durch Mecklenburg wußte ich, daß Elsterwerda keine Ausnahme war. Und das bestätigte sich auf allen späteren Stationen“.43 7. Der Schwarzmarkt in den drei Westzonen und der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands 7.1. Der Schwarzmarkt in den Westzonen Die monetären Verhältnisse in den Westzonen: „Das monetäre Erbe der unmittelbaren Nachkriegszeit läßt sich aus dem Erscheinungsbild der zurückgestauten Inflation leicht ableiten: Der inneren ‚Überschuldung‘ des Staates stand die ‚Überliquidität‘ des privaten Sektors gegenüber. Diese Überliquidität (Geldüberhang) zeigte sich als Bargeldumlauf und in der Form der Bankguthaben. Rechnet man zu den ca. 73 Mrd. RM Bargeldumlauf bei Kriegsende Sparguthaben von rd. 125 Mrd. 43 Gniffke, Erich Walter: Jahre mit Ulbricht, Köln 1966 und 1990, S. 58 f., S. 77 f.

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RM und sonstige Bankguthaben von nochmals etwa 100 Mrd. RM, so ergibt sich ein Gesamtbestand von fast 300 Mrd. RM an liquiden Mitteln“.44 Dazu kam das Besatzungsgeld (Militärmark) von 12 Mrd. RM. Die Wirkung des Geldüberhangs: Bereits vor der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 versagte das staatliche Bewirtschaftungs- und Kontrollsystem auf vielen Gebieten. „In besonders auffälliger Weise zeigte sich dieser Zusammenbruch der offiziellen Zahlungs- und Bewirtschaftungssysteme an der Blüte der sog. Zigarettenwährung. Diese Währung, die ihren Siegeszug bereits 1941 in den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten ebenso wie in Deutschland begonnen hatte (charakteristischerweise aber zur gleichen Zeit beispielsweise auch in England aufgekommen war), war entstanden ‚aus dem unabweisbaren Bedürfnis der Besatzungstruppen nach einem universell verwendbaren, billigen und einheitlichen Wertübertragungsmittel für den Handelsverkehr mit der Bevölkerung‘; sie entwickelte sich jedoch darüber hinaus zu einer Währung auch für Transaktionszwecke zwischen Deutschen. Sie war in der Lage, alle Geldfunktionen zu erfüllen und eroberte sich ihren Platz überall neben den bestehengebliebenen offiziellen Währungssystemen und Geldformen, wenn auch ihr Geltungsbereich örtlich und zeitlich differierte. In Deutschland jedenfalls rechnete man bereits in den letzten Kriegsjahren im (unerlaubten) Tauschhandel vorzugsweise über die Zigarette als Wertmaßstab, und teilweise entwickelte sich die Zigarette auch selbst zum eigentlichen Tauschmittel. So nahm am Marktmittelpunkt der Nachkriegszeit, in Frankfurt a. M., sogar die offizielle deutsch-amerikanische Tauschzentrale, gewissermaßen als zentrale Clearingstelle, Zigaretten als Tauschobjekt an. Diese Tauschzentrale bot für eine Packung Zigaretten das Zweieinhalbfache des US-Einkaufspreises; daher folgte prompt ein beachtlicher Anstieg der Zigarettenverschiffungen aus den USA, auf die allein in der amerikanischen Zone mehr als die Hälfte aller Postpakete aus den Vereinigten Staaten entfiel. Bemerkenswerterweise aber vermochte selbst das reichliche Angebot den Kurswert der Zigaretten nicht merklich herabzudrücken; die fundamentale Besonderheit der Zigarettenwährung lag, wie Schmölders hervorhebt, eben darin, daß sie als Geldeinheit automatisch aus dem Verkehr verschwand, sobald sie ihren Dienst als Tauschmittel getan hatte und ihrer eigentlichen Bestimmung (dem Verbrauch) zugeführt wurde. Dadurch war sie zwar als Währung besonders kostspielig, gleichzeitig jedoch inflationsfest und in erstaunlichem Maße kursstabil. Geldtheoretisch betrachtet eine typische Notlösung – eine Währung ohne Geldkreislauf –, funktionierte die Zigarettenwährung dennoch reibungslos, solange sich die deutsche Wirtschaft im Zustand der allgemeinen Agonie der ersten Nachkriegsjahre befand. War es während des ersten Jahres der Besatzungszeit noch gelungen, ‚hier und da die Produktion durch Rückgriff auf restliche Lagervorräte teilweise aufrechtzuerhalten‘, so sank die Ausnutzung der verbliebenen Industriekapazität in der zweiten Jahreshälfte 1946 auf 20 %. Auch die Arbeitsleistungen waren – trotz 44 Deutsche Bundesbank: Währung und Wirtschaft in Deutschland 1976-1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 418.

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einer offiziellen Beschäftigungsquote von 90 % – auf die Hälfte des Jahres 1938 gesunken; die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern wurde katastrophal. Gleichwohl gab es kaum Arbeitslose, da die westdeutsche Bevölkerung ,tauschend‘ umherreiste“.45 Der Schwarze Markt ist von Thaddäus Troll46 anschaulich geschildert worden. „‚Wenn wir sehen könnten, was an uns schwarz ist‘ […] steht unter einer witzigen Zeichnung, die dieser Tage in einer Berliner Zeitschrift veröffentlicht wurde. Die Zeichnung schildert ein Stück Straßenleben: da ist eine Dame, an der nichts weiß ist als Hände, Gesicht und Haare. Der Herr an ihrer Seite trägt einen schwarzen Schlips, schwarze Hosenträger und schwarze Sockenhalter. Ueber die Straße geht ein Mann mit schwarzem Paß und schwarzer Uhr, der aus einer schwarzen Zigarette schwarzen Rauch in die Luft pafft. Das Kindermädchen trägt eine schwarze Bluse, und das immerhin weiße Kind liegt in einem schwarzen Kinderwagen. Der Radfahrer besitzt einen schwarzen und einen weißen Reifen, und in seinem Rucksack ist schwarzes Gemüse. Ein schwarzes Auto biegt um die Ecke, und aus seinem Auspuff qualmen die Dämpfe schwarzen Benzins. Ein Herr trägt drei schwarze Ringe an der Hand und zwei schwarze Goldkronen im Mund. Der Maler bemalt mit schwarzer Farbe die Fassade einer Bar mit schwarzen Fensterscheiben. Der Polizist trägt schwarze Schuhe, und vor dem Kohlenwagen fressen friedlich und gemeinsam ein schwarzes und ein weißes Pferd schwarzen Hafer. Die Kohlen, die in das mit schwarzen Ziegeln gedeckte Haus getragen werden, sind schwarz. Der weiße Schornsteinfeger benützt eine schwarze Leiter, und schwarze Tauben sitzen auf dem mit schwarzen Backsteinen reparierten Haus. Die Zeiger der Kirchturmuhr sind schwarz und im Restaurant wird schwarzes Essen auf weißen Tellern serviert, während aus dem schwarzen Rundfunkgerät die Rhapsodie in Blue ertönt. Der Schwarze Markt trägt einen Janus-Kopf. Auf der einen Seite sind seine wirtschaftlichen Auswirkungen destruktiv, seine menschlichen Auswirkungen demoralisierend. Auf der anderen Seite sind unsere Lebensbedingungen so schwer, daß der Schwarze Markt für viele Menschen lebensnotwendig geworden ist, daß er 45 Ebd., S. 422 f. 46 Troll, Thaddäus, eigentl. Hans Bayer, Schriftsteller, Übersetzer, * 18.3.1914 Bad Cannstatt (heute zu Stuttgart), † 5.7.1980 Stuttgart. Der Sohn eines Handwerkers studierte seit 1932 Germanistik, Kunstgeschichte, Theater- und Zeitungswissenschaften in Tübingen, München, Halle und Leipzig, wo er 1938 zum Dr. phil. promoviert wurde. Nach der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg und der Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft wurde er 1946 Redakteur der satirischen Zeitschrift „Das Wespennest“. Seit 1948 lebte Troll als freier Schriftsteller in Stuttgart. Er war Gründungsmitglied des Verbandes Deutscher Schriftsteller. Unter seinem eigentlichen Namen verfaßte er Theaterkritiken und Essays, u. a. für die „Stuttgarter Rundschau“ und die „Stuttgarter Nachrichten“, war 1947-51 Korrespondent des „Spiegel“ und schrieb 1948-53 Kabarett-Texte für das „Kom(m)ödchen“. Bekannt wurde Troll vor allem unter seinem Pseudonym durch sozialkritisch- ironische Werke (u. a. Romane, Erzählungen) über Schwaben und in schwäbischer Mundart. Sein größter Erfolg war Deutschland, deine Schwaben (1968; bearb. unter dem Titel Deutschland, deine Schwaben im neuen Anzügle, 1978), den er mit dem Buch „Preisend mit viel schönen Reden“ (1972) fortsetzte. Troll beging Selbstmord.

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Hunderttausende vor Verwahrlosung und Hungertod bewahrt. Der Schwarze Markt greift in tausend Spielarten in unser Leben hinein. Der Staatsanwalt diktiert sein Urteil gegen Schwarzhändler auf schwarz gekauftes Papier, und wenn er die Nacht durcharbeitet, dann setzt ihm seine Frau eine Tasse schwarzgekauften Bohnenkaffees vor, den sie vom Erlös ihres schwarzverkauften Abendkleides erstanden hat. Das Papier des Radaublattes, das gegen den Schwarzen Markt wettert, stammt aus schwarzen Beständen, und der Redakteur schreibt seinen Leitartikel gegen die Pest des Schwarzmarkts mit einem schwarz gekauften Füller. Ein Leben frei vom Schwarzen Markt zu führen, erscheint unmöglich. Wer den Schwarzmarkt am heftigsten verurteilt, der braucht ihn am wenigsten. Es sind vor allem die Angehörigen der neuen Bonzenkaste, die in einigen deutschen Ländern Sonderzulagen in Waren und Lebensmitteln bezieht. Auf höchst legalem Wege fließen diesen Gegnern des Schwarzen Marktes vielfache Rationen zu. Nach einer Meldung der ‚Neuen Zeitung‘ (Nr. 77 vom 26. September 1947) erhalten Minister der Ostzone außer der Schwerarbeiterkarte jeden Monat zusätzlich: 1.500 Zigaretten, 18 kg Mehl, 10 kg Nährmittel, 12 kg Fleisch, 8 kg Butter, 2 kg Fett, 30 Liter Vollmilch. Solche Zuteilungen erlauben es den Empfängern, mit gutem Gewissen und vollem Magen den Schwarzmarkt zu bekämpfen und sich mit ehrlichster Ueberzeugung dazu zu bekennen, daß sie mit ihren Rationen gut auskommen. Der Schwarze Markt ist die Lebensgrundlage für den hungernden Normalverbraucher. Der Schwarze Markt ist aber auch die Todesgefahr für die Wirtschaft. Er hilft Tausenden und Hunderttausenden, auf schwankem Seil gesetzwidrig den Abgrund zwischen Krieg und Frieden zu überbrücken. Er demoralisiert und sättigt zugleich. Er spornt den Tätigen zu noch mehr Arbeit an, denn für den normalen Menschen hängen seine Früchte so hoch, daß es gewaltiger Kraft bedarf, um nur ein Zipfelchen davon zu erlangen. Er stumpft aber auch ab. Er nimmt dem Bürger die Angst vor dem Übertreten der Gesetze. Seine Illegalität vergiftet das Bürgertum, das in Achtung vor Staat, Obrigkeit und Gesetz erzogen wurde. Er ist ein notwendiges Übel geworden, das so lange nicht aus der Wirtschaft fortzudeuteln ist, solange der Mangel regiert. Der Arzt bezieht seine Instrumente vom Schwarzen Markt, ein Totenschädel, an dem der Hals-, Nasen- und Ohren-Spezialist seine Studien macht, wird heute mit zwei Pfund Fett kompensiert. Ein Gebiß kostet beim ländlichen Zahnarzt eine Gans. Die Zigarettenwährung powert das Land aus. Teppiche, Silber, Kunstwerke, Photos, Schmuck und Radiogeräte: all diese Überreste eines höheren Lebensstandards werden in Lebensmittel umgetauscht, fließen waggonweise gegen Zigaretten ins Ausland, werden in blauen Rauch umgewandelt. In jeder Stadt hat der Schwarze Markt ein anderes Gesicht und paßt sich dem Charakter und dem heutigen LebensNiveau der Bewohner an. In Stuttgart gibt er sich seriös und ist bürgerlich verbrämt, im Hannoveraner Bahnhofsbunker wuchert er zwischen Armut, Verbrechen und Prostitution. Im Münchener Wartesaal werden Brotmarken, Zigaretten und Frauen für eine Nacht öffentlich feilgeboten. In den Frankfurter Gasthäusern rings um den Hauptbahnhof steigt er wie Flut und Ebbe zwischen den täglich zweimal zu gleicher Stunde stattfindenden Razzien. In Hamburg wuchert er in seriösen Lokalen und auf

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der Reeperbahn. In Berlin gibt es Geschäfte, die sowohl schwarz wie weiß verkaufen, und fast in jedem Lokal am Kurfürstendamm trinkt man unbeschränkt sündteuren Schnaps und ißt ohne Marken. Am Alexanderplatz gibt es Interzonenpässe, Doktor-Diplome und Bescheinigungen zu kaufen, daß der Vater Arbeiter gewesen sei, damit man die Möglichkeit hat, an östlichen Universitäten zu studieren. Der geistige Arbeiter in Berlin hat im Nebenberuf seinen ‚Job‘, mit dem er seinen Schwarzmarktbedarf finanziert, und ohne diesen Job kann man in Berlin nicht menschenwürdig leben. ‚Ein Ausflug aufs Land im Jahre 1947‘ betitelt sich eine andere Zeichnung in der zu Beginn erwähnten Berliner Zeitschrift. Vor den Bauernhäusern stapeln sich Särge, Globen und Musikinstrumente. In Schweineställen werden Kleider feilgeboten. Eine Bäuerin hat sich auf falsche China-Kunst spezialisiert. Perserteppiche liegen zum Verkauf in den Straßen, Polstermöbel türmen sich vor dem Käufer. Vor einer Kätnerhütte häufen sich Aktenmappen. Ein Plakat verkündet, daß Inkunabeln stets am Lager seien und Wallenstein und Pseudo-Monalisen als greuliche Ölschinken werden anpreisend in die Luft gehoben. ‚Keine Schwarzmarktpreise!‘ schreit ein Plakat hinter Uhren und Radio-Geräten und die beiden Städter, die durch die Straße gehen, werden mit Hüteschwenken und kotautiefen Bücklingen begrüßt. Ob wir es noch erleben werden?47 Troll zeigt an Beispielen auf, „wie stark der Schwarze Markt in das Leben im heutigen Deutschland eingreift und wie stark er die soziale und moralische Struktur zu verändern vermag“.48 Fall IV „Fritz Z. war vor dem Krieg Werkmeister. In seiner siebenjährigen Soldatenzeit verlor er die Freude an der Arbeit. Heute hält er sich schwarz drei Hühner, die zusammen im Jahr ungefähr 360 Eier legen. 60 davon verbraucht er für sich und seine Familie, 300 vertauscht er an amerikanische Soldaten, das Stück für fünf Zigaretten. Von den 1.500 Zigaretten raucht er 300 selbst, die übrigen verkauft er zu je 5 Mark, und hat auf diese Weise ein Jahreseinkommen von 6.000, ein Monatseinkommen von 500 Mark, mit dem er für sich, seine Frau und seine Tochter den Lebensunterhalt bestreitet, ohne arbeiten zu müssen. Fall V Friedrich L. ist Buchhalter und lebt in glücklicher, kinderloser Ehe. Er ist fleißig und gewissenhaft, jedoch unfähig, sich auf illegale Weise zusätzliche Lebensmittel zu besorgen. Sein Monatsverdienst von netto 180 Mark reicht kaum aus, um die Miete und die ihm auf Karten zustehenden Lebensmittel zu kaufen. Seine Frau kam zuerst auf den Gedanken, im Wald Blumen zu pflücken und sie von Glastüre zu Glastüre zu verkaufen. Als sie ein wenig Kapital hatte, ging sie daran, von not47 Troll, Thaddäus: Vom Schwarzen Markt, in: Rümelin. Hans A. (Hrsg.): So lebten wir [...] Ein Querschnitt durch 1947. Erneut herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Schneider, Stuttgart 1997, S. 62 f., 65 f. 48 Ebd., S. 63.

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leidenden Bekannten getragene Kleider zu Schwarzmarktpreisen zu kaufen und wieder zu verkaufen. Auf diese Weise verdient sie heute ungefähr im Monat 700 Mark, mit denen sie schwarz Öl, etwas Fleisch, Mehl und Kartoffeln kauft. Herr Friedrich L. übt weiterhin seinen Beruf aus. Die Tatsache jedoch, daß seine Frau verhältnismäßig mühelos sehr viel mehr Geld verdient und ihn ernährt, hat bei ihm zu schweren Depressionen geführt, durch welche die Ehe, die 21 Jahre lang harmonisch verlief, stark bedroht ist. Fall VI Herr W. ist ein unverheirateter Schauspieler und lebt in Berlin. Er hat eine Monatsgage von ungefähr 2.000 Mark von der er bei Abzug der Steuer ungefähr 950 Mark ausbezahlt bekommt. Er ist mäßiger Raucher und braucht bei aller Einschränkung täglich 4 Zigaretten und 3 Tassen Bohnenkaffee, um der schweren Probenarbeit gewachsen zu sein. So gab er allein für Kaffee und Zigaretten im Monat 1.450 Mark aus und geriet in Schulden. Jetzt läßt er sich einen Teil seiner Gage in Theaterkarten ausbezahlen, die er auf dem Schwarzen Markt gegen Kaffee und Zigaretten umtauscht“.49 7.2. Der Schwarzmarkt in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands Der Berliner Herbert Groll beschrieb 1947 die Lage in der Ostzone: „Und wir in der Ostzone – leben wir denn überhaupt noch? Sind wir nicht alle nach Sibirien ‚übersiedelt‘, nach dem Westen geflüchtet, des Hungertodes gestorben oder bestenfalls in den verfallenen Stollen des Erzgebirges untergetaucht? Müßte nicht bereits jeden das Schicksal in einen dieser dunklen Kanäle gezogen haben, wenn man all die Berichte, die in den Westzonen kursieren, zusammenstellte? Gott sei Dank ist es soweit noch nicht. Schließlich ist es eine innerhalb kurzer Zeit vielfach erprobte Feststellung, daß sich der Länder, die durch ihr Regierungssystem zum Schweigen verurteilt sind, das Gerücht – und damit Übertreibung und Verleumdung – am gierigsten bemächtigt. Und unter dem Regiment der geistigen Unfreiheit stehen wir nach wie vor, das weiß von zahllosen Beispielen her die ganze Welt, mit Ausnahme jener pseudodemokratischen Einheitspartei-Machthaber, die von Freiheit eine allzu subjektive Auffassung haben und sie nur für ihr eigenes Schalten und Walten zu gebrauchen verstehen. Ist es Kurzsichtigkeit, Skrupellosigkeit, das schlechte Gewissen oder einfach die Untergangsstimmung wie in der letzten Nazizeit, daß sie sich aller Logik zum Trotz über die Menschenrechte hinwegsetzen und die alten allgemein sichtbaren Fehler wiederholen? Sie sind unwillig über das Mißtrauen, das man ihnen von allen Seiten entgegenbringt, und empört über die verzerrten Berichte im Westen, obwohl sie selbst durch ihre Knebelung der freien Meinungsäußerung daran schuld sind.

49 Ebd., S. 63, 65.

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Wie sieht es nun in Wahrheit zwischen Harz und Oder aus? Ein wirklich klares Bild zu geben, wie es in jedem Kulturland möglich sein müßte, ist ein schier aussichtsloses Unterfangen. Dazu sind die objektiven Informationen viel zu spärlich. Wir leben in einem Land, in dem Statistik zur Geheimwissenschaft geworden ist, und die Ausübenden sie nicht einmal verstehen, wo Pressefreiheit ein potemkinsches Dorf ist und wahrheitsgemäße Schilderung Heldenmut erfordert. Noch falscher allerdings würde das Bild, würde man es aus den im Westen verbreiteten Meldungen und Berichten zusammentragen wollen. Doch müßte auch die Darstellung des Beurteilers aus der Ostzone schief ausfallen, wenn er nicht auch die derzeitigen Lebensbedingungen im Westen beobachtet hat – einerseits weil er manches als östliche Mißwirtschaft anprangern würde, was tatsächlich eine allgemeine Krankheit ist, andererseits weil er seit den zwölf Jahren Hitlerismus einfach das Gefühl dafür noch nicht hat, in welch hohem Haß die Freiheit des Individuums wieder respektiert werden kann. Noch immer ist der Mensch nichts, und irgendein imaginärer Begriff, der nicht einmal Volk oder Staat genannt werden kann, alles. Ein bezeichnendes, trauriges Beispiel bot sich mir unmittelbar vor meiner ersten Schwarzfahrt aus der ‚Volksdemokratie‘ Ostzone in das Land der ‚reaktionären‘ Umtriebe des Westens. Der Schnellzug rollte Richtung Zwickau. In unserem Wagen befanden sich auch ein Dutzend ‚Heimkehrer‘ aus dem Osten. Zerlumpte, unterernährte Gestalten, kranke Gesichter – ein Bild, das sich dauernd wiederholt und immer wieder tiefstes Mitleid erregt. Aus Rußland kommend waren sie in Frankfurt an der Oder endgültig von der sowjetischen Armee entlassen und der Obhut der deutschen Behörden (sprich SED) anvertraut worden. So fuhren sie sed-betreut in ein Lager nach Pirna bei Dresden – der Freiheit entgegen. Dort jedoch nahm die lieblich lächelnde ‚Libertas‘ eine ganz andere Miene an. Nachdem die in der Ostzone Beheimateten entlassen worden waren (denn die stehen ja auf Abruf jederzeit zur Verfügung), wurden die Heimkehrer mit Wohnsitz im Westen und diejenigen, die im Augenblick überhaupt noch ohne Heimat dastanden, wurden diese eben erst als arbeitsunfähig und krank Entlassenen für den Uranbergbau im Erzgebirge geworben. Obwohl ungefähr der Himmel auf Erden versprochen wurde, konnte sich kaum der zehnte Teil zu einer freiwilligen Verpflichtung entschließen. Die Zahl genügte den staatlich unterstützten Werbern nicht und so wurden am nächsten Morgen kurzerhand alle 60 Zurückgebliebenen nach Oberschlema-Schneeberg zwangsverpflichtet. Unter Bewachung rollten nun je zehn bis zwölf Mann ihrer Zwangsheimat entgegen – ohne Ausweispapiere, ohne Geld, ohne Hoffnung. Was denn die Kameraden dazu sagten, versuchten wir von einem zu erfahren. Aber das wußte er nicht. Keiner wagte mit dem anderen darüber zu sprechen. Was er tun wolle, ob er nicht zu fliehen versuche, fragte jemand. Ohne Papiere? Nein, wahrscheinlich würden sie doch innerhalb kurzer Zeit aufgegriffen und dann womöglich in die Gefangenschaft zurückgeschickt. ‚So hatte ich mir die Heimkehr nicht vorgestellt‘. In diesen Worten faßte er resignierend, leidgewohnt, seine Meinung über den Empfang in der Heimat zusammen. ‚Heimkehrer‘, ‚Brüder des eigenen Volkes‘, ‚Menschen einer freieren, besseren Zukunft‘, so wurden sie von Deutschland empfangen – schränken wir ein: von den Volksvertretern des östlichen Deutschland.

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Glauben Sie nicht, das sei ein Einzelfall, der Übergriff eines Menschen, der unter die Verbrecher gegen die Menschlichkeit eingereiht gehörte! Nein, anderen Transporten ging es in gleicher Weise, ob sie nun aus Rußland oder Jugoslawien kamen. Warum sollte es ihnen besser gehen als den jungen und den alten Männern, besser als den achtzehnjährigen Mädchen, die in Olbernhau nach dem Marienberger Bergwerk verpflichtet wurden? ‚Du bist nichts‘, ist also weiterhin die Devise – für die überwältigende Mehrheit des Volkes wenigstens, während die, die das Volk zu vertreten vorgeben, ein Herrenleben zu führen bestrebt sind, trotz des genossenschaftlichen ‚Du‘. Daß die Korruption unter diesen Neu-Staatsangestellten (das Wort ‚Beamter‘ ist als reaktionärer Ausdruck aus dem Ost-Duden gestrichen) balkanische Ausmaße angenommen hat, ist eine Seuche, die sich im Westen wohl ähnlich verheerend verbreitet; daß aber aus puren parteipolitischen Interessen dieses Unwesen nicht ernsthaft bekämpft wird, ist das unheilvolle Verdienst der SED-Politik. Gewiß, ab und zu werden auch hier Skandale aufgedeckt – der des Rudolstädter Landrats, des Großenhainer Bürgermeisters oder des Leiters des Haupternährungsamtes Dresden zum Beispiel. Wenn es sich aber um politische SED-Persönlichkeiten des engeren Kreises handelt, wird zäh und mit allen Mitteln gedeckt. In all den kleinen Städten schwelen die Erzählungen von den Verfehlungen der Ortsgewaltigen nur unterirdisch von Mann zu Mann. Selten wagt jemand, einen Skandal vor die Öffentlichkeit zu bringen. Und auch bei den in größeren Städten ruchbar gewordenen Korruptionsaffären weigern sich ‚die Spitzen‘ hartnäckig, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. In einer Stadt hatte eine Anzahl SED-Größen unrechtmäßig Lebensmittel und Lebensmittelkarten bezogen. Trotzdem beschloß das Stadtparlament, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Als die Untersuchung auf dem Weg über das Kreisprüfungsamt und die Staatsanwaltschaft dennoch weitergetrieben wurde, wurde die Angelegenheit durch den Innenminister niedergeschlagen. In einem großen Prozeß im Frühjahr dieses Jahres sagte der jugoslawische Dolmetscher Milorad als Zeuge aus, daß in die Wohnung des Oberbürgermeisters einer Stadt im Juli 1945 ein Schwein, 140 Pfd. Wurst, 1 Zentner Bohnen, 1 Zentner Tomaten, 332 m Stoff und 47 Joppen gebracht wurden. Dem naivsten Menschen ist klar, daß es sich um eine Korruption oder Schieberei ersten Ranges handelt – nur in jener Stadt haben weder die Staatsanwaltschaft noch der Innenminister etwas Besonderes dabei gefunden. Der Belastete ist heute noch Oberbürgermeister; die einzige Strafe haben ihm frühere Kollegen, nämlich Hamburger Zimmerleute, zudiktiert, indem sie das Stadtoberhaupt bei einem Saufgelage derartig verdroschen haben, daß es für einige Zeit zur Kur nach Berg-Gießhübel mußte. So werden die Größen über alle Klippen ihrer politischen Abenteurerfahrt von der SED-Bonzokratie hinweggesteuert, es sei denn, daß sie mit oder ohne verschobene Gelder eines Tages im Westen unter- oder auftauchen. Dann wird plötzlich in dem vorher so tüchtigen Staatsangestellten der ‚Schieber, Verschwender und Verräter‘ entdeckt. Ein rühmlicherer Abgang ist der Tod. Dann kann die Zusammenbruchgröße als sozialistischer Idealist und Vorkämpfer in die Parteigeschichte eingehen.

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Währenddem wird das Volk weiter mit schlechtem Brot, Austauschmarken und einem propagandistisch aufgeplusterten Kaloriensatz abgespeist. Da zur Erhaltung des Rationssatzes vom Bauern das Letzte herausgepreßt wird, weisen die Lebensmittel trotz der Kontensperre und allgemein spürbarer Geldverknappung in der Ostzone den höchsten Stand auf. Die Chemnitzer treten mit ihren Textilien die langwierige und nicht gefahrlose Reise über die Zonengrenze nach dem Westen an, um Brot, Mehl und Nährmittel einzutauschen. Ist die Enttäuschung über die trotz aller voreiligen Versprechungen nicht verbesserte Ernährungslage und über die nicht nachgelieferten Kartoffeln der Frühsommermonate schon niederdrückend, so ängstigt die Sorge um die Kohlenversorgung an der Schwelle des neuen Winters jede Stadtfamilie noch mehr. Wenn bereits im vergangenen Winter in den Großstädten täglich eine Anzahl Personen verhungert und erfroren in den Betten aufgefunden worden sind, so würden diesmal die Folgen bei ähnlicher Kälte noch katastrophaler sein. Denn die Hausbrandversorgung hat sich gegenüber dem Vorjahr noch weiter verschlechtert, die Vorräte aus früheren Jahren sind aufgebraucht und die Widerstandskraft der Menschen infolge der dauernden Unterernährung erneut geschwächt. Der Wiederaufbau der zerstörten Städte, den die ‚Baumeister der ersten Stunde‘, wie sich die KPD-Funktionäre stolz zu nennen pflegten, mit lautem Propaganda-Rummel in fruchtlosen ‚freiwilligen‘ Sonntags-Arbeitseinsätzen begannen, kommt nur noch im Schneckentempo voran. Die Wirtschaft, die im Osten zweifellos schneller in Gang kam, ist gerade dabei endgültig festzufahren. Die alten Materialbestände sind verbraucht. Die Produktion für die Russen ist so scharf kalkuliert, daß nur ein winziger Bruchteil für den Schwarzen Markt abgezweigt werden kann, so daß die Bevölkerung ohne Hoffnung auf Befriedigung auch nur der allernötigsten Lebensbedürfnisse an Kleidung, Haushaltsgegenständen und Möbel dahinvegetiert. So ist dem Jahr der von oben proklamierten ‚großen Initiative‘ ein Jahr schmählicher Enttäuschung und zunehmender Entnervung gefolgt. Die Menschen verfallen geistig und charakterlich in gleichem Maße wie sie körperlich abmagern. Hysterie in Straßen- und Eisenbahnen, vor Geschäften und im häuslichen Leben ist zur kaum mehr bemerkten Massenkrankheit geworden, die Verwahrlosung der Jugend wie der Kinder geht unaufhaltsam weiter. Die Abneigung gegen die Politik wächst sich zum Abscheu aus – trotz aller Agitations- und Zwangsmaßnahmen der SED. Die Arbeiter ballen die Faust in der Tasche. Gelegentlich machen einige von ihnen in Gewerkschaftsversammlungen ihrem Herzen Luft, aber das sind die Mutigen und die sind selten geworden im Osten. Seit den letzten Wahlen hat sich die Stimmung wesentlich zu Ungunsten der SED verschoben. Daran kann auch die Bevorzugung der SED durch die Besatzungsmacht nichts ändern. In Sachsen betrug das Kontingent für Zeitungsdruckpapier im 2. Quartal 1947 915 to. Davon erhielt 849 to (etwa 93 %) die SED, 36 to (4 %) die LDP- und 30 to (3 %) die CDU-Presse. Die beiden nichtmarxistischen Parteien zusammen haben nicht einmal den zehnten Teil der an die SED gegebenen Menge erhalten, obwohl sie im sächsischen Landtag mit 58 Mandaten (gegen 59 der SED) fast gleich stark vertreten sind. Selbst wenn das für die SED rechnerisch günstigste Verhältnis, nämlich die Zahl der eingeschriebenen Parteimitglieder, zur

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Aufschlüsselung des Papierkontingents gebraucht worden wäre (110.000 Nichtmarxisten stehen 500.000 Sedisten gegenüber) hätten der LDP und CDU wenigstens 18 % statt 7 % der Gesamtmenge zugeteilt werden müssen. Die gleiche Taktik wird zur Zeit mit der Einflußnahme des ‚Freien‘ deutschen Gewerkschaftsbundes auf das politische Leben versucht, um dadurch den SED-Mitgliedern praktisch doppeltes Stimmrecht zu geben. Bilder aus der Ostzone Leipzig. Der Zug fährt fast pünktlich in Leipzig ein. Der Blick sucht vergeblich die größte Bahnhofshalle der Welt, die man als Kind bestaunte auf der ersten großen Reise. Wo damals Züge an Züge standen, die Lokomotiven unter Dampf, mit Reisezielen in allen Himmelsrichtungen Europas, starren jetzt dreißig Kopfgeleise nackt in der brennenden Sonne. Von dem machtvoll gewölbten Stahlgerippe ragen nur ein paar verbogene Träger einsam in die Luft. Eine lethargische Masse lungert träge auf den Bahnsteigen. Aus dem lebhaftesten Eisenbahnknotenpunkt, dem größten Schaltwerk des Verkehrs, scheint ein überdimensionales Tag- und Nachtasyl geworden zu sein. In den Mauernischen der immer noch gewaltigen Ruine haben sich zerlumpte Gestalten der Länge nach ausgestreckt, einen Bogen Zeitungspapier, der gegen die Sonne schützen soll, über dem Gesicht. Andere haben sich auf die Bahnsteigkante gehockt und lassen die müden Beine baumeln. Eine Gruppe 13bis 14jähriger Jungen sitzt auf Kartoffelsäcken, sie kloppen einen soliden Dauerskat. Hohlwangige Mütter teilen ihren quängelnden Kleinen trockenes Brot aus. Eine junge Frau steht abseits allein, mit verschränkten Armen, starr vor sich hinbrütend. Die moderne Medusa trägt ein grobes Hemd. Ihre Beine stecken in Militärhosen und in Kommisstiefeln, richtigen ‚Knobelbechern‘. Der Heimkehrer, der vorüberwankt, schwer auf einen selbstgeschnittenen Knotenstock gestützt, hat keine Schuhe an, seine gedunsenen Füße sind mit Bast- und Stofffetzen umwickelt. Am äußersten Rande des Bahnhofsgeländes steht wie vergessen eine gebrechliche Lokomotive. An der Tenderwand, wo einst von den Rädern verkündet wurde, die für den Sieg rollen müßten, prangt eine neue Parole in frischer weißer Farbe: ‚Sichert die Einheit Deutschlands!‘ (Arnold Bauer in ‚Der Kurier‘, Sept. 47.) Weimar. Der Besatzung begegnet man mit Respekt. Man zieht bereitwillig die Uhr, um auf Verlangen die genaue Zeit zu nennen, man reicht Feuer und dankt nicht weniger ergeben als am Reichskanzlerplatz in Berlin für die angebotene Zigarette, die kleine Gefälligkeiten lohnt. Überall stößt man auf die Schilder der Behörden. Eine stattliche Villa trägt die Aufschrift ‚Ministerium des Innern, Amt für Interzonen- und Außenhandel‘, das klingt fast nach hoher Diplomatie. Sicherlich finden in diesen Räumen die Verhandlungen statt, die den Handelsverträgen mit dem Nachbarstaat Hessen und dem übrigen Ausland vorausgehen. Nicht nur die SED, auch die anderen antifaschistischdemokratischen Parteien (zu denen die SPD nicht gezählt wird) residieren ganz repräsentabel. Die CDU sitzt – recht stilgemäß – im ‚Russischen Hof‘ mit seiner vornehmen Fassade; die FDJ besitzt ein geräumiges altes Palais gegenüber der Post.

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Die Karl-Alexander-Allee, Weimars vornehme Villenstraße, ist zugunsten der prominenten Besatzungsangehörigen vollständig geräumt worden. Vor einem modernen Landhause hält ein großer luxuriöser Wagen mit abgeschlagenem Verdeck. Die Spaziergänger bleiben stehen und betrachten neugierig die russische Familie, die eben das Haus zu einer Ausfahrt verläßt. Ein Rotarmist hält den Schlag auf, ein Kinderfräulein mit weißem Häubchen, die wie eine Nurse aus London-Westend aussieht, geleitet die Kinder die Freitreppe hinab, der General und seine Gattin folgen. (Arnold Bauer in ‚Der Kurier‘, Sept. 47.) Vogtland. Ernährungsmäßig geht es der vogtländischen Bevölkerung schlechter als den anderen Sachsen. Für den nicht lieferbaren dritten Zentner Winterkartoffeln wurde Salzgemüse verteilt, und die außerplanmäßige Ausgabe eines halben Zentners Saatkartoffeln in den Maitagen dieses Jahres konnte nur einem Teil der Einwohner zugute kommen. Die Kartensätze entsprechen den Belieferungen der Kleinstädte und Landgemeinden: Die Lehrer klagen darüber, daß in den Schulen täglich vier bis fünf Kinder vor Schwäche umfallen. Ein großer Prozentsatz der Schüler aller Klassen ist tuberkulös. Dagegen berichten Arbeiter der Reichsbahn, daß sie von der Zentrale Zwickau monatlich mehrere Transportzüge mit deutschen Lebensmitteln nach Brest-Litowsk zu begleiten haben. Vor Weihnachten 1946 wurden dorthin etwa 600 Tonnen Butter ausgeführt. Durch polnisches Gebiet werden die Züge nach Aussagen des Begleitpersonals von russischen Panzern bedeckt und sind bereits zum Gegenstand regelrechter Gefechte mit polnischen Banden geworden. Politisch gilt Markneukirchen als Stadt der LDP, die in den Wahlen beinahe eine Zweidrittelmehrheit erreichte. Trotzdem regiert als Bürgermeister noch immer ein Vertreter der SED, die ihre Dienststelle in der gutbürgerlichen Nachbarschaft der ‚Bayerischen Bierstuben‘ repräsentativ als ‚Haus der Einheit‘ bezeichnet. Frühere Pgs,50 die ihre Unternehmen halten wollten, wurden vielfach Mitglied der SED. Einer ihrer besonders Aktiven gründete zusammen mit einem SED-Kollegen eine neue Firma und erhielt dafür neue Räume, nachdem man ihn als Pg aus den alten ausgewiesen hatte. Die Bevölkerung gibt dem neuen Unternehmen das Firmenschild: Hitler und Thälmann. (‚Die Neue Zeitung‘, Juni 47.) Halle. In einem bekannten Hallenser Eßlokal. Mein Gegenüber stürzte den Schnaps hinunter, selbst einen Strich auf dem Bieruntersatz machend. Dessen Rand war nahezu voll. ‚Da staunen Sie, was? Mein Mittagessen! Ich bin auf Reisen. Meine Marken sind hier ungültig. Prost! […] Wer nicht gezwungen ist, zu reisen, soll es lieber unterlassen. Wenigstens der gewöhnliche Sterbliche. Man muß schon irgend etwas sein, möglichst Behördenreisender oder Parteibonze, um nicht bereits bei der Kartenstelle oder am Fahrkartenschalter seine Initiative aufzureiben. Der Privatmensch zählt nicht mehr. Prost. Nur noch das staatlich sanktionierte Amt, die Zahl der Stempel, die man bringt‘. Etwas später […] ‚Nehmen Sie mal die Ministergehälter. Gut, daß jeder Minister 34.000 Mark im Jahr bekommt und dazu, als Leistungsprämie, weitere 12.000 50 Parteigenossen, ehem. Mitglieder der NSDAP.

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Mark, könnte man noch hinnehmen. Wenn ein solches Einkommen auch, zusammen mit Dienstwagen, Dienstwohnungen und sonstigen Vergünstigungen, in der jetzigen Zeit ganz ansehnlich ist. Was aber für mich und jeden anderen, der darum weiß, moralisch und rechtlich nicht mehr gerechtfertigt werden kann, ist die Tatsache, daß dieser Leistungszuschlag steuerfrei ist. Welche Leistung kann denn die ersten Leute im Staate von einer Last dispensieren, die auf den kleinen Mann noch viel stärker drückt?‘ Er sah fragend in die Runde. ‚Das ist angewandter Sozialismus!‘, kam ihm die Antwort vom Nebentisch. Ein älterer Mann gab sie, in einem abgewetzten, viel zu kleinen Anzug, der dem Gespräch schon eine ganze Weile schweigend zugehört hatte. Er lehnte sich ein wenig zu uns herüber. ‚Nicht die Bedürfnisse des einzelnen entscheiden, sondern die Rolle, die er für die ‚Gemeinschaft‘ – gemeint ist wohl das Regime – spielt. In Harzgerode gibt es ein Heim für lungenkranke Kinder. Ende Juli erhielt seine Leitung ein Schreiben, in dem lakonisch mitgeteilt wurde, daß den lungenkranken Kindern keine Milch mehr zugeteilt werden könne. Die logische Weiterentwicklung dieses Prozesses. Außerdem, klassenlose Gesellschaft? Die Gegensätze hier sind dieselben wie bei den schlimmsten Formen des Kapitalismus. Vielleicht noch stärker, nur, daß das Kapital als Machtmittel ausgeschaltet ist. Was ist damit aber gewonnen? Die auf Reichtum beruhende Macht der Kapitalisten ist zwar ausgeschaltet, an ihre Stelle sind jedoch neue Machtgierige getreten, die mit Hilfe einer glänzenden Phraseologie in Ermangelung des ihnen fehlenden Kapitals die ganze Macht an sich reißen wollen.‘ ‚Na ja‘, der Geschäftsreisende sagte es gleichgültig, mit seinem Glase spielend, ‚da kann man eben nichts machen. Prost! Hat ja keinen Zweck, gegen die Strömung schwimmen zu wollen. Das beste ist, man steigt irgendwo mit in den Karren ein. Alle machen es. Wenn nur die Möglichkeit einmal an sie herantritt. Sitzen sie erst einmal an der Futterkrippe, dann sind sie schon still. Dann werden sie auf einmal selbst zu Verteidigern des Theaters. Das ist doch das Prinzip dieses ganzen Systems. Hauptsache, die Schlüsselposten sind richtig besetzt. Das andere spielt eine untergeordnete Rolle – wird sich im Laufe der Zeit schon von selbst ergeben. Prost!‘ Er trank das nächste Glas herunter, das der Ober ihm diskret hingeschoben hatte, und machte einen Strich. ‚Wäre ich Landrat, Ministerialdirektor oder gar Minister, dann brauchte ich jetzt nicht zu trinken. In der Lohmannstraße, im Ministerium, gibt es für jeden offiziellen Besucher ein markenfreies Essen. Übrigens von der SED! Merkwürdig, nicht wahr?‘ Er lachte, daß man wirklich nicht mehr wußte, war es der Schnaps oder lange aufgespeicherter Groll. (A. R. in ‚Der Kurier‘, September 47.) Görlitz. Was für die ehemaligen deutschen Ostgebiete Gleiwitz war, ist für Nachkriegs-Deutschland Görlitz geworden. Zu beiden Seiten der Neiße erstreckt sich die Stadt, nur durch eine Brücke getrennt, und diese Brücke ist das einzige, was die beiden ehemals deutschen Stadtteile miteinander verbindet. Die Brücke wird auf der deutschen Seite von stark bewaffneten russischen Posten, auf der polnischen Seite von Polen bewacht.

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Ein erlaubter Grenzübertritt in den polnischen Teil von Görlitz ist nur wenigen deutschen Spezialarbeitern möglich, die in dem ostwärts der Neiße gelegenen Stadtteil im Elektrizitäts- und Gaswerk der Stadt beschäftigt sind. Aber trotz einer strengen Grenzbewachung blüht zwischen der deutschen und der polnischen Bevölkerung ein reger Schwarzhandel. Die Deutschen in diesem Gebiet sind gezwungen, oft ihre letzte Habe gegen Lebensmittel, die in Polen für verhältnismäßig weniges Geld und auch in genügender Menge zu erstehen sind, einzutauschen. Der Hunger in Görlitz ist noch größer als in anderen Städten der Ostzone und viele Menschen möchten mit den aus Polen ausgewiesenen Deutschen gerne weiter nach Westen ziehen. Die Ausgewiesenen, die oft nur mit dem Notdürftigsten bekleidet und ohne jegliche Nahrungsmittel die ehemals deutschen Gebiete verlassen mußten, werden bei ihrem Ankommen in Görlitz in einem nahe der Stadt gelegenen Lager untergebracht, von wo sie nach einer Registrierung und nach der Entlausung in Sammeltransporten in die weiter westlich gelegenen Gebiete befördert werden. Nach den Aussagen dieser Menschen befinden sich in ganz Schlesien etwa noch 20 bis 25.000 Deutsche, in Breslau sind es noch 3 bis 4.000, die dort zumeist in technischen Berufen in polnischen Diensten stehen. Fest steht, daß in den Gebieten ostwärts der Neiße noch vor Ablauf des Jahres kein deutsches Leben mehr zu verspüren sein wird. (‚Nouvelles de France‘, September 47.) Gewiß, die Zeit der wildesten Rechtslosigkeit ist vorbei. Die Besatzungsmacht hat dafür gesorgt. Übergriffe gegen Frauen und Mädchen, Gewalttaten gegen Privatpersonen und Besitz bleiben auf Einzelfälle beschränkt. Bodenreform und Enteignung der (sehr willkürlich dazu ernannten) ‚Naziaktivisten und Kriegsverbrecher‘ haben wie die wild sich austobende Plünderungslust in den Wochen des Zusammenbruches eine so tief gehende Zerrüttung jeden Begriffes für ‚Mein und Dein‘ verursacht, daß ihre Nachwehen noch lange unvergessen und spürbar bleiben werden. Die Willkür, mit der die von der Besatzungsmacht verfügten Maßnahmen von deutschen Stellen ausgeführt wurden und werden, haben Leid über zahllose Familien gebracht und Ekel bei allen Anständigen und Wissenden geweckt. Die Phrase von der ‚Humanität‘, mit der die Ostzone gefüttert wird, beten nur noch die Nutznießer dieses Systems nach, bei allen Anständigen weckt sie Hohn und Grauen. Wir haben in Wahrheit eine Tyrannis, die in gar keiner Hinsicht dem ‚Dritten Reich‘ nachsteht. Es wird bei uns bespitzelt und denunziert, gehetzt und gelogen, verleumdet und betrogen, daß alles, was einmal war, in den Schatten gestellt ist. Kein Mensch traut mehr dem Nächsten, jeder fürchtet – zahllose Beweise schrekken – Verrat und Verhaftung und die ist gleichbedeutend mit dem völligen Verschwinden. Das Ausmaß der Schrecknisse ist natürlich nicht in Zahlen zu fassen. Eine Vergleichszahl kenne ich und sie mag Sie wie Ihre Leser überzeugen von den ‚Fortschritten‘, die wir auf dem Gebiete der ‚Menschenbehandlung‘ seit dem Untergang der Nazi gemacht haben: In einem mir bekannten Bereich waren zwischen 1933 und 1945 insgesamt drei Männer wegen antifaschistischer Haltung oder Be-

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tätigung in ein KZ gebracht worden. Alle drei sind zurückgekehrt. Im gleichen Bereich sind in den letzten 2 Jahren insgesamt über 30 Männer abgeholt worden. Sie sind verschollen. Ihre Angehörigen ohne jedes Lebenszeichen von ihnen, verzehren sich in Gram. Wenigstens 10 von ihnen sind tot, irgendwo verdorben, verscharrt. Das weiß man durch Nachrichten, die auf Umwegen zu den Angehörigen oder Freunden gekommen sind (Fritz Loe in ‚Das neue Vaterland‘ Sept. 47)“.51 Schwarzmarktpreise im Jahr 194752 März 1947 Berlin 20 am. Zigaretten RM 1 kg Kaffee " ¾ Liter Schnaps " 1 Ei " 1 Schachtel Streichholz "

150,1.100,150,12,5,-

März 1947 Stuttgart 20 am. Zigaretten RM 1 kg Kaffee " 1 Liter Schnaps " 1 kg Fleisch " 1 kg Zucker " 1 kg Butter " 1 kg Mehl " 1 kg Tee "

85,600,300,50,170,300,45,900,-

Stuttgart von Mai 1946 bis Oktober 1947

Mai 1946 August 1946 November 1946 Februar 1947 Mai 1947 Juli 1947 Oktober 1947

500 g Kaffee 240,260,280,310,300,350,320,-

20 am. Zig. 60,75,80,85,90,110,85,-

1 Dose Nescafe (2 oz) 35,40,40,60,90,100,100,-

Wenn man die Schwarzmarktpreise vom März 1947 in Berlin mit denen von Stuttgart vergleicht, fällt auf, daß die Preise in Berlin für amerikanische Zigaretten und Kaffee fast doppelt so hoch waren. Nach der Bankenschließung und Sperrung aller Einlagen am 28.4.1945 in der SBZ wurden den Konteninhabern nur dann 300 RM ausgezahlt, wenn deren gesamte Einlagen 3.000 Reichsmark nicht überschritten.53 „Konteninhaber mit höheren Beträgen wurden als unwürdige Kapitalisten bezeichnet, die keine Zahlungen erhielten. Im zweiten Besatzungsjahr wurde von der

51 Ebd., S. 45-52. 52 Ebd., S. 64. 53 Der Betrag von 3.000 Reichsmark war niedrig, denn die Ausgaben für die gestoppten Lebensmittelpreise und die Mieten lagen bei ca. 120 RM monatlich, so daß jeder Lohnempfänger das überschüssige Geld zur Bank brachte.

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sowjetischen Militärregierung eine teilweise Aufhebung dieser Maßnahmen genehmigt, und zwar für Individuen, die arbeitsunfähig waren und auf keine anderen Unterstützungsmittel zurückgreifen konnten; ihnen wurde erlaubt, 400 Reichsmark abzuheben, auch wenn ihr Konto 3.000 Reichsmark überstieg. Alle finanziellen Forderungen und Verbindlichkeiten finanzieller Institutionen wurden für ungültig erklärt, zusammen mit den Schulden des Reiches, die zu ihrer hauptsächlichen Deckung dienten. [...] Als Ergebnis dieser skrupellosen Maßnahme wurde die Wirtschaft der Sowjetzone fast 4/5 ihrer monetären Guthaben beraubt“.54 Diese Maßnahme hatte zur Folge, daß alle Arbeitsfähigen in der SBZ gezwungen waren, zu arbeiten. Im April 1944 hatten die USA der UdSSR den Druck von Militärmark zugestanden und den Sowjets auch die Druckplatten ausgehändigt.55 In der SBZ waren Reichsmark und Militärmark gleichrangige Zahlungsmittel. Die Sowjets begannen schon vor Kriegsende mit dem Druck der Militärmark: „Die Herstellung der in der SBZ eingesetzten Militärmark erfolgte bis zum Februar l945 in der Staatsmünze der UdSSR (Goznak). Aufgrund des ‚starken Anstiegs des Bedarfs an Geldzeichen auf dem besetzten Gebiet Deutschlands‘ wurde damit am 15. März 1945 die Druckerei der Hauptverwaltung für Geodäsie und Kartographie (GUGK) beim Rat der Volkskommissare in Moskau beauftragt. Die ‚Zuteilung‘ (faktisch die Emission) der gedruckten Geldmenge an sowjetische Einrichtungen zur Finanzierung der Roten Armee ‚und für andere Zahlungen‘ in Deutschland erfolgte durch Verordnungen des Rats der Volkskommissare bzw. des Ministerrats der UdSSR“.56 Die Schätzungen zum Umlauf der von den Sowjets in der SBZ in Umlauf gebrachten Militärmark bewegen sich auf 7-9 Milliarden Mark, die „in erster Linie zur Deckung der Besatzungskosten dienten“.57 Die sowjetischen Truppen hatten während „der Kampfhandlungen keinen Sold“ erhalten, sondern „hatten ihre Soldnachzahlungen in Besatzungsgeld erhalten, das außerdem nicht in Rubel umzutauschen war“.58 Die Emission des russischen Besatzungsgeldes wurde im Juni 1946 eingestellt. Die US-Amerikaner kauften auf dem Schwarzen Markt mit Militärmark oder noch besser mit Zigaretten wertvolle deutsche Produkte wie z. B. Leicas. Die sowjetischen Besatzungstruppen wurden die Könige auf dem Schwarzmarkt in Berlin und in Wien. Sie kauften alles auf dem Schwarzen Markt, was es in der Sowjetunion nicht gab, und das war fast alles. Dies war der Grund dafür, daß 20 amerikanische

54 Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 1943-1948, München 1981, S. 120 ff. 55 Ebd., S. 119. Ermer, Matthias: Von der Reichsmark zur Deutschen Mark der Deutschen Notenbank. Zum Binnenwährungsumtausch in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Juni/Juli 1948), Stuttgart 2000, S. 64 ff: Die Emission von Militärmark in den Besatzungszonen. 56 Laufer, Jochen: Die UdSSR und die deutsche Währungsfrage 1944-1948, in: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, 46, 1998, S. 459. 57 Ebd., S. 460. 58 Backer, John H.: Die Entscheidung, S. 119.

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Zigaretten oder 1 kg Kaffee im März 1947 auf dem Schwarzmarkt in Berlin doppelt soviel kosteten wie auf dem Schwarzmarkt in Stuttgart. 8. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten als Modell 8.1. Die Sowjetunion als Modell: „Der Traum des sozialistischen Überflusses in der Sowjetunion war in den USA Realität“ Als im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ in Rußland ein totalitärer Staat errichtet wurde, der den Anspruch erhob, den Sozialismus zu realisieren, sah die Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) ihre Identität in Frage gestellt. Die deutsche Sozialdemokratie war bis zum Ersten Weltkrieg die führende Kraft der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung gewesen. „Die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion war ein prägender Faktor für die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie in der Zeit der Weimarer Republik. Über kein anderes Land wurde soviel in der Parteipresse geschrieben, kein anderes Staatswesen war Anlaß für solch intensive Diskussionen, Polemiken und Kämpfe. Die besondere Herausforderung durch die Sowjetunion bestand darin, daß sie das Selbstverständnis der Sozialdemokratie als sozialistischer Bewegung in Frage stellte und zum Leitmodell der um die Vorherrschaft in der Arbeiterbewegung kämpfenden kommunistischen Parteien wurde. Die Konkurrenz der Kommunisten zwang zur Auseinandersetzung mit deren Ideal. Das gilt insbesondere für Länder, in denen die Kommunisten stark waren, vor allem für Deutschland und Frankreich. In diesen Ländern standen die Sozialdemokraten der Sowjetunion denn auch besonders kritisch gegenüber, während etwa die Sozialdemokraten in Österreich und England, wo die Kommunisten politische Randgruppen geblieben waren, das sozialistische Experiment in Rußland wesentlich wohlwollender betrachteten. Die Phase der intensivsten Interaktion zwischen der deutschen Sozialdemokratie und Sowjetrußland setzte unmittelbar mit der Oktoberrevolution ein und erstreckte sich über sechs Jahre bis zum gescheiterten ‚Deutschen Oktober‘ von 1923. Die Machtübernahme der Bolschewiki löste in Deutschland neue Hoffnungen auf einen baldigen Frieden aus. Sie standen zunächst im Vordergrund. Die beginnende Diskussion zwischen Kritikern und Bewunderern der Bolschewiki war eher eine Sache der Theoretiker. Als jedoch nach den Mißerfolgen im Westen und Süden die deutsche Militärmacht und damit das ganze Kaiserreich ins Wanken kam, als um Waffenstillstand gebeten werden und Sozialdemokraten der Zutritt zum Zentrum der Macht gestattet werden mußte, änderte sich das sehr schnell. Nun erwies sich, daß Sowjetrußland gewissermaßen als Antagonist der deutschen Sozialdemokratie geboren worden war. Die Mehrheitssozialdemokraten hatten die Novemberrevolution in Deutschland nicht gewollt, aber sie identifizierten sich voll und ganz mit ihrem Ergebnis: Die SPD wurde die staatstragende Partei der Weimarer Republik, in der sie ihre Vorstellungen von Sozialismus auf parlamentarisch-demokratischem Wege zu realisieren hoffte.

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Die reine ideologische Gegnerschaft zur Sowjetunion war jedoch kein ausschlaggebender Faktor für die Außenpolitik der SPD. Schon Anfang 1920 hatte der ‚Vorwärts‘ erklärt, die deutsche Politik gegenüber Rußland könne nicht davon abhängen, welche Partei dort an der Macht sei. Kautskys 1925 vorgebrachter Vorschlag, die Beziehungen zur Sowjetunion zu nutzen, um dort eine Liberalisierung der politischen Verhältnisse zu erzwingen, verhallte ungehört. Die Außenpolitik der SPD war nicht von ideologischen Sympathien oder Antipathien geprägt, sondern trug durchaus ‚realpolitische‘ Züge. Sozialdemokratisches Selbstverständnis und Sowjetunion Auf die Frage, welche Folgen die permanente Auseinandersetzung mit der Sowjetunion für die deutsche Sozialdemokratie hatte, scheinen die Quellen auf den ersten Blick kaum eine Antwort zu geben. Natürlich markiert die Stellung zur Sowjetunion die Grenze zwischen Sozialdemokraten – oder, wie sie sich, um die Abgrenzung zu betonen, auch nannten, demokratischen Sozialisten – und Kommunisten, was besonders bei der Spaltung der USPD deutlich wurde. Danach spielt die Sowjetunion in der programmatischen Diskussion der Sozialdemokratie jedoch keine Rolle mehr. Bezeichnenderweise war die Sowjetunion auch weniger ein Thema sozialdemokratischer Parteitage (die USPD immer ausgenommen) als der sozialdemokratischen Publizistik, die es um so intensiver bearbeitete. Daß von der Sowjetunion keine positiven programmatischen Impulse auf die deutsche Sozialdemokratie ausgingen, ist jedoch insofern verständlich, als dieser der Bolschewismus als ein Produkt historisch rückständiger Verhältnisse erschien. So fielen die Antworten auf die Frage, was die Sozialdemokratie von der Sowjetunion lernen könne, negativ aus. Die tiefste Lehre aus den russischen Verhältnissen sei, so erklärte etwa Otto Wels auf dem Leipziger Parteitag von 1931: ‚Ohne Demokratie ist der Sozialismus unmöglich‘. Und der Vorsitzende des Deutschen Holzarbeiterverbandes, Fritz Tarnow, sagte ebenda, das russische Beispiel gebe auf die Frage, wie man eine Industriewirtschaft mit einem Ruck vom kapitalistischen auf das sozialistische System umstellen könne, keine andere Antwort, als daß man es so unmöglich machen könne. Obwohl sie wenig Greifbares zu enthalten scheinen, geben Wels’ und Leiparts Aussagen doch einen wichtigen Hinweis darauf, was die deutsche Sozialdemokratie von der Sowjetunion lernte. In der Weimarer Republik, wo sie erstmals die Chance zu effektiver politischer Mitgestaltung hatte, begann ihr Wandel von einer Partei des ‚revolutionären Attentismus‘, die sich letzten Endes durch die Erwartung des in unbestimmter Zukunft eintretenden, alles verändernden ‚großen Kladderadatsch‘ legitimierte, zu einer sozialen Reformpartei, die versuchte, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen. Davon zeugt vor allem die Diskussion über Wirtschaftsdemokratie Mitte der zwanziger Jahre. Die Sowjetunion war in diesem Zusammenhang eine stete Warnung vor dem Rückfall in utopische Vorstellungen, deren Folgen sie

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in ihrer nackten, entzauberten Gestalt vorführte. Was man von ihr lernen konnte, war, ‚wie man den Sozialismus nicht machen darf‘.“59 Hans Borgelt war als Kriegsberichter in der Sowjetunion und kehrte bei Kriegsende nach Berlin zurück: „Die Zeitungen mit sowjetischer Lizenz enthielten Artikel, wie ich sie früher nie in einem deutschen Blatt gelesen hatte: Hymnen auf das Leben in der Sowjetunion. Die Landser, die bei ihrem Eindringen in Rußland bis weit in die Ukraine, in den Kaukasus und an die Krim ein wenig auch ‚Land und Leute‘ kennengelernt hatten, wenngleich unter den irritierenden Vorzeichen einer kriegerischen Invasion, mußten mit Blindheit geschlagen gewesen sein, wenn sie von der Armut, dem Elend und der Primitivität der Landbevölkerung berichtet hatten. Jetzt las man nur von glücklichen Menschen in vorbildlich geführten Kolchosen, vom Segen der sozialistischen Revolution und von der großen Güte Väterchen Stalins. Offensichtlich waren dies Pflichtartikel, von den sowjetischen Presseoffizieren zur Verfügung gestellt. Aber auch die Originalbeiträge deutscher Verfasser lasen sich, als habe hinter jedem Schreiber ein Aufpasser gestanden. Der Umbruch war oft verwirrend, anscheinend in letzter Minute geändert mit der Auflage, auf keinen Fall einen weißen Fleck auf der Seite zu lassen“.60 „Sowjetbeamter erklärt hier seinen Rücktritt“, meldete die Schlagzeile der „New York Times“ am 03. April 1944. Die Meldung selbst begann: „Victor A. Kravchenko, Beamter der Sowjet-Einkaufskommission in Washington gab gestern seinen Rücktritt bekannt und stellte sich unter den ‚Schutz der amerikanischen öffentlichen Meinung‘. Er klagt die Sowjetregierung hinsichtlich ihres erklärten Wunsches nach Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien einer unaufrichtigen Außenpolitik an, und beschuldigt das Stalin-Regime, dem russischen Volk die politischen und bürgerlichen Freiheitsrechte vorzuenthalten. Kravchenko, dessen Paß mit dem Vermerk ‚Vertreter der Sowjetregierung‘ versehen ist, bekleidet in der Roten Armee den Rang eines Hauptmanns, und war, bevor er letzten August nach den Vereinigten Staaten kam, Direktor einer Gruppe großer Industriebetriebe in Moskau. Früher diente er als Chef der Munitionsabteilung, die dem Rat der Volkskommissare der russischen sozialistischen föderativen Sowjetrepublik unterstellt ist. Seit 1929 war er Mitglied der russischen kommunistischen Partei und bekleidete unter der Sowjetregierung zahlreiche wichtige Posten in der Volkswirtschaft. Kravchenko lehnte es aus patriotischen Gründen ab, über Dinge Auskunft zu geben, welche die militärische Kriegsführung Sowjetrußlands betreffen, oder an-

59 Zarusky, Jürgen: Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell. Ideologische Auseinandersetzung und außenpolitische Konzeptionen 1917-1933, München 1992, S. 286, 295 f. 60 Borgelt, Hans: Das war der Frühling von Berlin oder die goldenen Hungerjahre, München 1983, S. 23 f.

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dere Einzelheiten über wirtschaftliche Fragen zu enthüllen, besonders solcher bezüglich des Pacht-Leih-Vertrages und seiner Durchführung, sowohl bei der SowjetEinkaufskommission, wie in Rußland“.61 Unmittelbar nach seiner Flucht aus der Sowjet-Einkaufskommission begann Kravchenko die Arbeit an dem Buch „Ich wählte die Freiheit“. Als Zeitzeuge schildert der 1905 in der Stadt Jekaterinoslaw Geborene die politischen Ereignisse in Rußland. „Die Grausamkeit der Kollektivierung, die absichtlich herbeigeführte Hungersnot in den Jahren 1931 bis 1933 und die Grausamkeiten der Säuberungsjahre hatten tiefe Spuren hinterlassen. Es gab kaum eine Familie, die nicht bei der Offensive des Regimes gegen das Volk Schaden gelitten hatte. Stalin und Konsorten sorgten sich nicht über unsere Treue zu Rußland, aber sie sorgten sich mit gutem Recht über unsere Treue zu ihnen. Vielleicht sahen sie in ihren Angstträumen, wie sich plötzlich zwanzig Millionen Sklaven aus den Kerkerwänden und Stacheldrahtumzäunungen befreiten und in einer riesigen Panik von Haß und Rache, in einer Welle von Zerstörung, vorwärtsstürmten […] Das Ausmaß des Terrors im Inneren Rußlands kann nicht übertrieben werden. Er nahm die Gestalt eines Krieges während des Krieges an. Dies war das Zeichen für das zitternde Mißtrauen des Kremls in das russische Volk. Das andere Zeichen zeigte sich in dem plötzlichen Ausstreichen der meisten ‚sozialistischen‘ Schlagworte, unter denen wir vierundzwanzig Jahre lang gelebt und gelitten hatten. Über ein Vierteljahrhundert hatten wir die kommunistische Unterweisung genossen; jetzt aber kehrte die Regierung in der Stunde der Gefahr zu den traditionellen Appellen an Patriotismus, Rassentreue, Liebe zum heimatlichen Boden und später sogar zur Religion zurück. Wir waren nicht in den Krieg gezogen, um das Land des ‚Sozialismus‘ zu verteidigen, sondern den russischen Boden, das slawische Erbe und den orthodoxen Gott. Aber von allen Mythen, die in den kommunistischen Propagandabrutstätten gezüchtet werden, ist jene die wertloseste, weil die falscheste, die besagt, Stalin habe die 22 Friedensmonate (19./23. Aug. 1939 - 22. Juni 1941), die er durch seinen Pakt mit den Nazis gewonnen hatte, zur Aufrüstung gegen diese verwendet. Das ist eine Lüge. Es ist eine Beleidigung von Millionen von Russen, die gerade deshalb litten und starben, weil diese Frist nicht ausgenützt wurde. Als der Krieg kam, waren wir mit allen Verteidigungsarbeiten im Rückstand und hatten nicht einmal vernünftige Pläne, um Menschen und wertvolles Kriegsmaterial, die sich auf der unmittelbaren Einfallstraße des Eroberers befanden, in Sicherheit zu bringen. Wer daran zweifelt, braucht bloß die Reden des 18. Parteikongresses vom Februar 1941, also nur vier Monate vor der deutschen Invasion, zu lesen. Rede um Rede gibt ein Bild der industriellen Schwierigkeiten und Mißstände, besonders in den kriegswichtigen Wirtschaftszweigen. Ich erhielt im Laufe meiner eigenen Arbeit während der Kriegsjahre tausend Beweise dafür, daß dieses Bild nicht übertrieben ist.

61 Kravchenko, Victor A.: Ich wählte die Freiheit. Das private und politische Leben eines Sowjetbeamten, Zürich 1947, S. 524.

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Bei dem Lärm um die angebliche Auflösung der Internationale hatte man ganz vergessen, daß Stalins Buch, ‚Probleme des Leninismus‘, immer noch der oberste Führer in doktrinären Fragen des Kommunismus blieb. In diesem Buch läßt Stalin keinen Zweifel an seinem Glauben aufkommen, daß das ‚siegreiche Proletariat‘ – das heißt die UdSSR – nicht nur das Recht, sondern auch die heilige Verpflichtung hat, Gewalt anzuwenden, um in anderen Ländern die Revolution durchzuführen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Das bestehende, revolutionäre Regime, erklärte Stalin, muß der übrigen Welt Hilfe leisten, und ‚wenn es not tut, selbst mit militärischer Gewalt gegen die ausbeutenden Klassen in ihren Staaten vorgehen‘. Ebenso blieb die offizielle stalinistische Geschichte der Partei in Kraft und ist heute überall verbreitet, wo Anhänger Stalins leben. Sie spricht eine deutliche Sprache. ‚Die kommunistische Partei der ganzen Union‘, erklärt der erste Abschnitt dieses Buches, ‚anerkannte und anerkennt jetzt als Führer in der Revolution die Lehre von Marx und Lenin. Das Studium der Parteigeschichte stärkt den Glauben in den Endsieg der großen Aufgabe Lenins und Stalins und den Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt‘. Da diese Anschauungen nie revidiert wurden, denkt man mit Schaudern daran, was hätte geschehen können, wenn der Staat Stalins – statt Amerika – die Atombombe zuerst erfunden hätte! Dies ist keine an den Haaren herbeigezogene Spekulation. Die russischen Wissenschaftler und Intellektuellen im allgemeinen, ganz gleichgültig, welches ihre politische Einstellung war, arbeiteten treu und tüchtig an der Erringung des Sieges. Sie halfen an der Überwindung der Mängel durch die Produktion von wichtigem Kriegsmaterial und durch die Erfindung überraschender, neuer Waffen. Es war ein offenes Geheimnis, daß unter Stalins eigener Leitung die Atomforschung stark forciert wurde. Gegen Ende des Jahres 1942 ging das Gerücht um, Stalin hätte den Leiter der Akademie der Wissenschaften, Professor Komarow, und den Direktor des physikalischen Institutes, Kapitza, zu einer geheimen Konferenz empfangen, um die Frage der Atomenergie zu besprechen. Militärische Sowjetspione strengten sich mächtig an, um in das Geheimnis der Atomforschung anderer Länder einzudringen. Bei der im Dezember 1942 abgehaltenen Sitzung der Akademie in Swerdlowsk sprach man viel vom Fortschritt in der Gewinnung seltener Metalle, unter anderem auch von Uran. In den kommunistischen Kreisen rühmte man sich, Kapitza mache erstaunliche Fortschritte in der Atomzertrümmerung. Wenn der Kreml die Atombombe vor den führenden Demokratien der Welt besessen hätte, würde sie Stalin wohl verwendet haben, um damit die Revolution, wie er sie forderte, überall durchzusetzen? Meine Antwort ist nur eine persönliche Meinung, aber sie stützt sich auf eine lebenslängliche Erfahrung des bolschewistischen Geistes, seiner Kühnheit und seiner Amoral in jenen Dingen, wo die Treue zur Sache hineinspielt. Die Antwort lautet: Ja [….] Seit einiger Zeit hatte ich alle Register gezogen, um das beliebteste Geschenk, das eine allmächtige Regierung gewähren kann, zu erhalten: eine Separatwohnung. Schließlich hatte ich Erfolg.

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Aber mein Schicksal wollte es, daß ich diese Wohnung nie beziehen sollte. Es war ein Neubau und noch nicht einzugsbereit. Auch die Frage der Möblierung dieser Zimmer verschlang Zeit. Unterdessen war eine Gelegenheit für einen Posten im Ausland aufgetaucht – die gesegnete Gelegenheit, auf die ich nur in meinen optimistischsten Wachträumen und mit Bangen zu hoffen wagte. Bevor diese Frage endgültig entschieden war, hatte der Umzug noch keinen Sinn. Die zunehmenden Pacht-Leih-Sendungen machten es notwendig, Hunderte von Fachleuten aller Wirtschaftszweige nach England, Kanada und besonders nach Amerika zu schicken.62 Mehr Russen als je in der Sowjetgeschichte waren nun imstande, in die Außenwelt zu gelangen. Als metallurgischer Ingenieur mit vielseitiger Erfahrung eignete ich mich für einen solchen Posten. Trotz meiner langen Prüfung während der Säuberungen war wenigstens formell mein politischer Ruf fleckenlos. Und doch wäre es schlechte Strategie und tatsächlich sogar fast unmöglich gewesen, diese Sache selbst in die Hand zu nehmen. Je lieber man ins Ausland wollte, um so sorgfältiger mußte man diese Sehnsucht, damit sie nicht mißverstanden – oder richtig verstanden – wurde, vor den Gehilfen unserer sowjetischen Herren verbergen. Eines Nachts diskutierte ich mit einem Beamten hohen Ranges in unserem Außenhandel über die Pacht-Leih-Lage. Ich unterhielt mit ihm fast freundschaftliche Beziehungen. Sorgfältig und geschickt lenkte ich das Gespräch. Ich wagte nicht, ihm zu verstehen zu geben, vor ihm sitze ein Mann, der im Ausland nützlich sein könnte, aber es gelang mir, ihm diesen schönen Gedanken irgendwie nahezulegen, und plötzlich schien er eine Erleuchtung zu haben. ‚Victor Andrejewitsch, würdest du gerne nach Amerika reisen?‘ fragte er mich. ‚Ich weiß, wir brauchen dort dringend Leute.‘ ‚Na, daran habe ich noch gar nie gedacht. Zudem leiste ich hier sehr verantwortungsschwere Arbeit im Sownarkom, wie du weißt. Aber wenn es für die Kriegsbemühungen nützlich sein sollte …“ Mein Freund war aber nicht auf den Kopf gefallen. Er wurde durch meine Sprödigkeit nicht zum besten gehalten. ‚Ich will dafür sorgen‘, sagte er mir. ‚Du kannst damit rechnen, daß ich den Vorschlag den zuständigen Stellen unterbreiten werde‘[…]. Ungefähr zur gleichen Zeit erfolgte am 19. August 1942 der deutsche Befehl zum Angriff auf Stalingrad. Am 22. November 1942 wurde die 6. Armee im Raum Stalingrad eingeschlossen. Die Kapitulation am 2. Februar 1943 beendete die Schlacht um Stalingrad. Der unvermeidliche Sieg wurde errungen. Die Deutschen waren tatsächlich im Blut ersäuft worden – in ihrem eigenen und in russischem. Neben dem Aufhalten

62 11. März 1941: Das amerikanische Pacht- und Leihgesetz (Lend-Lease-Act), das den Präsidenten ermächtigt, alle Staaten mit Waffen und Ausrüstung zu unterstützen, deren Verteidigung im Interesse der USA liege, tritt in Kraft. Es kommt zunächst überwiegend Großbritannien und – mit Abstand – China zugute, nach November 1941 auch der Sowjetunion. Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 1943-1948, S. 74 ff.

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des deutschen Vormarsches hatte dieser Triumph noch einen anderen Sinn, der allgemein übersehen und unterschätzt wurde. Die Rote Armee erbeutete in diesem Kampfe genügend deutsche Waffen, um dreißig oder vierzig Divisionen auszurüsten. Ein deutscher Militärtheoretiker, Clausewitz, gab den Generälen den Ratschlag, den Feind mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen. Genau das konnten die Sowjetgeneräle nach Stalingrad machen. Das von den Deutschen erbeutete Kriegsmaterial war für den Erfolg der russischen Gegenoffensive ebenso wertvoll wie der Pacht-Leih-Vertrag. Vom November 1942 bis November 1944 umfaßten die Siegestrophäen meines Landes über 4.000 Flugzeuge, 17.000 Tanks, 55.000 Artilleriewaffen, 118.000 Maschinengewehre und 1.500.000 Gewehre. Vieles mußte natürlich erst wiederhergestellt werden. Die Waffen Hitlers aber wurden buchstäblich gegen ihn selbst gerichtet. Ich sah der Schlacht um Stalingrad mit großer Sehnsucht auf den Endsieg zu, wie jeder andere Sowjetbürger auch, ganz gleichgültig, wie er sich zur Regierung stellen mochte. Zur selben Zeit – so groß ist die Verzerrung der moralischen Perspektive – wartete ich auf das Ergebnis der Frage, die entscheiden sollte, ob ich Rußland verlassen durfte. […] Stalins Untergebene im Ausland. Ich zögerte einige Augenblicke, bevor ich in die Stadt Vancouver ging. Mit tiefem Ernst erfaßte ich die Bedeutung dieses Augenblicks. Zum erstenmal in meinen achtunddreißig Jahren war ich frei von den Fesseln meiner heimatlichen russischen Welt. Zum erstenmal in meinen reifen Jahren befand ich mich, so schien es mir wenigstens, außerhalb der Reichweite Stalins und seiner Geheimpolizei. Vancouver. Mein Kopf dröhnte. Meine Gedanken hüpften. Ich war frei! Wer war es doch, der einmal gesagt hat, nur ein Sklave könne die Freiheit würdigen? Während ich mit einer Gruppe meiner Schiffsgenossen durch die Hauptstraße schritt, schien es mir, als hätte ich noch nie zuvor so viele entspannte, furchtlose und glückliche Leute an einem Ort und zur selben Zeit zusammen gesehen. Am meisten erstaunten uns die Schaufenster. Welch ein Überfluß an Kleidern, Eßwaren und Gebrauchsgegenständen! Wir waren wie Kinder in einem Zirkus: Wir sperrten Mund und Augen auf und bestaunten Dinge, die einem Erwachsenen Selbstverständlichkeiten sind. Das ist ja, als sei der Traum des sozialistischen Überflusses verwirklicht worden, wiederholte ich immer wieder für mich. Das sind die Dinge, die man uns nach den endlosen Ketten von Fünfjahresplänen für eine ferne Zukunft versprochen hat! Aber auch ein Groll zuckte durch meine Gedanken: Dieses Volk, unsere Verbündeten, schien von den Grauen und Opfern des Krieges, die mein unglückliches Land überfluteten, wenig zu wissen. Wir gingen in die Geschäfte, um einige Einkäufe zu machen: Für die meisten von uns die ersten ‚kapitalistischen‘ Einkäufe. Konnten wir all das Brot, all die Hemden, alle Schokolade und überhaupt alles, was wir wollten, wirklich kaufen? Das grenzte ans Wunderbare. Die Preise schienen uns lächerlich niedrig. Unsere Mädchen unterhielten sich in ekstatischen Tönen über ein Kleid in einem Schaufenster. In Moskau oder Wladiwostok hätten sie, voraussetzt, es wäre in Kriegszeiten etwas so Elegantes und Hübsches überhaupt zu finden gewesen, gern 2.000 oder

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3.000 Rubel dafür bezahlt: Etwa acht oder zehn Monatsgehälter oder die Ersparnisse mehrerer Jahre. In Vancouver kostete ein Kleid14.98 Dollar [...] Wir beschlossen, in einen Schuhladen zu gehen. Freundlich wurden wir empfangen und höflich zu bequemen Stühlen geführt. ‚Dieser Hurensohn weiß, daß wir Ausländer sind‘, murrte ein Misanthrop in unserer Mitte, ‚und nun gibt er groß an.‘ Wir waren aber nicht überzeugt, da auch die Kanadier mit der gleichen höflichen Achtung behandelt wurden. Der Verkäufer war so modisch gekleidet wie ein kapitalistischer Schurke in einem Sowjetpropagandafilm. Er brachte viele Schuhe verschiedener Formen, verschiedenen Materials, ein ganzes Schuhmuseum. Er war über unsere Verwunderung erstaunt und konnte sich das Entzücken der russischen Mädchen nicht recht erklären. Mein soziologisches Interesse erwachte. ‚Sind Sie der Besitzer dieses Geschäftes?‘ fragte ich ihn durch eine Dolmetscherin. ‚O nein, ich bin hier nur Verkäufer‘, lachte er. ‚Dürfen wir Sie fragen, wieviel Sie monatlich verdienen?‘ ‚Natürlich. Das hängt vom Umsatz ab. Etwa 150 Dollar schätzungsweise‘. ‚Hundertundfünfzig Dollar!‘ Der Misanthrop vergaß sich und rief dies auf Russisch aus. Gleich uns, verwandelte er diese Summe in Schuhpaare zu den eben genannten Preisen. ‚Dieser Teufelskerl kann sich mit seinem Monatsgehalt dreißig Paar Schuhe kaufen‘. Dann beschlossen wir, ein Kurzwarengeschäft zu betreten. Hemden, Krawatten, Taschentücher, Pullover, Mäntel und ganze Berge von allem und jedem zu bescheidenen Preisen. Es kam uns merkwürdig vor, daß der Laden nicht von fanatischen Käufern gestürmt und im Nu geleert wurde. Diese phantastischen Kapitalisten gaben einem nicht nur alles, was das Herz begehrte, sondern packten es überdies noch ein und dankten dafür, daß man es mitnahm! Beladen mit Paketen betraten wir ein Restaurant. Nach unserem besten Wissen und Gewissen wurden wir von niemandem verfolgt. Sofern wir uns nicht gegenseitig anzeigten, brauchte keine Menschenseele zu wissen, wo wir gewesen, was wir getan und was wir gesagt hatten. Die vorgesetzten Speisen vollendeten das Bild des Überflusses. Durch die aufgeregte Truppe plaudernder Russen angelockt, kam ein älterer, tadellos gekleideter Mann, eine lange Zigarre rauchend, auf uns zu und stellte sich vor. Er war der Besitzer des Restaurants. ‚Ihr Burschen macht den Deutschen das Leben zur Hölle!‘ erklärte er und gab uns der Reihe nach einzeln die Hand. ‚Ich sag euch, Rußland wird den Krieg gewinnen, und eure Alliierten sollten dafür verdammt dankbar sein‘. ‚Ja, es ist notwendig, die Diktatur Hitlers zu vernichten‘, antwortete einer von uns. ‚Sie haben recht!‘ sagte der Besitzer. ‚Ich bewundere alle Russen aus dem Grunde meines Herzens, obschon ich natürlich mit dem Kommunismus nicht einverstanden bin. Schließlich hat Mr. Stalin auch eine Diktatur eingeführt‘.

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Frostiges Schweigen. Der Misanthrop blickte mich langsam und bedeutungsvoll an. ‚Da hast du’s!‘ sagte er auf Russisch. ‚Ein Faschist, der sich freundlich gibt, aber im Grunde unser Land haßt‘. Schon wollte ich die Bemerkung unseres Gastgebers verteidigen, als ich eben noch an mich halten konnte. Ich war ja noch immer unter Sowjetbürgern und meine Freiheit noch immer gefesselt. Wieder auf dem Schiff, verglichen wir unsere Eindrücke und Einkäufe. Wir sprachen bis spät in die Nacht über die Wunder dieser reichen Welt, die der Wirklichkeit des Krieges so fern stand. Wir sagten einander natürlich zur politischen Sicherung, dies alles sei bloß oberflächliche Täuschung, unter der die Greueltaten, die Ausbeutung, die Degeneriertheit und die zukünftigen Krisen lauerten, wie es von unserer stalinistischen Weltanschauung verheißen wurde. Vielleicht dachten wir auch, die Warnungen vor den kapitalistischen Fleischtöpfen seien schließlich doch nicht übertrieben. Einige Tage später bestiegen wir einen Zug. Ich durchschritt alle Wagen, um die Leute zu beobachten. Selbst in der dritten Klasse schienen meinen Sowjetaugen die Passagiere gut gekleidet. Ich sah Männer und Frauen, die offenbar nur Bauern, Angestellte oder Arbeiter waren; aber sie trugen alle gute Lederschuhe und warme, solide Kleider. Ein solcher Reichtum kam mir ein wenig unwirklich und extravagant vor. Am folgenden Tag betrat ein uniformierter Amerikaner in Begleitung eines Zivilisten unseren Wagen. Er blickte in unsere Pässe, prüfte sie oberflächlich, ohne eine Spur von Verdächtigung und gab sie uns wieder lächelnd zurück. Wir wußten, daß der Zivilist Zollinspektor war und hatten alle unsere Koffer weit geöffnet. Er warf nachlässig einen Blick in den einen oder anderen, eine reine Formsache, und sagte dann: ‚In Ordnung. Gut! Schließt sie nur wieder zu!‘ Wir waren durch diese merkwürdige Sorglosigkeit geradezu in Verlegenheit geraten und wunderten uns, wo da wohl die Falle stecken mochte. Persönliche Freiheit ist etwas wert. Aber deutete nicht dieser Mangel an Wachsamkeit auf Anarchie und Chaos hin? Die beiden Männer hielten sich einige Minuten bei uns auf, weil sie sich freuten, Russen zu treffen. Dann wünschten sie uns viel Glück und gingen lächelnd hinaus. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, die Einreise in die Vereinigten Staaten sei ein langwieriger Vorgang mit vielen ausgedehnten Inspektionen und vielleicht sogar Verhören hinter verschlossenen Türen. Wir hatten in einer Stadt namens Buffalo einen kurzen Aufenthalt, den wir natürlich dazu benützten, uns die Stadt anzusehen. Ich erinnerte mich, das Wort Buffalo auf Maschinen in russischen Fabriken gelesen zu haben, und fühlte mich durch die großen Gebäude, die Sauberkeit und die Ordnung des Ortes angezogen. Ein paar Buffaloamerikaner hielten an, um mit uns zu sprechen, aber zu unserem Erstaunen stellte kein einziger eine politische oder wirtschaftliche Frage. Wir brauchten wohl lange Zeit, um diese Menschen kennen zu lernen, die sich gegenüber Politik und Ideologie so gleichgültig verhielten. Die Reise nach Washington war für mich voller Aufregung. Fieberhafte Neugierde gegenüber dem neuen Land hatte mich erfaßt, und ich starrte verwundert auf jede neue Stadt, auf die breiten asphaltierten Straßen und auf die amerikanischen

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Bauern auf ihren Feldern, die so anders waren als die unsern. Die offene und ungezwungene Art, in welcher Männer und Frauen das Gespräch eröffneten, die fast kindliche Offenheit und Naivität, in der sie Fragen stellten und Fragen beantworteten, rührte mich. Aus den Romanen von Dreiser und Steinbeck war ich auf schreckliches Elend und tiefe Bitterkeit gefaßt, von der ich bis jetzt keine Spur zu sehen bekam. Später erfuhr ich dann, daß auch die Amerikaner ihren Anteil an Elend und Ungerechtigkeit besitzen. Aber ein Russe, der eben aus dem ‚sozialistischen‘ Lande kam, konnte Steinbecks Unwille kaum teilen; seine Joads waren nicht schlimmer dran als die meisten unserer Bauern. Am 19. August 1943 fuhr ich in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten ein und wurde am Bahnhof von einem Vertreter der Sowjeteinkaufskommission empfangen. Man hatte mir bereits ein Zimmer bei einer amerikanischen Familie gemietet. Es war sauber, sonnig, bequem, mit einem eigenen Bad, und meine Gastgeber schienen aufrichtig erfreut, unter ihrem Dache einen Ausländer zu beherbergen – einen jener ‚wunderbaren Russen‘. Sie fragten mich nicht nach ‚Dokumenten‘ und hatten es offenbar nicht nötig, mich bei einem Hauskomitee anzumelden. Einem gedrillten Gewissen kam diese Nachlässigkeit ziemlich unordentlich, wenn nicht geradezu sündhaft vor. Mit der Zeit erfanden diese Familie und ich eine Art eigener Sprache, die aus Zeichen und verstümmelten Worten bestand, aber für unseren oberflächlichen, gesellschaftlichen Verkehr genügte. Sie achteten mich aus freien Stücken als einen Experten des Krieges und aller ausländischen Dinge, speziell der russischen, und benahmen sich, als sei jeder militärische Sieg Sowjetrußlands mir persönlich zuzuschreiben. Mein unmittelbarer Vorgesetzter, teilte mir Genosse Serow mit, heiße Alexander Rastartschuk, und ich sei einer von etwa zehn metallurgischen Spezialisten in der von ihm geleiteten Metallabteilung. Zehn Millionen Dollar in Metallwaren sollten unter dem Pacht-Leih-Vertrag nach Sowjetrußland eingeschifft werden, und es war meine Pflicht, einen Teil dieses Materials zu prüfen, die Eignung zu unseren Zwecken zu bestätigen und Materialien von unermeßlichem Wert auszuwählen oder zurückzuweisen. Ich sei für alles durch meine Hände gehende Material voll verantwortlich. Die vorherrschenden amerikanischen Vorstellungen über das Sowjetwunder waren wirklich phantastisch. Große Teile der kommunistischen Wirklichkeit, wie: Sklavenarbeit, Polizeidiktatur, die harten periodischen Säuberungen, die phantastisch niederen Lebensbedingungen, die große Hungersnot der Jahre 1932/33, die Greuel der Kollektivierung, die staatlich organisierte Arbeit der Minderjährigen, Dinge, die in Rußland jedermann wußte, waren der amerikanischen Aufmerksamkeit völlig entgangen. Einige von uns erachteten sie vielleicht als notwendig und unvermeidlich oder sogar als gut; aber es wäre uns nie eingefallen, sie abzuleugnen. Und doch blickten mich die Amerikaner ungläubig an, wenn ich versuchte, diese Dinge zu erwähnen (zu einer Zeit, da ein offenes Gespräch bereits möglich war), und einige beeilten sich sogar, überzeugte Gegenreden vorzutragen. Kravchenko gab am 4. April 1944 der New York Times und anderen Zeitungen eine Erklärung vor, von der ein Teil in der New York Times und anderen Zeitungen am 4. April 1944 erschien. Wenn ich sie jetzt, da der Krieg siegreich beendet ist,

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wieder durchlese, so gibt es nichts in meiner Aussage, das ich verbessern möchte. Im Gegenteil, die Zeit hat meine Befürchtungen und Warnungen bestätigt. Ich klagte damals den Kreml an, er ‚verfolge Ziele, die mit der Zusammenarbeit mit den Alliierten nicht in Einklang ständen‘, während er offiziell mit England und Amerika verbündet sei. Nach der scheinbaren Auflösung der kommunistischen Internationale, schrieb ich, fahre Moskau fort, die kommunistischen Bewegungen überall zu fördern. An Hand von Stalins Politik gegenüber Polen, dem Balkan, der Tschechoslowakei, Ungarn, Österreich und anderen Ländern versuchte ich, nachzuweisen, daß seine Ziele rein sowjetisch und undemokratisch seien. Ich fügte dann hinzu: ‚Unter dem Vorwand, in den vom Faschismus befreiten Ländern die Demokratie einzuführen, hat die Sowjetregierung zu Hause nicht einen einzigen ernstlichen Schritt unternommen, um die elementaren Freiheiten dem russischen Volk zu garantieren. Das russische Volk ist wie früher von unaussprechlicher Bedrückung und Grausamkeit unterjocht, während die NKVD [Innenministerium der UdSSR] mit ihren Tausenden von Spionen fortfährt, die Völker Rußlands mit ihrer ungezügelten Schreckensherrschaft zu unterdrücken. In den von den Nazis gesäuberten Gebieten führt die Sowjetregierung ihr politisches Regime der Gesetzlosigkeit und Gewalt wieder ein, während Gefängnisse und Konzentrationslager wie bisher weiter existieren. Die Hoffnungen auf politische und soziale Reformen, die das russische Volk bei Kriegsausbruch hegte, haben sich als leere Illusionen erwiesen [...] Mehr als jedes andere Volk, verdient das russische die Garantie der elementaren politischen Rechte – echte Rede- und Pressefreiheit, Befreiung von Not und Befreiung von Furcht. Was das russische Volk von seiner Regierung erhalten hat, sind bloße Lippenbekenntnisse dieser Freiheiten. Jahrelang hat es unter beständiger Furcht und Mangel gelitten. Das russische Volk hat mit seinen unermeßlichen Opfern, die das Land und die bestehende Regierung selbst gerettet haben, eine andere Behandlung verdient, da es dadurch dem Faschismus die entscheidenden Schläge versetzte und den Lauf des Krieges änderte.‘ Seit ich diese Worte geschrieben, ist nichts geschehen, was dieses Bild verändert hätte. Die stalinistische Diktatur dauert in ihrer Grausamkeit und Macht weiter, und die Methoden ihres Terrors sind nicht gemildert worden. Ich darf von einem Durchschnittsbürger einer demokratischen Nation nicht erwarten, daß er das wahre Wesen einer totalitären Tyrannei versteht. Jene Männer, die die Anklagen gegen die Naziverbrecher entwarfen, kamen mit ihrer Schilderung der Naziregierung einem solchen Verständnis nahe. Als ich ihr Dokument las, konnte ich nicht umhin, auszurufen: ‚Hier endlich finde ich eine treffende Beschreibung des Sowjetregimes! Wir brauchen bloß einige Namen zu ändern, das Wort ‚Nazi‘ mit ‚Sowjet‘ zu vertauschen, und wir erhalten ein getreues Bild der Kremlregierung‘. Dieses Buch, geschrieben als Lebensgeschichte eines typischen Russen, dessen Freiheitsgefühl nicht vernichtet werden konnte, ist mein Appell an das demokratische Gewissen Amerikas und der Welt“.63

63 Ebd., S. 439, 441, 448, 524-536, 559-563, 576, 585.

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1946 besuchten der amerikanische Schriftsteller John Ernst Steinbeck (19021968) und der Fotograf Robert Capa die Sowjetunion. In der „Russischen Reise“64 berichtet Steinbeck: „Die Lebensmittelgeschäfte in Moskau sind sehr groß, und wie bei den Restaurants gibt es zwei Kategorien: die Markenläden, in denen die Eßwaren sehr billig sind, wenn man die Lebensmittelmarken hat, und die freien Läden, die ebenfalls von der Regierung betrieben werden und in denen man beinahe alle Lebensmittel zu sehr hohen Preisen bekommen kann. Die Konservendosen sind zu Bergen, Sekt und Wein aus Georgien zu Pyramiden aufgetürmt. Wir sahen einige Produkte, die eventuell aus US-amerikanischen Beständen stammten. Es gab Krabben in Dosen, auf denen noch immer die japanischen Etiketten klebten. Es gab deutsche Lebensmittel. Und es gab die Luxusprodukte aus der Sowjetunion selbst – große Dosen Kaviar, Massen von ukrainischen Würsten, Käse, gesalzenen Fisch und sogar Wild, Wildgans und Waldschnepfe, Trappe und Kaninchen und Hasen, kleine Vögel und ein weißer Vogel, der wie ein Schneehuhn aussieht. Es gab alle möglichen Sorten geräuchertes Fleisch. Aber all diese Lebensmittel sind Luxusgüter. Für den Durchschnittsrussen sind der Preis sowie die Menge des Brotes und der Preis von Kohl und Kartoffeln wichtig. In einem guten Jahr wie diesem sinken die Preise von Brot, Kohl und Kartoffeln, und dies ist ein verläßliches Anzeichen dafür, daß die Ernte gut war. Die Fenster der Lebensmittelgeschäfte, ob Markenladen oder freier Laden, sind mit wächsernen Ebenbildern der angebotenen Lebensmittel gefüllt. Es gibt Wachsschinken, Wachsspeck und -würste, Wachsrinderhälften, sogar Wachskaviardosen. Als nächstes gingen wir in die Kaufhäuser, in denen Kleidung, Schuhe und Strümpfe, Anzüge und Kleider verkauft werden. Die Qualität war nicht sehr gut und die Verarbeitung ebenfalls nicht. Es ist der Grundsatz der Sowjetunion, Gebrauchsgegenstände herzustellen, sofern sie benötigt werden, und keine Luxusgüter herzustellen, bis die Gebrauchsgegenstände den bestehenden Bedarf gesättigt haben. Es gab gemusterte Kleider, ein paar Anzüge aus Wollstoff, und die Preise kamen uns sehr hoch vor. Aber hier geraten wir in Gefahr, verallgemeinernde Aussagen zu treffen, denn selbst in der kurzen Zeit, in der wir uns in der Sowjetunion aufhielten, fielen die Preise, und die Qualität schien besser zu werden. Es kommt uns so vor, als ob das, was an einem Tag stimmt, am nächsten nicht mehr zutreffend ist. Wir gingen weiter zu den freien Läden, die Waren aus zweiter Hand verkaufen. Dabei handelt es sich um Fachgeschäfte. Einer verkauft Porzellan und Lampen, ein anderer Schmuck – antiken Schmuck, da nur sehr wenig moderner Schmuck hergestellt wird –, Granate und Smaragde, Ohrringe, Ringe und Armbänder. Ein dritter verkauft Fotoapparate und Zubehör, hauptsächlich deutsche Kameras, die aus dem Krieg zurückgebracht wurden. Ein vierter führt gebrauchte Kleider und Schuhe. Es gibt Läden, in denen Halbedelsteine aus dem Uralgebirge verkauft werden, Beryll, Topas, Aquamarin.

64 Steinbeck, John: Russische Reise. Mit Fotografien von Robert Capa, 3. Aufl., 2011.

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Vor diesen Läden findet eine andere Art Handel statt. Verläßt man ein Fotogeschäft, nähern sich einem zwei oder drei ziemlich verdächtige Männer, und jeder trägt ein Paket, und in dem Paket befindet sich ein Fotoapparat, eine Contax, eine Leica oder eine Rolleiflex. Diese Männer gewähren einem einen kurzen Blick auf den Fotoapparat und nennen einen Preis. Das gleiche geschieht vor den Juwelierläden. Davor steht ein Mann mit zusammengeknülltem Zeitungspapier. Er öffnet das Päckchen schnell, zeigt einem einen Diamantring und erwähnt einen Preis. Was er tut, ist wahrscheinlich illegal. Die Preise dieser Straßenhändler sind eher ein wenig höher als die Preise in den freien Läden. In diesen Läden drängt sich immer eine große Menschenmenge, Leute, die nicht gekommen sind, um zu kaufen, sondern um andere zu beobachten. Schaut man sich irgend etwas genauer an, ist man sofort von Menschen umringt, die sehen wollen – und zwar ob man kauft. Für sie ist das wohl eine Art Theater, schlußfolgerten wir. Wir gingen zurück in unser grünes Schlafzimmer mit dem verrückten Wandgemälde und fühlten uns deprimiert. Wir fanden nicht genau heraus, woran das lag, und dann kam uns die Erleuchtung: In den Straßen begegnet man sehr selten einem Lachen und kaum einmal einem Lächeln. Die Menschen gehen oder vielmehr tippeln mit gesenktem Kopf dahin, und sie lächeln nicht. Vielleicht weil sie zu schwer arbeiten, weil sie zu weite Wege zu ihrer Arbeit haben. In den Straßen scheint eine große Ernsthaftigkeit zu herrschen, und vielleicht war das schon immer so, wir wissen es nicht“.65 Steinbeck beschließt den Reisebericht: „Das Flugzeug überquerte die Grenze, und am frühen Nachmittag landeten wir in Prag, und ich mußte Capa aufwecken. Hier ist nun also unsere Reportage. Sie handelt von den Dingen, wegen denen wir aufbrachen. Wie wir vermutet hatten, stellte sich heraus, daß die Russen Menschen wie du und ich sind und daß sie sehr nett sind. Die Menschen, die wir trafen, haßten den Krieg, sie wollten, was alle Menschen wollen – ein gutes Leben, mehr Komfort, Sicherheit und Frieden. Uns ist klar, daß dieser Bericht weder für die ekklesiastische Linke noch für die grobschlächtige Rechte besonders befriedigend ist. Erstere wird sagen, er sei antirussisch, und die zweite, daß er prorussisch sei. Ganz bestimmt ist er oberflächlich, und wie könnte er das auch nicht sein? Es gibt keine Schlußfolgerungen, die man ziehen könnte, außer jener, daß sich das russische Volk nicht wesentlich von den anderen Völkern dieser Welt unterscheidet. Ganz bestimmt gibt es einige Bösewichte darunter, aber die weitaus meisten sind sehr anständige Menschen“.66 „Der sowjetische Alltag blieb von einem außerordentlich niedrigen Lebensstandard und von stalinistischer Repression bestimmt. 1963 konnte eine Hungerkatastrophe nur durch Weizenkäufe im ‚kapitalistischen‘ Ausland verhindert werden 65 Steinbeck, John: Russische Reise. Mit Fotografien von Robert Capa, 3. Aufl., 2011, S. 59 f. 66 Ebd., S. 292 f.

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... In der Landwirtschaft konnte die überdurchschnittliche Steigerung der Produktion ab 1966 nicht über die Anfälligkeit gegenüber ungünstigen Witterungsbedingungen hinwegtäuschen, so daß ab 1975 regelmäßig Getreidezukäufe im ‚kapitalistischen‘ Ausland unerläßlich wurden“.67 8.2. Die Vereinigten Staaten als Modell: „Die Erschließung des eigenen Marktes durch planmäßige Aufzucht einer starken Kaufkraft bei den breiten Massen ist das Wirtschaftswunder der amerikanischen Wirtschaft“ England war das erste Land, das um 1750 mit der Industrialisierung einsetzte. Die Textilindustrie war die Leitindustrie. Deutsche Unternehmer reisten bevorzugt nach England, um sich das Rüstzeug für ihr Gewerk zu holen.68 Ende des 19. Jahrhunderts wurden die USA das Modell für deutsche Unternehmer. Der Industrielle Ernst Poensgen (1871-1949) reiste von 1888 bis 1928 achtmal in die USA. Bei der Gründung der Vereinigten Stahlwerke AG 1926 in Düsseldorf war die United States Steel Corporation aus den USA das Modell. Letztere war auch das Modell für die Reorganisation 1932/33. Dabei wurde das Gesamtunternehmen in 22 Betriebsgesellschaften gegliedert. Das größte Montanunternehmen Europas hatte 1938 180.000 Beschäftigte. Die Republik von Weimar hatte ein „kurzes, aber ereignisreiches Leben“. „Vom politischen wie vom wirtschaftlichen Standpunkt aus kann man die knappe vierzehnjährige Zeitspanne in drei deutlich getrennte Perioden einteilen. Die erste dauerte fünf Jahre, vom November 1918 bis zum November 1923. Politisch war das die Zeit der ärgsten Unordnung und der gefährlichen Anschläge auf das Leben der jungen Republik. Wirtschaftlich war sie durch die Inflation charakterisiert. Die Ära der politischen Unruhen, der Putsche und der politischen Morde fand genau am gleichen Tag ihr Ende wie die Inflation. Am 9. November 1923 wurde der Operetten-Putsch von Hitler und Ludendorff in München niedergeschlagen. Am 15. November 1923 wurde die Währung stabilisiert. Die zweite Periode dauerte bis Ende 1929 und die dritte Periode bis Ende Januar 1933. Die wirtschaftliche Erholung in diesem zweiten Abschnitt der Weimarer Republik stand unter dem Zeichen eines Vorgangs, den man in Deutschland gewöhnlich ‚Rationalisierung‘ nannte. Zu jener Zeit richtete sich Deutschland in seinen wirtschaftlichen und technischen Zielen eindeutig nach amerikanischen Mustern aus. Amerika wurde sozusagen wieder einmal entdeckt. Nachdem Deutschland ein ganzes Jahrzehnt lang durch Krieg und Inflation vom Wettbewerb auf dem Weltmarkt und sogar von der Kenntnis der Vorgänge im Ausland so gut wie abgeschnitten war (nur vereinzelte Leute konnten sich Devisen für das Abonnement ausländischer wissenschaftlicher und technischer Zeitschriften beschaffen, noch weniger für Auslandsreisen), mußte man jetzt die Entdeckung machen, daß die Welt nicht stillgestanden 67 Fischer, Alexander: Sowjetunion, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 6, 1995, S. 315 f. 68 Schumacher, Martin: Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750-1851 unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen, Köln 1968, S. 294-300.

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war, daß insbesondere Amerika eine Verbesserung seiner Produktionsmethoden erlebt hatte, die alles hier Bekannte weit übertraf. Nun begannen Pilgerzüge nach den Vereinigten Staaten, und man bestaunte dort verzückt das ‚amerikanische Wirtschaftswunder‘. Tatsächlich gelang es Deutschland in den sechs oder sieben ruhigen Jahren, die auf die Schreckenszeit von Krieg und Inflation folgten, eine ganze Menge zu lernen“.69 Speziell bei der Elektrifizierung der Haushalte waren die USA führend und wirkten auf Deutschland ein.70 Bei einer Reise in die Vereinigten Staaten von September bis November 1925 stellten deutsche Gewerkschaftsführer dort ein „Wirtschaftswunder“ fest. In der Einleitung heißt es: „Deutschland hatte unter dem neuen Werden schwer zu leiden. Seine Währungskatastrophe und die Ruhrbesetzung brachten es wirtschaftlich zu fast völligem Stillstand. Erst nach der Währungsstabilisierung und nach Annahme der Dawes-Gesetze durch den Reichstag konnte Deutschland den Wiederaufbau seiner Wirtschaft auf einigermassen gesichertem und übersichtlichem Grunde beginnen. Wenn es für den Neuaufbau der Wirtschaft irgendwo in der Welt ein Objekt des Studiums gab, so waren dies die Vereinigten Staaten Nordamerikas. Infolgedessen reiste eine ganze Reihe deutscher Wirtschaftsvertreter – Männer der Wirtschaftswissenschaft wie der Wirtschaftspraxis – hinüber, das Neue zu studieren […] Wenn mit einem Blick die Summe der vorhandenen Lebensmöglichkeiten umfasst wird, für das Volk im ganzen und für die Arbeiterklasse im besonderen, dann bleibt doch nicht der geringste Zweifel, dass der Lebensstandard in den Vereinigten Staaten ganz erheblich höher ist als in Deutschland selbst in seiner besten Zeit […]. Wirklich entscheidend für den wirtschaftlichen Vorsprung der Neuen Welt ist die höher entwickelte Technik und Arbeitsorganisation. Auf diesem Gebiet aber ist der unleugbar vorhandene Vorsprung Amerikas kein Naturgeschenk, sondern Menschenwerk, für das die Voraussetzungen auch in der deutschen Wirtschaft gegeben sind […] So erstaunlich uns die technischen und arbeitsorganisatorischen Leistungen Amerikas sind, das eigentliche ‚Wirtschaftswunder‘ ist doch mehr darin zu suchen, dass die schnell wachsende Güterproduktion vom Konsum verdaut werden konnte. In der sozialistischen Arbeiterbewegung war man früher geneigt, dem Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft als einer entwicklungsgesetzlichen Naturnotwendigkeit entgegenzusehen in der Annahme, dass mit dem zunehmenden technischen Fortschritt und dem Anwachsen der Produktivität ‚die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf wachsen‘ müssten und ‚immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter‘ würde. Auch ohne den Einfluss des

69 Stolper, Gustav: Deutsche Wirtschaft 1970-1940. Kaiserreich – Republik – Drittes Reich, Stuttgart 1950, S. 85. 70 Hessler, Martina: Mrs. Modern Woman – zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushaltstechnisierung, Frankfurt / Main 2001.

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amerikanischen Beispiels hat sich in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Verlauf der Praxis mit einem solchen starren Entwicklungsschema doch nicht ganz übereinstimmt. Eine entsprechende Revision der theoretischen Auffassung hat sich – wenigstens in Deutschland – in aller Form schon vollzogen. Der theoretische Streit darüber, ob unter der Herrschaft einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung für die Arbeiterklasse überhaupt die Möglichkeit besteht, bei wachsender Produktivität an der Vermehrung des Wohlstandes teilzunehmen, oder ob nicht vielmehr alle Vorteile einer solchen Entwicklung den Kapitalisten zufallen müssen, ist erloschen. Die Tatsachen und die Erfolge der Gewerkschaften haben bewiesen, dass es in der kapitalistischen Wirtschaft durchaus kein Naturgesetz gibt, wonach die ökonomische Lage der Arbeiterschaft nicht verbessert werden könne. Diese Erkenntnis ist weit entfernt etwa von einer Aussöhnung mit dem kapitalistischen System selbst, dessen ökonomische Widersprüche und soziale Ungerechtigkeiten nicht dadurch widerlegt sind, dass es immerhin auch der Arbeiterklasse eine Verbesserung ihrer Lebenshaltung ermöglicht. Die Erschliessung des eigenen Marktes durch planmässige Aufzucht einer starken Kaufkraft bei den breiten Massen, das ist das Geheimnis der amerikanischen Wirtschaft. Hohe Löhne und niedrige Preise, grosser Umsatz und kleiner Stücknutzen: Aus dieser Praxis erwuchsen die Wunder der Technik und der Arbeitsorganisation wie von selbst“.71

71 Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, Berlin 1926, S. 5, 251-256.

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III. Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945 und die Währungsreform vom 20. Juni 1948 in den Westzonen 1. Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945: Ordnungspolitische Grundlage für die Globalisierung Andreas Predöhl versteht unter Weltwirtschaft das „Netz von wirtschaftlichen Beziehungen […], das die Einzelwirtschaften der Erde in ihren lebenswichtigen Belangen voneinander abhängig macht. Dieser Begriff beschränkt die Weltwirtschaft nicht auf die internationalen Beziehungen, obwohl diese einen großen Teil der weiträumigen Wirtschaftsbeziehungen ausmachen und obwohl wesentliche Probleme der Weltwirtschaft sich aus ihnen ergeben, wie vor allem die internationalen Währungsprobleme. Seit aber der größte Teil der weiträumigen wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb der riesigen Staatsräume der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion liegt und ähnliche Probleme stellt wie etwa die internationalen Beziehungen im europäischen Raum, sind die weiträumigen internationalen Beziehungen von den weiträumigen innernationalen nicht mehr zu trennen. Es kommt überhaupt nicht auf den Austausch als solchen an, sondern auf den funktionalen Zusammenhang der wirtschaftlichen Größen innerhalb der Staatsräume und über die Staatsgrenzen hinweg. Der Begriff Weltwirtschaft ist demnach auch nicht dem Begriff Volkswirtschaft über- oder beigeordnet. Volkswirtschaft ist vielmehr ein politischer Begriff, nämlich der staatsräumliche Ausschnitt aus der Weltwirtschaft in seiner Ausrichtung auf die Ziele der Bevölkerung des Staatsgebietes. Aus der Einordnung der Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft ergeben sich die Probleme der Außenwirtschaft“.1 Beim Aufbau der Weltwirtschaft unterscheidet Predöhl drei Phasen: 1. Integration, 2. Expansion und 3. Intensivierung. Integration: „Die Moderne ist erst mit der industriellen Revolution entstanden. Der Verkehr ist das Integrationsinstrument dieser Weltwirtschaft (Eisenbahnen, Dampfschiffahrt). […] Bis zur Mitte des 19. Jh. aber war die englische Wirtschaft der alleinige Mittelpunkt der Weltwirtschaft. Expansion: Die europäische Bevölkerung stieg von 187 Mill. 1800 auf 447 Mill. 1910. Mit den Menschen wanderte das Kapital. Die Randländer entwickeln sich aus der Kapitalausfuhr der industriellen Kernländer. Diese nehmen sich nicht nur der Erschließung der mineralischen Rohstoffe, der Plantagenwirtschaft und der Hanfindustrie an, sondern auch der Verkehrserschließung. Das Ergebnis der Expansionsperiode ist mithin eine bi-zentrische Weltwirtschaft, eine Weltwirtschaft, die sich auf zwei industrielle Kraftfelder ausrichtet, das 1

Predöhl, Andreas: Weltwirtschaft, in: HdSW, Bd. 11, 1961, S. 604.

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europäische und das amerikanische. Die beiden Kraftfelder durchdringen sich gegenseitig und überschneiden sich in Absatz und Bezug in allen Bereichen der weltwirtschaftlichen Peripherie. Die Verdopplung der Schwerpunktbildung hebt mithin die Einheit der Weltwirtschaft nicht auf, sie gibt ihr nur ein komplizierteres Gefüge, als es der europäischen Weltwirtschaft des 19. Jh. und erst recht der englischen Weltwirtschaft der Frühzeit eigen war. Intensivierung: Die Wendung von der Expansion zur Intensivierung der Weltwirtschaft hat nun aber keineswegs zu einem Nachlassen des Wachstums geführt. Im Gegenteil, die Weiterentwicklung vollzieht sich noch stürmischer als in der Zeit der Ausdehnung. Die nordamerikanische Industrieproduktion hat sich im zweiten Weltkrieg nahezu verdoppelt, und diese Entwicklung ist keineswegs nur auf die Rüstung zurückzuführen, sie hat sich nach dem zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Das europäische Industriekerngebiet hat ebenfalls ein starkes Wachstum erfahren, das sich nach den schweren Rückschlägen in und nach dem Kriege wieder mit hohen Wachstumsquoten fortgesetzt hat. Die deutsche Wirtschaft ist wieder in die Kernstellung des europäischen Gravitationsfeldes hineingewachsen, und zwar um so stürmischer, als sie nach dem Kriege zunächst auf Kosten der gesamten europäischen Wirtschaft niedergehalten wurde. Ende des 19. Jahrhunderts entstand die bizentrische Weltwirtschaft mit den industriellen Kraftfeldern in Westeuropa und den USA. Die räumliche Ordnung der Weltwirtschaft hat sich bis zum Ende der Expansion fast ausschließlich nach ökonomischen Grundsätzen vollzogen. Staatsgrenzen haben nur geringen Einfluß ausgeübt. Das erklärt sich aus der Steuerung der Wirtschaft durch den freien Wettbewerb innerhalb der Staatsräume und über die Staatsgrenzen hinweg im institutionellen Rahmen der Goldwährung. Da die Goldwährung nur funktionieren kann, wenn Zölle und Einfuhrbeschränkungen auf dasjenige Mindestmaß beschränkt bleiben, das mit dem automatischen Ausgleich der Zahlungsbilanzen gerade noch verträglich ist, erklärt es sich, daß sich Goldwährung und Freihandel miteinander entwickelt haben und daß die Schutzzollpolitik nicht mehr als eine leichte Verzerrung des Raumbildes bewirkt hat. Sie hat die Industrialisierung der Randländer beschleunigt, die Umbildung der Landwirtschaft in Kernländern verzögert und die Austauschverhältnisse zwischen den Ländern ein wenig verschoben. Vor allem haben die Weltmärkte der Stapelprodukte, wie Weizen und Baumwolle, Mineralien und Holz, Häute, Felle und Gummi, ihre regelnde Wirkung mit höchst empfindlichen Preisbewegungen in der ganzen Welt durchsetzen können. So eng ist die liberale Weltwirtschaft mit der Goldwährung verbunden, daß man geradezu den Zeitpunkt des Eintritts der einzelnen Länder in die Weltwirtschaft ablesen kann an dem Zeitpunkt, in dem sie die Goldwährung eingeführt haben“.2 Ludwig von Mises hat das Modell des Liberalismus beschrieben: „Liberalismus und Außenhandel: Die Marktwirtschaft, die der Liberalismus empfiehlt, kennt keine Staatsgrenzen, keinen Unterschied zwischen Binnen- und Außenhandel. Der Liberalismus verwirft alle Handelshemmnisse und duldet keine 2

Ebd., S. 604 ff.

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anderen Zölle als Finanzzölle. Nur England und einige kleinere Länder haben auch diesen Punkt des liberalen Programms einige Jahrzehnte hindurch befolgt. In manchen anderen Ländern – darunter auch Frankreich und Deutschland – gab es eine Zeit ziemlicher Annäherung an den freien Außenhandel. Man pflegt die Darstellung der Geschichte der Außenhandelspolitik von der der Binnenwirtschaft zu stark zu trennen. Es wird dabei nicht genügend beachtet, daß Interventionismus im Inneren wirkungslos bliebe, wenn der Außenhandel frei gelassen wird. Je weiter ein Staat auf dem Wege des Interventionismus fortschreitet, desto mehr muß er die Lenkung des Verkehrs über die Grenzen in die Hand nehmen. Die Entwicklung seit 1914 hat daher notwendigerweise dazu geführt, daß nahezu überall Einfuhr und Ausfuhr vom Ermessen der Regierung abhängen. Der Liberale sieht den Zweck des Außenhandels in der Einfuhr von Gütern und betrachtet die Ausfuhr nur als Mittel zur Bezahlung der Einfuhr. Der Neomerkantilist sucht der Einfuhr Hindernisse in den Weg zu legen und die Ausfuhr zu fördern. Er sieht nicht den Widerspruch“.3 Die erste Periode der Expansion und Intensivierung der Weltwirtschaft dauerte bis zum Ersten Weltkrieg (1914-18), der die Harmonie, das Gleichgewicht der Weltwirtschaft zerstörte. Die zweite Periode (1918-1945) kann als Periode der Desintegration bezeichnet werden. Ab 1944 (Bretton Woods) beginnt die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Amerika.4 Bei der universalen politischen und wirtschaftlichen Neuordnung lernten die politischen Führer der USA aus den Fehlern, die nach Beendigung des Ersten Weltkrieges (1914-18) mit dem Vertrag von Versailles 1919 gemacht worden waren. Der Grundsatz der US-Führung war: Wir dürfen nicht die Fehler von damals wiederholen. Der Versuch, die Neuordnung zu analysieren erfolgt in vier Schritten: Lernen aus der Geschichte: Die Bedeutung historischer Perzeption für politische Entscheidungen; Analyse des Vertrages von Versailles (1919), der Reparationen, der interalliierten Verschuldung und der Weltwirtschaftskrise (1929-1933); Liberalisierung der Weltwirtschaft unter Führung der Vereinigten Staaten (Bretton Woods, GATT); die Truman-Doktrin vom 12. März 1947 und der Marshall-Plan vom 5. Juni 1947. 1.1. Lernen aus der Geschichte: Die Bedeutung historischer Perzeptionen für politische Entscheidungen Der amerikanische Diplomat John H. Backer war nach 1945 vier Jahrelang Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung in Deutschland und von 1955 bis 1970 als Diplomat in der Bundesrepublik und der Sowjetunion tätig. Bei seiner Analyse 3

Mises, Ludwig v.: Liberalismus (II) Wirtschaftlicher Liberalismus, in: HdSW, Bd. 6, 1959, S. 601.

4

Predöhl, Andreas: Außenwirtschaft, Weltwirtschaft, Handelspolitik und Währungspolitik, Göttingen 1949. Condliffe, John B.: Commerce of Nations, New York 1950/ London 1951.

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der amerikanischen Deutschlandpolitik (1943 – 1948) analysiert er die Ereignisse und Umstände, die zur Teilung Deutschlands führten. Von sowjetischer und amerikanischer Seite wurden ähnliche langfristige Vorstellungen von einigen politischen Führern gehegt. „Das primäre Element dieser konstant aufweisbaren Politik war die Bewertung der Vergangenheit. Da nur zwei Jahrzehnte die beiden Weltkriege voneinander trennten und die Machtkonstellation in der europäischen politischen Arena etwa gleich geblieben war, versuchten die politischen Führer der USA aus früheren Fehlern zu lernen. Allerdings erwiesen sich – und dies soll im folgenden demonstriert werden – historische Perzeption und Erfahrungen als trügerisch und als Ausgangspunkt für neue schicksalhafte Fehlentscheidungen. […] In der jüngsten Vergangenheit haben amerikanische Politologen der Analyse politischer Entscheidungsprozesse vermehrte Aufmerksamkeit gewidmet. Soweit es sich dabei um außenpolitische Entscheidungsprozesse handelt, spiegelten ihre Bemühungen eine ganze Reihe interdisziplinärer Ansätze wider: die theoretische Modellbildung, die Suche nach Regelmäßigkeiten im Verhalten politischer Entscheidungsträger, die Mehr-Ebenen Studien, die Untersuchung individueller wie auch nationaler ‚BeliefSysteme‘ etc. Während die meisten Arbeiten die Bedeutung historischer Perzeptionen hervorhoben, wurde nicht immer verdeutlicht, wessen ‚gespeicherte Informationen‘ relevant sind bzw. wie sie entstanden waren. Auf der anderen Seite konnten die spezifischen Gefahren von Missperzeptionen – sie werden in diesem Buch vorzugsweise unter Verweis auf Beispiele in der Literatur behandelt – sehr klar herausgearbeitet werden. Eines der häufig diskutierten Modelle politischen Entscheidungsverhaltens, das ein ganzes Kapitel in Andrew Scotts ‚The Functioning of the International Political System‘5 in Anspruch nimmt, weist ganz detailliert auf die Bedeutung historischer Perzeptionen hin. Scotts Entscheidungsträger halten engen Kontakt zu einer wachsamen innenpolitischen Öffentlichkeit aufrecht, und es finden kontinuierliche Wechselbeziehungen zwischen den Wert- und Image-Systemen auf beiden Seiten statt. Scott definiert die Wert- und Image-Systeme eines Individuums als ‚Ideologie, die als Teil eines Wahrnehmungsrasters (perceptual screen) gedacht werden sollte, durch den das Individuum die Welt betrachtet‘. Die Perzeption dessen was ist, was war, was sein könnte und sollte, wird so beeinflußt. Scott behandelt Lernund Vergessensprozesse der Entscheidungsträger ausführlich. Er weist darauf hin, daß die Entscheidungsträger nur deshalb in der Lage sind, sich ein Image von ihrer Umwelt zu bilden, weil das politische System, in dem Entscheidungen getroffen werden, über sogenannte ‚stored memories‘ verfügt. Solche mit Informationen aus der Vergangenheit gespeicherten ‚Erinnerungen‘ können bzw. können auch nicht eine zutreffende Interpretation vergangener Ereignisse anbieten, ebenso können bzw. können sie auch nicht ein zutreffendes Bild der gegenwärtigen Situation zeichnen. Entscheidungssysteme verfügen normalerweise über die Kapazität, sich zu erinnern und fast mit Sicherheit über die Kapazität, zu vergessen. Scott kommt zu der Schlußfolgerung, daß Vergessen ein selektiver Prozeß ist. Jedes System entwickelt

5

Scott, Andrew: The Functioning of the International Political System, New York 1967.

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gewisse Regelmäßigkeiten in bezug auf das Material, das es im Gedächtnis speichern bzw. der Vergessenheit anheimfallen lassen will. […] Was die amerikanische Geschichte anbelangt, so gibt es keine Periode, die nicht in mehrfacher und höchst unterschiedlicher Weise interpretiert worden ist. Die heftig umstrittene Debatte über die Ursprünge des Kalten Krieges findet ihre Parallele in verschiedenen Einschätzungen von Pearl Harbor, der Zwischenkriegs-Periode, Versailles, dem Ersten Weltkrieg, dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, der ‚Open Door‘-Politik und dem amerikanischen Bürgerkrieg. Selbst wenn Verschwörungs-Interpretationen der Geschichte nicht in die Betrachtung aufgenommen werden, bleiben immer noch eine große Anzahl widersprüchlicher, dabei aber durchaus wissenschaftlich ernstzunehmender Analysen übrig, die sich entweder als traditionalistisch oder als revisionistisch einstufen lassen. […] Als allgemein anerkannt gilt die Tatsache, daß der Erste Weltkrieg und die Ergebnisse der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle bei der Herausbildung dieser Perzeption spielten. Die galoppierende Inflation als Begleiterscheinung der französischen Ruhrbesetzung wurde zu einem beträchtlichen Teil selber induziert; ihre verhängnisvolle Begleiterscheinung – der weitgehende finanzielle Ruin der deutschen Mittelklasse – bereitete die Grundlage für den späteren Erfolg der Nationalsozialistischen Partei und das Aufkommen einer revanchistischen Außenpolitik. Die Vereinigten Staaten versuchten, Deutschland durch langfristige finanzielle Hilfsmaßnahmen wieder aufzurichten. Deutschland jedoch wurde bald zahlungsunfähig, und amerikanische Steuerzahler kamen für deutsche Reparationsleistungen auf. Außerdem stellten die leichtgläubigen Siegermächte genügend finanzielle Mittel bereit, Deutschlands Kriegsproduktion und damit Vorbereitungen für den nächsten Krieg zu unterstützen.6 Die deutsche Wiederaufrüstung – von Hitler initiiert und durchgeführt – wurde erst durch unterschiedlichste politische Maßnahmen der Siegermächte ermöglicht. Die USA hatten versucht, sich aus weiteren Verwicklungen in europäische Angelegenheiten herauszuhalten. Der zweite deutsche Griff nach der Weltmacht – diesmal in Verbindung mit einer Aggression Japans – führte indessen unvermeidlich zu einem erneuten militärischen Engagement der USA. […] Vor dem Hintergrund des bestrittenen Vorwurfs einer einseitigen deutschen Kriegsschuld erschienen viele der in Versailles auferlegten Sanktionen nicht länger gerechtfertigt. Dies galt insbesondere für die Reparationen,7 die mit amerikanischer aktiver Beteiligung auf eine unhaltbare Höhe geschraubt worden waren“.8 Im Kapitel „Der amerikanische Steuerzahler und die deutschen Reparationen“ illustriert Backer wie man aus der Reparationsregelung nach dem Ersten Weltkrieg (1914-18) Schlußfolgerungen für die Reparationsfrage nach dem Zweiten Weltkrieg zog.

6

Bemis, Samuel Flagg: A Diplomatic History of the United States, New York 1964.

7

Burnett, Philip Mason: Reparation at the Paris Peace Conference from the Standpoint of the American Delegation, 2 Bde., New York 1965.

8

Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Die amerikanische Deutschlandpolitik, München 1981, S. 8-10.

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Bei der Konferenz in Jalta (4.-11.2.1945) forderte der sowjetische Botschafter Reparationen in Höhe von 10 Milliarden Dollar. „Churchill äußerte in seiner Erwiderung Zweifel, daß die UdSSR auch nur in etwa an diese von Maiski erwähnte Summe herankommen könne. Wie sich der Premierminister erinnerte, waren nach dem Ersten Weltkrieg lediglich 2 Milliarden Pfund Sterling (8 Milliarden Dollar) in Form von Reparationen aus Deutschland herausgeholt worden und das auch nur, weil die USA Deutschland Kredite gewährten. Er beschwor den Geist des deutschen Handelswettbewerbs und führte dazu das Beispiel der alten Atlantik-Dampfer an, die als Reparationsleistungen entgegen genommen wurden, mit dem Resultat, daß die Deutschen prompt neue und bessere Schiffe bauten. Nach seiner Ansicht gab es keinen Grund, die Fehler des Ersten Weltkriegs zu wiederholen, indem die Alliierten in fantastischen Zahlen schwelgten. Roosevelt sprach als nächster, wobei er sein Stichwort dem Vorbereitungspapier entnahm und bemerkte, daß die USA nach dem letzten Krieg einen großen Betrag Geldes verloren hatten. Er erwähnte dann die fantastische Summe von ‚mehr als 10 Milliarden Dollar, die an Deutschland ausgeliehen wurde‘ und fügte hinzu, daß die Vereinigten Staaten ihren vorangegangenen Fehler nicht wiederholen würden. Er sagte, daß die Deutschen über keine Fabrikanlagen und Ausrüstungsgegenstände verfügen, die für die USA von Nutzen sein könnten; außerdem wollte er nicht Überlegungen über die Notwendigkeit anstellen, den Deutschen zu helfen, nicht zu verhungern. Er war jedoch bereit, sowjetische Reparationsansprüche zu unterstützen, weil der Lebensstandard der Deutschen nicht höher sein sollte als der sowjetische. Seine Schlußfolgerung war, daß ein maximaler Reparationsanteil aus Deutschland herauszuholen sei, aber nicht bis zu einem Ausmaß, das die deutsche Bevölkerung Hunger leiden ließe. Auf der Potsdamer Konferenz (17.7.-2.8.1945) wurde die amerikanische Position zu den Reparationen von Truman noch deutlicher vertreten, als er im Gegensatz zu den alliierten Entscheidungsträgern 26 Jahre vorher gegen ‚eine Eroberer-Haltung im Sieg‘ auftrat. Die USA beabsichtigten gemäß seiner Erklärung nicht, die Reparationsrechnung zu zahlen, ‚was sie in großem Umfang nach dem Ersten Weltkrieg getan hatten‘.9 Wie Admiral Leahy es beschrieb: ‚Truman setzte sich in einer Weise gegen Stalin zur Wehr, die das Herz eines jeden patriotischen Amerikaners erwärmen sollte. Er weigerte sich, in ein Reparationsabkommen gepreßt zu werden, das die Geschichte des Ersten Weltkrieges wiederholen würde, als der amerikanische Steuerzahler sich als Reparationsbezahler für Deutschland wiederfand‘.10 Die politische Theorie unterstellte, daß die Ansichten der politischen Führer die gespeicherten ‚Gedächtnisinhalte‘ des politischen System reflektieren, in welchem sie agieren“.11

9

Truman, Harry S.: Memoirs, New York 1955/56, S. 111, zitiert nach: Backer, John H.: Die Entscheidung, S. 49.

10 Ebda., S.49. 11 Ebda., S.40 f., 49.

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1.2. Analyse des Vertrages von Versailles (1919), der Reparationen, der interalliierten Verschuldung und der Weltwirtschaftskrise (1929-1933) Der am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichnete und am 10. Januar 1920 in Kraft getretene Vertrag von Versailles beendete den 1. Weltkrieg für das Deutsche Reich. „Die Grundlage für die Alliierten, das Reich zu bestrafen und Kriegs- sowie Kriegsfolgekosten zu fordern, sollte die moralische Verurteilung Deutschlands bilden, dem man die Schuld am Kriegsausbruch zuschrieb“.12 Die Frage nach der Schuld an der Entstehung des Weltkrieges von 1914 wurde in der Einleitung und im Artikel 231 des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 festgelegt. „Die Einleitung macht Österreich-Ungarn wegen seiner Kriegserklärung an Serbien, das Deutsche Reich wegen seiner Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich sowie wegen des Einfalls in Belgien für den Ausbruch des Krieges verantwortlich. Der entscheidende Art. 231 lautet: ‚Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben‘13“. Dies war die Grundlage für die Reparationen. „Die Endsumme der finanziellen Reparationen blieb vorläufig offen. Sie wurde 1921 ultimativ auf 132. Mrd. Goldmark festgesetzt. Als Rechtfertigung für die harten Bedingungen wurde das Eingeständnis der Alleinschuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Kriegsausbruch gefordert. […] Die Reparationslieferungen erschwerten den Wiederaufbau der Weltwirtschaft“.14 J. M. Keynes gewann schon 1919 die „Überzeugung, daß die wirtschaftlichen Bedingungen des Friedensvertrages, welche die Alliierten Deutschland aufzuzwingen suchten, undurchführbar und übermäßig hart seien. Keynes machte diese Frage zum Gegenstand seiner Streitschrift ‚The Economic Consequences of the Peace‘,15 die sich unmittelbar auf die öffentliche Meinung in Großbritannien wie anderwärts auswirkte und jedenfalls in seinem eigenen Land eine frühe Revision der Auffassungen über dieses Problem zur Folge hatte“.16

12 Morsey, Rudolf: Versailler Vertrag, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 1995, Sp. 705. Weber, Karl: Die Einwirkungen der Reparationen auf die Weltwirtschaft, Diss. München 1930. Salin, Edgar: Die deutschen Tribute. 12 Reden, Berlin 1930. Stolper, Gustav: Der Friedensvertrag von St. Germain in seinen wirtschaftlichen Folgen, Leipzig 1921. 13 Eckert, Christian: Friedensverträge, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Bd., 4. Aufl., Jena 1927, S. 461 14 Morsey, Rudolf: Versailler Vertrag, Sp. 706. 15 Keynes, John M.: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München/Leipzig 1920. Ders.: Revision des Friedensvertrages, München 1922. Angell, Norman: The Peace Treaty and the Economic Chaos of Europe, London 1920, dt. Ausgabe Berlin 1920. 16 Harrod, Roy F.: John Maynard Keynes (1883-1946), in: Handbuch der Staatswissenschaften, Bd. 5, 1956, S. 604.

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Auch in Frankreich wuchs die Einsicht in den Konstruktionsfehler des Vertrages von Versailles. „Je mehr die Kriegspsychose schwindet, desto eher ist wachsende Einsicht in die Ungerechtigkeit des unsauberen Friedensvertrags, wie ihn der Franzose Ebray nennt, zu erhoffen.17 André Germain, der Sohn des Begründers des Crédit Lyonnais, der heute wie vor dem Kriege die Wiederversöhnung des deutschen und des französischen Geistes anstrebt, hat sich nicht gescheut auszudrücken: ‚Der ungerechte Friedensvertrag, den man über den Gräbern der Gefallenen errichtet hat, das geistige Chaos, das seine notwendige Folge war, sind die Saat kommenden Unheils. In den Ländern der Unterlegenen haben Zorn und Haß die Geister der Rache wieder aufleben lassen. In den Siegerstaaten haben Minister und Diplomaten, die mitschuldig sind an dem vergossenen Blut, einen wahnsinnigen Frieden diktiert, der nur eine Freveltat mehr ist‘18“. Die französische Einstellung änderte sich erst nach den Kammerwahlen vom 11. Juni 1924. „Sechs Jahre fruchtlosen Kampfes um Europas Frieden mußten nach der Waffenniederlegung vergehen, bis in Paris Männer des anderen Frankreich: Herriot, Painlevé, Briand die Aera der Gewaltpolitik ablösten, während schon vorher in Deutschland der Gedanke der Politik der Erfüllungen, wie ihn sämtliche Kabinette von Wirth über Rathenau zu Cuno, Stresemann und Luther seit 1919 sich zu eigen gemacht hatten, durchgedrungen war. Er hatte sich durchgesetzt, obwohl die Deutschen sich im Vertrauen auf die amerikanischen Versprechungen der Tragweite des von ihnen Aufgezwungenen erst allmählich bewußt geworden sind. Das neue französische Parlament stellte 1924 dem deutschen Minister des Auswärtigen Stresemann zunächst Herriot gegenüber, dann Briand, der sich selbst als einen ‚Mann der Verhandlungen‘ bezeichnet hat“.19 Die USA hatten erst am 6. April 1917 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, „da ihnen die Ueberdehnung und Ueberstreckung des Krieges wirtschaftlich immer lästiger wurde. Dort waren die Massen durch das Versprechen einer neuen Zeit für den Krieg eingefangen worden. Sie wurden während des Kampfes in äußerste Erregung aufgepeitscht, so daß weite Kreise vom Strafgedanken sich beherrschen ließen. Nach den vorgezeichneten Richtlinien sollte Amerika nicht um eigener nationalegoistischer Interessen willen kämpfen und siegen, sondern das Gewicht des wirtschaftlich mächtigsten Landes in die Waagschale zugunsten des Interessenausgleichs, der Neuordnung der Menschheit werfen. Fast allen französischen Forderungen stand Amerika gegenüber, das eine Abmilderung des extremen Verlangens anstrebte. Die Amerikaner traten für einen allgemeinen wirtschaftlichen Wiederaufbau der Welt ein, an dem auch Deutschland teilnehmen sollte (Hervorhebung J. S.). Sie verlangten, Deutschland sollten die Mittel zur Gesundung seines wirtschaftlichen Lebens gewährt werden, gewiß nicht nur, um die Zahl der Arbeitslosen

17 Ebray, Alcide: Der unsaubere Frieden (Versailles), Berlin 1925. 18 Eckert, Christian: Friedensverträge (vom staatswissenschaftlichen Standpunkte), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4.°Aufl., Bd. 4, Jena 1927, S. 470. 19 Ebd., S. 498.

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zu verringern, sondern um es auch in den Stand zu setzen, die Wiederherstellungen in die Wege zu leiten“.20 Die Reparationen wurden von 132 Milliarden Goldmark im Dawes-Plan 1924 auf 50 Milliarden und im Young-Plan von 1929 auf 36 Milliarden Goldmark reduziert. Die Konferenz von Lausanne (17. Juni bis 9. Juli 1932) führte zur endgültigen Beseitigung der Reparationen. Das Reich verpflichtete sich in dem Lausanner Abkommen vom 9. Juli 1932 nur noch zu einer Abschlagszahlung von 3 Mrd. RM, die jedoch nicht mehr gezahlt worden ist“.21 Die Fortsetzung der Reparationen beruhte auf einer geradezu unmöglichen Einschätzung der deutschen Zahlungsfähigkeit. Die wirtschaftliche Kraft des deutschen Volkes hat zu keinem Zeitpunkt ausgereicht, die Reparationen aufzubringen. Sie hätten nur aus Überschüssen der deutschen Ausfuhr bezahlt werden können. Die Zahlungsempfänger sperrten sich gegen die entsprechenden Warenlieferungen. In der ohne Gegenleistung erfolgenden Übertragung so gewaltiger Geldsummen lag der entscheidende Fehler aller Reparationspläne. Die Reparationszahlungen störten sehr empfindlich das Gleichgewicht der weltwirtschaftlichen Beziehungen. Zu den Reparationen kam die hohe interalliierte Verschuldung. „Von den rd. 11 Mrd. Dollar Forderungen der Vereinigten Staaten schuldete allein Großbritannien 4,3 Mrd., Frankreich 3,4 Mrd. und Italien 1,7 Mrd.; Großbritannien hatte seinen Verbündeten 8 Mrd. Dollar zur Verfügung gestellt, so daß die britischen Forderungen höher waren als die Verbindlichkeiten gegenüber den Vereinigten Staaten. Auch Frankreich hatte während des Krieges Kredite in einer Gesamthöhe von 15 Mrd. Francs (rd. 3 Mrd. Dollar), allein davon an Rußland 6,5 Mrd. Francs, vergeben. […] Die ‚World War Foreign Debt Commission‘ erreichte in insgesamt fünfzehn Abkommen bis 1926 die Fundierung dieser interalliierten Schulden. […] In einem Sondermemorandum zum Young-Plan von 1929 kam die Verbindung von interalliierten Schulden und Reparationen klar zum Ausdruck: Nur 24 v. H. von den deutschen Zahlungen war für die Reparationsgläubiger vorgesehen“.22 Die amerikanische Öffentlichkeit war gegen eine Streichung interalliierter Kriegsschulden. „Schenken wir den in Rüstungen starrenden Staaten Europas das Geld der amerikanischen Bürger, so steht zu befürchten, daß die Schuldenstreichung nur zu einer Erhöhung des europäischen Militarismus führt, zumal auch der Rüstungen rund um Deutschland herum und gegen dieses. Amerika aber hat an einem Weltkriege genug. Es kann seine Hand nicht dazu bieten, mit seinem Gelde den zweiten zu finanzieren. Schuldenstreichung? Solange die europäischen Rüstungen im jetzigen Grade weitergehen, niemals! Ob das schließlich ein ewiges Niemals sein wird, bleibt abzuwarten“.23 20 Ebd., S. 455. 21 Röper, Burkhardt: Reparationen, in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 815 22 Wandel, Eckhard: Kapitalbewegungen, internationale, I.: Geschichte, in: HdSW, Bd. 4, 1988, S. 381. Röper, Burkhardt: Reparationen, in: HdSW, Bd. 8, 1964, S. 814. Mautner, Wilhelm: Die Verschuldung Europas, 1923. 23 Hirsch, Julius: Amerikas neue Wirtschaftsprobleme, in: Harms, Bernhard (Hrsg.): Volk und Reich der Deutschen, Bd. 3, 1929, S. 563.

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„Die Reparationsverpflichtungen Deutschlands und die aus der Kriegszeit stammenden Forderungen der USA an ihre Verbündeten setzten zwischen den einzelnen Nationen Geldströme in Bewegung, denen kein Austausch an Waren oder Dienstleistungen gegenüberstand“.24 Der Versailler Vertrag hat in Europa weder den wirklichen Frieden unter den Völkern hergestellt, noch den wirtschaftlichen Wiederaufbau ermöglicht.25 All das führte dazu, daß Walter Eucken den Versailler Vertrag als „Konstruktionsfehler“ bezeichnete.26 In den Weltwirtschaftskonferenzen von Genf 1927 und London 1933 wurden die „Konstruktionsfehler“ (Reparationen, protektionistische Handelspolitik) zwar erkannt, das Ziel jedoch, die Wiederherstellung eines freien multilateralen Austausches, war in den einzelnen Ländern politisch nicht durchsetzbar. Die „Konstruktionsfehler“ kulminierten in der Weltwirtschaftskrise von 19291933 und führten zur Verblockung der Weltwirtschaft.27 Andreas Predöhl versteht unter der Weltwirtschaftskrise einen „einmalige[n] Vorgang, nämlich den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, der sich in der Depression des Jahres 1931 vollzogen hat und mit dem der automatische Ausgleich der Zahlungsbilanzen vermittels des Goldwährungsmechanismus durch die autonome Währungspolitik der Staaten, der automatische Ablauf der Konjunkturen durch die staatliche Konjunkturpolitik ersetzt worden ist“.28 Gustav Cassel (1866-1945) hielt die Weltwirtschaftskrise für ein „Sonderphänomen, das durch politisch erzwungene internationale Kapitalbewegungen mit ihnen verbundene protektionistische Handelspolitik und eine verfehlte Währungspolitik herbeigeführt wurde“.29 Wandel sieht die Ursachen für den Zusammenbruch der internationalen Kapitalbewegungen in der Weltwirtschaftskrise (1929-1933) „weniger in den politischen Schulden als vielmehr in der Unteralimentierung der internationalen Kapitalmärkte und die Überalimentierung des internationalen Geldmarktes verantwortlich. Weitere Gründe waren die Verwendung kurzfristiger Auslandskredite für langfristige Anlagen bei deutschen und englischen Banken, große Geldabzüge aus einem Währungssystem, das auf Gold beruhte, sowie das Fehlen einer internationalen Währungskooperation“.30 Anders ausgedrückt: Es war genügend Geld vorhanden, die Privatbesitzer waren jedoch nur bereit das Geld kurzfristig auszuleihen, da für eine langfristige Ausleihe das Vertrauen (Eucken) fehlte.

24 Blaich, Fritz: Weltwirtschaftskrise, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 5, 1995, Sp. 954. 25 Schlesinger, Arthur M.: The Crisis of the Old Order 1919-1933, New York 1957. 26 Eucken, Walter: Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 36 (1932), S. 297-321. 27 Kindleberger, Charles P.: Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939, München 1973. 28 Predöhl, Andreas: Weltwirtschaftskonferenzen, in: HdSW, Bd. 11, 1961, S. 614-617. 29 Kromphardt, Wilhelm: Cassel, Gustav (1866-1945), in: HdSW, Bd. 2, 1959, S. 476. 30 Wandel, Eckhard: Kapitalbewegungen, internationale. I: Geschichte, in: HdWW, Bd. 4, 1988, S. 384.

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„Ausgangspunkt [der Weltwirtschaftskrise] war der Zusammenbruch der durch eine starke Spekulation übersteigerten New Yorker Börsenhausse am 24.10.1929. Dieser Zusammenbruch führte zu einer Depression, die sich 1930 zunächst über die Vereinigten Staaten von Amerika ausbreitete, die mit einer übersteigerten Konsumfinanzierung dem Glauben an eine ewige Prosperität verhaftet gewesen waren. […] Die Zwangsmaßnahmen, die in Deutschland ergriffen wurden, namentlich die Devisenbewirtschaftung, sind bei ihrer Einführung genauso unvermeidlich gewesen wie für die meisten anderen Länder, die zu späterem Zeitpunkt zu ihnen gegriffen haben. Als am 13.6.1931 die ‚Darmstädter und Nationalbank‘ zusammenbrach, war die deutsche Wirtschaftspolitik mit ihren liberalen Methoden am Ende. Durch Notverordnungen vom 15. und 18.7.1931 und vom 1.8.1931 wurde der freie Devisenverkehr durch eine umfassende Devisenzwangswirtschaft ersetzt“.31 Damit schloß sich Deutschland von der internationalen Arbeitsteilung ab und konnte eine autonome staatliche Binnenkonjunktur betreiben.32 Im Deutschen Reich hatte die Arbeitslosigkeit am 15. März 1932 mit 6.129.173 Arbeitslosen ihren höchsten Stand. Die Arbeitslosigkeit schwemmte am 30. Januar 1933 Hitler an die Macht. „Die Auflösung der Goldeinlösung der ‚Bank von England‘ erfolgte de facto am 20., de jure am 21.9.1931. Hier liegt der entscheidende Wendepunkt. Die liberale Währungspolitik hatte sich an den Automatismus der Goldbewegungen gehalten und orientierte Kreditausweitung und Krediteinschränkung am Pegelstand der Goldvorräte; die nun einsetzende autonome Währungspolitik richtete sich nach den währungspolitischen Zielen der einzelnen Staaten. An die Stelle stabiler Wechselkurse bei schwankenden Preisniveaus traten autonom bestimmte Preisniveaus mit schwankenden Wechselkursen oder Devisenbewirtschaftung. Die englische Devalvation ist der Ausgangspunkt für eine Welle von Abwertungen geworden. Automatisch gingen die Länder mit Pfunddevisenwährungen, Britisch-Indien, Ägypten, Palästina und Irland, mit. Es folgten Australien und Neuseeland, später auch Südafrika. Dazukamen die skandinavischen Länder mit unterschiedlichen Abwertungsquoten, also unterschiedlichen Abstufungen auch gegenüber dem Pfund, wie denn die Gesichtspunkte einer währungspolitischen Autonomie in der Wechselkurspolitik überall ihren deutlichsten Ausdruck fanden. Auch Portugal, Finnland und Island haben sich dem Pfunde angeschlossen. So ist jenes Gebilde entstanden, das bis zum zweiten Weltkrieg eine der charakteristischen Erscheinungen der autonomen Währungspolitik gewesen ist, der Sterlingblock. […] Noch krasser, weil willkürlicher als bei den Sterlingblockländern, trat die Wendung zur Autonomie in der Währungspolitik der USA zutage, die sich im März 1933 zur Abwertung entschlossen. Hier handelte es sich nicht um eine primär außenwirtschaftliche Maßnahme, vielmehr um einen Akt der amerikanischen Binnenwirtschaftspolitik, der in engem Zusammenhang mit jenem System von Lenkungsmaßnahmen steht, die als New Deal die Wirtschaft der USA eine Zeitlang bestimmt haben. Die Verminderung des 31 Predöhl, Andreas: Weltwirtschaftskrise, in: HdSW, Bd. 11, 1961, S. 618. 32 Kroll, G.: Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958.

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Goldgehalts des Dollars diente dem Zweck der Preissteigerung. In Anlage und Durchführung vom ‚brain trust‘ in Washington ersonnen, stellte sich die Devalvation des Dollars als ein Akt währungspolitischer Autonomie dar, wie er unabhängiger von, aber auch rücksichtsloser gegenüber der Goldwährung nicht denkbar ist. […] Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich die Autonomie der Währungspolitik, namentlich durch die Inflationen, die der Krieg entfesselt hatte, zunächst noch weiter verstärkt. Immer mehr Länder waren in der Kriegszeit zur Devisenbewirtschaftung übergegangen und hatten diese nach dem Krieg beibehalten“.33 1.3. Die universale Neuordnung der Weltwirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach 1945: Ordnungspolitische Grundlagen für die Globalisierung 1.3.1. Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) „Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (International Bank for Reconstruction and Development, ‚Weltbank‘) wurde als internationales Institut durch ein Abkommen ins Leben gerufen, das von Vertretern von 44 Ländern auf der Konferenz der Vereinigten Nationen über Geld- und Finanzfragen in Bretton Woods (USA) im Juli 1944 paraphiert wurde. Der offizielle Beginn der Geschäftstätigkeit der Bank datiert vom 25. Juni 1946. Die Aufgaben der Bank sind: die Mitwirkung bei dem Wiederaufbau und der Entwicklung der Mitgliedsländer durch Förderung von Kapitalinvestitionen für produktive Zwecke mit dem Ziel der langfristigen Ausweitung des internationalen Handels und der Hebung des Lebensstandards; die Förderung privater Auslandsanlagen durch Garantie von und Beteiligung an Anleihen und anderen von privaten Anlegern getätigten Investitionen; die Gewährung von Anleihen für produktive Zwecke aus eigenen oder durch Kreditaufnahme beschafften Mitteln in solchen Fällen, wo privates Kapital zu angemessenen Bedingungen nicht erhältlich ist. Kapitalausstattung und Anleihefonds: Als Quelle für die Anleihegewährung von Seiten der Bank kommen in Betracht: das von den Mitgliedsländern eingezahlte Grundkapital; der Verkauf eigener Obligationen der Bank; der – mit oder ohne Garantie der Bank erfolgende – Verkauf von Obligationen der Anteilnehmer die der Bank als Sicherheit für von ihr gewährte Anleihen übereignet worden sind. Das genehmigte Kapital beträgt 10 Mrd. $. Beim Beitritt zur Bank zeichnet jedes Land Anteile am Grundkapital der Bank. Am 1. Januar 1954 belief sich das gezeichnete Kapital auf insgesamt 9.038.500.000 $. Davon sind 20 % eingezahlt, die sich wie folgt aufgliedern: 2 % in Gold oder US-Dollar, die jederzeit für Ausleihungen verfügbar sind, sowie 18 % in den Währungen der Mitgliedsländer, aus 33 Predöhl, Andreas: Weltwirtschaftskrise, in: HdSW, Bd. 11, 1961, S. 618.

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denen Anleihen nur mit Zustimmung des Landes, dessen Währung hierzu verwandt werden soll, gegeben werden können. Die verbleibenden 80 % können zur Einzahlung nur dann aufgerufen werden, wenn dies zur Deckung der eigenen Verpflichtungen der Bank erforderlich ist. Sie stehen demnach der Bank nicht zur Gewährung von Anleihen zur Verfügung. Im Falle der Einforderung von Zahlungen auf jene 80% können die Mitgliedsländer dieselben in Gold, US-Dollar oder in der für die Bedienung der Schuld der Bank benötigten Währung leisten. Den größten Teil der ausleihbaren Mittel der Bank erbringt der Verkauf ihrer eigenen Obligationen auf dem freien Geldmarkt der Welt. Die ersten Anleihen wurden von der Bank 1947 an Frankreich, die Niederlande, Dänemark und Luxemburg zum Wiederaufbau von Produktionseinrichtungen nach dem 2. Weltkrieg gewährt. Mit dem Ingangkommen des Marshall-Planes verlagerte sich das Schwergewicht auf Anleihen zum Zweck der Entwicklung wirtschaftlich unterentwickelter Mitgliedsländer der Bank“.34 1.3.2. Der Internationale Währungsfonds (IWF) „Vorgeschichte: Gegen Ende des 2. Weltkrieges wurden in England und in den Vereinigten Staaten von Amerika Pläne ausgearbeitet, die auf die Wiederherstellung eines multilateralen Zahlungssystems hinzielten. Der internationale Zahlungsverkehr hatte bereits vor dem Krieg schwer gelitten. Die USA hatten durch Depression, Kreditabziehungen, Zollerhöhung und Abwertung eine Dollarknappheit hervorgerufen, die auf Seiten der Defizitländer zu Abwertungskonkurrenz35 und Devisenzwangswirtschaft36 führte. Nach dem Krieg sollte nun der zwischenstaatliche Zahlungsverkehr auf eine neue, gesunde Basis gestellt werden. […]. Der aus den Verhandlungen in Bretton Woods (im Juli 1944) hervorgegangene Internationale Währungsfonds folgt deshalb im wesentlichen dem amerikanischen Vorschlag (Whiteplan), der die Verpflichtungen der Überschußländer streng begrenzte“.37 Der IWF wurde am 27.12.1945 von 24 Regierungen, die mehr als 80 % der Quoten vertraten, gegründet. „Aufgaben und Funktionsweise: Der Internationale Währungsfonds (International Monetary Fund) bezweckte laut Artikel I des Abkommens von Bretton Woods: ‚Die internationale währungspolitische Zusammenarbeit durch ständige Institution zu fördern […]‘, ‚[…] ein in sich ausgeglichenes Wachstum des internationalen Handels zu erleichtern und dadurch zur […] Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsgrades […] aller Mitglieder beizutragen‘, 34 Black, Eugen R.: Internationale Bank für Wirtschaftsaufbau und Entwicklung, in: HdSW, Bd. 5, 1956, S. 308 ff. 35 Halm, George N.: Devaluation und Revaluation, in: HdSW, Bd. 2, 1959, S. 577 ff. 36 Meyer, Fritz W.: Devisenbewirtschaftung, in: HdSW, Bd. 2, 1959, S. 584ff. 37 Halm, George N.: Internationaler Währungsfonds, in: HdSW, Bd. 5, 1956, S. 317 ff.

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‚die Stabilität der Währungen und die Aufrechterhaltung geordneter Währungsbeziehungen zwischen den Mitgliedern zu fördern und Abwertungskonkurrenz zu vermeiden‘, ‚bei der Errichtung eines multilateralen Zahlungssystems für laufende Transaktionen […] und bei der Aufhebung von Zahlungsbeschränkungen mitzuwirken […]‘, ‚das Vertrauen der Mitglieder zu heben, indem ihnen die Mittel des Fonds unter angemessenen Sicherungen zur Verfügung gestellt werden und ihnen die Möglichkeit geboten wird, Störungen ihrer Zahlungsbilanz zu korrigieren, ohne zu Maßnahmen Zuflucht nehmen zu müssen, die das nationale oder internationale Wohlergehen gefährden würden‘, ‚[…] die Dauer von Gleichgewichtsstörungen in den internationalen Zahlungsbilanzen der Mitglieder abzukürzen und diese Störungen in ihrem Ausmaß zu beschränken‘.“38 1.3.3. Das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) (1) Vergebliche Gründung und Ziele: Weltwirtschaftliche Desintegration: „Den Abbau von Außenhandelsbeschränkungen haben schon die Wirtschaftskonferenz von 1927 und die 1933 vom Völkerbund einberufene ‚London Economic and Monetary Conference‘ angestrebt (Weltwirtschaftskonferenzen).39 Beide Versuche verliefen jedoch erfolglos. Art und Umfang der Handelshemmnisse vermehrten sich noch, als während der Weltwirtschaftskrise die führenden Industriestaaten die Arbeitslosigkeit durch staatliche Vollbeschäftigungspolitik zu überwinden suchten. Die zur Abwehr der dadurch hervorgerufenen Zahlungsbilanzungleichgewichte eingeführten Kontingente,40 Kontrollen der Wechselkurse, Verrechnungssysteme und Tauschhandelsabkommen beeinträchtigten die internationale, vor allem aber die intereuropäische Arbeitsteilung. Diese Entwicklung verstärkte sich nach dem zweiten Weltkrieg, als rein nationalstaatlich ausgerichtete Wiederaufbauprogramme die Leistungsfähigkeit insbesondere der europäischen Volkswirtschaften überforderten und das Zahlungsbilanzgleichgewicht41 erneut gefährdeten (Außenhandelspolitik).42 Entstehung und Ziele: Das GATT stellte nach dem zweiten Weltkrieg den ersten Versuch einer weltweiten Überwindung der Desintegration dar. Bereits in der Atlantik-Charta verpflichteten sich die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien, nach Kriegsende ‚allen Staaten […] unter gleichen Bedingungen den Zutritt zum Handel und zu den Rohstoffen der Welt zu gewähren‘. Daneben finden sich Ansätze zu einer Welthandelsordnung, wie sie umfassender in den ‚Proposals 38 Ebd. 39 Predöhl, Andreas: Weltwirtschaftskonferenzen, in: HdSW, Bd. 11, 1961, S. 614 ff. 40 Pätz, Theodor: Kontingente im Außenhandel, in: HdSW, Bd. 6, 1959, S. 173 ff. 41 Funek, Rolf: Zahlungsbilanz, in: HdSW, Bd. 12, 1965, S. 377 ff. 42 Thalheim, Karl C.: Außenhandelspolitik: (I) Geschichte, in: HdSW, Bd. 1, 1956, S. 418 ff.

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for Expansion of World Trade and Employment‘ von den USA Ende 1945 vorgelegt wurde. Während der Umarbeitung dieser Entwürfe zur späteren HavannaCharta fanden gleichzeitig 1947 in Genf Verhandlungen über eine Reduktion von Zolltarifen43 und anderen Handelshemmnissen statt. Die wichtigsten handelspolitischen Grundsätze der Proposals wurden dann vorab in einem multilateralen Vertrag, dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), niedergelegt, das 23 Staaten am 30.10.1947 unterzeichneten und das zusammen mit den ausgehandelten Zollzugeständnissen am 1.1.1948 in Kraft trat. Die mit dem GATT angestrebten Ziele sind in der Präambel des Abkommend fixiert. Durch einen wesentlichen Abbau der Zölle und anderer Handelsschranken sowie durch die Beseitigung diskriminierender Eingriffe in die zwischenstaatliche Arbeitsteilung sollen die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der beteiligten Staaten zu einer Erhöhung des Lebensstandards, zu Vollbeschäftigung, der Erreichung eines hohen und ständig steigenden Niveaus des Realeinkommens und der wirksamen Nachfrage, der vollen Erschließung der Hilfsquellen der Welt und der Steigerung der Produktion und des Austauschs von Waren beitragen. Entwicklungsphasen: Hinsichtlich der Tätigkeit des GATT lassen sich verschiedene Entwicklungsphasen erkennen. Zwischen 1947 (Genf) und 1950 (Torquay) liegt ein Zeitraum, der durch erfolgreiche Zollsenkungen charakterisiert werden kann. Danach verstärken sich die Anstrengungen zum Abbau quantitativer Beschränkungen und handelspolitischer Diskriminierungen. In dieser zweiten Phase waren Zollsenkungsversuche weniger erfolgreich, weil die Erhöhung bzw. die Beibehaltung von Zöllen nach dem Wegfall der Mengenbeschränkungen allein als Schutzmaßnahme verblieb. Eine dritte Entwicklungsphase beginnt mit der 1955 durchgeführten Reform des Abkommens, die nicht nur die grundlegenden Bestimmungen des Vertrages bestätigte und teilweise präzisierte sowie die Vorschläge für eine institutionelle Umwandlung ausarbeitete, sondern auch adäquate Handelsregeln für die peripheren Gebiete der Weltwirtschaft schuf. Diese in einigen Zügen ‚protektionistische‘ Reform (besonders Art. XVIII) zeugt von zunehmender Verantwortung der Industrieländer für schwächere Partnerländer. Den Beginn einer vierten, liberaleren Phase haben die Integrationsansätze in Europa ausgelöst. Einmal reduzierten die GATT-Bestimmungen aufkommende Wünsche nach einem protektionistischen gemeinsamen Außenzolltarif der Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), zum anderen brachten die durch die EWG drohenden Handelsablenkungen den ins Stocken geratenen Zollabbau wieder in Gang. (2) Struktur und Arbeitsweise: Das GATT hat nicht nur eine größere Zollstabilität geschaffen, sondern auf Grund der Anwendung des multilateralen Verfahrens auch erreicht, daß Zollverhandlungen in kürzerer Zeit beendet werden können.

43 Stolper, Wolfgang F.: Zölle, in: HdSW, Bd. 12, 1965, S. 453 ff.

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Mitglieder: Am 1.8.1963 hatten sich dem GATT 53 Nationen angeschlossen, auf die über 90% des Welthandels entfallen. Das tragende Fundament bildet Art. I, der die allgemeine Meistbegünstigung44 zum Grundsatz erhebt. Ist eine Vertragspartei auf Grund der allgemeinen Meistbegünstigung in den Genuß einer Senkung des Zolltarifs für eine bestimmte Ware gelangt, so behält sie dieses Recht für dauernd. Soll der konsolidierte Zolltarif später erhöht werden, muß das daran interessierte Land mit allen Vertragsparteien in Einzelverhandlungen treten, um diese durch Anbieten anderer Konzessionen zu einem Verzicht auf den bisherigen Vorteil zu bewegen. Dadurch lassen sich Zugeständnisse nur schwer zurücknehmen, was wesentlich zur Liberalisierung und Stabilisierung des Welthandels beigetragen hat. Die Gewährung von Zollzugeständnissen an eine hinreichende Zahl von Vertragsparteien des GATT ist Voraussetzung für die Zulassung zum Beitritt. Über die Erfüllung der genannten Auflage entscheidet die GATT-Versammlung mit Zweidrittelmehrheit. Neben der unbedingten Meistbegünstigung steht der Abbau der quantitativen Beschränkungen. Art. XI verbietet daher mengenmäßige Beschränkungen der Einund Ausfuhr. Um dem Preismechanismus im internationalen Güteraustausch und in der Standortorientierung mehr Geltung zu verschaffen, erkennt das GATT nur Zölle, Abgaben und sonstige Belastungen als Instrumente der Handelspolitik an. (3) Haupttätigkeitsgebiete und bisherige Ergebnisse: Ausweitung des internationalen Handelsvolumens durch Zollsenkungen: Abgesehen von der Abschaffung der mengenmäßigen Restriktionen und Durchsetzung der unbedingten Meistbegünstigung, liegt die Haupttätigkeit des GATT in der Zollpolitik. Liberalisierung des Warenverkehrs durch Beseitigung quantitativer Beschränkungen. (4) Weltwirtschaftliche Bedeutung und Aufgaben: Die weltwirtschaftliche Bedeutung des GATT liegt in dem systematischen Abbau der Handelshemmnisse und dem Ausgleich divergierender handelspolitischer Interessen. Das realistische Konzept des Vertrages und seine pragmatische Anwendung haben wesentliche Fortschritte der internationalen Arbeitsteilung herbeigeführt. Für weitergehende Ziele wie Neuordnung der Weltwirtschaft in Ausrichtung auf den überkommenen Lenkungsmechanismus reichen Ansatz und Mittel des GATT bei weitem nicht aus. Hierzu wäre eine sehr viel engere Zusammenarbeit der im GATT zusammengeschlossenen Volkswirtschaften auf wachstums- und konjunkturpolitischem Gebiet erforderlich. So wie die europäische Integration aus den Vorarbeiten des GATT Nutzen zog, wird sie ihrerseits die handelspolitische Ausgangslage für die zukünftigen Aufgaben des GATT verbessern. Dies gilt einmal für den Abbau des handelspolitischen Protektionismus in den USA, für den die aus dem gemeinsamen Außenzoll der EWG drohenden Abschließungseffekte ausreichenden Anlaß bieten können. Die 44 Pütz, Theodor: Meistbegünstigung, in: HdSW, Bd. 7, 1961, S. 285 ff.

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multilaterale Weitergabe ausgehandelter Zollkonzessionen verstärkt darüber hinaus die Arbeitsteilung Europas mit anderen hochentwickelten Mitgliedsstaaten des GATT. Verstärktes Wachstum und erhöhte Produktivitätsfortschritte innerhalb der EWG könnten die Lösung eines weiteren, lange anstehenden GATT-Problems erleichtern, die ausreichende Öffnung der europäischen Märkte für einfache Industrieerzeugnisse aus Entwicklungsländern. Steigende Liberalisierung des Austausches und der Aufbau funktionierender Wachstums- und Konjunktursteuerungen in den industriellen Schwerpunkten der Weltwirtschaft wird dem GATT erlauben, sich in zunehmendem Umfang von pragmatischen Zwischenlösungen abzuwenden und seinen Beitrag für eine umfassende Arbeitsteilung der Weltwirtschaft zu erhöhen“.45 1.4. Die Truman-Doktrin, der Marshallplan, die Gründung des Europäischen Wirtschaftsrates und der Europäischen Zahlungsunion 1.4.1. Die Truman-Doktrin vom 12. März 1947: „Jedes Land, das eine kommunistische Bedrohung nachweisen kann, hat Anspruch auf amerikanische Hilfe“ Die „Eindämmungspolitik“ (Containment) der USA gegenüber der Sowjetunion ist maßgeblich von dem amerikanischen Diplomaten und Rußland-Spezialist George F. Kennan46 konzipiert worden. In den „Memoiren eines Diplomaten“ geht Kennan ausführlich auf die Truman-Doktrin ein.47 Der nach der Machtergreifung Hitlers 1933 in die USA emigrierte Wirtschaftspublizist Gustav Stolper (1888-1947) „blieb auch im Zweiten Weltkrieg ein 45 Jürgensen, Harald: General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), in: HdSW, Bd. 4, 1965, S. 346-350. 46 Der in Milwaukee (Wisconsin) geborene George F. Kennan besuchte 1912 während eines sechsmonatigen Aufenthalts seiner Eltern in Kassel die dortige Knabenschule. Nach dem Besuch der Militärakademie von St. John’s in Dalafield und der Princeton University, an der er 1924 promoviert wurde, begann Kennans Arbeit im diplomatischen Dienst. Von 1929 bis 1931 studierte er in Berlin Geschichte und politische Theorie, ging dann als Botschaftssekretär nach Riga und Moskau.1935 wurde Kennan Vizekonsul in Wien, von 1935 bis 1938 war er in Moskau und wurde im September 1939 nach Berlin versetzt. Später arbeitete er im amerikanischen Außenministerium, bevor er 1944 wieder – als Botschaftsrat – nach Moskau ging.1947 wurde Kennan schließlich Chef des außenpolitischen Planungsausschusses seines Landes und konzipierte die „Eindämmungspolitik“ gegenüber der Sowjetunion. 1949 trat er zurück, als er seine Pläne einer langfristigen Außenpolitik nicht durchsetzen konnte. Von 1952 bis zum Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst im Jahre 1958 war er Botschafter in Moskau. Von 1961 bis 1963 kehrte er allerdings noch einmal – als Botschafter in Belgrad – in den diplomatischen Dienst zurück. Außerdem lehrte Kennan mehrfach an Hochschulen. 1976 gründete er in Washington ein Institut für Sowjetologie. 1982 erhielt Kennan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 47 Kennan, George F.: Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1940. Mit einem Vorwort von Klaus Mehnert, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 316-327. Jones, Joseph: The Fifteen Weeks, New York 1955.

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entschiedener Kritiker eines einseitig negativen Deutschlandbildes, und er bewahrte eine tiefe Abscheu vor der Sowjetunion Stalins. Beides veranlaßte ihn, der F. D. Roosevelt wegen dessen New Deal-Politik und wegen dessen Entschlossenheit gegenüber Hitler-Deutschland bewunderte, zu skeptischer Distanz gegenüber der Politik Roosevelts in ihrer letzten Phase. Er warnte deshalb deutlich vor einer Behandlung des besiegten Deutschland entsprechend den Anregungen Henry Morgenthaus und vor Zugeständnissen an die Sowjetunion. Er folgte einem Ruf Herbert Hoovers zur Mitarbeit in dem Beraterteam, das den Ex-Präsidenten im Auftrag Harry S. Trumans Anfang 1947 auf seiner Europamission begleitete. Besonders am dritten Hoover-Bericht hatte Stolper vorzüglichen Anteil“.48 Der dritte Hoover-Bericht wurde von Theodor Heuss als das Präludium zu den Grundgedanken des Marshall-Plans charakterisiert.49

48 Holl, Karl: Gustav Stolper (1888 – 1947), in: Hagemann, Harald / Krohn, Claus-Dieter (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, München 1999, S. 694. 49 Collier, Irwin L.: Gustav Stolper (1888-1947), in: Killy, Walter / Vierhaus, Rudolf (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Bd. 9, 2001, S. 553.

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Aus: Stolper, Gustav: Die deutsche Wirklichkeit. Ein Beitrag zum künftigen Frieden Europas, Hamburg 1949, S. 294.

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Im September 1946 faßt Stolper den Meinungsumschwung gegen Moskau in seinem 195. Bericht zusammen: „Es ist eine Tatsache, daß die amerikanische Öffentlichkeit aus den Träumen und Illusionen, in welche sie die Kriegspropaganda systematisch gelockt hatte, aufgeweckt wurde – Träume des ewigen Friedens, sobald einmal die Vereinten Nationen eingerichtet wären; über die edlen und friedliebenden Russen, die keinen kühneren Wunsch hätten, als mit den Vereinigten Staaten in bewundernder Freundschaft zu leben, während sie ihr eigenes Paradies aufbauten; und über die vollkommene soziale Demokratie in Rußland, welcher, nach dem Rat solcher liberaler Staatsmänner wie Minister Henry Wallace und Senator Pepper, Amerika nachzueifern hätte. Die Szene hat sich seit dem vorigen Frühjahr allerdings gründlich verwandelt. Die Reden von Staatssekretär Byrnes und seinen Mitdelegierten Vandenberg und Connally, Artikel von John Foster Dulles, dem voraussichtlichen Staatssekretär in einer republikanischen Administration […] Artikel in so verantwortlichen Zeitschriften wie Harpers Magazine, Bücher wie das des Russen Viktor Krawtschenko und des Botschafters Bullitt […] all dies und viel mehr hat die Haltung des amerikanischen Publikums dem früheren russischen Alliierten gegenüber umgemodelt. Die Kommunisten und ihre Mitläufer sind endgültig in die Defensive gedrängt. Die Zeit der Beschwichtigung ist vorüber. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat den Entschluß gefaßt, sich um jeden Preis jeder künftigen bolschewistischen Expansion zu widersetzen und hat eine Gegenoffensive bekommen, die noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Das erhöht zweifellos das Risiko der Lage, aber ich bin überzeugt, daß es die wirkliche Gefahr eines Krieges verringert, nicht gesteigert hat […]“.50 „Als George C. Marshall auf seinem langen Rückflug von [der Außenministertagung in] Moskau (10.3.-24.4.1947)51 unter sich das zerstörte, einem Friedhof gleichende Europa erblickte, begann er noch im Flugzeug – wie er später selbst berichtet hat – jene Idee zu konzipieren, die für die hilflos den kommunistischen Eroberungsgelüsten ausgelieferten Länder die Rettung bringen sollte: – die Idee des Marshall-Planes. Über das Eintreffen Marshalls in Washington berichtet Präsident Truman: ‚Am 26. April kehrte Staatssekretär Marshall in sehr gedrückter Stimmung von der Moskauer Außenministerkonferenz nach Hause zurück. Seine Hoffnung, die Russen doch noch von unserer Friedensliebe zu überzeugen, hatte sich nicht erfüllt. Die Expansion des Kommunismus in dem hilflosen Europa zu betrieben schien das ABC ihrer Außenpolitik. Sein Bericht bestärkte mich in meiner Überzeugung, daß unverzüglich Mittel und Wege zur Sanierung Europas gefunden werden mußten‘. Die Truman-Doktrin: Am Mittwoch, dem 12. März 1947, betrat der Präsident der Vereinigten Staaten die Rednertribüne des Repräsentantenhauses im Kapitol,

50 Stolper, Toni: Ein Leben in Brennpunkten unserer Zeit. Wien – Berlin – New York. Gustav Stolper 1888-1947, 3. Aufl., Tübingen 1967, S. 444 f. 51 Jäkel, Oliver: Außenministerkonferenz Moskau (10.3.-24.4.1947), in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 219 f.

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um das Wort zu einer Erklärung zu nehmen, die später als die ‚Truman-Doktrin‘ in die amerikanische Geschichte eingegangen ist. Nunmehr stand außer Zweifel, daß die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei Machtgruppen zerfallen war. Truman kennzeichnete dies mit folgenden Worten: ‚Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freiheitliche Einrichtungen: eine repräsentative Regierung, unbeeinflußte Wahlen, Rechtsgarantien für die persönliche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Schutz vor politischer Unterdrückung. Die andere Lebensform gründet sich auf den von einer Minderheit der Mehrheit gewaltsam aufgezwungenen Willen. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Gleichschaltung der Presse und des Rundfunks, auf vorgeschriebene Wahlen und auf den Entzug der persönlichen Freiheit. Die totalitären Regierungen wurzeln in dem üblen Boden der Armut und des Bürgerkrieges, sie saugen ihre Nahrung aus Elend und Not und erreichen ihr volles Wachstum dort, wo die Hoffnung auf ein besseres Dasein stirbt. Die Hoffnung aber gilt es, lebendig zu erhalten. Die freien Völker erhoffen von uns Hilfe für ihren Kampf um die Freiheit. Wenn wir Schwäche zeigen, gefährden wir den Frieden der Welt und schaden der Wohlfahrt unseres eigenen Landes‘. Es war ein feierlicher Augenblick, in dem solche Worte fielen. Die Abgeordneten des Senats und des Repräsentantenhauses erhoben sich ‚wie ein Mann‘ zum Zeichen ihrer Zustimmung und Ergriffenheit. Die große Idee, die hinter der Truman-Doktrin und dem von ihr geborenen Marschall-Plan steht, ist die einer Klärung und Aufklärung. Geklärt worden ist, daß das Bündnis zwischen Ost und West, wie es im Zweiten Weltkrieg bestand, nicht fortgesetzt werden kann. Es konnte nur solange zusammenhalten, wie beide Gruppen einen gemeinsamen dritten Feind hatten, den Nationalsozialismus. Bei Licht besehen, hatten sie ihn nur deshalb, weil ein verblendeter Hitler meinte, er könne neben der westlichen und der östlichen Ideologie etwas Neues schaffen. Der Nationalsozialismus gehört als totalitäres Regime der östlichen Ideenwelt an. In der Ideologie bestand auch in den Kriegsjahren eine Kluft zwischen Ost und West. Die Fronten im Kriege verdeckten nur die Kluft“.52 „Die Truman-Doktrin markiert einen Wendepunkt von der isolationistischen Haltung seit Ende des Ersten Weltkriegs zu einer offensiven und engagiert betriebenen Außenpolitik. Die schon seit 1946 aus den Überlegungen des US-amerikanischen Diplomaten und außenpolitischen Beraters des Präsidenten George F. Kennan entwickelte Politik des Containment, also der Eindämmung des als Bedrohung für die ‚freie Welt‘ interpretierten Sowjetkommunismus, fand in ihr eine logische und konsequente

52 Achterberg, Erich: General Marshall macht Epoche. Konferenzen, Gestalten, Hintergründe, 1964, S. 83, 155. Merrill, Dennis (Hrsg.): Documentary History of the Truman Presidency, Bd. 8: The Truman Doctrine and the Beginning of the Cold War, Bethesda 1996.

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Fortsetzung. Im Mittelpunkt stand zunächst die wirtschaftliche Unterstützung Griechenlands und der Türkei durch die USA, da die machtpolitischen Konstellationen nach dem Zweiten Weltkrieg im östlichen Mittelmeerraum offen waren. Seit Ende des Ersten Weltkriegs unterlag dieses Gebiet wesentlich dem Einfluß Großbritanniens, das nun jedoch seine weltpolitische Machtstellung an die neu entstandenen Supermächte USA und UdSSR abgeben mußte. Am 24. Februar 1947 übermittelte der britische Botschafter den USA die Absicht der Regierung Attlee, die finanzielle Unterstützung Griechenlands und der Türkei zum 31. März 1947 einzustellen. Dieser Rückzug, bedingt durch interne wirtschaftliche Probleme, wurde von der Truman-Administration als gefährliches machtpolitisches Vakuum interpretiert, das es so schnell als möglich auszufüllen galt. Handlungsleitendes Motiv war die Befürchtung, daß die Sowjetunion zu großen Einfluß im östlichen Mittelmeerraum und damit letztendlich auch auf den Nahen und Mittleren Osten erlangen könnte. Tatsächlich erstrebte Stalin Einfluß jenseits der südwestlichen Grenzen der UdSSR, um Kontrollmöglichkeiten über die Ölgebiete des Nahen Ostens zu erlangen. Der kommunistische Aufstand im Norden Griechenlands 1947 erfuhr zudem materielle Unterstützung einiger von Moskau protegierter Satellitenstaaten. Griechenlands Regierung unter Konstantinos Tsaldaris forderte in einer Note vom 3. März 1947 direkt materielle Unterstützung der USA an. Mit den vom Kongress bewilligten 400 Millionen Dollar konnte die dadurch aufgerüstete griechische Regierungsarmee den Aufstand beenden“.53 „Die Truman-Doktrin war eine der außenpolitischen Handlungsmaximen der US-amerikanischen Regierung unter dem demokratischen Präsidenten Harry S. Truman. Sie entstand im Umfeld einer Neustrukturierung der globalen Einflußsphären nach dem Zweiten Weltkrieg. Als konstitutives Dokument gilt die Rede Trumans vor dem Kongress der USA vom 12 März 1947. Kernpunkt war Trumans Deutung von zwei widersprüchlichen Systemen – demokratischer Kapitalismus und Sowjetkommunismus – als unterschiedliche Lebensweisen: diese beruhe auf dem Willen der Mehrheit, jene auf dem gewaltsam durchgesetzten Willen einer Minderheit. Die USA sagten damit allen Ländern Unterstützung zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit zu, wenn sie sich für die demokratische Variante entschieden. In bezug auf die Deutschlandpolitik reihte sich die Truman-Doktrin deutlich in das folgende European Recovery Program ein: die massive wirtschaftliche Unterstützung führte in letzter Konsequenz zu einer politischen Bindung an die westlichen Staaten und erfüllte damit die Absicht Trumans“.54

53 Jäkle, Oliver: Truman-Doktrin, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 372. 54 Ebd.

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1.4.2. Der Marshallplan vom 5. Juni 1947 (European Recovery Program) Der Marshallplan entstand in folgendem engeren politischen Kontext: Außenministerkonferenzen in Moskau (10.3.-24.4.1947)55 Truman-Doktrin: 12. März 194756 Rede von George C. Marshall in Harvard am 5. Juni 194757 Inkrafttreten des Marshallplans (= European Recovery Program, ERP): 3. April 1948 vom Kongress beschlossen Das Gesetz über die Marshallplanhilfe tritt in Kraft. Gemäß Direktive des amerikanischen und britischen Militärgouverneurs wird die zukünftige Gestaltung der Preis- und Lohnpolitik dem Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (VWG) übertragen. Für die Preispolitik im Export- und Importhandel werden neue Richtlinien herausgegeben, wonach der Wechselkurs der deutschen Mark künftig 30 Cent betragen soll. Abrechnung im Außenhandel in US $. Abkommen über die „Europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (OEEC) in Paris unterzeichnet. 16.4.1948 Gründung des Europäischen Wirtschaftsrates (OEEC). 17.6.1948 Der Zwei-Zonen-Wirtschaftsrat nimmt ein Gesetz über Leitsätze der Bewirtschaftung und Preispolitik. 18.6.1948 Das erste Gesetz zur Neuordnung des deutschen Geldwesens – Währungsgesetz Nr. 61 – wird von der amerikanischen, britischen und französischen Militärregierung für die westlichen Besatzungszonen erlassen. 20.6.1948 In den drei Westzonen wird die Kopfquote der neuen Währung in Höhe von 40,- DM ausgegeben. 21.6.1948 Die neue „Deutsche Mark“ allein gültiges Zahlungsmittel in den Westzonen. Mitte 1953 Auslauf der Marshallplanhilfe. „Am 28. April 1947 kam Außenminister Marshall aus Moskau zurück, wo er an der jüngsten Tagung des Außenministerrates teilgenommen hatte.58 Er war erschüttert über die Zustände in Westeuropa, wo die erwartet wirtschaftliche Gene-

55 Jäkle, Oliver: Außenministerkonferenz Moskau (10.3.-24.4.1947), in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999. 56 Jäkle, Oliver: Truman-Doktrin, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 372. 57 Schröder, Hans-Jürgen: European Recovery Program (ERP), in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 260-264. 58 Marshall folgte James Francis Byrnes (1879-1972), der von 1945-1947 Außenminister war.

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sung ausgeblieben war und jeder Tag das totale Chaos bringen konnte. Seine Gespräche mit den Russen hatten ihn zu der Einsicht gezwungen, daß wir unsern Traum von der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion beim Wiederaufbau Europas endgültig begraben könnten. Es war eindeutig, daß die Sowjetführer am Versagen der westeuropäischen Wirtschaft unter nichtkommunistischen Vorzeichen ein politisches Interesse hatten. Der General erkannte, daß jedes weitere Hinausschieben wirtschaftlicher Stützungsmaßnahmen aus Furcht, durch einseitiges amerikanisches Vorgehen die ‚Zusammenarbeit‘ der Großmächte zu stören, nur den Kommunisten in die Hände arbeiten würde. Wir hatten schon zu lange gezögert. Es war höchste Zeit. Bald würde es zu spät sein. Am Tag nach seiner Rückkehr hielt General Marshall über den Rundfunk eine Ansprache an die Nation. ‚Der Patient verfällt‘, sagte er, ‚während die Ärzte beraten‘. Am Tag danach beorderte er mich in sein Büro. Es sei nicht möglich, sagte er, mich wie vorgesehen ein ganzes Jahr an der Kriegsakademie zu lassen. Ich müsse unverzüglich zurück ins Ministerium kommen und den Planungsstab aufbauen. Europa sei drauf und dran, vor die Hunde zu gehen. Irgend etwas müsse geschehen. Wenn er nicht bald mit konkreten Vorschlägen käme, würden andere ihn überspielen. Vor allem der Kongreß würde eine Menge Ideen produzieren, wie Europa zu helfen sei. Dann wäre er in die Defensive gedrängt. Er sei entschlossen, das wenn irgend möglich zu vermeiden. Er ersuchte mich, mir unverzüglich Mitarbeiter zu suchen und mich an die Arbeit zu machen. Er gebe mir eine bestimmte Frist (ich weiß nicht mehr, ob zehn oder vierzehn Tage, jedenfalls war sie kurz)“.59 Marshall beauftragte George F. Kennan, einen neuen Planungsstab aufzubauen, der dann offiziell am 5. Mai 1947 gegründet wurde. Kennan bemerkte dazu: „Das brachte mich zum Thema Deutschland. Ich glaube mit Fug und Recht sagen zu können, daß der Hauptunterschied zwischen meinen eigenen Ansichten zur Frage des europäischen Wiederaufbaus und den Ansichten anderer Washingtoner Stellen in der Wichtigkeit lag, die ich der Korrektur unserer bisherigen Besatzungspolitik beimaß und zugleich der prompten und gründlichen Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft“. Dann zitiert Kennan aus seiner Vorlesung vom 6. Mai 1947 an der Kriegsakademie: „Rufen wir uns die Situation noch einmal ins Gedächtnis zurück: Wir führten den Krieg zu Ende und nahmen die bedingungslose Kapitulation der Deutschen entgegen, in Übereinstimmung mit einer Reihe von Abmachungen, durch die uns die alleinige Verantwortung für einen Teil Deutschlands übertragen wurde, der in neuerer Zeit niemals eine in sich geschlossene Wirtschaftseinheit gebildet hatte und dessen Entwicklungsmöglichkeiten in dieser Richtung durch den Krieg und die deutsche Niederlage katastrophal beschnitten worden waren. Im Zeitpunkt der Übernahme der Verantwortung hatten wir kein Programm für die Wiederbelebung der Wirtschaft unserer Zone, zogen es vielmehr vor, diese Fragen einer späteren Regelung durch internationale Verträge zu überlassen. Auch mit unsern Alliierten bestand kein Abkommen über den Wiederaufbau Deutschlands im nationalen oder auch nur im regionalen Rahmen. Wir waren nicht einmal mit uns selber 59 Kennan, George F.: Memoiren eines Diplomaten – Memoirs 1925-1950, 4. Aufl., Stuttgart 1968, S. 328 f.

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einig, ob wir einen deutschen wirtschaftlichen Wiederaufstieg nun wünschen sollten oder nicht. Manchmal glaubten wir ja, manchmal glaubten wir nein. Manchmal begnügten wir uns damit, einen Mangel an Übereinstimmung festzuhalten“. So ließen wir zwei Jahre lang den Dingen ihren Lauf, verzichteten auf die Ausarbeitung eines echten Wiederaufbauprogramms für unsere Zone (ein ‚echtes‘ Programm wäre ein Programm mit einem sichtbaren, festumrissenen und den Interessen unseres Landes förderlichen Ziel gewesen) und konzentrierten und in unserer Besatzungspolitik statt dessen auf ein Programm der Entnazifizierung und Demokratisierung des deutschen öffentlichen Lebens. Da wir die Deutschen aber auch nicht regelrecht verhungern lassen wollten, erhoben wir von unseren Steuerzahlern erhebliche Beträge, um so die Bevölkerung unserer Zone knapp über am Leben zu halten. Da es kein Abkommen mit den Russen gab, machten wir jedoch keinerlei ernsthafte Anstrengung, die deutsche Wirtschaft wieder soweit aufzubauen, daß sie zur Bewältigung der allgemeinen wirtschaftlichen Probleme Westeuropas hätte beitragen oder uns wenigstens von einem Teil der Sorge für den Lebensunterhalt dieser Gebiete hätte entlasten können. Heute müssen wir erkennen, daß die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Stabilität Westeuropas dringlich und von erster Wichtigkeit ist. Die Wiederherstellung der deutschen Produktionskapazität ist ein wesentlicher Teil davon. Wir können nicht solange damit warten, bis die Russen zustimmen. Man sollte also meinen, daß jetzt einem intensiven Programm nichts mehr im Weg steht, das darauf abzielt, soweit wie möglich im gesamten Westen Deutschlands einen hohen Produktivitätsstand zu erreichen. […] Wie sich bald zeigte, hatte der Marshallplan außer seiner wohltätigen Wirkung auf unsere europäischen Alliierten für uns selbst zur Folge, daß wir endlich die Abkehr von dem verschwommenen Prosowjetismus der Kriegszeit vollzogen; von dem Wunschdenken, der Anglophobie und der selbstgerecht strafenden Haltung, die für unsere Besatzungsbehörden in Deutschland bisher bezeichnend gewesen war. Endlich hatten wir uns zu einer konstruktiven und vernünftigen Politik durchgerungen, und während der nächsten sechs Jahre blieb es dabei“. Der Planungsstab um Kennan leistete zum Marshall-Plan insbesondere folgende Beiträge: „a) Die Aufstellung des Grundsatzes, daß die Europäer selber ein Programm entwerfen und die Verantwortung dafür übernehmen müßten; b) die Auffassung, daß unser Angebot für ganz Europa gelten solle und daß eine Teilung des europäischen Kontinents, wenn überhaupt, dann von den Russen vorgenommen werden müsse und nicht von uns; c) das Gewicht, daß wir auf den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft legten, und die Ansicht, daß die Gesundung Deutschlands ein entscheidender Faktor der Gesundung Europas sei“.60

60 Ebd.

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Marshall hatte die Vorschläge des Planungsstabes – zugleich mit den Ideen und Vorschlägen einiger anderer – fast vollständig übernommen. In seiner berühmt gewordenen Rede vom 5. Juni 1947 an der Harvard-Universität schlug der amerikanische Außenminister George C. Marshall ein Wiederaufbauprogramm für Europa vor, das unter dem Namen Marshall-Plan bekannt wurde und am 3. April 1948 vom Kongreß beschlossen wurde. Am 5. Juni 1947 führte Marshall in Harvard aus: „Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck ist die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft, damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird, unter denen freie Institutionen existieren können“. „Die Ankündigung des Europäischen Wiederaufbauprogramms fand in einer Zeit, in der in Deutschland um die künftige Wirtschaftsordnung gerungen wurde, große politische Resonanz. Marshalls Rede vom 5. Juni 1947 wurde in Westdeutschland, das mit seinem Wiederaufbau hinter den westeuropäischen Nachbarländern nach deutlich zurücklag, von der großen Mehrheit der Bevölkerung als Zeichen für eine neue alliierte Politik mit großer Hoffnung aufgenommen. 61 Die bürgerlichen Parteien, die im Juni1947 im Wirtschaftsrat die Initiative ergriffen, sahen in dem von Außenminister Marshall angeregten Europäischen Wiederaufbauprogramm eine Unterstützung ihrer Wirtschaftspolitik. Der SPD fiel die Entscheidung zum Europäischen Wiederaufbauprogramm schwerer. Sie mochte den Vorschlag, der einen Ausweg aus der Not versprach, nicht ablehnen; aber sie befürchtete, daß der amerikanische Einfluß die Restauration stärken und die Hoffnung der demokratischen Sozialisten auf einen ‚Dritten Weg‘ zwischen Kapitalismus und Kommunismus zerstören könnte. Trotz der politischen Bedenken gaben die wirtschaftlichen Argumente frühzeitig den Ausschlag. Am 22. Juli 1947, wenige Wochen nach seiner Gründung, befaßte der Wirtschaftsrat sich mit Marshalls Initiative für ein europäisches Wiederaufbauprogramm. Der Vorschlag des amerikanischen Außenministers wurde mit großer Mehrheit begrüßt; auch die sozialdemokratischen Mitglieder stimmten trotz mancher Bedenken zu. […] Die frühe Entscheidung im Wirtschaftsrat im Juni 1947 stellte die Weichen für eine breite Akzeptanz des Marshall-Plans, aber die öffentliche Diskussion war damit noch nicht ausgestanden. Trotz der offiziellen Zustimmung blieb in der SPD ein deutliches Mißtrauen zurück, daß der Marshall-Plan die deutsche Teilung vertieft und die Restauration in Westdeutschland begünstigte. Die Kritik schlug nie in ein offenes Aufbegehren um, führte aber dazu, daß die SPD Distanz zum Marshall-Plan behielt und lange Zeit erwartete, daß das Programm scheitern werde“.62

61 Herbst, Ludolf: Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989, S. 35-50. 62 Hardach, Gerd: Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 19481952, München 1994., S. 1, 87 f.

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RM erhöhte.63 Wenn man Daten aus einer anderen Abteilung heranzieht, die damals das Existenzminimum in der SBZ mit 114 DM-Ost monatlich berechnete,64 braucht man nicht einmal die nach dem Geldumtausch vom 23. Juni 1948 in der „staatlichen“ Sozialversicherung der SBZ vorgenommene „Umrechnung“ von 2 RM zu 1 DM-Ost berücksichtigen, um sich ein Bild über die Ursachen des für die Jahre 1946-48 statistisch ausgewiesenen Sterbeüberschusses von 381.757 Menschen machen zu können,65 denn sogenannte unproduktive Bevölkerungsteile konnten finanziell nicht einmal die ihnen zustehenden Lebensmittelmarken in Lebensmittel umsetzen. Die in den Nachkriegsjahren in der Sozialversicherung erzielten beträchtlichen Überschüsse schöpfte man für andere Zwecke ab. 1.4.3. Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC / OECD) Die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) „Vorgeschichte bis zur Gründung der Organisation. Die OEEC verdankt ihr Entstehen im Jahre 1948 der Notwendigkeit, die Anstrengungen der europäischen Länder beim Wiederaufbau ihrer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Volkswirtschaften zu koordinieren. Nachdem der damalige US-Außenminister George Marshall in seiner berühmt gewordenen Rede vor der Harvard-Universität die Hilfe der USA bei der Durchführung eines gemeinsamen europäischen Wiederaufbauprogramms 63 Wortlaut in: Zentralverordnungsblatt Nr. 13 vom 5. Mai 1948, S. 131-132; sowie: Geschichte der Organisation und der Tätigkeit der Abteilung Arbeitskraft der SMAD (1945-1948), in: BArch Z 47 F/81361 (GARF R-7317/50/1), Bl. 132. – Bankguthaben und die Auszahlung von Renten, Pensionen und Versicherungsleistungen wurde durch Anordnung des Kriegsrats vom 10. Juli 1945 und Befehl Nr. 01 des stellvertretenden Obersten Chefs der SMAD vom 23. Juli 1945 zunächst gesperrt (Wortlaut in: Foitzik, Sowjetische Interessenpolitik 2012, S. 199-203 und S. 204-206). Wiederaufnahme von Versorgungsleistungen (ausgenommen „Kriegsverbrecher“, ehemalige Offiziere, aktive Mitglieder der NSDAP, der SS, der SA, des SD, der Gestapo u. a.) erfolgte mit Anordnung der Deutschen Zentralfinanzverwaltung in der SBZ (DZFV) vom 20. Mai 1946, die landesspezifisch implementiert wurde (SAPMO BArch DY 30/IV 2/13/5, Bl. 97-100 Rs.), Rentenzahlung aus früheren Pensionsansprüchen wurde erst durch Rundverfügung der DZFV vom 28. Okt. 1946 angeordnet und maximal auf 90 RM im Monat festgelegt. Im Durchschnitt betrug 1947 die monatliche Alters- und Invalidenrente 70,10, Witwenrente 48,50 und Waisenrente 26,60 RM (Geschichte der Organisation und der Tätigkeit der Abteilung Arbeitskraft der SMAD (1945-1948), a. a. O., Bl. 126, 142-143). 1950 wurden in der DDR 1.802.968 Sozialversicherungsrentner und Witwengeldempfängerinnen sowie weitere 170.953 Unterstützungsempfänger gezählt, Statistisches Jahrbuch der DDR 1956, Berlin (-Ost) 1957, S. 155. 64 [Vermerk über] Besprechung [mit der SMAD] vom 24. Aug. 1948, in: BArch DN 1/36207. 65 Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, Berlin (-Ost) 1956, S. 34. − 1951 anonym in Westdeutschland veröffentlicht: ***: Die Bevölkerungsbilanz der sowjetischen Besatzungszone 1939 bis 1949 (=Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1951. − Der demographische Verlust der SBZ fällt doppelt so hoch aus, wenn man die westdeutsche Bevölkerungsentwicklung in dieser Zeit als Berechnungsgrundlage heranzieht.

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in Aussicht gestellt hatte, luden Großbritannien und Frankreich alle europäischen Länder außer Spanien im Jahre 1947 zu einer Konferenz nach Paris ein, die zur Gründung eines ‚Komitees für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit‘ (‚Committee of European Economic Cooperation‘, CEEC) führte. Aufgabe der CEEC war es, die Grundsätze eines Wiederaufbauprogramms auszuarbeiten, Vorschläge zu seiner Durchführung vorzulegen und den erforderlichen Bedarf an Auslandshilfe zu ermitteln. Am 22. September 1947 wurde ein Abschlußbericht dieses Komitees angenommen und im Winter 1947/48 von europäischen Experten mit der Regierung der USA und Vertretern des amerikanischen Kongresses diskutiert. Als Ergebnis dieser Gespräche wurde am 23. April 1948 das amerikanische Auslandshilfegesetz (‚Foreign Assistance Act‘) verabschiedet. Ein weiteres Ergebnis der vom CEEC geleisteten Vorarbeiten war die Unterzeichnung eines ‚Abkommens über die Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit‘ (‚Convention for European Economic Cooperation‘) am 16. April 1948, mit dem die OEEC ins Leben gerufen wurde. Das Abkommen wurde von den folgenden 16 Staaten noch im gleichen Jahr ratifiziert: Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Türkei, Vereinigtes Königreich von Großbritannien. Für die westdeutschen Besatzungszonen erfolgte die Ratifizierung durch entsprechende Erklärungen der Militärgouverneure. Nach Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland wurde diese am 31. Oktober 1949 anstelle der drei westlichen Besatzungszonen Mitglied der OEEC. Die USA und Kanada wurden am 3. Juni 1950 assoziierte Mitglieder, Spanien am 30. Juli 1959 Vollmitglied. Seit 1955 nahm Jugoslawien, seit 1959 Finnland an der Arbeit einiger Ausschüsse teil. Nach Artikel 1 des Abkommens verpflichteten sich die vertragsschließenden Parteien, ‚ihre wirtschaftlichen Beziehungen untereinander in enger Zusammenarbeit zu pflegen‘ und ein ‚gemeinsames Wiederaufbauprogramm auszuarbeiten und durchzuführen‘. Organisationsstruktur. Die OEEC war keine supranationale Institution. Sie kann als eine permanent tagende internationale Konferenz beschrieben werden, deren Aufgabe die Koordinierung der Wirtschaftspolitik ihrer Mitgliedsländer war. Die Liberalisierung des Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs. Eine der ersten Aktivitäten der OEEC mit dem Ziel, durch die zur Verfügung gestellte Auslandshilfe ein Höchstmaß an Produktivitätssteigerungen zu erreichen und eine Förderung ineffizienter Produktionsstätten zu vermeiden, war der Abbau der Handelsschranken zwischen den europäischen Ländern. Dies war um so notwendiger, als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Handel in Europa durch ein fast lückenloses System staatlicher Reglementierungen eingeengt war und die Behinderung der internationalen Arbeitsteilung zu einer erheblichen Fehlallokation in- und ausländischer Ressourcen geführt hätte. Vereinfachungen im internationalen Zahlungsverkehr. Der Handel zwischen den europäischen Ländern wurde nach Beendigung des Krieges nicht nur durch zahlreiche Importbeschränkungen erschwert. Ein außerordentliches Handelshindernis war auch die fehlende Konvertierbarkeit der Währungen und das damit verbundene Bestreben jedes Landes, einen bilateralen Ausgleich von Forderungen und Verpflichtungen gegenüber jedem einzelnen Partnerland herbeizuführen. Nachdem

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bereits in den Jahren 1948 und 1949 erste Schritte zu einer Multilateralisierung des Zahlungsverkehrs unternommen worden waren, gelang den OEEC-Ländern am 19. September 1950 der Durchbruch mit der Gründung der ‚Europäischen Zahlungsunion‘ (EZU; ‚European Monetary Union‘, EMU), die rückwirkend zum 1. Juli 1950 in Kraft trat. Von der Bank für Internationalen zahlungsausgleich (BIZ) in Basel, die als Agent für die EZU handelte, wurden die Forderungen und Verpflichtungen der Mitgliedsländer untereinander saldiert und die entstehenden Nettopositionen in Guthaben bzw. Forderungen gegenüber der EZU umgewandelt. Damit war der Übergang vom bilateralen zum multilateralen Verrechnungssystem geschaffen. Die Defizite gegenüber der EZU mußten nach Ablauf einer bestimmten Frist teilweise in Gold oder konvertierbarer Währung ausgeglichen werden. In Höhe bestimmter Quoten konnten die Defizitländer auf Kredite zurückgreifen, die die Gläubigerländer einzuräumen verpflichtet waren. Der Anteil der in Gold oder konvertierbarer Währung auszugleichenden Zahlungsverpflichtungen wurde schrittweise erhöht und dadurch die Trennung zwischen dem EZU-Zahlungsraum und dem Dollar-Raum allmählich überwunden. Die USA unterstützten die EZU, indem sie ihr aus dem Marshallplan ein Anfangskapital in Höhe von 350 Mill. Dollar zur Verfügung stellten, aus dem die EZU Sonderkredite an Mitgliedsländer im Falle größerer Zahlungsbilanzstörungen vergeben konnte. Die EZU war von Anfang an als eine Übergangslösung bis zur Erreichung der Währungskonvertibilität der europäischen Länder geplant. Dieser Zeitpunkt war am 27. Dezember 1958 geplant. Dieser Zeitpunkt war am 27. Dezember 1958 erreicht. An diesem Tag erklärte die Mehrzahl der Mitgliedsländer ihre Währungen für konvertierbar. An die Stelle der EZU trat das bereits vorher für diesen Fall vorbereitete ‚Europäische Währungsabkommen‘ (EWA; ‚European Monetary Agreement‘, EMA). Es stellte im wesentlichen einen Verhaltenskodex für die besonderen Anforderungen der Währungskonvertierbarkeit in einem System fester Wechselkurse dar. Nach verschiedenen Änderungen trat das EWA Ende 1972 außer Kraft und wurde durch ein Abkommen über eine Wechselkursgarantie der Zentralbanken untereinander ersetzt. Dieses Abkommen wurde am 1. Januar 1976 für zunächst drei Jahre suspendiert. Zusammenfassend läßt sich im Blick auf die Bemühungen der OEEC zur Erleichterung des internationalen Zahlungsverkehrs sagen, daß ihre Maßnahmen zur schrittweisen Einführung marktwirtschaftlicher Regelungen außerordentlich erfolgreich waren, daß aber gerade dadurch die Organisation an unmittelbarer Bedeutung für die Regelung des internationalen Zahlungsverkehrs verlor.

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Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Die Gründung der Organisation. Ende der fünfziger Jahre waren wichtige Ziele der OEEC erreicht. Die Beschränkung im Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital waren zum größten Teil beseitigt und die Währungen der Mitgliedsländer untereinander weitgehend konvertierbar. Die ursprüngliche Aufgabe der OEEC, bei der Verwaltung der Marshallplan-Hilfe mitzuwirken, war bereits durch das Auslaufen dieser Hilfe im Jahre 1952 abgeschlossen worden. Im Jahre 1959 begannen daher Verhandlungen zwischen den Mitgliedsländern über die Zukunft der Organisation. Nach umfangreichen Vorbereitungen wurde am 14. Dezember 1960 in Paris das ‚Übereinkommen über die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung‘ unterzeichnet und damit die OECD als Nachfolgerin der Rechtspersönlichkeit der OEEC gegründet. Zu den Unterzeichnerstaaten der OECD-Konvention gehörten neben den 18 Mitgliedsländern der OEEC auch die USA und Kanada. Im Jahre 1964 wurde Japan Vollmitglied, im Jahre 1969 Finnland. Australien und Neuseeland traten 1971 bzw. 1973 der Organisation bei, die damit 24 Vollmitglieder umfaßt. Jugoslawien besitzt innerhalb der Organisation einen Sonderstatus. Nach Artikel 1 der OECD-Konvention ist es das Ziel der Organisation, eine Politik zu fördern, die in den Mitgliedsstaaten eine optimale Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung sowie einen steigenden Lebensstandard anstrebt, in den Entwicklungsländern ein gesundes Wirtschaftswachstum ermöglicht und zu einer Ausweitung des Welthandels beiträgt“.66

66 Sauter, Hermann: Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC, OECD), in: HdWW, 6. Bd., 1988, S. 26-33.

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2. Die Währungsreform am 20. Juni 1948 in den Westzonen, die Bedeutung der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die europäische Integration 2.1. Ludwig Erhards ordnungspolitische Konzeption „Das Hauptaugenmerk ist zweifellos dem Verhältnis zwischen der Produktionsgüter- und der Verbrauchsgütererzeugung zuzuwenden, denn diese Relation bestimmt in erster Linie den zukünftigen materiellen Lebensstandard“. „Nach Ludwig Erhard gehört das Ringen um die wirtschaftspolitisch richtige Erkenntnis über Jahrzehnte hinaus zum festen Bestand einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung“.67 Horst Friedrich Wünsche ist der wirtschaftsordnungspolitischen Konzeption von Ludwig Erhard nachgegangen.68 Diese Konzeption hängt eng mit dem Leben von Erhard zusammen (geb. am 4.2.1897 in Fürth, gest. am 5.5.1977 in Bonn). „Erhard wuchs als drittes von vier Kindern in einer mittelständischen, linksliberalen Kaufmannsfamilie auf. Nach Abschluß der Realschulausbildung machte er in Fürth eine kaufmännische Lehre. Aus dem Ersten Weltkrieg mit einer schweren Verwundung zurückgekehrt, studierte er in den Jahren 1919/1923 in Nürnberg und schloß sein Studium als Diplom-Kaufmann 1923 ab. Er wechselte dann zu dem Soziologen Franz Oppenheimer (1964-1943) nach Frankfurt, wo er 1925 promoviert wurde. Bei Oppenheimer setzte er sich kritisch mit Marx auseinander“.69 Erhard zog es dann zu Wilhelm Vershofen (1878-1960), der 1924 auf ein Ordinariat für Wirtschaftswissenschaften an der Handelshochschule Nürnberg berufen worden war. „Auf die Gestalt dieser Hochschule, ihre Umbildung zu einer ‚Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften‘ hat Vershofen wie kein anderer eingewirkt. 1925 gründete Vershofen – nach langen Vorarbeiten – das ‚Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware‘, dessen Aufgabe vor allem auf dem Gebiete der Markt- und der Kostenforschung im Bereich der Konsumgüterindustrien lag. Hieraus erwuchs der Gedanke einer ‚Gesellschaft für Konsumforschung‘, die 1934 gegründet wurde. In diesen Einrichtungen sind die Anfänge der deutschen Marktforschung zu sehen, die zunächst unabhängig von amerikanischen Vorbildern entstanden sind. Bereits 1929 begründete Vershofen die Zeitschrift Der Markt der Fertigware. 1940 gab er das Handbuch der Verbrauchsforschung heraus“.70

67 Erhard, Ludwig: Wohlstand für Alle, 1957, S. 5. 68 Wünsche, Horst Friedrich: Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption. Soziale Marktwirtschaft als Politische Ökonomie, Bonn 1986. 69 Schefold, Bertram: Franz Oppenheimer (1864-1943), in: DBE, Bd. 7, 2001, S. 500. Preiser, Erich: Oppenheimer, Franz (1864-1943), in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 102–104. 70 Schäfer, Erich: Wilhelm Vershofen (1978-1960), in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 682.

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„Von 1928 bis 1942 arbeitete Erhard zunächst als Assistent, dann als stellvertretender Leiter am Institut für Wirtschaftsbeobachtung an der Handelshochschule Nürnberg. Seit 1933 war er auch Lehrbeauftragter an der Nürnberger Handelshochschule. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise griff Erhard erstmals in die wirtschaftspolitische Diskussion ein, indem er im Oktober 1932 eine Belebung der Verbrauchsgüterproduktion forderte. Abweichend vom Hauptstrom der Wirtschaftswissenschaften trat Erhard für eine Wettbewerbswirtschaft und freie Marktpreisbildung ein. Im Zweiten Weltkrieg wurde ihm die Aufsicht über die Lothringer Glasindustrie übertragen. Daneben gründete er 1942 ein privates Institut für Industrieforschung. Im Auftrag der Reichsgruppe Industrie beschäftigte sich Erhard mit Nachkriegsplanungen; 1943/44 entstand ein Memorandum Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung, das auch in der Widerstandsgruppe vom 20. Juli 1944 Beachtung fand. Hier plädiert Erhard durch die Belebung der Nachfragen über eine Förderung der Verbrauchsgüterindustrie. In Abgrenzung zur keynesianischen Theorie, die sich in den westlichen Industrieländern durchzusetzen begann, trat er nicht für eine expansive Finanzpolitik ein“.71 Prägend war für Ludwig Erhard die Hyperinflation, die mit Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 einsetzte, 1923 zu einer Hyperinflation wurde und erst mit der Festsetzung des Dollarkurses auf 4,2 Billionen Papiermark für eine Rentenmark im November 1923 endete. Die Hyperinflation zerstörte den Mittelstand, der bis 1914 gesichert war. Ebenso prägend war die Weltwirtschaftskrise (1929/33) mit 6 Millionen Arbeitslosen für Erhard. „Es ergab sich die Frage, welche ordnungspolitischen Maßnahmen nötig sind, um das Wirtschaften als einen friedvollen, den Verteilungs- und Klassenkampfkonflikten entzogenen sozialen Prozeß zu konstituieren, um gesellschaftliche Stabilität zu wahren und wirtschaftliche Krisen […] zu vermeiden. Die objektive soziale Gerechtigkeit muß subjektiv einsehbar sein, und dies ist in modernen Wirtschaftsprozessen zu einem Problem geworden, das mit der Arbeitsteilung anwächst. Erhard beanstandet nicht die Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse als solche. Er stellt fest, daß mit dem freien Spiel der Marktkräfte zwar soziale Gerechtigkeit erreicht wird, aber nicht sozialer Friede, für den in einer Gesellschaft ebenfalls gesorgt werden muß. Aus dieser Betrachtung ergibt sich: Erhard gehört zu den theoretisch, nicht historisch orientierten Ökonomen, zu Ökonomen, die ihr Bekenntnis zur Marktwirtschaft aus einem Modell – dem Modell einer ‚wirklich‘ freien Wirtschaft – entwickelt haben. In kritischer Würdigung der im Modell implizierten Voraussetzungen erkennt Erhard, daß die modellhaft beschriebenen Abläufe in der Praxis durch Zusätzliches gesichert werden müssen. […] Die Erhard‘sche Konzeption zeichnet sich als Leitbild somit durch drei gleichberechtigt miteinander verbundene Elemente aus – durch die marktwirtschaftliche Ordnung, durch ‚Wohlstand für alle‘, durch Vollbeschäftigung. […] Erhard hat einen neuen Begriff hierfür gesucht und sein Leitbild schließlich ‚Soziale Marktwirtschaft‘ genannt“.72 71 Bähr, Johannes: Ludwig Erhard (1897-1977), in: DBE, Bd. 3, 2001, S. 145 f. 72 Wünsche, Horst Friedrich: Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption, S. 105 f., 145.

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Er geht davon aus, daß die vorhandene Nachfrage die Produktion steuern soll, d. h. er nimmt „das Postulat der Verbraucherautonomie sehr ernst“.73 Um die Frage zu analysieren, wie es in der Weltwirtschaftskrise zur Absatzkrise und damit zu den Ursachen der Weltwirtschaftskrise kommt, greift Erhard auf das Marxsche Reproduktionsschema (Kreislauf) zurück, d. h. auf eine güterwirtschaftliche Betrachtung.74 „Wie Marx unterstellt auch Erhard eine unersättliche ‚kapitalistische Dynamik‘: Jeder Unternehmer versucht, seine Produktion zu rationalisieren, das heißt, er versucht relativ mehr ‚festes‘ gegenüber ‚variablem‘ Kapital zu investieren: ‚Kapitalistische Wirtschaft ist und muß eine dynamische Wirtschaft sein, und zwar beruht die Veränderung auf einer fortlaufenden Kapitalanreicherung‘. Durch die Investition von festem Kapital steigt die Produktivität der Arbeit. Ein konstantes Produktionsniveau könnte mit weniger Arbeit erzeugt werden. Erhard kommt aufgrund seines Kreislaufmodells und der Annahme, daß die unternehmerische Preispolitik in der modernen Wirtschaft auch in der Krise Preissenkungen verhindert, diese aber auch niemals ausreichen könnten, eine vom Markt nicht gewünschte Produktmenge abzusetzen, zum Schluß, daß die private Wirtschaft einer Absatzkrise hilflos zusteuert und auch in der Krise nicht imstande ist, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, und daß darum der staatlichen Wirtschaftspolitik die Aufgabe zuwächst, ‚in concreto den Absatz zu ermöglichen, den die Wirtschaft am Ende dann ja doch unter den schwersten Krisen bewerkstelligen muß‘.“75 Eugen Schmalenbach hatte 1927 festgestellt, daß das Anwachsen der fixen Kosten die Unternehmen angebotsunelastisch machen würde. Bei einem Nachfragerückgang müßten die Unternehmen die Preise senken, was der hohe Fixkostenanteil aber verhindere.76 Erhard geht es letztlich „um den Entwurf einer krisensicheren Ordnung für Marktwirtschaften. […] Die wichtigste Bedingung, die eine Wirtschaftspolitik zur Steuerung der Kapitalakkumulation zu erfüllen habe, bestehe darin, die Produktions- und die Konsumtionsmittelerzeugung in ein ‚organisches Verhältnis zueinander‘ zu bringen, ‚denn die Akkumulation folgt dann nicht mehr aus der Entwicklungstendenz des Kapitals, sondern muß notwendig Bezug entweder zur Erhöhung des Lebensstandards oder zu einer Bevölkerungsvermehrung haben. Es ist offensichtlich, daß beispielsweise Rationalisierung ohne neuen Konsumentenkreis und ohne neue Märkte zur Erhöhung der Kapitalrentierung nicht mehr beitragen kann‘.“77 „In den ersten Nachkriegsjahren gelangte Erhard, der nie eine politische Laufbahn angestrebt hatte, als parteiloser Fachmann rasch in hohe politische Ämter. 73 Ebd., S. 146. 74 Schneider, Erich: Einführung in die Wirtschaftstheorie. IV. Teil. Ausgewählte Kapitel der Geschichte der Wirtschaftstheorie, 1. Bd., 1962, S. 22 ff. Die Kreislauftheorie von Marx. 75 Wünsche, Horst Friedrich: Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption, S. 163 f. 76 Schmalenbach, Eugen: Die Betriebswirtschaftslehre an der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, Leipzig, 22, 1928. Hax, Karl: Eugen Schmalenbach (1873–1955), in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 633–636. 77 Wünsche, Horst Friedrich: Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption, S. 165 f.

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Nachdem er sich der amerikanischen Militärregierung durch Expertisen empfohlen hatte, wurde er im Oktober 1945 als bayerischer Wirtschaftsminister eingesetzt. Nach den Wahlen im Dezember 1946 mußte er aus diesem Amt ausscheiden. 1947 übernahm er eine Honorarprofessur an der Univ. München und die Leitung der Sonderstelle Geld und Kredit des bizonalen Wirtschaftsrats, eines Sachverständigengremiums, das die Militärregierungen bei den geheim gehaltenen Vorbereitungen zur Durchführung einer Währungsreform beriet. Die Sonderstelle legte im April 1948 den Homburger Plan zur Neuordnung des Geldwesens in den Westzonen vor, der von den Militärregierungen jedoch nicht übernommen wurde. Im März 1948 wurde Erhard Direktor der Verwaltung für Wirtschaft der Bizone. Er gelangte damit in eine Schlüsselposition, die es ihm ermöglichte, parallel zu der von den Militärregierungen durchgeführten Währungsreform den Übergang zur Marktwirtschaft einzuleiten. E. ging dabei ohne Abstimmung mit den Militärregierungen vor. Auf der Grundlage des ‚Leitsätzegesetzes vom 21.6.1948‘ wurden Bewirtschaftungsregelungen und Preisbindungen mit wenigen Ausnahmen aufgehoben. Daß er die Einführung der D-Mark mit einer Wirtschaftsreform verband, war E.s historische Tat, auf die sich sein späterer Ruf als ‚Vater des Wirtschaftswunders‘ gründete“.78 Die wirtschaftspolitischen Aufgaben des Wiederaufbaus: „Zur Beschreibung der wünschenswerten wirtschaftlichen Entwicklung in der ersten Nachkriegszeit verwendet Erhard sein Zwei-Sektoren-Modell. In der herrschenden Nachkriegssituation scheint es ihm gerechtfertigt, nur einen eingeschränkten Kreislauf, die ‚einfache Reproduktion‘, zu betrachten: Investitionen werden in der ersten Aufschwungphase nicht stattfinden können, denn ‚es muß Klarheit darüber bestehen, daß je nach den vorherrschenden Relationen die Erneuerung und Ausweitung des Produktivapparates in den Hintergrund tritt‘. Das Erhard’sche Modell ist ein Modell eines längerfristigen Aufschwungs. In derartigen Zusammenhängen wird häufig die Notwendigkeit eines Ausbaus des Investitionsgütersektors zu Lasten der Konsumgüterproduktion postuliert. Erhard meint jedoch, daß dieser Entwicklungsweg nur deshalb so naheliegend erscheine, weil der Staat, wenn er zu Belebung der Wirtschaft als Nachfrager auftrete, ‚für eigene Zwecke sinnvollerweise wohl eine Nachfrage nach Kapitalgütern (Bautätigkeit, Verbesserung der Verkehrseinrichtungen, Aufrüstung u. dgl. m.) geltend machen, niemals aber Verbrauchsgüter erwerben kann.‘ Erhard hält es für sehr wichtig, eine optimale Struktur der Wirtschaft anzustreben. Er schreibt: ‚Das Hauptaugenmerk ist […] zweifellos dem Verhältnis zwischen der Produktionsgüter- und der Verbrauchergütererzeugung zuzuwenden, denn diese Relation bestimmt in erster Linie den zukünftigen materiellen Lebensstandard‘. Erhard entscheidet sich jedoch klar für die Bevorzugung der Konsumgüterproduktion in der ersten wirtschaftlichen Aufschwungphase: ‚Gleich, ob das Problem von der finanz- oder der güterwirtschaftlichen Seite angepackt wird, immer weisen alle Überlegungen darauf hin, daß es sich nach dem Kriege als erstes 78 Bähr, Johannes: Ludwig Erhard (1897-1977), in: DBE, Bd. 3, 2001, S. 145 f.

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wirtschaftliches und soziales Erfordernis nur darum handeln kann (im Original von Erhard handschriftlich korrigiert auf: vornehmlich darum handelt), die deutsche Verbrauchsgüterindustrie sofort und unmittelbar zu höchster Leistung anzufachen.‘ Nach Erhards Vorstellungen wird eine Aufnahme der Investitionsgüterproduktionen erst in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase möglich, dann nämlich, wenn die Konsumgüternachfrage nachläßt: Investitionen werden erst ‚durch echte Ersparnisse, sei es durch Spartätigkeit über die gesamte Breite unserer Volkswirtschaft, das heißt durch die Spartätigkeit der Bevölkerung oder über die Eigenfinanzierung der Unternehmen‘ ermöglicht“.79 Der Güter- und Geldkreislauf nach Ludwig Erhards Modellbetrachtung *)

*) Quelle: Wünsche, Horst Friedrich: Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption Marktwirtschaft als Politische Ökonomie, Bonn 1986, S. 163, 172. 79 Wünsche, Horst Friedrich: Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption, S. 173 ff.

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Der Wirtschaftsaufschwung unter den Sonderbedingungen der Währungsreform am 20.06.1948: „Mit der Währungsreform trat eine Situation ein, die zwar der von Erhard in seiner Denkschrift gewünschten finanztechnischen Ausgangslage, nicht aber der von ihm für erforderlich gehaltenen Konsolidierung entsprach: Jeder Betrieb erhielt einen Geschäftsbetrag in Höhe von DM 60,- pro Arbeitnehmer; zusätzlich wurde jedoch auch, in zwei Raten zu DM 40,- und DM 20,- pro Einwohner, Kaufkraft geschaffen. Mit den durch die Währungsreform zugeteilten Betriebsmitteln war die Finanzierung erster Produktionsleistungen möglich. Die Auszahlung in Abhängigkeit von der Anzahl der beschäftigten Arbeitnehmer war eine Kopplung mit dem tatsächlichen Produktionsumfang. Das entsprach den Vorstellungen Erhards, denn im Rahmen der Produktion würden mit den verfügbaren Betriebsmitteln Einkommen gezahlt werden können, die äquivalent zum hergestellten Produkt sind – sofern nur keine Verschwendung in der Produktion stattfinden würde. Damit wäre ein schließlich sich selbst tragender Wirtschaftsprozeß in Gang gekommen, mit dessen Fortschreiten die Bewirtschaftung hätte fortfallen können." Horst Wünsche resümiert die Leistung von Ludwig Erhard: "Die Motive für seinen spontanen Entschluß, eine Wirtschaftsreform anzuordnen, lassen sich plausibel aus Erhards kreislauftheoretischen Überlegungen herleiten. Aus den geldtheoretischen Erkenntnissen, die Erhard aus Knapps ‚Staatlicher Theorie‘ gewonnen hatte, mußte für ihn feststehen, daß eine Wirtschaft ohne eine funktionsfähige Geldverfassung – eine Verfassung, in der Geld seine Tauschmittelfunktion vollständig und für alle Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr erfüllt – nicht existieren kann. Wenn es für den Erfolg der Währungsreform wichtig war, daß das umlaufende Geld wieder als ‚staatliche Chartalwährung‘ Anerkennung fand, so mußte dieses Geld vor allem auch auf ein Warenangebot treffen. Dies konnte nur durch Maßnahmen zusätzlich zur Währungsreform bewerkstelligt werden. Es wäre undurchführbar gewesen, Sachwertbesitzer administrativ zu verpflichten, ihre Waren anzubieten. Aber es war möglich, sie durch das Setzen geeigneter Bedingungen zu entsprechenden freiwilligen Entschlüssen anzuregen. Die Waren durften nicht zögernd auf dem offiziellen DM-Markt erscheinen. Das Warenangebot mußte in eindeutig überzeugender Weise breites Vertrauen in das neue Geld manifestieren. Aus dieser Lagebeurteilung heraus ist es als die besondere Sorge Ludwig Erhards anzusehen, aus einer vorhersehbaren verhängnisvollen Entwicklung einen Ausweg zu finden. Bei dem währungsreformbedingten Kaufkraftüberschuß kam es ihm darauf an, daß möglichst jeder verfügbare Gütervorrat auch auf dem Markt sichtbar gemacht wird. Es war dabei keinesfalls erforderlich, daß Umsätze getätigt wurden. Waren mußten lediglich auf dem Markt vorgezeigt und gegen die neue Währung angeboten werden. Wenn diese Waren zu teuer angeboten würden und somit nur die Schaufenster füllten, wäre das durchaus kein Nachteil: Der Effekt des Anbietens wäre erreicht, die mit der Währungsreform geschaffene prekäre Kreislaufsituation würde ja gerade in dem Maße entspannt, wie die Verbraucher sich entschlössen, vorerst noch zu sparen.

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Das Verhalten Erhards zum Zeitpunkt der Währungsreform kann somit nicht als das eines von liberalen Grundsätzen blind überzeugten und aus grundsätzlicher liberalen Überzeugung heraus unbeirrt handelnden, das heißt dogmatisch agierenden Wirtschaftspolitikers gesehen werden. Erhard hat vielmehr akut drohende Gefahren erkannt, und er hat deshalb mutig die angemessenen Maßnahmen ergriffen: Er hat sich anläßlich der Währungsreform sofort mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln dafür eingesetzt, daß alle Gütervorräte, Lager und Horte, aufgelöst werden. Er hat darum – und er mußte diese Maßnahmen natürlich unbedingt zum Zeitpunkt der Währungsreform treffen – ‚Hunderte von Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften in den Papierkorb befördert‘. Dies hat für die Besitzer von Sachwerten einen großen Anreiz geschaffen, ihre Waren anzubieten, nämlich so schnell wie möglich und selbstverständlich in der Absicht, sie zu Preisen so hoch wie möglich loszuschlagen. Erhard hat den gewünschten Effekt erreicht: Alle Berichte über die Wirtschafts- und Währungsreform weisen vor allem darauf hin, in welch verblüffender Weise sich die Schaufenster füllten. Damit war für die Nachfrager der Eindruck entstanden, für das neue Geld werde etwas geboten. Es waren Waren vorhanden, die die Kaufkraft aufnehmen oder auf deren Erwerb gespart werden konnte. Beides war geeignet, die Situation des währungsreformbedingten Kaufkraftüberschusses zu entspannen. Erhard war Theoretiker der Marktwirtschaft: Seinen Vorstellungen liegt ein eindeutiges Bekenntnis zur marktwirtschaftlichen Ordnung zugrunde. Aber gerade diese eindeutige Überzeugung ist es, die ihn eine weitergehende Ausgestaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung vertreten läßt. Dabei wäre nicht einmal ganz richtig, vorbehaltlos zu sagen, Erhards wirtschaftspolitische Vorstellungen würden sich nicht allein im Vertrauen auf die Wirtschaftskräfte erschöpfen, denn damit würden diese Kräfte womöglich zu vorbehaltlos anerkannt und ein wichtiger Grundzug in Erhards Konzeption übersehen: die kritische Distanz den wirtschaftlichen Kräften gegenüber und die Sorge vor der Dynamik, die diese Kräfte – unversehens und unbeabsichtigt, aber zum Schaden der Gesellschaft – zu entfalten vermögen. Als ‚marktwirtschaftlich‘ ist Erhards Haltung eben unzureichend bezeichnet. Erhard ging es um eine Soziale Marktwirtschaft. Schon frühzeitig hat er hierfür das Motto niedergeschrieben: ‚Die Bedeutung des Ertragsstrebens der privaten Wirtschaft soll gewiß auch für die Gegenwart nicht verkannt werden, aber dieses Streben darf nicht ausschließlich zum Lenkungsmittel für den volkswirtschaftlichen Kapital- und Arbeitseinsatz werden‘. Richtig ist jedoch: Die uneingeschränkte Grundentscheidung für eine marktwirtschaftliche Ordnung war die erste Bedingung, die auf dem Weg zur Sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards zu erfüllen war. Doch auch hier sind Vorbehalte anzubringen: Nicht die ökonomische Effizienz der Marktwirtschaft hat Erhard bewegt – ihm ging es vor allem darum, das historische Schrecknis der industriellen Wirtschaft, den Klassenkampf, zu überwinden und in sozialer Verantwortung eine moderne – weder kollektivistische noch in das Private atomisierte – Industriegesellschaft nach dem Leitbild

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gleicher, freier und gegenüber dem Wirtschaftlichen emanzipierter Menschen zu formieren“.80 2.2. Radikale Änderung der Wirtschaftsordnung: Das Gutachten vom 18. April 1948: „Die Währungsreform ist nur sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden ist“ In der Zeit von 1936 bis Kriegsende 1945 erreichte die Reichsschuld den Betrag von 390 Mrd. RM. „Das technisch kunstvolle Gebäude der deutschen Rüstungs- und Kriegsfinanzierung ruhte vor allem auf drei Pfeilern: auf der ‚geräuschlosen‘ Kriegsfinanzierung, auf dem Preisstop von 1936 und auf einer totalen Devisenzwangswirtschaft […] Das durch die fortgesetzt gesteigerte Verschuldung des Reiches geschaffene Geld blieb zum weit überwiegenden Teil in Form von Einlagen im Bankenapparat bestehen“.81 Das Geldvolumen, das 1938 knapp 50 Mrd. RM ausmachte, stieg bis zum Kriegsende auf nahezu 300 Mrd. RM. Es setzte sich aus ca. 73 Mrd. RM Stückgeld, 100 Mrd. RM Bankguthaben und 125 Mrd. RM Sparguthaben zusammen.82 Von 1945 an: Lähmung der Geldwirtschaft: „Das ganze ebenso künstliche wie kunstvolle System, für das sich später die treffende Bezeichnung ‚zurückgestaute Inflation‘ einbürgerte, mußte nach Kriegsende seine Wirksamkeit weitgehend verlieren, auch wenn die Hauptquelle der inflatorischen Geldvermehrung versiegte und die Bindung des größten Teils der Produktivkräfte für die Zwecke der Kriegsführung und der Kriegsproduktion aufhörte. Die Grundsätze des Preis- und Lohnstopps und der totalen Devisenzwangswirtschaft wurden nach der Besetzung von den Militärregierungen allerdings praktisch unverändert übernommen. Neue inflatorische Faktoren, die das Ungleichgewicht zwischen einer übermäßigen Nachfrage und einem unzureichenden Warenangebot noch verstärkten, waren die Emission von Besatzungsnoten (‚Militärmark‘) sowie umfangreiche Demontagen in allen Besatzungszonen, die nach 80 Ebd., S. 180-184. 81 Pfleiderer, Otto: Währungsumstellung in Westdeutschland (1948), in: M. Palyi, Quittner, P. (Hrsg.): Enzyklopädisches Lexikon für das Geld-, Bank- und Börsenwesen, Bd. II, I-Z, Frankfurt a. M. 1957, S. 1634. Otto Pfleiderer: Vormals Präsident der Landeszentralbank in Baden-Württemberg, Honorarprofessor an der Universität Heidelberg. Geb. 1904 in Ulm a. d. Donau. Studium der Staatswissenschaften in Tübingen, Hamburg und Kiel. Diplom-Volkswirt. Dr. sc. Pol. 1937-45 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Reichs-Kredit-Gesellschaft. 1946-1948 Leiter der Bank- und Versicherungsaufsichtsbehörde im Finanzministerium Württemberg-Baden, Stuttgart. 1947-48 Mitglied der Sonderstelle Geld und Kredit, Bad Homburg, sowie des Expertengremiums für die Vorbereitung der Währungsreform („Konklave von Rothwesten“). Seit 1947 Lehrtätigkeit an der Universität Heidelberg. 1948-72 Präsident der Landeszentralbank in Baden-Württemberg und Mitglied des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium. In: Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876-1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 795. 82 Pfleiderer, Otto: Währungsumstellung, S. 1635.

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der Zerstörung großer Teile des Produktions- und Transportapparates das wirtschaftliche Potential Deutschlands weiter schwächten. Durch eine Reihe von Faktoren wurde ein befriedigendes Funktionieren des Geldwesens in den Jahren von 1945 bis 1948 zusätzlich erschwert. Im einzelnen handelte es sich dabei insbesondere um folgende Tatbestände: a) Die Vermögenswerte der Geldinstitute, Versicherungsunternehmen und Bausparkassen bestanden überwiegend aus unmittelbaren und mittelbaren Forderungen gegen das Reich, die durch den Kriegsausgang zunächst unverwertbar geworden waren und nicht mehr bedient wurden. b) Der Zahlungsverkehr zwischen den verschiedenen Besatzungszonen war zunächst total behindert; dies Hemmnis wurde im Lauf der Zeit nur langsam gelockert. Zwar waren in allen vier Besatzungszonen die Reichsbank- und Militärmarknoten und die Scheidemünzen weiterhin gesetzliche Zahlungsmittel; doch kam der Überweisungsverkehr zwischen den Besatzungszonen nur langsam und behelfsmäßig wieder in Gang. Dies galt insbesondere auch für die Möglichkeiten des Ausgleichs der zwischen den einzelnen Bereichen der Reichsbank oder ihrer Funktionsnachfolger durch den Überweisungsverkehr auflaufenden Salden. Auch von der Warenseite her war der interzonale Austausch durch die Anordnungen der Besatzungsmächte erheblich behindert. Von einem einheitlichen Währungsgebiet konnte demnach in der Zeit zwischen 1945 und 1948 nur noch in sehr eingeschränkter Weise gesprochen werden. c) Dazu kam die totale Unterbrechung des Zahlungsverkehrs mit dem Ausland, die nur durch die Gründung der Joint Export Import Agency (JEIA) im Jahr 1947 und des ihr in der französischen Besatzungszone entsprechenden Office de Commerce Extérieur (Officomex) etwas gemildert wurde, die als Einrichtungen der Besatzungsmächte auf der Basis effektiver Dollarzahlung für Ein- und Ausfuhr, zunächst ohne festen Umrechnungssatz zwischen Reichsmark und Dollar, ein gewisses, wenn auch überaus bescheidenes Maß von lebenswichtigen Ein- und Ausfuhren ermöglichten. d) Endlich ist unter den Faktoren, die zu einer Lahmlegung der Geldwirtschaft in jenen Jahren führten, die weit verbreitete Erwartung einer unvermeidlichen, aber in ihrem Wann und Wie unbestimmten Währungsreform zu nennen. Mit je größerer Sicherheit die Währungsreform als unvermeidlich angesehen wurde, um so geringer war begreiflicherweise die Bereitschaft, das von einer radikalen Reform bedrohte Geld weiterhin als angemessenes Zahlungsmittel für knappe Güter und Dienstleistungen anzuerkennen“.83 Um den „Geldüberhang“ zu beseitigen, mußte das Geldvolumen zusammengestrichen werden. Um aus dem deutschen Wirtschaftschaos (1945 bis Frühjahr 1948) herauszukommen, hatte Walter Eucken nur einen alternativlosen Weg gesehen: die Rückkehr zur geldgesteuerten Wirtschaft. Dieser Weg wurde mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 beschritten. Dabei mußten zwei Wege aus dem deutschen 83 Ebd., S. 1636 f.

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Wirtschaftschaos eingeschlagen werden, die jedoch ein Ziel erreichen sollten: ein Geldumtausch sowie eine radikale Änderung der Wirtschaftsordnung. Unter Währungsreform versteht Heinz Sauermann „eine solche Neuordnung des Geldwesens eines Landes, die einer vorangegangenen Geldzerrüttung ein Ende setzt und die Voraussetzungen für eine funktionsfähige Geldwirtschaft wiederherstellt. Daraus folgt, daß es sich bei einer Währungsreform nicht nur um ein technisches Experiment handelt. Zwar ist mit jeder Geldreform ein Geldumtausch oder die Einführung eines neuen Geldes an die Stelle des alten Geldes verbunden, aber sie beschränkt sich nicht auf diesen technischen Vorgang. Als isolierte technische Maßnahme des Geldumtausches würde eine Reform wenig Wert haben. Sie ist nur dann sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftspolitik mit ihr verbunden ist. Unter funktionsfähiger Geldwirtschaft wollen wir ein solches Wirtschaftssystem verstehen, in dem nicht nur Geld als allgemeines Dispositionsmittel verwendet wird, sondern auch seiner Verwendung keinerlei Beschränkung auferlegt ist. Alle Käufe und Verkäufe vollziehen sich vermittels des Zahlungsmittels, so daß also das Geld seine volle Kaufmacht besitzt. Bestehen hingegen für die Transaktionen zwischen den Wirtschaftseinheiten irgendwelche Auflagen oder Berechtigungen, dann ist die Kaufmacht des Geldes ganz oder teilweise beschränkt. Das Wirtschaftssystem besitzt dann keine geldwirtschaftlich organisierte Steuerung“.84 „Die Technik der Auflösung der zurückgestauten Inflation war von großer Bedeutung für das Gelingen der Währungsreform: ‚Das einfachste Verfahren der Auflösung der zurückgestauten Inflation bestand in der vollen Wiederinkraftsetzung des selbsttätig wirkenden Marktpreismechanismus. Es stellt die marktwirtschaftliche Lösung des Problems schlechthin dar, da es einen sofortigen Übergang von der Zwangswirtschaft zur Marktwirtschaft ermöglicht, und eigentlich nur in einem Unterlassen der bisherigen staatlichen Eingriffe in den Wirtschaftsablauf besteht. Zu seiner Durchführung ist lediglich der Abbau aller aus der Kriegswirtschaft überkommenen zwangswirtschaftlichen Einrichtungen erforderlich, insbesondere die Aufhebung aller staatlichen Preis- und Lohnbindungen sowie aller Kontingentierungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen‘.“85 Die drei US-Amerikaner Gerhard Colm, Joseph Dodge und Raymond Goldsmith übergaben am 20. Mai 1946 General Clay die letzte Fassung des Plans „A Plan for the Liquidation of the War Finance and the Financial Rehabilitation of Germany”. Der Colm-Dodge-Goldsmith-Plan sah eine Abwertung aller monetären Forderungen und Verbindlichkeiten im Verhältnis 10:1 vor.86 Lenkungssystem: Die Bedeutung der „Recheneinheit“ für das Lenkungssystem wird von Walter Eucken hervorgehoben: „Die Währungsreform stellte wieder ei84 Sauermann, Heinz: Währungsreformen, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 452. 85 Hühne, Herbert: Das Problem der Beseitigung der Kaufmachtbeschränkung des Geldes nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt an der Währungs- und Wirtschaftspolitik verschiedener als Beispiele ausgewählter Staaten. Diss. Frankfurt a. M. 1950, S. 25. 86 Hoppenstedt, Wolfram: Gerhard Colm. Leben und Werk (1897-1968), Stuttgart 1997, S. 206.

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ne zureichende Recheneinheit her, ermöglichte die Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch Preise und ließ Ordnungsformen entstehen, in deren Rahmen ein großer arbeitsteiliger Prozeß gelenkt werden kann“.87 Am 18. April hatte sich der im Dezember 1947 bei der „Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ errichtete wissenschaftliche Beirat88 in einem Gutachten über „Maßnahmen der Verbrauchsregelung, der Bewirtschaftung und der Preispolitik nach der Währungsreform“ für eine radikale Änderung der Wirtschaftsordnung ausgesprochen. Nach Ansicht der Gutachter wäre die Währungsreform nur sinnvoll, wenn auch eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden werde. Die Währungsreform wäre als isolierter technischer Vorgang wertlos, wenn nicht sogar gefährlich.89 Von zentraler Bedeutung ist nach Ansicht der Gutachter die Wirtschaftslenkung: „(2.) Die Währungsreform ist nur sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden wird. Als isolierter technischer Vorgang wäre sie wertlos, wenn nicht sogar gefährlich. Durch die Währungsreform wird die wirksame Nachfrage so beschränkt, daß eine totale Verbrauchsregelung und Zwangsbewirtschaftung gegenstandslos wird. (3.) Der Beirat vertritt die Auffassung, daß die Funktion des Preises, den volkswirtschaftlichen Prozeß zu steuern, in möglichst weitem Umfang zur Geltung kommen soll. Diese Auffassung schließt Zuteilungsmaßnahmen aus, sofern nicht zwingende, insbesondere soziale Gründe für sie sprechen. (4.) Die Steuerung durch den Preis dient dazu, das Sozialprodukt zu steigern. Dies ist die wichtigste sozialpolitische Aufgabe des Augenblicks. Dabei bleibt die weitere Frage offen, welche Wirtschafts- und Sozialordnung auf die Dauer angestrebt werden soll. Eine so einschneidende Maßnahme wie die Währungsreform mit einem Übergang zur Steuerung durch den Preis wird zweifellos Umstellungsschwierigkeiten mit sich bringen. Insbesondere wird mit Betriebsstillegungen, Einschränkungen und Beschäftigungslosigkeit zu rechnen sein. (6.) Im Rahmen der Steuerung durch den Preis können in der Übergangszeit Sonderregelungen auf Einzelgebieten erforderlich sein. (7.) Die Mehrheit des Beirats entscheidet sich für eine möglichst sofortige Freigabe der Preisbildung mit tendenzieller Angleichung an die Weltmarktpreise auch bei mengenmäßig rationierten Verbrauchsgütern, da sie

87 Eucken, Walter: Unser Zeitalter der Mißerfolge. Fünf Vorträge zur Wirtschaftspolitik, Tübingen 1951, S. 58. 88 Blumenberg-Lampe, Christina: Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise“. Entwurf einer freiheitlich-sozialen Nachkriegswirtschaft. Nationalökonomen gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1973, S. 151 ff. 89 Pünder, Tilmann: Das Bizonale Interregnum. Die Geschichte des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1946-1949, 1966, S. 302.

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sich hiervon die im Interesse der Versorgung zweckmäßigste Lenkung der Produktion verspricht. (11.) Der Beirat hält einmütig eine Aufhebung des Preisstops von 1936 für erforderlich, weil das damals geschaffene, bis heute noch weitgehend bestehende Preissystem den jetzigen Knappheitsrelationen nicht entspricht, also den Zusammenhang mit der jetzigen Wirtschaftssituation verloren hat. Er ist in seiner Mehrheit der Auffassung, daß nur eine wettbewerbliche Preisbildung auf den Gütermärkten die erforderliche Anpassung des jeweiligen Angebots an die kaufkräftige Nachfrage sicherstellt. (13.) Außer den obigen Maßnahmen erscheint dem Beirat auch die Überwindung der gegenwärtig ungeordneten Lohnpolitik durch eine geordnete Lohnbildung unbedingt erforderlich, wobei von der Anerkennung tarifvertraglicher Bindungen grundsätzlich ausgegangen wird, ohne daß damit im Interesse der Beschäftigungsmöglichkeit breitester Schichten der Bevölkerung völlige Lohnstarrheit wie überhaupt eine Starrheit in der Einkommensbildung anerkannt werden kann“.90 Das Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ vom 18. April 1948 hat den Direktor der Wirtschaftsverwaltung „wesentlich bestärkt“.91 In der denkwürdigen Nachtsitzung des Wirtschaftsrats vom 17. zum 18. Juni 1948 wurde das „Gesetz über die wirtschaftspolitischen Leitsätze nach der Währungsreform“ in namentlicher Abstimmung mit 50 gegen 37 Stimmen angenommen. Hermann Pünder, von März 1948 bis September 1949 Oberdirektor des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der Bi-Zone,92 bemerkt dazu in seinen Lebenserinnerungen: „Es war wohl die bedeutendste parlamentarische Entscheidung der deutschen Nachkriegsgeschichte“.93 Die SPD plädierte im Wirtschaftsrat für eine „Planwirtschaft“.94 „Allerdings war der Übergang zur Marktwirtschaft, weil er mit dem für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet vom Wirtschaftsrat verabschiedeten ‚Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform‘ (vom 90 Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft. Sammelband der Gutachten von 1948 bis 1972, Göttingen 1973, S. 1-4. Den Vorsitz der konstituierenden Sitzung führte Franz Böhm. Am 29. Februar 1948 wurde Heinz Sauermann zum Vorsitzenden gewählt. 91 Möller, Hans: Die westdeutsche Währungsreform von 1948, in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876-1975, Frankfurt a.M. 1976, S. 458. 92 Trittel, Günter J.: Hermann Pünder (1888–1976), in: Benz, Wolfgang / Graml, Hermann (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 259 f. 93 Pünder, Hermann: Von Preußen nach Europa. Lebenserinnerung, Stuttgart 1968, S. 361. 94 Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947-1949. Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte und dem Deutschen Bundestag, Wirtschaftliche Dienste. Bearbeiter: Weisz, Christoph und Woller, Hans, München-Wien 1977, 18. Vollversammlung 17./18. Juni 1948, S. 663.

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24.6.1948) thesenartig proklamiert wurde, doch nicht ganz so schlagartig, wie er später zuweilen hingestellt wurde. Grundnahrungsmittel, Agrarprodukte und die meisten Rohstoffe verblieben beispielsweise zunächst unter staatlicher Bewirtschaftung und Preisbindung. Für wichtige Konsumgüter, wie Textilien und Schuhe, wurde nur die Preisbindung und nicht auch die Rationierung aufgehoben. Im übrigen verfügte die Verwaltung mit der Einfuhrbewirtschaftung über ein wichtiges Steuerungsinstrument. Der Übergang zur Marktwirtschaft war also letztlich eine wohldosierte Begleitmaßnahme zur Währungsreform und keineswegs ein leichtfertiges Vabanquespiel“.95 Unternehmen: Die zum 21.6.1948 angeordnete Währungsneuordnung machte es für die Unternehmen erforderlich, das „kaufmännische Rechnungswesen auf die neue Währung umzustellen, um im Rahmen der allgemeinen Währungs- und Wirtschaftsneuordnung auch für das einzelne Unternehmen eine Grundlage für seine neue Wirtschaftsrechnung zu schaffen. Dies konnte nur dadurch geschehen, daß die Unternehmer die RM-Rechnung mit ihren unvergleichbaren und überholten Werten abschließen und eine neue DM-Eröffnungsbilanz aufstellen mußten. Man war sich darüber klar, daß die Verhältnisse am 21.6.1948 keine Grundlage für eine Bewertung abgeben konnten. Die Bewertung war erst möglich, nachdem die Entwicklung der Kosten- und Preisverhältnisse aufgrund der Währungsumstellung klar überblickt werden konnten. Die nach dem DM-Bilanzgesetz vom 21. August 1949 zum 21.6.1948 aufzustellende DM-Eröffnungsbilanz war eine Vermögensbilanz. ‚Auch bei dieser kamen zwangsläufig und mit ausdrücklicher Genehmigung des Gesetzgebers die stillen Reserven zur Auflösung, um die tatsächlichen und nominellen Verluste aus Krieg und Umstellung auszugleichen und den Unternehmungen den Ausweis entgegen den Vorschriften des § 83 AktG zu ermöglichen. Es brachte eingehende Bewertungsvorschriften für alle typischen Bilanzposten, die teilweise Wertheraufsetzungen nach dem Tageswiederbeschaffungspreis (Neuwert) enthielten, teilweise Erinnerungswerte vorsahen und für die Übergangszeit auf geregelte Geschäftsverhältnisse den Einsatz von Kapitalentwertungs- und -verlustkonten vorsah. Die DM-Eröffnungsbilanzwerte galten gleichzeitig als Anschaffungswerte für die weiteren Erfolgsrechnungen. In diesem Falle bestand Übereinstimmung zwischen Handelsbilanzwerten und Steuerbilanzwerten‘.“96 Die Durchführung der DM-Eröffnungsbilanzen zeigte, daß die deutsche Wirtschaft in einem überraschenden Umfang stille Reserven gebildet hatte, so daß sich bei den Aktiengesellschaften eine durchschnittliche Neufestsetzung des Grundkapitals gegenüber dem RM-Grundkapital im Verhältnis 100:98,1 ergab.97

95 Möller, Hans: Die Westdeutsche Währungsreform, S. 458. 96 Le Coutre: Bilanz (II), Bilanzbewertung in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 2. Bd., 1959, S. 250 f. von Boehmer, Henning: Das DM-Bilanzgesetz, Berlin 1950. 97 Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1950/51, 51. Jg.

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Der Unternehmer Ludwig Vaubel berichtet in seinem Tagebuch über die Rückwirkungen der Währungsreform auf die Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG Wuppertal: 26. Juni 1948: Am Freitag waren in Obernburg die kaufmännischen Leiter versammelt, um über die notwendigen Sofortmaßnahmen zur Währungsreform zu beraten. Auflösung der Kompensationläger, Einstellung der Sachprämien, Geldverkehr, Geldbeschaffung durch Verkäufe, plötzliche Notwendigkeit, die Kreditfähigkeit der Abnehmer wieder zu prüfen, für die seit Jahren alle Unterlagen fehlen. Vits berichtete kurze Zeit später in der Hauptversammlung von Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG Wuppertal (VGF) am 24.8.1948: „Die durch die Währungsreform zunächst eingetretenen Liquiditätsschwierigkeiten [lt. Bericht des Vorstands an den Aufsichtsrat vom 13.9.1948 betrug der Geldbestand bei Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG Wuppertal (VGF) am 18.6.1948 in alter Währung RM 7.401.000, der Anfangsbestand in neuer Währung DM 589.000] konnten überwunden werden. Da gerade in der Textilwirtschaft durch die verhältnismäßig hohe Kopfquote große Umsätze getätigt wurden, waren unsere Abnehmer schnell wieder im Besitz flüssiger Mittel. Die nach der Währungsreform durchgeführte Aufhebung zahlreicher Bewirtschaftungsmaßnahmen hat sich auch auf unser Arbeitsgebiet günstig und produktionssteigernd ausgewirkt. Wir glauben, daß auch auf dem Textilgebiet ein Übergang zu einer völlig freien Marktwirtschaft möglich sein wird, sofern die Industrie sich ihrer volkswirtschaftlichen Verantwortung bewußt ist und die nun wieder unter ihrer eigenen Verantwortung stehende Preispolitik nach den Notwendigkeiten der gesamten Volkswirtschaft ausrichtet und auf Konjunkturgewinne verzichtet. Bei den jetzt auftauchenden Übergangsschwierigkeiten ist zu berücksichtigen, daß so weitgehende Strukturveränderungen der Wirtschaft auch bei bestem Ablauf nicht reibungslos vor sich gehen können“.98 Der in leitender Stellung des Chemiekonzerns „Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG“ in Wuppertal tätige Ludwig Vaubel führte vom 8. Mai 1945 bis zum Sommer 1949 „ein Tagebuch, das einen sehr guten Einblick in die Zeit vor und nach der Währungsreform gewährt“.99 Vor der Währungsreform 4. Januar 1948: Die seit langem erwartete Währungsreform steht seit Anfang Dezember 1947 wieder im Mittelpunkt der Erörterungen. Angeblich sollen die Besatzungsmächte überraschend ohne deutsche Mitwirkung nach dem „Colm-Dodge-Goldsmith-Plan“ handeln wollen, d. h. Abwertung aller Guthaben und Forderungen auf 10 %. Entschädigung von Kriegsschäden und Währungsverlusten durch Zertifikate aus einer fünfzigprozentigen Belastung, dazu eine Vermögensabgabe vom dann verbleibenden Rest für alle, progressiv gestaffelt 10-90 %. Zunächst wollen die Amerikaner aber nochmals ei98 Vaubel, Ludwig: Zusammenbruch und Wiederaufbau. Ein Tagebuch aus der Wirtschaft 19451949, hrsg. von Benz, Wolfgang, München 1984, S. 172, 277. 99 Vaubel, Ludwig: Zusammenbruch und Wiederaufbau. Ein Tagebuch aus der Wirtschaft 19451949, hrsg. von Benz, Wolfgang, München 1984, S. 149, 171-173, 175, 182, 189.

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ne Verständigung mit den Russen suchen. Sie befürchten das völlige, endgültige Auseinanderfallen der Ost- und Westzonen als Folge einseitiger wirtschaftlicher Maßnahmen. Auch erwarten sie eine russische Sabotage der Währungsneuregelung durch Einpumpen von Notenbeständen aus der Ostzone in den Umtausch. Die Wende: 18. Juni 1948: Tag der Verkündung der Währungsreform! Endlich löst sich die Spannung, die sich in den letzten Tagen und Wochen nach jahrelanger Ungewißheit, ständigen Ankündigungen und nachfolgenden Dementis unerträglich angestaut und zuletzt zu einer völligen Lähmung des normalen Wirtschaftslebens geführt hatte. Noch weiß niemand, was die Auswirkungen sein werden. Doch daß eine grundsätzliche Änderung unseres täglichen Wirtschaftens damit verbunden sein wird und erhebliche Beschränkungen in der Verwendung des bisher so bedenkenlos ausgegebenen Geldes kommen, ist fast allen klar. Für die meisten verbindet sich damit eine Hoffnung. Aber nun stehen wir vor der Frage, ob diese Hoffnung sich erfüllen wird. Letztlich geht es um das Problem, wie ohne Ostdeutschland, nur aus dem in der ganzen Welt schwieriger werdenden Export die fünfzig Millionen Menschen ernährt werden sollen, die in den drei Westzonen zusammengedrängt sind. Denn daß die Russen ihre Zone räumen werden, ist nicht zu erwarten. Was soll politisch aus diesem geteilten Deutschland werden, um das als Ganzes sich die beiden großen Weltmächte politisch bemühen, doch zugleich mit dem Willen, seine Macht niederzuhalten. 21. Juni 1948: Der erste Teil des Kopfgeldes mit vierzig deutschen Mark wurde am Sonntag auf dem Bürgermeisteramt ausgegeben. Es war eine Erlösung für viele, daß nun das dauernde Warten auf die Neuregelung ein Ende hat. Es hatte sich alles gestaut und verkrampft. In den letzten Tagen war noch eine fieberhafte Bezahlung aller irgend möglichen Verpflichtungen in altem Geld versucht und im wesentlichen erfolgreich betrieben worden. Nun ist über Nacht eine neue Zeit da. Die Läden sind gefüllt mit Waren der verschiedensten Art, seit Jahren nicht gesehen und bisher nur im Kompensationsverkehr unter Schacher und Handel zu bekommen, eine Märchenstimmung! Nur zögernd beginnen die Umsätze mit dem neuen Geld, das noch kaum jemand aus der Hand zu geben wagt in der Ungewißheit, wann die normalen Einnahmen wieder zu fließen beginnen. 24. Juni 1948: Die Situation, in der wir leben: der frühere kaufmännische Werksleiter in Breslau, zweimal geflüchtet – zuerst aus Breslau und nun wieder aus Elsterberg – erregt sich in bitteren Worten über den „Luxus“ des Essens, das gestern mit den Gästen eingenommen wurde. Luxus, so wie er es aus der Einstellung des früher Verwöhnten, nunmehr aus allen Sicherheiten geworfenen Flüchtlings sah, obgleich es doch nur eine – im „normalen“ Sinn – einfache Mahlzeit war: Brühe, Gemüseplatte mit Büchsenfleisch, Sauce, Griesspeise, für zwölf Personen vier Flaschen Wein und für jeden eine Tasse Kaffee, schwarz mit Zucker! So sind die Maßstäbe durch den Mangel verwirrt, und es bedarf der Rechtfertigung, wenn bei einer solchen Gelegenheit solchen Gästen ein solcher Empfang bereitet wird.

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Die anschließende Besprechung mit den Holländern ließ erkennen, daß Forderungen und Ansichten unter ihnen selbst keineswegs übereinstimmten. So konnten wir auch auf der Gegenseite für den eigenen Standpunkt immer wieder Ansatzpunkte finden. 28. Juni 1948: Am Samstag in Frankfurt die ersten Einkäufe, Schere, Kochtopf, Spülschüssel, Eimer, Kirschen in beliebiger Menge frei. Niemand begreift, wo Obst und Gemüse bis dahin geblieben waren – auch in Wuppertal waren in den nächsten Tagen alle Stände gefüllt, die Preise erträglich. Aber die allgemeine Unsicherheit ist noch groß. Wie wird es weitergehen? Wird das Angebot an Waren anhalten? Werden die Preise steigen oder zurückgehen? Wie wird alles in drei Monaten oder in einem halben Jahr aussehen? Die Bewirtschaftung ist auf vielen Gebieten aufgehoben. Sogar die Eier sind freigegeben. Es werden phantastisch billige Preise vom Schwarzmarkt berichtet; Butter DM 4,- bis 6,- das Pfund, Zigaretten DM 2,50 für 20 Stück, so daß die offizielle Zuteilung amerikanischer Zigaretten für DM 0,30 pro Stück in den Läden liegen bleibt. 12. August 1948: Es ist doch ein anderes Leben geworden in der Bizone seit dem Tag der Währungsreform. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft waren doch nicht nur Illusion. Die Not, die Sorge um das Morgen, sitzt nicht mehr täglich im Nacken. Aber es gilt nicht für alle. Zu viele verfügen nun über keine Mittel mehr, nachdem die „Kopfquote“ verbraucht und die Ersparnisse zerflossen sind. Es gibt zu viele, die nicht mehr arbeiten können oder keine Aufgabe finden, die ihnen eine ausreichende Lebensgrundlage ermöglicht. Bei all den Unzulänglichkeiten unserer staatlichen Organisation wird es eine schwere Aufgabe werden, da den Ausgleich zu schaffen und oft wird nur die bitterste Not bleiben. Dazu kommt, daß noch immer die meisten nicht wirklich begriffen haben, daß der verlorene Krieg auch auf lange Sicht Opfer und Verzicht zur Folge haben muß, Verzicht auf Genuß, auf ein sorgloses Leben, auf das, was „früher“ an kleinen oder großen Annehmlichkeiten für so viele selbstverständlich war. Wenn jetzt die Bewirtschaftung lockerer geworden ist, glauben viele, daß ihnen damit das, was nicht mehr zugeteilt wird, auch nach Belieben „zusteht“. – Es kommen alle die Ansprüche wieder hervor, die der „Nationale Sozialismus“ der vergangenen Jahre den Menschen anerziehen zu müssen glaubte, und die von einem falsch verstandenen Sozialismus unserer Tage weiter eifrig genährt werden. Wenn etwas „frei“ ist, meinen viele, jeder müsse es haben können und für den, der es nicht bezahlen kann, ist der, der den Preis fordert, ein „Verbrecher“. Niemand erinnert sich daran, daß es in den letzten drei Jahren keine Eier gab und daß „früher“ – in der Vorkriegszeit, als ganz selbstverständlich nach den vorhandenen Mitteln gelebt wurde – Butter und Eier auch zu den Festgenüssen gehörten. Als in den Läden Eier überhaupt nicht zu erhalten waren, wurde daran kaum Anstoß genommen. Aber der Sturm bricht los, wenn Eier, zu 60 bis 70 Pfennig pro Stück überall ausgestellt, wegen des Preises natürlich nicht in beliebiger Menge gekauft werden können. Psychologie des Sozialismus, wie er nicht sein soll. Wenn man die Freiheit will – was sie zuwege gebracht hat gegenüber dem Zwang ist offenkundig – muß man auch ihre Folgen tragen wollen. Im übrigen müssen wir alle lernen, uns auch

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in der Zukunft nach unserer sehr kurzen und dünnen Decke zu strecken. Die Kriegsfolgen müssen „abverdient“ werden. Aber niemand will es wahrhaben. Das alles beginnt jetzt erst. Aber es wird noch schwierige, unruhige Jahre geben, bis die Menschen in Deutschland gelernt haben werden, ihre Wünsche und Möglichkeiten in Einklang zu bringen. 7. Januar 1949: In Köln gibt es z. Zt. wöchentlich wieder zwei Konkurse wie seinerzeit 1929. Nachkriegsgründungen gehen ein. Preisermäßigungen auch bei Schuhen und Textilien. Durch die Einfuhr italienischer Apfelsinen – 0,35 DM je Pfund – wird auch ein Druck auf die Apfelpreise erwartet. Lohnerhöhungen bis 0,75 DM pro Stunde werden in Nordrheinwestfalen noch notwendig werden. 15. Februar 1949: Immer wieder wird deutlich, wie sehr sich die Lebensverhältnisse in Westdeutschland seit der Währungsreform geändert haben. Immer neu ergreift mich ein Staunen. Zu tief sitzt noch die Erinnerung an den totalen Mangel dieser nun erst einmal verflossenen Nachkriegsjahre. Es gab nichts – und nun gibt es alles. Mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 wurde die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter für die Konsumenten,100 die bei Kriegsbeginn 1939 eingeführt worden war, 1948/50 liquidiert.101 Damit begann die marktwirtschaftliche Steuerung durch den Konsumenten über den Preis. Mit der sozialen Marktwirtschaft war die entscheidende Weichenstellung zum „Wohlstand für Alle“ gestellt worden. Die Bewirtschaftung von Lebensmitteln in den Westzonen 1939-1950 *)

*) Schmitz, Hubert: Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 19391950. Dargestellt am Beispiel der Stadt Essen, Essen 1956.

100 Paulsen, Andreas: Der Verbrauch und die Wirtschaftsordnungen, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 161, 1949, S. 90 ff. 101 Schmitz, Hubert: Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950, Essen 1956.

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Bei der sofortigen Ausstattung mit neuem Geld erhielten natürliche Personen am 20.6.1948 Alkohol im Umtausch gegen Altgeldnoten desselben Nennbetrages einen Kopfbetrag, der am Währungsstichtag in Höhe von 40 DM von den Lebensmittelkartenstellen ausgezahlt und im Laufe des Monats August 1948 in Höhe von weiteren 20 DM von den Hauptumtauschstellen gutgeschrieben oder von den Kartenstellen ausgezahlt wurde. Außerdem konnten Altgeldguthaben bis zu einem Betrage von 5000 RM nach dem Inkrafttreten des Umstellungsgesetzes sofort umgewandelt werden. „Die schwirrenden Gerüchte um das Einführungsdatum des neuen Geldes führten allerorten trotz der vielen Appelle und Warnungen zu spürbaren Hortungen von Waren. So mußten Anfang 1948 noch einmal die Fleischrationen gekürzt werden, nicht weil das Vieh fehlte, sondern die Bauern kaum noch ablieferten. Das im März 1948 vom Wirtschaftsrat der Bizone verabschiedete »EnthortungsGesetz« zeigte keine Wirkung, da der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Ludwig Erhard, im April 1948 unverhohlen durchblicken ließ, daß Hortungen zwar nicht offiziell erlaubt seien, aber doch geduldet würden, damit am Tag X eine ausreichende Warenmenge vorhanden sei, um der jungen DM zum Durchbruch zu verhelfen. Tatsächlich waren unmittelbar nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 die Läden wieder voller Waren. Die Fotos, auf denen sich Menschen an den Schaufensterscheiben die Nasen drückten, gehören sicher zur »Ikonologie« der Bundesrepublik. ‚Die vollen Schaufenster waren da. Das war das Schlimme‘, erinnert sich Frau H. an den Sommer 1948. ‚Die Preise waren sehr, sehr hoch, wenn man bedenkt, daß wir vierzig Mark bekommen hatten. Und wir hatten keinen Kochtopf und nichts, man mußte schon für einen Topf 25 Mark bezahlen, umgesetzt, einen Suppentopf aus selbstgemachtem Aluminium. Das war damals aus Flugzeugen, das Blech, was übriggeblieben war, da wurden die Töpfe […] Wir waren auch da mit Flüchtlingen zusammen, die nicht in einer Partie essen konnten, weil sie das Besteck nicht hatten. Die wollten dieses notwendige Zeug haben. Was das alles gleich dieses Geld verbraucht hat. Und im andern Jahr April gab es zur Osterzeit das erste Lammfleisch im Angebot. Da hatten wir uns, also Mutter und ich mit meiner Tochter, zwei Pfund Lammbraten und Blumenkohl kaufen können, so ohne Schwierigkeiten, mit gutem Geld. Und dann hatten diese Geschäfte plötzlich solche Butterberge, Eier satt, diese Milchgeschäfte, man konnte Sahne, flüssige Sahne kaufen. Und weißes Mehl, weißes Mehl, oh, was war das schön. Und dann kam das Fett dazu und 'n bißchen Kaffee, echten Bohnenkaffee‘. Zuerst jedoch konnten die Auslagen in den Schaufenstern nur bewundert werden, da vielen wie Frau H. noch schlicht das Geld fehlte, um all die Herrlichkeiten kaufen zu können. Hatte die Westdeutschen in den Umfragen der US-Militärregierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Sorge nach Lebensmitteln,

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Kleidung, Schuhen, Angst um vermißte Personen am meisten beschäftigt, focussierten nun alle Sorgen in einer einzigen: der ums Geld“.102 Die Währungsreform blieb tief im kollektiven Gedächtnis der westdeutschen Bevölkerung verankert. „Eine Zwischenbilanz der Befunde (der lebensgeschichtlichen Interviews des Oral History-Projekts ‚Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960‘, m. w.) ergibt: Die Währungsreform ist das politische Ereignis in der Erfahrungsgeschichte der Nachkriegszeit, dem grundsätzliche ordnungspolitische Bedeutung – von der gespaltenen Ökonomie zur Marktwirtschaft, von der abenteuerlichen Selbstversorgung im Mangel zur Arbeitsdisziplin und zur Konsumsteigerung – zugeschrieben wird und das wohl als einziges eine Entscheidung der politischen Machtträger unmittelbar oder buchstäblich für jeden erkennbar und im Alltag spürbar gemacht hat. […] Weil unsere Zeitzeugen nach der Währungsreform zum ersten Mal (wieder) jener Warengesellschaft begegneten, in der sie in den folgenden Jahren zu einem erheblichen Teil ihre Lebenserfüllung suchten, erscheint ihnen dieses Erlebnis, obwohl es unmittelbar für sie persönlich durchaus Unterschiedliches bedeutete und viele sich betrogen fühlten, wie der Mythos vom Ursprung des Goldenen Zeitalters“.103 Ines Pagel analysierte die Marktstellung des Konsumenten seit der Währungsreform am 20. Juni 1948. Sie resümierte in einem vergleichenden Überblick über den gesamten Untersuchungszeitraum: „Erst mit dem Tage der Währungsreform am 20. Juni 1948 wurden von der westdeutschen Wirtschaft Aufgaben in Angriff genommen, die bereits seit Kriegsende ihrer Lösung harrten. In den Jahren 19451948 bestand die wirtschaftliche Tätigkeit des ganzen Volkes lediglich in der notdürftigsten Substanzerhaltung und -sicherung. Die großen Probleme, die aus der Umstellung der Kriegswirtschaft auf Friedensproduktion, der willkürlichen Gebietsabtrennung und der Umsiedlung von Vertriebenen und Flüchtlingen folgten, wirkten sich erst nach der Währungsreform wirtschaftlich aus. Es war eine besonders günstige Fügung, daß diese Aufgaben in einem Zeitpunkt aufgegriffen wurden, in dem ein starker Lebenswille des deutschen Volkes wieder erwacht war und in der Welt die Überzeugung von der Lebensberechtigung von annähernd 50 Millionen Menschen die Oberhand gewann. Es setzte eine anhaltend expansive Wirtschaftsentwicklung ein, die weite Kreise von einem deutschen Wirtschaftswunder sprechen ließ. Nicht zu Unrecht wurde von maßgeblichen Stellen der deutschen Wirtschaft immer wieder darauf hingewiesen, daß diese Entwicklung das Ergebnis harter Arbeit war, das durch die Investitionsfreudigkeit der Unternehmer und eine maßvolle Zurückhaltung des Endkonsumenten gewährleistet wurde. Das zuletzt genannte Faktum ist von großer Wichtigkeit für den gesamten Wirtschaftsverlauf, denn der Kapitalmangel machte sich auf dem übervölkerten Staatsgebiet stärker denn je geltend. Er konnte 102 Wildt, Michael: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“, Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, S. 33 f. 103 Ebd., S. 34.

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nur dann überwunden werden, wenn der Verbrauch zugunsten einer besseren Zukunftsversorgung eingeschränkt wurde“.104 Die Liquidierung der nationalsozialistischen Wirtschaftslenkung, der Zwangswirtschaft 1939/50 und die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft ist von Otto Pfleiderer analysiert worden. „(1.) Marktlage und Preisentwicklung. Die nach der Geldumstellung zur Verfügung stehende Geldmenge kam in beträchtlichem Umfang auf den Markt, da sich bei den Verbrauchern wegen der erheblichen Konsumeinschränkungen in der RM-Zeit ein hoher Nachholbedarf angestaut hatte. Der erste Kaufkraftstoß traf auf ein durch sein Ausmaß überraschendes Warenangebot, das aus Hortungsbeständen der RM-Zeit herrührte, zu deren Auflösung sich die Unternehmungen schon in Folge ihrer verhältnismäßig geringen Erstausstattung (Geschäftsbeträge) und der anfänglichen Kreditbeschränkungen veranlaßt sahen. Dem zunächst reichlichen Konsumgüterangebot war es zu verdanken, daß der neuen Währung verhältnismäßig schnell Vertrauen entgegengebracht wurde. Von ausschlaggebender Bedeutung war außerdem, daß die bis dahin herrschende Zwangswirtschaft sehr rasch durch eine freie Marktwirtschaft abgelöst wurde. Für zahlreiche Güter wurde auf Grund eines am 24.6.1948 erlassenen Gesetzes die Bewirtschaftung und Preisbindung aufgehoben. Ausgenommen waren allerdings zunächst die Hauptnahrungsmittel, wichtige Rohstoffe sowie das Verkehrs- und Wohnungswesen. Die Rationierung der Hauptnahrungsmittel blieb offiziell noch bis zum 28.2.1950 bestehen, sie hatte sich aber schon vorher mehr und mehr gelockert. Die Preisbindung für Ernährungsgüter wurde teilweise noch längere Zeit aufrechterhalten, so z. B. für den Brotpreis bis zum Juli 1950 und für den Butterpreis bis zum März 1952. Gegenüber der ständigen Steigerung der Nachfrage auf Grund des wachsenden Geldvolumens und einer hohen Umlaufgeschwindigkeit des Geldes blieb bald das Warenangebot etwas zurück, weil die Produktion sich nicht entsprechend auszudehnen vermochte und auch wieder Hortungstendenzen hervortraten. Deshalb setzte ein rascher Preisanstieg ein. (2.) Investition, Produktion, Beschäftigung. Mit den vom Markt bewilligten höheren Preisen haben die Konsumenten wesentlich zur Selbstfinanzierung der Betriebe beigetragen und die Investitionstätigkeit angeregt. Im Jahre 1949 machten die Investitionen mit 17 Mrd. DM mehr als ein Fünftel des Bruttosozialprodukts aus. Die gesamte industrielle Produktion stieg sprunghaft von etwa 50 (1936 = 100) vor der Währungsreform auf über 80 im November 1948. Um die Jahreswende 1949/50 erreichte sie bereits wieder den Stand von 1936.

104 Pagel, Ines: Die Marktstellung der Konsumenten seit der Währungsreform, Diss. Erlangen 1958, S. 127.

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Preisentwicklung

(3.) Außenwirtschaft. Die Festsetzung eines einheitlichen – zunächst allerdings nur für Außenhandelstransaktionen gültigen und außerhalb der Gesetzgebung von der JEIA festgelegten – Kurses von 1 Dollar = 3,33 RM ab 1.5.1948, der auch für die D-Mark zunächst beibehalten wurde, trug erheblich dazu bei, die Abwicklung des Außenhandels wieder zu normalisieren. Die Regelung der Einund Ausfuhr, die vorher in den Händen von Dienststellen der Besatzungsmächte lag, wurde nach und nach wieder deutschen Behörden übertragen. Die Ausfuhr, die in den Nachkriegsjahren fast nur aus Kohle, Schrott u. ä. bestand, konnte wesentlich gesteigert werden, da sich der Anteil der Halb- und Fertigfabrikate laufend erhöhte. Starke Impulse auf das Ausmaß der intraeuropäischen Handelsverflechtungen gingen von der beginnenden Liberalisierung des intraeuropäischen Handels im Rahmen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) und der von ihr zuwege gebrachten allmählichen Multilateralisierung des intraeuropäischen Zahlungsverkehrs aus. Die westdeutschen Importe stiegen sprunghaft an (1949: 7,8 Mrd. DM, 1950: 11,4 Mrd. DM). Relativ noch stärker sind aber die Exporte gestiegen (1949: 4,1 Mrd. DM, 1950: 8,4 Mrd. DM); gleichwohl reichten sie noch nicht zur Bezahlung der Einfuhren aus. Das Zahlungsdefizit wurde hauptsächlich durch die Auslandshilfe in Form der GARIOAund Marshallplan-Mittel, teilweise auch durch die Inanspruchnahme von ‚Ziehungsrechten‘ im Zahlungsverkehr gedeckt. Die fortschreitende Gesundung der westdeutschen Wirtschaft und das international wachsende Vertrauen in die deutsche Währung waren deutlich an der Entwicklung der DM-Kurse in der Schweiz

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zu erkennen. Ende 1948 belief sich dort beim freien Banknotenkurs das Disagio noch auf 83 %, Ende 1949 bereits auf nur mehr 27 %“.105 An der Börse in Zürich wurden folgende Notenkurse (= Banknoten) notiert:106 31.07.1948: 31.12.1948: 14.01.1949: 28.03.1949:

100 Deutsche Mark 100 Deutsche Mark 100 Deutsche Mark 100 Deutsche Mark

= = = =

27,00 22,50/24,50 26,00/29,00 50,00/51,50

Schweizer Franken Schweizer Franken Schweizer Franken Schweizer Franken

Dies zeigt das stark wachsende Vertrauen in die DM. Devisenmärkte: Dem niedrigen Kursstand der D-Mark in der Schweiz entsprechend wird die D-Mark auf dem Schwarzen Markt in Italien gegenwärtig mit 40 Lire bewertet. Dieser niedrige Kurs wird von Schmugglern dazu benutzt, um mit der billig erworbenen D-Mark in den Westzonen hochwertige Waren, wie Werkzeuge, Chemikalien, Medikamente sowie chirurgische und zahnärztliche Instrumente in größeren Mengen einzukaufen und mit hohen Gewinnen in Italien abzusetzen.107 DM-Kurs leicht abgeschwächt: In der Zeit vom 20. bis 27. Dezember erfuhr der Ankaufs- und Verkaufskurs der D-Mark bei den Berliner Wechselstuben kleine Veränderungen, einmal durch die Wiedererhöhung der Spanne von 0,10 auf 0,20 Pfennig, die nach dem Abschluß des Prozesses mit dem Berliner Preisamt mit Wirkung vom 21. Dezember an vorgenommen wurde. D-Mark wurde dann für 3,60 Ostmark angekauft und für 3,80 Ostmark abgegeben. Am 23. Dezember ergab sich außerdem auf Grund verstärkten D-Mark-Angebots vorübergehend noch eine Abschwächung auf 3,50 Ostmark für den Ankauf. Der Verkaufskurs blieb unverändert bis zum 27. Dezember, wo auch dieser um 0,10 Pfennig auf 3,70 Ostmark ermäßigt wurde.108 Die Wirtschafts- und Finanzzeitung zog Ende 1948 eine „Wirtschaftspolitische Zwischenbilanz“: „Die riesige Geldfülle aus der preisgestoppten Inflation der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft ließ uns in den drei Jahren nach dem Zusammenbruch vom Stand einer modernen, arbeitsteiligen Volkswirtschaft auf das Niveau einer mittelalterlichen Tausch- und Naturalwirtschaft herabsinken. Das Jahr 1948 hat mit der Währungsreform eine funktionsfähige Geldverfassung und damit die wichtigste Grundlage für den Aufbau einer gesunden Wirtschaftsordnung geschaffen. Die im Zusammenhang mit der Geldreform verkündeten ‚Wirtschaftspolitischen Leitsätze‘ legten den Kurs der Verwaltung für Wirtschaft auf die Linie eines schrittweisen Abbaus der Bewirtschaftung und des Preisstops und eines, auf die sozialen Erfordernisse abgestimmten, allmählichen 105 Pfleiderer, Otto: Währungsumstellung, S. 1644-1646. 106 Wirtschafts- und Finanzzeitung entsprechende Angaben. 107 Ebd., 27.12.1948. 108 Ebd., 31.12.1948.

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Wiederaufbaus der freien Marktwirtschaft fest. Es ist psychologisch verständlich, daß sich das deutsche Volk zur Jahreswende besorgt die Frage vorlegt und überzeugend beantwortet wissen möchte, ob die Währungsreform und der wirtschaftspolitische Kurswechsel gelungen und der Boden für eine gesunde Wirtschaftsentwicklung im kommenden Jahr bereitet ist. Der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft (VfW), Prof. Dr. Erhard, hat vor kurzem in seiner großangelegten Rede vor dem Uebersee-Club in Hamburg am 18. Dezember mit Recht darauf abgehoben, daß sich die westdeutsche Wirtschaft noch mitten in dem schwierigen und langwierigen Umstellungsprozeß auf das ihr mit der Geldreform zur Verfügung gestellte Geldvolumen und auf eine freie Marktpreisbildung befindet, daß aber die größten Schwierigkeiten als überwunden angesehen werden können. Bei einer kritischen Beurteilung der eingetretenen Preissteigerungen muß man sich der Tatsache bewußt bleiben, daß das Niveau der Stoppreise aus dem Jahre 1936 in sich völlig verzerrt und gegenüber den Kosten und den heutigen Weltmarktpreisen aussichtslos verfälscht war, so daß es keine volkswirtschaftlich richtige Vergleichsgrundlage bieten kann. Die Erhöhung des Preisniveaus ist daher zu einem erheblichen Teil als eine unerläßliche Korrektur anzusehen, zu der man sich aus heute vielleicht nicht mehr ganz stichhaltig erscheinenden sozialpolitischen Rücksichten vor der Währungsreform nicht entschlossen hatte. Indessen ist das Ausmaß dieser unvermeidlichen Preissteigerungen durch zwei Faktoren in wirtschaftspolitisch und sozial bedenklicher Weise überdehnt worden. Die Wirksamkeit der scharfen Verringerung des Geldvolumens durch die Währungsreform auf das allgemeine Preisniveau ist durch die derzeit überaus hohe Umlaufsgeschwindigkeit zu einem erheblichen Teil aufgehoben worden. Die bisher nicht gelungene Ueberwindung des Tiefstands der Steuermoral wirkt in der gleichen Richtung einer tendenziellen Uebersteigerung der Umlaufsgeschwindigkeit, da die steuerlich ‚heißen‘ Gelder um jeden Preis zur Anlage in Sachwerten drängen. Beide Sachverhalte zusammen bewirken den Tatbestand einer partiellen Geldfülle, die den Ausgangspunkt für die Preisübersteigerungen bildet. Da sowohl für die Veränderungen der Umlaufsgeschwindigkeit wie auch für die Entwicklung der Steuermoral insbesondere psychologische Gründe ausschlaggebend sind, werden währungspolitische und steuergesetzliche Maßnahmen nicht unmittelbar, sondern nur auf längere Sicht einen nachhaltigen Erfolg haben können“.109 Eine erfolgreiche Bilanz zog auch Dr. Victor Wrede in dem Beitrag „Das Jahr der deutschen Mark. Klare Erfolgsbilanz der westdeutschen Geldreform“ in der „Wirtschafts-Zeitung“ vom 18. Juni 1949. Nach Aussicht der Redaktion erscheint Wrede in doppelter Weise berufen auf das erste Jahr nach der Geldneuordnung zurückzublicken. Er war Mitglied der Sonderstelle „Geld und Kredit“ in Bad Homburg sowie Teilnehmer der sogenannten Konklave der Währungssachverständigen in Rothwesten bei Kassel und wurde anschließend zum Mitglied des Direktoriums der Bank deutscher Länder bestellt. Wrede wies darauf hin, daß der 109 Wirtschafts- und Finanzwirtschaft 31.12.1948.

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Marshall-Plan am Gelingen der Währungsreform einen hervorragenden Anteil hatte: „Die D-Mark gilt heute als gutes Geld. Gewiß ist dies nicht ein Ergebnis der Geldreform allein. Der hervorragende Anteil vor allem, den die devisenmäßig kreditierten Einfuhren an der Erholung haben, kann nicht genug unterstrichen werden. Verhängnisvoll wäre die selbstzufriedene Vorstellung, wir hätten alles ‚aus eigenem geschafft‘. Wenn in Westdeutschland die Ernährungslage in den Städten, dieser Eckpfeiler der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit heute mit der vor einem Jahr kaum noch irgendwie verglichen werden kann, so sind Umfang und Zusammensetzung der kreditierten Nahrungsmitteleinfuhren hierfür schlechthin ausschlaggebend. Erst die Auslandshilfe schuf auch die Voraussetzungen für die Erfolge der Verbindung zwischen Geldneuordnung und Rückkehr zur Marktwirtschaft. Zusammen mit dem Strom der Einfuhren scheint sich indessen die westdeutsche Geldreform im gesamtwirtschaftlichen Ergebnis als eine der erfolgreichsten Währungsoperationen herausgestellt zu haben, die die Wirtschaftsgeschichte kennt. Hin und wieder wird dies allerdings auch bestritten. Es wird geltend gemacht, die gegenwärtige Stockung habe, ebenso wie die übersteigerte Hausse der letzten Monate von 1948, ihre Wurzel in der Art der Geldreform. Damit wäre diese doch wieder nicht nur von wirtschaftsgeschichtlichem Belang“. 2.3. Die Bedeutung der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau (1948-1953) Die Nahrungsmittelsituation nach Ende des Krieges im Mai 1945 „stellte ein unendlich schwieriges Problem dar“.110 Januar 1948: „Umwandlung des Verrechnungskontos der amerikanischen Armee ‚Regierung und Hilfsmaßnahmen in besetzten Gebieten (GARIOA)‘ in eine aktive Verwaltung: Lebensmittel-Importe nach Westdeutschland, bezahlt vom amerikanischen Steuerzahler, beginnen anzusteigen: Tägliche Lebensmittelrationen für den Normalverbraucher erreichen bald und überschreiten dann 1500 Kalorien und erhöhen somit die Produktionskapazität des deutschen Arbeiters“.111

110 Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 1943-1948, München 1981, S. 104. 111 Jentsch, Gerhart: ERP. Der Marshallplan und Deutschlands Platz darin, Frankfurt/Main 1950, S. 74. Loomis, John P.: Die Überwindung der Ernährungskrise in Deutschland und Japan. Amerika-Dienst, Nürnberg 1948, S. 16. Gimbel, John: The Origins of the Marshall-Plan, Stanford, Cal. 1976.

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ERP-Einfuhren der Bizone ERP-Einfuhren der Bizone 1949: Abnahme der1949: Lebensmitteleinfuhren Abnahme der Lebensmitteleinfuren – Zunahme der Einfuhr von Wirtschaftsgütern Zunahme der Einfuhr von Wirtschaftsgütern [in Prozent] (in Prozent)

100 90 80

Wirtschaftsgüter

70

Lebensmittel

60 50 40 30 20 10

Januar Februar März April Mai Juni 12,578 30,629 52,829 44,432 22,432 37,24 Investitionen aus ERP und GARIOA-Mitteln (einschl. Zuschüssen) [in Mio. US-Dollar]1)

[in Mio. DM] Investitionen aus ERP und GARIOA-Mitteln (Einschl. Zuschüssen) in Mio. DM

900 800 700 600

Elektrizitäts-, Gas u. Wasserwirtschaft Schifffahrt, Bahn u. Post

Kohlenbergbau

Landwirtschaft

500

Wohnungsbau

WestBerlin

400 300 200

Eisenu. Stahl

100 0 Stand am 28.2.1953

Stand am 31.12.1957 1)IFO-Institut für

Wirtschaftsforschung: Fünf Jahre Deutsche Mark. Der Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft seit der Währungsreform, München 1954, S. 22.

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Wiederaufbau im Zeichen fehlender Kapitalmarktmittel. „Zu einer Investitionsfinanzierung besonderer Art verhalf die Auslandshilfe. Da diese Einfuhr keine unmittelbaren Devisenverpflichtungen mit sich brachte, waren die von den Importeuren zu zahlenden DM-Beträge zur Gutschrift auf Sonderkonten des Bundes verfügbar. Über die Bedeutung dieser Beträge, die hauptsächlich für Investitionen der Grundstoffindustrien verwendet wurden, unterrichtet das Schaubild. Obwohl die kommerzielle Auslandshilfe praktisch eingestellt worden ist, werden aus dem noch vorhandenen Bestand an Gegenwertmitteln in diesem Jahr Investitionen finanzierbar sein, die den Vorjahresumfang kaum unterschreiten dürften“.112 Deutschlands Rückkehr zu den Weltmächten. Die Daten „Westdeutscher Export in Plan und Wirklichkeit“ „stellen dar, was man damals in Deutschland Außenhandel nennen mußte, und sie können höchstens ein Schlaglicht von unserer beinahe hoffnungslosen Lage vermitteln. Aber sie lassen auch die Wende, die im folgenden Jahr 1948 mit dem Beginn des Marshall-Plans eintrat, in einem besonders grellen Licht erscheinen.

Westdeutscher Export in Plan und Wirklichkeit Westdeutscher Export 1) in Plan und Wirklichkeit [in Mio. US-Dollar] (in Mio. US-Dollar)113

360 320

Tatsächliche Exporte

280 240

200 160

Exportprogramm der OEEC von 1948

120 80 40 0

1. 2. 3. 4.

Halbjahr 1948

1. 2. 3. 4.

1. 2. 3. 4.

1. 2. 3. 4.

1. 2. 3. 4.

Halbjahr 1949

Halbjahr 1950

Halbjahr 1951

Halbjahr 1952

Fünf Jahre Deutsche Mark. Der Wiederaufbau „Vier IFO-Institut Etappen für imWirtschaftsforschung: Aufbau des westdeutschen Außenhandels, der mit der Sader westdeutschen Wirtschaft seit der Währungsreform, München 1954, S. 24. nierung des Handels der anderen europäischen Länder aufs engste verknüpft ist, lassen sich unterscheiden: 1)

112 IFO-Institut für Wirtschaftsforschung: Fünf Jahre Deutsche Mark. Der Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft seit der Währungsreform, München 1954, S. 22. 113 Ebd., S. 24.

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1. Die Einbeziehung in den Marshall-Plan und die Währungsreform im Jahre 1948. 2. Die Auflösung der JEIA, die Handelsabkommen der Bundesrepublik, sowie der Beginn der Liberalisierungspolitik im Jahre 1949. 3. Die Gründung der Europäischen Zahlungsunion und der Ausbruch des KoreaKonfliktes im Jahre 1950. 4. Das Abklingen der Korea-Konjunktur in den Jahren 1951/52. Den stärksten Einschlag in der Nachkriegsentwicklung Westdeutschlands hat das Jahr 1948 gebracht. Man wird die Wirkung des damals begonnenen MarshallPlans so leicht nicht überschätzen können. Das muß betont werden, da diese Bedeutung, die wir hier meinen, gar nicht mit Zahlen gemessen werden kann. Das, was wir wirtschaftliches Verhalten zu nennen pflegen, spielt sich ausschließlich in einer gewissen Bandbreite ab, die nicht zu nahe an die physische Not einerseits und an den Überfluß andererseits grenzen darf. Erst wenn das physische Bedürfnis nicht mehr nach unmittelbarer Befriedigung drängt, ist die Masse der Verbraucherschaft imstande, sich im üblichen Sinne ökonomisch zu verhalten, sich nach Preisen zu richten, zu sparen und für die Zukunft zu sorgen. Die Lieferungen des Marshall-Plans haben die Not, die bis dahin so gut wie allgemein in Deutschland war, in ihrer ärgsten Form beseitigt und der oben gekennzeichneten wirtschaftlichen Basis die erforderliche Breite gegeben. Auf dem Zufluß von Nahrungsmitteln und Rohstoffen war eine Gesundung der Währung, eine Lockerung der staatlichen Bewirtschaftung, eine freiere Preisgestaltung überhaupt erst möglich. Vor allem aber war der Marshall-Plan der Ausdruck dafür, daß die Alliierten eine Aufwärtsentwicklung Deutschlands, eine bessere Versorgung mit Nahrungsmitteln und auch mit Rohstoffen überhaupt wieder zulassen wollten“.114 2.4. Die Entwicklung der westdeutschen Industrie nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 Der Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft.115 „Die meisten stark zerstörten deutschen Städte waren ohne Gas, Wasser und Elektrizität. Darüber hinaus hatte der Krieg das deutsche Transportsystem verwüstet. Eisenbahnbrücken, Verschiebebahnhöfe, Eisenbahnstationen und -tunnel waren vorrangige Ziele für alliierte Bomber gewesen und in den letzten Monaten des Krieges war die ‚verbrannte Erde‘-Taktik des Nazioberkommandos darauf ausgerichtet gewesen, alles das zu zerstören, was die Bomber intakt gelassen hatten. Außerdem waren die norddeutschen Häfen angefüllt mit gesunkenen Schiffen und der Rhein war für die Schiffahrt wegen zerstörter Schleusen und Brücken blockiert. Diese und andere greifbare und gegenständliche Probleme, wie die Repatriierung von Millionen verschleppter Personen und die Neuansiedlung einer gleich großen Zahl von 114 Ebd., S. 24. 115 Backer, John H.: Priming the German Economy: American Occupational Policies 1945-1948, Durham, N. C. 1971, S. 100 ff.

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Flüchtlingen aus dem Osten, konnten noch als im Verantwortungsbereich eines Ingenieurs der Armee liegend angesehen werden. Die Organisation umfangreicher Nahrungsmittelimporte dagegen, wie auch die Eindämmung der Inflation, die Wiederbelebung einer ausgelöschten Exportindustrie und der Wiederaufbau einer deutschen Verwaltung und Regierung überstiegen offensichtlich die herkömmlichen Erfahrungen eines Militärs. Bis Juli 1945 war es der Militärregierung gelungen, drei Viertel der Eisenbahnstrecken in der amerikanischen Zone funktionsfähig zu machen, obgleich die Einrichtungen durch eingleisige Brücken limitiert waren und in erster Linie für den Militärverkehr sowie für die Rückkehr von Millionen verschleppter Personen in ihre Heimat genutzt werden mußten. Ein Jahr später wurde der Rhein für die Schiffahrt in ganzer Länge geöffnet, und bei der Reparatur der Häfen waren beträchtliche Fortschritte erzielt worden. In ähnlicher Weise wurde das Wiederaufleben des deutschen öffentlich betriebenen Kommunikationssystems durch die Arbeit einer kleinen Gruppe amerikanischer Experten vorangetrieben, mit dem Ergebnis, daß drei Monate nach Kriegsende Postämter in der amerikanischen und britischen Zone normal funktionierten. Die Nahrungsmittelsituation jedoch stellte ein unendlich schwieriges Problem dar. Frühe Überblicke über verfügbare Nahrungsmittelbestande hatten deutlich werden lassen, daß nur 950 Kalorien pro Tag an den durchschnittlichen NichtSelbstversorger verteilt werden konnten. Da diese Ration auch vorrangige Kategorien umfaßte, wie z. B. Schwerarbeiter, die zu größeren Rationen berechtigt waren, waren nur 720 Kalorien für den sogenannten ‚normalen Konsumenten‘ verfügbar. Dies war weniger als die Hälfte des Minimums, das die Gesundheitsberater der Militärregierung als ausreichend für die Aufrechterhaltung einer arbeitenden Bevölkerung ansahen.116 Die Experten wußten von Deutschlands Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten, aber sie hatten die große Erschöpfung der Nationalökonomie nach fünf Kriegsjahren nicht vorhergesehen, noch konnten sie die Notlagen vorhersehen, die durch die Abtrennung der östlichen Provinzen und den Strom von 7 Millionen Flüchtlingen aus dem Osten entstanden. Während der Jahre 1933-1937 produzierte das Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie, obwohl es nur 14 Prozent der Bevölkerung umfaßte, tatsächlich 25 Prozent der deutschen Nahrungsmittelproduktion. Annähernd eine Million Tonnen Brotgetreide, etwas weniger als eine Million Tonnen Kartoffeln und 400.000 Tonnen Zucker kamen jährlich aus den Regionen, die am Kriegsende zur sowjetischen Besatzungszone wurden, und aus dem durch Polen annektierten Gebiet östlich der Oder und Neiße. Zusätzliche jährliche ausländische Importe in die amerikanische und britische Zone erbrachten durchschnittlich 700.000 Tonnen Brotgetreide, 1,2 Millionen Tonnen Futtergetreide, 1,5 Millionen Tonnen Raps und große Mengen an 116 Schmitz, Hubert: Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950. Dargestellt an Beispielen der Stadt Essen, Essen 1956. Gries, Rainer: Die RationenGesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität – Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991.

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Nahrungsmitteln ; wie Früchte, Gemüse, Reis, Schokolade und Kaffee. Mit anderen Worten, der Verlust der ‚Brotkorb‘-Provinzen, zusammen mit dem Anwachsen der westdeutschen Bevölkerung um mehr als 20 Prozent, verursachten eine Nahrungsmittelkrise von solcher Größenordnung, daß die westlichen Alliierten unter äußerstem Druck standen, damit fertig zu werden. Es ist bezeichnend für die realistische amerikanische Einschätzung der negativen Entscheidungen aus den oberen Washingtoner Etagen, daß SHAEF für den Eventualfall vorbereitet war, die deutsche Bevölkerung zu ernähren, und 600.000 Tonnen Getreide herangeschafft hatte, um ‚Krankheiten und Unruhe zu verhindern‘. Während die SHAEF Getreidereserve zweifelsohne von entscheidender Bedeutung dafür war, der deutschen Bevölkerung über das erste Besatzungsjahr hinwegzuhelfen, war das tatsächlich aufrechterhaltene Rationsniveau ein unentbehrliches Minimum, das nur wegen der Notlage, und weil die meisten deutschen Haushalte noch einige versteckte Nahrungsmittelreserven hatten, akzeptabel war. Die entscheidende Frage für die Militärregierung war daher: wie gehen wir weiter vor? Probleme der Politik spielten keine Rolle, jedoch zwei Engpässe von kardinaler Bedeutung – eine Welternährungskrise und Fragen der Finanzierung – waren für die Tatsache verantwortlich, daß die deutsche Bevölkerung häufig weniger Nahrungsmittel erhielt, als sie während der ersten Jahre der Besatzung benötigte. Als deutlich wurde, daß wirtschaftliche Hilfe für die besetzten Gebiete in großem Umfang und für viele Jahre erforderlich werden würde, wurde ein spezielles Programm, ‚Government Aid and Relief in Occupied Areas‘ (GARIOA) entwickelt und ins Budget des Verteidigungsministeriums aufgenommen. Am Ende eines teuren Krieges war der Kongreß nicht in Spendierlaune, aber wie zuvor im Falle von lend-lease war die ‚Logik der Situation‘ zwingend. Für diejenigen im Kongreß, die einige Zweifel anmeldeten, hatte das Verteidigungsministerium eine Antwort bereit: ‚Wenn wir nichts zu essen geben, wird es Krankheiten und Unruhen geben; dann müssen wir mehr Truppen schicken – aber mehr Truppen haben wir nicht!‘ Und als ein noch nicht überzeugter Kongreßabgeordneter fragte, was geschähe, falls die erforderte Bereitstellung nicht erfolgte, antwortete der Staatssekretär des Kriegsministeriums, Howard Peterson, daß ‚zuerst die tägliche Nahrungsmittelration für die deutsche Bevölkerung auf 900 Kalorien reduziert werden müsse und daß zweitens unsere Truppen abzuziehen wären‘. Worauf der Fragesteller unzufrieden bemerkte: ‚Dann würde vielleicht jemand anders einmarschieren‘. Daraus ergab sich, daß der Kongreß genötigt war, die Mittel zur Verfügung zu stellen, um die deutsche Bevölkerung am Leben zu erhalten. Im Sommer 1946 war die amerikanische Bevölkerung jedoch nicht bereit, über diesen Punkt hinaus zu gehen. Als William Draper, Clays ökonomischer Berater, empfahl, einer vernünftigen Geschäftspraktik für Firmen in vorübergehender Notlage zu folgen – der Bereitstellung von Mitteln zur Aufrichtung der deutschen Exportindustrie – wurde der Vorschlag sofort zurückgewiesen. Wie spätere Entwicklungen zeigten, wäre bei einer Befolgung dieses Rats und einer frühzeitigen Währungsreform der Wiederaufschwung der deutschen

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Wirtschaft um ungefähr 24 Monate eher erfolgt; darüber hinaus wäre die deutsche Wirtschaft nach einem oder zwei Erholungsjahren in der Lage gewesen, die geforderten Reparationen aus laufender Produktion zu erarbeiten und damit das Problem zu beseitigen, welches schließlich zur Teilung des Landes führte. Die Erinnerung an Hitlers Verbrechen war noch sehr lebendig, und der amerikanische Kongreß war daher nicht in der Stimmung, weiter zu gehen, wobei die trügerische These, ‚der amerikanische Steuerzahler hat einmal gezahlt – er ist nicht willens es noch einmal zu tun‘, als komfortables Alibi diente. Als der Kongreß über die wahrscheinliche Dauer des unpopulären Ernährungsprogramms anfragte, antwortete General Eisenhower: ‚Dies wird davon abhängen, wann wir den Punkt erreichen, an dem wir das Land als eine wirtschaftliche Einheit und die lokale Regierung in Deutschland als eine verantwortliche behandeln können [...] und als gewappnet gegen Entwicklungen, die das Land unter Hitler nahm‘. Ein halbes Jahr später – angesichts der bizonalen Vereinigung – war das Kriegsministerium bestimmter und unterbreitete dem ungeduldigen und kritischen Kongreß eine Schätzung von allmählich ansteigenden Exporten mit einem kleinen Exportüberschuß Ende 1950. Diese Schätzung faßte einen grundlegenden Aspekt der Mission General Clays zusammen: die amerikanische Zone sollte sich baldmöglichst selbst erhalten, und die Verantwortlichkeiten sollten so schnell wie möglich einer demokratischen deutschen Regierung übergeben werden. Wegen des herrschenden politischen Klimas jedoch mußte dieser Plan auf eine kompromißlose Weise ausgeführt werden; außer Nahrungsmitteln sollte es keine Lieferungen vom Ausland geben und Deutschland hätte sich aus eigener Kraft zu entwickeln. Entsprechend wurden die deutschen Importe in zwei Gruppen eingeteilt: Kategorie A, oder Importe, die Nahrungsmittel, Düngemittel und Petroleum umfaßten und aus vom Kongreß genehmigten Fonds bezahlt wurden, sowie Kategorie B, oder industrielle Rohstoffe, die aus den Erlösen der deutschen Exporte zu bezahlen waren. Wenn man sich diese Begrenzungen angesichts des Zustandes der deutschen Wirtschaft betrachtet, so verwundert nicht, daß die Militärregierung mehr als zwei Jahre brauchte, um einen Exportwert von 200 Millionen DM zustande zu bringen, und daß der dramatische Zeitpunkt für den Aufschwung dank der ungebührlich verspäteten Währungsreform erst im Sommer 1948 erfolgte. Über die schnelle Beschleunigung der wirtschaftlichen Erho lung Deutschlands und die vorausgehenden Jahre der Stagnation ist viel geschrieben worden. Diesbezüglich ist es bedeutsam, daß zwei Aspekte einer spektakulären Transformation kaum ins Blickfeld kamen: einerseits der t äuschende Eindruck der zerbombten deutschen Städte, die zu nicht angebrachten pessimistischen Schlußfolgerungen über die Spannkraft der deutschen Wirtschaft führten, und andererseits die Rolle der negativen Produktionsanreize, die erst im Juni 1948 durch positive ersetzt wurden. Ein schockierter Walter Millis verglich bei seiner Ankunft in Berlin im Jahre 1945 das Erscheinungsbild der Stadt mit der Mondoberfläche, und ein anderer amerikanischer Besucher beschrieb Stadtviertel, die „aussahen wie

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unfertige Flughäfen [...] und endlose Reihen von leeren ausgebrannten Gebäudehüllen [...] die in den Himmel ragten, wie verbogene Finger einer leprosen Hand [...]“ Diese Beschreibungen waren alle richtig, doch erwähnten sie nicht, daß einige Komponenten einer entwickelten Industriewirtschaft unterhalb der Oberflächenerscheinungen intakt waren. Der „Strategic Bombing Survey“, durchgeführt von der US-Luftwaffe während der letzten Kriegstage, brachte die erstaunliche Tatsache zu Tage, daß die deutsche Industrie trotz dauernder Bombardierung in der Lage war, bis Dezember 1944 fast mit der ganzen Friedenskapazität zu operieren, und daß nur die Zerstörung des deutschen Transportsystems im Januar 1945 es zustande brachte, die Industrie Deutschlands lahm zu legen. Die Untersuchung offenbart auch, daß die deutsche Wirtschaft nicht unter Mangel an Werkzeugmaschinen, maschineller Ausrüstung oder sogar Industrieanlagen zu leiden hatte, mit Ausnahme einiger zeitlich begrenzter isolierter Fälle. Was die Auswirkungen der Bom bardierung auf die zivile Wirtschaft anbelangte, gab es keine Hinweise, daß Engpässe für zivile Konsumgüter jemals einen Punkt erreicht hätten, an dem deutsche Behörden gezwungen gewesen wären, Ressourcen von der Kriegsproduktion zu transferieren, um Zerfallserscheinungen an der Heimatfront zu verhindern. Die Luftwaffe mußte daraus den Schluß ziehen, daß die Belastungen für die Wirtschaft durch einen Luftkrieg den Prozeß der Expansion verlangsamen oder zeitweilig zum Halten bringen konnten, ohne in den lebenswichtigen Industrien einen tatsachlichen Rückgang der Produktion zu verursachen. Der Schlüssel zu einem drastischen Ansteigen der Produktivität lag in der Wiedereinführung positiver Anreize an Stelle der negativen, die Landwirte, Arbeiter und Unternehmer zur Seite gedrängt und zu entmutigten Beobachtern der Wirtschaftsbühne gemacht hatten. In Deutschland wurden die zersetzenden Folgen der Inflation sogleich beim Zusammenbruch des Dritten Reiches spürbar; außerdem beschleunigten die noch lebendigen traumatischen Erfahrungen der älteren deutschen Generation den Prozeß, obwohl die beiden Inflationen nicht völlig gleich waren. Im Jahre 1923 wurde die Deutsche Mark mit anderen Währungen auf internationalen und deutschen Märkten gehandelt, und obgleich der Dollar schließlich 4,2 Billionen Mark entsprach, war es jederzeit möglich, für die Mark einen internationalen Preis festzusetzen. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs im Jahre 1945 gab es dagegen keine Notierungen für die Reichsmark auf dem internationalen Markt, und jeder Handel von Reichsmark gegen ausländische Währungen war zum Erliegen gekommen. Der deutsche Markt zerfiel in zwei Teile: einer, auf dem gänzlich unzulängliche Mengen rationierter Güter zu offiziellen Preisen gegen Zahlung von Reichsmark verkauft wurden, und ein anderer, auf dem die meisten Produkte verfügbar waren, vorausgesetzt daß Güter entsprechender Knappheit zum Austausch angeboten werden konnten. In diesem zweiten Teil war die Reichsmark als Währung unbedeutend, obwohl sie häufig zur Wahrung des Scheins benutzt wurde, um den Tauschgeschäften den Anschein legaler Transaktionen zu geben.

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Nach dem Ersten Weltkrieg brauchte die deutsche Bevölkerung lange Zeit, um die Bedeutung einer galoppierenden Inflation voll zu erfassen, so daß die deutsche Mittelklasse effektiv ausgelöscht wurde. lm Gegensatz dazu wurden 1945 die früheren Erfahrungen beachtet, und Arbeiter wie Angestellte, Händler wie Fabrikanten wußten genau, wie es zu handeln galt, um die befürchteten Auswirkungen einer offensichtlich unvermeidbaren Währungsreform zu begrenzen. Die allgemeine Regel war, so wenig wie möglich gegen Zahlung der bedrohten Währung zu verkaufen und sich durch den Erwerb von Sachwerten zu schützen. Was die Landwirte anbelangte, so ging es für sie darum, den Regierungsbehörden zu offiziellen Preisen minimale Mengen zu liefern, während das übrige gegen benötigte Industriewaren eingetauscht wurde. 117 Für die Arbeiter und Angestellten bedeutete dies, nur soviel Stunden zu arbeiten, wie nötig waren, um genügend Einkommen zu erzielen, um rationierte Nahrungsmittel, Mieten, Licht, Telefon etc. mit ihren kontrollierten Preisen bezahlen zu können. Die übrige Zeit wurde benutzt, Nahrungsmittel auf dem schwarzen Markt zu beschaffen, wobei man darauf achtete, körperliche Anstrengungen zu vermeiden, da entsprechende Kalorienverluste nur schwer zu ersetzen waren. Was Händler und Fabrikanten anbelangte, so wurden so häufig wie möglich Tauschhandelsgeschäfte getätigt und ansonsten die Güter bis zu dem Tag gehortet, an dem eine neue Währung eingeführt werden sollte. Dies war der sozioökonomische Rahmen für die Bemühungen der Militärregierung, die deutsche Exportindustrie wieder aufzurichten und das Land von fremder Hilfe unabhängig zu machen. Es gibt wenige Aufgaben, für die eine Regierungsbehörde so ärmlich ausgestattet ist, wie für die Förderung des Außenhandels. Die notwendige Sorgfalt, Flexibilität, Erfindungsgabe und innovative Anstrengung, die in der Geschäftswelt so reichhaltig vorfindbar sind, findet man selten in bürokratischen Kreisen. Clay und seine führenden Berater waren sich dessen voll bewußt und hoben immer wieder hervor, daß der Job einer Wiederbelebung des deutschen Außenhandels so schnell wie möglich in die Hände der Geschäftswelt zurückgelegt werden sollte. Während der ersten Besetzungsjahre jedoch konnte eine solche Übergabe nicht erfolgen. Bis weit in das Jahr 1946 hinein gab es in Deutschland keinen regulären Postdienst mit anderen Ländern. Sicherheitserwägungen verhinderten vertragliche Beziehungen mit dem Ausland sogar bis ins Jahr 1947. Dasselbe galt natürlich für telefonisch abzuschließende Verträge. Als die Besatzungsarmee ihre Restriktionen für den Geschäftsverkehr erleichterte, gab es keine Auslandswährung für Auslandsreisen, und wenn ausländische Käufer versuchten, nach Deutschland zu kommen, machten fehlende Unterkunft und Verpflegung die Gewährung von Genehmigungen unmöglich. Rechtliche Beschränkungen, wie der „Trading with the Enemy Act“, vervollständigten diese Hindernisse. Verständlicherweise bestanden die vordringlichen Aufgaben der verantwortlichen Dienst117 Backer, John H.: Priming the German Economy – American Occupational Policies 1945-1948, Durham N.C. 1971, S. 98.

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stellen während der ersten 18 Monate Besatzungszeit darin, diese Hemmnisse zu beseitigen. Das Hauptproblem war die Abwesenheit einer Währung. Im Inland hatte die Reichsmark ihren Nutzen als Tauschmittel weitgehend verloren und auf den internationalen Geldmärkten wurde sie nicht mehr notiert. Es ist seltsam und vielleicht sogar ironisch, daß wegen dieser Umstände eine US Regierungsbehörde während der ersten Nachkriegsjahre gezwungen war, die Rolle eines Ministeriums für Außenhandel nach sowjetischem Vorbild zu übernehmen, mit vollständiger operationaler Verantwortlichkeit für alle Aspekte des Exports und Imports einschließlich der willkürlichen Festsetzung von Exportpreisen. In einer kommunistisch kontrollierten Wirtschaft haben Marktkräfte wenig oder gar keinen Einfluß auf die vorherrschenden Preisstrukturen, und die Festsetzung der Kostenfaktoren wird zum Gegenstand von Regierungsentscheidungen. Auf eine vergleichbare Weise mußte OMGUS vor der Währungsreform die Exportpreise einseitig festlegen; es gab keine feste Relation zwischen den kontrollierten inländischen Reichsmarkpreisen und denen, die in ausländischer Währung auf den Weltmärkten erreichbar waren. Wie erwähnt waren die deutschen Preise wegen der scharfen Kontrollen und angemessenen Angebote während des Krieges verhältnismäßig stabil geblieben; tatsächlich stieg der Index der Großhandelspreise in der langen Pe riode von 1936 bis 1944 um nur 13 Prozent und der Lebenshaltungskosten index stieg um 14 Prozent. Nach der deutschen Kapitulation bemühten sich die Alliierten, die existierenden Preisniveaus aufrechtzuerhalten. Da jedoch die beiden Hauptfaktoren für die Preisstabilität während der Kriegszeit, d. h. angemessene Angebote und drakonische Kontrollen, nicht länger existierten, begann ein allmähliches Auftauen der eingefrorenen Preise mit dem Ergebnis, daß die Preise für Konsumgüter während der Zeitperiode vom Mai 1945 bis zum Juli 1947 um 97 Prozent stiegen, während der Preisanstieg für industrielle Rohstoffe auf 22 Prozent beschränkt werden konnte. Die Isolation der deutschen Preise von Einflüssen der Weltmärkte über lange Jahre wurde nicht nur durch eine Preispolitik erreicht, sondern auch durch umfangreiche Regierungssubventionen und ein sehr komplexes System der Umtauschkurs-Kontrollen. OMGUS stand daher vor dem Problem, Verkaufspreise in fremder Währung für das Ausland festzusetzen und über die Hohe der Reichsmarkpreise zu entscheiden, die dem deutschen Exporteur vergütet wurden. Nach einem genauen Studium der früheren deutschen Exportpreisstrukturen zu einer Zeit, als die Ziele der Exportpolitik des Dritten Reiches nicht länger zutrafen, entschied OMGUS, daß alle zukünftigen Reichsmarkzahlungen an deutsche Exporteure den kontrollierten internen Preisen entsprechen sollten. Da mit anderen Worten die deutschen Exporteure in Reichsmark bezahlt wurden, war der tatsächliche Verkaufspreis im Ausland für sie belanglos. Der zweite Teil des Problems, nämlich die Festsetzung eines internationalen Verrechnungsmittels und die Bestimmung der Exportpreise in Aus-

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landswährungen, war wesentlich schwieriger zu lösen. Wie zu erwarten, wurden Tauschhandelsvorschläge gemacht, aber es gab Grunde, die gegen diesen Weg sprachen. Importe mußten anfänglich auf lebenswichtige Güter begrenzt bleiben, um die deutsche Bevölkerung am Leben zu erhalten, und die meisten Güter, die im Austausch für deutsche Industrieprodukte angeboten wurden, standen weit unten auf der Prioritätenliste. Außerdem sprach die ökonomische Tradition der USA gegen jede Form bilateralen Tauschhandels. Die schließlich gewählte Methode, nur in konvertierbaren Dollar zu verkaufen, war eine Notlösung; und sie wurde heftig und immer wieder von europäischen Regierungen bemängelt, bis die Währungsreform vom Sommer 1948 das Problem löste. Die äußerst komplexe und schwierige Aufgabe, die Dollarexportpreise durch Regierungsbefehl zu bestimmen, wurde vom Autor bereits in größerer Detailliertheit behandelt. Zwei zusätzliche Schwierigkeiten behinderten eine frühe Wiederbelebung der deutschen Exporte: deutsche Industrielle waren an Verkäufen nicht interessiert und europäische Käufer nur widerwillig dazu bereit, deutsche Produkte zu erwerben. Erstere blieben angesichts der erwarteten Währungsreform in Sachwerten und lehnten zusätzliche Reichsmarkguthaben ab. Als Clay die ökonomische und politische Arena in seinem Verantwortungsgebiet Ende 1946 übersah, kam er zu dem Schluß, daß die Armee die wesentlichsten Aufgaben ihrer Mission erfüllt hatte. Das deutsche Transport-und Kommunikationssystem war wiederhergestellt; Millionen verschleppter Personen waren in ihre Heimat zurückgekehrt; ein System zusätzlicher Nahrungsmittellieferungen durch Importe war organisiert worden; in den einzelnen Ländern übernahmen demokratisch gewählte Regierungen die Kontrolle; und die Verantwortung für die Entnazifizierung war an deutsche Behörden übergeben worden. Die Handelsbilanz von 1946 für die amerikanische Zone war dagegen mit 28 Millionen Dollar an Exporten gegenüber Importen von fast 300 Millionen Dollar in Form von Nahrungsmitteln, Düngemitteln und Saatgut weit weniger beeindruckend. Dennoch waren viele Vorarbeiten geleistet worden, und mit der bizonalen Vereinigung in Vorbereitung schien der Kurs zu einer völligen Wiederherstellung geöffnet. Die restlichen Probleme, wie die Währungsreform, die Errichtung zentraler deutscher Verwaltungen und die wirtschaftliche Vereinigung Deutschlands waren auf Regierungsebene zu verhandeln – in erster Linie eine diplomatische Aufgabe. Nach Clays Auffassung war die Zeit für die Übernahme durch das Außenministerium gekommen, aber trotz seiner dringenden Bitte wurde dieser Vorschlag nicht akzeptiert. Für weitere drei Jahre blieb die Armee maßgebend“. 118

118 Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands. Amerikas Deutschlandpolitik 1943-1948, München 1981, S. 103-112.

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2.5. Löhne, Preise und Lebenshaltung: Die Reallöhne waren Mitte 1955 in West-Berlin 40 % höher als in Ost-Berlin Vorbemerkungen: Der Landesbezirk Berlin des Deutschen Gewerkschaftsbundes gab im Oktober 1955 eine Studie heraus unter dem Titel „Denkschrift zur sozialen Situation in Ost- und Westberlin. Löhne. Preise. Lebenshaltung einer gespaltenen Stadt“ (33 Seiten). Verantwortlich für die wissenschaftliche Bearbeitung und Redaktion war Rudolf Henschel, Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Tarifpolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Landesbezirk Berlin.119 In den Westzonen und in West-Berlin120 war die Zwangsbewirtschaftung von Nahrungsmitteln und Verbrauchsgütern mit der Währungsreform am 21. Juni 1948 weitgehend liquidiert worden, in der SBZ/DDR wurde die Zwangsbewirtschaftung nach dem Binnengeldaustausch (21./24. Juli 1948) bis 1958 beibehalten. In der staatlichen Handelsorganisation (HO), die am 3. November 1948 gegründet worden war, wurden Verbrauchsgüter zu stark überhöhten Preisen verkäuflich.

119 Deutscher Gewerkschaftsbund. Denkschrift zur sozialen Situation in Ost- und Westberlin. Löhne. Preise. Lebenshaltung einer gespaltenen Stadt, Berlin Oktober 1955. Der Bericht wird hier wörtlich und gekürzt wieder gegeben. 120 Breunig, Werner: Berlin Blockade, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 330: Ab dem 25. Juni 1948 galt in den Westsektoren die Deutsche Mark als gesetzliches Zahlungsmittel, allerdings waren die Banknoten hier mit dem Aufdruck „B“ versehen. Daneben war die Ostmark zugelassen. Erst am 20. März 1949 wurde die Westmark alleiniges Zahlungsmittel in den westlichen Sektoren“.

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Deutscher Gewerkschaftsbund Denkschrift zur sozialen Situation in Ost- und Westberlin

Ausgangspunkt und Ziel: Die Aufgabe der Gewerkschaften, den Arbeitern und Angestellten innerhalb eines freien und sozial gesunden Volkes den höchstmöglichen Lebensstandard zu sichern, kann nur erfüllt werden, wenn vorurteilsfrei alle Wege zu diesem Ziel erkundet werden. Nicht Propaganda und Zweckoptimismus, sondern nur der unbegrenzte Wille zur objektiven Beurteilung der sozialen Verhältnisse kann auf Dauer echten Fortschritt ermöglichen. An keinem Platz der Welt aber lassen sich zur Zeit die sozialen Auswirkungen politischer Entscheidungen innerhalb der beiden Grundformen menschlicher Gesellschaftsordnungen so deutlich erkennen wie in Berlin. Bis zum Jahre 1948 war die soziale Situation der Arbeitnehmer in allen Bereichen des heutigen Ost- und Westberlins gleich. Gleiche Löhne, gleiche Preise, gleiche Verbrauchsgewohnheiten und gleicher Lebensstandard; gleiche Zerstö-

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rungen während des Krieges, gleiche Demontagen nach dem Krieg, gleiches Elend bis 1948. Als im Jahre 1948 die Sowjets versuchten, ganz Berlin unter ihre Vorherrschaft zu bringen121, mußte sich die Westberliner Bevölkerung, mußten sich die Arbeitnehmer Westberlins entscheiden: -

Entweder wirtschaftliche Sicherheit im Rahmen des sowjetisch beherrschten Wirtschaftsraums um den Preis politischer Unfreiheit und Unmündigkeit;

-

oder politische Freiheit und Selbständigkeit um den Preis wirtschaftlicher Unsicherheit infolge ständiger Bedrohung der Verkehrsverbindung von und nach der Bundesrepublik.

Die Westberliner Arbeitnehmer zogen die politische Freiheit vor trotz des Verlustes ihres natürlichen Hinterlands und der natürlichen Absatz- und Bezugsgebiete, trotz der wirtschaftlichen Schikanen durch die Verwaltung der SBZ und trotz der notwendigen Umstrukturierung ihrer Wirtschaft im Anschluß an die westdeutsche Wirtschaftsstruktur. Was konnten die unabhängigen Westberliner Gewerkschaften auf der Grundlage dieser politischen Freiheit im Rahmen der Westberliner Wirtschaftsentwicklung erreichen? Welche Unterschiede der sozialen Entwicklung traten im Laufe dieser Jahre in West- und Ostberlin zutage? Die sozialen Ergebnisse der vor sieben Jahren getroffenen Entscheidung objektiv zu prüfen, das war der Ausgangspunkt dieser Untersuchung, deren Ergebnisse der Landesbezirk Berlin des Deutschen Gewerkschaftsbundes hiermit der Öffentlichkeit vorlegt. Die künftigen Aufgaben und den weiteren Weg unabhängiger Gewerkschaften on einer freien Gesellschaft mit aufzeigen zu helfen, aber auch zugleich das Maß unserer Verpflichtungen gegenüber unseren Brüdern und Schwestern in Ostberlin und Mitteldeutschland sichtbar zu machen, das war das Ziel dieser Arbeit. Die Untersuchung konzentrierte sich daher auf die wesentlichsten und für die sozialen Unterschiede in Ost- und Westberlin charakteristischsten Merkmale: Auf das Niveau der Löhne und Arbeitsverdienste, auf das Niveau der Preise und Lebenshaltungskosten und auf das durch beide Faktoren bedingte Niveau der Lebenshaltung. Das Ergebnis: Für Mitte 1955 konnte festgestellt werden: Die Arbeitsverdienste sind – trotz gewaltiger Unterschiede im einzelnen – in ihrer Gesamthöhe in beiden Teilen Berlins gleich. Höhere Tarifgrundlöhne in Westberlin, aber demgegenüber höhere übertarifliche Leistungszahlungen, verstärkte Akkordarbeit und längere Arbeitszeit in Ostberlin gleichen sich in der Einkommenshöhe im Durchschnitt aller Arbeiter zur Zeit noch aus. Das Preisniveau ist jedoch – insbesondere für die über den Grundbedarf hinausgehenden Aufwendungen – in Ostberlin wesentlich höher als in Westberlin. 121 Ebd., S. 330: „Vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 waren alle Land- und Wasserwege zwischen den Westsektoren und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands gesperrt. Ausgelöst wurde die von der sowjetischen Besatzungsmacht verhängte Blockade durch die Währungsreform in den Westzonen am 21. Juni 1948.“

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Daher kann sich eine Ostberliner Arbeiterfamilie nur ungefähr 33 Prozent des Westberliner „Wahlbedarfs“ oder 71 Prozent des gesamten Westberliner Lebensbedarfs leisten. Die Westberliner Gewerkschaften konnten in den sieben Jahren im Rahmen der von ihnen selbst mitbeeinflußten Wirtschaftsentwicklung eine Reallohnsteigerung durchsetzen, die, von einem gleichen Niveau ausgehend, heute 40 Prozent höher liegt als in Ostberlin. Wir können feststellen, daß die Aufgabenstellung der Westberliner Gewerkschafter, die im Jahre 1948 die unabhängige Gewerkschafts-Organisation gründeten, richtig und ihr Kampf erfolgreich war. Die Ergebnisse lassen eindeutig erkennen, daß nicht der formale Eigentumstitel des in der Diktatur entmündigten Volkes an den Fabriken, sondern nur die Leistungsfähigkeit der Industrie und der durch die unabhängigen Gewerkschaften gesicherte Anteil der Arbeitnehmer an den Produkten der Wirtschaft für den sozialen Standard des Arbeitnehmers entscheidend sind. Kein Sklavenhalter hat seine Arbeitssklaven je verhungern lassen, er gab ihnen aber auch niemals mehr als den notwendigen Bedarf, es sei denn, sie sollten ihre Herren öffentlich repräsentieren. Auch in diesem Punkt – obwohl noch weit unter dem Lebensstandard Westberlins – profitieren die Ostberliner Arbeitnehmer von dem Freiheitskampf ihrer Westberliner Kollegen. Ohne diesen Kampf wäre der Lebensstandard in Ostberlin ebenso niedrig wie in der sowjetischen Besatzungszone und wäre Berlin ebenfalls, wie Warschau, Prag oder Budapest, den Blicken der Weltöffentlichkeit entzogen. Lebt auch kein Westberliner Gewerkschafter in dem Glauben, daß er sich in der besten aller möglichen Sozialverfassungen befindet, so ist diese Verfassung, die das Wirken freier Gewerkschaften einschließt, trotz aller noch abzustellenden Mängel, doch um vieles erfolgreicher als jede Staatsdiktatur. Ohne politische Freiheit und ohne das freie Wirken unabhängiger Gewerkschaften – das zeigt sich auch am Zurückbleiben einzelner Gewerbegruppen, die sich bisher gewerkschaftlich nicht oder nicht ausreichende organisiert haben – wird die Arbeiterschaft das Existenzminimum eines Arbeitssklaven nie durchbrechen. Die Frucht der Freiheit ist auch auf dem sozialen Sektor nicht nur größer, sondern auch wohlschmeckender und bekömmlicher als die in der Diktatur. Der politische Freiheitskampf der Berliner Gewerkschafter, die Mitarbeit am wirtschaftlichen Aufbau Westberlins, hat sich für die Westberliner Arbeitnehmer gelohnt, wenn auch noch keineswegs alle Früchte, die an diesem Baum wachsen, abgeerntet sind.

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2.5.1. Lohn- und Arbeitsverdienste in West- und Ostberlin Bis zum Jahre 1948 waren Tarif- und Arbeitsverdienste in Groß-Berlin einheitlich. Erst mit der Blockade (24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949) setzte eine unterschiedlich Entwicklung in beiden Teilen Berlins ein. Während die Westberliner Arbeitnehmer von Mitte 1948 an bis zum Abschluß der ersten Phase des wirtschaftlichen Aufbaues Ende 1951 eine lohnpolitische Enthaltsamkeit übten, die fast einen Lohnstopp gleich kam, wurden die Lohntarife Ostberlins durch staatliche Tarifordnungen ersetzt und bei völliger Umgestaltung ihrer inneren Struktur anfänglich stärker erhöht. Diese Umgestaltung der Ostberliner Tarife, die sich parallel zur Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone vollzog, hatte weitgehend das sowjetische Lohngefüge zum Vorbild, konnte sich aber auch zugleich auf analoge Vorarbeiten der Naziepoche stützen. Einheitlich wurden die Lohntarife in acht Lohngruppen unterteilt. Die Eingruppierung erfolgte nach der Wertbestimmung der jeweiligen Tätigkeit, prozentuale Abschläge für Frauen und Jugendliche fielen zwar fort, wurden aber praktisch durch eine entsprechende Herabgruppierung in Verbindung mit der Vermehrung der Lohngruppenzahl ausgeglichen. Demgegenüber wurde in Westberlin an den bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten Lohnschemen, die in den folgenden Jahren ergänzt und in Angleichung der Frauenlöhne verbessert wurden, weiterhin festgehalten. Die Westberliner Tarifstruktur variiert somit von Branche zu Branche. Die meisten Lohntarife gehen noch auf die klassische Dreier-Gruppe für Hilfsarbeiter, Angelernte und Facharbeiter, unter Berücksichtigung gewisser Abschläge für Jugendliche, zurück. Diese Einteilung wurde jedoch weitgehend ergänzt durch Fixierung gewisser Lohnsätze für bestimmte, genau umrissene Tätigkeiten, wodurch die alte Struktur zum Teil, wie im Bekleidungsgewerbe, völlig aufgelöst wurde. In der Metallindustrie stimmt die Tarifstruktur mit dem Ostberliner Tarifschema weitgehend überein, da beide Tarife aus einem gemeinsamen, schon während der Kriegsjahre angewandten Lohnkatalog (LKEM) abgeleitet wurden. Infolge dieser strukturellen Verschiedenheit der einzelnen Tarife sind die jeweiligen Tarifgruppen im allgemeinen miteinander unvergleichbar. Es besteht jedoch eine Ausnahme: In allen Lohntarifen Ost- und Westberlins lassen sich die Mindesttarife für den ausgelernten volljährigen Facharbeiter fixieren. Auf dieser Basis ist ein Vergleich zwischen allen Tarifverträgen, unabhängig von ihrer sonstigen Struktur, möglich. Soweit man unterstellen kann, daß diese für die Mindestlöhne der Facharbeiter ermittelte Relation auch für den gesamten Tarif typisch ist, läßt sich in groben Umrissen trotz struktureller Unterschiede ein Überblick über die inzwischen eingetretenen tarifpolitischen Veränderungen in Ost- und Westberlin gewinnen. Das Tarifniveau: Bis 1948, also bis zur Spaltung Berlins, lagen die tariflichen Mindestlöhne der Facharbeiter (Ecklohn) ebenso wie die effektiven Durchschnittsverdienste in Berlin rund 20 Prozent über dem ehemaligen Reichsdurch-

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schnitt. Der für 1955 auf gleicher Basis ermittelte Vergleich zeigt demgegenüber ein völlig andersgeartetes Bild. Das Tarifniveau Westberlins liegt jetzt um 29 Prozent über dem der Sowjetzone und um 17 Prozent über dem Ostberlins, dagegen um 4 Prozent unter dem der Bundesrepublik – während die Berliner Tarife vor der Währungsreform noch um 20 Prozent darüber lagen. Das Tarifniveau Ostberlins dagegen liegt jetzt nur noch um 10 Prozent über dem der Sowjetzone, aber um 18 Prozent unter dem der Bundesrepublik. Das Tarifniveau der Bundesrepublik – vor dem Kriege (1939-1945) im Durchschnitt aller Landesteile ziemlich auf gleicher Höhe mit dem Mitteldeutschlands – liegt jetzt um 35 Prozent über dem durchschnittlichen Tarifniveau der SBZ. Die Ursache für diese Verschiebung: In diesen sieben bzw. siebzehn Jahren – von 1938 bis 1948 haben praktisch keine Tariferhöhungen stattgefunden – erhöhten sich die Lohntarife in Westberlin um 71 Prozent, die Lohntarife in Ostberlin aber nur knapp um 46 Prozent; während die Lohntarife in der Bundesrepublik um etwa 114 Prozent und die Lohntarife in der Sowjetzone nur um rund 59 Prozent anstiegen. Das Tarifniveau der einzelnen Wirtschaftszweige weicht allerdings von diesem Durchschnittsvergleich ab. In Ostberlin bleiben die bereits während der staatlich gelenkten Rüstungskonjunktur der Nazizeit lohnpolitisch zurückgebliebenen Berufe weiterhin benachteiligt, während sich in Westberlin eben diese Tarife im Verbrauchsgütersektor besonders stark erhöhten; die frühen Rückstände konnten in Westberlin aufgeholt werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die Tarifentwicklung im Baugewerbe. Insgesamt war daher in Ostberlin die Lohnentwicklung innerhalb der einzelnen Wirtschaftsgruppen, bei weiterer Begünstigung im schwerindustriellen Sektor, einheitlicher. Deshalb sind die Westberliner Lohnsätze im Verbrauchsgütersektor heute gegenüber Ostberlin stärker erhöht als in der chemischen Industrie und der Metallindustrie, zumal der Mettalarbeitertarif in Ostberlin später gespalten und für den Maschinenbau ein zusätzliche erhöhter Tarif neu geschaffen wurde. Eine Ausnahme machen nur die Arbeitnehmer, die infolge ihrer geringen gewerkschaftlichen Organisationsstärke in Westberlin eine unterdurchschnittliche Tarifentwicklung erfuhren, wie Groß- und Einzelhandel. Die Tariferhöhungen Westberlins waren somit trotz deutlichen Nachholens im Konsumgüterbereich in größerem Ausmaß von der jeweiligen gewerkschaftlichen Stärke der einzelnen Industrie- und Gewerbegruppen abhängig, während die Staatstarife Ostberlins ausschließlich nach staatswirtschaftlichen oder rüstungsbedingten Interessen gestaltet wurden. Darüber hinaus findet die Feststellung der letzten Jahre, daß sich die Differenz zwischen Ost- und Westberliner Lohnniveau von Jahr zu Jahr vergrößert, ihre Bestätigung in der Tatsache, daß die Westberliner Tarifsätze- trotz der Tarifpolitischen Pause von fast vier Jahren – heute im Durschnitt um 17 Prozent über den Tarifsätzen Ostberlins liegen.

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Die Tarifstruktur: Der Vergleich des Tarifniveaus gibt auf der Basis der Facharbeiter-Mindestlöhne gewisse Anhaltspunkte, reicht aber allein nicht aus, um die gesamten, seit 1948 eingetretenen Unterschiede im Lohngefüge deutlich zu machen. In Westberlin besteht für den Bereich der Metallindustrie ein Lohntarif, der in seiner Struktur mit dem entsprechenden Metallarbeitertarif Ostberlins übereinstimmt. Um so eindeutiger zeigen die eingetretenen Unterschiede den lohnpolitischen Trent der Entwicklung, der sich am deutlichsten am Beispiel eines volljährigen Arbeiters im Bereich des Maschinenbaus darstellen läßt. Der Mindestlohn in Gruppe I liegt in diesem Fall in Ostberlin um 9 Pf. Unter dem Westberlins, übersteigt aber in der obersten Lohngruppe VIII den Westberliner Tarif um 8 Pf. Insgesamt besteht zwischen der niedrigsten und höchsten Lohngruppe in Ostberlin eine Differenz von 1,07 DM, während diese Differenz in Westberlin nur 0,90 DM beträgt. Von Gruppe zu Gruppe erhöht sich der Ostberliner Tarif im Durchschnitt um 10,3 Prozent, während der durchschnittliche Steigerungsbetrag in Westberlin nur 8,4 Prozent ausmacht. Die Tarifschere ist in Ostberlin weiter geöffnet. Die unteren Lohngruppen sind im Vergleich zu Westberlin stärker benachteiligt, während die obersten Lohngruppen demgegenüber etwas begünstigt sind. Diese Tendenz wird jedoch noch verstärkt durch eine unterschiedliche Eingruppierungstechnik, der zufolge in Ostberlin mehr als die Hälfte aller Arbeiter in den unteren Lohgruppen I bis IV eingestuft sind, während sich in Westberlin weniger als die Hälfte aller Arbeiter in diesen Gruppen befinden. Aber selbst innerhalb der Facharbeiter (Gruppen V bis VIII) ist in Ostberlin eine stärkere Massierung in der untersten Gruppe erkennbar. So lassen sich in diesem Bereich nach unseren Feststellungen die Facharbeiter folgendermaßen auf die einzelnen Lohngruppen aufteilen: In Lohngruppe V befinden sich in Ostberlin 60 % in Lohngruppe VI befinden sich in Ostberlin 25 %, in Lohngruppe VII befinden sich in Ostberlin 10 %, in Lohngruppe VIII befinden sich in Ostberlin 5 %,

in Westberlin 45 %, in Westberlin 35 %, in Westberlin 15 %, in Westberlin 5 %.

Dazu ist festzustellen, daß gerade in der Metallindustrie Westberlins die Lohnschere noch stärker geöffnet ist als in den meisten übrigen Westberliner Gewerbegruppen. Bei den wichtigsten Lohntarifen besteht zwischen der untersten Lohngruppe (Hilfsarbeiter-Mindesttarif) und dem Mindestlohn für einen Facharbeiter in Westberlin eine durchschnittliche Differenz von 22 Prozent, in Ostberlin jedoch eine solche von 38 Prozent. Ein besonders typisches Beispiel ist hierfür das Baugewerbe. Für einen volljährigen Arbeitnehmer, gleichgültig welchen Geschlechts, beträgt die Differenz zwischen dem niedrigsten Hilfsarbeiterlohn und dem Facharbeiterlohn (Ostberlin 1,04 DM bis 1,57 DM, in Westberlin 1,76 DM bis 2,07 DM) in Ostberlin 51 Prozent gegenüber nur 18 Prozent in Westberlin. Das effektive Verdienstniveau: Keine statistischen Angaben werden in Ostberlin und der Sowjetzone geheimer gehalten als die der effektiven Durchschnittsverdienste. Einzelne Veröffentlichungen über den Arbeitslohn eines Drehers oder Schlossers in dem oder jenem Musterbetrieb der Sowjetzone können diese Fest-

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stellungen nicht widerlegen. Einzelverdienste von 4,00, 5,00 oder 6,00 DM die Stunde lassen sich auch für Westberlin nachweisen, ohne daß sie für West- oder Ostberlin typisch sind. Worauf es bei einem echten Sozialvergleich ankommt, ist die Gegenüberstellung der Durchschnittsverdienste, die für breite Arbeitnehmerschichten charakteristisch sind. Nach einer Rede Walter Ulbrichts, veröffentlicht in der „Täglichen Rundschau“ und der „Tribüne“ vom 7. Mai 1955, ließen sich erstmalig nach längerer Zeit die durchschnittlichen Effektivverdienste der Arbeitnehmer in der Sowjetzone berechnen (Mitteilung des DGB, Landesbezirk Berlin, vom 20. Mai 1955) und den durchschnittlichen Effektivverdiensten der Bundesrepublik gegenüberstellen. Dieser Vergleich unterstreicht nochmals die bereits aus der Tarifübersicht gewonnene Feststellung, daß in der Ostzone die rüstungsunwichtigen Wirtschaftszweige gegenüber der Industrie (insbesondere der Schwerindustrie) vernachlässigt wurden. So lagen 1954 die durchschnittlichen Arbeitsverdienste der Bundesrepublik in der nichtindustriellen Wirtschaft 13,7 Prozent, im industriellen Sektor aber nur noch 7,1 Prozent über denen der Sowjetzone. Diese Angaben, die sich auf den Durchschnitt des Jahres 1954 beziehen, konnten an Hand der Lohnentwicklung auch für das 1. Halbjahr 1955 weitergerechnet werden. Da die übertarifliche Entlohnung in Ostberlin und der Sowjetzone ziemlich einheitlich gehandhabt wird, lassen sich aus diesen Angaben auch die Durchschnittsverdienste Ostberlins ermitteln. Dieser Berechnung wurde zugrunde gelegt: In der Sowjetzone eine Verdienststeigerung gegenüber 1954 um 1,5 Prozent bei einer etwas kürzeren Arbeitszeit von nur noch 223 Stunden pro Monat, in Ostberlin bei einem um 10 Prozent höheren Grundlohn 210 Arbeitsstunden pro Monat, in Westberlin nach den Ermittlungen der Industrieberichterstattung 200 Arbeitsstunden pro Monat bei einem Durchschnittsverdienst von 1,68 DM pro Stunde, in der Bundesrepublik bei einer Verdienststeigerung gegenüber 1954 von 3,5 Prozent rund 208 Arbeitsstunden pro Monat. (Da in der Sowjetzone und in Ostberlin seit Anfang 1954 keine Tariferhöhungen vorgenommen wurden und die Leistungsnormen in jüngster Zeit erneut erhöht werden, darf für das 1. Halbjahr 1955 keine über die 1,5 Prozent hinausgehende Verdienststeigerung angenommen werden.) Für die Berechnung der Arbeitszeit konnten in Westberlin und Westdeutschland verschiedene amtliche Unterlagen verwendet werden, während für die Sowjetzone und Ostberlin die anhand der Ulbricht'schen Ausführungen vorgenommenen Berechnungen nach weiteren repräsentativen Ermittlungen modifiziert wurden. Dieser Vergleich der Effektivverdienste weicht deutlich von dem Vergleich der Tariflöhne ab. Und obwohl diese Berechnung bei aller Sorgfalt nur einen Genauigkeitsgrad von 5 Prozent erreichen kann, läßt sie doch interessante Rückschlüsse auf die Struktur der Ostberliner Arbeitsverdienste zu. Wiederum liegen die Verdienste der Bundesrepublik an der Spitze und wiederum sind die Gesamtverdienste Westberlins höher als in der Sowjetzone. Aber die Effektivverdienste sind gegenüber dem Tariflohnvergleich eindeutig stärker angeglichen. Die Stundenverdienste liegen in Westberlin nur noch 5 Prozent über den

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Verdiensten Ostberlins und die Stundenverdienste Westdeutschlands nur noch 19 Prozent über den Verdiensten der Sowjetzone. Unter Einschluß der Arbeitszeit verringert sich bei den Wochen- oder Monatsverdiensten der Abstand zwischen Westdeutschland und der Sowjetzone auf 10 Prozent und die Gesamtverdienste zwischen Ost- und Westberlin gleichen sich aus. Die Struktur der Arbeitsverdienste: Der Durchschnittswert der Lohntarife berücksichtigt die unterschiedliche Größe der einzelnen Tarifgruppen nicht. Bei den effektiven Durchschnittsverdiensten sind diese Größen aber berücksichtigt. Weiterhin sind in die durchschnittlichen Effektivverdienste die Gehälter der in der Industrie beschäftigten Angestellten mit einbezogen. Diese methodischen Verschiedenheiten beider Vergleiche können jedoch die Größe der Differenz nicht erklären. Bei dem entsprechenden Vergleich zwischen Westberlin und der Bundesrepublik bestehen die gleichen methodischen Unterschiede. Dennoch weichen beide Vergleiche in ihrem Ergebnis nur um 3 Prozent voneinander ab. Größer kann, unter Berücksichtigung der jeweiligen Wirtschaftsstruktur, die methodisch bedingte Fehldifferenz zwischen Ost- und Westberlin auch nicht sein. Die Feststellung, daß die Tariflöhne in Westberlin 16,9 Prozent über denen Ostberlins liegen, die effektiven Stundenverdienste aber nur 5 Prozent, muß andere Ursachen haben und ist, abgesehen von der längeren Arbeitszeit und den damit bedingten Zuschlägen, in erster Linie auf die relativ höheren Akkord- und Leistungslöhne in Ostberlin und in zweiter Linie auf die häufigere Akkordarbeit in Ostberlin zurückzuführen. In Westberlin und in der Bundesrepublik entsprach die Tarifsteigerung der Jahre 1938 bis 1955 etwa der Erhöhung der Effektivverdienste. Die, während des Lohnstopps, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, eingetretenen übertariflichen „Zulagen“ wurden durch die ersten Tariferhöhungen nach 1948 wiederum ausgeglichen. Die Effektivverdienste erhöhten sich daher nach 1948 weniger stark als die Tarifsätze. Dagegen wurden in Ostberlin und der Sowjetzone die übertariflichen Zulagen – wenn auch unter veränderten Voraussetzungen – später wieder eingeführt. Daher erhöhten sich in diesen Gebieten die Tarifsätze seit 1948 etwa im gleichen Ausmaß wie die Effektivverdienste, bleiben jedoch gegenüber 1938 hinter dem Index der Effektivverdienste um etwa 12 Prozent zurück. Deshalb ist bei einem Vergleich der Tariflöhne der Abstand zwischen Ost- und Westberlin größer als bei einem Vergleich der Effektivverdienste. Im einzelnen stellen sich diese Unterschiede wie folgt dar: Bei den im Zeitlohn beschäftigten Arbeitnehmern sind, ebenso wie bei den kaufmännischen Angestellten, in Ost- und Westberlin die Unterschiede zwischen Tarif- und Effektivverdienst gleichermaßen geringfügig und können im Durchschnitt einheitlich mit 5 bis 10 Prozent zum Tarifgrundlohn angenommen werden. Bei den im Akkord- und Leistungslohn beschäftigten Arbeitern bestehen jedoch zwischen Ost- und Westberlin starke Verdienstunterschiede. Zwar unterliegen die Effektivverdienste in Ostberlin, infolge der ungleichmäßigen Materialbelieferung und der bei Umstellungen der Wirtschaftspläne auftretenden Stauungen, innerhalb der einzelnen Monate stärkeren Schwankungen als im Westen. Diese Störungen im Wirtschaftsablauf tragen auch die Hauptschuld an der längeren Ar-

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beitszeit in Ostberlin. Insgesamt waren aber im 1. Halbjahr 1955 die Normenbestimmungen noch so, daß die mit der Normenerfüllung und Übererfüllung gekoppelten Leistungsverdienste die Grundlöhne wesentlich stärker überstiegen als in Westberlin. Diese verhältnismäßig „großzügige“ Normenbestimmung beruht zum Teil noch immer auf den Auswirkungen des 16. und 17. Juni des Jahres 1953. Zum Teil ist aber diese Lockerung auch auf den Versuch der ostzonalen Verwaltung zurückzuführen, die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte nach dem Westen durch bessere Verdienstmöglichkeiten zu bremsen. Diese auf starken Normenübererfüllungen beruhenden Arbeitsverdienste sind jedoch in ihrer Höhe keinesfalls gesichert. Die Tendenz der ostzonalen Verwaltung, die Arbeiter bei niedrigem Grundlohn durch hohe Leistungszulagen zu hohen Arbeitsleistungen anzuspornen, führt dazu, daß die Normenschraube stets erneut angezogen wird. Die Normenerhöhungen der letzten Monate bestärken aber auch die Auffassung, daß die staatlichen Verwaltungsorgane die Kontrolle über die Entwicklung der übertariflichen Verdienstzulagen teilweise verloren hatten, die Effektivverdienste also in den letzten Jahren stärker gestiegen waren als es der volkswirtschaftlichen Entwicklung entsprochen hätte. Die jetzt durchgeführten Normenerhöhungen brachten daher zum Teil Verdienstausfälle bis zu 40 Prozent mit sich und dürften mit ein Grund für die neuerdings verstärkte Abwanderung nach dem Westen sein. Die unterschiedliche Struktur im Verdienstaufbau zwischen Ost- und Westberlin tritt besonders bei einem Vergleich der einzelnen, für Berlin besonders typischen Arbeitnehmerkategorien zutage. Diese Vergleiche beruhen auf den Ergebnissen repräsentativer Befragungen, die trotz einzelner Zuschätzungen, unter Berücksichtigung der zuvor festgestellten Resultate, eine genügend gesicherte Basis abgeben, um die bisher gewonnenen Feststellungen im einzelnen zu illustrieren. Hierbei ist jedoch für die Berechnung der Nettoverdienste zu berücksichtigen, daß in Ostberlin nur der Leistungsgrundlohn (Zeitlohn plus Akkord-Richtsatz) normal versteuert wird, während verschiedene Prämien überhaupt steuerfrei bleiben und der den Leistungsgrundlohn übersteigende Leistungsverdienst nur mit 5 Prozent besteuert wird. Andererseits werden in Westberlin die Lohnsteuervergünstigungen in bezug auf Steuerfreibeträge für außergewöhnliche Belastungen und Werbungskosten usw. großzügiger gehandhabt, so daß sich die ihrem Charakter nach zwar unterschiedlichen Steuervergünstigungen Ost- und Westberlins praktisch ausgleichen. Deshalb wurden bei dem vorliegenden Vergleich in Tabelle VI auch nur die normalen Lohnsteuer- und Sozialversicherungsabzüge der Gruppe III/2 in Ansatz gebracht. Dieser Vergleich bestätigt nochmals: 1. Niedrigere Tariflöhne in Ostberlin, weniger stark ausgeprägt im schwerindustriellen Sektor, aber allgemein stärker hervortretend bei ungelernten Arbeitskräften; 2. Gegenüber den Tariflöhnen erhöhte Effektivverdienste in Ostberlin, insbesondere durch Umstellung auf Leistungslohn, die im schwerindustriellen Be-

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reich die Westberliner Effektivverdienste teilweise überschreiten, in der Leichtindustrie und bei ungelernten Arbeitnehmern aber allgemein unter dem Westberliner Niveau bleiben; 3. Höhere Abzüge vom Bruttoverdienst in Ostberlin infolge höherer Steuersätze trotz der um ein halbes Prozent niedrigeren Sozialversicherungsbeiträge. Bei dieser Analyse der Arbeitsverdienste mußten verschiedene Faktoren, die die Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten in Ost- und Westberlin zusätzlich, insgesamt aber nur unwesentlich, beeinflussen, unberücksichtigt bleiben. Dennoch reichen die vorliegenden Unterlagen aus, um zu beweisen, daß die Verdienstsituation der Arbeitnehmer in Westberlin günstiger und vor allem sicherer ist als in Ostberlin. Diese Besserstellung der Westberliner Arbeiter ist auf Grund der gewerkschaftlichen Erfolge der letzten Jahre gegeben, obwohl Westberlin noch immer gegenüber dem Bundesgebiet benachteiligt ist, während Ostberlin eine noch immer begünstigte Stellung gegenüber der SBZ einnimmt. Die einzige Vergünstigung der Westberliner Arbeitnehmer gegenüber der Bundesrepublik – die in diesem Bereich wirksam wurde – ist die zusätzliche Lohnsteuerermäßigung um 20 Prozent und der Fortfall des Notopfers. Diese „Besserstellung“, die eine Erhöhung der durchschnittlichen Nettoverdienste um insgesamt 1,5 Prozent bewirkte (Mitteilung des DGB, Landesbezirk Berlin, vom 30. Juni 1955, „Lohnangleichung vordringlich“), gleicht jedoch die effektive Verdienstminderung von 5 Prozent gegenüber Westdeutschland und die durch die „insulare“ Lage bedingten Kostenerhöhungen (insbesondere bei Urlaubsreisen) bei weitem nicht aus. Die tariflichen Mindestlöhne der Facharbeiter (Ecklohn) in DM in der Sowjetzone, Ostberlin, Westberlin und der Bundesrepublik Juni 1955 Facharbeiter–Mindestlöhne

Durchschnitt aus allen 21 Wirtschaftsbereichen

Sowjetische Besatzungszone DM-Ost

Ostberlin

Westberlin

Bundesrepublik

DM-Ost

DM-West

DM-West

1,27

1,40

1,64

1,71

Die tariflichen Mindestlöhne der Facharbeiter (Ecklohn) in ihrem Verhältnis zwischen Sowjetzone, Ostberlin, Westberlin und der Bundesrepublik Juni 1955 Die Relation der Facharbeitermindestlöhne

Durchschnitt aus allen 21 Wirtschaftsbereichen

Ostberlin zur Sowjetzone = 100

Westberlin zu Bundesrepublik = 100

Westberlin zu Ostberlin = 100

Bundesrepublik zur Sowjetzone = 100

110,3

95,6

116,9

135,0

282

Die effektiven Arbeitsverdienste im Durchschnitt aller Arbeitnehmer a) in der Sowjetzone und der Bundesrepublik 1950 bis 1954 Wirtschaftsbereich

Sowjetzone 1950 1954

Bundesrepublik 1950 1954

Gesamtwirtschaft ……….. Monatsverdienst in DM

215,16

298,75

236,75

327,66

Nichtindustr. Wirtschaft … Monatsverdienst in DM

205,33

280,42

227,50

319,00

Industrielle Wirtschaft …... Monatsverdienst in DM

231,91

322,60

258,58

345,58

Arbeitsstunden je Monat und Kopf

208

225

208

208

Stundenverdienst ………… in DM

1,12

1,43

1,24

1,66

2.5.2. Preise und Lebenshaltungskosten in West- und Ostberlin Bis Mitte 1949 waren die Preise und Lebenshaltungskosten in West- und Ostberlin ebenso einheitlich wie die Tarife und Arbeitsverdienste. Mit der Spaltung Berlins veränderte sich jedoch auch sofort das Preisniveau in beiden Stadtgebieten, wobei die unterschiedliche Preisentwicklung auch zugleich die unterschiedliche Entwicklung des Warenangebotes kennzeichnet. Bis zur Währungsreform am 21. Juni 1948 war das Angebot zu regulären Preisen – die im Schnitt um knapp die Hälfte höher lagen als vor dem Kriege – auf solche Waren beschränkt, die nur gegen Lebensmittelmarken oder auf Bezugsschein erhältlich waren. Auswahl und Menge dieser Zuteilungsgüter waren gering. Die darüber hinaus auf dem „Schwarzmarkt“ käuflichen Waren wurden zum Fünfzig- bis Zweihundertfachen der Vorkriegspreise gehandelt. Nach der Währungsreform erhöhte sich in Westberlin, in Angleichung an die westdeutschen Kartensätze, zuerst das reguläre Warenangebot. Dann strömten auf dem Lebensmittelsektor auch sehr bald freie Waren ein, so daß sich der ehemalige Schwarzmarkt noch während der Blockade langsam aufzulösen begann. Zwei Jahre nach der Währungsreform, Mitte 1950, gab es in Westberlin, analog zu Westdeutschland, nur noch freie Waren und ein einheitliches Preisgefüge. Das Gesamtniveau war gegenüber den ursprünglichen Zuteilungspreisen im allgemeinen leicht erhöht, gegenüber den früheren Schwarzmarktpreisen jedoch beträchtlich gesenkt. Insgesamt bedeutete diese Normalisierung der Preise eine starke Verbilligung der Lebenshaltung. Trotz niedriger Arbeitsverdienste erhöhte sich somit der Lebensstandard in Westberlin beträchtlich. In Ostberlin dagegen vergrößerte sich das Warenangebot nur geringfügig. Die Rationierung – bei Fleisch, Fett, Zucker, Milch, Kartoffeln und Kohle bis heute (Oktober 1955) beibehalten – wurde nur sehr langsam abgebaut; die ehemaligen Schwarzmarktpreise – mit der Gründung der Handelsorganisation (HO) unter staatlicher Kontrolle zu einer staatlichen Einnahmequelle geworden – blieben als HO-Preise bis in die Gegenwart (Oktober 1955) erhalten. Unter gleichzeitiger Be-

283

rücksichtigung der auf dem alten Stand verbliebenen Zuteilungspreise und der weiterhin stark erhöht gebliebenen „Freien Preise“ senkte sich das Ostberliner Preisniveau insgesamt nur sehr langsam. Trotz anfänglich stärkerer Erhöhung der Arbeitsverdienste blieb der Lebensstandard der Ostberliner Arbeitnehmer in diesen ersten Jahren fast unverändert auf dem gleichen Niveau stehen, das schon während des Geldumtauschs (21.-24. Juli 1948 in der SBZ) erreicht wurde. Mitte des Jahres 1950 dürfte das Preisniveau zwischen Ost- und Westberlin die größte Differenz aufgewiesen haben. Als sich nach der Korea-Hausse das Westberliner Preisniveau jedoch etwas erhöhte und in Ostberlin bei mehrfacher Senkung der HO-Preise leicht zurückging, verringerte sich die Differenz zwischen West- und Ostberlin, so daß Mitte 1952 das Preisniveau zwischen beiden Stadtgebieten wieder stärker angeglichen war. Wenn es auch nach 1952 weiterhin großangekündigte HO-Preissenkungen gab, so waren diese doch im wesentlichen nur ein Ersatz für die unter normalen Marktbedingungen sich jährlich wiederholenden Saisonschlußverkäufe. Sie dienten vor allem dazu, die zu den bisherigen Preisen unverkäuflich gebliebenen Lagerbestände abzustoßen. Darüber hinausgehende Preis-senkungen – die teilweise aus rein propagandistischen Gründen erfolgten – wurden kurze Zeit später regelmäßig wieder rückgängig gemacht, wobei teilweise unter Veränderung der Warenbezeichnung auch Preiserhöhungen eintraten. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Warenqualität, die bei Textilien, Bekleidung und sonstigen Gebrauchsgütern in Westberlin ständig verbessert wurde, hat sich seit drei Jahren die Preisrelation zwischen Ost- und Westberlin im ganzen nicht mehr wesentlich verändert. Die Marktstruktur: Eine Bestimmung des Preisniveaus in Ost- und Westberlin ist unzureichend, sofern nicht auch die unterschiedliche Marktstruktur beider Stadtgebiete berücksichtigt wird. In Westberlin werden seit 1950 – ebenso wie in der Bundesrepublik – alle Waren nach Sorten und Qualität in praktisch unbegrenztem Ausmaß angeboten. Infolge dieses fast ungestörten Wechselspiels von Angebot und Nachfrage haben sich zwischen den einzelnen Qualitäten und Warengruppen Preisrelationen eingestellt, die vornehmlich durch die jeweilige Höhe der Kosten bei Erzeugung und Verteilung bestimmt sind. Die in Westberlin und Westdeutschland selbst als schmerzhaft empfundenen Einflüsse staatlicher Zollund Steuerpolitik und privatwirtschaftlicher Preisabreden und Preisbindungen können bei dieser Betrachtung infolge ihrer – im Vergleich zu den Ostberliner Verhältnissen – insgesamt geringfügigen Einflüsse auf die Marktstruktur außer Betracht bleiben. Demgegenüber kann in Ostberlin von einem einheitlichen Warenmarkt nicht gesprochen werden. Es sind vor allem vier Warenkategorien zu unterscheiden, die jeweils unterschiedlichen Staats- und Markteinflüssen ausgesetzt sind. Die erste Gruppe bilden die noch immer auf Karten zugeteilten Lebensmittel und Verbrauchsgüter. Ihr Preisniveau unterliegt staatlichen Bestimmungen, ist nahezu konstant und hat sich seit 1948 praktisch nicht verändert. Die Auswahl ist

284

jedoch äußerst beschränkt, wenn auch die mengenmäßige Belieferung Ostberlins in den letzten Jahren – im teilweisen Gegensatz zur Sowjetzone sichergestellt war. Die zweite Gruppe stellen die in den vergangenen Jahren freigegebenen industriell verarbeiteten Lebensmittel und Verbrauchsgüter dar, die – wie Brot, Mehl oder Nährmittel, Seifen, Wasch- oder Putzmittel ebenso wie Dienstleistungen, Zeitschriften, usw. – eine gleichmäßige über das Jahr verteilte Belieferung verlangen. Bei dieser Gruppe kann trotz des begrenzten Sortiments von einem beinahe normalisierten Markt gesprochen werden. Die Preise weisen, ebenso wie in Westberlin, eine langfristige Stabilität auf und liegen durchschnittlich nur um 25 Prozent höher, teilweise aber sogar niedriger als in Westberlin, wenn auch die Qualitäten nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Bei Waschmitteln beispielsweise können die Spitzensorten Ostberlins höchstens mit den billigsten Westberliner Waschmitteln verglichen werden. Zur dritten Gruppe wären die gleichfalls freigegebenen Lebensmittel zu zählen, die jedoch gegenüber den zuvor genannten – stärkeren jahreszeitlichen Schwankungen des Angebots ausgesetzt sind. Dazu gehören Obst, Gemüse, Frühkartoffeln, Fische usw. Hier setzt das Ostberliner Angebot jahreszeitlich regelmäßig später und mit wesentlich höheren Preisen als in Westberlin ein. In der kurzen Zeit der „Schwemme“ sinken die Ostberliner Preise jedoch stärker als in Westberlin und unterschreiten gewöhnlich bei Obst und Gemüse für wenige Tage das Westberliner Preisniveau. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit steigen dagegen die Ostberliner Preise wieder stärker an, bis die Ware überhaupt viel früher als in Westberlin vom Markt verschwindet. Die jahreszeitlichen Schwankungen sind in Angebot und Preisgestaltung in Ostberlin weit stärker ausgeprägt als in Westberlin, das infolge seiner ungünstigen Verkehrslage auch weniger als andere westdeutsche Städte in den Genuß derartiger, an sich normaler Preisschwemmen kommt. Zur vierten Gruppe wären alle Waren zu zählen, die hauptsächlich oder ausschließlich in HO-Geschäften erhältlich sind. Hierzu gehören neben den „freien Spitzen“ bewirtschafteter Lebensmittel (Fleisch, Fett, Zucker) sämtliche Genußmittel einschließlich Süßwaren und Kuchen, Textilien, Lederwaren, Haushaltswaren, Möbel, elektrische, feinmechanische und optische Geräte, Fahrräder usw. Mit Ausnahme der Haushaltswaren aus Glas, Steingut und Porzellan ist das Preisniveau dieser Gruppe um ein Vielfaches höher als in Westberlin. Die Preise werden ausschließlich durch staatliche Anordnung geregelt. Das regionale Preisniveau ist daher bei einer bestimmten Ware zwischen den einzelnen Geschäften und zwischen Ostberlin und der Sowjetzone ziemlich einheitlich. Die Belieferung ist jedoch stockend, die Warenauswahl gering und äußerst wechselhaft. Das Warenangebot: Bei einer Gesamtbetrachtung ist ferner zu berücksichtigen, daß in Ostberlin eine regelmäßige mit Westberlin vergleichbare Belieferung nicht gegeben ist. Im Gegensatz zur Sowjetzone jedoch – in der zeit- und gebietsweise bestimmte Warenkategorien (wie Fleisch, Zucker, Butter, Tee, Kaffee, bestimmte Textilien usw.) überhaupt nicht erhältlich sind – besteht die Ostberliner Warenknappheit hauptsächlich in dem begrenzten Sorten- und Qualitätsangebot.

285

Dieser, von der Bevölkerung schmerzhaft empfundene Mangel geht immerhin so weit, daß z. B. bei Bekleidung und Schuhen häufig nur vereinzelte Größen auf Lager sind. Da in Ostberlin – besonders auffallend bei Textilien – nur wenig verschiedene Muster vorrätig sind, findet jedes neu herauskommende Muster, auch zu stark überhöhten Preisen, Abnehmer. Die Ostberliner Preise steigen und fallen somit im Wechsel der Musterung sehr viel stärker als es beispielsweise der Qualität der Stoffe entsprechen dürfte. Daher schwankt, unter Berücksichtigung gleicher Qualitäten, auch ständig die Preisrelation zwischen Ost- und Westberlin. Das geringe Ostberliner Warenangebot führt aber auch weiterhin dazu, daß ein direkter Vergleich zwischen verschiedenen Mustern, Qualitäten und Preisen praktisch unmöglich wird oder doch zumindest sehr begrenzt ist. Daher ist auch in Ostberlin, unabhängig von den oben beschriebenen Faktoren, ein gleichbleibendes Verhältnis von Preis und Qualität nicht gegeben. Das heißt, eine billigere Ware kann häufig geschmackvoller und zugleich qualitativ besser sein als eine andere, kurze Zeit früher oder später oder an anderer Stelle angebotene; jeder Kauf wird zum Glücksspiel, wie es in diesem Ausmaß bei einem echt funktionierenden Markt niemals möglich wäre und in Westberlin seit 1950 nicht mehr der Fall ist. Das knappe Ostberliner Warenangebot führt aber auch dazu, daß Waren gekauft werden, die weder ganz dem Geschmack des Käufers, noch dem eigentlichen Zweck entsprechen. Wer sich z. B. im Frühjahr einen hellen, leichten Sommeranzug kaufen möchte, aber nur einen dunklen Winteranzug erhält, oder wer im Herbst beim beabsichtigten Kauf eines Wintermantels nur einen dünnen Popelinemantel angeboten bekommt, wird schließlich notgedrungen zugreifen, obwohl der eigentliche Zweck nicht richtig erfüllt ist. Dies alles sind Faktoren, die die reale Lebenshaltung beeinflussen, ohne daß sie bei einem Preis- und Kaufkraftvergleich statistisch erfaßbar sind. Das in Ost- und Westberlin unterschiedliche Warenangebot bringt aber auch noch eine weitere Schwierigkeit im Preisvergleich mit sich. In Westberlin muß sich das Warenangebot – trotz aller Einschränkungen durch Mode und Reklame – in bestimmtem Ausmaß den Wünschen des Käufers anpassen. In einer Wettbewerbswirtschaft kann ja nur derjenige Umsatz und Gewinn erzielen, dessen Angebot dem Geschmack und den Wünschen des Käufers entspricht. In Ostberlin wird jedoch, ebenso wie in der sowjetischen Besatzungszone, Menge und Qualität sowie Ausstattung, Musterung und Formgebung aller industriell erzeugten oder weiterverarbeiteten Güter in erster Linie durch die staatlichen Planungskommissionen bestimmt. Richtet sich das äußere Bild des Angebots auch weitgehend an früheren oder an westdeutschen Vorbildern aus – bei Stoffen folgt Farbgebung und Musterung der westdeutschen Mode in einem Abstand von fast zwei Jahren – so richtet sich doch die Qualität der Verarbeitung und der verwendeten Rohstoffe ausschließlich an staatlichen Gesichtspunkten aus. Diese Unterschiede in der Marktstruktur haben zur Folge, daß die für Westberlin typischen Qualitäten mit denen für Ostberlin nicht vergleichbar sind. In Westberlin haben in den letzten Jahren die mittleren und besseren Sorten die ganz billigen Waren praktisch vom

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Markt verdrängt, z. B. sind Mäntel, Anzüge und Kostüme aus reinen Zellwolloder Baumwollstoffen (mit Ausnahme leichter Sommerpopeline) nicht gefragt. Die nach westlichen Maßstäben billigsten Qualitäten stellen in Ostberlin und der Zone jedoch das Hauptangebot innerhalb der einzelnen Warenkategorien dar. Mit anderen Worten: -

Die nach Ostberliner Maßstäben billigsten Qualitäten werden in Westberlin überhaupt nicht mehr geführt und sind daher preismäßig nicht vergleichbar.

-

Die nach Ostberliner Maßstäben mittleren Qualitäten sind für Westberlin untypisch, sie können nur mit gewissen „Ramsch-“ und Ausverkaufswaren verglichen werden.

-

Die nach Westberliner Maßstäben mittleren Qualitäten sind nur den besten Spitzenqualitäten Ostberlins vergleichbar, die jedoch in Ostberlin nicht regelmäßig erhältlich sind.

-

Die besseren Qualitäten Westberlins (reine Wollstoffe usw.) sind mit Ostberliner Waren überhaupt nicht vergleichbar. Seltene Sonderangebote im Zusammenhang mit der Leipziger Messe usw. können hier nicht gewertet werden.

Für einen Preisvergleich können daher, unter Berücksichtigung gleicher Warenwerte, im allgemeinen nur die schlechteren Durchschnittsqualitäten Westberlins mit den besseren Durchschnittsqualitäten Ostberlins verglichen werden, denn die Auswahl der jeweils zugrunde gelegten Warenqualitäten ist für die richtige Bestimmung des Preisniveaus entscheidend. Es kann immer wieder festgestellt werden, daß bei einem Warenvergleich „minderer“ Qualitäten die Preisdifferenz zwischen Ost- und Westberlin geringer ist als bei einem Vergleich zwischen besseren oder gar zwischen Spitzenqualitäten. So schwanken z. B. die Preisindices Ostberlins gegenüber den jeweiligen Westpreisen innerhalb einzelner Warengruppen: -

Bei Backwaren von 100 Prozent für vergleichbares Roggenbrot, bis 126 Prozent für Weißbrot bzw. 170 Prozent für Kleingebäck bzw. bis 400 Prozent für Kuchen.

-

Bei Bekleidung von 200 Prozent für reine Zellstoffwaren, bis 250 - 350 Prozent für Baumwoll- und Kunstseidenstoffe bzw. bis 400 - 500 Prozent für reine Wollstoffe.

-

Die gleichen Tendenzen lassen sich beinahe auf sämtlichen Verbrauchssektoren feststellen.

Die Preisrelation: Unter Berücksichtigung der jeweiligen Marktstruktur, des Warenangebotes und der Kaufneigung der Bevölkerung oder des gegebenen Kaufzwangs kann von einem einheitlichen Verhältnis zwischen dem Ost- und Westberliner Preisniveau nicht gesprochen werden. Die Preisrelation ist für einzelne Warengruppen und innerhalb der Warengruppen für verschiedene Qualitäten unterschiedlich. Die Gesamtrelation schwankt mit jeder Veränderung des Wa-

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renkorbes und mit jeder Änderung des Qualitätsanspruches. Trotzdem kann auf Grund der für West- und Ostberlin vorliegenden Erfahrungen das Preisniveau in seinen Grundzügen bestimmt werden. Die in Ostberlin noch bewirtschafteten Lebensmittel sind durchschnittlich etwas billiger als in Westberlin. Eine Ausnahme machen Schmalz, Margarine und pflanzliche Fette sowie Süßwaren, die das Westberliner Preisniveau teilweise bis zu 60 Prozent überschreiten. Dagegen ist die Verbilligung in Ostberlin am stärksten bei den auf Marken erhältlichen Fleischsorten ausgeprägt, deren Preis das Westberliner Niveau bis zu 45 Prozent unterschreitet. Da die Zuteilungsmengen jedoch nicht ausreichen, um den normalen Bedarf eines Arbeiters sicherzustellen, müssen auch Fleisch- und Fettwaren in der HO zugekauft werden. Die Preise für freie Lebensmittel weisen ebenfalls von Gruppe zu Gruppe verschieden starke Preisunterschiede gegenüber Westberlin auf. Insgesamt liegen die Preise dieser Waren, mit Ausnahme von Hülsenfrüchten und den billigeren Brotsorten, weit über den entsprechenden Preisen Westberlins. Relativ am teuersten sind in Ostberlin Käse und Molkereiprodukte, sofern es sich um qualitativ mit Westberliner Erzeugnissen vergleichbare Waren handelt, die allerdings nicht regelmäßig erhältlich sind (Preisindex 300 bis 500 Prozent. Westberliner Preise = 100). An zweiter Stelle folgen (Preisindex 200 bis 300 Prozent) Fettwaren, von denen Butter gleichfalls nicht ständig vorrätig ist, sowie Wurstwaren, Zucker und Bienenhonig. An dritter Stelle folgen Fleischwaren, von denen im letzten Halbjahr aber nur Schweinefleisch (Preisindex 200 bis 220 Prozent) regelmäßig erhältlich war. An vierter Stelle stehen Fisch- und Fischwaren (Preisindex 140 bis 240 Prozent). An letzter Stelle liegen die Preise der wichtigsten Sorten für Brot und Backwaren, Nährmittel, Obst und Gemüse, die das Westberliner Preisniveau insgesamt nur wenig übersteigen (100 bis 150 Prozent). Aus diesem Bild ragen allerdings die Ostberliner Preise für Kuchen, Feingemüse, Tafelobst und Südfrüchte (200 bis 500 Prozent) stark hervor. Eine besondere Stellung nehmen die – in der Haushaltsführung aber weniger stark durchschlagenden – Preise für Getränke, Gewürze usw. ein. Kunsthonig (der allerdings qualitativ nicht voll vergleichbar ist), Kaffeeersatz und Salz sind in Ostberlin billiger. Marmelade, Senf und Essig sind etwa doppelt so teuer, Pfeffer beispielsweise aber ist in der HO nur zum Fünfundzwanzigfachen des Westberliner Preises erhältlich.

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Die Preise der frei gehandelten Genußmittel in Ost- und Westberlin Preisdurchschnitte der Monate April bis August 1955 Preisrelation zwischen Ostberlin und Westberlin = 100

Preise

In

Westberlin DM-West

Ostberlin DM-Ost

1 Stück 1 Stück

0,10 0,20

0,17 0,60

170,0 300,0

1 Kg 1 Kg 1 Kg 1 Kg

1,36 1,48 1,86 3,24

2,90 2,35 1,36 9,00

213,2 158,8 73,1 277,8

Gewürze Salz Essig Pfeffer (weiß)

1 Kg 1 Liter 1 Kg

0,42 0,40 8,00

0,30 0,80 200,00

71,4 200,0 2.500,0

Süßwaren Bonbon (gem.) Schokolade

1 Kg 100 g

2,14 1,00

5,00 5,40

233,6 540,0

Getränke Kaffee-Ersatz Bohnenkaffee Tee Kakao Bier Brandwein

1 Kg 1 Kg 1 Kg 1 Kg ¼ Liter 0,7 Liter

1,80 21,00 36,00 9,00 0,35 3,44

0,87 80,00 42,00 64,00 0,49 8,70

48,3 381,0 116,7 711,1 140,0 252,9

Tabakwaren Tabak Zigaretten

50 g 1 Stück

1,00 0,08 1/3

2,00 0,24

200,0 289,2

Warengruppen

Backwaren Kleingebäck Schweineohr Zucker u. ä. Speisezucker (weiß) Marmelade (Mehrfrucht) Kunsthonig Bienenhonig (billigster)

Mengeneinheit

Exzessiv hohe Besteuerung von Genußmitteln im realen Sozialismus. Genußmittel (= Genießmittel) bereiten „Freude, Wohlbehagen und Befriedigung wegen ihrer anregenden Wirkung. Wegen bestimmter geschmacklicher Eigenschaften sind sie besonders geschätzte Produkte der Konsumenten“.122 Genußmittel sind Stoffe, die bestimmt sind, dem menschlichen Körper zugeführt und von ihm ver122 Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3. Aufl., München 1993, S. 427 f.

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braucht zu werden, ohne zu seiner Ernährung (wesentlich) zu dienen, im Gegensatz zu Nahrungsmitteln. Das Lebensmittelgesetz vom 5. 7. 1927 faßt beide Stoffgruppen als „Lebensmittel“ zusammen, da eine scharfe Unterscheidung oft nicht möglich ist (Bier, Kakao). Den Lebensmitteln im Sinne des genannten Gesetzes gleichgestellt sind Tabak, tabakhaltige oder ähnliche Erzeugnisse zum Rauchen, Kauen oder Schnupfen, die demnach als Genußmittel gekennzeichnet werden, obwohl sie nicht im Körper verbraucht werden. Genußmittel sind teils wichtige Ergänzungsstoffe der Nahrung, insofern sie als Gewürze geschmacks- und geruchsbetreffend und appetitanregend wirken teils haben sie besondere, als angenehm empfundene Wirkungen auf das Zentralnervensystem. Unter Genußmitteln stehen nach dem mengenmäßigen Verbrauch die alkoholischen Getränke an erster Stelle: Bier, Wein, in großem Abstand die Branntweine. Daneben sind die alkaloidhaltigen Genußmittel (Aufgußgetränke) weit verbreitet: Tee, Kaffee, Kakao, Mate. Kakao hat infolge seines Gehaltes an Fett, Stärke und Eiweiß einen gewissen Nährwert, der durch Verarbeitung zu Schokolade (Zusatz von Zucker, Milch usf.) noch erhöht wird. Genußmittelpreise waren in Ostberlin gegenüber Westberlin generell stärker erhöht als die Nahrungsmittelpreise. Kaffee ist fast viermal so teuer, Schokolade fünfeinhalbmal und der Kakaopreis erreicht die siebenfache Höhe der Westberliner Preises. Der Preisindex (Westberlin = 100) für Spirituosen und Tabakwaren liegt in Ostberlin bei 250 bis 300 Prozent. Etwas preisgünstiger ist Bier, das nur um 40 Prozent teurer ist, während Malzbier in Ost- und Westberlin sogar den gleichen Preis hat. Wie exzessiv hoch die Besteuerung (Akzise) war, wird deutlich, wenn man die Preise mit den Arbeitseinkommen vergleicht. Nettomonatsverdienst einer vierköpfigen Arbeiterfamilie (Männer)

West-Berlin: 401,77 DM Ost-Berlin: 345,72 Ost-Mark

Kaufkraft eines Verdienstes Bohnenkaffe 1 kg

Kakao 1 kg

Schokolade 100 g

Pfeffer 1 kg

19,13

44,6

401

50

4,3

5,3

64

1,7

Besonders der im zweiten Weltkrieg lang entbehrte Bohnenkaffee war bei den Konsumenten in der Bundesrepublik heißbegehrt, wie der monatliche Verbrauch in einem Hamburger Chemiearbeiterhaushalt zeigt.

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Verbrauch von Bohnenkaffee in Gramm 123 1937:

600

1953/54:

632

1949/50: 128

1954/55: 1.142

1950/51: 209

1955/56: 1.540

1952/53: 361

„Die Ausgaben für Genußmittel, also für Bohnenkaffe, Tee, Wein, Spirituosen und Tabak stiegen hingegen in den fünfziger Jahren absolut wie relativ mehr und mehr an. 1950 erreichten sie einen Anteil von 5,8 % der Lebenshaltungskosten, 1960 lagen sie bei 9,5 %. Die Preise für Seifen, Waschmittel und Körperpflegemittel erreichten in Ostberlin einen Preisindex von 250 bis 350 Prozent bei Kern- und Feinseife. Bei Waschpulver und sonstigen Reinigungsmitteln liegen die Ostberliner Preise nur wenig über dem Westberliner Preisniveau, wobei jedoch wiederum Schwierigkeiten im Qualitätsvergleich bestehen. Ähnlich ist die Situation bei Körperpflegemitteln. Allgemein ist jedoch feststellbar, daß die vollsynthetischen Reinigungsmittel in Ostberlin gegenüber den Westpreisen relativ preisgünstiger sind als diejenigen, die aus tierischen oder pflanzlichen Rohstoffen gewonnen werden. Die Preise für Heizung, Gas, Strom und Miete sind in Ostberlin generell niedriger als in Westberlin. Diese billigeren Preise sind vor allem darauf zurückzuführen, daß die alten Vorkriegssätze im allgemeinen beibehalten wurden. Allerdings sind und werden Wohnungsreparaturen in Ostberlin kaum durchgeführt. Unter Berücksichtigung des jetzigen Wohnwerts sind daher die Ostberliner Mieten eher teurer als in Westberlin. Neubauten größeren Ausmaßes wurden in Ostberlin nur in der Stalinallee errichtet. Dort sind die subventionierten Mietpreise niedriger als im sozialen Wohnungsbau Westberlins. Allerdings sind diese Wohnungen nur für höhere SED-Funktionäre und „verdiente Arbeiter“ reserviert, so daß diese Mietsätze für eine Bestimmung des allgemeinen Mietniveaus keine Bedeutung haben. Die Preise für Textilien, Bekleidung und Lederwaren sind in Ostberlin relativ am teuersten und fallen bei der Verteuerung der Ostberliner Lebenshaltung am stärksten ins Gewicht. Bei den für die Lebenshaltung einer Arbeiterfamilie wichtigsten Gütern schwankt der Preisindex (Westberliner Preise = 100) zwischen 200 Prozent bei Zellwollstoffen bis 500 Prozent bei reinen Wollstoffen. Bei leichten Popelinen, leichter Haushaltswäsche, Unterwäsche liegt der Ostberliner Preisindex bei durchschnittlich 250 Prozent, bei festeren Baumwollpopelinen bei 285 Prozent, bei kunstseidenen Stoffen bei 325 Prozent, bei strapazierfähigeren Bettbezugsstoffen bei 335 Prozent, bei Lederbekleidung bei 365 Prozent, bei einfachen Wollstoffen bei 400 Prozent, bei Lederschuhen zwischen 400 bis 500 Prozent. Auch dieser Preisvergleich ist dadurch erschwert, daß die in Ostberlin ange123 Wildt, Michael: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, S. 67, 33, 41, 45, 48, 67, 76, 385

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botenen Waren qualitativ und geschmacklich nicht mit den Westberliner Waren direkt vergleichbar sind. Diese Feststellung wird dadurch erhärtet, daß der größte Teil der Ostberliner Bevölkerung – auch bei einer Wechselkursrelation von 1:5 – Schuhe und modische Oberbekleidung in Westberlin kauft. Eine etwas andersgeartete Situation besteht bei Perlonstoffen. Infolge der an sich hohen Westberliner Preise für Perlonstoffe sind die Stoffe in Ostberlin relativ billig. Aber obwohl die Perlonwäsche in Ostberlin nur zweieinhalbmal so teuer ist wie im Westen, sind diese Waren doch für eine Ostberliner Arbeiterfamilie unerschwinglich. Allgemein stellen sich Bekleidungsgegenstände, die mehr Handarbeit verlangen, in der Preisrelation etwas günstiger als unverarbeitete Stoffe, da die menschliche Arbeitskraft in Ost- und Westberlin praktisch gleich teuer ist. Die Preise für Geschirr, Haushaltsgeräte, Elektrogeräte und Möbel lassen sich schwer zwischen Ost- und Westberlin vergleichen. Modische Ausstattung und Formgebung bestimmen hier das Preisniveau weitgehend mit, während die Qualität der Verarbeitung und die Qualität der Rohstoffe nicht immer sofort erkennbar ist. Nach vorsichtigen Wägungen läßt sich unter Berücksichtigung eines größeren Vergleichsmaterials jedoch sagen, daß bei Geschirr aus Glas und Steingut und bei Gebrauchsgeschirr aus Porzellan keine deutlichen Preisunterschiede zwischen West- und Ostberlin feststellbar sind. Bei Glühbirnen und Elektroerzeugnissen dürfte der Ostberliner Preisindex (Westberlin = 100) zwischen 108 bis 175 Prozent angesetzt werden, wobei wiederum die Qualität und insbesondere die Haltbarkeit der Ostberliner Erzeugnisse nicht ganz an die der Westberliner heranreicht. Bei einfachen Uhren und optischen Geräten dürfte der Ostberliner Preisindex auf 150 bis 200 Prozent ansteigen. Bei Möbeln sind materialmäßig gleichwertige Erzeugnisse in Ostberlin ebenfalls doppelt so teuer wie im Westen. Dabei dürfen jedoch die wenig modischen Ausführungen Ostberlins nicht übersehen werden. Die gleiche Preisrelation gilt für gute Eßbestecke aus Stahl, während Töpfe und Pfannen sowie Eimer und anderes Geschirr aus Aluminium oder Emaille rund dreimal so teuer sind wie in Westberlin. Die Aufwendungen für Bildung, Unterhaltung und Verkehr dürften in Ostund Westberlin gleich hoch eingeschätzt werden. Qualitative Maßstäbe können hierbei jedoch wiederum nicht berücksichtigt werden. Insgesamt kann gesagt werden: billiger als in Westberlin sind in Ostberlin nur die auf Karten erhältlichen Fleisch- und Zuckermengen sowie Kohlen, Brennholz, Gas, Strom und Wohnungsmiete. Ebenso teuer oder nur geringfügig teurer sind (im Durchschnitt der häufigsten und gebräuchlichsten Warensorten) die auf Karten erhältlichen Fette sowie Brot, Spätkartoffeln, Obst und Grobgemüse, Haushaltsgeschirr aus Glas, Steingut und Porzellan, Aufwendungen für Bildung, Unterhaltung sowie Aufwendungen für Dienstleistungen (Schneider, Friseure) und Verkehr. Sämtliche sonstigen Preise für „freie“ Lebensmittel, wie Fleisch und Fett, sowie Kuchen und Süßwaren. Feingemüse und besonders Südfrüchte, Tabak und Spirituosen, Kaffee, Tee, Kakao, Bekleidung, Hausrat, Möbel und Küchengeräte übersteigen in Ostberlin das Westberliner Preisniveau um ein Vielfaches.

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Wie stark diese unterschiedliche Preisgestaltung bei den einzelnen Warengruppen Ostberlins die Lebenshaltung der Bevölkerung verteuert, kann nur anhand einzelner Verbrauchsanalysen (Abschnitt Reallöhne und Lebenshaltungskosten) ermittelt werden. Wichtig für eine weitergehende Betrachtung ist aber darüber hinaus die Feststellung, daß das Ostberliner Preisniveau gegenüber der Sowjetzone keine bemerkenswerten Unterschiede aufweist und andererseits auch zwischen Westberlin und Westdeutschland keine Preisunterschiede bestehen. 124 Die zwischen Westberlin und Ostberlin ermittelten Preisunterschiede sind also mit vollem Recht auch auf die Sowjetzone und die Bundesrepublik anzuwenden. Ein einziger Unterschied besteht darin, daß das Warenangebot in der Sowjetzone noch sehr viel lückenhafter ist als Ostberlin, so daß viele Bewohner der Sowjetzone extra nach Ostberlin fahren, um dort einen Teil ihrer Einkäufe zu tätigen. 2.5.3. Reallohn und Lebenshaltung in West- und Ostberlin Die Analyse der Lohn- und Preisentwicklung in West- und Ostberlin hat die Kurve der Reallohnentwicklung bereits vorgezeichnet. In Westberlin von 1948 bis 1950 infolge der Normalisierung des Preisgefüges trotz unveränderter Arbeitsverdienste ein starkes Ansteigen der Reallöhne; – von 1950 bis 1952 mit einsetzender Lohnerhöhung infolge erneuter Preissteigerungen eine Abflachung der Real-Lohnkurve; – von 1952 bis 1955 infolge stärkerer Lohnsteigerungen bei insgesamt gleichbleibendem Preisniveau ein erneut stärkerer Reallohnanstieg. Im Jahre 1954/55 erreichte die durchschnittliche Kaufkraft der Westberliner Arbeitsverdienste wieder das Vorkriegsniveau, das heute von den meisten Berliner Arbeitnehmern – eine Ausnahme machen die gewerkschaftlich schlecht organisierten Angestellten im Handel sowie die Beschäftigten in einzelnen kleineren, ebenfalls schlecht organisierten Berufsgruppen – bereits überschritten wird.

124 Denkschrift des DGB, Landesbezirk Berlin, „Zur Forderung der Lohnangleichung Westberlins an die Bundesrepublik“, Mai 1954

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Die Reallohnentwicklung in West- und Ostberlin von 1941 bis 1955 (1938 = 100)

In Ostberlin: Von 1948 bis 1950 trotz anfänglicher Lohnerhöhungen bei fast unverändertem Preisniveau eine nur geringfügige Kaufkrafterhöhung; von 1950 bis 1952 infolge mehrfacher HO-Preissenkungen bei allerdings geringfügigen Lohnerhöhungen eine etwas stärkere Reallohnsteigerung; — von 1952 bis 1955 bei relativ unverändertem Preisniveau und nur geringen Lohnerhöhungen eine abermalige Abflachung der Reallohnkurve. Insgesamt erreichte die Kaufkraft der Ostberliner Arbeitsverdienste im Jahre 1955 rund 75 Prozent des gemeinsamen Vorkriegsniveaus. Die Schwerpunkte dieser Entwicklungskurve liegen ziemlich eindeutig fest. Geht man von dem einheitlichen Niveau des Jahres 1938 aus, so zeigt sich, daß sich schon während des Krieges infolge schlechterer Warenbelieferung die reale Kaufkraft der Löhne trotz der theoretisch unveränderten Lohn-Preisrelation verringerte. Nach der Kapitulation fiel der Reallohn steil unter 50 Prozent des Vorkriegsniveaus ab. In den Jahren bis zur Währungsreform trat eine kaum spürbare Besserung ein. Der Reallohnindex dürfte zu diesem Zeitpunkt in beiden Stadtgebieten etwa 50 Prozent des Vorkriegsniveaus erreicht haben. Von diesem Ausgangspunkt an erhöhte sich bis 1954/55 der Reallohn in Westberlin um 100 Prozent, während er in Ostberlin nur um knapp 50 Prozent anstieg. Damit ist zugleich, mit Ausnahme der Jahre 1950 bis 1952, eine ständige Differenzierung der beiden Reallohnkurven deutlich feststellbar. Der Abstand zwischen der Kaufkraft der Ost- und Westberliner Arbeitsverdienste wird ständig größer und hat sich besonders in den letzten Monaten erneut verstärkt. Diese Darstellung der Berliner Reallohnkurve entspricht auch den Ergebnissen verschiedener Berechnungen für die Bundesrepublik. Wenn berücksichtigt

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wird, daß das Berliner Preisniveau vor dem Kriege um etwa 10 Prozent und das Lohnniveau etwa um 20 Prozent über dem Westdeutschlands lag, heute aber das Preisniveau gleich ist, das Verdienstniveau Westberlins jedoch um 5 Prozent unter der Bundesrepublik liegt, dann entspricht – gegenüber dem jeweiligen Stand des Jahres 1938 – eine Reallohnsteigerung von 20 bis 30 Prozent im Bundesgebiet einer Steigerung von etwa 5 Prozent in Westberlin. Da die Kaufkraft der Ostberliner Arbeitsverdienste zur Zeit um 29 Prozent unter derjenigen der Westberliner Verdienste liegt, ergibt sich dann für diesen Stadtteil gegenüber dem Stand des Jahres 1938 eine Reallohnsenkung von etwa 25 Prozent. Die Kartenzuteilungen in Ostberlin: Bei den starken Preisunterschieden zwischen Ostberliner Zuteilungswaren und Freien Waren kommt den jeweiligen Zuteilungsmengen im Lebensmittelsektor eine besondere Bedeutung zu. Die Kartensätze im einzelnen sind bekannt. Es steht auch fest, daß die Lebensmittelzuteilungen in der Sowjetzone noch wesentlich geringer sind als in Ostberlin – auch hier eine offensichtliche Besserstellung der Ostberliner Bevölkerung gegenüber der Bevölkerung der SBZ –. Darüber hinaus wird z. B. bei Fleisch keineswegs der volle Kartenaufdruck beliefert. Für 100 Gramm Fleischzuteilung werden nur 75 g knochenfreies Fleisch oder Fleischwaren abgegeben und die restlichen 25 g entweder als Knochen zugelegt oder als Schwund abgezogen. Eine Ausnahme machen solche Wurst- und Fleischwaren (Leberwurst und Blutwurst), bei denen relativ größere Mengen Abfallprodukte mitverarbeitet werden oder in denen Knochen in „ausreichender“ Menge enthalten sind. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß sowohl die Schulspeisung als auch die Werksverpflegung zu relativ niedrigen Preisen eine Entlastung der Kartensätze mit sich bringt, daß also für einen Teil der Bevölkerung eine gewisse, wenn auch schwer kontrollierbare Erhöhung der Zuteilungen stattfindet. Da die Kartensätze der einzelnen Personengruppen stark variieren – in Ostberlin gibt es drei verschiedene Kinderkarten, eine Grundkarte (Rentner und Hausfrauen), eine Arbeiterkarte und eine Schwerarbeiterkarte, ferner gibt es Zusatzkarten für stillende Mütter, Blutspender und Tuberkulöse usw.; darüber hinaus gibt es in der sowjetischen Besatzungszone zwei Zwischenkarten für Angestellte und eine zusätzliche Schwerstarbeiterkarte – ist ein Gesamtbild über die durchschnittliche Zuteilungsmenge schwer zu erhalten. Deshalb wurde der nachfolgenden Untersuchung die Gesamtzuteilung für eine vierköpfige Arbeiterfamilie (1 Arbeiterkarte, 1 Grundkarte, 2 Kinderkarten für ein 7- und ein 12jähriges Kind) zugrunde gelegt. Diese Verpflegungssätze erhöhten sich um die täglichen Zuteilungen für Schulspeisung und Werksverpflegung; hierbei wurden im Jahresdurchschnitt 24 Arbeits-, bzw. Schultage pro Monat gerechnet. Die Zuteilungen betragen im vorliegenden Beispiel: Bei Fleisch 2.700 g auf Arbeiterkarte, 1.950 g auf Grundkarte, 1.200 g auf Kinderkarte für 6- bis 9jährige, 1.650 g auf Kinderkarte für 9- bis 15jährige, zuzüglich 69 g täglich für Schulspeisung und Werksverpflegung. Das ergibt insgesamt pro Monat und Familie 9.150°g. Diese Menge entspricht nach Bereinigung der „überhöhten“ Knochenzulagen (-10 Prozent) etwa einer Westberliner Fleischmenge von 82.35 g oder rund 2.060 g pro Kopf. Bei Fett 1.600 g auf Arbeiterkarte, 1.350 g auf Grundkarte so-

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wie auf jeder der beiden Kinderkarten, zuzüglich 44 g täglich für Schulspeisung und Werksverpflegung. Das ergibt insgesamt 6.700 g pro Monat und Familie oder 1.675 g pro Kopf. Bei Zucker 1.800 g auf Arbeiterkarte, 1.500 g auf Grundkarte, 1.600 g auf Kinderkarte für 6- bis 9jährige, 1.650 g auf Kinderkarte für 9- bis 15jährige, zuzüglich 27 g täglich für Schulspeisung und Werksverpflegung. Das ergibt insgesamt 7.200 g pro Monat und Familie oder 1.800 g pro Kopf. Diese Zuteilungsmenge, die größer ist als es dem Verbrauch an reinem Haushaltszucker in Westberlin entspräche, wird in Ostberlin durch die stärkere Bevorratung mit selbst eingemachtem Obst und Gemüse – als Ausgleich für die qualitätsmäßig schlechtere und unregelmäßige Belieferung mit Obst und Konserven in den Wintermonaten – ausgeglichen. Bei Milch gibt es eine Belieferung nur auf Kinderkarten, und zwar 7,5 Liter für Kinder zwischen 6 und 9 Jahren und 3 Liter für Kinder zwischen 9 und 15 Jahren, zuzüglich Milch im Wert von etwa ein Drittel Liter Vollmilch täglich für Schulspeisung und Werksküche. Das entspricht einer monatlichen Gesamtmenge von 18 Liter oder 4,5 Liter pro Kopf (im Gegensatz zu Ostberlin wird in der sowjetischen Besatzungszone für 9- bis 15- jährige Kinder – auch heute noch – nur Magermilch abgegeben). Bei Kartoffeln beträgt die Zuteilung 5 Ztr. pro Kopf und Jahr. In der Haupterntezeit ist freier Zukauf gewöhnlich möglich, so daß ein mengenmäßiger Unterschied gegenüber Westberlin nicht besteht. Allerdings muß für Einkellerung gesorgt sein, da die Belieferung im Frühjahr im allgemeinen stockt und Frühkartoffeln überhaupt nicht oder nur zu stark erhöhten Preisen erhältlich sind. Diese Zuteilungsmengen preisbegünstigter Lebensmittel unterschreiten auch bei diesem Beispiel – bei einer Ostberliner Rentner- oder Arbeitslosenfamilie bzw. bei einer durchschnittlichen Arbeiterfamilie der sowjetischen Besatzungszone liegen die Zuteilungsmengen für Milch, Fleisch und Fett noch bedeutend niedriger – den effektiven Durchschnittsverbrauch eines Westberliner Rentner- oder Arbeitslosenhaushalts. Um in Ostberlin die gleichen Warenmengen verbrauchen zu können – die diesem Minimumverbrauch Westberlins entsprechen – müssen freie Waren in der HO hinzugekauft werden. Der sich hieraus für Ostberlin, aus billigen markenpflichtigen und teuren freien Waren, ergebende Durchschnittspreis ist bei Milch etwa gleich hoch, bei Fettwaren etwas höher und bei Fleisch etwas niedriger als in Westberlin. Bei Zucker muß unter Berücksichtigung der anderen Verbrauchsstruktur und der in Ostberlin höheren Konserven- und Zuckerwarenpreise im Durchschnitt ebenfalls ein gleiches Preisniveau angenommen werden. Der Gesamtverbrauch an Milch, Fleisch, Fett und Zucker (einschließlich Zuckerwaren, aber ohne Käse und sonstiger nur freikäuflicher Lebensmittel) stellt sich somit innerhalb dieses „Grundbedarfs“ in Ost- und Westberlin gleich teuer. Die Markenzuteilungen Ostberlins reichen also gerade aus, um das Ostberliner Kostenniveau so weit zu verbilligen, daß sich bei diesem Mindestverbrauch die wichtigsten Grundnahrungsmittel nicht teurer, aber auch nicht billiger als in Westberlin stellen.

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Der Zwangsbedarf: Infolge der Kartenzuteilungen und der verbilligten Werksverpflegung und Schulspeisung wird für eine Arbeitnehmerfamilie der Lebensmittelaufwand für den Grund- oder Zwangsbedarf in Ostberlin – im Verhältnis zu den sonst aufzuwendenden Freien Preisen – stark ermäßigt. Da auch der übrige „Aufwand“ für Miete, Gas, Strom und Heizung in Ostberlin niedriger und der größte Teil der übrigen zum „Zwangsbedarf“ zählenden Verbrauchsgüter in Ostberlin gleich teuer oder nur geringfügig teurer ist als in Westberlin, ergibt es sich, daß auch der gesamte Grundbedarf in Ostberlin nur wenig teurer ist als in Westberlin. Bei der Bestimmung des Zwangsbedarfs nach Höhe und Zusammensetzung des Warenkorbs kann nach verschiedenen Methoden verfahren werden. Bei der vorliegenden Untersuchung wurde davon ausgegangen, daß die Westberliner Sozialunterstützungsrichtsätze ein Einkommensminimum fixieren, das praktisch nicht unterschritten werden kann. Erreicht ein Westberliner Rentner oder Arbeitsloser oder gar ein Arbeitnehmer diese Richtsätze für sich oder seine Familie nicht, so wird sein Einkommen auf Anforderung bis zu dieser Höhe aufgestockt. Diese Richtsätze betragen pro Monat für den Hauptunterstützten (Familienvorstand) 60,DM. Für jedes weitere mitunterstützte Familienmitglied über 16 Jahre (Ehefrau oder ältere Kinder) 42,- DM, für jedes weitere mitunterstützte Familienmitglied unter 16 Jahren 33,- DM sowie Mietbeihilfen nach der Hohe der Miete und der Größe des Haushalts bis zu 50,- DM. Bei einer vierköpfigen Familie – wie sie für die Berechnung der Kartensätze Ostberlins fixiert wurde – und einer Durchschnittsmiete von 42,- DM würde der Gesamtrichtsatz z. B. 210,- DM je Monat betragen. Der bei diesem Einkommen erreichte Lebensstandard ist der niedrigste, der in Westberlin überhaupt möglich ist. Es ist selbstverständlich, daß dieses Einkommen nur den zwingendsten Bedarf an Lebensmitteln und Ver- und Gebrauchsgütern einschließlich Dienstleistungen deckt. Die Verbrauchsstruktur, die sich bei dieser Einkommenshöhe entsprechend der Gewöhnung, der Tradition und der klimatischen und geographischen Bedingungen Westberlins eingestellt hat, wurde – da hierfür über mehrere Jahre ermittelte Erfahrungswerte vorliegen – als „Zwangsbedarf“ den weiteren Berechnungen zugrunde gelegt. Wird dieser durch den Sozialunterstützungsrichtsatz in seiner nominellen Höhe für Westberlin fixierbare Zwangsbedarf zu den jeweiligen Ostpreisen berechnet – die auf Karten erhältlichen Lebensmittel zu den verbilligten Zuteilungspreisen, der Restbedarf zu den Freien Preisen – so ergibt es sich, daß der entsprechende, in Menge und Zusammensetzung gleiche Ostberliner „Warenkorb“ nur um 15,8 Prozent teurer ist als in Westberlin. Der Ostberliner Lebenskostenindex beträgt somit für den Bereich des Zwangsbedarfs gegenüber Westberlin 115,8 Prozent. Insgesamt müssen – bei diesem Beispiel – in Ostberlin 33,10 DM mehr aufgewendet werden, um den gleichen Mindestbedarf an Nahrungsmitteln, Wohnung und Bekleidung zu befriedigen. Im Bereich dieses Zwangsbedarfs, der zugleich alle Markenzuteilungen einer Arbeiterfamilie und alle sonstigen preisbegünstigten Waren Ostberlins umschließt, besteht zwischen den Lebenshaltungskosten in West- und Ostberlin nur ein geringer Unterschied. Die Differenz erhöht sich jedoch – infolge geringerer

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Zuteilungsmengen und dementsprechend größerem freien Zukauf bei gleichem Mengenverbrauch – gegenüber einem Ostberliner Rentnerhaushalt oder einer durchschnittlichen Arbeiterfamilie der sowjetischen Besatzungszone auf + 25 bis + 50 Prozent, je nach Kartengruppe. Der Wahlbedarf: Der Einkommensteil, der den Zwangsbedarf (Sozialunterstützungsrichtsatz für Westberlin plus 15,8 Prozent für Ostberlin) überschreitet, ist in seiner grundsätzlichen Verwendung nicht mehr derartig festgelegt und kann „wahlweise“ mehr für Bekleidung, Hausrat oder Genußmittel oder zur weiteren Verbesserung der Ernährung herangezogen werden. Dieser in seiner Verwendung frei verfügbare Einkommensteil wird daher in der Regel auch für andere Güter ausgegeben. Langjährige, vom Statistischen Landesamt Westberlins durchgeführte Verbrauchsanalysen lassen erkennen, in welchem Ausmaß vor allem die Güterzusammensetzung dieses „Wahlbedarfs“ von dem zuerst fixierten Zwangsbedarf abweicht. Es kann daher ziemlich genau bestimmt werden, in welchem Verhältnis das Westberliner Einkommen auf die einzelnen Warengruppen des Wahlbedarfs – bei einem Einkommen zwischen 250,- und 500,- DM verteilt wird. Werden diese, einem bestimmten Einkommen entsprechenden Gütermengen zu den jeweiligen Ostberliner Preisen berechnet, so zeigt es sich, daß das Ostberliner Einkommen um 125,8 Prozent größer sein müßte, damit die gleiche Warenmenge gekauft werden kann. Der Ostberliner Lebenshaltungskostenindex beträgt somit für den Bereich des Wahlbedarfs gegenüber Westberlin 225,8 Prozent. Für den gleichen Ostmarkbetrag können nur 44,4 Prozent der Warenmenge gekauft werden, die für den entsprechenden Westmarkbetrag erhältlich gewesen wären. Es ist bekannt, daß auch die Zusammensetzung des Wahlbedarfs trotz aller individuellen Unterschiede in seiner Tendenz gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, daß sich die Struktur des Wahlbedarfs im Durchschnitt größerer Bevölkerungsgruppen sowohl bei steigendem Einkommen als auch bei Änderung der Preisrelationen zwischen den einzelnen Warengruppen verändert. Wird die Verteilung eines entsprechenden Ostberliner Einkommens auf die einzelnen Verbrauchssektoren untersucht, so zeigen sich erwartungsgemäß nominell andere Verteilungsquoten. Werden jedoch die den Geldwerten zugrundeliegenden Warenwerte berücksichtigt, so ergibt sich eine der Westberliner Verbrauchsstruktur fast analoge Zusammensetzung des Warenkorbs. Das heißt: Bei einem in Ost- und Westberlin gleichen für den Wahlbedarf verfügbaren Geldbetrag werden in Ostberlin über die bereits im Zwangsbedarf enthaltenen Warenmengen hinaus im Durchschnitt nur knapp halb so viele Güter hinzugekauft wie in Westberlin. Es ergeben sich jedoch in den einzelnen Verbrauchssektoren unterschiedliche Abweichungen. Wesentlich geringer als in Westberlin ist der Zukauf an Milch, Eiern, Käse und Obst. Ungefähr halb so groß ist der Zukauf an Gemüse, Feingebäck, sonstigen Getränken und Gewürzen. Größer als die Hälfte des Westberliner Zukaufs ist der Ostberliner Wahlbedarf bei Fett, Fleisch, Nährmitteln, Brot, Kartoffeln und Zucker, wobei die letzten drei Gruppen den Westberliner Wahlbedarf auch in ihrer absoluten Größe überschreiten dürften. Bei den übrigen Verbrauchsgütern ist mengenmäßig der Ostberliner Wahlbedarf bei Hausrat, Sportbekleidung

298

und modisch bedingten Kleidungskäufen wesentlich geringer als in Westberlin. Ungefähr die Hälfte des über den Zwangsbedarf hinausgehenden Westberliner Wahlbedarfs wird bei Gas, Heizung und Beleuchtung in Anspruch genommen. Mehr als die Hälfte des Westberliner Wahlbedarfs wird benötigt für sonstige Bekleidungsgüter, für Reinigung, Körperpflege, Genußmittel und Unterhaltung. Wird der für den Wahlbedarf in Ostberlin sich ergebende Warenkorb umgekehrt zu Westpreisen berechnet, dann ergibt sich jedoch die überraschende Feststellung, daß wiederum dieselbe Gütermenge in Westberlin nur etwa 45 Prozent des Ostmarkbetrages kostet, daß für einen gleichen Betrag in Westberlin also um 125 Prozent mehr Güter und Dienste in Anspruch genommen werden können. Diese Feststellung muß überraschen. Sie ist dadurch zu erklären, daß z. B. die Ostberliner Bevölkerung infolge der relativ höheren Milch- und Käsepreise diese Waren zwar noch über die allgemeine Verbrauchsminderung hinaus einschränkt, während sie infolge der relativ niedrigeren Preise bei Brot, Nährmitteln, Zucker und Kartoffeln stärker in diese Waren ausweicht. Ähnliches gilt für die größeren Aufwendungen für Unterhaltung. Andererseits erhöht sich zwangsläufig bei geringerem Mengenverbrauch der Anteil an Fett, Fleischwaren und Bekleidung. Das heißt: Der Verbrauch dieser Waren wird bei einem geringeren Realwert des Wahlbedarfs nicht im gleichen Verhältnis wie die übrigen Waren eingeschränkt. Somit gleicht sich der Mehr- und Minderverbrauch relativ billigerer und teuerer Waren in Ostberlin beim Kostenvergleich gegenseitig aus. Für die Bestimmung der durchschnittlichen Preis- bzw. Kostenrelation ist es somit gleichgültig, ob die Ost- oder die Westberliner Verbrauchsstruktur stärker berücksichtigt wird. Die an Hand der Westberliner Verbrauchsstruktur gefundene Kostendifferenz (100 Prozent West zu 225 Prozent Ost) bzw. Verbrauchsdifferenz (100 Prozent West zu 44 Prozent Ost) darf somit innerhalb der üblichen Arbeitseinkommen von 250 bis 500 DM als gleichbleibend angenommen werden. Die Kaufkraft der Arbeitsverdienste: Im Bereich des Wahlbedarfs hat somit eine DM-Ost nur die Kaufkraft von 44 West-Pfennig, während für den Zwangsbedarf noch eine Kaufkraftrelation von einer DM-Ost zu 86 West-Pfennig bestand. Der Wahlbedarf ist in Ostberlin infolge der anderen Warenstruktur und der Tatsache, daß sämtliche Waren frei gekauft werden müssen – gemessen an den Westberliner Preisverhältnissen – im Durchschnitt pro Wareneinheit fast doppelt so teuer wie der Zwangsbedarf. Mit der gegenwärtigen Wechselkursrelation haben diese Preisrelationen selbstverständlich nichts gemein. Der Wechselkurs wird in seiner Höhe nicht durch das innerhalb des jeweiligen Währungsgebietes gegebene Kaufkraftverhältnis der DM-Ost zur DM-West, sondern durch das Angebot oder die Nachfrage nach Ost- und Westmark in den Wechselstuben bestimmt. „Fluchtkapital“ aus Ostberlin und der SBZ sowie die dringende Nachfrage nach Westberliner Gütern, die in der SBZ überhaupt nicht erhältlich sind und für die noch beim Fünffachen des Westpreises Bedarf besteht, sind hierfür bestimmend. Für die Beurteilung der sozialen Verhältnisse ist also niemals die Kursrelation, die in den letzten Jahren zwischen 1:4 und 1:5 schwankte, sondern nur die Kaufkraftrelation von 1:1,15 bis

299

1,50 beim Zwangsbedarf oder 1:2,25 beim Wahlbedarf entscheidend, wobei zu berücksichtigen wäre, daß bei den höheren Einkommen – die bei dieser Arbeit nicht mituntersucht wurden – auch die Kaufkraftrelation des Wahlbedarfs noch stärker abfallen dürfte. Je nach der Höhe der Arbeitsverdienste verändert sich das Verhältnis zwischen dem Einkommensteil (210,00 DM West bzw. 243,10 DM Ost), der für den Zwangsbedarf festgelegt ist, und dem Einkommensteil, der darüber hinausgehend frei verfügbar ist (Wahlbedarf). Bei einem Einkommen von 210,- DM, bei dem kein Geldbetrag für den Wahlbedarf verfügbar bleibt, ist das Verhältnis 1:0, bei einem doppelt so hohen Einkommen von 420,- DM ist das Verhältnis dementsprechend 1:1, bei einem dreifachen Einkommen von 630,- DM steigt das Verhältnis auf 1:2. Je nach der Höhe der Arbeitsverdienste verändert sich somit auch die Kaufkraft der Ostberliner Arbeitseinkommen im Vergleich zu gleich hohen Einkommen Westberlins. Bei einem Einkommen von 210,- DM beträgt die Kaufkraft in Ostberlin, analog der Kaufkraftrelation des Zwangsbedarfs, 86,4 Prozent (Westberlin = 100). Bei einem doppelt so hohen Einkommen (420,- DM) sinkt die Ostberliner Kaufkraft im Vergleich zu einem gleich hohen Westberliner Einkommen, auf Grund des größeren Anteils des Wahlbedarfs, auf insgesamt 68,7 Prozent ab. Bei einem dreimal so hohen Einkommen (630,- DM) würde die Kaufkraft des Ostberliner Verdienstes infolge des noch größeren Anteils des Wahlbedarfs auf 60,6 Prozent absinken. Bei einem viermal so hohen Einkommen (840,- DM) würde die Ostberliner Kaufkraft – wenn alle sonstigen Voraussetzungen die gleichen blieben – nur noch 56,6 Prozent betragen. Allerdings dürfte bei diesem letzten Beispiel durch die üblicherweise veränderte Struktur des Wahlbedarfs bei einem so hohen Einkommen die Kaufkraft noch niedriger sein, wenn nicht andererseits bei einem derartigen Einkommen für Ostberliner Partei- und Staatsfunktionäre zusätzliche Lebensmittelzuteilungen und sonstige Vergünstigungen eine Erhöhung der Kaufkraft herbeiführen würden. Bei einem Reallohnvergleich gleichartiger Berufe ist ferner zu berücksichtigen, daß der Ostberliner Reallohn über die durch die Einkommenshöhe bestimmte Relation ansteigt, wenn das Ostberliner Verdienstniveau über dem Westberlins liegt (Schwerindustrie und Facharbeiter), andererseits unter diese Relation absinkt, wenn das Ostberliner Verdienstniveau unter dem Westberlins bleibt (Leichtindustrie und ungelernte Arbeiter). Die effektiven Verdienstverhältnisse in Ost- und Westberlin führen bei dem im Jahre 1950 in beiden Stadtgebieten gleich hohen Durchschnittseinkommen von 336,- DM entsprechend den unterschiedlichen Lohnsteuersätzen und einer durchschnittlichen Familiengröße von 2 bis 3 Personen dazu, daß die Kaufkraft der Ostberliner Arbeitnehmerverdienste im Durchschnitt um 29 Prozent niedriger ist als in Westberlin. Der Ostberliner Reallohnindex beträgt somit gegenüber Westberlin im Durchschnitt 71 Prozent, wobei selbstverständlich das Verhältnis von Branche zu Branche und von Beruf zu Beruf variiert. Etwas höher als 71 Prozent ist in Ostberlin der Reallohn infolge der günstigeren Lohnrelation in der Schwerindustrie (etwa 82 Prozent im Durchschnitt aller Arbeitnehmer dieser Branche). Etwas niedriger dagegen ist der Reallohn Ostber-

300

lins infolge der besonders ungünstigen Lohnrelation im Baugewerbe (etwa 66 Prozent. im Durchschnitt aller Bauarbeiter). Allgemein dürfte jedoch der Ostberliner Reallohn nur wenig um diesen Durchschnittsbetrag von 71 Prozent pendeln (Tabelle IV, Spalte 5). Zwar ist bei den Facharbeitern die nominelle Lohnrelation in Ostberlin günstiger, dafür sind aber wiederum die Arbeitsverdienste höher und somit ist der Anteil des Wahlbedarfs größer. Bei dem Gros der übrigen Arbeitnehmer, deren Verdienste unter dem Durchschnitt liegen, könnte zwar der größere Anteil des Zwangsbedarfs die Kaufkraftdifferenz verringern, dafür ist aber wiederum die nominelle Lohnrelation gegenüber den entsprechenden Westberliner Verdiensten ungünstiger.

301

Der Wahlbedarf einer Arbeiterfamilie in West- und Ostberlin in Prozent vom Sozial-Unterstützungs-Richtsatz Westberlins (Wahlbedarf in Prozent vom Zwangsbedarf = 100)

302

Der Lebensstandard in Ost und West: Die Unterschiede in der Lebenshaltung zwischen Ost- und Westberliner Arbeitnehmerfamilien, die sich aus der unterschiedlichen Kaufkraft der jeweiligen Arbeitsverdienste ergeben, werden noch deutlicher, wenn nur der über den Zwangsbedarf hinausgehende frei verfügbare Einkommensteil betrachtet wird. Da der Zwangsbedarf in beiden Fällen (210,DM West bzw. 243,10 DM Ost) festliegt und in Ostberlin um 15 Prozent teurer ist als in Westberlin, ist bei einem in beiden Gebieten gleich hohen Gesamteinkommen der frei verfügbare Einkommensteil in Ostberlin – unabhängig von der Tatsache, daß die Kaufkraft dieses frei verfügbaren Einkommens um 55,6 Prozent niedriger ist als in Westberlin auch nominell kleiner als in Westberlin. Da das durchschnittliche Verdienstniveau im Jahre 1955 in beiden Teilen Berlins gleich hoch war, ist somit auch der effektive Wahlbedarf in Ostberlin nominell im Durchschnitt kleiner als in Westberlin. Eine Ausnahme besteht lediglich in der Schwerindustrie und bei einzelnen Fachspezialisten, da hier die gegenüber Westberlin höheren Nettoverdienste den Unterschied in der nominellen Höhe des Zwangsbedarfs ausgleichen. Andererseits sinken die Arbeitsverdienste der Hilfsarbeiter in weiten Bereichen der Wirtschaft so stark ab, daß deren Einkommen zum Teil nicht einmal zur Deckung des Zwangsbedarfs ausreichen. Wird der durchschnittliche Nettoverdienst aller Ost- und Westberliner Arbeitnehmer – bei einer angenommenen Familiengröße von 2 bis 3 Personen – dieser Betrachtung zugrunde gelegt, so kann festgestellt werden, daß der Wahlbedarf in Westberlin im Durchschnitt etwa 120,- DM je Familie beträgt und demnach den Zwangsbedarf um 68 Prozent überschreitet. Der Lebensstandard einer durchschnittlichen Westberliner Arbeiterfamilie übersteigt das Existenzminimum des Sozialunterstützungsrichtsatzes also durchschnittlich um 68 Prozent. Demgegenüber beträgt bei gleicher Berechnung der in Ostberlin pro Familie zur Verfügung stehende Wahlbedarf nur 90,- DM Ost. Da dieses Einkommen gegenüber den Westmarkverdiensten jedoch nur eine Kaufkraft von 44,4 Prozent besitzt, entspricht dies einem Wahlbedarf von 40,- DM West. Der Lebensstandard einer Ostberliner Arbeiterfamilie übersteigt somit den Westberliner Sozialunterstützungsrichtsatz um durchschnittlich nur 22 Prozent. Mit anderen Worten, bei einem gleich hohen Verdienst – wie er für Ost- und Westberlin im Jahre 1955 tatsächlich feststellbar war ist die über den Zwangsbedarf hinaus kaufbare Gütermenge in Westberlin ihrem realen Wert nach genau dreimal so groß wie in Ostberlin. Umgekehrt: ein Ostberliner Arbeiter kann sich bei gleichem Durchschnittseinkommen nur ein Drittel der zum Wahlbedarf gehörenden Gütermenge kaufen, die sein Westberliner Kollege für den gleichen Verdienst erhält. Das zwingt die Ostberliner Arbeitnehmer dazu, sich auch innerhalb des Wahlbedarfs nur auf die vordringlichsten Güter zu beschränken. Hausrat und Wohnungseinrichtungen, die in Westberlin in den letzten Jahren im Verbrauch stark zugenommen hatten (der Verbrauch stieg vom 2. Halbjahr 1951 bis zum 2. Halbjahr 1954 auf das Siebenfache an), bleiben in Ostberlin weiterhin begrenzt, sogenannte Güter des „gehobenen“ Lebensstandards, wie elektrische Küchengeräte, fallen für die Lebenshaltung eines Ostberliner Arbeiters damit praktisch vollkommen aus.

303

Wird dieser Vergleich auf die Sowjetzone und die Bundesrepublik ausgedehnt, so ist festzustellen, daß der durchschnittliche Nettoverdienst der sowjetischen Besatzungszone in seiner realen Kaufkraft den Westberliner Sozialunterstützungsrichtsatz sogar nur um 16 Prozent überschreitet, während die reale Kaufkraft der Ostberliner Arbeiterverdienste im Durchschnitt noch um 22 Prozent, die der Westberliner Arbeiter um 68 Prozent und die der westdeutschen Arbeiter sogar um 77 Prozent über dem Existenzminimum des Zwangsbedarfs liegt. Trotz längerer Arbeitszeit und stärkerer physischer Arbeitsbeanspruchung liegt der durchschnittliche Arbeitsverdienst in der sowjetischen Besatzungszone in seinem realen Wert nur so viel über dem Westberliner Sozialunterstützungsrichtsatz, wie es zur Aufrechterhaltung der vollen Arbeitsleistung bei schwerer körperlicher Arbeit notwendig ist. Wird die Kaufkraft der westdeutschen Arbeitsverdienste insgesamt gleich 100 gesetzt, so beträgt der Reallohn in Westberlin 95 Prozent, in Ostberlin 68 Prozent, aber in der Sowjetzone nur noch 64 Prozent. Der Gegensatz zwischen den beiden Gesellschaftsformen wird also in seinem ganzen erschreckenden Umfang erst deutlich, wenn auch die Tatsache berücksichtigt wird, daß der Westberliner Lebensstandard, infolge der von seiten der DDR künstlich hervorgerufenen Wirtschaftsschwierigkeiten niedriger ist als er, gemessen am Beispiel der Bundesrepublik — unter normalen Bedingungen sein würde, während der Ostberliner Lebensstandard aus rein propagandistischen Gründen höher gehalten wird als es diesem System, gemessen an den Lebensbedingungen der SBZ, an sich entspräche. Der Vergleich zwischen Ost- und Westberlin stellt sich somit für das sowjetische Gesellschaftssystem günstiger als dies unter normalen Bedingungen der Fall wäre. Allein dieser Vergleich reicht jedoch aus, um die elementaren Gegensätze innerhalb der beiden Gesellschaftsformen zu charakterisieren. Die Kaufkraft des freiverfügbaren Einkommens in Prozent des Zwangsbedarfs im Durchschnitt aller Arbeiterfamilien (Drei-Personen-Haushalt). In der Sowjetzone, in Ostberlin, in Westberlin und in der Bundesrepublik.

304

80 70

80

Nomineller Geldwert

70

Realer Kaufwert

60

60

50

50

40

40

30

30

20

20

10

10

0

Sowjetzone

OstBerlin

WestBerlin

Bundesgebiet

0

Nachtrag: Im August 1955 konnten die Voruntersuchungen zu dieser Denkschrift abgeschlossen werden. Sämtliche in dieser Arbeit verwendeten Zahlenangaben beziehen sich daher – sofern nicht ausdrücklich andere Jahreszahlen genannt sind – auf Erhebungen oder auf Kontrollvergleiche zu früheren Erhebungen, die in den Monaten April bis August 1955 dieses Jahres durchgeführt wurden. Dieser Vergleich der sozialen Situation in Ost- und Westberlin kennzeichnet somit den Stand von Mitte 1955. Die Berechnungen, die dieser sozialen Analyse zugrunde liegen, beruhen ausschließlich auf eigenen Erhebungen oder eigenen Auswertungen offizieller Verlautbarungen und Statistiken. Da infolge der Ostberliner Verhältnisse Einzelerhebungen, sowohl auf dem Lohn- wie auf dem Preissektor, auffallend starken Streuungen unterliegen, waren wir stets bemüht, durch eine ausreichend große Zahl von Einzelerhebungen zu repräsentativen Durchschnittswerten zu kommen. Das somit aus einer Vielzahl einzelner Untersuchungen abgeleitete Gesamtbild konnte wiederum an verschiedenen anderen Untersuchungsergebnissen kontrolliert werden. Beim Preisvergleich wurden aus dem gleichen Grund fast nur Durchschnittswerte aus mehreren, über einige Monate verteilten Ermittlungen verwendet. Auf diese Weiße konnten zufällige Preisschwankungen oder ungenaue Preisrelationen, die auf ungleiche Warenqualitäten zurückzuführen waren, weitgehend ausgeschaltet werden. Bei den teilweise zur Abrundung des Gesamtbildes erforderlichen Zuschätzungen waren wir stets bemüht, in Zweifelsfällen die für Ostberlin günstigsten Voraussetzungen zu unterstellen. Da ferner die industriellen Berufe im Vordergrund dieses Vergleichs standen und innerhalb dieser Berufe die Facharbeiter stärker berücksichtigt wurden als die übrigen Arbeitnehmergruppen,

305

erscheinen auch von dieser Seite her die Ostberliner Verhältnisse relativ zu günstig. Wir haben diese Voraussetzungen und Vergleichsbasen jedoch gewählt, weil wir überzeugt sind, daß die hierdurch aufgezeigten Gegensätze in der Sozialstruktur Ost- und Westberlins die objektivste Bewertung zulassen und von diesen für Ostberlin relativ günstigen Voraussetzungen nur dann abgegangen werden darf, wenn ausreichend repräsentative Gegenbeweise vorliegen. Aus dem gleichen Grund wurde bei der vorliegenden Arbeit auch davon Abstand genommen, den gesamten, für ein bestimmtes Einkommen fixierbaren Warenkorb – wie bei zeitlichen und räumlichen Vergleichen der Lebenshaltungskosten sonst üblich ist – als eine Einheit dem Vergleich zugrunde zu legen. Bei diesem an sich üblichen Verfahren wäre die relativ geringe Kostendifferenz im Bereich des Zwangsbedarfs verschleiert worden. Andererseits läßt sich die Veränderung der Kaufkraftrelation mit der Veränderung der Einkommenshöhe am deutlichsten durch die der gespaltenen Ostberliner Marktstruktur entsprechende Aufteilung des Warenkorbs aufzeigen, zumal die Abweichungen in der Verbrauchsstruktur des Wahlbedarfs innerhalb der hier untersuchten Einkommen unberücksichtigt bleiben konnten. Da es schließlich möglich war, unsere Ergebnisse sowohl mit früheren Arbeiten als auch mit anderen Westberliner Untersuchungen und unveröffentlichten amtlichen Statistiken der SBZ zu vergleichen und die dabei zutage getretenen Differenzen durch zusätzliche Ermittlungen erneut zu überprüfen, durften wir nach Abschluß aller Vorarbeiten überzeugt sein, daß diese von uns erstellten Unterlagen ausreichend genau sind, um die vorliegenden Aussagen dieser Denkschrift vollauf zu rechtfertigen. Berlin, den 25. September 1955. RUDOLF HENSCHEL

306

IV. Die von Stalin gesteuerte Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) transformierte die Sowjetische Besatzungszone nach sowjetischem Modell 1. Die wirtschaftliche Ausgangslage in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands 1945 im Vergleich zu 1936: Beste Ausgangslage der vier Besatzungszonen Die meisten auf 1936 bezogenen Statistiken stammen aus offiziellen deutschen Veröffentlichungen wie z. B. „Die Deutsche Industrie, Gesamtergebnisse der amtlichen Produktionsstatistik“ (für 1936), Berlin 1939 und dem „Statistischen Jahrbuch“, dessen letzte Ausgabe 1941/42 kaum über das Berichtsjahr 1940 hinausreicht.1 „Im Mai 1945 war Deutschland nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende. ... Allgemein wird geschätzt, daß die unmittelbaren Kriegseinwirkungen die Industriekapazität des deutschen Gebietes innerhalb der durch das Potsdamer Abkommen gesetzten Grenzen auf den Stand von 1936 reduziert hatten, daß also nur die zusätzlichen Investitionen von 1936 bis 1944 zerstört wurden. Dies trifft vor allem für die Sowjetzone zu, während die Zerstörungen in der britischen Zone etwas über dem Durchschnitt lagen, die Kriegsschäden in der amerikanischen Zone aber etwas geringer waren. Die landwirtschaftliche Anbaufläche war 1945 eher größer als 1936. Die Annahme war also gerechtfertigt, daß die zusammengebrochene Industrie- und die Agrarproduktion von 1945 auch ohne Neuinvestierungen wieder einigermaßen gesteigert werden könnte“.2 „Gemessen an der Gesamterzeugung Vorkriegs-Deutschlands, also einschließlich des Gebietes ostwärts der Oder-Neiße-Linie, betrug die Lebensmittelerzeugung der Zone vor dem Kriege etwa 30 Prozent. ... Der Bevölkerungsanteil der Zone betrug etwa 22 Prozent. Das heißt, die SBZ (immer ausschließlich Berlins gerechnet) war in der Lebensmittelversorgung mit einer Erzeugung von 2900 bis 3000 Kalorien je Kopf so gut wie autark“.3

1

Dokumente und Berichte des Europa-Archivs. Bd. 3. Wirtschaftsstatistik der deutschen Besatzungszonen 1945-1948 in Verbindung mit der deutschen Produktionsstatistik, Oberursel (Taunus) 1948. Vorbemerkung des Herausgebers Wilhelm Cornides. S. 1 f. Harmssen, Wilhelm: Lebensstandard, Versuch einer Wirtschaftsbilanz, 1947. Gleitze, Bruno: Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschlands, Berlin 1956.

2

Nettl, J. Peter: Die deutsche Sowjetzone bis heute. Politik. Wirtschaft. Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1953, S. 125.

3

Wirtschaftsstatistik, S. 38.

307

Grundzahlen der deutschen Wirtschaft 1936 für das Gebiet der vier Besatzungszonen

Sowjetzone 4 Besatzungszonen

Fläche in Mill. ha v. H. 10,9 30,5 35,8

100

Ackerland in Mill. ha v. H. 5,1 36,7 13,9

100

Bevölkerung in Mill. v. H. 18,9 32,7 58,8

100

Industrie-Kapazität in Mrd. RM v.H. 11,2 34,9 32,0

100

Vor 1939 betrug das Volkseinkommen in der Sowjetzone 21 Milliarden RM oder 36,2 v. H. Davon entfielen allein 7 Milliarden oder 12,1 v. H. auf Berlin. Die Gesamtzahl der Beschäftigten betrug 1939 30,1 Millionen; hiervon waren in der Sowjetzone einschließlich Berlin 10 Millionen tätig. Die Sowjetzone umfaßte also etwas weniger als ein Drittel des Gebietes der vier Besatzungszonen und seiner Bevölkerung; ihr Anteil am Ackerland und an der Produktionskapazität, den Quellen des Volkseinkommens vor 1939, liegt aber etwas über einem Drittel des Gesamtwertes. Von allen vier Zonen war 1945 ihre wirtschaftliche Grundlage am meisten ausgeglichen, da sie nach der französischen Zone die größte Agrarkapazität und nach der britischen Zone die größte Industriekapazität besaß, wie folgende Tabelle zeigt: Anteile der wichtigsten Industriegruppen am Export aus dem Gebiet der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ) 19364 Gesamte Industrie Gesamte Industrie Keramische- und Glasindustrie Textilindustrie Druck- und Papierverarbeitung Nahrungs- und Genußmittelindustrie Maschinenbau Papier-, Pappen-, Zellstoff- und Holzstoffindustrie Feinmechanische und optische Industrie Bauindustrie und sonstige Industriezweige Metallwarenindustrie und verwandte Gewerbe Nichteisenmetallindustrie Bekleidungsindustrie Industrie der Öle und Fette, Futtermittel Kautschuk- und Asbestindustrie Chemische und chemisch technische Industrie Holzverarbeitende Industrie Fahrzeugindustrie

4

SBZ in v. H. 22,5 44,6 43,7 38,5 36,9 33,7 30,1 29,9 27,3 23,1 22,4 22,1 22,1 21,1 21,1 21,1 20,7

Position im Export der SBZ 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 11 12 13 13 14

Dokumente und Berichte des Europa-Archivs. Bd. 3. Wirtschaftsstatistik der deutschen Besatzungszonen 1945-1948 in Verbindung mit der deutschen Produktionstechnik der Vorkriegszeit, Oberursel 1948, S. 55.

308

Berlin hatte 1936 einen Anteil von 6,8 v. H. der deutschen Exporte. Dabei ragten heraus: Bekleidungsindustrie: Elektroindustrie: Feinmechanische und optische Industrie: Maschinenbau:

58,8 v. H. 37,2 v. H. 9,2 v. H. 8,4 v. H.

Aus: Nettl, J. Peter: Die deutsche Sowjetzone bis heute. Politik. Wirtschaft. Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1953, S. 124.

309

„Die SBZ war Hauptlieferant für Braunkohle, optische Präzisionsinstrumente, Melasse, Papier, Nichteisen-Metalle und deren Fabrikate sowie Textilmaschinen und Textilien (vor allem Strümpfe), und sie hatte umfangreiche Webereien und Färbereien. Im Binnenhandel erhielt das Gebiet der SBZ 1936 Steinkohlen, Stahl und Produkte des Maschinenbaus aus den späteren Westzonen. Die SBZ war der Haupterzeuger für Kartoffeln und Roggen (38 v. H. der Potsdam-deutschen Erzeugung von 1936). Sie besaß 48 v. H. aller Schafe und 23 v. H. des Milchviehbestandes von Potsdam-Deutschland. Die Sowjetzone verfügte also nicht nur über eine leistungsfähige Agrarwirtschaft, die den verhängnisvollen, aus der sinkenden Industrie-Erzeugung folgenden Mangel an Nahrungsmitteln abfangen konnte, sondern ihre Industrie befand sich auch im Hinblick auf zukünftige Ausfuhren in einer günstigen Lage, da sie wesentliche Ausfuhrgüter der Vorkriegszeit erzeugte. 1936 waren die Sowjetzone und Berlin mit 1,453 Milliarden RM oder 32 v. H. an der deutschen Gesamtausfuhr von 4,477 Milliarden RM aus dem Potsdamgebiet beteiligt. Das Hauptproblem der Zone war der Mangel an bestimmten Rohstoffen; aber für den Augenblick wie auch auf längere Sicht war die Zone eindeutig besser daran als das britische oder das amerikanische Besatzungsgebiet. Über die Möglichkeiten einer Unabhängigkeit vom Außenhandel gibt ein Blick auf die Verteilung der Industrien in Europa nach dem Kriege Aufschluß. Danach mußte Deutschland angesichts des Zusammenbruchs seines Außenhandels als ausgesprochenes Industrieland damit rechnen, daß sofort seine Nahrungsmittel knapp werden würden“.5 Die Verflechtung der Wirtschaft im Deutschen Reich wurde erstmals auf geographischen Karten von Ernst Tiessen dargestellt.6 Bruno Gleitze zeigt die Gründe für die hohe wirtschaftliche Verflechtung Ostund Westdeutschlands auf. „Wenn die deutschen Teilräume nach 1945 unter dem Zwange einer starken Komplettierung ihrer Kapazitäten gestanden haben, … dann liegen die Gründe in der hohen Verflechtung miteinander, die die deutschen Wirtschaftsgebiete bis dahin aufwiesen. Gewisse Umbildungen, die in dem Jahrzehnt vor 1945 bei den industriellen Kapazitäten unter wehrwirtschaftlichen Gesichtspunkten erfolgten, mögen den marktwirtschaftlichen Standorts-Vorteilen nicht immer gerecht worden sein. Die Grundstruktur der deutschen Volkswirtschaft hatte sich aber in der organischen Entwicklung der in Jahrzehnten gewachsenen deutschen Teilwirtschaften herausgebildet; ihre hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit lag in den regional arbeitsteilig gut aufeinander abgestimmten 5

Nettl, J. Peter: Die deutsche Sowjetzone, S. 126.

6

Tiessen, Ernst: Deutscher Wirtschaftsatlas. Herausgegeben vom Reichsverband der Deutschen Industrie. Mit einem Geleitwort vom Generaldirektor Dr. Albert Vögler, Berlin 1929: Die ersten Karten entstanden Anfang 1917. „Die Gegenüberstellung der Karten schon der ersten Kriegsjahre mit der Karte von 1913 entschleierte in fast gesetzmäßiger Strenge die Wirkung der Seesperre als die Hauptursache der in den letzten Kriegsjahren furchtbar auf der deutschen Wirtschaft lastenden Verkehrsnot“. (Tiessen S. VII.)

310

Marktbeziehungen begründet“.7 Die drei Westzonen lieferten 1936 36,5 v. H. ihrer Produktion in das Gebiet der SBZ/DDR und bezogen 39,7 v. H. der gesamten Warenmenge von dort. Wertmäßig handelt es sich dabei um 5,4 Milliarden RM, wobei die Lieferungen und Bezüge ziemlich ausgeglichen waren.8 Die vergleichsweise gute Ausgangslage in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands in Industrie und Landwirtschaft wurde 1945/48 zerstört. Speziell in den Ländern Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen existierte eine Industrie mit vielen innovativen Mittelstandsunternehmern. Das Eigentum an den privaten Produktionsmitteln wurde konfisziert und als Volkseigentum politisch natural durch einen Zentralplan ineffizient gesteuert. 2. Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD): Transformation von Staat, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft in der SBZ (1945-1949) Von Jan Foitzik Im ersten Halbjahresbericht des Oberbefehlshabers der sowjetischen Besatzungstruppen und Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), G. K. Schukow,9 an Stalin vom 20. Dezember 1945 hieß es u. a., „daß die Zonenteilung in der ersten Zeit zur Unterbrechung der Arbeit der meisten Betriebe geführt habe, weil die Produktionskooperation gestört war“. Daher war es „Hauptaufgabe der SMAD ab dem ersten Tag, eine neue Produktionskooperation innerhalb der SBZ statt früher mit anderen Zonen zu schaffen“.10 Im Dezember 1946 wurde in einer Denkschrift der SMAD über Wirtschaftsfragen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschland (SBZ) gleich zu Beginn die selbständige wirtschaftliche Existenz der sowjetischen Zone festgestellt: „Die vorhandenen Rohstoffvorräte erlaubten eine getrennte Existenz ohne sichtbare wirtschaftliche Erschütterungen“.11 Bereits im September 1945 war in Washington ein Schreiben des stellvertretenden sowjetischen Außenministers eingelaufen, in dem die UdSSR die im Potsdamer Protokoll festgelegte Behandlung Deutschlands als

7

Gleitze, Bruno: Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956, S. 5.

8

Hoffmann, Emil: Die Zerstörung der deutschen Wirtschaftseinheit. Interzonenhandel und Wiedervereinigung, Hamburg 1964, S. 15.

9

Schukow, Georgi Konstantinowitsch (1896-1974), Marschall der Sowjetunion; 1919 WKP (B); 1941 Chef des Generalstabs, ab 1941 stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR. 1945-46 Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland und Oberster Chef der SMAD; 1955-57 Minister für Verteidigung der UdSSR.

10 Der Oberste Chef der SMAD / Kurzbericht über die Tätigkeit der SMAD vom 15. Juli bis 20. Dez. 1945, in: GARF (d. i. Staatsarchiv der Russischen Föderation Moskau) R-7317/7/15, Bl. 33. 11 Denkschrift der SMAD über Wirtschaftsfragen in der SBZ vom 12. Dez. 1946, in: Foitzik, Jan: Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954, München 2012, S. 289-304.

311

„wirtschaftliche Einheit“ dahingehend interpretierte, daß in der „Ostzone“ allein „sowjetische Organe“ zuständig seien und der gemeinsame Kontrollrat nur für die Westzonen.12 Von 1946 bis 1954 war die Wirtschaft der SBZ/DDR unmittelbar in die sowjetische Planwirtschaft einbezogen.13 Die Sowjets besaßen sehr klare Vorstellungen über die Wirtschaft in der SBZ: Abschließen von den drei Westzonen und die SBZ nach dem sowjetischen Modell mit Hilfe der SMAD transformieren und nach Osten auszurichten. Alle Maßnahmen, die die SMAD unternahm, stimmen mit dieser Zielsetzung überein. Sehr früh orientierte die Besatzungsmacht den Außenhandel der SBZ/DDR um. 1950 wickelte die DDR 47,3 Prozent ihres Außenhandels mit der UdSSR ab,14 der zwischenzonale innerdeutsche Handel machte nur ein Drittel des DDR-Außenhandels aus: Sein Volumen war auf zehn Prozent des innerdeutschen Güteraustausches des SBZ-Gebiets vor dem Krieg gesunken15 und damit stärker als der europäische Ost-West-Handel, der im gleichen Zeitraum lediglich auf ein Drittel des Vorkriegsstandes fiel.16 Der amtlichen Statistik zufolge wickelte die DDR 1955 38,3 Prozent ihres Außenhandelsumsatzes mit der UdSSR und insgesamt 72,2 Prozent mit „sozialistischen Ländern“ ab, lediglich 10,9 Prozent entfielen auf den „innerdeutschen Handel“.17 Kein anderes osteuropäisches Land war in den 1950er Jah-

12

Wyschinski / Kennan, 16. Sept. 1945, in: Aldoschin W. W. u. a. (Hg.): Sowetsko-amerikanskije otnoschenija 1945-1948 [Sowjetisch-amerikanische Beziehungen 1945-1948], Moskwa 2004, S. 15-17.

13

Ulbricht laut Protokoll des Gesprächs zwischen N. S. Chruschtschow und W. Ulbricht vom 27. Febr. 1962, in: RGANI (d. i. Russisches Staatsarchiv für Neuere Geschichte) 52/1/558, Bl. 42-61, hier Bl. 44. – Die Kontrollziffern des DDR-Volkswirtschaftsplans für das Jahr 1955 gingen am 14. Juni 1954 nach Moskau, AWP RF (d. i. Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Moskau) 082/42/40/287, Bl. 31-47.

14 Puschkin°/°Torgowyje swjazi SSSR s GDR w 1951 g./28 März 1952, in: AWP RF 082/40/5/254, Bl. 21-39. – Die separat berechneten Reparationsleistungen sind in dieser Zahl nicht enthalten. Nach der veröffentlichten DDR-Außenhandelsstatistik betrug der Anteil nur 39,7 bzw. 40 Prozent nach internen statistischen Angaben der DDR. Da die Zahlen aufgrund ihrer Qualität nur als Indikatoren gelten können, wird auf Details verzichtet. Schüller, Alfred / Hamel, Hannelore: Die Integration der DDR-Wirtschaft in den RGW, in: Die EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. II/2, Baden-Baden 1995, S. 2692-2808. Buchheim, Christoph (Hg.): Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ°/°DDR, Baden-Baden 1995. Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ°/°DDR. Ergebnisse eines ordnungs-politischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999. Ahrens, Ralf: Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW – Strukturen und handelspolitische Strategien 1963-1976, Köln 2000. 15 Wenzel, Siegfried: Von wegen Beitritt! Offene Worte zur deutschen Einheit. Fakten und Zitate, Berlin 2007, S. 69. 16 Hardach, Gerd: Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, München 1994, S. 189. 17 Errechnet nach: Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, Berlin (-Ost) 1960, S. 573–574.

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ren so stark vom blockinternen Außenhandel abhängig wie die DDR.18 Aber auch die UdSSR wickelte 1950 80 Prozent ihres Außenhandelsumsatzes mit RGWLändern ab. 1961 stieg die DDR zum weltweit wichtigsten Handelspartner der UdSSR; in den 1950er Jahren waren beide Volkswirtschaften vom „geschlossenen Wirtschaftsmarkt“ des „Ostblocks“ abhängig und auf ihn angewiesen. Die Transformationsziele galten auch für die Bereiche Staat, Recht und Gesellschaft, der entsprechende damalige Fachausdruck lautete „Sicherung des Hinterlandes“. Das Geschichtsbild stören lediglich die bei den Winkelzügen Stalins entstandenen „Buchstaben“ und der mit dieser archivalischen Hinterlassenschaft qualitativ vergleichbare Fundus an verbalen Deklarationen, zu der das politische Selbsterhaltungsinteresse die SED zwang. Stalin befand sich in einer diplomatisch besonders delikaten Lage, weil der Vorwurf der Vertragsuntreue gegenüber seinen Kriegsalliierten sein politisches Prestige gefährdete. Gelöst wurde dieses Dilemma mittels Verschleppung. Als zentrale Agentur der sowjetischen Interessen in der SBZ wirkte von 1945 bis 1949 die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). Sie entstand auf der Grundlage des Beschlusses des Rates der Volkskommissare der UdSSR No. 326-301ss vom 6. Juni 1945, ihre Errichtung in Berlin wurde mit Befehl des Obersten Chefs der SMAD und des Oberkommandierenden der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 1 vom 9. Juni 1945 öffentlich verkündet. Nach sowjetischem Recht wurde die SMAD als nachgeordnetes Organ des Rates der Volkskommissare bzw. ab 1946 des Ministerrats der UdSSR „zur Durchführung der Kontrolle über die Erfüllung der Deutschland durch die bedingungslose Kapitulation auferlegten Bedingungen und zur Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland“ gebildet. Völkerrechtlich war sie legitimiert, im Rahmen des durch die vier alliierten Großmächte geschaffenen Kontrollmechanismus den äußeren Frieden und die innere Sicherheit zu gewährleisten sowie Deutschland „zusätzliche politische, verwaltungsmäßige, wirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Forderungen aufzuerlegen“. Im Zusammenwirken mit dem Alliierten Kontrollrat, dem die Regelung von Fragen vorbehalten blieb, die Deutschland als Ganzes betrafen, stand der SMAD in der SBZ nach internationalem Recht zunächst ausdrücklich „die oberste Regierungsgewalt […] einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden“ zu.19 Ihre Aufgaben in der SBZ nahm die SMAD im Verbund mit den sowjetischen Besatzungstruppen (Truppenstärke 1946: 675.000-730.000, 1947: 300.000-400.000; 1954: 550.000), den bis 1957 in

18 Der Anteil der UdSSR am Außenhandel betrug 1956 bei Ungarn 25, Polen 27 und bei der ČSR 30 Prozent, und am RGW-Handel: Ungarn 61, Polen 64 und CSR 66 Prozent. 19 Berliner Erklärung der Vier Alliierten vom 5. Juni 1945, in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR und Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Hg.): Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945-1949, Berlin (-Ost) 1968, S. 43-51.

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der DDR stationierten Einheiten der sogenannten Inneren Truppen des sowjetischen Innen- bzw. Staatssicherheitsministeriums (Truppenstärke 1945: 15.000, 1946: 6.700, 1947-52: ca. 5.500) und sogenannten Operativen Gruppen des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit (Personalstärke 1945: 800, 1950: ca. 4.000, 1951-53: 2.222, Juni 1953: 328, Juli 1953: 540) wahr. Bestimmenden politischen Einfluß auf die SMAD übte die Führung der sowjetischen kommunistischen Partei in Moskau aus. Ihre Anweisungen gingen an die SMAD-Fachorganisation und/oder die SMAD-Spitze. Unabhängig davon unterhielt auch die Führung der KPD/SED direkte Verbindung zum sowjetischen Parteiapparat bzw. zu ihrem Generalsekretär Stalin. Infolge ihrer administrativen Konstruktion waren die meisten Organisationsteile der SMAD nicht nur der disziplinarischen Führung durch das SMAD-Kommando, sondern gleichzeitig zentralen sowjetischen Fachbehörden unterstellt. Außer der fachlichen und disziplinarischen Dienstaufsicht war die SMAD der Kontrolle militärpolitischer und sicherheitspolizeilicher Instanzen unterworfen. An der Spitze der SMAD stand der Oberste Chef, der gleichzeitig Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen und höchster sowjetischer Vertreter im Alliierten Kontrollrat war (1945/46 Marschall Georgi K. Schukow, 1946-49 Marschall Wassili D. Sokolowski,20 1949 Armeegeneral Wassili I. Tschuikow).21 Die zentrale Ebene bildeten abgeordnete Amtsgruppen sowjetischer Fachministerien und Fachbehörden (mit einem Stab und ursprünglich neunzehn, 1948 mindestens 69 Facheinheiten) sowie fünf territoriale Verwaltungen in den Ländern/Provinzen der SBZ. Durch sukzessive Integration von in der SBZ wirkenden Sonderkommissionen sowjetischer Ministerien und Regierungseinrichtungen sowie von vorläufigen militärischen Kommandanturen, die durch die Truppen während der Eroberung errichtet worden waren, bildete sich etwa 1946 folgende Gliederung der SMAD heraus: - „Zentrale“ mit Stab und zentralen Fachverwaltungen in Berlin-Karlshorst. - Fünf Verwaltungen der SMAD in den Ländern und Provinzen der SBZ sowie (mit Sonderstellung) von 1945 bis 1948 die (gemeinsame alliierte) Berliner Kommandantur bzw. die Kommandantur des sowjetischen Sektors von Berlin. - Bezirkskommandanturen als mittlere Führungsebene. Ihre Zahl schwankte zwischen zwölf und achtzehn; sie wurden 1947 aufgelöst.

20 Sokolowski, Wassili Danilowitsch (1897-1968), 1946 Marschall der Sowjetunion; 1931 WKP(B), 1945 Erster Stellvertreter und 1946-49 Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland und Oberster Chef der SMAD, u. a. 1952-60 Generalstabschef und Erster stellvertretender Kriegsminister (ab 1953 Verteidigungsminister) der UdSSR. 21 Tschuikow, Wassili Iwanowitsch (1900-1982), Armeegeneral, 1919 WKP(B), 1945-46 Chef der SMAD-Landesverwaltung Thüringen, 1946-49 Erster stellvertretender und 1949-53 Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, 1949 Oberster Chef der SMAD, 1949-53 Vorsitzender der SKK, 1955 Marschall der Sowjetunion, 1960-64 stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR.

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Kreiskommandanturen (pro Bezirk vier bis achtzehn) waren zunächst den Bezirksverwaltungen und ab 1947 direkt den Landesverwaltungen der SMAD unterstellt. Die unterste Stufe bildeten Stadt- bzw. Ortskommandanturen (fünf bis 27 Ortskommandanturen im Kreis), ihnen waren in Großstädten Stadtteilkommandanturen unterstellt.

1945 bestanden in der SBZ 652 und 1946 342 Kommandanturen, 1947 wurde ihre Zahl auf 247, 1948 auf 178 und 1949 auf 124 reduziert. Die 1945/46 vom Truppenbereich nur unzureichend entflochtene und in den unteren Diensteinheiten auch danach mit Truppeneinrichtungen verfilzte Struktur der SMAD umfasste ursprünglich bis zu 60.000 Mitarbeiter (1946-47: ca. 66.000 Planstellen, davon 1946 ca. 51.000 besetzt, 1948 42.000 Beschäftigte, davon im Sept. 1948 8.618 im Karlshorster Zentralapparat; Jan. 1949: Sollstärke 33.259, davon 11.264 in den Verwaltungsorganen und 22.000 in den Teilen, zu den letzteren zählten auch die Kommandanturen; Jahresende 1949: 27.517 Planstellen). Etwa 4.000 Planstellen übernahm 1949 die Nachfolgebehörde „Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK), allerdings wurden jetzt wieder einige Dienstbereiche aus der regulären Besatzungsverwaltung ausgelagert. Aufgrund der enormen Entwicklungsdynamik und der organisatorischen Gestaltungsvielfalt sollte dieses schematische Bild lediglich der allgemeinen Orientierung dienen.22 In funktionaler Hinsicht war die SMAD zunächst in vier Aufgabenbereiche gegliedert: 1. Militärische Fragen (vornehmlich mit Entmilitarisierungsaufgaben beschäftigt), 2. (sowjetische) Besatzungs- und (ostdeutsche) Zivilverwaltung (einschließlich Post, Bahn und Gesundheitswesen). 3. Wirtschaft und 4. Politik (einschließlich Volksbildung und Recht). Ihre Tätigkeit wurde ursprünglich von jeweils einem Ersten Stellvertreter für allgemeine Fragen und einem (ab 1946: drei, ab 1947: vier) Fachstellvertreter(n), ab 1948 zwei Ersten Stellvertretern (für allgemeine Fragen und für Ökonomie) und (infolge fachlicher Diversifizierung des ökonomischen Bereichs) fünf Fachstellvertretern sowie (ab 1945) einem Politischen Berater des Obersten Chefs verantwortet und von einem Stabschef mit Unterstützung einer besonderen Kontrollgruppe und weiteren internen und externen Kontrollgremien koordiniert.23 Diese Führungsgruppe, deren interne Entwicklung unmittelbar auf die Verschiebung der Schwerpunktsetzung in der Tätigkeit der SMAD zugunsten wirtschaftlicher und ziviler ordnungspolitischer Ziele hinweist, dirigierte zahlreiche zentrale Facheinheiten (bei Bildung ohne Stab: 19, 1948: 1948 mindestens 69), die vor dem dynamischen Hintergrund sowohl ihrer Ressortaufgaben als auch der ständigen Reorganisation in der sowjetischen Regie22

Detaillierte Angaben in: Foitzik, Jan: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, sowie: Foitzik, Jan / Möller, Horst / Tschubarjan, Alexandr O. (Hg.): SMAD Handbuch, München 2009.

23

Neben der fachlichen Struktur wirkten in der SMAD gleich mehrere interne und externe Kontrollstrecken. Die Kooperation der Teile garantierten außer speziellen auch allgemeine Regelwerke, wie etwa militärische Dienstvorschriften.

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rungsstruktur mehrmals umgruppiert wurden. Außerdem bestand 1945-47 als kollektives Führungsorgan ein Kriegsrat (auch: Militärrat) der SMAD, dessen sogenanntes führendes (auch: politisches oder erstes) Mitglied ab 1946 in Personalunion zugleich Stellvertreter des Obersten Chefs für politische Fragen und nur Moskau direkt unterstellt war. In jedem Land bzw. jeder Provinz der SBZ existierten SMAD-Landesverwaltungen, deren Chefs in der formalen Hierarchie den Chefs der zentralen Fachverwaltungen gleichgestellt waren. Die Facheinheiten in den Landesverwaltungen nahmen als Abteilungen gegenüber der analogen zentralen Fachstruktur eine rangniedere Stufe ein. Die Kreiskommandanturen verfügten nur noch über (unselbständige) Unterabteilungen. Fachaufgaben wurden auf dieser Ebene vielfach unmittelbar durch Instrukteure der zentralen Verwaltungen der SMAD wahrgenommen. Bei den Ortskommandanten bestanden in der Regel nur Gehilfen für Wirtschaftsfragen und für die Anleitung bzw. Kontrolle deutscher Verwaltungsstellen, die übrigen Aufgaben wurden durch Inspekteure und Instrukteure ranghöherer Diensteinheiten wahrgenommen. Diese formale disziplinarische Struktur wies allerdings – beispielsweise aufgrund unterschiedlicher fachmilitärischer Gliederung im Truppenbereich – Anomalien auf. Für Zwecke aufgabenbezogener Leistungskonzentration konnte sie außer Kraft gesetzt werden, indem etwa exekutive Kompetenzen von der Besatzungsverwaltung auf Einrichtungen der Truppen bzw. des geheimdienstlichen Sicherheitsapparates verlagert, die im Truppenbereich angesiedelte Kommunikation instrumentalisiert oder mit Sondervollmachten ausgestattete zentrale Ad-hocKommissionen gebildet wurden. Infolge dieser strukturlos wirkenden hochgradigen ressortmäßigen wie disziplinarisch-administrativen Auffächerung der Besatzungsverwaltung entstanden innerhalb der SMAD vielfach zeitweise fachliche Doppel- oder sogar Tripelstrukturen, deren Einflußlinien sich überlagerten oder die gar miteinander kollidierten. Obwohl die interne bürokratische Rationalisierung und ihre Wirkungszusammenhänge nicht immer in allen Einzelheiten transparent gemacht werden können, ist evident, daß das angewandte integral-funktional angelegte Verfahren es ermöglichte, einige ursprünglich als administrative Kontrollinstanzen entstandene Diensteinheiten zu Organen aktiver politischer Intervention umzufunktionieren. Ähnliche Ergebnisse zeitigte der vom Zentralapparat der sowjetischen kommunistischen Partei gelenkte Austausch militärischer Funktionsträger durch zivile Fachleute. Gegenüber deutschen Dienststellen war die SMAD grundsätzlich mit diktatorischer Gewalt ausgestattet. Auf der Ebene der Länder/Provinzen, Landkreise und Kommunen war ihre territoriale Gliederung mit der deutschen Verwaltungsstruktur deckungsgleich, an der Spitze fungierten besatzungsrechtlich legitimierte (ostdeutsche) Zentralverwaltungen – aus rechtsformaler Sicht – als Hilfsorgane der SMAD-Fachverwaltungen. Die SMAD griff in der SBZ initiativ in ordnungspolitische Prozesse ein. Durch intensive Befehlstätigkeit und andere Formen der Intervention und Kontrolle (Zensur, Berichtspflicht u. a.) lenkte bzw. flankierte die SMAD in Verbindung mit der KPD/SED die Transformation des politischen Systems der SBZ von einer völkerrechtlichen Besatzungsdiktatur in eine monostruk-

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turelle deutsche Parteidiktatur sowjetischen Typs. Dabei delegierte die SMAD ihre besatzungsrechtlichen Kompetenzen sukzessive an Einrichtungen der ostdeutschen Verwaltung. Dieser Prozeß der Übertragung administrativer Befugnisse und politischer Aufgaben an ostdeutsche Einrichtungen verlief in seiner fachlichen, zeitlichen wie institutionell-organisatorischen und politischen Dimension ungleichmäßig, grundsätzlich fand er unter besatzungsrechtlichem bzw. später besatzungshoheitlichem Kontroll- und Interventionsvorbehalt statt. Auf weiten Strecken stellt sich der Prozeß als stufenförmige, ressortmäßig sehr ungleichmäßig verlaufende Amalgamierung der (ost-)deutschen mit der Besatzungsverwaltung dar, die schon 1945 gleichzeitig „von oben“ (über die KPD / SED-Führung und die ostdeutschen Zentralverwaltungen) wie auf der Orts- und Kreisebene „von unten“ eingeleitet wurde. Elemente ostdeutscher Selbstverwaltung ergaben sich zwar im Detail aus der „Durchführungsverantwortung“ deutscher Dienststellen, in ordnungspolitisch relevanten Bereichen fungierte die ostdeutsche Verwaltung jedoch faktisch weitgehend als Auftragsverwaltung der Besatzungsmacht. Die Politik der SMAD in der SBZ tangierte aber auch die besondere Qualität der Verbindungen zwischen der kommunistischen Partei der UdSSR und der KPD / SED. Auf dieser Grundlage gelang es der KPD / SED zwar, in die Transformation des politischen Systems aktiv einzugreifen, doch als „Russenpartei“ oder gar „russische Staatspartei“, wie sie in der Bevölkerung wahrgenommen wurde, blockierte sie damit gleichzeitig ihren nationalpolitischen Aktionsradius. Strukturelle Eingriffe in die überkommene Verfassungsordnung wurden bereits in der ersten Phase bis Ende 1946 / Frühjahr 1947 unter Ausnutzung interalliierter Beschlüsse und besatzungsrechtlicher Regularien wie z. B. personelle Säuberungen („Entnazifizierung“) vorgenommen. Unterschieden werden in der Regel zwei weitere zeitliche Phasen der „Sowjetisierung“ zwischen der Bildung der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) im Juni 1947 bis zur Erweiterung ihrer Kompetenzen im Februar 1948 und zwischen diesem Datum bis zur Gründung der DDR, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung präzisiert werden. Im Ergebnis der Tätigkeit der SMAD wurden in der SBZ durch Bodenreform und Verstaatlichung der Banken und der (nicht demontierten bzw. nicht in sowjetisches Staatseigentum übergegangenen) Schwerindustrie Grundlagen für eine zentral gelenkte Zwangswirtschaftsverwaltung nach sowjetischem Muster geschaffen. Durch bedingungslose Unterwerfung unter die politischen Interessen der Besatzungsmacht avancierte die SED nach außen zum Herrschaftsträger und zum politischen Hegemon innerhalb einer Dauerkoalition („Parteienblock“) prosowjetischer Parteien, die die pluralistischen Grundlagen der ostdeutschen Gesellschaft repräsentierten, ohne sie jedoch in der durch terroristische Mittel gesicherten Herrschaft artikulieren zu können. Mit Bildung der DDR wurde die SMAD aufgelöst. Am 5. November 1949 entstand durch Beschluß der Regierung der UdSSR eine „Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK). Durch öffentliche Erklärung des Obersten Chefs der SMAD und des Oberkommandierenden der Besatzungstruppen sowie nunmehrigen Vorsitzenden der SKK Tschuikow vom 11. November 1949 wurden alle noch bei der SMAD verbliebenen Verwaltungsfunktionen der DDR-Regie-

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rung übertragen, die SKK behielt sich formell lediglich die Kontrolle der unter besatzungsrechtlichem Vorbehalt der Vier Mächte stehenden Bereiche vor. Tatsächlich führte die Nachfolgebehörde jedoch in vielen Bereichen die Aufgaben der SMAD fort.24 Auf Weisung der SKK wurden auch zahlreiche SMAD-Befehle in ostdeutschen Gesetzen festgeschrieben. Förmlich wurden schließlich erst mit dem „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ vom 12. September 1990 „die […] vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet“. Der innere Zustand der Besatzungsverwaltung war weit weniger desolat als ihr historisches Erscheinungsbild,25 das neben dem spezifisch intransigenten sowjetischen Organisationshandeln in hohem Maß deutsch-sowjetische Konflikte und Reibereien über ordnungspolitische Kompetenzen spiegelte. Den Wirkungsgrad der SMAD sollen einige Zahlen indizieren: Ausgestattet mit uneingeschränkten dirigistischen Vollmachten verfügte sie 1946 über mehr als 50.000 Mitarbeiter, 1948 sank ihre Zahl auf etwa 32.000, davon waren 4.500 auf der zentralen Ebene tätig.26 Dies entsprach damals in etwa der Beschäftigtenzahl der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) (5.624 am Jahresende 1948),27 der wirtschaftspolitischen Zentralbehörde der SBZ. Die Fachkompetenz des Besatzungspersonals illustriert die Tatsache, daß sich auf SMAD-Posten ungefähr 20 stellvertretende Unionsfachminister und einige Dutzend leitende Ministerialbeamte nachweisen lassen.28 Zahllose sowjetische „Spezialisten“ befanden sich noch 1952 unter den

24 Scherstjanoi, Elke: Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953, München 1998. 25

Zur Informationsstruktur im wirtschaftlichen Bereich, die auch die Kommandanturen erfaßte, Künzel, Christiane: Planungsökonomische Verwaltung, in: Foitzik, Jan / Möller, Horst / Tschubarjan, Alexandr O. (Hg.): SMAD Handbuch, München 2009, S. 312-317.

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Dokumente Nr. 7 und 8 in: SMAD Handbuch 2009, S. 744-751. − 8.618 Mitarbeiter im Karlshorster Zentralapparat im Sept. 1948 nennt: Zarewskaja-Djakina, Tatjana W.: Struktur der SMAD, in: Ebda., S. 12-30, hier S. 26. Grundsätzlich sollte dabei beachtet werden, daß es sich erstens um eine Großorganisation handelte und daß zweitens (auch) das sowjetische Haushalts- und Planstellenwesen als eine „Spezialwissenschaft“ angesehen werden muß.

27

Foitzik, Jan (Hg.): Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954, München 2012, S. 417.

28 Ausgezählt anhand der „Kurzbiographien des Führungspersonals“, in: SMAD Handbuch 2009, S. 607-728, sowie weitere Evidenz. – Als Beispiele seien genannt: Pereliwtschenko, Michail Iossifowitsch, stellvertretender Volkskommissar für Granatwerferbewaffnung der UdSSR bzw. stellvertretender Minister für Maschinen- und Gerätebau der UdSSR, ab 1946 Chef der Planungsökonomischen Verwaltung und 1948-49 Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD für Industrie; Kutscherenko, Alexei Nikolajewitsch, stellvertretender Volkskommissar für Handel der UdSSR, 1945-47 Chef der SMAD-Verwaltung Handel und Versorgung; Alexandrow, Grigori Grigorjewitsch, stellvertretender Volkskommissar für mittleren Maschinenbau der UdSSR, 1945-49 Chef der SMAD-Verwaltung Industrie: Maletin, Pawel Andrejewitsch, stellvertretender Volkskommissar für Finanzen der UdSSR, 1945-49 Chef der SMAD-Finanzverwaltung; Kurmaschow, Iwan Wassilewitsch, stellvertretender Volkskommissar der UdSSR für Kohleindustrie 1945-48 Chef der SMAD-Verwaltung Bergbau und

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1.700 Mitarbeitern der SKK,29 außerdem wirkten in der DDR bis 1956 sowjetische Fachberater.30 Selbstverständlich galt für sie ausschließlich das sowjetische Recht, dessen Verletzung als Landesverrat zu ahnden war, und sie orientierten sich naturgemäß auch an den in ihren Heimatbehörden eingeübten Verfahren und Praktiken. Schon die DDR-Geschichtswissenschaft konstatierte, daß „alle grundsätzlichen Entscheidungen […] über die Neugestaltung des politischen, ökonomischen und geistig-kulturellen Lebens [...] im wesentlichen in der Anfangsphase der Tätigkeit der SMAD, also in den Jahren 1945 und 1946 getroffen [wurden]“. 31 Die Befehlsstatistiken präzisieren diese Beobachtung dahingehend, daß die ordnungspolitische Richtlinienkompetenz 1948 von der SMAD auf die DWK überzugehen begann, die sie in Abstimmung mit der Besatzungsmacht formulierte und unter ihrer Kontrolle umsetzte.32 Die Interessen der Besatzungsmacht waren schon sehr früh klar definiert: Der Schwerpunkt lag auf wirtschaftlichem Gebiet, wobei Sicherung der Reparationen, Besatzungskosten und anderer wirtschaftlicher und finanzieller Transaktionen an erster Stelle stand: Lieferungen aus der SBZ waren bereits Bestandteil des sowjetischen Fünfjahrplans für 1946-50, dessen Durchführung in der SBZ eine 22köpfige Berliner Vertretung der Staatlichen Planungsbehörde der UdSSR GOSPLAN überwachte.33 Dieses starke wirtschaftliche Interesse schloss die Kontrolle über die gesamte ordnungspolitische Infrastruktur ein. „Öffentliche Ruhe und Ordnung“ besaßen oberste Priorität. „Alle Arbeiter, Angestellten, Händler, Handwerker und Heimarbeiter sind verpflichtet, an Ort und Stelle zu [ver]bleiben und sich ihrer Arbeit zu widmen. Die Leitungen der Betriebe, privaten Firmen, Werkstätten und dergleichen sind verantwortlich für die Fortsetzung der Arbeit ohne Unterbrechungen“,34 hieß es schon im März 1945. „An ihren Arbeitsstätten zu [ver]bleiben

Metallurgische Industrie, 1948-49 stellvertretender Oberster Chef der SMAD für materielle Ressourcen und v. a. m. 29 Scherstjanoi, Elke: SED-Agrarpolitik unter sowjetischer Kontrolle 1949-1953, München 2007, S. 361. 30 Foitzik, Jan (Hg.): Sowjetische Interessenpolitik 2012, S. 48-49. 31 Autorenkollektiv unter Leitung von Karl-Heinz Schöneburg: Errichtung des Arbeiter- und Bauernstaates der DDR 1945-1949, Berlin (-Ost) 1983, S. 34 f. 32 Foitzik, Jan: Inventar der Befehle des Obersten Chefs der SMAD 1945-1949, München 1995, S. 26, S. 54-57, sowie Nochotowitsch, Dina N.: Stab, in: SMAD Handbuch 2009, S. 127-142, hier S. 136. 33 Befehl an den Stab der SMAD Nr. 033 vom 18. April 1947, in: GARF R-7317/8/52a, Bl. 412413 Rs. 34 Notiz des Leiters der 3. Europa-Abteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR A. A. Smirnow an den Stellvertretenden Volkskommissar W. G. Dekanossow über die Lage in den von der Roten Armee besetzten deutschen Gebieten vom 21. März 1945, in: Laufer, Jochen P. / Kynin, Georgij P. (Hg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Band 1, Berlin 2004, S. 550-554.

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und ihre Pflichten weiter zu erfüllen“ hatten auch die Beschäftigten von öffentlichen Verwaltungen und Versorgungsbetrieben.35 Im Juni 1945 befahl Schukow auch den „Inhabern der Betriebe, Präsidenten der Aktiengesellschaften, Direktoren der Staatsbetriebe und der herrenlosen Betriebe, [...] sofort ihre Arbeit aufzunehmen“.36 Bereits einige Tage zuvor waren die Kommandanten und die deutschen Kreisverwaltungen angewiesen worden, „bis spätestens 25. Juni sämtliche früher vorhandenen Erfassungsorganisationen in Betrieb zu setzen“, und „alle Erzeuger des Kreises, […] die Anbauflächen für Winter- und Sommersaaten bis zum 25. Juli an die Selbstverwaltungsbehörden zu melden“, um ein neues Pflichtablieferungssystem aufzubauen.37 Ingangsetzung der Wirtschaft zum 15. August38 und des Transports39 bezweckten die ersten Befehle der SMAD vom Sommer 1945. Unmittelbar nach Beendigung der Potsdamer Konferenz (vom 17. Juli bis zum 2. August 1945) erließ die SMAD im August bereits die ersten Produktions- und Lieferungspläne für einzelne Wirtschaftszweige für September und das vierte Jahresquartal.40 Und da sich die förmliche besatzungsrechtliche Regulierung der Beschlagnahme und Übergabe „einiger Eigentumskategorien“ in die Verfügungsge-

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Befehl Nr. 1 des Chefs der Besatzung und des Stadtkommandanten von Berlin vom 28. April 1945, in: Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland. Aus dem Stab der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Sammelheft 1/1945, Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Berlin 1946, S. 83-85.

36 SMAD-Befehl Nr. 9 vom 21. Juni 1945, in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland 1968, S. 72, sowie: Tägliche Rundschau vom 29. Juli 1945. 37 Befehl der SMAD über die neue Ablieferungspflicht vom 18. Juni 1945, in: Die Hilfe der Sowjetunion bei der Errichtung und Festigung der antifaschistischen-demokratischen Ordnung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945-1949), Berlin (-Ost) 1958, S. 21-25. 38 SMAD-Befehl Nr. 43 vom 28. Aug. 1945 Über die Maßnahmen zur Beschleunigung des Wiederaufbaus der Industriebetriebe in dem von den Sowjettruppen besetzten Gebiet Deutschlands, Wortlaut in: Bundesarchiv DX-1/43/45. 39 Künzel, Christiane: Transportverwaltung, in: SMAD Handbuch 2009, S. 284-297. 40 SMAD-Befehle Nr. 28 vom 14. Aug. 1945 betr. Kohlenförderung im Sept.-Dez. 1945 mit genauer Spezifikation der Mengen, Fristen und Betriebe; Nr. 44 vom 4. Sept. 1945 betr. Sicherstellung der Versorgung der Roten Armee und der Bevölkerung der SBZ mit Streichhölzern im 4. Quartal 1945; Nr. 46 vom 4. Sept. 1945 betr. Einbringung der Ernte 1945 und Bestellung der Winterackerfläche; Nr. 47 vom 4. Sept. 1945 betr. Bestätigung des Produktionsplans für Mineral-Dünger, Spiritus, Stärke- bzw. Syrup-Erzeugnisse, Pflanzenöl, Bier und Kaffee vom Sept. bis zum Jahresende; Nr. 48 vom 4. Sept. 1945 betr. Bestätigung des Produktionsplans für Textilrohstoffe, Garne und Gewebe im Zeitraum vom 9. Sept. bis Dez. 1945; Nr. 55 vom 8. Sept. 1945 betr. Lebensmittel und Industriewaren. Versorgungsplan für Sept. bis Okt. 1945, sowie viele andere. Die detailliert spezifizierten Pläne sind in der Regel in den Anlagen zu den Befehlen enthalten. Die Verteilung der Befehle und die Berichterstattung über deren Vollzug waren individuell geregelt. – Die Rohstoffverteilung für Industriebetriebe im August und September ordnete eine „Vorläufige Instruktion“ des Chefs der Ökonomischen Verwaltung der SMAD an, die am 8. Aug. 1945 von Sokolowski bestätigt wurde (Wortlaut in: GARF R-7317/9/5, Bl. 404).

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walt deutscher Verwaltungsstellen noch einige Jahre hinziehen sollte,41 stattete bereits Befehl Nr. 01 vom 23. Juli 1945 deutsche Verwaltungsstellen mit Vollmachten zur Kontrolle der Privatbetriebe42 bzw. mit Weisungsrechten gegenüber Privatbetrieben aus.43 Die Manteltexte der Befehle könnten manchmal den Eindruck von Belanglosigkeit erwecken, doch die in den Befehlsanlagen enthaltenen (archivfachlich nicht „ordentlich und systematisch“ überlieferten bzw. zugänglichen) Durchführungsbestimmungen der sachlich zuständigen Fachabteilungschefs waren detailliert nach Mengen, Fristen, Regionen oder Betrieben spezifiziert.44 Diversifiziert war auch die vorgeschriebene Berichterstattung über die Planerfüllung: Sie reichte von der fünftägigen telegraphischen bis zur monatlichen Vollzugsmeldung,45 diversifiziert waren auch die Meldewege: Schon 1945 konzentrierte sich auf deutscher Seite die Zuständigkeit bei den Landespräsidenten und bei den ostdeutschen Zentralverwaltungen, als Kontrollinstanzen waren regionale SMAD-Dienststellen zwischengeschaltet. Damit setzte schon im Frühherbst 1945 auch die erste Etappe zur systematischen Wirtschaftslenkung in der SBZ ein, die nur auf der zentralen Ebene der SMAD direkt von 98 (1945) bzw. 65 (1949) zivilen Fachleuten der Planungsökonomischen Verwaltung gelenkt und beaufsichtigt wurde. Diese Wirklichkeit verbarg das Konstrukt vom „Zusammenbruch“ der deutschen Verwaltung nach dem 8. Mai 1945 und der nach Verabschiedung der SBZ-Landesverfassungen 1946/47 entstandene reale Verfassungsnotstand: Die verfassungsmäßigen Rechte der gewählten Landesparlamente und -regierungen stießen frontal mit der nach Besatzungsrecht legitimierten und mit Weisungsbefugnissen ausgestatteten DWK. Doch beide Phänomene geben nur die deutsche Wahrnehmungsperspektive wieder, tatsächlich wurde die Systemtransformation in der SBZ/DDR bei laufendem Betrieb geleistet. 41 SMAD-Befehle Nr. 124 vom 30. Okt. 1945 Über die Beschlagnahme und provisorische Übernahme einiger Eigentumskategorien in Deutschland, in: Um ein antifaschistischdemokratisches Deutschland 1968, S. 189, Nr. 154/181 vom 21. Mai 1946 betr. Übergabe des konfiszierten und sequestrierten Eigentums an deutsche Selbstverwaltungen, in: Ebda., S. 272-274, Nr. 26 vom 6. Febr. 1948 betr. Ernennung einer Kommission zur Durchsicht der Verzeichnisse der sequestrierten Betriebe und Nr. 82 vom 29. April 1948 betr. Rückgabe der durch den Nazistaat beschlagnahmten Eigentums an demokratische Organisationen, in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland 1968, S. 638-639. 42 Foitzik, Jan (Hg.): Sowjetische Interessenpolitik 2012, S. 204-210, dort Ziffer 5. 43 SMAD-Befehl Nr. 55 vom 8. Sept. 1945 betr. Lebensmittel und Industriewaren. Versorgungsplan für Sept. bis Okt. 1945. 44

Hier wurde auf die gedruckte amtliche Befehlsüberlieferung zurückgegriffen, die sich im AWP der RF befindet.

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Walther, Otto: Verwaltung, Lenkung und Planung der Wirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone (=Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1953, stellte dazu eine sehr material- und schon deshalb aufschlußreiche schematische Übersicht über die wirtschaftspolitischen Strukturen vor. Sie trägt aber insoweit idealtypische Züge, als bei der „Sowjetisierung“ generell der (von der vorgefundenen Ordnungs- und der dynamischen Transformationsstruktur abhängige) Output stärker zu beachten ist als der intendierte Input.

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Die „Fürsorgediktatur“ der Besatzungsmacht reichte so weit, daß sie die Alters- und Invalidenrenten in der SBZ zunächst auf 30 Reichsmark (RM) im Monat beschränkte und erst mit SMAD-Befehl Nr. 44 vom 18. März 1948, rückwirkend zum Jahresanfang, auf 50 und Witwenrenten von 30 auf 40 RM erhöhte.46 Wenn man Daten aus einer anderen Abteilung heranzieht, die damals das Existenzminimum in der SBZ mit 114 DM-Ost monatlich berechnete,47 braucht man nicht einmal die nach dem Geldumtausch vom 23. Juni 1948 in der „staatlichen“ Sozialversicherung der SBZ vorgenommene „Umrechnung“ von 2 RM zu 1 DMOst berücksichtigen, um sich ein Bild über die Ursachen des für die Jahre 1946-48 statistisch ausgewiesenen Sterbeüberschusses von 381.757 Menschen machen zu können,48 denn sogenannte unproduktive Bevölkerungsteile konnten finanziell nicht einmal die ihnen zustehenden Lebensmittelmarken in Lebensmittel umsetzen. Die in den Nachkriegsjahren in der Sozialversicherung erzielten beträchtlichen Überschüsse schöpfte man für andere Zwecke ab.

46 Wortlaut in: Zentralverordnungsblatt Nr. 13 vom 5. Mai 1948, S. 131-132; sowie: Geschichte der Organisation und der Tätigkeit der Abteilung Arbeitskraft der SMAD (1945-1948), in: BArch Z 47 F/81361 (GARF R-7317/50/1), Bl. 132. – Bankguthaben und die Auszahlung von Renten, Pensionen und Versicherungsleistungen wurde durch Anordnung des Kriegsrats vom 10. Juli 1945 und Befehl Nr. 01 des stellvertretenden Obersten Chefs der SMAD vom 23. Juli 1945 zunächst gesperrt (Wortlaut in: Foitzik, Sowjetische Interessenpolitik 2012, S. 199-203 und S. 204-206). Wiederaufnahme von Versorgungsleistungen (ausgenommen „Kriegsverbrecher“, ehemalige Offiziere, aktive Mitglieder der NSDAP, der SS, der SA, des SD, der Gestapo u. a.) erfolgte mit Anordnung der Deutschen Zentralfinanzverwaltung in der SBZ (DZFV) vom 20. Mai 1946, die landesspezifisch implementiert wurde (SAPMO BArch DY 30/IV 2/13/5, Bl. 97-100 Rs.), Rentenzahlung aus früheren Pensionsansprüchen wurde erst durch Rundverfügung der DZFV vom 28. Okt. 1946 angeordnet und maximal auf 90 RM im Monat festgelegt. Im Durchschnitt betrug 1947 die monatliche Alters- und Invalidenrente 70,10, Witwenrente 48,50 und Waisenrente 26,60 RM (Geschichte der Organisation und der Tätigkeit der Abteilung Arbeitskraft der SMAD (1945-1948), a. a. O., Bl. 126, 142-143). 1950 wurden in der DDR 1.802.968 Sozialversicherungsrentner und Witwengeldempfängerinnen sowie weitere 170.953 Unterstützungsempfänger gezählt (Statistisches Jahrbuch der DDR 1956, Berlin (-Ost) 1957, S. 155. 47 [Vermerk über] Besprechung [mit der SMAD] vom 24. Aug. 1948, in: BArch DN 1/36207. 48 Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, Berlin (-Ost) 1956, S. 34. − 1951 anonym in Westdeutschland veröffentlicht: ***: Die Bevölkerungsbilanz der sowjetischen Besatzungszone 1939 bis 1949 (=Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1951. − Der demographische Verlust der SBZ fällt doppelt so hoch aus, wenn man die westdeutsche Bevölkerungsentwicklung in dieser Zeit als Berechnungsgrundlage heranzieht.

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3. Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen49 Von Rainer Karlsch Kriegszerstörungen: Die verschiedenen Regionen und Städte Deutschlands waren in sehr unterschiedlichem Maße von direkten Kriegseinwirkungen betroffen. Als schwerste Hypothek erwies sich die Zerstörung von Wohnraum in den Großstädten. Insgesamt wiesen die späteren Westzonen, infolge des hier eher einsetzenden alliierten Luftkrieges, einen etwas höheren Zerstörungsgrad auf als die SBZ (ca. 24 % gegenüber 10 % total zerstörter Wohnungen). Schwerwiegend beeinträchtigt wurden in ganz Deutschland auch die gesamte Infrastruktur und das Verkehrswesen. So ging fast die Hälfte des rollenden Materials der Reichsbahn in der Kriegs- bzw. unmittelbaren Nachkriegszeit verloren. Der Mangel an Transportmitteln aller Art wurde durch umfangreiche Beuteentnahmen von Schienenmaterial, Lokomotiven und Waggons durch Amerikaner, Briten und Sowjets noch empfindlich verschärft. Bezogen auf 1936 belief sich der Lokomotiv- und Güterwagenbestand in der Bundesrepublik 1950 auf 85 % bzw. 72 %, in der DDR waren demgegenüber nur noch 38 % der Lokomotiven und 55 % der Güterwagen vorhanden. Die agrarisch dominierten Regionen, insbesondere Mecklenburg-Vorpommern und die Provinz Brandenburg litten ebenso wie die späteren westpolnischen Gebiete (südliches Ostpreußen, Schlesien und Pommern) besonders schwer unter Kriegsschäden, Plünderungen und dem darauf folgenden Rückgang der Erträge. In diesen Regionen war der Viehbestand 1945 gegenüber der Vorkriegszeit z. T. um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Trotz der Zerstörung von Baulichkeiten und Anlagen hatte die Industrie, auch durch Auslagerungen und Dezentralisierung, den Krieg besser als zunächst vermutet überstanden. Als Obergrenze für die Kapazitätsverluste der deutschen Industrie durch direkte Kriegsschäden, bezogen auf die 1944 vorhandenen Kapazitäten, können 15 % gelten. Lediglich in einzelnen Branchen, wie dem Fahrzeugbau, der Elektroindustrie, dem Werkzeugmaschinenbau und der Holzindustrie, lagen die direkten Kriegsverluste etwas höher. Reparationen: Als solche werden volkswirtschaftliche Zwangsleistungen verstanden, die nach einem Krieg vom Besiegten zugunsten des Siegers erbracht werden. Nicht zu den Reparationen gehören Gebietsabtrennungen, Verluste durch die Abwanderung von Einwohnern, Restitutionen, also die Rückgabe von Gegenständen, die vom Besiegten widerrechtlich aus besetzten Gebieten weggeführt 49 Karlsch, Rainer: Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nocke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 1996, S. 353-358; Karlsch, Rainer: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/ DDR 1945-53, Berlin 1993. Baar, Lothar / Karlsch, Rainer / Matschke, Werner: Kriegsschäden, Demontagen und Reparationen, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Bd. II, 2, 1999, S. 868-988.

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wurden, sowie die Kriegsbeute, d. h. unmittelbar durch Kampfhandlungen gewonnener Besitz. Die Definition des Begriffs Kriegsbeute blieb nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Siegermächten umstritten. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 einigten sich die USA, Großbritannien und die UdSSR auf drei Reparationsformen: Demontagen und Beschlagnahmung von Auslandsguthaben, Lieferungen aus der laufenden Produktion und die Verwendung deutscher Arbeitskräfte. Die Höhe der deutschen Reparationsleistungen blieb offen. Auch auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 konnten sich die Alliierten nicht auf eine feste Reparationssumme einigen. Die UdSSR hatte einen Reparationsplan vorgelegt, der auf dem Protokoll von Jalta aufbaute und wiederum von 20 Mrd. Dollar Reparationen, davon 10 Mrd. Dollar für die UdSSR und Polen, ausging (Alliierte Konferenzen). Vereinbart wurden folgende Regelungen: Jede Besatzungsmacht sollte ihre Reparationsansprüche aus ihrer eigenen Zone befriedigen. Zusätzlich sollte die Sowjetunion 25 % der Demontagen aus den Westzonen erhalten, 40 % davon ohne Gegenleistung. Außerdem wurde die deutsche Handelsflotte aufgeteilt. Die UdSSR erhielt den deutschen Auslandsbesitz in Finnland, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Ostösterreich, während die Westmächte über den deutschen Auslandsbesitz in allen anderen Staaten der Welt verfügen konnten. Die Verwendung deutscher Arbeitskräfte, die Goldreserve des deutschen Reiches und auch Lieferungen aus der laufenden Produktion fanden im Potsdamer Protokoll keine Erwähnung. Mit der Konferenz von Potsdam wurde Deutschland reparationspolitisch geteilt. Beuteaktionen: Bis zum Beginn der Potsdamer Konferenz hatte die Rote Armee in großem Stil Beuteaktionen durchgeführt. Dafür waren ein „Komitee für Beutegut“ und für die Demontage von Industrieanlagen ein „Sonderkomitee“ beim Staatlichen Komitee für Verteidigung der UdSSR (GKO) gebildet worden. In großem Umfang wurden Lebensmittel, Sach- und Kunstgüter beschlagnahmt. Bisher existieren darüber nur sehr unvollständige Angaben. Allein 1945 beluden die Beutegut-Einheiten der Roten Armee über 400.000 Waggons, größtenteils mit Lebensmitteln. Zur Kriegsbeute gezählt wurden u. a. mehr als 450.000 Radios, über 60.000 Klaviere und ca. 941.000 Möbelstücke. Als Trophäen wurden auch diverse Kunstschätze angesehen, darunter die Bestände der Dresdner Gemäldegalerie. Ein großer Teil der Dresdner Exponate wurde 1955 und 1958 zurückgegeben. Zur Beute gehörten auch kostbare archäologische Sammlungen, wie der Schatz des Priamos, zahlreiche museale Sammlungen und Bibliotheksbestände. Auch ein Großteil der bis Juli 1945 in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Österreich und Deutschland demontierten Betriebe und entnommenen Vorräte wurde unter dem Begriff Kriegsbeute verbucht und fand keine Anrechnung auf das Reparationskonto. Demontagen: Beute- und Demontageaktionen gingen in der letzten Phase des Krieges ineinander über. Der weitaus größte Teil der Anlagen in der SBZ wurde 1945/46 entnommen. In den Westzonen begannen die Demontagen erst 1948/49

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systematische Formen anzunehmen und wurden bis 1951 abgeschlossen. Hier wurden insgesamt 668 Werke abgebaut, was zu Kapazitätsverlusten von ca. 5 % führte. In der SBZ wurden demgegenüber, nach deutschen Quellen, weit über 2.000, nach russischen Quellen sogar mehr als 3.000 Betriebe aller Art demontiert. Die Demontagen haben mindestens 30 % der 1944 in der späteren SBZ vorhandenen industriellen Kapazitäten zerstört. Sie wirkten damit viel einschneidender als die unmittelbaren Kriegszerstörungen. Die sowjetischen Demontagen waren vornehmlich sicherheitspolitisch motiviert. Dies widerspiegelte sich im nahezu vollständigen Abbau aller Werke der Waffen- und Munitionsindustrie, der Flugzeugindustrie, der Metallurgie, des Fahrzeugbaus und des Werkzeugmaschinenbaus. Darüber hinaus wurden jedoch auch reine Zivilindustrien und selbst hunderte Kleinbetriebe wie Ziegeleien, Bäckereien und Möbelfabriken demontiert. Zu den total bzw. teildemontierten Unternehmen gehörten die modernsten mitteldeutschen Werke, wie Carl Zeiss Jena, Zeiss-Ikon Dresden, die BMWWerke in Thüringen, die Junkers-Werke in Dessau, die Elektro-Apparate-Werke in Berlin-Treptow und die Leuna-Werke bei Merseburg. Notgedrungen erfolgte während des Wiederaufbaus ein Rückgriff auf überalterte Anlagen. Dadurch wuchs der Reparaturbedarf, und der Anteil der Handarbeit stieg. Das dennoch beachtliche Produktionswachstum in der Nachkriegszeit beruhte deshalb in hohem Maße auf einem überproportionalen Beschäftigungswachstum. Entnahmen aus der laufenden Produktion: Diese nur von der sowjetischen Besatzungsmacht verfügten Entnahmen begannen sofort nach dem Wiederanlaufen der Wirtschaftstätigkeit im Sommer 1945 und endeten offiziell am 31. Dez. 1953. Insgesamt wurden von der SBZ / DDR Güter im Wert von 11,5 Mrd. Mark (zu laufenden Preisen) als direkte Reparationsleistungen an die Sowjetunion und Polen geliefert. Diesen nachgewiesenen Lieferungen sind noch verschiedene Formen „verdeckter Reparationslieferungen“ hinzuzurechnen, deren genauer Umfang kaum noch exakt zu ermitteln ist. Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG): Wichtigste Lieferanten von Reparationsgütern waren die Mitte 1946 gebildeten SAG. In diesen nach Branchen organisierten Konzernen wurden zunächst über 200 der wichtigsten Großbetriebe der SBZ zusammengeschlossen. Die Überführung der SAG-Betriebe in Staatseigentum erfolgte schrittweise 1947, 1950, 1952 und 1953. Für den „Rückkauf“ dieser Werke mußte die SBZ / DDR ca. 1.725 Mrd. Mark aufwenden. Die SAG-Betriebe nahmen im Wirtschaftsgefüge der SBZ / DDR eine Sonderstellung ein. Mit ihrem Ausbau waren für die Wirtschaft kurzfristig positive Aspekte verbunden, wie die Sicherung von Arbeitsplätzen, die Rohstoffzufuhr und Absatzgarantien. Letztlich hat das SAG-System die Einbindung der DDRWirtschaft in den osteuropäischen Wirtschaftsraum nicht verursacht, wohl aber beschleunigt. Im Zuge der sowjetischen Reparationsforderungen entstanden industrielle Strukturen, die es vor dem Krieg in Mitteldeutschland nicht oder nur peripher gab. So wurde an der Ostseeküste eine Werftindustrie aufgebaut, die bis 1953 und darüber hinaus ausschließlich für die UdSSR arbeitete. Das Profil des Maschinen-

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und Fahrzeugbaus wurde ebenfalls weitgehend dem sowjetischen Bedarf angepaßt. Uranbergbau: Zur mit Abstand teuersten Reparationsindustrie entwickelte sich der Ende 1945 im Erzgebirge begonnene Uranbergbau. Bis Ende 1953 wurde der Uranbergbau vollständig zu Lasten der SBZ / DDR betrieben. Trotz der im Vergleich zu anderen Reparationsformen enorm hohen Kosten des Wismut-Bergbaus führten die Uranerzlieferungen nur zu geringen Gutschriften auf dem Reparationskonto in Höhe von 300 bis 350 Mio. Dollar. Nach der Umwandlung in eine gemischte sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) am 1. Jan. 1954 beteiligte sich die UdSSR anteilig an den Kosten. Dennoch mußte der Uranbergbau bis 1990 aus dem Staatshaushalt der DDR insgesamt mit ca. 20 Mrd. Mark zu laufenden Preisen bezuschußt werden. Die Erlöse aus dem Verkauf des Uranerzes und die anteiligen sowjetischen Einzahlungen sind aus dieser Summe bereits herausgerechnet worden. Besatzungskosten: Dazu gerechnet wurden die Kosten für die Unterhaltung der sowjetischen Truppen und Einrichtungen sowie die Vergütung von Lieferungen und Leistungen an die Besatzungstruppen. Eine eindeutige Klärung, wie Besatzungsfolgekosten (darunter Personen- und Übungsschäden, Soldatenfriedhöfe, u. a.) zu verrechnen waren, gab es nicht. Anfang 1948 wurde die Phase der nicht eindeutig definierten Besatzungskosten beendet. Ab 1949 bewegte sich die Höhe der Besatzungskosten für die Gruppe Sowjetischer Streitkräfte in Deutschland in einer Größenordnung, die der von den Westalliierten von der Bundesrepublik dafür geforderten Summe, bezogen auf die Einwohnerzahlen, in etwa vergleichbar war. Für Besatzungskosten mußte die SBZ / DDR bis Ende 1953 ca. 16,8 Mrd. Mark aufwenden. Im selben Zeitraum hat die Bundesrepublik dafür 48,9 Mrd. Mark ausgegeben. Anders als in der Bundesrepublik gingen von den in der DDR stationierten sowjetischen Truppen jedoch nur geringe wirtschaftliche Impulse aus. Sonstige Belastungen: Bis 1949 wurde der Außenhandel in allen Besatzungszonen von den Siegermächten kontrolliert und abgewickelt. Dies bot Raum für die Unterbewertung der deutschen Exporte. Nach vorsichtigen Schätzungen entstand dadurch den Westzonen ein Verlust in Höhe von 0,5 Mrd. Mark, der SBZ von 1 Mrd. Mark, da die SMAD in größerem Umfang Preismanipulationen veranlaßte. Eine weitere Reparationsquelle stellten erbeutete Reichsbanknoten und das Besatzungsgeld dar. Vor der Währungsreform entfielen 17 % der in der SBZ umlaufenden Geldmenge auf das Besatzungsgeld, das waren ca. 7,1 Mrd. RM. Hinzu kamen noch ca. 1,8 Mrd. Mark Beutegeld. Den Geldüberhang konnte die Besatzungsmacht jedoch nur zum Teil realisieren, so daß es unzulässig ist, Beute- und Besatzungsgeld in voller Höhe anderen Reparationsleistungen gleichzusetzen. Bilanz der laufenden Leistungen: Alle laufenden Leistungen, einschließlich der Besatzungskosten, zusammengefaßt und zurückgerechnet auf die Preisbasis von 1944, ergibt folgende Belastungsquoten:

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Anteilige Belastungen durch laufende Leistungen, gemessen am Bruttosozialprodukt Jahr

SBZ/DDR

Westzonen/Bundesrepublik

1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953

48,8 % 38,4 % 31,1 % 19,9 % 18,4 % 16,4 % 14,6 % 12,9 %

14,6 % 12,8 % 9,0 % 6,0 % 5,8 % 7,1 % 6,0 % 3,8 %

Zu beachten ist dabei, daß die Westzonen / Bundesrepublik einen Großteil der Belastungen durch die Auslandshilfen im Rahmen alliierter Hilfsprogramme und des Marschallplans kompensieren konnten. „Intellektuelle Reparationen“: Neben den bisher behandelten Leistungen ist außerdem auf den umfangreichen Transfer von Know how, Patenten, Warenzeichen und die Mitnahme von Spezialisten durch die Westalliierten im April/Juni 1945 sowie später durch die sowjetische Besatzungsmacht zu nennen. In die UdSSR wurden ca. 2.500 Spezialisten verbracht, die größtenteils an militärisch wichtigen Forschungsprojekten arbeiteten. Eine Bewertung der „intellektuellen Reparationen“ ist kaum möglich. Die Schätzungen schwanken zwischen „einigen hundert Millionen“ bis zu 10 Mrd. Dollar Verlust für die gesamte deutsche Industrie. Diese Leistungen lassen sich nicht in Besatzungsgebiete unterteilen. Die von der SBZ / DDR geleisteten Reparationen lagen mit ca. 14 Mrd. Dollar deutlich über der Forderung von 10 Mrd. Dollar, die von der UdSSR ursprünglich gegenüber ganz Deutschland erhoben wurde. Die SBZ / DDR hat damit die größten im 20. Jh. bekannt gewordenen Reparationsleistungen erbracht. Demgegenüber sind angesichts der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung der Auslandshilfen für Westdeutschland die dem Land auferlegten unentgeltlichen Transfers als marginal einzuschätzen. Jedoch muß beachtet werden, daß sich nur die Bundesrepublik der Wiedergutmachungsfrage in umfassender Weise stellte. Die Rekonstruktion der Wirtschaft konnte im Osten Deutschlands erst Mitte der 50er Jahre abgeschlossen werden, und auch der individuelle Konsum erreichte erst wesentlich später als in der Bundesrepublik das Vorkriegsniveau. Für einen wirtschaftlichen Wettlauf mit der Bundesrepublik fehlten der DDR somit von vornherein die Voraussetzungen. Der in späteren Jahren sich abzeichnende Leistungsverfall der DDR-Wirtschaft läßt sich aber nicht primär den Startbedingungen anlasten. Dafür waren vielmehr die teils gewollte, teils erzwungene Abschottung vom Weltmarkt, die Einbindung in den RGW und die chronische Innovationsschwäche des planwirtschaftlichen Systems verantwortlich.

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4. Die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone und die Kollektivierung in der DDR Von Arnd Bauerkämper Die Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und die Kollektivierung in der DDR waren letztlich von den politischen Zielen bestimmt, das kapitalistische, auf Privateigentum basierende Wirtschaftssystem zu beseitigen und damit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ihre Grundlage zu entziehen. Damit einhergehend, sollte zumindest mittelfristig der Übergang zu dem ersehnten, vermeintlich egalitären sozialistischen und schließlich kommunistischen Zukunftsstaat herbeigeführt werden. Auf der Modernisierungsideologie des Sozialismus und der Utopie des „neuen Menschen“ basierend, mutierte diese Vision in der DDR zu einer Erziehungsdiktatur, deren Impetus in der DDR erst nach dem Abbruch der Fortschrittseuphorie in den siebziger Jahren nachließ.50 4.1. Die Bodenreform und ihre Folgen Der Kollektivierung ging – wie schon zuvor in der Sowjetunion – die Enteignung der Großgrundbesitzer voran, die bereits am 7./8. Juni 1945 auf Druck Stalins, aber in enger Kooperation mit den deutschen Kommunisten beschlossen wurde. Am 20. August beschloss die Führung der KPD, die Bodenreform zu verkünden. Nach Verordnungen, welche die Länder- und Provinzialverwaltungen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) vom 3. bis 10. September 1945 erließen, wurden bis Ende 1948 insgesamt rund 11.400 Landbesitzer, die als führende Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher galten, und Gutsherren, die über eine Fläche von mehr als 100 Hektar (ha) verfügten, entschädigungslos und pauschal enteignet. Dabei entzogen die eingerichteten Gemeinde- und Kreisbodenkommissionen auch vielen Waldbauern und Landwirten, deren Boden nur eine geringe Bonität aufwies, ihren Besitz. Die Verteilung des konfiszierten Landes und Inventars durch gesonderte Bodenreformkommissionen vollzog sich im Spannungsfeld von politischen Eingriffen jeweils übergeordneter Behörden, vor allem aber der führenden KPD-Funktionäre um Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht einerseits und einer populistischen Mobilisierung der dörflichen Unterschichten andererseits. Die KPD-Leitungen wandten sich dabei besonders an Landarbeiter und landarmen 50 Grundlegend: Meuschel, Sigrid: Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt/M. 1992, besonders S. 25 f. Langewiesche, Dieter: Fortschritt als sozialistische Hoffnung, in: Schönhoven, Klaus / Staritz, Dietrich (Hg.): Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Fs. Hermann Weber, Köln 1993, S. 39-55. Vergleichend: Fritzsche, Peter / Hellbeck, Jochen: The New Man in Stalinist Russia and Nazi Germany, in: Geyer, Michael / Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009, S. 302-341. Bauerkämper, Arnd: Die Utopie des, neuen Menschen’ und die Herrschaftspraxis in modernen Diktaturen. Persönlichkeitsformung im NS- und SED-Regime, in: Geus, Klaus (Hg.): Utopien, Zukunftsvorstellungen, Gedankenexperimente. Literarische Konzepte von einer „anderen“ Welt im abendländischen Denken von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2011, S. 203-227.

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Bauern, die gewonnen werden sollten, um den politischen Einfluss der Kommunisten in den Gemeinden zu stärken. Dazu wurden in den einzelnen Dörfern vielfach aufgestaute Konflikte zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ausgenutzt und geschürt. Letztlich gewann das Ziel, sich den beschlagnahmten Besitz anzueignen, oft die Oberhand gegenüber politischem Idealismus und dem Enthusiasmus des Neubeginns.51 Insgesamt wurde etwa ein Drittel des beschlagnahmten Landes Ländern, Provinzen und Kreisen übereignet, den Komitees der gegenseitigen Bauernhilfe zugewiesen oder von der sowjetischen Armee bewirtschaftet. Von dem Boden, der an Privatbesitzer vergeben worden war, erhielten Landarbeiter und landlose Bauern in der SBZ bis zum Frühjahr 1946 41,3 Prozent, Vertriebene 31,6 Prozent und landarme Bauern 22,2 Prozent. Kleinpächter wurden 2,3 Prozent des Bodenfonds zugewiesen, oft als Landzulage. Bis zum 1. Januar 1950 hatten in der SBZ 210.276 Neubauern durchschnittlich jeweils 8,1 ha übernommen. Diese Kleinsthöfe sicherten zwar die Selbstversorgung, waren aber kaum rentabel. Viele der neuen Besitzer verfügten auch nur über wenig Vieh und technisches Inventar. Überdies fehlten ihnen die benötigten Gebäude, Kapital und die zur Betriebsführung unabdingbaren Kenntnisse. Deshalb konnten die Betriebe der meisten Neubauern in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren nicht dauerhaft gefestigt werden.52 Jedoch hatte die Bodenreform in der SBZ und frühen DDR zu einem grundlegenden Wandel der Agrarstruktur geführt, vor allem in den traditionell von Gutshöfen geprägten Regionen Brandenburgs und Mecklenburgs. Während Betriebe mit mehr als 100 ha fast völlig verschwanden, bewirtschafteten 1952 Klein- und Mittelbauern mit jeweils 5 bis 50 ha 74,2 Prozent der Betriebsfläche. In den späten vierziger Jahren hatte die Führung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) auch die Verstaatlichung der Landwirtschaft vorangetrieben. So wurden 1948/49 „Volkseigene Güter“ (VEG) gebildet und „Maschinen-Ausleih-Stationen“ (MAS) etabliert. 1950 entmachtete das SED-Regime auch die traditionalen bäuerlichen Raiffeisengenossenschaften, die sich mit der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) zusammenschließen mussten. Nicht zuletzt lösten die Spitzenfunktionäre der SED eine politische Kampagne gegen die „Großbauern“ aus, deren Ablieferungsquoten in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren sprunghaft erhöht wurden. Diese Repression ging mit dem Übergang zur Planwirtschaft einher, welche die Überlegenheit des staatssozialistischen Systems ge51 Als instruktive Fallstudie: Spix, Boris: Die Bodenreform in Brandenburg 1945-47. Konstruktion einer Gesellschaft am Beispiel der Kreise Ost- und Westprignitz, Münster 1997. Hierzu und zum folgenden die Übersicht in: Bauerkämper, Arnd: Artikel „Bodenreform und Kollektivierung“, in: Beetz, Stephan / Brauer, Kai / Neu, Claudia (Hg.): Handwörterbuch zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland, Opladen 2005, S. 16-25, hier: S. 17 f. 52 Bauerkämper, Arnd: Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945-1963, Köln 2002, S. 91-98, 241-244. Kluge, Ulrich: Die Bodenreform 1945, in: Schneider, Jürgen / Harbrecht, Wolfgang (Hg.): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland (1933-1993), Stuttgart 1996, S. 91-104.

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genüber den westlichen Demokratien und Marktwirtschaften herbeiführen und belegen sollte.53 4.2. Der Übergang zur Kollektivierung Die Kollektivierungsprogrammatik ist tief im Marxismus-Leninismus verwurzelt. Nach den (durchaus nicht völlig einheitlichen) Konzepten von Marx und Engels sollten Großgrundbesitzer enteignet und Kleinbauern anschließend ihre Betriebe in genossenschaftliches Eigentum überführen. Daran anknüpfend, entwickelte Wladimir I. Lenin (1870-1924) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ein agrarpolitische Doktrin, nach dem zunächst das Gutsland aufzuteilen war, bevor anschließend die großen Landwirte entmachtet und den Kleinbauern das beschlagnahmte Land zur genossenschaftlichen Bewirtschaftung übergeben werden sollte. Damit war das Ziel verbunden, die soziokulturelle Kluft zwischen Bauern und Industriearbeitern zu überwinden, ein politisches „Bündnis“ zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppen herzustellen und letztlich das Gefälle zwischen Stadt und Land zu beseitigen. Dieses weitgespannte Konzept einer Umwälzung der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft lag der Enteignung der Großgrundbesitzer in Russland zugrunde, die unmittelbar nach der Oktoberrevolution von 1917 begonnen hatte.54 Zwölf Jahre später setzte der sowjetische Diktator Josef W. Stalin (18791953) in der UdSSR die Kollektivierungspolitik durch, die mit der Repression und Vernichtung der großen Landwirte („Kulaken“) einherging. Nachdem bereits zuvor staatliche Landwirtschaftsbetriebe gebildet worden waren, verursachte der erzwungene Zusammenschluss von Bauern in Kolchosen und die rücksichtslose Eintreibung der Getreideernten seit den späten zwanziger Jahren 1932/33 schließlich eine Hungersnot, der vor allem in der Ukraine Millionen Bauern zum Opfer fielen.55 Dennoch setzte die sowjetische Staats- und Parteiführung ab 1944 in den 53 Schoene, Jens: Ideology and Asymmetrical Entanglements: Collectivization in the German Democratic Republic, in: Iordachi, Constantin / Bauerkämper, Arnd (Hg.): The Collectivization of Agriculture in Communist Eastern Europe. Comparison and Entanglements, Budapest 2014, 147-180, hier: S. 151 f. Allgemein: Caldwell, Peter C.: Plan als Legitimationsmittel, Planung als Problem: Die DDR als Beispiel staatssozialistischer Modernität, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 360-374. 54 Altrichter, Helmut: Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917-1922/23, Darmstadt, 2. Aufl., 1996, S. 71-85. Dokumentation in: Merl, Stephan (Hg.): Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des „Kriegskommunismus“ und der Neuen Ökonomischen Politik, Berlin 1993, S. 81-84. 55 Viola, Lynne: Collectivization in the Soviet Union: Specificities and Modalities, in: Iordachi / Bauerkämper (Hg.): Collectivization, S. 49-77. Tauger, Mark B.: Stalin, Soviet Agriculture, and Collectivization, in: Trentmann, Frank / Flemming, Just (Hg.): Food and Conflict in Europe in the Age of the Two World Wars, Houndmills 2006, S. 109-142. Ausführlich: Merl, Stephan: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930-1941, Berlin 1990, S. 35-197. Dokumente in: Lynne Viola u .a. (Hg.): The War Against the Peasantry, 1927-1930. The Tragedy of the Soviet Countryside, New Haven 2005, S. 171-369. Zum Widerstand der Bauern: Fitzpatrick, Sheila: Stalin’s Peasants. Resistance and Survival in

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von der Roten Armee eroberten Gebieten Ost- und Mittelosteuropas nicht nur tiefgreifende Bodenreformen durch, sondern trieb anschließend auch die Kollektivierung der Landwirtschaft voran. Dieser Prozess wurde nur in Polen im Herbst 1956 abgebrochen. Demgegenüber prägte in der DDR die 1952 begonnene und acht Jahre später offiziell beendete Kollektivierung nicht nur nachhaltig die agrarwirtschaftlichen Strukturen, sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungen auf dem Lande.56 1952/53 wurde die Repressionspolitik gegenüber den „Großbauern“, von denen viele in die Bundesrepublik flohen, eng mit der Kollektivierungsagitation verzahnt. Auch bildete die SED-Führung die MAS zu Maschinen-Traktoren-Stationen um, in denen Politische Abteilungen eingerichtet wurden. Ihre Stellvertretenden Leiter waren in der Regel Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), denen die Überwachung der Landbevölkerung oblag.57 Die SED-Führung verband mit dem Übergang zur Kollektivwirtschaft und der sukzessiven Beseitigung der bäuerlichen Familienbetriebe die Hoffnung, die Produktion und Produktivität im der Agrarsektor deutlich und nachhaltig erhöhen zu können. Dazu wurde auch die Erblehre des sowjetischen Pflanzenzüchters Trofim D. Lyssenko propagiert. Sie versprach, durch neue Pflanzenarten eine erhebliche Steigerung der Produktion zu erreichen. Dazu sollten Keimlinge der Kälte ausgesetzt werden, um ihr Wachstum zu beschleunigen („Jarowisation“). Diese Vision war – ähnlich wie Nikita Chruschtschows und Mao Zedongs landwirtschaftliche Kampagnen – der hypertrophen Ideologie der Zwangsmodernisierung verhaftet, welche die Politik der kommunistischen Diktaturen in den fünfziger Jahren kennzeichnete.58 the Russian Village After Collectivization, Oxford 1994, S. 28-33, 80-102, 148-151, 183-203, 233-261, 286-320. Zur Diskussion über die Hungersnot in der Ukraine: Klymenko, Lina / Lang, Anne-Katrin: Hungersnot oder Genozid? Der Holodomor und die ukrainische Geschichtspolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54 (2009), H. 11, S. 93-102. 56 Vgl. die Beiträge von Dariusz, Jarosz, / Schöne, Jens / Rychlík, Jan / Gruev, Mihail / Iordachi, Constantin / Dobrincu, Dorin / Varga, Zsuzsanna in: Iordachi / Bauerkämper (Hg.), Collectivization, S. 113-46, 147-180, 181-210, 251-292, 329-368, 433-465. 57 Regina Teske, Staatssicherheit auf dem Dorfe. Zur Überwachung der ländlichen Gesellschaft vor der Vollkollektivierung 1952 bis 1958, Berlin 2006, S. 22-66. Kluge, Ulrich: Die verhinderte Rebellion. Bauern, Genossenschaften und SED im Umfeld der Juni-Krise 1953 in der DDR, in: von Kieseritzky, Wolther / Sick, Klaus-Peter (Hg.): Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays. Fs. Heinrich August Winkler, München 1999, S. 317-335. Bauerkämper, Gesellschaft, S. 139-152. 58 Fäßler, Peter: Freiheit der Wissenschaft versus Primat der Ideologie – die Irrlehren Trofim D. Lyssenkos und ihre Rezeption in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR, in: Kluge, Ulrich / Halder, Winfrid / Schlenker, Katja (Hg.): Zwischen Bodenreform und Kollektivierung. Vor- und Frühgeschichte der „sozialistischen Landwirtschaft“ in der SBZ / DDR vom Kriegsende bis in die fünfziger Jahre, Stuttgart 2001, S. 177-194. Vitĕslav, Orel: Die Auseinandersetzung der Lyssenko-Genetik mit der Mendel-Genetik im historischen Zusammenhang, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 47 (1999), S. 133-145. Zu China jetzt: Dikötter, Frank: Maos Großer Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China, Stuttgart 2014.

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Im Gegensatz zur Bodenreform beeinflusste die sowjetische Staats- und Parteiführung den Beginn der Kollektivierung in der DDR weniger direkt, indem sie der SED-Führung im Frühjahr 1952 freie Hand für die Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften gab. Stalin, der die führenden Funktionäre der deutschen Kommunisten noch im Dezember 1948 zu einer behutsamen Politik auf dem Lande aufgefordert hatte, stimmte am 7. April 1952 schließlich der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR zu. Das Scheitern der sowjetischen Noten an die Westmächte im März 1952 hatte dem sowjetischen Diktator offenbar gezeigt, dass die zunächst neben der Festigung der DDR von der UdSSR auch noch verfolgte gesamtdeutsche Politik zunehmend der Grundlage entbehrte und unrealistisch wurde. Im Verlauf der Kollektivierung war der erzwungene Zusammenschluss in Kolchosen, der in der Sowjetunion 1928/29 begonnen und nach einer Unterbrechung in den frühen dreißiger Jahren forciert worden war, für die führenden SED-Funktionäre ein wichtiger Erfahrungshintergrund und Orientierungshorizont.59 Nachdem das Politbüro der SED am 3. Juni 1952 die Gründung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften beschlossen hatte, rief Parteichef Ulbricht am darauffolgenden Tag die Ersten Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen zum Beginn der Kollektivierung auf. Ermuntert von der politischen Agitation, beantragten anschließend mehrere Delegationen von Bauern beim Ministerium für Land- und Forstwirtschaft die Gründung von LPG. Damit ist der Übergang zur Kollektivwirtschaft auf dem Lande keineswegs vorrangig auf eine spontane Initiative der dörflichen Bevölkerung zurückzuführen, sondern von der Parteiführung gezielt ausgelöst worden. Dennoch kann der Prozess nicht einfach als einseitige „Sowjetisierung“ der ostdeutschen Landwirtschaft erklärt werden. Vielmehr war er auch von den Spitzenfunktionären der SED angestrebt worden, um ihre Herrschaft in der DDR zu festigen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft kann damit als „Selbstsowjetisierung“ interpretiert werden. Ihr schloss sich trotz Vorbehalten unter einigen Funktionären und Mitgliedern auch die Führung der 1948 gegründeten Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) an. Letztlich vertiefte der Prozess die strukturellen Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten.60 Die neugebildeten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) mussten die Flächen aufnehmen, die Neubauern und „Großbauern“ verlassen hatten. So waren 1952/53 rund 70 Prozent der LPG-Mitglieder Neubauern, die mit dem Beitritt zu den Kollektivbetrieben offenkundig die Hoffnung verbanden, ihre Not überwinden und weiterhin in der Agrarwirtschaft arbeiten zu können. Nachdem die SED-Führung auf ihrer 2. Parteikonferenz (9.-12. Juli 1952) die Kollekti59 Wolkow, Wladimir K.: Die deutsche Frage aus Stalins Sicht (1947-1952), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 20-49. Bauerkämper, Arnd: „Sozialistischer Frühling auf dem Lande“ – Die Kollektivierung der Landwirtschaft, in: Schipanski, Dagmar / Vogel, Bernhard (Hg.): Dreißig Thesen zur deutschen Einheit, Freiburg 2009, S. 99-111. Ders.: Gesellschaft, S. 159-166. 60 Bauer, Theresia: Blockpartei und Agrarrevolution von oben. Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands 1948-1963, München 2003, S. 361-375. Scherstjanoi, Elke: SED-Agrarpolitik unter sowjetischer Kontrolle 1949-1953, München 2007, S. 345-424, 474, 478, 499.

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vierung der Landwirtschaft verkündet und auf der 10. Tagung des Zentralkomitees (ZK) im November die Auflösung des „kapitalistischen“ Sektors beschlossen hatte, wurden Statuten für drei LPG-Typen erlassen. Während die Mitglieder des Typs I ausschließlich den Boden gemeinsam bewirtschaften sollten, erfassten die Kollektivbetriebe des Typs II auch Maschinen und Geräte. In die LPG vom Typ III mussten die Mitglieder zusätzlich ihr Vieh einbringen – eine Bestimmung, die nur für wirtschaftsschwache Neubauern, nicht aber alteingesessene Landwirte attraktiv war. Mit dem Eintritt in die Produktionsgenossenschaften verloren Bauern das Verfügungsrecht über ihren Boden, blieben offiziell aber Eigentümer. Demgegenüber ging das Inventar vollständig in das Eigentum der LPG über.61 Die Kollektivierung wurde von den SED-Funktionären bereits in dieser ersten Phase als „Klassenkampf“ inszeniert. Die Kampagne, die den Sprung in die „sozialistische Moderne“ herbeiführen sollte, löste erneut utopische Erwartungen und Hoffnungen aus.62 4.3. Wirtschaftliche Grenzen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, abweichendes Verhalten und der Abschluss der Kollektivierung Die wirtschaftlichen Effekte der Kollektivierung blieben im Allgemeinen weit hinter den hochgesteckten Zielen zurück. Bis zu den späten fünfziger Jahren waren die Produktionsgenossenschaften den einzelbäuerlichen Betrieben hinsichtlich der Erzeugung und der Arbeits- und Flächenproduktivität deutlich unterlegen. So benötigten 1958 nicht weniger als 83 Prozent der LPG des Typs III, in der hoher Anteil wirtschaftsschwacher Klein- und Neubauern wie auch Landarbeiter relativ hoch war, staatliche Subventionen, um ihren Mitgliedern das festgelegte Mindesteinkommen auszahlen zu können.63 Auch deshalb widersetzten sich die verbliebenen Altbauern, die auf ihrer unabhängigen Bewirtschaftung beharrten, bis 1957/58 der Kollektivierungspolitik. Nach der 36. Tagung des ZK im Juni 1958 und dem vier Woche später veranstalteten V. Parteitag verstärkte die SED-Führung schließlich massiv den Druck auf die verbliebenen Landwirte. Im Wetteifer um Beitrittserklärungen bedrohten Agitationsbrigaden widerstrebende Einzelbauern, die ihre selbständige Betriebsführung und das überlieferte Leitbild des unabhängigen Landwirtes ebenso wenig aufzugeben bereit waren wie die Verfügungsrechte über ihr Eigentum an Boden, Maschinen, Geräten, Gebäuden und Vieh. 61 Bauerkämper, Arnd: Kontinuität und Auflösung der bürgerlichen Rechtsordnung. Landwirtschaftliches Bodeneigentum in Ost- und Westdeutschland (1945-1990), in: Siegrist, Hannes / Sugarman, David (Hg.): Eigentum im internationalen Vergleich (18.- 20. Jahrhundert), Göttingen 1999, S. 109-134, hier: S. 121-130. 62 Weir, Todd H.: Der Rausch im Plan. Ursachen und Folgen der Inszenierung von „Klassenkampf“ in der Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft 1952-1953, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 253-263. 63 Angabe nach: Steiner, André: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 115.

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Den Kommissionen gehörten oft Funktionäre der SED-Kreisleitungen, Mitarbeiter des MfS und Vertreter der Staatsanwaltschaften an. Vielerorts drangen diese Mitglieder der Brigaden widerrechtlich in die Höfe ein, wo sie Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten, als Freunde des „Klassengegners“ (d. h. der „Kapitalisten“) und der Adenauer-Regierung in der Bundesrepublik kriminalisierten. Oft wurden in der Kampagne auch Lautsprecherwagen eingesetzt, um den politischen Druck auf dem Lande zu erhöhen. Neben den Zwang trat aber Lockung. So bemühen sich die Agitationskommissionen, verbliebene Einzelbauern mit Versprechen zum Beitritt zu LPG oder zur Gründung neuer Produktionsgenossenschaften zu bewegen. Vor allem in der letzten Kollektivierungsphase stellten Partei- und Staatsfunktionäre zögernden Landwirten in Aussicht, sie nach dem Beitritt zu den Kollektivbetrieben bevorzugt mit Konsumgütern wie Fernsehgeräten und Kühlschränken oder Personenkraftwagen zu versorgen. Diese Versprechen wurden in der Regel nicht eingehalten, so dass enttäuschte Bauern die LPG noch nach dem offiziellen Ende der Kollektivierung wieder verließen. Dabei beriefen sie sich vielfach auf die offizielle Doktrin vom „freiwilligen“ Eintritt in die Produktionsgenossenschaften, aus der sie das Recht zum Austritt ableiteten.64 Schon zuvor hatte der Kollektivierungsprozess abweichendes Verhalten ausgelöst, das vom SED-Regime durchweg politisiert und kriminalisiert wurde. Gegen den erzwungenen Zusammenschluss zu LPG wehrten sich bedrängte Landwirte besonders im Sommer 1953 so offen, dass die Herrschaft der SED auch auf dem Lande vorübergehend kräftig erschüttert wurde. Unter dem Eindruck der Unruhen, die im Juni 1953 auch das Land erfassten, lösten sich in der DDR bis Oktober 1953 274 LPG auf, und bis Jahresende ging die Zahl der Produktionsgenossenschaften um insgesamt 8 Prozent zurück. Zudem traten aus den Kollektivbetrieben von Juni bis Ende Dezember 1953 rund 12 Prozent ihrer Mitglieder aus.65 Noch Ende1958 bewirtschafteten die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR nur 37 Prozent des Landes. Bauern, die weder mit Drohungen noch mit Versprechungen für die Kollektivwirtschaft gewonnen werden konnten, wanderten aus der Landwirtschaft ab oder flohen in die Bundesrepublik. Einzelne Landwirte begingen sogar Selbstmord. Nachdem sich das ZK auf seiner 7. Tagung im Dezember 1959 für einen schnellen Abschluss der Kollektivierung entschieden hatte und der Kreis Eilenburg (Bezirk Leipzig) „vollgenossenschaftlich“ geworden war, drängte beispielsweise der 1. Sekretär der SED-Bezirkslei64 Schöne, Jens: Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, Berlin 2005, S. 154-334. Ders.: Der „sozialistische Frühling“ auf dem Lande. Determinanten der SED-Agrarpolitik zwischen Reformdiskussionen und Vollkollektivierung, in: Deutschland Archiv 39 (2006), S. 77-85. 65 Bauerkämper, Arnd: Abweichendes Verhalten in der Diktatur. Probleme einer kategorialen Einordnung am Beispiel der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR, in: Ders. / Sabrow, Martin / Stöver, Bernd (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998, S. 294-311. Ders.: Keine Ruhe auf dem Lande. Formen abweichenden Verhaltens in dörflich-agrarischen Milieus im Sommer 1953, in: Engelmann, Roger / Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005, S. 263-297.

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tung Rostock, Karl Mewis, im Januar und Februar 1960 Bauern unter dem Motto „De Appel is riep!“ in die LPG. Unter dem Trommelfeuer der Kollektivierungsagitation wuchs der Anteil des von Produktionsgenossenschaften bewirtschafteten Bodens von Januar bis April 1960 sprunghaft, und die Zahl der Kollektivbetriebe verdoppelte sich. Nach dem Abschluss des „sozialistischen Frühlings“ verfügten 945.020 Mitglieder von LPG schließlich über 84,4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LN) in der DDR.66 Die SED-Führung verband mit der Kollektivierungspolitik – wie Ulbricht auf der Moskauer Agrarkonferenz im Januar/Februar 1960 betonte – die Erwartung, die Erträge in der Landwirtschaft sprunghaft steigern zu können. Zunächst schlossen sich die Bauern überwiegend in LPG des Typs I zusammen, in dem sie nur die Kontrolle über den Boden einbüßten. Viele der überstürzt gebildeten Produktionsgenossenschaften blieben bis 1962/63 instabil, da Mitglieder wiederholt austraten und vereinzelt sogar Kollektivbetriebe zerfielen. So wurden noch in den frühen sechziger Jahren im Obstbaugebiet um Werder (Havel) Gärtnerische Produktionsgenossenschaften aufgelöst, da die Kollektivwirtschaft hier für die Spezialproduktion besonders ungeeignet war. Auch dieser Erosionsprozess dementierte die offizielle Doktrin vom „sozialistischen Frühling auf dem Lande“. Insgesamt veranschlagte die Staatliche Plankommission die Kosten der Kollektivierung mit einer Milliarde Mark. Eine Minderheit der Bauern und vor allem Landarbeiter begrüßte und unterstütze jedoch den erzwungenen Zusammenschluss, die erst im Generationenwechsel in den ländlichen Milieus fester verankert wurde.67 Entgegen den Forderungen der Machthaber konnte die Kollektivierung die Kluft zwischen Stadt und Land aber ebenso überwinden wie die Diskrepanz zwischen Arbeitern und Bauern. Überdies erwies sich das regionale Süd-Nord-Gefälle in der DDR als unüberwindbar, zumal auch der Transfer von Beschäftigten im Rahmen der Kampagne „Industriearbeiter aufs Land“, die das SED-Regime im April 1953 ausrief, weitgehend scheiterte.68 Der Kollektivierungsprozess hatte zunächst die nördlichen Bezirke der DDR erfasst, wo bis 1945 Gutsbetriebe weite Flächen bewirtschaftet hatten und nach der hier deshalb durchgreifenden Bodenreform besonders viele Neubauernstellen eingerichtet worden waren. Dagegen vollzog sich der Zusammenschluss zu Produktionsgenossenschaften in den südlichen Regionen, in denen kleine Höfe und bäuerliche Nebenbetriebe vorherrschten und die Bodenreform die vorherrschende Agrarstruktur deshalb kaum angetastet hatte, deutlich langsamer. Auch nach dem offiziellen Abschluss der Kollektivierung waren die LPG hier überwiegend kleiner als im Norden, wo der großflächige 66

Werkentin, Falco: Klassenkampf auf dem Lande. Zu den Methoden der Kollektivierung von 1952 bis 1960, in: Beleites, Michael / Graefe zu Baringdorf, Friedrich Wilhelm / Grünbaum, Robert (Hg.): Klassenkampf gegen die Bauern. Die Zwangskollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft und ihre Folgen bis heute, Berlin 2010, S. 47-66.

67 Steiner, Plan, S. 118. 68 Witkowski, Gregory R.: “Industriearbeiter aufs Land!” Eine Fallstudie zu Staatsplanung, Eigensinn und Modernisierungsversuchen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), S. 913-929.

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Getreidebau vorherrschte. Damit spiegelte sich die bis 1945 vorherrschende regionale Agrarstruktur noch in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wider.69 4.4. Die Gigantomanie der agro-industriellen Komplexe In den sechziger Jahren trieben die Parteileitungen und Landwirtschaftsbehörden schließlich den Übergang aller Kollektivbetriebe zu LPG des Typs III voran. Seit 1967/68 galt schließlich die „industriemäßige Produktion“ in der Landwirtschaft als verbindliche Agrarpolitik. Dabei standen sich zunächst Befürworter von „Groß-LPG“ und Anhänger kooperativer Betriebe gegenüber, die in der SEDFührung letztlich die Oberhand behielten. Zunächst wurden nur lose miteinander verbundene Kooperationsbetriebe (KAP) gebildet. In der Mitte der siebziger Jahre setzte die Führung der SED jedoch eine strikte Trennung von Viehwirtschaft und pflanzlicher Erzeugung durch. Die damit angestrebte Spezialisierung und Intensivierung der Produktion sollte letztlich eine Angleichung der Lebensbedingungen in Stadt und Land herbeiführen und die Unterschiede zwischen der Industrie und dem Agrarsektor beseitigen. Diese rigorose und willkürliche Trennung von Betrieben der Tierproduktion und des Pflanzenbaus traf auf dem Lande auf erhebliche beträchtliche Vorbehalte und gelegentlich sogar offene Ablehnung, sogar bei Funktionären der SED und DBD. Die Skeptiker forderten, am natürlichen Kreislauf und Austausch der landwirtschaftlichen Erzeugung festzuhalten.70 Aber erst nach dem Tod des führenden Agrarfunktionärs Gerhard Grüneberg (1981), der als mächtiger ZK-Sekretär für Landwirtschaft die Agrargigantomanie des SED-Regimes propagiert und durchgesetzt hatte, wurde die großbetrieblichindustrielle Agrarproduktion als agrarpolitisches Leitbild vorsichtig zurückgenommen. Zunehmend wurde deutlich, dass die industrielle Großlandwirtschaft nicht auch die natürliche Umwelt nachhaltig schädigte, sondern auch in ökonomischer Hinsicht beträchtliche Grenzen aufwies. Vor allem das Konzept der zentralen Verwaltungswirtschaft mit dem inflexiblen Planungsapparat erwies sich als unfähig, in der Landwirtschaft die erhoffte deutliche Steigerung der Produktion und Produktivität zu erzielen. Auch verursachte die Verwaltung der z. T. riesigen Betriebe erhebliche Transaktionskosten. Insgesamt blieb besonders das Wachstum der Arbeitsproduktivität weit hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück. Vor allem die jüngeren und weiblichen Beschäftigten schätzten aber die festen Arbeitszeiten, den Anspruch auf Urlaub und andere sozialpolitische Leistungen. Da 69 Bauerkämper, Gesellschaft, S. 336-338. 70 Last, Georg: After the ‘Socialist Spring‘. Collectivization and Economic Transformation in the GDR, New York 2009, S. 21 f., 48 f., 68 f., 94-96, 101-152. Ders.: Rural Functionaries and the Transmission of Agricultural Policy: The Case of Bezirk Erfurt from the 1960s to the 1970s, in: Fulbrook, Mary (Hg.), Power and Society in the GDR 1961-1979. The ‘Normalisation’ of Rule?, New York 2009, S. 76-101. Langenhan, Dagmar: Auf dem Wege zur genossenschaftlichen Demokratie? Mitglieder und Beschäftigte der LPG im betrieblichen Alltag der 70er/80er Jahre, in: Hürtgen, Renate / Reichel, Thomas (Hg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001, S. 263-274.

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sich ihr Leben und ihre Arbeit in dieser Hinsicht positiv von der bis zu den fünfziger Jahren vorherrschenden bäuerlichen Landwirtschaft abhoben, entwickelten sie oft durchaus auch eine emotionale Bindung zu „ihrer“ LPG. Dazu trug auch die Errichtung von Kulturhäusern auf dem Land bei, die allerdings keineswegs ausschließlich Unterhaltung boten, sondern auch dem Ziel verpflichtet waren, den „neuen Menschen“ heranzubilden, der die staatssozialistische Diktatur tragen sollte. Besonders Frauen schätzten die Vorteile der Beschäftigung in den neuen Kollektivbetrieben, obgleich sie vorrangig in der Viehwirtschaft z.T. schwere Arbeiten verrichteten und kaum in Leitungspositionen aufstiegen.71 Bilanz: Mit dem Abschluss der Kollektivierung waren die eigenständigen bäuerlichen Familienbetriebe beseitigt worden. Private Landwirtschaft beschränkte sich auf den kleinen Bereich der privaten Hauswirtschaften (in der Regel 0,5 ha pro LPG-Mitglied). Hier durften Landwirte und deren Familienangehörige, die den Kollektivbetrieben beitraten, eine Fläche von jeweils 0,5 ha weiterhin individuell bewirtschaften. Sie erzielten dabei überdurchschnittliche Erträge. Darüber hinaus konnten in den Hauswirtschaften auch traditionale bäuerliche Wirtschaftsformen und Kultur bewahrt werden. Auch deshalb gelang es in den LPG nicht, tief verwurzelte Mentalitätsunterschiede zwischen der dörflichen und städtischen Bevölkerung vollständig zu beseitigen. In den achtziger Jahren gestand sogar die Parteiführung ein, dass die angestrebte Angleichung von Stadt und Land allenfalls partiell gelungen war. Vor allem aber hatte die SED-Agrarpolitik letztlich keineswegs eine einheitliche Schicht von „Genossenschaftsbauern“ konstituiert.72 Plakat 1951

71 Bauerkämper, Gesellschaft, S. 403-405. 72 Krambach, Kurt u. a.: Die Genossenschaftsbauern in den achtziger Jahren, Berlin (-Ost) 1984.

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5. Von den Zentralverwaltungen über die Deutsche Wirtschaftskommission zur Staatlichen Plankommission „Der Marxismus-Leninismus sieht im Staat das wichtigste Instrument zum Aufbau und zur Sicherung des Sozialismus. Mit der bolschewistischen Revolution in dem industriell rückständigen Rußland von 1917 wurde der Staat zum alles entscheidenden und alles bestimmenden Faktor des ‚sozialistischen Aufbaus‘. Unter der Losung wurde sowohl die Industrialisierung des rückständigen Rußlands als auch der Aufbau der Diktatur des Proletariats verstanden. Das sowjetische Staatsverständnis gehört zu den ideologisch-politischen Voraussetzungen für die Staatskonzeption der SED (Verfassung). Die Vorgeschichte des SED-Staats- und Verwaltungsapparats: Die Sowjetunion unter der totalitären und doktrinären Herrschaft Stalins war bestrebt, den von ihren Truppen am Ende des zweiten Weltkriegs eroberten Staaten und Territorien das Sowjetsystem zu oktroyieren und diese ihrem Regime gleichzuschalten und einzugliedern. Für die SBZ hieß das, daß bereits während des Krieges sowohl personelle wie organisatorische Voraussetzungen dafür geschaffen wurden (Initiativgruppen; SED). Mit Befehl Nr. 17 vom 25. Juli 1945 der SMAD wurden in Berlin elf deutsche Verwaltungen eingerichtet: für Verkehr, Nachrichtenwesen, Brennstoffe, Industrie, Ackerbau, Finanzen, Arbeitskräfte, Erziehung (Entnazifizierung), Justiz, Gesundheit und Handel. Die personellen und organisatorischen Zuarbeiten hierfür leisteten die kommunistischen Initiativgruppen. Dieser SMAD-Befehl und die personellen Entscheidungen wurden bis Mitte September 1945 geheimgehalten. Erst nach dem Beitritt Frankreichs zum Potsdamer Abkommen (Vier Mächte) gab die SMAD die Errichtung der Zentralverwaltungen unter ihrer Weisungsbefugnis bekannt. Mit Befehl Nr. 138 vom 4. Juni 1947 faßte die SMAD die Zentralverwaltungen in der Deutschen Wirtschaftskommission /DWK) unter Führung von Heinrich Rau (Vorsitzender) und seinen Stellvertretern Bruno Leuschner (Sequester, Planung und Finanzen) und Fritz Selbmann (Reparationen, Produktion und Verteilung) zusammen.73 Mit Befehl 32 vom 12. Febr. 1948 erweiterte die SMAD Struktur, Aufgaben und personelle Zusammensetzung der DWK und übertrug ihr vor allem noch deutlichere Weisungsbefugnisse gegenüber den Ländern und örtlichen Organen ihrer Zone. Neben Rau, Leuschner und Selbmann (alle SED) wurden im Rahmen der 73 Niedbalski, Bernd: Deutsche Zentralverwaltungen und Deutsche Wirtschaftskommission. Ansätze zur zentralen Wirtschaftsplanung in der SBZ 1945-1948, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 33, 1985, S. 456-477 (S. 477). Herbst, Andreas / Ranke, Winfried / Winkler, Jürgen: So funktionierte die DDR, Bd. 1, Stichwort Deutsche Wirtschaftskommission (DWK), Reinbek b. Hamburg 1994, S. 228 f. Aus DDR-Sicht, Schöneburg, Karl-Heinz: Staat und Recht in der Geschichte der DDR, Berlin (-Ost) 1973, S. 119 ff. Weißleder, Wolfgang: Deutsche Wirtschaftskommission und Errichtung des sozialistischen Staates der DDR, in: Staat und Recht, 1975, S. 576 ff.

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Blockpolitik als weitere Stellvertreter Luitpold Steidle (CDU) und Prof. Hermann Kastner (LDPD) berufen. Die erweiterte DWK setzte sich aus 17 Hauptverwaltungen zusammen, welche die wesentlichen Branchen der Wirtschaft und Versorgung repräsentierten. Hinzu kamen die (damals nicht offiziell genannten) Hauptverwaltungen für Gesundheitswesen, Justiz, Volksbildung, Inneres und Reparationen. Nach diesem seit Sommer 1945 systematisch betriebenen Aufbau einer vorstaatlichen zentralen Administration für die gesamte SBZ wurden nach Gründung der DDR die Hauptverwaltungen der DWK in Ministerien umbenannt“.74 „1947 begann der Aufbau zentralisierter staatlicher Strukturen mit Gründung der Deutschen Wirtschaftskommission und dem Übergang zur Planwirtschaft. Die personelle Verschmelzung der obersten Parteiorgane mit den zentralen Institutionen der Staatsmacht (Staats- und Verwaltungsapparat) prägte von Beginn an das politische System der SBZ / DDR“.75 Die Staatliche Plankommission (SPK) war seit 1950 das zentrale Planungsorgan des Ministerrats der DDR.76

74 Schenk, Fritz: Staats- und Verwaltungsapparat, in: Eppelmann, Rainer et al. (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, S. 818 f. Merker, Wolfgang: Landes- und Zentralverwaltungen – Konstituierung und Ausrichtung der SBZ-Verwaltungsspitze durch die SMAD, in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 1999, S. 93-107. 75 Wilke, Manfred / Schroeder, Klaus / Alisch, Steffen: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), in: Ebd., S. 742 f. 76 Kinze, Hans Heinrich / Knop, Hans / Seifert, Eberhard (Hrsg.): Volkswirtschaftsplanung. Lehrbuch, Berlin (-Ost), 1975, S. 23 f., 71 f., 73 ff., 144 ff., 498 ff., 514 f.

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Das Modell Sowjetunion und die Deutsche Wirtschaftskommission. Die wirtschaftliche Organisation der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und spiegelbildlich dazu die Deutsche Wirtschaftskommission (um 1948)

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Industrieverwaltungen der UdSSR, die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und spiegelbildlich dazu die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) 1)

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6. Die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ war das Etikett für die Transformation der Wirtschaft der SBZ nach dem sowjetischen Modell „Die SED definierte die Nachkriegsphase als ‚tiefgreifende revolutionäre gesellschaftliche Veränderung aller bisher vom Imperialismus beherrschten Lebensbereiche unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei‘ als ‚die erste Etappe des einheitlichen revolutionären Prozesses des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, die mit der Gründung der DDR in die sozialistische Revolution hinüberwuchs‘. Damit wurde die von der sowjetischen Besatzungsmacht bis Oktober 1949 mit administrativen Mitteln durchgesetzte Entwicklung als eine von der KPD / SED gelenkte erste Phase des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus gerechtfertigt. Nach der im sowjetischen Machtbereich herrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus vollzog sich demnach weltweit der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus gesetzmäßig unter Führung der Arbeiterklasse und der kommunistischen Parteien. Die Macht der SED hatte die Besetzung des östlichen Teils Deutschlands zur Voraussetzung. Mit dieser ideologischen Sprachregelung wurde auch die Etablierung einer kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden begründet. Das Bild von der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung wurzelte auch in der Programmatik der KPD. Seit 1937 favorisierte die im Moskauer Exil lebende Führung der KPD die Idee, in Deutschland eine ‚demokratische Volksrepublik‘ zu etablieren. In einer Resolution des ZK der KPD vom 14. Mai 1938 hieß es, in der neuen demokratischen Republik, die nach dem Sieg über Hitler zu errichten sei, werde das deutsche Volk ‚den Faschismus mit der Wurzel ausrotten und ihm seine materielle Basis durch Enteignung der faschistischen Verschwörer unter den Großkapitalisten und Großgrundbesitzern entziehen‘. Auf ihrer Berner Konferenz 1939 erklärte die KPD, daß im zukünftigen Deutschland die Interessen der ‚Arbeiterklasse‘ als der führenden Kraft gebührend beachtet werden müßten. Die KPD-Führung orientierte sich bei der Formulierung ihrer Vorstellungen unmittelbar an Lenins Schrift ‚Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution‘ aus dem Jahre 1905. Darin erteilte Lenin seinen bolschewistischen Anhängern den Rat, ein Aktionsprogramm aufzustellen, das im Sinne von Minimalforderungen ‚den objektiven Bedingungen des gegebenen historischen Augenblick und den Aufgaben der proletarischen Demokratie‘ entspreche. Darunter verstand Lenin Umgestaltungen, die ‚einerseits auf dem Boden der jetzigen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse vollauf durchführbar und andererseits für den weiteren Schritt vorwärts, für die Verwirklichung des Sozialismus notwendig sind‘. In Anlehnung an das Leninʼsche Konzept formulierten Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht 1944 in Moskau ein ‚Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie‘, in dem versucht wurde, die erwartete Ausgangssituation in Deutschland bei Kriegsende zu skizzieren. Das durch den Sieg der alliierten AntiHitler-Koalition nötige Arrangement mit den westlichen Siegermächten zwang die sowjetische Führung und mit ihr die KPD daher ebenso, sich mit Plänen einer schnellen revolutionären Umgestaltung zurückzuhalten, wie der eigene Mangel an Kadern und die Haltung der deutschen Bevölkerung. Um die sowjetisch gelenkte

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Machtergreifung durch die kommunistische Führungsgruppe um Ulbricht und Pieck dennoch ideologisch zu legitimieren, wurde der anvisierten ‚sozialistischen Revolution‘ die Phase einer ‚antifaschistisch-demokratischen Umwälzung‘ vorangestellt. Im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 forderte die KPD-Führung in diesem Sinne, in Deutschland zunächst eine antifaschistisch-demokratische, parlamentarische Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk zu schaffen. Der grundlegende Unterschied zur Weimarer Republik sollte im antikapitalistischen Charakter der neuen Ordnung liegen. Unter Berufung auf den gemeinsamen Kampf zur Überwindung der Folgen des Nationalsozialismus wurden die neuen politischen Kräfte auf den Antifaschismus77 verpflichtet. Die 1945 von der SMAD in der SBZ lizensierten Parteien KPD, SPD, CDU und LDPD mußten sich bereits bei ihrer Gründung verpflichten, sich am ‚Block der antifaschistischdemokratischen Parteien‘ (Blockpolitik) zu beteiligen, in dem dank sowjetischer Unterstützung von Beginn an die KPD dominierte. Die Tatsache, daß die von der sowjetischen Besatzungsmacht befohlene und durchgesetzte antifaschistisch-demokratische Ordnung von Anfang an der ideologisch abgesicherten Machtübernahme durch die deutschen Kommunisten diente, wurde schon dadurch deutlich, daß die SMAD keinen Zweifel am Anspruch der KPD / SED auf die Schlüsselpositionen der deutschen Verwaltungsorgane (z. B. die Dezernate für Personalfragen, für Volksbildung und für den Aufbau der Polizei) ließ. ‚Es ist doch ganz klar‘, erläuterte Walter Ulbricht 1945 die kommunistische Taktik, ‚es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten‘. Bald wurde auch deutlich, daß sich der antifaschistische Kampf nicht nur gegen ehemalige Anhänger des NS-Regimes richtete, sondern als ideologische Grundlage für die schrittweise Zerschlagung der privaten Besitzverhältnisse (Eigentum) im Agrarbereich, in der Wirtschaft sowie in den Bereichen Handel und Banken diente. In Industrie und Landwirtschaft wurden nach den radikalen Enteignungen die Weichen ab 1948 in Richtung einer Zentralverwaltungswirtschaft nach sowjetischem Muster gestellt. Der Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien erwies sich schnell als Mittel zur Unterdrückung aller politischen Bestrebungen in Richtung einer Zentralverwaltungswirtschaft nach sowjetischem Muster gestellt. Der Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien erwies sich schnell als Mittel zur Unterdrückung aller politischen Bestrebungen in Richtung demokratischer und freiheitlicher Verhältnisse. Schritt für Schritt setzte die Besatzungsmacht auch hier die Vorherrschaft der kommunistischen Partei durch. Die Vereinigung von KPD und SPD zur SED im April 1946 beendete bereits frühzeitig den Einfluß sozialdemokratischer Politik auf die Entwicklung. Bis 1950 folgte die schrittweise Gleichschal-

77 Knütter, Hans Helmuth: Antifaschismus, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Paderborn 1997, S. 6570. Ders.: Die Faschismus-Keule. Das letzte Aufgebot der deutschen Linken, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1994. Agethen, Manfred / Jesse, Eckhard / Neubert, Ehrhart (Hrsg.): Der mißbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Br. 2002.

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tung der bürgerlichen Parteien CDU und LDPD. Institutionen wie der Volkskongreß (Volkskongreßbewegung) und der Volksrat bereiteten die SED-Diktatur ebenso vor wie die Entmündigung der Landes- und Kommunalparlamente, die Gründung neuer prokommunistischer Parteien (NDPD und DBD) und die Schaffung von Zentralverwaltungsorganen, in denen von Anfang an die SED dominierte. Die Gründung der DDR im Oktober 1949 schloß die antifaschistisch-demokratische Umwälzung ab und leitete die Phase der sozialistischen Umwälzung ein. Bis Ende der 50er Jahre vertrat die SED die Auffassung, die Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwandlung habe bis zur 2. Parteikonferenz der SED im Jahre 1952, bei der der Aufbau des Sozialismus offiziell propagiert wurde, gedauert. Ab Mitte der 70er Jahre galt offiziell, daß diese Phase mit der DDR-Gründung abgeschlossen gewesen sei. In der Folgezeit formulierte die SED offen und uneingeschränkt ihren Anspruch auf den alleinigen und umfassenden Führungsanspruch in allen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Durchgesetzt von der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED, entstand eine totalitäre Herrschaftsordnung (Totalitarismus; SED), deren Merkmale die Durchdringung der Gesellschaft mit einer Ideologie, der Unterdrückungsapparat (Unterdrückungsmechanismen; Schau- und Geheimprozesse) und der Personenkult waren. In den vier Jahrzehnten der Existenz der DDR behielten der Antifaschismus und die Kennzeichnung der Entwicklung von 1945 bis 1949 als antifaschistischdemokratische Umwälzung ihre die SED-Diktatur legitimierende Funktion. Die DDR sollte als ‚Hort des Antifaschismus‘ erscheinen, während in der Bundesrepublik angeblich die imperialistischen deutschen Traditionen fortlebten. Mit der Beseitigung der SED-Diktatur durch die friedliche Revolution 1989/90 verschwand auch die revolutionäre Verklärung der Entwicklung von 1945 bis 1949 als einer Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung weitgehend und wird nur noch in Kreisen der PDS kolportiert. Die heute zugänglichen Unterlagen aus sowjetischen und DDR-Archiven lassen keinen Zweifel daran, daß die Entwicklung von 1945 bis 1949 vollständig von der sowjetischen Besatzungsmacht gesteuert und kontrolliert wurde. Von einer demokratischen Umwälzung kann angesichts der gewaltsamen Etablierung einer neuen totalitären Diktatur durch die Besatzungsmacht keine Rede sein“.78 7. Von den privaten Unternehmen (Personen- und Kapitalgesellschaften) zum Volkseigentum: Sequestration durch die SMAD und Konfiskation durch die SED (1945/48). Abwanderung in den Westen 7.1. Von privaten Unternehmen durch Konfiskation zum Volkseigentum Die Bankenschließungen erfolgten am 28. April 1945 und die Kontenenteignungen gemäß SMAD-Befehl Nr. 01 vom 23. Juli 1945: Die Konfiskation des Eigentums (und – partiell – des Erbrechts) war eine 1945 und späterhin konsequent 78 Richter, Manfred: Antifaschistisch-demokratische Umwälzung, in: Ebd., S. 70-73.

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geschaffene Grundlage für die kommunistische Diktatur in der SBZ gewesen. Unmittelbar nach der Besetzung Berlins wurden durch den Befehl Nr. 1 des Chefs der Besatzung der Stadt Berlin vom 28. April 1945 alle Banken geschlossen und es wurde den Bankbeamten kategorisch verboten, jegliche Werte zu entnehmen. Entscheidende Schritte waren die sogenannten Kontenenteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone 1945. Mit Datum vom 23. Juli 1945 hatte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland mit ihrem SMAD-Befehl Nr. 01 „Über die Neuorganisation der deutschen Finanz- und Kreditorgane“ in ihrer Besatzungszone eine generelle Auszahlungssperre für alle Reichsmark-Guthaben verfügt. Die Auszahlungssperre betraf dabei nicht nur die Guthaben auf Spar- und Girokonten, sondern auch die Ansprüche aus Anleihen und gegenüber Versicherungen. Die Auszahlungssperre änderte sich erst am 26. Juni 1948, dem Tag des Binnenwährungsumtausches in der SBZ. Die Konfiskationen von privaten Unternehmen und Überführung in Volkseigentum. Die Konfiskationen der Betriebe – auf der Grundlage der SMAD-Befehle Nr. 124 und 126 vom 30. und 31. Oktober 1945 – in der Industrie als dritte entscheidende Maßnahme der wirtschaftspolitischen Umgestaltung in der SBZ betraf ca. 9.500 größere Industriebetriebe, wobei auch hier oftmals, örtlichen Begehrlichkeiten oder Animositäten kommunistischer Funktionäre folgend, die Konfiskationen auch kleine Unternehmen erfaßten.79 Bei den Konfiskationen „kam es zu vielen Rechts- und Menschenrechtsverletzungen. [...] Meist wurden konstruierte Vorwände zur Kriminalisierung der Mittelständler benutzt. Dazu gehörte die berüchtigte Aktion Rose im Frühjahr 1953 an der Ostseeküste. In kürzester Zeit wurden bei diesem Raubzug über 600 Hotels, Pensionen, Gaststätten und andere Ferienbetriebe enteignet. Über 400 Eigentümer wurden verhaftet und später verurteilt. Hunderte flohen in den Westen. Als Vorwände dienten manchmal nur das Hören westlicher Radiosender oder geringfügige Bestände von Lebensmitteln, die die Betriebe für die Versorgung der Gäste brauchten“.80 Auch die „Industriereform“ war – wie die „Bodenreform“ – ein Instrument der unterschiedslosen Verfolgung und Vernichtung einer ganzen sozialen Schicht, des Bürgertums in der SBZ.

79 Lisse, Albert: Handlungsspielräume deutscher Verwaltungsstellen bei den Konfiskationen in der SBZ 1945-1949, S. 19 f. 80 Neubert, Ehrhard: Politische Verbrechen in der DDR. In: Stéphane Courtois et al.: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit dem Kapitel „Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR“ von Joachim Gauck und Ehrhard Neubert, 1998, S. 849 f.

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Konfiskation des Privateigentums an Produktionsmitteln und Überführung in „Volkseigentum“ in der SBZ/DDR (1945-1950) Totalitärer Staat Kommunismus (Utopie) autoritär definiertes Gesamtinteresse: Parteitage der SED („Die Partei hat immer recht.“) Liquidierung des privaten Sektors

Bis 1. März 1948:

Konfiskation des Privateigentums an den Produktionsmitteln

Konfiskation von 9.281 Unternehmen

Anstelle am Konsumenten orientierter dezentraler Planung durch Unternehmer (=der Konsument steuert Produktion)

Sozialistische Einheitspartei: Wähler hat keine Alternative. Die autoritäre, willkürliche Festsetzung aller Ziele führt zur Bevormundung auf allen Gebieten.

Staatseigentum („Volkseigentum“)

Sozialistische Zentralplanung (Staatliche Plan kommission) durch Funktionäre. Marktlose Steuerung durch Naturalplanung = Ersetzung von Markt und Geld.

Monopol der SED (Nomenklatur) über Ressourcen und Produktionsfaktoren / Verankerung der Herrschaftsbasis

Willkürliche Festsetzung der individuellen und kollektiven Bedürfnisse ohne Befragung des Individuums. Produktion und Konsum sind zwei völlig getrennte Bereiche. „In der kommunistischen Wirtschaft würde die Produktion irgendwie geleitet, die Verteilung irgendwie vorgenommen werden [...] Die Verteilung und Bedürfnisbefriedigung würde sich nach der Produktion richten, nicht die Produktion nach den Bedürfnissen“.81

81 Halm, Georg: Die Konkurrenz. Untersuchungen über die Ordnungsprinzipien und Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Verkehrswirtschaft, München und Leipzig 1929, S. 32. Entwurf: Schneider, Jürgen, Altdorf bei Nürnberg 2008.

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Den Betroffenen der Konfiskationen war jede Möglichkeit zur Rechtfertigung verwehrt. Gerichtliche Überprüfungsmöglichkeiten und rechtsstaatliche Verfahrensregeln (rechtliches Gehör, Rechtsschutz, Unschuldsvermutung) bestanden nicht.82 Bereits in der SBZ wurde die Gewaltenteilung aufgehoben und die Justiz von der SED instrumentalisiert und die persönliche Freiheit nicht durch Gerichte geschützt. Zur Durchführung der Befehle 124 und 126 installierte die SMAD mit dem Befehl Nr. 13983 vom 9. November 1945 die organisatorischen Strukturen. Der SMAD-Befehl 139 legte fest: „Die Landräte bzw. Oberbürgermeister sind dafür verantwortlich, daß alle auf Grund des Befehls Nr. 124 ausgesprochenen Beschlagnahmen überprüft werden. Insbesondere ist anzugeben, ob von diesem Befehl betroffene Personen tatsächlich Aktivisten gewesen sind. Die bloße Behauptung genügt nicht, sie muß belegt werden“. Am 29. März 1946 erließ die SMAD den Befehl Nr. 9784 mit Ausführungsbestimmungen, der die Sequesterpraxis in den Ländern vereinheitlichte und dafür die Zentrale Deutsche Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme (ZDK) einsetzte. Während der SMAD-Befehl Nr. 97 vom 29. März 1946 neben der Bildung der ZDK die Übergabe der sequestrierten und beschlagnahmten Vermögenswerte in die Verfügungsgewalt deutscher Verwaltungen ankündigte, regelte der SMAD-Befehl Nr. 154/181 vom 21. Mai 194685 diese Übergabe. Punkt 8 des Befehls Nr. 154/181 vom 21. Mai 1946 verpflichtete die deutschen Behörden abermals zur strikten Einhaltung des sowjetischen Besatzungsrechts. Die „falsche Anwendung“ der o. g. Befehle fand ihren Niederschlag in der Zuordnung zu den Listen A oder B,86 für die die deutschen Verwaltungsstellen von Anfang an verantwortlich waren. Die SMAD-Festlegungen und die Kritik an den

82 Forsthoff, Ernst: Ist die Bodenreform in der Deutschen Demokratischen Republik im Falle der Wiedervereinigung als rechtswirksam anzuerkennen? Rechtsgutachten, Heidelberg 1954, S. 4 ff. und Lisse, Albert: Handlungsspielräume deutscher Verwaltungsstellen bei den Konfiskationen in der SBZ 1945-1949, passim. 83 Lisse, Albert: Handlungsspielräume, S. 71, 147, 252. 84 Ebd., S. 71. 85 Ebd., S. 71, 206-208. 86 Die Liste A verzeichnete alle Betriebe, deren Besitzer enteignet werden sollten. Die Liste B erfaßte Betriebe, die an ihre Eigentümer zurückgegeben werden sollten, weil diese als „nicht in erheblichem Maße“ belastete Naziaktivisten und Kriegsverbrecher galten. De facto wurde die Rückgabe vieler Unternehmen auf der Liste B durch Willkürentscheidungen deutscher Verwaltungsstellen verhindert. Vorläufig im Besitz bzw. unter Kontrolle der SMAD verbleibende, meist Reparationszwecken dienende Unternehmen registrierte eine besondere Liste C. Zu den verschiedenen Listen Broszat, Martin / Weber, Hermann (Hrsg.): Das SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949, München 1990, S. 381 f.

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deutschen Verwaltungsstellen werfen ein bezeichnendes Licht auf den Wert dieser Listen.87 Sowjetische Reparationsansprüche auf betriebliches Vermögen, erfaßt in einer sogenannten C-Liste, regelte u. a. der Befehl Nr. 16788 vom 5. Juni 1946. Mit dem Befehl Nr. 201 vom 16. August 194789 und seinen Ausführungsbestimmungen differenzierte die SMAD erst zwei Jahre nach dem Befehl Nr. 124 zwischen nominellen und aktiven NSDAP-Mitgliedern und verbot Eigentumsentzug ohne korrekte Verfügung gerichtlicher oder entsprechender Verwaltungsorgane. Der endgültige Abschlußbericht der Zentralen Deutschen Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme (ZDK) an die SMAD-Kontrollkommission vom 11. März 1948 enthielt nur die konkrete Statistik der Enteignungen und Aufstellung von Betrieben, die aus unterschiedlichen Gründen in den Ländern und Provinzen auf den A-, B- und C- Listen während der vergangenen zwei Jahre hin- und hergeschoben wurden. Danach betrug die Zahl der in der SBZ auf die A-Liste gesetzten betrieblichen Unternehmen 9.281. Für die B- und C-Liste machte der Bericht keine Angaben.90 Der Befehl Nr. 64 und seine Ausführungsverordnungen wie auch die ihm folgenden DWK-Richtlinien beendeten im Eilverfahren und formal die Konfiskationen.91 7.2. Abwanderung von 36.000 Unternehmen aus der SBZ / DDR in den Westen, davon werden dort 9.000 Unternehmen fortgeführt Peter Hefele92 unterscheidet bei der Sequestrierung/Enteignung vier zeitliche Verdichtungen: 1945/46, 1948, 1950 und 1952/53. In der ersten Phase wurden zwischen 30 und 50 % der Konfiskationen durchgeführt, in den drei nachfolgenden jeweils zwischen 10 und 15 %; allerdings waren die Länder unterschiedlich stark

87 Tatzkow, Monika / Henicke, Hartmut: Zur Praxis der „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“ in der SBZ, in: Zeitschrift für offene Vermögensfragen (ZOV) 4/1992, S. 183 f. 88 Lisse, Albert: Handlungsspielräume, S. 208 f. Karlsch, Rainer / Laufer, Jochen (Hrsg.): Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944-1949. Hintergründe, Ziele und Wirkungen, Berlin 2002. 89 Lisse, Albert: Handlungsspielräume, S. 212-214.. 90 Tatzkow, Monika / Henicke, Hartmut: Zur Praxis der „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“ in der SBZ, in: ZOV 1992, S. 185. 91 ZVOBl. 1948, S. 140 ff. 92 Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland. Unter besonderer Berücksichtigung Bayerns (1945-1961), Stuttgart 1998, S. 83 ff.

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von den Maßnahmen in den einzelnen Jahren betroffen. Verschiedene Untersuchungen93 belegen, dass es einen zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang zwischen Enteignung und Abwanderung gibt. „Rund ein Drittel der Unternehmer verließ noch im gleichen Jahr (der Enteignung) das Gebiet der SBZ/DDR, viele allerdings auch schon vor der formellen Enteignung. In Jahren forcierter Sozialisierung wanderten überdurchschnittlich häufig Betriebsinhaber im unmittelbaren Zusammenhang mit der Enteignung ab. Bezieht man das folgende Jahr mit ein, so steigt dieser Wert auf 50 bis 70 %. Enteignungen, die 1952/53 durchgeführt wurden, zogen fast in jedem Fall die Flucht nach sich. Erfolgte bis 1949 die Übersiedlung in der Regel nach der Enteignung, so kehrte sich dieser Zusammenhang um: Die Enteignung bildete den formalen Abschluß eines längeren Repressionsprozesses“.94 Nach den verfügbaren Zahlen geht Hefele95 davon aus, dass vom Ausgangsbestand 1945 gerechnet, - rund 90 % der mitteldeutschen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen/er, (~ 210.000 bis 300.000 Firmen) an ihrem alten Standort geblieben sind; - etwa 5-7 % (~ 11.000 Unternehmen) als Privatunternehmer in der DDR bis 1972 fortbestehen konnten;96 - rund 9-13 % in den Westen (~ 36.000 Unternehmen) abgewandert sind;97 - bei rund 27.000 Betrieben (~75 % der Zuwanderung) es zu keiner Fortführung im Westen kam; - um die 8.000 Betriebe längerfristig fortgeführt wurden (~25 %); - 1995 noch rund 1.300 Betriebe (-16 Prozent) existierten. Nach dem von Erich Gutenberg für die betriebliche Leistungserstellung begründeten Faktorsystem ging der für die Effektivität der Kombination der Elementarfaktoren (Arbeit, Betriebsmittel, Werkstoffe) entscheidende dispositive Faktor verloren.98 93 Klein, Johannes Kurt: Ursachen und Motive der Abwanderung aus der Sowjetzone Deutschlands, in: Politik und Zeitgeschichte B XXIV/55 (1955), S. 361-383. Held, Colbert C.: Refugee industries in West Germany after 1945, in: Economic Geography 31 (1956), S. 316-335. Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland, S. 54 ff. 94 Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland, S. 87 f. 95 Ebd., S. 54. 96 Kaiser, Monika: 1972 – Knockout für den Mittelstand: zum Wirken von SED, CDU, LDPD und NDPD für die Verstaatlichung von Klein- und Mittelbetrieben, Berlin 1990. 97 Held, Colbert C.: Refugee industries in West Germany after 1945, S. 321 ff. Held gibt für die SBZ / DDR 11.829 abgewanderte Unternehmen an, für Groß-Berlin 6.535 (Stand 1950). Der Autor verfügte wohl über unveröffentlichte Statistiken der Bundesbehörden, wie er in seinen Ausführungen erläutert. 98 Gutenberg, Erich: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, Wiesbaden 1958, Nachdruck 2006, S. 27.

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Joseph Schumpeter (1883-1950) hatte in seiner erstmals 1912 publizierten „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ den innovativen Unternehmer als zentralen Träger des technischen Fortschritts herausgestellt. Mit der Liquidierung des Unternehmers in der SBZ/DDR wurde das „Band zwischen Unternehmertum und Technik zerschnitten. Damit zerstörten die politisch Verantwortlichen der SED die Quelle der marktorientierten Innovationskraft. Sie taten es wissentlich und willentlich, obwohl sie sich der verheerenden Folgen vielleicht selbst nicht bewusst waren. Aber die Geschichte hat gezeigt, dass die Folgen tatsächlich verheerend waren. Ohne das Band zwischen Unternehmertum und Technik blieb selbst einer hoch zivilisierten Gesellschaft mit qualifizierter Facharbeiterschaft und weltweit geachtetem Ingenieurwesen keine Chance, den Kontakt zum Weltmarkt aufrechtzuerhalten. Mehr als eine Generation von Menschen wurde somit daran gehindert, ihre Originalität, Motivation und Kraft so einzusetzen, dass wirklich ein nachhaltiger weltwirtschaftlicher Mehrwert entstand, und zwar nach den Gesetzen des Marktes und nicht nach denen einer Politbürokratie. Ähnlich war es in den anderen sozialistischen Ländern, soweit sie wie Tschechien über eine renommierte Industrie verfügten. Dies ist ein wirtschaftshistorisch einmaliges Zerstörungswerk, das seit 1990 aufgedeckt wurde: in Ostdeutschland sehr rasch im Zuge der Deutschen Einheit und in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern mit abgestuftem Tempo. Es ist merkwürdig, dass die Bedeutung dieses Zerstörungswerks in Deutschland noch immer nicht wirklich zur Kenntnis genommen wird“.99 Welche volkswirtschaftlichen Konsequenzen der Abwanderungsprozess für die SBZ/DDR hatte, dieser heikle Punkt wurde in der ostdeutschen Literatur entweder ganz verschwiegen oder als „Kriegsfolgelasten“ deklariert. Im Schlepptau der abgewanderten Unternehmen gelangten vorwiegend Fachund Leitungskräfte nach Westdeutschland. Dabei zeigte die Abwanderung einen „multiplikativen Effekt“, der weit über die „Enthauptung“ der eigentlichen Firmen hinausreichte. Mittelfristig wurde vor allem in den Spezialgewerben des handwerklich- industriellen Bereichs die Ausbildung des Nachwuchses gefährdet. Dieser Faktor hat neben der „Zentralisierungs- und Standardisierungsideologie der DDRWirtschaftsplanung zur Verarmung des Produktspektrums“100 und zu erheblichen Versorgungslücken in der SBZ/DDR geführt. „Der erzwungene Know-how-Transfer hat die in vielen Branchen führende Stellung Mitteldeutschlands nachhaltig beschädigt und mittel- und langfristig überlegene Konkurrenten herangezogen, – mögen dies nun zugewanderte Unternehmen 99 Paqué, Karl Heinz: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, München 2009, S. 229. 100 Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland, S. 94. „Die Hoffnung, als Nebeneffekt der Abwanderung die klein- und mittelgewerblichen Unternehmensorganisationen zugunsten effizienterer Produktionskomplexe zu bereinigen, hat sich als trügerisch erwiesen. Wurden etwa mittlere Betriebe nach dem Schwerpunktprinzip einer Unterabteilung eines Kombinates zugewiesen, so führte dies bei diversifiziertem Produktangebot zu einer Kappung alter Produktionsverflechtungen mit anderen Zweigen, so daß sich Mangelzustände netzwerkartig ausbreiten konnten“. Ebd., S. 95.

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selbst gewesen sein oder westdeutsche Firmen, die sich auf mannigfache Weise dieses Wissensstromes bedient haben. Im Westen kamen durch die Zuwanderung (aber wohl noch mehr durch die europäische Integration) vielfach Komplementäreffekte zum Tragen, die den Verlust der mitteldeutschen Ergänzungsräume schon in den 1950er Jahren mehr als wettgemacht haben. Vergleichbare Effekte hat die Ostintegration der SBZ / DDR nicht gezeitigt – im Gegenteil, sie führte zu gigantischen Fehllenkungen volkswirtschaftlicher Ressourcen. Die relativ hohe Abwanderungsrate aus den Grenzräumen hat zu den regionalen Disproportionen innerhalb des wirtschaftsräumlichen Gefüges der DDR entscheidend beigetragen“,101 so Hefele. Neben der Abwanderung von mittelständischen Unternehmen kam allein bis 1961 ein Flüchtlingsstrom von ca. 3 Mio. Flüchtlingen aus der SBZ/DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Diese Abstimmung „mit den Füßen“ bedeutete für die DDR einen erheblichen Humankapitalabfluß. In den achtziger Jahren verstärkten sich die Fluchtbewegung und die Anzahl der Ausreisen aus der DDR. Ein streng geheimer MfS-Bericht vom 9. September 1989 zu „Hinweisen auf wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem sozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR“ nennt nachfolgende Gründe: - „Unzufriedenheit über die Versorgungslage; - Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen; - Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung; - Eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland; - Unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf; - Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter; - Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern; - Unverständnis über die Medienpolitik der DDR“.102

101 Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland, S. 176. 102 Streng geheimer MfS-Bericht: „Hinweise auf wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem sozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR“ (Auszüge), 9. September 1989, abgedruckt in: Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, Dokument 30, S. 703-709 (703 f.).

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Bestandsentwicklung von Unternehmen in der Sowjetischen Besatzungszone / DDR seit 1945

Die tatsächlichen Gründe für die Flucht und Ausreise aus der DDR – die Verletzung der Menschenrechte und der politischen Freiheit (wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, freie Wahlen) sowie diktatorische Bevormundung der Bevölkerung durch Partei und Staat – erwähnt der interne MfS-Bericht nicht. Selbst noch im September 1989 verschwieg das MfS in den „eigenen Reihen“ die politische Unzufriedenheit der breiten Masse der DDR-Bevölkerung mit der SED-Diktatur.

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8. Transformation zum „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem“ nach sowjetischem Modell 8.1. Die Banken werden nach der Schließung am 28.4.1945 und der Transformation Kassen- und Abrechnungsapparate im „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem“ der DDR Der Chef der Besatzung und Stadtkommandant von Berlin Oberbefehlshaber der Roten Armee Generaloberst N. E. Bersarin (1904-1945) verfügte mit dem Befehl Nr. 1 vom 28. April 1945: „Inhaber von Bankhäusern und Bankdirektoren haben alle Finanzgeschäfte zeitweilig einzustellen. Alle Safes sind sofort zu versiegeln. Man hat sich bei den militärischen Kommandanturen sofort mit einem Bericht über den Zustand des Bankwesens zu melden. Allen Bankbeamten ist kategorisch verboten, jegliche Werte zu entnehmen. Wer sich der Übertretung des Gebots schuldig macht, wird nach den Gesetzen der Kriegszeit strengstens bestraft“.103 Deckers ist der Ansicht, „daß die Banken von den Sowjets nicht geschlossen wurden, um im Vorgriff auf einen Geldumtausch aus stabilitätspolitischen Gründen die monetäre Nachfrage zu senken. Vielmehr sollten mit Hilfe des Geldes, das sich in den Kassen der Banken befand und das bisher der Sicherung ihrer Zahlungsfähigkeit gedient hatte, Güter aus deutscher in sowjetische Verfügungsgewalt transferiert werden. Da die Banken mit den Kassenbeständen ihre letzten liquiden Mittel verloren und sie in dieser Lage auch durch Auszahlungsbeschränkungen nicht vor dem Zusammenbruch bewahrt werden konnten, lag es nahe, sie zu schließen. […] Von der späteren Entwicklung her gesehen war die Schließung der Banken der erste Schritt zum Aufbau einer sozialistischen Zentralplanwirtschaft in der sowjetisch besetzten Zone“.104 Nach der Plünderung der Tresore der Banken durch die Sowjets wurden der Deutschen Zentralfinanzverwaltung am 17. Juli 1947 die geschlossenen staatlichen Kreditinstitute des sowjetischen Sektors Berlins von der SMA übergeben.105 Die Transformation des Bankwesens nach sowjetischem Modell in der SBZ begann mit dem Befehl Nr. 01 der SMAD vom 23. Juli 1945 „über die Neuorganisation der deutschen Finanz- und Kreditorgane“. Die SMAD befahl die -

Bildung von Finanzabteilungen bei den Landes- und Provinzialverwaltungen, den Kreisen und Städten, denen die Ausarbeitung und Durchführung von Haushaltsplänen und die Erhebung von Steuern oblag;

103 Foitzik, Jan: Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954. Dokumente. Herausge-

geben und eingeleitet von, München 2012, S. 188. 104 Deckers, Josef: Die Transformation des Bankensystems in der Sowjetischen Besatzungszone,

Berlin 1974, S. 26 f. 105 Ebd., S. 126.

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Bildung neuer Landes- bzw. Provinzialbanken, Kreis- und Stadtbanken sowie Sparkassen, die neben der Wahrnehmung erster staatlicher Kontrollfunktionen die Aufgabe hatten, die reibungslose Durchführung der Kreditgewährung und des Verrechnungsverkehrs für die Industrie, den Handel und andere Wirtschaftszweige zu sichern. Bildung von staatlichen Versicherungsgesellschaften auf Provinz- und Länderebene.

Die Landes- und Provinzialbanken waren Organe der Regierungen der Länder bzw. Provinzen. Darüber hinaus hatten sie die Aufgabe, die Forderungen der geschlossenen Banken einzuziehen. Die Kreis- und Stadtbanken waren anfänglich den Kreisen bzw. Städten unterstellt, wurden jedoch nach kurzer Zeit ihrer Tätigkeit in Filialen der Landes- bzw. Provinzialbanken umgewandelt. Mit der Gründung der sozialistischen Banken wurden die Geldzirkulation und der Kredit unter sozialistische Kontrolle genommen. „Es vollzog sich im Sinne der Leninschen Prinzipien die Konzentration des Bankwesens in den Händen der antifaschistisch-demokratischen Staatsorgane. Sie verfügten damit über eine wichtige Kommandohöhe in der Wirtschaft“.106 Die Transformation des Bank- und Finanzsystems nach sowjetischem Vorbild in der SBZ war mit dem Geldumtausch (24./28. Juni 1948) und dem Zentralplan für 1949/50 in hohem Maße abgeschlossen. „Ende 1950 wurde das bis dahin gültige Reichshaushaltsrecht außer Kraft gesetzt. […] Obwohl also die eigentliche Transformation der ostdeutschen Finanzverwaltung mit der Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen an die DWK begonnen hatte, fand sie ihren Abschluß überraschend schnell nach der Gründung des ostdeutschen Staates (7. Oktober 1949). Die tradierte Finanzverfassung wurde radikal demontiert“.107 Banken, Geld und Währung unterstanden 1948 der Hauptverwaltung Finanzen der DWK.108 Die volkseigenen sozialistischen Banken waren „Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Finanzsystems der DDR. Die Tätigkeit der Banken ist unmittelbar mit dem planmäßigen sozialistischen Reproduktionsprozess verbunden. Das bezieht sich sowohl auf ihre Aufgabenstellung hinsichtlich der Mobilisierung der freien Geldmittel, als auch auf ihre Wiederverwendung in Form von Krediten. Die ökonomische und politische Zielsetzung ihrer Tätigkeit wird durch die staatlichen Pläne bestimmt. Die Banken stellen ein geschlossenes System innerhalb des einheitlichen sozialistischen Finanzsystems dar.

106 Kaminsky, Horst: Die Entwicklung des sozialistischen Bankwesens in der DDR, Berlin (-Ost) 1979, S. 32. 107 Zschaler, Franz: Die Entwicklung einer zentralen Finanzverwaltung in der SBZ/DDR 19451949/50, S. 126. 108 Ebd., S. 129.

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Zum Bankensystem der Deutschen Demokratischen Republik gehört (1961): 1. die deutsche Notenbank als Staatsbank der DDR, 2. die Deutsche Investitionsbank, 3. die Deutsche Bauernbank und die landwirtschaftlich-genossenschaftlichen Kreditinstitute, 4. die Sparkassen, 5. die gewerblichen genossenschaftlichen Kreditinstitute, 6. die Deutsche Handelsbank AG“.109 Die volkseigenen sozialistischen Banken waren nach der Transformation Organe der Deutschen Notenbank, die vor Ort die Finanzpläne der einzelnen volkseigenen Betriebe kontrollierten. Sie gingen nach 1945 wie in der Sowjetunion im staatlichen Kassensystem auf und wurden dadurch zu einem zentralen Kassen- und Abrechnungsapparat. 8.2. Von den Emissions- und Girobanken in den 5 Ländern (19.2.1947) zur Deutschen Notenbank am 20. Juli 1948 und zur Staatsbank 1968 Die Errichtung von Emissions- und Girobanken in den 5 Ländern der SBZ (19.2.1947): Mit dem Befehl vom 19.2.1947 der SMAD wurden in den 5 Ländern der SBZ Emissions- und Girobanken gegründet. Die Deutsche Emissions- und Girobank (SMAD-Befehl Nr. 94 vom 21. Mai 1948) sollte die Tätigkeit der Emissions- und Girobanken der Länder koordinieren, den Geldumlauf und den Kreditund Zahlungsverkehr koordinieren. Sie war keine autonome Institution, sondern nach § 21 ein Organ der Hauptverwaltung Finanzen der Deutschen Wirtschaftskommission.110 Die Errichtung der Deutschen Notenbank am 20. Juli 1948: Die Deutsche Notenbank wurde am 20. Juli 1948 gegründet, d.h. nach dem ersten Geldumtausch am 21. Juni 1948 aber vor dem zweiten Geldumtausch am 24. Juli 1948. Sie hatte die Aufgabe, die Wirtschaftsplanung mit den Mitteln der Geld- und Kreditpolitik aktiv zu unterstützen, mit dem Ziele des Neuaufbaues und der Weiterentwicklung der Wirtschaft Deutschlands. Ihre Tätigkeit dient der Förderung der Kapitalbildung und der Lenkung der Mittel entsprechend den wirtschaftlichen Bedürfnissen [Paragraph 42]. Diese Festlegung in auf eine ganz bestimmte Wirtschaftspolitik dürfte „man wohl in keiner anderen Satzung einer Notenbank finden“.111 In der Satzung der Deutschen Notenbank wird weiter festgehalten: Der Bank obliegt die Regelung des Geldumlaufs, die Organisation des Zahlungsverkehrs sowie der Zahlungsausgleich mit den anderen Besatzungszonen und dem Auslande. Zur Erfüllung dieser Aufga-

109 Joswig, Heinz: Die Banken. Die Aufgaben und die Struktur der Banken, in: Autorenkollektiv

(Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 539-544. 110 Zentralverordnungsblatt 1948, Nr. 19, S. 29. 111 Albert, Gerhard: Die Unterschiede der Währungssanierung 1948 in Ost- und Westdeutschland,

Diss. Erlangen 1950, S. 38 f.

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ben hat sie das ausschließliche Recht, Geldzeichen auszugeben, ferner die Befugnis, allgemeinverbindliche Anordnungen über die bankmäßige Organisation und Durchführung des Geld-, Überweisungs- und Scheckverkehrs zu erlassen. Sie überwacht die Tätigkeit der Emissions- und Girobanken und erlässt für diese verbindliche Anordnungen hinsichtlich der Regelung des Geldumlaufs und auf dem Gebiete des Kreditwesens. Die Bank betrieb Geschäfte nur mit oder für Rechnung von zentralen Behörden, zentralen Geld- und Kreditinstituten und sonstigen zentralen Einrichtungen (§ 14). Die Bank war Verrechnungsstelle zwischen den ihr nach § 14 angeschlossenen zentralen Geld- und Kreditinstituten und zwischen diesen und den Verrechnungsstellen in anderen Besatzungszonen Deutschlands und dem Auslande (§ 17). Nach § 25 übte die Hauptverwaltung Finanzen die Aufsicht über die Bank aus.112 „Die Deutsche Notenbank wurde damit zum Vollzugsorgan des Staatshaushalts“.113 „Die Staatsbanken der sozialistischen Länder waren fester Bestandteil der sozialistischen Zentralplanwirtschaft und gehen in ihrer Tätigkeit stets von den Festlegungen der Volkswirtschafts- und Staatshaushaltspläne aus“.114 Die Staatsbank (bis 1967 Deutsche Notenbank) der DDR war das zentrale Organ des Ministerrates für die „Verwirklichung der von Partei und Regierung beschlossenen Geld- und Kreditpolitik in ihrer Gesamtheit. Sie hat das alleinige Recht der Ausgabe von Geldzeichen (Banknoten, Münzen einschl. Sonder- und Gedenkmünzen), die das gesetzliche Zahlungsmittel der DDR sind. Die Staatsbank hat folgende Aufgaben: a) Konzentration freier Geldmittel der Volkswirtschaft und der Bevölkerung, b) Finanzierung und Kontrolle der Betriebe, Kombinate und wirtschaftsleitender Organe der Industrie, des Bauwesens, des Binnenhandels, des Verkehrswesens, des Post- und Fernmeldewesens, der staatlichen Einrichtungen und die Gewährung von Krediten für Grund- und Umlaufmittel. In Durchführung ihrer Aufgaben übt die Staatsbank die Kontrolle durch die Mark aus. Die 1968 gegr. Industrie- und Handelsbank, der die Aufgabe übertragen war, den gesamten Reproduktionsprozeß der volkseigenen Betriebe zu finanzieren und zu kontrollieren, wurde 1974 in die Staatsbank eingegliedert“.115

112 Deutsche Wirtschaftskommission. Satzung der Deutschen Notenbank vom 20. Juli 1948, in: Zentralverordnungsblatt 1948, Nr. 36, S. 403-406. 113 Kalweit, Werner: Grundlagen des sozialistischen Finanzsystems in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Autorenkollektiv (Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 31. 114 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Auflage, Berlin (-Ost), S. 220 f. 115 Ebd.

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8.3. Der Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 in der SBZ nach dem Modell des Geldumtauschs im Dezember 1947 in der Sowjetunion 8.3.1. Terminologische Vorbemerkungen Heinz Sauermann definiert eine Währungsreform so: „Unter Währungsreform wird eine solche Neuordnung des Geldwesens eines Landes verstanden, die in einer vorangegangenen Geldzerrüttung ein Ende setzt und die Voraussetzungen für eine funktionsfähige Geldwirtschaft wiederherstellt. Daraus folgt, daß es sich bei einer Währungsreform nicht nur um ein technisches Experiment handelt. Zwar ist mit jeder Geldreform ein Geldumtausch oder die Einführung eines neuen Geldes an der Stelle des alten Geldes verbunden, aber sie beschränkt sich nicht auf diesen technischen Vorgang. Als isolierte technische Maßnahme des Geldumtauschs würde eine Reform wenig Wert haben. Sie ist nur dann sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftspolitik mit ihr verbunden ist“.116 Die Definition einer Währungsreform von Sauermann ist dem 1. Gutachten vom 18.4.1948 des Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes entnommen.117 Thema: Maßnahmen der Verbrauchsregelung, der Bewirtschaftung und der Preispolitik nach der Währungsreform Dem Wissenschaftlichen Beirat ist von der Verwaltung für Wirtschaft die Frage vorgelegt worden, ob, in welchem Umfang und mit welchen Methoden Maßnahmen der Verbrauchsregelung, der Bewirtschaftung und der Preispolitik nach der Währungsreform, deren Grundlinien bekannt sind, durchgeführt werden sollten. Die Währungsreform ist nur sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung mit ihr verbunden wird. Als isolierter technischer Vorgang wäre sie wertlos, wenn nicht sogar gefährlich. Durch die Währungsreform wird die wirksame Nachfrage so beschränkt, dass eine totale Verbrauchsregelung und Zwangsbewirtschaftung gegenstandslos wird. Der Beirat vertritt die Auffassung, dass die Funktion des Preises, den volkswirtschaftlichen Prozess zu steuern, in möglichst weitem Umfang zur Geltung kommen soll. Fritz Grotius untersuchte die europäischen Geldreformen nach dem zweiten Weltkrieg, und zwar die Geldreformen in Deutschland (Westzonen, Ostzone), Griechenland, Polen, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Finnland, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und in der Sowjetunion. Die theoretischen Ausführungen von Sauermann werden von Grotius empirisch eindrucksvoll bestätigt: „Wenn auch die in

116 Sauermann, Heinz: Währungsreformen, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 452, 469. 117 Bundeswirtschaftsministerium (Hrsg.): Gutachten 1948 bis Mai 1950, Göttingen 1950, S. 25 f. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Frankfurt/M. war Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats, S. 99.

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jedem Land andersgearteten volkswirtschaftlichen Strukturzusammenhänge verallgemeinernde Schlüsse aus dem Verlauf und den Ergebnissen der Geldreformen nur bedingt zulassen, so darf doch unbedenklich eine Lehre grundsätzlicher Art hervorgehoben werden. Es hat sich bestätigt, daß man die Geldordnung auf die Dauer nur durch Wirtschaftsreformen konsolidieren kann“.118 -

Eine Währungsreform muss also zwei Maßnahmen umfassen: einen Geldumtausch und eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftslenkung, d. h. natural oder geldgesteuerte Wirtschaft. Wenn die Lenkung nicht verändert wird, dann handelt es sich nicht um einen Geldumtausch. 8.3.2. Außenhandels- und Valutamonopol und reine Binnenwährung in der Sowjetunion nach 1918

Wenn man den Geldumtausch in der SBZ am 21. Juni und 24. Juli 1948 beurteilen will, muß man die Strategien der Sowjetunion und die der USA nach 1945 analysieren. Der Geldumtausch in der SBZ und die Währungsreform am 20. Juni 1948 waren in größere Zusammenhänge eingebettet und können auch nur im Kontext der Strategien der Sowjetunion und der USA interpretiert werden. Bereits durch das Dekret vom 24. April 1918 war der sowjetrussische Außenhandel zum Staatsmonopol erklärt worden. Zum Import und Export von Erzeugnissen jeder Art mit dem Ausland waren besondere Staatsorgane bevollmächtigt worden. „Damit wurde das gesamte außenwirtschaftliche Potential des Landes von der arbeitsteiligen Weltwirtschaft gelöst und die Außenhandelspolitik besonderen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen unterstellt“.119 Das staatliche Außenhandelsmonopol in der Sowjetunion war eng mit dem Valutamonopol (= 100%ige Devisenbewirtschaftung) verbunden. Der sozialistische Staat war alleiniger Träger des Devisenverkehrs.120 Die sowjetische Währung war eine reine Binnenwährung und nie konvertibel, d.h. austauschbar gegen eine andere Währung. Im sozialistischen Außenhandels- und Valutamonopol hat es nie ein multilaterales Zahlungssystem gegeben.121 Das sowjetische Außenhandels- und Valutamonopol sowie die Währungsordnung (= reine Binnenwährung) wurde durch die SMAD auf die SBZ übertragen.

118 Grotius, Fritz: Die europäischen Geldreformen nach dem Weltkrieg II, in: Weltwirtschaftsarchiv 62, 1949, I. 119 Zotschew, Theodor: Sowjetunion (III, 10) Außenhandel, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 372. 120 Boedler, Hermann: Devisenhandel, in: Enzyklopädisches Lexikon für das Geld-, Bank- und Börsenwesen von M. Palyi und P. Quittner, Bd. I A-H, Frankfurt/M. 1957, S. 444. 121 Zotschew, Theodor: Sowjetunion (III, 10), S. 374.

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8.3.3. Der Geldumtausch in der Sowjetunion im Dezember 1947 In der Sowjetunion blieb der Krieg von 1941-45 nicht ohne Wirkung auf das Banken- und Kreditsystem. „In erster Linie mußten Kredite für die Rüstung und andere kriegswichtige Unternehmen, für ihre Verlagerung oder ihren Wiederaufbau während und nach Kriegsende gegeben werden. Durch die Notenpresse, durch umlaufendes Falschgeld und durch das neuemittierte Besatzungsgeld nahm das Bargeldvolumen so stark zu, daß 1947 ein Geldumtausch notwendig wurde. Das Umtauschverhältnis für Bargeld wurde auf 10:1 unter Beschränkung auf einen Höchstbetrag festgelegt. Bei den Bankguthaben wurden die ersten 3.000 Rubel 1:1, die überschießenden Beträge 3:2 bis einschließlich 10.000 Rubel und der Rest 2:1 umgestellt. Die Obligationen der Staatsanleihen wurden bis auf eine Ausnahme im Verhältnis von 3:1 in neue, mit 2% verzinsliche Papiere zusammengelegt“.122 Beim Geldumtausch im Dezember 1947 wurde das „im Umlauf befindliche Geld durch neue Geldscheine ersetzt, wobei der Notenumlauf von 420 Mrd. Rubel auf 42 Mrd. Rubel reduziert wurde. Die Anleihen, die inzwischen auf eine Schuldenlast von rund 150 Mrd. Rubel angewachsen waren, wurden bei gleichzeitiger Zinskonversion auf 50 Mrd. reduziert. Am günstigsten behandelt wurden die Sparkonten, die eine Kürzung von lediglich 20% erfuhren. Mit dem Geldumtausch gekoppelt war eine Neufestsetzung der Preise mit dem Ziel, durch Festsetzung der Preise als angenäherte Gleichgewichtspreise das Rationierungssystem, das gleichzeitig aufgehoben wurde, überflüssig zu machen“.123 Nicht nur in Sowjetrussland wurde nach 1945 die überschüssige Geldmenge beseitigt.124 Auch in den osteuropäischen Staaten wie Ungarn, Tschechoslowakei und Polen wurde die Geldmenge zusammengestrichen. In der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten handelt es sich nicht um eine Währungsreform, sondern um einen Geldumtausch. 8.3.4. Der Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 in der SBZ125 Der Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 in der SBZ war eine Kopie des Geldumtauschs im Dezember 1947 in der Sowjetunion.126 Es konnte auch gar 122 Palyi, M. und Quittner, P.: Enzyklopädisches Lexikon für das Geld-, Bank- und Börsenwesen, Bd. II I-Z, Frankfurt/M. 1957, S. 1424 f. 123 Pithe, Erich: Die dritte Währungsreform der Union der sowjetischen sozialistischen Republiken (14. Dezember 1947), in: Finanz-Archiv, HF 11, 1948/49. Kuczorra, Franz: Planvolle Geldreform in der Sowjetunion, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Berlin (-Ost), 2, 1948. 124 Boettcher, Erik: Sowjetunion. (1) Hauptphasen der wirtschaftlichen Entwicklung, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 339. 125 Grundsätzlich: Ermer, Matthias: Von der Reichsmark zur Deutschen Mark der Deutschen Notenbank. Zum Binnenwährungsumtausch in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Juni/Juli 1948), Stuttgart 2000. 126 Abeken, Gerhard: Geld- und Kreditwesen in Mitteldeutschland, in: Volkhard Szagunn et al.: Handbuch des gesamten Kreditwesens, 7. Aufl., Frankfurt/M. 1965, S. 723.

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nicht anders sein, denn sofort nach der Kapitulation am 7./9. Mai 1945 begann die Transformation der Wirtschaft nach dem Modell der Sowjetunion und die Geldordnung war ein integraler Bestandteil der Transformation. Die Amerikaner Colm, Dodge und Goldsmith hatten schon früh einen Plan zur Währungsreform ausgearbeitet, den sog. CDG-Plan.127 Am 10.4.1946 wurde der in der SMAD dafür zuständige Malenkin informiert, der daraufhin die drei Amerikaner zu einer Inspektionsreise durch die Sowjetische Besatzungszone einlud. Auf einem Foto vom 24. April 1946 befinden sich Gerhard Colm, Raymond W. Goldsmith, Joseph M. Dodge, P.A. Malenkin und der russische Fahrer.128 Am 17.6.1946 erhielt Kowal, der stellvertretende oberste Chef der SMAD für Wirtschaftsfragen, den CDG-Plan, der bereits am 2. Mai 1946 inoffiziell im Finanzdirektorat des alliierten Kontrollrats vorgestellt worden war. Absolute Priorität besaß für das Moskauer Außenministerium die Deckung der Besatzungsausgaben und die Reparationen und dabei wollte es unabhängig sein. Eine Garantie für Reparationen lehnten die US-Amerikaner kategorisch ab. „Am Montag, dem 22. Juli, kam es zu einer Beratung bei Molotov über die Frage der Finanzreform in Deutschland, an der Außenhandelsminister Mikojan, Finanzminister Zverev, der faktische Verteidigungsminister Bulganin (offiziell nahm diese Funktion Stalin wahr) und der Präsident der Staatsbank der UdSSR, Golev, teilnahmen. Gegenstand der Beratung dürften weniger die von Sokolovskij am 17. Mai unterbreiteten Vorschläge als vielmehr die der sowjetischen Seite inoffiziell zugeleiteten amerikanischen Überlegungen für eine Währungsreform gewesen sein. Letztere, so meinte man, könnten möglicherweise auch ohne sowjetische Beteiligung in den Westzonen verwirklicht werden“.129 Zverev fasste dies in einem Schreiben vom 24.7.1946 zusammen: „Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Alliierten die Reform auch selbständig in ihren Zonen durchführen, halten wir es für notwendig, Genossen Sokolovskij zu beauftragen, sich technisch darauf vorzubereiten (Aussehen und Umfang der neuen Geldzeichen sowie die Fristen ihrer Herstellung zu bestimmen), damit, falls die Alliierten eine selbständige Währungsreform in ihren Zonen durchführen, wir in vollem Maße vorbereitet sind, im selben Augenblick eine Währungsreform in der SBZ durchzuführen“.130 Eine gemeinsame Währungsreform auf der Basis des CDG-Planes für alle vier Besatzungszonen war zu keinem Zeitpunkt möglich. Mit der Währungs- und Finanzkonferenz von Bretton Woods (1.-23.7.1944) wurden unter Führung der Vereinigten Staaten der „Internationale Währungsfonds“ (IWF) und die „Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ (Weltbank) gegründet. Der IWF bezweckte laut Artikel I des Abkommens von Bretton Woods u. a. „bei der Errichtung 127 Hoppenstedt, Wolfram: Gerhard Colm – Leben und Werk (1897-1968), Stuttgart 1997, S. 194 ff. 128 Das Foto befindet sich auf dem Titelblatt der Studie von Hoppenstedt. 129 Laufer, Jochen: Die UdSSR und die deutsche Währungsfrage 1944-1948, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 46 (1198), Heft 3, S. 463. 130 Ebd., S. 469.

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eines multilateralen Zahlungssystems für laufende Transaktion … und bei der Aufhebung von Zahlungsbeschränkungen mitzuwirken“.131 Der Beschluss der Gründung des IWF und der Weltbank erfolgte einstimmig, auch Malenkin hatte in Bretton Woods für die Sowjetunion zugestimmt. Die Sowjetunion hat den Vertrag aber nie ratifiziert. Der CDG-Plan hatte als Ziel eine konvertierbare Währung, was auch Walter Eucken hervorhob, und ein multilaterales Zahlungssystem. Dies war für die Sowjetunion vollkommen ausgeschlossen. Die Ablehnung des CDG-Plans war deshalb folgerichtig und folgerichtig realisierte die Sowjetunion den Geldumtausch in der SBZ nach dem Modell des Geldumtauschs im Dezember 1947 in der Sowjetunion, was auch Laufer hervorhob.132 Jochen Laufer bezeichnet die Zeit vom August 1946 bis November 1947 als Zeit des Taktierens der Sowjetischen Vertreter.133 Die amerikanische Militärregierung machte sich im Februar 1947 an die Analyse der sowjetischen Haltung. „Das Ergebnis war ein völlig anderes: Die Stärke der sowjetischen Verhandlungsposition sei gerade aus der Tatsache heraus zu erklären, daß sie kaum ein Interesse an einer Währungsreform habe.134 Denn mit der der Schließung ihrer Banken, die schon Gerhard Colm gewürdigt hatte, sei zum einen schon eine gewisse Verminderung des Geldumlaufs eingetreten, und zum anderen spielten in der sowjetischen Besatzungszone „nicht-monetäre Stimuli“, wie etwa Zwangsarbeit und eine viel stärkere Differenzierung der Lebensmittelrationen, eine größere Rolle als im Westen. Außerdem würde eine Währungsreform das sowjetische Ziel größtmöglichster Ausbeutung ihrer Besatzungszone erschweren, da die Bevölkerung dort zur Produktionsankurbelung bzw. Wiederaufbau in die Westzonen fahren und die Aufrechterhaltung der Reparationslieferungen wesentlich erschweren würde. Schon aus ideologischen Gründen heraus könne die Sowjetunion gar nicht an einer Währungsreform interessiert sein, da die Wiederherstellung einer funktionstüchtigen Geldwirtschaft die Reetablierung eines kapitalistischen Systems ermögliche.135 Diese Analyse der amerikanischen Militärregierung und die daraus gezogenen politischen Schlüsse können nicht hoch genug eingeschätzt werden. […] Die Folgerungen, die Otto Pfleiderer zieht, bleiben gültig: „Damit war für die westlichen Besatzungsmächte die Alternative gestellt, entweder das wirtschaftliche und politische Risiko einer isolierten Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen zu laufen oder auf die Währungsreform zu verzichten. Es lag auf der Hand, daß eine auf die drei westlichen Besatzungszonen beschränkte Währungsreform die faktische Teilung Deutschlands in zwei getrennte Währungsgebiete einstweilen besiegelte. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß, wie oben dargelegt, schon vor der Währungsreform die Einheit des Währungsgebiets praktisch nur noch 131 Halm, Georg N.: Internationaler Währungsfonds, in: HdSW, 3. Bd., 1961, S. 317 ff. 132 Laufer, Jochen: Die UdSSR und die deutsche Währungsfrage, a.a.O., S. 481. 133 Ebd., S. 471 ff. und 476 ff. 134 „Financial Reform: Present Status of Discussions”, Februar 1947, NA, RG 260, Records relating to Export-Import and Customs Policies, Box 119. 135 Ebd., Kursivdruck eingeführt.

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auf dem Papier stand, da der Zahlungsverkehr zwischen der sowjetischen Besatzungszone und den drei Westzonen durch Maßnahmen der sowjetischen Militärverwaltung schon in außerordentlichem Maße beschränkt war“.136 Mit der Analyse im Frühjahr 1946 begann sich bei den Amerikanern erstmalig die Einsicht durchzusetzen, daß mit den Sowjets einfach aufgrund der unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme keine gemeinsame Sache zu machen war“.137 Der Geldumtausch in der SBZ erfolgte auf Grund des „Befehls des Obersten Chefs der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland vom 23.6.1948“. Die Umstellungen sind von Laufer aus sowjetischen Quellen zusammengestellt worden.138 Geplante Umstellung öffentlicher und privater Kontokorrenten (Angaben in Mill. RM/DM-Ost) deutsche Einrichtungen Wirtschaft, davon Volkseigene Betrieb private Betriebe (Umlauf für 2 Wochen) Handelsorganisationen (Löhne für eine Woche) verbleibende Mittel Versicherungen Sozialversicherungen physische Personen Organisationen Budgetorganisationen, davon verbleibende Budgetmittel der Länder der SBZ Groß-Berlins der Zentralverwaltungen Reserve der DWK deutsche Einrichtungen, insgesamt sowjetische Einrichtungen Gosbank Finanzministerium SAG andere Sowjetische Wirtschaftsorganisationen (Sovexportfilm, Aeroflot, Mezkniga u.a.) sowjetische Einrichtungen, insgesamt

vor

nach

der Umstellung

Umstellungskurs

3.600 (650) (220) (60) (2 670) 480 1.190 1.500 2.535

1.197 (650) (220) (60) (267) 96 220 150 253

3:1 1:1 1:1 1:1 10:1 5:1 5:1 10:1 10:1

4.347

4.347

1:1

(767) (880) (700) (2.000) 13.652

(767) (880) (700) (2.000) 6 263

1:1 1:1 1:1 1:1 2,2:1

1 518,4 1.799,0 221,0

1.518,4 179,9 221,0

1:1 10:1 1:1

84,0

84,0

1:1

3.622,4

2.003,3

1,8:1

136 Pfleiderer, Otto: Währungsreform in Westdeutschland, in: M. Palyi / P. Quittner (Hrsg.): Enzyklopädisches Lexikon, S. 1639. 137 Hoppenstedt, Wolfram: Gerhard Colm – Leben und Werk (1897-1968), Stuttgart 1997, S. 217 f. 138 Laufer, Jochen, a. a. O., S. 482. Schütz, Wilhelm: Ostzone, in: Palyi, M. / Quittner, P. (Hrsg.): Enzyklopädisches Lexikon für das Geld-, Bank- und Börsenwesen, Bd. II I-Z, Frankfurt/M. 1957, S. 1253 f. Buder, Wolfgang: Die ostdeutsche Währungsreform, in: Deutsche Rechtszeitung, Tübingen, 3, 1948.

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Der Geldumtausch hat in den natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften nur eine Bedeutung: „Er reduziert die Geldmenge und verleiht damit der zentralen Lenkung eine größere Wirksamkeit und Sicherheit. Die Beseitigung der überschüssigen Zahlungsmittel bedeutet, daß der Versuch, sich mittels dieser Zahlungsmittel außerhalb der Planung Güter oder Dienstleistungen zu beschaffen, unterbunden wird“.139 Der Geldumtausch hat in den natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften nur eine Bedeutung: „Er reduziert die Geldmenge und verleiht damit der zentralen Lenkung eine größere Wirksamkeit und Sicherheit. Die Beseitigung der überschüssigen Zahlungsmittel bedeutet, daß der Versuch, sich mittels dieser Zahlungsmittel außerhalb der Planung Güter oder Dienstleistungen zu beschaffen, unterbunden wird“.140 Der Geldumtausch war Ausdruck der Sowjetisierung des Finanzsystems in der SBZ.141 Die „Prawda“ (russ. „Wahrheit“), die ein Organ des Zentralkomitees der KPdSU und die führende Zeitung der UdSSR war, sah das richtig: Der Geldumtausch in der SBZ „wird die im Umlauf befindliche Geldmenge einschneidend verringern und sie in Einklang mit den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Entwicklung bringen“.142 Das Geld in der Marktwirtschaft ist von dem Geld der marktlosen natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft grundverschieden. Die Wirtschaftsgeschichte der SBZ/DDR kann wissenschaftlich nur aufgearbeitet werden, wenn dieser Grundtatbestand immer berücksichtigt wird. Schriftsteller, die dies nicht berücksichtigen, scheitern an einer adäquaten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Der Charakter des Geldes wird darin sichtbar, „daß dem Gelde nur im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung die Funktionen zufallen, die im allgemeinen als für sein Wesen konstitutiv angesehen werden, was letztlich natürlich nur heißt, daß diese Funktionen aus der Perspektive dieses Ordnungssystems definiert sind. […] Die neuere Geldtheorie sieht das Wesen des Geldes in seinen Funktionen begründet, d. h. sie definiert das Geld als eine Institution, die bestimmte Dienste leistet. Die einzelnen Funktionen werden dabei unterschiedlich abgegrenzt und verschieden benannt. Die Vielzahl der anzutreffenden Bezeichnungen läßt sich auf die abstrakte Funktion der Rechnungseinheit einerseits und die drei konkreten Funktionen,

139 Sauermann, Heinz: Währungsreformen, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 469. 140 Heinz Sauermann, Heinz: Ebd. 141 D'jačenko, Vasilij Petrovič: Istorija Financov SSSR (1917-1950), Moskau 1978 [Geschichte der Finanzen der UdSSR, 1917-1950], S. 433-445. Die Geldreform wurde in der UdSSR auf der Grundlage des gemeinsamen Beschlusses des Ministerrates der UdSSR und des Zentralkomitees der VKP (b) vom 14.12.1947 durchgeführt. Die Verordnung ist im russischen Original abgedruckt in: Rešenija partii i pravitel`stva po chozjajstzvennym Voprosam, tom 3, 1941-1952 gody, Moskau 1968 (Beschlüsse von Partei und Regierung zu wirtschaftlichen Fragen, Bd. 3, 1941-1952), S. 460-467. 142 Prawda, 24.6.1948, in: Laufer, Jochen: Die UdSSR und die deutsche Währungsfrage, S. 481 f.

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des allgemeinen Tauschmittels, des Wertaufbewahrungsmittels und des gesetzlichen Zahlungsmittels andererseits reduzieren“.143 Otmar Issing definiert Geld: „Terminologisch versteht man unter G. alles, was G. Funktionen ausübt. G. ist von seinen folgenden drei Funktionen her definiert: (1) Als Tausch- und Zahlungsmittel ermöglicht das G. überhaupt erst die moderne, arbeitsteilige Wirtschaft. An die Stelle des sonst nötigen Tauschs Ware gegen Ware tritt der Verkauf von Gütern gegen G. und der Kauf von Gütern mit Hilfe des Geldes. Kredit wird in Geld gegeben und in Geld (samt Zinsen) zurückerstattet. (2) Als Wertaufbewahrungsmittel überbrückt das G. die zeitliche Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben und erlaubt den Transfer von Werten im Zeitablauf. (3) Schließlich ermöglicht die abstrakte Eigenschaft der Recheneinheit die Angabe des Wertes der verschiedensten Dinge in einer Summe. Dies gilt z. B. für den Umsatz oder das Vermögen eines Betriebes, den Export, Import, das Sozialprodukt einer Volkswirtschaft etc.“.144 Eine wissenschaftliche Definition des sozialistischen Geldes hat es nie gegeben.145 In einem Vortrag an der Universität Leipzig und der technischen Hochschule Dresden ging der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Wirtschaftskommission Fritz Selbmann 1948 auf die grundlegenden Unterschiede des Geldes in einer Marktwirtschaft und in einer natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft ein: „Die entscheidende Voraussetzung also zur Rückkehr der freien Marktwirtschaft ist ein normal funktionierender Preismechanismus; er ist in keinem Land gegeben; und allein aus diesem Grunde ist eine Rückkehr zur freien Marktwirtschaft unmöglich. […] Planwirtschaft ist das Gegenteil der kapitalistischen Marktwirtschaft. In der Planwirtschaft wird der Wirtschaftsablauf nicht mehr vom Preismechanismus bestimmt, sondern er wird bestimmt von der volkswirtschaftlichen Plandirektive. In der Planwirtschaft ist es nicht den freien Kräften des Kapitalismus, den freien Kräften, die an Banken und Börsen spielen, überlassen, was und wie produziert wird, sondern Produktion, Verteilung, Absatz der Produktion wird geregelt durch die vom Staat zu gebende Plandirektive. In einem Artikel über die ökonomischen Grundbegriffe der sowjetischen Planwirtschaft lese ich folgendes: ,Ausgangspunkt der sozialistischen Produktionsplanung ist die Aufstellung von Naturalplänen und nicht die Verfügung über das Geld und seine Verwandlung in profitbringendes Kapital. Endpunkt der sozialistischen Produktionsplanung ist das Gut, ist das stoffliche Arbeitsprodukt und nicht der durch Warenverkauf realisierte Mehrwert‘. Das heißt also, in der sozialistischen Planwirtschaft wird der wirtschaftliche Ablauf nicht vom Interesse des Kapitalisten bestimmt, von dem Profitinteresse des Kapitaleigners, sondern der Wirtschaftsablauf wird bestimmt von den notwendigen Plandirektiven zur Erzeugung einer bestimmten Gütermenge zur Versorgung

143 Ehrlicher, Werner: Geldtheorie, in: HdSW, 4. Bd., 1965, S. 232. 144 Issing, Otmar: Geld, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 2. Bd., S. 799. 145 Hoell, Günter: Geldfunktionen, in: Ökonomisches Lexikon A G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 728.

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der Bevölkerung. Der Plan bestimmt in der sozialistischen Planwirtschaft den ganzen Produktions- und Verteilungsprozeß. Wir haben in der sowjetischen Planwirtschaft den staatlichen Plan, wir haben den regionalen Plan, den Gebiets- oder Bezirksplan, wir haben den Betriebsplan. Alle Wirtschaftsvorgänge werden bestimmt durch den Plan. Ein außerordentlich wichtiges und kennzeichnendes Charakteristikum der sozialistischen Planwirtschaft ist, daß das Geld in der sozialistischen Planwirtschaft eine vollkommen veränderte Rolle spielt. […] Ich will das an einem Beispiel begreiflich machen. Sie kennen sicherlich alle die Fünfjahrespläne der Sowjetunion. Sie haben kürzlich gehört von dem Geldumtausch in der Sowjetunion, vom Geldüberhang und Geldfülle usw. und werden gedacht haben, wie steht das in Verbindung mit dem Fünfjahresplan. In gar keiner Verbindung! Die Zahlen, die im Fünfjahresplan stehen, haben mit dem vorhandenen Geld als Zirkulationsmittel in der Sowjetunion gar keine Beziehung. Die Fünfjahrespläne werden aufgestellt auf der Grundlage der Preise des Jahres 1928. Das ist 20 Jahre her. Alle fünf Jahre werden sie aufgestellt auf der Grundlage der Preise von 1928; ob sich die Preise verändert haben oder ob andere Preisrelationen sich entwickelt haben, ob das Volkeinkommen anders ist, das ist ganz gleichgültig. Die Planziffer stellt nichts anderes als eine Rechnungseinheit dar auf der Grundlage des Jahres 1928. Das Geld verändert vollkommen seine Rolle in der sozialistischen Planwirtschaft. Es verliert den Charakter eines Währungsäquivalents, den es jetzt noch in der kapitalistischen Wirtschaft hat. Ich lese in der von mir zitierten Broschüre in diesem Zusammenhang noch folgendes: ,Das Sowjetgeld übt keine Kapitalfunktionen aus; es übt nur in beschränktem Maße Funktionen als Tausch- und Zirkulationsmittel aus. Es hat in der Planung neue, von den kapitalistischen Funktionen völlig verschiedene Funktionen der Rechnungslegung und Kontrolle inne‘. Die Pläne arbeiten also seit 20 Jahren mit unveränderten Preisen, obwohl sich die Preise in der Realität vollkommen anders entwickelt haben. In der sozialistischen Planwirtschaft verliert das Geld seinen Charakter, den es in der kapitalistischen Wirtschaft hat. Es wird zur reinen Rechnungseinheit. Endziel in der sozialistischen Wirtschaftsentwicklung ist, an Stelle des Geldes einfach die Anweisung auf den Bezug irgendwelcher Naturalien, eines bestimmten Anteils am Sozialprodukt zu setzen. Diese Veränderung der Rolle des Geldes ist eine charakteristische Erscheinung in der Entwicklung der sozialistischen Planwirtschaft“. Nach Selbmann entwickelten sich in Polen, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Ungarn und Rumänien Systeme, „bei denen das Geld eine andere Rolle spielt als in den westlichen Teilen Europas“.146

146 Selbmann, Fritz: Demokratische Wirtschaft. Drei Vorträge gehalten an der Universität Leipzig und der Technischen Hochschule Dresden von Fritz Selbmann, Stellvertretender Vorsitzender der deutschen Wirtschaftskommission, vormals Minister für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung des Landes Sachsen, mit einer Einführungsansprache von Professor Jacobi, Rektor der Universität Leipzig, Dresden 1948, S. 76-79, 90-95.

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8.3.5. Fazit: Minderwertiges sozialistisches Geld in der Sowjetunion, der SBZ und den Volksdemokratien Die Weimarer Republik (1919-1933) war eine Demokratie mit Marktwirtschaft, 1933/34 erfolgte mit der „Nationalsozialistischen Revolution“ die Grundlegung der Kriegswirtschaftsordnung und mit dem Vierjahresplan 1936 die Intensivierung der Kriegsvorbereitung147 und mit dem Preisstopp (1936) und dem Lohnstopp (1938) die naturale Lenkung der Ernährungswirtschaft (Erzeugung und Verbrauch)148 und die naturale Lenkung der gewerblichen Wirtschaft.149 Mit dem Colm-Dodge-Goldsmith-Plan wurde die Geldmenge der zurückgestauten Inflation auf etwa 1/10 reduziert und gleichzeitig die natural gelenkte national-sozialistische Steuerung mit der Liquidierung der Zwangsbewirtschaftung abgeschafft, und der Preis übernahm wieder die Funktion, den volkswirtschaftlichen Prozeß zu steuern. Nur dies wird als Währungsreform bezeichnet. In der SBZ wurde die naturale Steuerung aus der nationalsozialistischen Zeit beibehalten, so dass sich hier mit dem Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948 an der Steuerung nichts änderte. Der Colm-Dodge-Goldsmith-Plan war mit der natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft nicht kompatibel und kam für die Transformation in der SBZ nie in Frage. Das sozialistische Geld in der SBZ / DDR war kein Kapital, d. h. Produktionsmittel konnten damit nicht gekauft werden. Das persönliche Eigentum in allen sozialistischen Ländern war auf die individuellen Konsumwaren begrenzt. Seit der Erfindung der Basisinnovation Geld vor 2500 Jahren hat es in der Geschichte nie ein solch minderwertiges Geld gegeben. Der Sowjetunion kam bei dem minderwertigen sozialistischen Geld eine Pionierrolle zu.

147 Petzina, Dietmar: Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968. 148 Diehl, Markus Albert: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933-1945, Stuttgart 2005, S. 86 ff. 149 Ebd., S. 110 ff.

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8.4. Das SBZ / DDR-Geld bleibt wie die RM eine reine Binnenwährung und wird nicht konvertibel. Leere Schaufenster Konsum (= Verbrauch) ist „nach Adam Smith der einzige Zweck, das letzte Ziel aller Produktion. Er ist Verwendung oder Verzehr von wirtschaftlichen Mitteln, bis ihr Nutzen erschöpft, ihr Zweck erfüllt ist. Güter können einmal oder mehrmals genutzt werden (langlebige Gebrauchsgüter, durable consumer goods). Grund und Boden besitzen sogar eine ewige Nutzungsdauer. Das Wesen des Verbrauchs ist subjektiv die Befriedigung eines Bedürfnisses, in der Produktion die Umwandlung von Gütern in Zwischen- oder Fertig-(End-)Produkte. Verbrauch als Reproduktion oder Erneuerung der menschlichen Arbeitskraft interpretiert, bietet die Möglichkeit, ihn als Bindeglied zur Produktion im Wirtschaftskreislauf einzuordnen. In Verbrauchswirtschaftsplänen der Haushalte wird die Rangordnung der Bedürfnisse festgelegt. Sie ist wesentlich durch die Höhe des verfügbaren Einkommens bestimmt. Die Höhe der realen Verbrauchsausgaben drückt jeweils den Lebensstandard des Haushalts aus. Amtliche Verbrauchsstichproben bilden die Grundlage für theoretische Erklärungen des Konsumverhaltens und werbe- und wirtschaftspolitische Entscheidungen. So hat Engel empirisch festgestellt, daß je kleiner das Einkommen, desto größer ist der Anteil an Ausgaben für den lebensnotwendigen Bedarf, vor allem Nahrungsmittel, während Schwabe nachgewiesen hat, daß die Ausgaben für die Wohnung mit abnehmendem Einkommen prozentual zunehmen. In einer gesonderten Wirtschaftslehre des Haushalts (in den USA home economics genannt) wird das Verbraucherverhalten aus ökonomischer Sicht analysiert und systematisch erklärt. Die Verbrauchsforschung liefert die entscheidenden Grundlagen moderner Absatz- und Werbepolitik. In der neueren Konjunkturtheorie kommt dem Verbrauch eine zentrale Bedeutung zu“.150 Warum waren die Läden in den Westzonen nach der Währungsreform voller Waren und weshalb gab es in der SBZ „Leere Schaufenster?“

150 Grüske, Karl-Dieter / Recktenwald, Horst Claus (Hrsg.): Wörterbuch der Wirtschaft, 12. Auflage, Stuttgart 1995, S. 639. König, Heinz: Konsumfunktionen, in: HdWW, 4. Bd., 1988, S. 513.

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Ausschnitt aus dem Sortiment der Nürnberger Großhandelsfirma Kaspar

Beim Kauf von Waren erhielt der Verkäufer (Ladenbesitzer) Geld mit dem er seinen Großhändler bezahlte, der einen Teil des Geldes an die Fabrik weitergab. So erhielt letztlich der Produzent seine Kosten plus Gewinn. Dadurch kam die Wirtschaft in Schwung. Michael Wildt schildert die Situation aus der Sicht des Konsumenten. „Das im März 1948 vom Wirtschaftsrat der Bizone verabschiedete ‚Enthortungs-Gesetz‘ zeigte keine Wirkung, da der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Ludwig Erhard, im April 1948 unverhohlen durchblicken ließ, daß Hortungen war nicht offiziell erlaubt seien, aber doch geduldet würden, damit am Tag X eine ausreichende Warenmenge vorhanden sei, um der jungen DM zum Durchbruch zu verhelfen. Tatsächlich waren unmittelbar nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 die Läden wieder voller Waren. Die Fotos, auf denen sich Menschen an den Schaufensterscheiben die Nasen drückten, gehören sicher zur ‚Ikonologie‘ der Bundesrepublik. ‚Die vollen Schaufenster waren da, das war das Schlimme‘, erinnert sich Frau H. an den Sommer 1948. ‚Die Preise waren sehr, sehr hoch, wenn man bedenkt, daß wir vierzig Mark bekommen hatten. Und wir hatten keinen Kochtopf und nichts, man mußte schon für einen Topf 25 Mark bezahlen, umgesetzt, einen Suppentopf, aus selbstgemachtem Aluminium. Das war damals aus Flugzeugen, das Blech, was übriggeblieben war, da wurden die Töpfe […]. Wir waren auch da mit Flüchtlingen zusammen, die nicht in einer Partie essen konnten, weil sie das Besteck nicht hatten. Die wollten dieses notwendige Zeug haben. Was das alles gleich dieses Geld verbraucht hat. Und im andern Jahr April gab es zur Osterzeit das erste Lammfleisch im Angebot. Das hatten wir uns, also Mutter und ich mit meiner Tochter, zwei Pfund Lammbraten und Blumenkohl kaufen können, so ohne Schwierigkeiten, mit gutem Geld. Und dann hatten diese Geschäfte plötzlich solche Butterberge, Eier satt, diese Milchgeschäfte, man konnte Sahne, flüssige Sahne kaufen. Und weißes Mehl, weißes Mehl, oh, was war das schön. Und dann kam das Fett dazu und ‘n bißchen Kaffee, echten Bohnenkaffee‘.

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Zuerst jedoch konnten die Auslagen in den Schaufenstern nur bewundert werden, da vielen wie Frau H. noch schlicht das Geld fehlte, um all die Herrlichkeiten kaufen zu können. Hatte die Westdeutschen in den Umfragen der US-Militärregierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Sorge nach Lebensmitteln, Kleidung, Schuhen, Angst um vermißte Personen am meisten beschäftigt, focussierten nun alle Sorgen in einer einzigen: der ums Geld. Doch trotz der sozialen Härten der Währungsreform, dem unmittelbaren Anstieg der Erwerbslosigkeit und der Lebenshaltungskosten, die zum Proteststreik vom 12. November 1948 führten, ist ihr hervorragender Platz im kollektiven Gedächtnis der westdeutschen Gesellschaft nicht zu übersehen: ‚Eine Zwischenbilanz der Befunde (der lebensgeschichtlichen Interviews des Oral History-Projekts Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, m. w.) ergibt: die Währungsreform ist das politische Ereignis in der Erfahrungsgeschichte der Nachkriegszeit, dem grundsätzliche ordnungspolitische Bedeutung – von der gespaltenen Ökonomie zur Marktwirtschaft, von der abenteuerlichen Selbstversorgung im Mangel zur Arbeitsdisziplin und zur Konsumsteigerung – zugeschrieben wird und das wohl als einziges eine Entscheidung der politischen Machtträger unmittelbar oder buchstäblich für jeden erkennbar und im Alltag spürbar gemacht hat. […] Weil unsere Zeitzeugen nach der Währungsreform zum ersten Mal (wieder) jener Warengesellschaft begegneten, in der sie in den folgenden Jahren zu einem erheblichen Teil ihre Lebenserfüllung suchten, erscheint ihnen dieses Erlebnis, obwohl es unmittelbar für sie persönlich durchaus Unterschiedliches bedeutete und viele sich betrogen fühlten, wie der Mythos vom Ursprung des goldenen Zeitalters“.151

„Charakteristisch für die Eigentumsordnung in der DDR war zunächst ihre an ideologischen Gesichtspunkten ausgerichtete, hierarchische Gliederung nach Eigentumsformen, die verschiedenen Rechtsregeln unterstanden und einen abgestuften Rechtsschutz genossen. Innerhalb der Kategorie des ‚sozialistischen‘ Eigentums wurde zwischen den drei Unterformen des staatlichen Eigentums (gesamtgesellschaftliches Volkseigentum), des genossenschaftlichen Eigentums (genossenschaftliches Gemeineigentum werktätiger Kollektive) und des Organisationseigentums (Eigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger) unterschieden (Art. 10 Abs. 1 Verf.). Diesen nach der marxistischen Ideologie hochwertigen Formen des Kollektiveigentums standen zwei Formen des individuellen Eigentums gegenüber, nämlich das ideologisch unbedenkliche ‚persönliche Eigentum‘ an Konsumgütern (Art. 11 Abs. 1 Verf.) und das ideologisch verwerfliche, aber aus opportunistischen Gründen bis auf weiteres in engen Grenzen geduldete ‚Privateigentum‘ an Produktionsmitteln. […] Das staatliche Eigentum (Volkseigentum) genoß als ideologisch höchstwertige, weil total vergesellschaftete Eigentumsform bedeutende Privilegien. Die wichtigsten Produktionsmittel waren nach Art. 12 Abs. 1 Verfassung ihm vorbehalten und damit dem privaten Rechtsverkehr entzogen. Individuelles Eigentum: Es war anerkannt, daß neben Haushaltsund Einrichtungsgegenständen, Gegenständen des persönlichen Bedarfs und Geld

151 Wildt, Michael: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, S. 33 f.

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auch Personenkraftwagen, Eigenheime und Wochenendgrundstücke der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse dienten. Der Einsatz des persönlichen Eigentums zur Gewinnerzielung, wie die private Vermietung von Wohnraum oder die Verwendung des PKW als Taxi, war vom Funktionsvorbehalt aber nicht mehr gedeckt“.152 Das Außenhandelsmonopol schirmte den Binnenmarkt der SBZ / DDR von allen grenzüberschreitenden Warenbewegungen strikt ab. „[…] Es wurde Geld in Umlauf gebracht, das ausschließlich Kaufkraft im Inland besaß (Binnenwährung) (Geld- und Währungswesen), so daß Betriebe und private Haushalte ihre Nachfrage prinzipiell nur mit Produkten und Leistungen befriedigen konnten, die auf dem Binnenmarkt angeboten wurden. Schließlich verdrängte man das privatwirtschaftliche Unternehmertum aus jenen Betrieben und Einrichtungen, die mit der Warenversorgung des Binnenmarktes befaßt waren. Das betraf sowohl die Großwie die Einzelhandelsunternehmen für Produktionsmittel und (oder) Konsumgüter als auch die Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes, da letztere in der DDRStatistik dem Binnenhandel zugeordnet wurden. Im Ergebnis dieser Kampagne wurde eine ganze soziale Schicht wirtschaftlich weitgehend liquidiert“.153 „Zur Politik des privaten Verbrauchs: In der Wirtschaftspolitik der SED-Führung der 50er und 60er Jahre hatten zunächst verschiedene Industrialisierungsaufgaben (Industriepolitik) absoluten Vorrang, insbesondere jene, die darauf abzielten, sich von der historisch gewachsenen innerdeutschen Arbeitsteilung freizumachen und eine enge wirtschaftliche Verflechtung mit der sowjetischen Volkswirtschaft einzugehen. Dazu war der Auf- bzw. Ausbau einer eigenen Grundstoffindustrie und Energiewirtschaft sowie die Erweiterung der Produktion von Investitionsgütern (einschließlich Landmaschinen-, Fahrzeug- und Schiffbau) notwendig. Dieses Vorhaben ging zwangsläufig zu Lasten der Konsumgüterindustrie und des privaten Verbrauchs und war mit Sicherheit eine Ursache für die Fluchtbewegung aus der DDR bis zum Mauerbau“.154 In der zweiten Jahreshälfte 1948 setzte der erste politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralwirtschaftsplan ein, d. h. die Lenkung war natural und nicht mehr geldwirtschaftlich. Die Konsumausgaben der Bevölkerung wirkten nicht auf die Volkseigenen Betriebe ein. Das minderwertige sozialistische Geld, das am 21. Juni und am 24. Juli 1948 in der SBZ ausgegeben wurde, hatte kein Vorbild in der gesamten deutschen Geschichte. Das Modell war das minderwertige sozialistische Geld in der UdSSR. Nie in der Geschichte des Geldes hat es ein solch minderwertiges Geld gegeben. Mit der Gründung der Handelsorganisation „Freie Läden“ (= HO) am 3. November 1948 wurde der Schwarzmarkt verstaatlicht.

152 Brunner, Georg: Eigentum, in: Eppelmann, Rainer et al. (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. 2. Aufl., 1997, S. 226-230. 153 Schneider, Gernot: Binnenhandel, ebd., S. 164. 154 Ders., ebd., S. 509.

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„Die Deutsche Wirtschaftskommission hat in ihrer Vollsitzung vom 28. April 1948 nachstehende Verordnung beschlossen: Im Interesse der Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung und der Steigerung des Kampfes gegen die Spekulation mit Lebensmitteln sowie zwecks möglichster Unterstützung der Vieh- und Geflügelbesitzer beim Verkauf der Überschüsse ihrer Wirtschaften wird bestimmt: 1. Die Hauptverwaltung Handel und Versorgung und die Regierungen der Länder haben den Aufkauf auf streng freiwilliger Grundlage der Überschüsse von Rindvieh, Schweinen, Schafen, Ziegen, Eiern, Geflügel, Milch, Butter und Fett bei Wirtschaften zu organisieren, die die Pflichtablieferung dieser Produkte zu den durch den Befehl Nr. 28 vom 7. Februar 1948 des Obersten Chefs der SMAD festgesetzten Fristen erfüllt haben, sowie bei Wirtschaften, die von der Pflichtablieferung dieser Produkte befreit sind, auf der Grundlage des Gegenverkaufs von Industriewaren, Tabakwaren oder Zucker. 2. Der Aufkauf der freien Spitzen (Übersollmengen) erfolgt durch die von den Landesregierungen zu bestimmenden Erfassungsbetriebe, landwirtschaftlichen und Konsumgenossenschaften (Aufkaufbetriebe). Zur Intensivierung dieses Aufkaufs haben die Landesregierungen zu veranlassen, daß besondere Firmen und Aufkäufer im Auftrage der Erfassungsbetriebe und der Genossenschaften die Erzeugerbetriebe aufsuchen, für den Ankauf werben, möglichst Verträge abschließen und für den Transport ab Hof des Erzeugers sorgen. Die Aufkäufer haben die Erzeuger über die diesen zur Verfügung stehenden Gegenwerte, insbesondere Industriewaren, an Hand von Listen, welche das Preisverhältnis der abgegebenen Produkte zur Ankaufsberechtigung der Industriewaren enthalten und bei den Verkaufsstellen der landwirtschaftlichen und Konsumgenossenschaften zum Aushang kommen, eingehend zu unterrichten und die Verkaufsstellen nachzuweisen. Einkaufsmöglichkeit Zug um Zug gegen Ablieferung der landwirtschaftlichen Produkte ist zu organisieren. An Personen, die an Aufkaufbetriebe bzw. Genossenschaften ihre Überschüsse an Rindvieh, Schweinen, Schafen, Ziegen, Geflügel, Milch, Butter, Fett und Eiern verkaufen, sind auf Grund der auszustellenden Verkaufsbescheinigungen im Gegenverkauf gegen Barzahlung nach den bisherigen Bestimmungen Tabakwaren bzw. Zucker oder zu den jeweils geltenden Kleinhandelspreisen Industriewaren zu verkaufen. Die Wünsche der Erzeuger für den Erhalt bestimmter Industriewaren sind nach Möglichkeit zu berücksichtigen. Die Deutsche Wirtschaftskommission und die Landesregierungen werden zu diesem Zweck Industriewaren zuteilen. Es ist festzusetzen, daß 80 % des Viehes, Geflügels, der Eier, Milch, Butter und des Fettes, die gemäß dieser Anordnung aufgekauft wurden, für die planmäßige Versorgung zu verbrauchen sind, während 20 % zur Verfügung der Landesregierung zurückbleiben und von ihnen für die zusätzliche Versorgung von Arbeitern, Angestellten, für die Verpflegung gemäß Befehl Nr.

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234/47, Kinderheimen, Schülern von Volksschulen, mittleren Schulen und Hochschulen, über die Lebensmittelkarten hinaus verbraucht werden“.155 Mit der „Anordnung über den Ankauf und die Verteilung von freien Spitzen (Übersollmengen) an Getreide, Hülsenfrüchten, Kartoffeln und Gemüse“156 vom 5. Mai 1948 beschloß die Deutsche Wirtschaftskommission folgendes: Zwecks Erweiterung der Ernährungsbasis, Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung, Steigerung der industriellen Produktion und Verstärkung des Kampfes gegen die Spekulation in Lebensmitteln wird bestimmt: 1. Die Deutsche Wirtschaftskommission bildet einen Ausschuß ‚Freier Markt‘, dem je ein Vertreter der Hauptverwaltungen Landwirtschaft und Handel und Versorgung, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), des Hauptsekretariats der Konsumgenossenschaften und der landwirtschaftlichen Genossenschaften angehört. Der Ausschuß hat die Aufgabe, die Arbeit der Länderausschüsse ‚Freier markt‘ zu koordinieren und nach einheitlichen Gesichtspunkten zu lenken, im Benehmen mit den Landesausschüssen den erforderlichen Ausgleich bei der Verteilung der aufkommenden Mengen vorzunehmen, die Berichte der Landesausschüsse auszuwerten sowie die Bereitstellung der erforderlichen Industriewaren zu veranlassen. Entsprechend dem Aufbau des Landesausschusses ist für jeden Land- und Stadtkreis ein Kreisausschuß ‚Freier Markt‘ zu bilden, wobei Stadtkreise mit Landkreisen einen gemeinsamen Kreisausschuß bilden können. Beim Kreisausschuß liegt das Schwergewicht des Aufkaufs der freien Spitzen. Zu seiner Aufgabe gehören: Organisation und Durchführung des Aufkaufs, Verteilung im Kreismaßstab, Einrichtung des Melde- und Abrechnungswesens, Aufbau und Leitung von Ortsausschüssen sowie die propagandistische Bearbeitung des Kreises und die Bekämpfung des ‚Schwarzen Marktes‘ mit Hilfe der demokratischen Organisationen und der Polizei. Der Aufkauf der freien Spitzen erfolgt auf freiwilliger Grundlage durch die landwirtschaftlichen und Konsumgenossenschaften oder durch von ihnen beauftragte Organe des Handels. Der Aufkauf darf nur bei den Erzeugern vorgenommen werden, die eine Bescheinigung des Bürgermeisters der Gemeinde über die volle Erfüllung des Ablieferungssolls oder einen Befreiungsschein vorweisen können. Die Landesregierungen haben zu veranlassen, daß besondere Firmen und Agenten im Auftrage der Genossenschaften die Erzeugerbetriebe aufsuchen,

155 Verordnung über den freien Ankauf von Rindvieh, Schweinen, Schafen, Ziegen, Geflügel, Eiern, Mild, Butter und Fetten der Deutschen Wirtschaftskommission vom 28. April 1948, in: Zentralverordnungsblatt vom 21. Mai 1948. 156 Ebd., S. 153 ff.

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für den Aufkauf werben, mögliche Verträge abschließen und für den Transport ab Hof des Erzeugers sorgen. Der Aufkauf der freien Spitzen ist vorzunehmen: (a) Gegen Barzahlung bis zum Dreifachen des festgesetzten Erzeugerpreises, (b) Gegen Zahlung des einfachen Preises mit Anspruch auf Lieferung von Industriewaren zu den jeweils geltenden Kleinhandelspreisen – jedoch nicht für Gemüse. Die aufgekauften freien Spitzen sollen in erster Linie den Werkkantinen der Betriebe zugeführt werden, die nach Befehl Nr. 234 keine planmäßige zusätzliche Werkverpflegung erhalten. Die Verteilung erfolgt nach folgenden Dringlichkeitsstufen: (a) Industriebetriebe, die ihr Produktionssoll erfüllt haben, ferner Betriebe des Transportwesens und Verkehrs (Reichsbahn, Reichspost usw.), wichtige Schulen und Lehrwerkstätten für den Betriebsnachwuchs. (b) Sonstige wichtige Betriebe, Krankenhäuser, Heilstätten, Kinderheime und soziale Einrichtungen, wie Schulspeisung, zusätzliche Verpflegung für Lehrgangsteilnehmer. (c) Klein- und Handwerksbetriebe, zusätzliche Verpflegung für Angestellte der öffentlichen Verwaltungen und der Dienststellen der demokratischen Organisationen. Die notwendigen Industrieerzeugnisse sind von der Landesregierung planmäßig nach Weisungen der Deutschen Wirtschaftskommission zur Verfügung zu stellen. Bei den Industrieerzeugnissen handelt es sich hauptsächlich um landwirtschaftliche Geräte (Liste A), Textilien und Schuhwaren (Liste B), künstlichen Dünger (Liste C) usw. Diese Industrieerzeugnisse sind in den Verteilungsplänen als Sonderkontingent ‚Freier Markt‘ bezeichnet. Die durchgeführte Warenbewegung ist in den monatlichen Abrechnungen nach Befehl Nr. 55/1945 gesondert auszuweisen. Die für die ‚Freie-Markt‘-Aktion vorgesehenen Industrieerzeugnisse dürfen ohne besondere Genehmigung aus den Betrieben für andere Zwecke nicht entnommen werden. Die Handelsorganisation ‚Freie Läden‘, die ‚Handelsorganisation‘ genannt wurde, mit dem Sitz in Potsdam, wurde als volkseigenes Handelsunternehmen am 3. November 1948 als Organ der Deutschen Wirtschaftskommission gegründet.157 „Die Handelsorganisation hat die Aufgabe, in der sowjetischen Besatzungszone und im sowjetischen Sektor von Berlin ein Netz volkseigener Verkaufsstellen und Gaststätten aufzubauen und zu betreiben, welche vorerst den durch Beschluß des Sekretariats der Deutschen Wirtschaftskommission geregelten freien Verkauf von gewerblichen Verbrauchsgütern und Lebensmitteln zu den vom Sekretariat der Deutschen Wirtschaftskommission festgesetzten Preisen durchzufüh-

157 Satzung der Handelsorganisation „Freie Läden“ vom 3. November 1948, in: Zentralverordnungsblatt vom 16. November 1948.

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ren haben. Sie kann mit Zustimmung der Deutschen Wirtschaftskommission, Hauptverwaltung Handel und Versorgung, andere Handelsbetriebe mit dem Verkauf bestimmter Waren beauftragen“. Das Grundkapital in Höhe von 50 Mio. Ost-Mark wurde von der DWK in Höhe von 30 Mio. und den fünf Ländern der SBZ zur Verfügung gestellt. Gewinne der Handelsorganisation sollten in den Zonenhaushalt fließen. Mit dem SMAD-Befehl Nr. 151/1948 vom 3. September 1948 sollte die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung der SBZ verbessert werden. „In teilweiser Abänderung der Ziffer 6 der Anordnung der Deutschen Wirtschaftskommission vom 5. Mai 1948 (ZVOBl. S. 153) sind die Erzeugnisse des Ackerbaues, Getreide, Hülsenfrüchte, Kartoffeln und Ölsaaten, die durch freien Aufkauf aufkommen, in erster Linie zur Erfüllung des vorstehenden Beschlusses zu verwenden. Hierbei gehen 75 % der aufgekauften Ackerbauerzeugnisse zur Verfügung der Deutschen Wirtschaftskommission, Hauptverwaltung Handel und Versorgung und die übrigen 25 % zur Verfügung der Landesregierungen“. 8.5. Bilanzkontinuität im Rechnungswesen der Volkseigenen Betriebe nach dem Geldumtausch Vereinheitlichung des Rechnungswesens: Vom Pflichtkontenrahmen (1937) zum Einheitskontenrahmen der Industrie (EKRI, 1949). Die gelenkte nationalsozialistische Kriegswirtschaftsordnung (1939/45) bot eine gute Basis für die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ / DDR. Wenn man den Geldumtausch in der SBZ mit der Währungsreform in den Westzonen vergleicht, muß man zwei Bereiche unterscheiden und zwar, die Bedeutung für die Konsumenten und für die Unternehmen im Westen und die Bedeutung für die Konsumenten und die Volkseigenen Betriebe in der SBZ / DDR. In den Jahren 1936 bis 1939 wurde das Rechnungswesen neugeordnet und vereinheitlicht.158 Das Ziel war eine Hebung der Wirtschaftlichkeit auf den für einen Wirtschaftszweig jeweils höchstmöglichen Stand. Klarheit über Art, Höhe und Entstehung der Kosten. Damit sollte vor allem die Rüstungsindustrie kontrolliert werden. Am 15. November 1938 wurden allgemeine Richtlinien für die Preisbildung bei öffentlichen Aufträgen (RPÖ) sowie Leitsätze für die Preisermittlung auf Grund der Selbstkosten für öffentliche Auftraggeber (LSÖ) erlas-

158 Bott, Karl (Hrsg.): Lexikon des kaufmännischen Rechnungswesens, 2 Bde., Stuttgart 1941: insbesondere folgende Beiträge: Henzel, Fritz: Kostenrechnungsgrundsätze, Kostenrechnung, Leitsätze für die Preisermittlung auf Grund der Selbstkosten bei Leistungen für öffentliche Auftraggeber (LSÖ) vom 15.11.1938. Auler, Wilhelm: Plankostenrechnung. Seebauer, Georg: Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW). Müller, Adolf: Kostenrechnungsregeln. Lehmann, Bruno: Kostenrechnungsrichtlinien. Le Coutre, Walter: Kontenrahmen. Vater, Karl: Leitsätze für die Preisermittlung auf Grund der Selbstkosten und Leitsätze für die Preisermittlung auf Grund der Selbstkosten bei Bauleistungen für öffentliche Auftraggeber (LSBÖ) vom 25. Mai 1940 und Verordnung vom 12.2.1942. Richtlinien für die Preisermittlung bei öffentlichen Aufträgen (RPÖ) vom 15.11.1938. Neufassung vom 24.3.1941.

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sen.159 Am 16. Januar 1939 folgten die Allgemeinen Grundsätze der Kostenrechnung.160 „Gerade als die Lieferungen an die Wehrmacht an Bedeutung gewannen, wurden sehr genaue Vorschriften über die Kostenkalkulation erlassen. Die Wirtschaftsrechnung vieler deutscher Betriebe ist während dieser Zeit wesentlich verbessert und vereinheitlicht worden“.161 Von großer Bedeutung waren die am 11. November 1937 erlassenen Richtlinien für die Organisation der Buchführung,162 für die Kostenorganisation. Grundlage dafür war Eugen Schmalenbachs Studie „Der Kontenrahmen“. Leipzig 1927. Die für die Kontrolle der Rüstungsindustrie in Deutschland eingeführten Instrumente des Rechnungswesens wurden im Zweiten Weltkrieg auf die besetzten Länder übertragen und lieferten nach Beendigung des Krieges eine hervorragende Grundlage für die Errichtung der zentral geplanten Wirtschaft in der SBZ / DDR und den Volksdemokratien. Dazu schreibt Hans Münstermann:163 „Die dann nach 1938 in österreichischen, sudetendeutschen und böhmisch-mährischen Unternehmungen sowie während des Zweiten Weltkrieges in Betrieben der von Deutschland besetzten Gebiete auf den deutschen Erlaß Kontenrahmen oder wie in Polen, Frankreich, Belgien und den Niederlanden auf eigens verfaßte Rahmen umgestellte Kontenorganisation machte Betriebswirte dieser Länder mehr als vorher mit der Kontenrahmenlehre bekannt. Bei der Abneigung gegen alle deutschen Anordnungen überraschte es, daß man sich in diesen Ländern auch nachher, als sie von der deutschen Wehrmacht geräumt waren, mit dem Kontenrahmen befaßte. Die Ursachen dieses Interesses für den Kontenrahmen sind in der Wirksamkeit seiner Idee, in der sich aus der staatlichen Planwirtschaft, vor allem aus der Sozialisierung und Nationalisierung vieler Betriebe, ergebenden Zwangslage der wirtschaftlichen Verhältnisse sowie in den Vorbildern neutraler Länder zu suchen“.164

159 Ferber, Ernst: Die Preisbildung bei öffentlichen Aufträgen in Deutschland im Kriege, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 59. Bd., 1944 I, S. 155: „Die geschilderten Maßnahmen verfolgen […] zwei Zwecke: Die Verhinderung von Kriegsgewinnen auf der einen, die Steigerung der Leistung auf der anderen Seite. Die deutsche Preispolitik ist also in hohem Maße undogmatisch“. 160 Weigmann, Walter: Selbstkostenrechnung und Preisbildung der Industrie unter besonderer Berücksichtigung der Leitsätze für die Preisermittlung bei öffentlichen Aufträgen (LSÖ) und der Kostenrechnungsgrundsätze, Leipzig 1939. 161 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 72. 162 Die zentrale deutsche Wirtschaftlichkeitsstelle war das auf Veranlassung des Reichswirtschaftsministeriums aus Kreisen der Wirtschaft, Wissenschaft und Technik geschaffene Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW). Dem RKW gehörte der Reichsausschuß für Betriebswirtschaft (RfB) an, der grundsätzliche Richtlinien für den einheitlichen formellen Aufbau des Rechnungswesens. 163 Münstermann, Hans: Kontenrahmen, in: HdSW, 6. Bd., 1959, S. 163. Schmidt, KlausDietrich: Kontenpläne und Bilanzschemata, in: HwBWI, 2. Bd., Stuttgart 1939, S. 623-635. 164 Fielitz, Hans: Das „Neue Rechnungswesen“ der Sowjetzone, in: Neue Betriebswirtschaft, 6. Heidelberg 1953. Förster, Wolfgang: Neue Buchführungsgrundsätze für die SBZ, in: Wirtschaftsprüfung, 9. Stuttgart 1956.

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Das Ergebnis der Beschäftigung mit dem Kontenrahmen ist seine Beibehaltung oder Einführung nach dem Kriege in einer Reihe von Ländern, wie Australien, Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Jugoslawien,165 den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen,166 Portugal, Schweden, Schweiz, der Tschechoslowakei und Ungarn“.167 Vom Zentralausschuß für industrielles Rechnungswesen („Zafir“), Berlin, wurde in der SBZ der Einheitskontenrahmen der Industrie (EKRI) geschaffen und ab 1.1.1949 für alle Industriebetriebe verbindlich erklärt.168 Konrad Mellerowicz bemerkte dazu: „Der vereinheitlichte Kontenrahmen ist überdies ein vorzügliches Mittel der Wirtschafts- und Betriebslenkung, vor allem durch den Betriebsvergleich, den er ermöglicht“.169 In den Westzonen wurde mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 eine geldwirtschaftlich organisierte Marktsteuerung eingeführt. Für die Konsumenten begann damit das Wirtschaftswunder. Die Einführung der Marktsteuerung für die Unternehmen machte „es erforderlich, das kaufmännische Rechnungswesen auf die neue Währung umzustellen, um im Rahmen der allgemeinen Währungs- und Wirtschaftsneuordnung auch für das einzelne Unternehmen eine Grundlage für seine neue Wirtschaftsrechnung zu schaffen. Dies konnte nur dadurch geschehen, daß die Unternehmer die RM-Rechnung mit ihren unvergleichbaren und überholten Werten abschließen und eine neue DM-Eröffnungsbilanz aufstellen mußten. Man war sich darüber klar, daß die Verhältnisse am 21.6.1948 keine Grundlage für eine Bewertung abgeben konnten. Die Bewertung war erst möglich, nachdem die Entwicklung der Kosten- und Preisverhältnisse aufgrund der Währungsumstellung klar überblickt werden konnten“.170 Die nach dem DM-Bilanzgesetz vom 21. August 1949 zum 21.6.1948 aufzustellende DM-Eröffnungsbilanz war eine Vermögensbilanz. „Auch bei dieser ka-

165 Krajevic, Franjo: Das betriebliche Rechnungswesen in Jugoslawien, in: Wirtschaftsprüfung, 5. Stuttgart 1952. Ders.: Die Planung und die Planungsrechnungen in Jugoslawien, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 26, Wiesbaden 1956. 166 Langer, Kurt: Das Rechnungswesen im heutigen Polen als Instrument staatlicher Planwirtschaft, in: Zeitschrift für Handelswissenschaftliche Forschung, N. F. 3, Köln-Opladen 1951, S. 501-510. 167 Schranz, Andreas: Einführung des Pflichtkontenrahmens für die Industrie in Ungarn, in: Betriebswirtschaftliche Beiträge, 2, Bremen-Horn 1948. 168 Anordnung vom 26.11.1948. Für alle Industriebetriebe im Ostsektor Berlins ist der EKRI zum gleichen Zeitpunkt mit einer VO vom 11.1.1949 (VOB) für Groß-Berlin (Ostsektor), 1949, S. 15, eingeführt worden, in: Der Wirtschaftsprüfer, Nr. 4, 1949, S. 112 f. Kalveram, W.: Einheitskontenrahmen für Industriebetriebe in der Ostzone. Erläuterung und kritische Beurteilung, in: Wirtschaftsmagazin, 1948, S. 147 f. 169 Mellerowicz, Konrad: Aufgaben und Bildungsgesetze des Einheitskontenrahmens der Industrie (EKRI), in: Der Wirtschaftsprüfer 2, 1949, S. 161. 170 Hühne, Herbert: Das Problem der Beseitigung der Kaufmachtbeschränkung des Geldes nach dem zweiten Weltkrieg dargestellt an der Währungs- und Wirtschaftspolitik verschiedener als Beispiele ausgewählter Staaten. Diss. Frankfurt a. M. 1950.

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men zwangsläufig und mit ausdrücklicher Genehmigung des Gesetzgebers die stillen Reserven zur Auflösung, um die tatsächlichen und nominellen Verluste aus Krieg und Umstellung auszugleichen und den Unternehmungen den Ausweis entgegen den Vorschriften des §83 AktG zu ermöglichen. Es brachte eingehende Bewertungsvorschriften für alle typischen Bilanzposten, die teilweise Wertheraufsetzungen nach dem Tageswiederbeschaffungspreis (Neuwert) enthielten, teilweise Erinnerungswerte vorsahen und für die Übergangszeit auf geregelte Geschäftsverhältnisse den Einsatz von Kapitalentwertungs- und -verlustkonten vorsah. Die DM-Eröffnungsbilanzwerte galten gleichzeitig als Anschaffungswerte für die weiteren Erfolgsrechnungen. In diesem Falle bestand Übereinstimmung zwischen Handelsbilanzwerten und Steuerbilanzwerten“.171 Die Bedeutung der „Recheneinheit“ für das Lenkungssystem wird von Walter Eucken hervorgehoben: „Die Währungsreform stellte wieder eine zureichende Recheneinheit her, ermöglichte die Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch Preise und ließ Ordnungsformen entstehen, in deren Rahmen ein großer arbeitsteiliger Prozeß gelenkt werden kann“.172 In der Sowjetischen Besatzungszone hielt man an den „unvergleichbaren und überholten Werten“ von 1944 fest, wie die sogenannte „Währungsreform“ vom 24. Juli 1948 zeigt.173 In Kapitel VII. ‚Preise, Löhne und Steuern‘ der Verordnung heißt es unter Punkt 22: „Die bestehenden Preise für Waren und Dienstleistungen aller Art, die Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten, die Steuer- und Abgabesätze, die Pensionen, öffentlichen Renten und Stipendien, bleiben unverändert“. Dies stand im Einklang mit den Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). Der grundlegende Befehl für die amtliche Lohnpolitik war der Befehl Nr. 180 des Obersten Chefs der SMAD vom 22. Dezember 1945, der eine Kontrolle der Löhne und Gehälter einführte und die Lohnsätze stabilisierte, die in der Zone bis zum 1. Mai 1945 gezahlt worden waren (Lohnstopp). Lohnstopp und Lohnkontrolle sind aber ohne Preisstopp und ohne Preiskontrolle unwirksam. Deshalb ergingen die Befehle 9/45 (21.6.1945), 63/46174 und 337/46,175 die den Preisstop auf der Basis von 1944 festlegten.

171 Le Coutre, Walter: Bilanz (II) Bilanzbewertung, in: HdSW, 2. Bd., 1959, S. 250 f. Boehmer, Henning von: Das DM-Bilanzgesetz, Berlin 1950. 172 Eucken, Walter: Unser Zeitalter der Mißerfolge. Fünf Vorträge zur Wirtschaftspolitik, Tübingen 1951, S. 58. 173 Verordnung über die Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 5/6, S. 57-59. 174 Verstärkung der Preiskontrolle. Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung vom 26. Februar 1946: „Um die ungesetzliche Erhöhung der Preise zu beseitigen und um eine Verstärkung der Preiskontrolle herbeizuführen, befehle ich: I. Alle Eigentümer von handels- und Industrieunternehmen, Reparationswerkstätten und städtischen Betrieben sind zu warnen, daß der Warenverkauf und die Leistung von Diensten nach Preisen zu geschehen hat, die in Deutschland im Jahre 1944 Gültigkeit besaßen, und daß sie die persönlich strafgesetzliche Verantwortung für alle Übertretungen der festgesetzten Preise tragen“, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1947,1. S. 33.

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„Der Geldumtausch in der Ostzone beschränkt sich ihrem Wesen nach ausdrücklich auf die Umwertung des Bargeldes, der Spareinlagen und der laufenden und anderen Konten bei Kreditinstituten. Sie will darüber hinaus in den Ablauf des wirtschaftlichen und betrieblichen Lebens nicht eingreifen. […] Da die Währungsumstellung sich ausschließlich auf die laufenden Barmittel, die Spareinlagen und die Salden der laufenden und anderen Konten bei Kreditinstituten beschränkt, wird im Rahmen des Wirtschaftsprozesses das betriebliche Rechnungswesen in der Ostzone durch die Auswirkungen der Währungsreform wesentlich geringer berührt als das betriebliche Rechnungswesen bei der Währungsreform im Westen. Durch die in der sowjetischen Besatzungszone geschaffene rechtliche Lage ist es möglich, den Übergang in das neue Währungssystem vom Gesichtspunkt des betrieblichen Lebens als wesentlich leichter und elastischer zu gestalten, als dies im Westen Deutschlands möglich gewesen wäre. Während bei der Währungsreform im Westen die unterschiedslose Abwertung auch der gesamten Schuld- und Vertragsverpflichtungen und die Veränderung im Preisniveau zu tiefen Eingriffen in das betriebliche Rechnungswesen, insbesondere zur Aufstellung einer Schlußbilanz auf den Tag vor der Währungsreform gezwungen haben, sind derartige Maßnahmen in der sowjetischen Besatzungszone nicht notwendig gewesen. Hier stellt die Währungsreform für das betriebliche Rechnungswesen keinen Einschnitt dar, der für den Tag der Währungsreform eine Eröffnungsbilanz und eine Inventur und für den Tag vor der Währungsreform die Aufstellung einer Schlußbilanz und damit die Bildung zweier Wirtschaftsjahre erfordern würde.176 Vielmehr läuft das gesamte betriebliche Rechnungswesen im Rahmen der zwölfmonatigen Rechnungsperiode (Kalenderjahr oder das von ihm abweichende Wirtschaftsjahr) weiter, und es sind die Bilanzen für das Geschäftsjahr 1948 auf den 31.12.1948 (oder auf den Tag, an dem das Wirtschaftsjahr im Jahre 1948 endet) aufzustellen. Daraus ergibt sich, daß die laufende Buchführung, das Geschäftsjahr, der Bilanzzusammenhang (Übereinstimmung der Bilanz am Ende des vorangegangenen Geschäftsjahres), der Wertzusammenhang und die Bewertungsgleichmäßigkeit durch die Währungsverordnung nicht berührt werden.177 […] Durch die Währungsreform wird die Kostenrechnung voraussichtlich weniger beeinflußt werden als die Erfolgsrechnung. Das hängt damit zusammen, daß nach den grundlegenden Vorschriften in den Ziffern 18 und 22 der Währungsverordnung das Preisniveau durch die Währungsreform nicht beeinflußt werden darf. Selbstverständlich wer175 Ausbau der Preiskontrolle, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration über die Preiskontrolle vom 9. Dezember 1946, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1947, S. 36 f.: Grundordnung der Preiskontrolle und Maßnahmen gegen Preisverstöße vom 3. April 1946 und Preisauszeichnungsverordnung des Präsidenten der Deutschen Zentralfinanzverwaltung in der sowjetischen Besatzungszone (H. Meyer) vom 30. Juni 1946, in: Ebenda. S. 34-38. 176 Bathmann, Gerhard: Neues über den Rechnungsvermerk, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 8/9, S. 43. 177 In der Anordnung über Bilanzwesen des Sekretariats der Deutschen Wirtschaftskommission vom 3. November 1948 wurde dies in $1 „Buchführung und Bilanzen nach der Währungsreform“ ausdrücklich geregelt, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 8/9, S. 63.

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den sich im einzelnen Schwierigkeiten an den Bestimmungen der Ziffern 19, 20 und 21 oder aus den Bestimmungen der Ziffer 11 Währungsverordnung ergeben können, entscheidend bleibt aber, daß die grundlegenden Kostenelemente, die Material- und Arbeitskosten infolge der Bestimmungen der Ziffer 22 Währungsverordnung Schwankungen nicht unterliegen“.178 Der Justitiar im Preiskontrollamt der Hauptverwaltung Finanzen, Gerhard Bathmann, publizierte 1948 in der Juli-Ausgabe der „Deutschen Finanzwirtschaft“ einen Beitrag unter dem Titel „Preispolitik in Westdeutschland auf neuen Wegen“. Bathmann stellte fest, „daß wir heute in Deutschland nicht nur zwei verschiedene Währungen haben, sondern daß neuerdings auch das Preisgefüge und mit ihm das Preisrecht völlig auseinanderfällt. […] Das vom Wirtschaftsrat beschlossene Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Währungsreform vom 24. Juni 1948 stellt den entscheidenden Bruch mit der bisher in ganz Deutschland einheitlichen Politik des Preisstops und zugleich den Wendepunkt der bisherigen Preispolitik in einem wesentlichen Teil Deutschlands dar. Damit wurde ein bedeutender Schritt von der gelenkten Wirtschaft zur freien Wirtschaft mit der Tendenz, die letztere schnellstmöglich zu verwirklichen, unternommen. Im Vorspruch zu dem Gesetz wird die Grenze beider Systeme wie folgt festgelegt: ‚Die Auflockerung des staatlichen Warenverteilungs- und Preisfestsetzungssystems findet ihre Grenze dort, wo es darauf ankommt, 1. den Schutz des wirtschaftlich Schwächeren zu gewährleisten, 2. die Durchführung des Wirtschaftsprogramms im öffentlichen Interesse sicherzustellen, 3. die Ausnutzung einer Mangelware durch monopolistische Einflüsse zu unterbinden. In Ausführung dieser Grundsätze werden in den Leitsätzen die Richtlinien für die künftige Bewirtschaftung und Preispolitik bekanntgegeben. Diese Richtlinien haben ihren Niederschlag in der Anordnung über Preisbildung und Preisüberwachung nach der Währungsreform vom 25. Juli 1948 gefunden. Das Preiserhöhungsverbot vom 26. November 1946, die Grundlage der bisherigen deutschen Preispolitik, wurde aufgehoben. Mit ihm wurden zahlreiche weitere wesentliche Bestandteile des geltenden Preisrechts außer Kraft gesetzt. Nur für bestimmte, im Gesetz besonders aufgeführte Waren und Leistungen werden Höchst-, Fest- und Mindestpreisvorschriften, Tarife, Gebühren usw. aufrechterhalten. Die Aufhebung des Preiserhöhungsverbotes bildet den Angelpunkt der neuen Entwicklung. Die preisliche Neuregelung ist außerordentlich weitgehend und wird für die deutsche Volkswirtschaft von großer Tragweite sein. Diese Entwicklung in Westdeutschland ist das Ergebnis langjähriger Bestrebungen, die letzten Endes auf eine völlige Beseitigung der staatlichen Preislenkung gerichtet sind. Wir sind heute infolge der ungeheuren Kriegsverluste und den in ihrer Höhe noch gar nicht übersehbaren

178 Kaemmel, Ernst: Währungsreform, Buchhaltung und Bilanz, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 7, S. 13, 18: Ausnahme: Kreditinstitute und Landesversicherungsanstalten.

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Reparationsverpflichtungen auf Jahre oder Jahrzehnte hinaus zu einer in unserer Geschichte kaum dagewesenen Armut verurteilt. […] Das bedeutet, daß wir uns Gedanken über eine möglichst rationelle Verwendung aller unserer Aktiven, zu denen nicht nur unsere Rohstoffe und Produktionsgüter, sondern auch unsere Arbeitskraft gehört, machen müssen. Diese Aufgabe fällt in erster Linie den Wirtschaftsbehörden zu. Es bleibt nach Lage der Dinge gar kein anderer Weg als der einer vernünftigen Lenkung der Wirtschaft (Hervorhebung Jürgen Schneider). […] Es bleibt die Frage offen, ob es nicht richtiger gewesen wäre, den Preisstop von 1944 allmählich, das heißt der natürlichen Entwicklung angepaßt, abzubauen, als einen derart radikalen Bruch mit der bisherigen Preispolitik (Hervorhebung Jürgen Schneider) vorzunehmen, wie dies der Wirtschaftsrat in Westdeutschland getan hat“.179 Seit dem 2. Halbjahr 1948 waren die volkseigenen Betriebe ausführende Organe des einheitlichen Volkswirtschaftsplanes. Erich Gutenberg bezeichnet die Funktion der Betriebe als „plandeterminierte Sollerstellung“. Ab 1. Juli 1948 galten für die gesamte volkseigene Wirtschaft normierte Abschreibungssätze, die auf ursprünglichen Anschaffungswerten basierten. „Voraussetzung dafür, daß der den einheitlichen Abschreibungsrichtlinien zugedachte Zweck erfüllt wird, ist die Schaffung einer einheitlichen Basis hinsichtlich der Ausgangswerte, von denen abgeschrieben werden soll. Deshalb wurde zunächst bestimmt, daß alle Betriebe im Zeitpunkt ihres Überganges in das Eigentum des Volkes bei der Erstellung der Eröffnungsbilanz, die dem Betriebe gehörenden Anlagegegenstände neu zu bewerten und hierbei so vorzugehen hatten, daß die normalen, der Preisbasis 1944 entsprechenden Anschaffungswerte als Vermögen in die Bilanz zu übernehmen waren, wohingegen die Differenz zwischen diesen Werten und den ermittelten Zeitwerten als Wertberichtigung auf die Passivseite der Bilanz eingesetzt werden sollten. Damit auch in der Folgezeit diese neugeschaffene einheitliche Basis erhalten bleibt, sind die volkseigenen Betriebe verpflichtet, bei der Anschaffung gebrauchter Anlagegegenstände deren ursprüngliche Anschaffungswerte auf der Preisbasis 1944 zu ermitteln und gegebenenfalls bei Fehlen von Unterlagen die Werte zu schätzen. […] Bei der Betrachtung des Abschreibungsproblems in der volkseigenen Wirtschaft darf nicht übersehen werden, daß auch hinsichtlich der Verwendung der mit den Verkaufserlösen in die Betreibe zurückfließenden Abschreibungsbeträge gegenüber dem kapitalistischen System eine volkswirtschaftlich bedeutsame Wandlung vor sich gegangen ist. Der auf sich selbst gestellte Betrieb verwandte die Abschreibungsbeträge nach eigenem Ermessen entweder zur Ergänzung bzw. Überholung seiner Betriebsanlagen, oder führte sie anderen Zwecken zu. In der volkseigenen Wirtschaft wird diese Frage aus der Betriebsebene gelöst, in dem die aus dem Ergebnis des Einzelbetriebes gebildeten ‚Amortisationsfonds‘ von den Betrieben abgezogen und an einer Stelle, der Deutschen Investitionsbank, akkumuliert werden. Bei der Ent-

179 Bathmann, Gerhard: Preispolitik in Westdeutschland auf neuen Wegen, S. 23.

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scheidung über die Verteilung der angesammelten Amortisationsfonds auf die Einzelbetriebe sind lediglich volkswirtschaftliche Gesichtspunkte maßgebend, in dem die Mittel denjenigen Betrieben zugeführt werden, die ihrer am dringendsten zur allgemeinen Bedarfsbefriedigung bedürfen, wobei sichergestellt ist, daß die aufgespeicherten Amortisationsbeträge ausschließlich zur Erneuerung bzw. Überholung der Anlagegüter der volkseigenen Güter verwandt werden“.180 Eröffnungsbilanzen volkseigener Betriebe zum 1. Juli 1948 Rechnungswesen 1.

Einheitskontenrahmen als Grundlage für das betriebliche Rechnungswesen (EKRI)

2.

Normierte Abschreibungssätze

3.

Eröffnungsbilanzen nach einheitlichen Richtlinien zum 1. Juli 1948 (Preisbasis 1944).

Bilanzierungs-Richtlinien für die Eröffnungsbilanz volkseigener Betriebe: 45. Bei der Ermittlung des Zeitwertes der Maschinen und maschinellen Anlagen ist, unabhängig vom tatsächlichen Anschaffungszeitpunkt und Anschaffungs- oder Herstellungswert, von dem gesetzlich zulässigen Neuanschaffungswert auf der Preisbasis 1944 auszugehen. […] Es handelt sich somit hier z. T. um einen fiktiven Preis, dessen Verwendung jedoch um der Einheitlichkeit der Bewertung und Abschreibung halber erforderlich ist. Produktion:

Plandeterminierte Sollerstellung (E. Gutenberg). Betrieb verliert jegliche Autonomie.

Finanzierung: Betrieb wird finanziell Teil des Staatshaushalts (wie in der Sowjetunion). Deutsche Finanzwirtschaft 1949, 7/8, S. 117: Matschke, Werner: Die industrielle Entwicklung, S. 288 f.

180 Uebel, Rudolf, Diplom-Kaufmann, Berlin: Neue Abschreibungsverfahren in der volkseigenen Wirtschaft, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 10/11, S. 6: Dritte Durchführungsverordnung zur Verordnung über die Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe – Vorschriften über einheitliche Abschreibungen – Vom 10. Januar 1949, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 12, S. 37-39.

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Volkseigene Betriebe 1948

Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) Kriterien für Investitionen u. Großreparaturen: ‚volkswirtschaftliche Notwendigkeiten‘ Quelle: Groß, Walter: Die Abführung der Amortisationsbeträge der VEB und ihre Verwendung, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1949, S. 207. Volkseigener Betrieb 1948 1. Einheitskontenrahmen als Grundlage für das betriebliche Rechnungswesen (EKRI) 2. Normierte Abschreibungssätze, die lediglich technische Abnutzung berücksichtigen 3. Eröffnungsbilanzen nach einheitlichen Richtlinien zum 1. Juli 1948 auf der Preisbasis von 1944 4. Produktion: Plandeterminierte Sollerstellung (E. Gutenberg) 5. Finanzierung: Betrieb wird finanziell Teil des Staatshaushalts

Die Erreichung der in den Plänen postulierten Planziele setzte eine Planung der finanziellen Mittel voraus. „Damit tritt die Finanzplanung als Wertplanung gleichrangig an die Seite der Produktionsplanung (Mengenplanung). […] allein dadurch, daß die volkseigene Wirtschaft ihre Gewinne an den Haushalt abführt und von diesem Subventions- und Investitionsmittel empfangen wird, ergibt sich zwischen der volkseigenen Wirtschaft und dem Haushalt eine Wechselwirkung“.181

181 Hoffmann, Erich O.: Finanzplanung als notwendige Ergänzung der Produktionsplanung, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 10/11, S. 3.

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Im Nationalsozialismus war den Betrieben die Produktion vorgeschrieben worden, die Sorge um das finanzielle Gleichgewicht hatte man den Betrieben jedoch nicht abgenommen. Dadurch, daß den volkseigenen Betrieben auch diese Aufgabe abgenommen wurde, spielte das finanzielle Ergebnis letztlich keine Rolle mehr. Die Folgen dieses Vorgangs können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Akkumulation der Amortisationsfonds erfolgte in der Deutschen Investitionsbank, die auf Anordnung des Sekretariats der Deutschen Wirtschaftskommission am 13. Oktober 1948 geschaffen worden war.182 Die Deutsche Investitionsbank war jedoch keine Bank mehr im üblichen Sinne, da in der SBZ „auch auf dem Gebiete des Bankwesens grundsätzlich neue Wege beschritten wurden. […] Nur rein äußerlich und technisch haben die neuen Banken mit den alten etwas gemein, ihrem Wesen und ihrem Charakter nach aber sind sie etwas grundlegend anderes und Neues. Die Fäden des gesamten Bankenapparates laufen in der zentralen Finanzverwaltung, der Hauptverwaltung Finanzen zusammen, die wiederum ein Glied der Deutschen Wirtschaftskommission ist. Der gesamte Bankenapparat wird also letzten Endes von einer Stelle aus, die die gesamte wirtschaftliche Entwicklung bis ins einzelne zu übersehen vermag, gelenkt und kontrolliert“.183 Die Deutsche Investitionsbank war damit keine Bank mehr, sondern eine Institution der Finanzplanung der Deutschen Wirtschaftskommission, die zentrale Stelle für den Investitionskredit.184 „In der kapitalistischen Wirtschaft wurde der Investitionskredit dem blinden Zufall, der Geschicklichkeit und dem Entschluß des einzelnen überlassen, mit dem Erfolg, daß Fehlinvestitionen an der Tagesordnung waren. In einer geplanten Wirtschaft kann eine solche Verschwendung von Mitteln nicht zugelassen werden“.185 Die hier vorgetragene Begrünung geht davon aus, daß der zentrale Planungsträger eine höhere Rationalität besitzt als alle individuellen, dezentral planenden 182 Anordnung zur Errichtung der Deutschen Investitionsbank und Satzung der Deutschen Investitionsbank, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 7, S. 39-43. Bis 1967 wurden die Betriebe von zwei Banken – der Deutschen Notenbank und der Deutschen Investitionsbank – finanziert und kontrolliert. Die Filialen der Deutschen Notenbank und der Deutschen Investitionsbank wurden zum 1. Januar 1968 zur „Industrie- und Handelsbank der DDR“ zusammengefaßt. Die DIB kontrollierte den Investitionsprozeß von der Planung bis zur Erreichung des projektierten ökonomischen Nutzens. Siehe dazu: Kaiser, Karl: Zu den Aufgaben der Industrie und Handelsbank der DDR, in: Einheit, 23. Jg., 1968, S. 955-965. 183 Deutsche Investitionsbank im Dienste des Zweijahresplans, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1948, 10/11, S. 7. 184 In der Anordnung über die Durchführung und Finanzierung des Investitionsplanes des Volkswirtschaftsplanes der sowjetischen Besatzungszone für 1949 heißt es in §9 (1): „Die Mittel für die Erfüllung der Investitionsauflagen werden den Investitionsträgern ausschließlich durch die Deutsche Investitionsbank zur Verfügung gestellt“, in: Deutsche Finanzwirtschaft 1949, S. 116. Groß, Walter: Die Ausstattung der Betriebe mit Investitionsmitteln. Zu den Auszahlungsrichtlinien der Deutschen Investitionsbank, in: Ebenda, S. 101-104. Der Investitionsträger wurde von einer Bankstelle betreut. 185 Ebenda, S. 8.

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Unternehmer in einer Marktwirtschaft. Eine solche Behauptung ist absurd. Der zentrale Planungsträger besitzt keine Kriterien darüber, wieviel in welchem Bereich investiert werden soll.186 Fehlinvestitionen waren daher in jeder politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft an der Tagesordnung. Die hier vorgelegten Fakten bestätigen voll und ganz die Positionen von Alexander Fischer, Peter Erler, Horst Laude, Manfred Wilke, Mike Schmeitzner und Stefan Donth. „Demnach hat Stalin von vornherein die Einführung des Sowjetsystems geplant und vorbereitet“.187 Das Sowjetsystem wurde radikal mit Gewalt 1:1 umgesetzt. „Es ging von Anfang an um die Einführung des Sowjetsystems. Die Grundlagen dafür sollten durch Bodenreform, Enteignung der industriellen Großbetriebe, Mobilisierungskampagnen, politische und gesellschaftliche Einheitsorganisationen sowie Kooperation der ‚beiden Arbeiterparteien‘ mit deren völligem Zusammenschluss als Endpunkt geschaffen werden – Maßnahmen, die sich allesamt gegen die ‚bürgerliche‘ Ordnung des Westens richteten. Diese Zielperspektive wurde verschleiert, indem von einer ‚antifaschistischen‘ Entwicklung und einem ‚bürgerlich-demokratischen‘ Weg die Rede war. Erst später, als Regime und System fest verankert waren und der Konflikt mit dem Westmächten offen zutage trat, wurde der ‚Klassenkampf‘ proklamiert. […] Beim administrativen Aufbau sollte zu Anfang jede politische Orientierung scheinbar proportional zu ihrem Rückhalt in der Bevölkerung berücksichtigt werden. Die von außen her sichtbare Personalstruktur war demnach an den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen auszurichten. Da man nicht von einer mehrheitlich kommunistischen Neigung ausgehen konnte, wurden Spitzenposten, denen der Blick der Öffentlichkeit galt, zu Anfang mit Vertretern einer anderen Richtung besetzt. Im Hintergrund arbeitete aber ein zuverlässiger Kader, der den Apparat in der Hand hatte und damit die Entscheidungsmacht besaß. Nahezu 50.000 SMAD-Funktionäre standen überall in der SBZ zur Anleitung der deutschen Seite bereit. Wer nicht unmittelbar beteiligt war, sollte von den jeweils abgegebenen ‚Empfehlungen‘ keinesfalls etwas erfahren. Deswegen wurden diese, falls irgend möglich, mündlich übermittelt. Es ließ sich jedoch nicht verhindern, dass die KPD / SED in den Augen der Bevölkerung das Interesse und die Politik der UdSSR repräsentierte und den – überaus schädlichen – Ruf der ‚Russenpartei‘ erhielt“.188

186 Schmalenbach, Eugen: Exakte Kapitallenkung, in: Betriebswirtschaftliche Beiträge, 1948, S. 21-27. 187 Wettig, Gerhard (Hrsg.): Der Tjulpanov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012, S. 14. 188 Ebd., S. 24 f., 121.

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8.6. Die Einbeziehung der Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe in die Finanzwirtschaft des Staates: „Eine Maßnahme von grundsätzlicher Bedeutung in der Entwicklung des neuen Finanzsystems“ Im Juni 1948 verkündete der Parteivorstand der SED den Zweijahr-Zentralplan 1949/50. Nach dem Beschluss waren dafür „große finanzielle Mittel notwendig! Vor allem sind die für die Industrie erforderlichen Investitionsmittel zu beschaffen. Hierbei wird das Finanz- und Kreditsystem eine wesentliche Rolle spielen, indem es die Betriebsgewinne von Industrie, Handel und Handwerk und die Ersparnisse der Bevölkerung nach besten Kräften mobilisiert. Die Reorganisation des Haushalts- und Steuersystems sowie die Übergabe der Banken in die Hände des Volkes schaffen weitgehende Möglichkeiten für eine Vergrößerung der Haushaltseinnahmen. […] Es ist notwendig, beharrliche Anstrengungen zur Senkung der unproduktiven Verwaltungskosten zu machen und neue Arbeitsmethoden einzuführen“.189 Bis zum Frühjahr 1948 wurden 9281 Privatunternehmen konfisziert. Durch die Befehle Nr. 64 und Nr. 76 der SMAD wurde die Sequestrierung abgeschlossen und die Vereinigung volkseigener Betriebe zum Rechtsträger des Volkseigentums erklärt. Die Konfiskation der Privatunternehmen war die Grundlage für den Beginn der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Um 1978 waren nur die Staatsbank, die Deutsche Außenhandelsbank AG und die Deutsche Handelsbank AG sog. „Devisenbanken. Die Deutsche Außenhandelsbank AG (Abk. DABA) war eine sozialistische Bank für den Außenhandel, die verantwortlich war für a) die praktische Gestaltung und Durchführung des zwischenstaatlichen Kredit-, Zahlungs- und Verrechnungsverkehrs der DDR; b) die mark- und valutaseitige Finanzierung und umfassende Finanzkontrolle der Außenhandelsbetriebe, der Betriebe der Direktion für Seeverkehr und Hafenwirtschaft, von Deutrans und des Reisebüros der DDR; c) die Herstellung von Refinanzierungs- und Anlagenbeziehungen in Valuta zu anderen Geschäftsbanken. Die DABA wickelt alle im internationalen Bankverkehr üblichen Geschäftsoperationen ab. […] Sie erfüllt speziell staatliche Kontrollaufgaben auf dem Gebiet der Investitionen und der Haushaltsbeziehungen ihrer Geschäftspartner“.190 Die Deutsche Handelsbank AG mit dem Sitz in Berlin (-Ost) war 1956 gegründet worden. Sie führte „Bankgeschäfte im Zusammenhang mit den Einfuhr-, Ausfuhr- und Transithandel der DDR mit dem nichtsozialistischen Ausland (Finanzierung, Diskontierung von Wechseln, Übernahme von Garantien und Bürg-

189 Kalweit, Werner: Grundlagen des sozialistischen Finanzsystems in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Autorenkollektiv (Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 13. 190 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Auflage, Berlin (-Ost) 1978, S. 443 f.

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schaften usw.) durch. Sie verwirklicht ihre Aufgaben im Rahmen des Valutamonopols der DDR“.191 Der Politökonom Werner Kalweit (geb. 1926 in Madrid) habilitierte sich 1962 mit einer Forschungsarbeit zur Entwicklung des Finanzsystems und spezialisierte sich 1952 bis 1962 mit Arbeiten zur Begründung und Entwicklung der sozialistischen Finanztheorie. „Er wirkte mit bei der Konzipierung und Entwicklung des Finanzsystems der DDR“.192 Kalweit schildert das neue Finanzsystem nach sowjetischem Vorbild: „Auf der Grundlage des Volkseigentums an Produktionsmitteln begann mit der Aufstellung des Halbjahresplanes für 1948 und des Zweijahrplanes für 1949/50 die umfassende Wirtschaftsplanung. Als notwendige Folge daraus ergab sich eine weitere grundlegende Veränderung des Finanzsystems. In den volkseigenen Betrieben wurde mit der Finanzplanung begonnen. Die Rechtsgrundlagen dieser neuen Entwicklungsetappe des Finanzsystems waren der Beschluß der Deutschen Wirtschaftskommission vom 5. Mai 1948 über die Einführung eines besonderen Etatkapitels im Finanzhaushalt der SBZ für Einnahmen und Ausgaben der volkseigenen Betriebe und die Verordnung der Deutschen Wirtschaftskommission über die Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe. Das Neue bestand in folgendem: Erstens erfolgte eine Neubewertung und eine reale Erfassung des Volkseigentums. Das war notwendig, weil durch die kapitalistische Verschleierungstaktik und durch die Kriegsfolgen das Vermögen der Betriebe in den Bilanzen nicht richtig ausgewiesen wurde. Zweitens wurden die Beziehungen zwischen dem Haushalt und den volkseigenen Betrieben nach dem Nettoprinzip organisiert. Die volkseigenen Betriebe führten ihre Gewinne und ihre Amortisationen an den Haushalt ab. Sie erhielten die erforderlichen Finanzmittel zur Durchführung von geplanten Investitionen sowie ihre Umlaufmittel vom Haushalt. Diese Maßnahmen hatten für die Entwicklung der Volkswirtschaft große Bedeutung. Jetzt wurde die planmäßige Verteilung der Akkumulation auf die Schwerpunkte des wirtschaftlichen Aufbaus möglich. Die Neuordnung der Finanzwirtschaft in den volkseigenen Betrieben war weniger eine Frage der Administration als vielmehr der ideologischen Klärung. Vor allem mußte der Betriebsegoismus überwunden werden, indem das Bewußtsein des gesellschaftlichen Eigentums entwickelt wurde. Drittens wurde die Finanzwirtschaftsreform in den Betrieben klar zwischen der Finanzierung der Grundmittel und der Umlaufmittel getrennt. Die Grundfonds wurden den Betrieben als Eigenmittel zur Verfügung gestellt. Die Finanzierung der Umlaufmittel erfolgte kombiniert durch den Staatshaushalt und durch das Kreditsystem. Die Trennung zwischen Grund- und Umlaufmitteln entspricht der unterschiedlichen Bewegung der Grund- und Umlaufmittel. 191 Ebd., S. 445. 192 Graupner, Karl-Heinz: Kalweit, Werner, in: Krause, Werner et al. (Hrsg.): Ökonomielexikon, Berlin (-Ost)1989, S. 242 f.

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Viertens wurde die Finanzplanung in den volkseigenen Betrieben eingeführt. Sie erstreckte sich auf die Planung der Finanzierung der Grundmittel (Abschreibungen und Investitionen), auf die Planung der Bewegung der Umlaufmittel (Richtsatzplan), auf die Planung der Kosten und auf die Planung des Ergebnisses. Dadurch wurde die staatliche Kontrolle über die finanzwirtschaftliche Tätigkeit der Betriebe systematisiert, was zugleich eine beträchtliche Ausdehnung der wirtschaftlich-organisatorischen Funktion des Staates bedeutete. Die Einbeziehung der Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe in die staatliche Finanzwirtschaft war eine Maßnahme von grundsätzlicher Bedeutung in der Entwicklung des neuen Finanzsystems“.193 Mit der Anordnung der Deutschen Wirtschaftskommission vom 26. Januar 1949 wurde der „Kredit zu einem Instrument der staatlichen Banken gemacht, mit dem die Planungsprinzipien unterstützt und die Geldkontrolle verwirklicht werden konnten“.194 Kurzfristige Kredite durften nur für Zwecke der Gütererzeugung und des Warenumsatzes gewährt werden. „Grundlage für die Gewährung von Produktionsund Warenkrediten wurden die Finanzpläne der Betriebe. […] Die planmäßige Kreditfinanzierung der volkseigenen Betriebe mache es notwendig, die Quellen und die Verwendung der Kredite im gesamtwirtschaftlichen Maßstab zu planen. Deshalb begann die Deutsche Notenbank mit der Aufstellung eines Kreditplanes“.195 Mit dem Gesetz über die Regelung des Zahlungsverkehrs vom 28. April 1950 konnten die Bargeld- und die Buchgeldsphäre getrennt werden. „Da der einheitliche Staatshaushalt nicht nur alle öffentlichen Haushalte erfaßt, sondern weil auch die Finanzpläne der gesamten volkseigenen Wirtschaft einschließlich der Banken und Versicherungen in ihn einmünden, wurde der Staatshaushaltsplan zum umfassenden Hauptfinanzplan des Staates. […] Der Staatshaushalt erhielt die ihm auf Grund des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und der wirtschaftlichen Funktionen des volksdemokratischen Staates zukommende führende Stellung im Finanzsystem der DDR“.196 Die Grundlage der Finanzplanung war die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft.197

193 Kalweit, Werner: Grundlagen des sozialistischen Finanzsystems in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Bader, Heinrich et al.: Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 14 f. 194 Ebd., S. 25. 195 Ebd., S. 25. 196 Ebd., S. 30 f. 197 Ebd., S. 58.

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8.7. Der einheitliche Staatshaushalt als umfassender Hauptfinanzplan und sein Verhältnis zur politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft „Alle öffentlichen Haushalte, die Finanzpläne der gesamten volkseigenen Wirtschaft einschließlich der Banken und Versicherungen münden in dem einheitlichen Staatshaushalt, der damit zum umfassenden Hauptfinanzplan des Staates wurde“.198 Die Transformation zum einheitlichen Staatshaushalt nach sowjetischem Modell wurde als „Haushaltsreform“ deklariert. „Der Staatshaushalt dient der Verwirklichung der im Volkswirtschaftsplan gestellten Ziele und festgelegten Proportionen. Seine Einnahmen stammen überwiegend aus der volkseigenen Wirtschaft, sie werden zur Finanzierung des sozialistischen Reproduktionsprozesses 199 verwendet, mit dem der Staatshaushalt allseitig verbunden ist. […] Das im Staatshaushalt zentralisierte Geld wird planmäßig zur Finanzierung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses verwendet. Die Geldausgaben durch den Staatshaushalt sind in der Regel nicht mit einer Rückzahlungspflicht verbunden. Der Staatshaushalt finanziert daher im Unterschied zu den Institutionen des Kreditsystems nicht zeitweilig, sondern endgültig“.200 „Im Staatshaushaltsplan laufen die Pläne des Finanzsystems zusammen und werden dort koordiniert. Die volkseigenen Betriebe führen an den Staatshaushalt die Steuern, die Gewinne und überschüssigen Umlaufmittel ab. Der Staatshaushalt führt ihnen die für die Durchführung und Erweiterung der sozialistischen Produktion erforderlichen Mittel für Investitionen und Umlaufmittel zu, soweit dafür nicht die eigenen Gewinne heranzuziehen sind. […] Die Betriebe der volkseigenen Wirtschaft stellen Finanzpläne auf, die ihre sämtlichen Einnahmen und Ausgaben und ihre Beziehungen zum Staatshaushalt enthalten. […] Im Investitionsfinanzierungsplan wird die Finanzierung des wesentlichsten Teils der erweiterten Reproduktion geplant. Durch den staatlichen Investitionsfinanzierungsplan wird das für Investitionen vorgesehene Geld entsprechend den Zielen des Volkswirtschaftsplanes bereitgestellt. Der staatliche Investitionsplan umfaßt alle Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung der Anlagefonds sowohl im produktiven als auch im nichtproduktiven Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens. Der Staatshaushalt wird bei der Finanzierung der Investitionen als Kontrollinstrument genutzt. Seine Aufgabe darf niemals nur darin bestehen, die planmäßigen Mittel termingerecht zuzuführen, sondern die Finanzierung ist mit der Kontrolle des Objekts verbunden. […] Die Kreditpläne werden gemeinsam mit dem 198 Kalweit, Werner: Grundlagen des sozialistischen Finanzsystems in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Autorenkollektiv (Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 30. 199 Großmann, Werner: Der Staatshaushalt der Deutschen Demokratischen Republik, in: Ebd., S. 80: „In der marxistischen politischen Ökonomie werden zwei Formen des Reproduktionsprozesses unterschieden, die einfache Reproduktion, als Wiederholung des Produktionsprozesses auf gleicher Stufe, und die erweiterte Reproduktion, bei der sich der Produktionsprozeß erweitert hat und auf höherer Stufe erfolgt“. 200 Ebd., S. 65, 67.

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Staatshaushaltsplan erarbeitet. Dazu gehören der Plan der kurz- und langfristigen Kredite (Kreditplan), der Plan der Mobilisierung freier Mittel der Bevölkerung und der Bargeldumsatzplan. Der Plan der Mobilisierung freier Mittel der Bevölkerung ist durch den Kreditplan mit dem Staatshaushaltsplan verbunden. Durch die Steuerpolitik wird das Aufkommen freier Mittel – besonders das Sparen – wirksam gefördert. So brauchen die Bürger unserer Republik für ihre Sparguthaben keine Vermögensteuer und für die Zinsen keine Einkommensteuer zu zahlen. Einen Teil der Spareinlagen der Bevölkerung verwenden die Sparkassen zum Ankauf von Obligationen. Obligationen sind Wertpapiere, ausgegeben vom VEB Kommunale Wohnungsverwaltung. Die Spargelder, die in Obligationen angelegt werden, dienen der Finanzierung des volkseigenen Wohnungsbaus. Auf diese Weise wird der Staatshaushalt entlastet. Ständen nämlich nicht genügend Spargelder zur Verfügung, müßte der staatliche Wohnungsbau vollständig mit Haushaltsmitteln finanziert werden“.201 Im Außenhandelspreisausgleichsplan werden die sich im Außenhandel ergebenden Differenzen zwischen Inlands- und Weltmarktpreisen ausgeglichen.202 „Die große Bedeutung der Preisausgleiche für den Außenhandel bzw. für unsere Volkswirtschaft ergibt sich aus den Aufgaben, die diese Preisausgleiche zu erfüllen haben. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, unsere Volkswirtschaft vor den schädlichen Einflüssen des kapitalistischen Weltmarktes zu schützen. Durch die im Kapitalismus herrschenden ökonomischen Gesetze sind die Preise des kapitalistischen Weltmarktes ständigen Schwankungen unterworfen. Um unser inneres Preisgefüge, das entsprechend den politischen und ökonomischen Erfordernissen unserer Volkswirtschaft festgelegt wird, vor solchen schädlichen Schwankungen zu schützen, werden diese mit Hilfe der Preisausgleiche vom Außenhandel abgefangen“.203 Das Verhältnis zwischen der sozialistischen Zentralplanwirtschaft und dem Staatshaushaltsplan ist in § 2, Absatz 1 der Staatshaushaltsordnung der DDR festgelegt: „Für die Deutsche Demokratische Republik ist für jedes Kalenderjahr ein Staatshaushaltsplan auf der Grundlage des Volkswirtschaftsplanes aufzustellen. Volkswirtschaftsplan und Staatshaushaltsplan sind zwei Säulen der staatlichen Planung, die gleichzeitig gemeinsam aufgestellt und beschlossen werden. Beide Pläne ergänzen sich als Teile der volkswirtschaftlichen Gesamtplanung. Der Volkswirtschaftsplan bestimmt, ausgehend von den materiellen Bedingungen der Produktion, den Umfang der Produktion, den Umfang des Verbrauchs und damit die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Dazu gehören beispielsweise auch die Festlegung der Investitionen und des Produktionsverbrauchs, die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, die Verteilung der Arbeitskräfte, die Entwicklung des Lohnfonds, und es wird auch festgelegt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesundheitliche und kulturelle Betreuung der Bevölkerung zu verbessern. 201 Ebd., S. 82 f., 86, 88. 202 Ebd., S. 89. 203 Ebd., S. 89 f.

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Der Staatshaushaltsplan ist der Hauptfinanzplan unseres sozialistischen Staates. Koordiniert mit ihm bestehen die anderen Finanzpläne des Finanzsystems und mit ihm abgestimmt die Finanzbilanzen der Staatlichen Plankommission. Bei der Aufstellung des Staatshaushaltsplanes wird geprüft, wieviel Geld aus den einzelnen Finanzierungsquellen fließen wird. Die Verteilung dieser Staatseinnahmen erfolgt dann entsprechend den im Volkswirtschaftsplan festgelegten Zielsetzungen. Dabei prüft der Staatshaushalt die Realität der im Volkswirtschaftsplan gesteckten Ziele. Es wird sichtbar, ob die Finanzierung der im Volkswirtschaftsplan festgelegten Aufgaben gesichert ist, ob die Staatseinnahmen ausreichen werden, alle im Volkswirtschaftsplan genannten Aufgaben zu finanzieren. […] Zwangsläufig ergibt sich im Staatshaushalt ein Spiegelbild über den Stand der Erfüllung der wichtigsten Planpositionen des Volkswirtschaftsplanes“.204 Die Abstimmung zwischen der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft und dem Staatshaushalt „ist schwierig und kompliziert. Sie ist in den Grundfragen gelöst, bedarf aber noch einer Verfeinerung und Vervollkommnung entsprechend der Vervollkommnung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse und den Bedürfnissen der Praxis.

204 Ebd., S. 92 f.

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Zusammenhang zwischen wichtigen volkswirtschaftlichen Bilanzen und dem Staatshaushalt a)

a)

Großmann, Werner: Der Staatshaushalt der Deutschen Demokratischen Republik. Grundlagen des Staatshaushalts, in: Autorenkollektiv (Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 97.

In dem Schema werden einige Zusammenhänge dargestellt, die das Ministerium der Finanzen bei der Abstimmung der zentralen Finanzpläne beachten muss. Es wird ersichtlich, wie zum Beispiel das in der Bilanz des Nationaleinkommens ausgewiesene Reineinkommen des Staates mit Positionen wie Produktionsabgabe und Gewinnabführung im Staatshaushaltsplan korrespondiert oder wie die in der Bilanz der Geldeinnahmen und Geldausgaben der Bevölkerung ausgewiesene Lohnsteuer in der Position „Lohnsteuer“ des Staatshaushaltsplanes wiederkehrt.

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Bei der Planung des Staatshaushalts sind auf allen Ebenen umfassende Abstimmungen und Kontrollrechnungen mit dem Entwurf des Volkswirtschaftsplanes unumgänglich notwendig. Die Planabstimmung umfaßt insbesondere folgende wesentliche volkswirtschaftliche Proportionen: a) die Proportion zwischen Akkumulation und Konsumtion; b) die Proportion zwischen dem Kauffonds der Bevölkerung und dem Warenfonds für die Bevölkerung; c) die Proportionen der Verteilung des Nationaleinkommens nach Klassen und Schichten“.205 Ziel der Abstimmung zwischen der sozialistischen Zentralplanwirtschaft und dem Staatshaushalt war die Einheit von naturaler und monetärer Zentralplanung. Volkswirtschaftsplan und Staatshaushalt mussten deshalb gleichzeitig und gemeinsam ausgearbeitet werden. „Die Methode der Abstimmung bei dieser gleichzeitigen und gemeinsamen Planung ist die Bilanzierung. Dazu werden folgende Bilanzen und Finanzpläne getrennt ausgearbeitet und nach Aufstellung verglichen, analysiert und abgestimmt. Von der Staatlichen Plankommission werden ausgearbeitet: 1. Die Bilanzen des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und des Nationaleinkommens, 2. die Bilanz der Einnahmen und Ausgaben des Staates, 3. die Bilanz der Einnahmen und Ausgaben der Bevölkerung. Vom Ministerium der Finanzen werden ausgearbeitet: 1. Die Bilanz der Verteilung des Nationaleinkommens, 2. die Bilanz der Einnahmen und Ausgaben der Bevölkerung, 3. der Staatshaushaltsplan und der Kreditplan“.206 Ein wesentliches Hilfsmittel bei der Aufstellung der naturalen und monetären Bilanzen sind die Kennziffern, die „im Prozeß der Bilanzierung und der Planaufstellung neben den andere Methoden der Planung (wie Analyse des Vorjahres-Ist, Normen usw.) als Instrumente zur Erreichung der Übereinstimmung von naturaler und monetärer Planung.“207 Der Kölner Finanzwissenschaftler Günter Schmölders kommentierte die Entwicklung in der SBZ/DDR so: „Das anschaulichste Gegenbeispiel zu dem föderalistisch orientierten Aufbau der Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ist die stärkstens zentralis205 Ebd., S. 93 f. 206 Ebd., S. 96. 207 Ebd., S. 100: Allen naturalen und monetären Kennziffern ist gemein, daß sie bestimmte Seiten des Reproduktionsprozesses zum Ausdruck bringen. Das Kennziffernsystem, das zur Bilanzierung benutzt wird, muß so beschaffen sein, daß es alle wesentlichen Seiten des Reproduktionsprozesses der Volkswirtschaft zum Ausdruck bringt.

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tisch aufgebaute Finanzgewalt in der sowjetischen Zone Deutschlands, in der die ehemaligen Länder und Provinzen nur noch als Verwaltungsbezirke ohne Eigenstaatlichkeit fungieren.208 Mit der Finanzreform von 1950/51 wurden in der Deutschen Demokratischen Republik die bisher selbständigen Haushalte der öffentlichen Körperschaften zu einem einheitlichen Staatshaushalt zusammengefaßt, der nicht nur die Einnahmen und Ausgaben der Republik sowie ihrer Länder und Kreise umfaßt, sondern auch den Zuschußbedarf bzw. Überschuß der Gemeinden, der Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts und der Sozialversicherung sowie Gewinne oder Verluste und Investitionen der volkseigenen Industrie. Damit liegt hier, obwohl die Gemeinden noch das Recht zur Erhebung eigener Steuern haben, mit der Aufstellung eines gemeinsamen Haushalts als Teil des allgemeinen Volkswirtschaftsplanes die Finanzgewalt praktisch ausschließlich in den Händen der Zentralgewalt“.209 9. Westliches Handelsembargo im Gefolge der Berlin-Blockade behindert Wiederaufbau in Sachsen nach 1945 stärker als sowjetische Demontagen und Reparationen Von Gerd R. Hackenberg Die Währungsreform in den Westzonen am 20. Juni 1948 und die Geltung der DM (West) ab dem 25. Juni 1948 in Westberlin lösten die Berlinblockade aus. 210 Vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 waren alle Land- und Wasserwege zwischen den Westsektoren der Viermächtestadt Berlin und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands gesperrt. „Am 28. Juni 1948 entschied US-Präsident Harry S. Truman definitiv, die US-Truppen nicht aus Berlin zurück zu ziehen. Durch eine Luftbrücke sollte die Versorgung der Bevölkerung gesichert und Zeit für eine friedliche Konfliktlösung durch Verhandlungen gewonnen werden“.211 Als Reaktion auf die Berlin-Blockade veranlasste der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay eine Gegenblockade. „Als die Sowjets unseren Verkehr mit Berlin blockierten, veranlasste ich sofort eine Gegenblockade des Transports westdeutscher Waren, die nach Ostdeutschland gehen sollten. Dabei unterstützte mich mein britischer Kollege. Wir sperrten allen Frachtverkehr auf dem Schienen- und Wasserweg zwischen Westeuropa und der sowjetischen Zone. Ei208 Hendrix, Willi: Die Finanzwirtschaft der Ostzone, Köln 1954. 209 Schmölders, Günter: Finanzpolitik, 1955, S. 39. 210 Laufer, Jochen: Die UdSSR und die deutsche Währungsfrage 1944-1948, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2, 1995, S. 187-199. Laufer wertete umfangreiche Quellen der UdSSR aus. Zusammenfassend: Wettig, Gerhard (Hg.): Der Tjulpanow-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2012, S. 103. 211 Breunig, Werner: Berlin-Blockade, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Deutschland unter alliierter Besatzung, 1945-1949/55, Berlin 1999, S. 330 f. Auftrag Luftbrücke. Der Himmel über Berlin 1048-1949, Hrsg. vom Deutschen Technikmuseum Berlin und der Landesbildstelle Berlin, Berlin 1998. Prell, Uwe / Wicker, Lothar (Hg.): Berlin-Blockade und Luftbrücke 1948/49. Analyse und Dokumentation, Berlin 1987.

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nige westeuropäische Regierungen protestierten; ihnen war offenbar an der Fortführung des Handels mehr gelegen, als daran, Verhältnisse zu schaffen, unter denen die Blockade Berlins aufbrechen würde. Doch bezweifle ich, daß man sich von diesen Protesten in der amerikanischen Zone einen Erfolg versprach; sie wurden jedenfalls nicht besonders nachdrücklich erhoben. Freilich bewirkten sie, daß mein britischer Kollege es unterließ, die Gegenblockade auch auf die Fernlaster aus Westeuropa auszudehnen, die über die Landstraßen der britischen Zone fuhren. Unsere Gegenblockade mußte, so viel stand fest, für Ostdeutschland peinlichere Folgen haben als für den Westen. In Ostdeutschland fehlte es an Kokereikohle und Stahl (Hervorhebung Jürgen Schneider). Aus dem Gebiet hinter dem Eisernen Vorhang war nichts dergleichen erhältlich, weil die verfügbaren Mengen dort ohnehin nicht ausreichten. Westdeutschland, das dem Marshall-Plan eingegliedert war, stand der Zugang zu der weit größeren Industrieproduktion der westlichen Welt offen. Eine wiederbelebte Wirtschaft im Westen würde schließlich, darauf rechnete ich, die Aufhebung der Blockade herbeiführen. Im Frühjahr 1949 waren wir sicher, daß der Druck sich bemerkbar machte. Zwar konnten wir nicht mit genauen statistischen Unterlagen aufwarten, aber wir wußten, daß die ostdeutsche Wirtschaft beinahe stillstand, während sich in Westdeutschland die Produktion schneller als irgendwo anders in Europa steigerte. Die beharrlichen Versuche, in Westdeutschland Waren einzukaufen und sie nach Ostdeutschland zu schmuggeln, sprachen allein schon für die Bedrängnis. Wir konnten mit gutem Grund annehmen, daß das Wirtschaftsleben der Ostzone, wenn es schon nicht schwächer wurde, so doch mindestens aufgehört hatte, Fortschritte zu machen. Im Frühjahr 1949 liefen viele Gerüchte um, die wissen wollten, daß die dortige Wirtschaftslage bald zur Aufhebung der Blockade führen würde. Am 4. Mai 1949 wurde bekanntgegeben, daß die vier Besatzungsmächte übereingekommen seien, die Blockade aufzuheben. Die Handelsbeziehungen sollten am 12. Mai wieder in dem Umfang und der Weise hergestellt werden, wie sie vor der Blockade bestanden hatten. Die Außenminister wollten sich am 23. Mai in Paris treffen. Sofort kabelte ich dem Kriegsministerium, wir sollten die Luftbrücke aufrechterhalten, bis Berlin ausreichend mit Kohle und Lebensmitteln versorgt sei. […] Die Aufhebung der Blockade wurde überall als ein Sieg für die Kräfte der Freiheit aufgefaßt. Bestimmt hatte der Einsatz der Luftbrücke zur Versorgung der Stadt bewiesen, wie ernst es den Westmächten mit ihrer Entschlossenheit war und sie hatte allen, die an die Freiheit glauben – wo immer sie sich befanden – neuen Mut gegeben“.212 „Die innerdeutschen Wirtschaftsverflechtungen“ der Bi-Zone (Britische und US-Zone) mit der Sowjetisch besetzten Zone. Die SBZ hatte 1937 einen interzonalen Zusatzbedarf an Steinkohle von 77 v. H. „Die Steinkohlenkoksgewinnung, ist noch stärker in der britischen Zone (Ruhrgebiet) konzentriert als die Steinkohlenförderung. Daher konnten nur aus dieser Zone wesentliche Mengen nach außen abgegeben werden, nämlich 23 v. H. der Erzeugung an das Ausland und 18 v. H. 212 Clay, Lucius D.: Entscheidung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1950, S. 429-432.

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an die Zonen. Oberschlesien stellte den übrigen Zonen rund 2 Mill. t Koks zur Verfügung und erreichte allerdings damit, da der eigene Bedarf an Koks sehr gering ist, die außergewöhnlich hohe interzonale Überschußquote von 67 v. H. Demgegenüber betrugen die entsprechenden Zuschußquoten bei der sowjetischen Besatzungszone sowie der US-Zone jeweils rund 90 v.H. des Koksverbrauchs“.213

213 Grüning, Ferdinand: Die innerdeutsche Wirtschaftsverflechtung, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hg.): Wirtschaftsprobleme des Besatzungszonen, Berlin 1948, S. 68. Der Enquete-Ausschuss hatte schon ab 1926 die sächliche und räumliche Verflechtung der deutschen Industrie analysiert: „Die innere Verflechtung der deutschen Wirtschaft – Verhandlungen und Berichte des Ausschusses für allgemeine Wirtschaftsstruktur, I. Unterausschuss, 2. Arbeitsgruppe, 2. Bd., Berlin 1930.

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Eisen: Die interzonale Bewegung wurde dabei den Ergebnissen der Verkehrsstatistik entnommen. Die Abhängigkeit der sowjetischen sowie der US-Zone von den übrigen Zonen ist erheblich. Sie beträgt 52 v. H. bzw. 64 v. H. des Gesamtbedarfs. „Der Vergleich zeigt, daß in der sowjetischen Zone nur reichlich halb soviel Eisen verbraucht wurde als dem wertmäßigen Anteil der Eisenverarbeitung in dieser Zone entsprechen würde. […] Die Gründe für die aufgezeigte Diskrepanz dürften bei der sowjetischen Besatzungszone an der besonderen Industriestruktur (hochwertigere Erzeugnisse je t Eisenverbrauch) sowie an sparsamerer Verwendung von Eisenkonstruktionen gelegen haben, ferner am Bezug von Eisen in Form von Halb- und Fertigfabrikaten, die in der Verkehrsstatistik zu der Position der Eisenwaren zählen und daher in unserer Übersicht nicht erscheinen“.214 Grüning analysiert weitere Roh- und Grundstoffe, Verbrauchsgüter, Investitionsgüter und Ernährung. Grüning schlußfolgert: „Das mitgeteilte Material zeigt, daß in fast allen Fällen, in denen eine genauere statistische Erfassung überhaupt möglich war, der Grad der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Zonen außerordentlich hoch ist. Dies gilt insbesondere von Kohle und Eisen, aber auch von Spezialmaschinen und vielen anderen Erzeugnissen der verarbeitenden In214 Grüning, Ferdinand, S. 74.

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dustrien. […] Bei der geschilderten Struktur der deutschen Vorkriegswirtschaft mußte die Aufteilung Deutschlands in eine Anzahl wirtschaftlich selbständige Zonen bei gleichzeitiger vorläufiger Abtrennung wesentlicher Gebiete vom deutschen Wirtschaftskörper zu unübersehbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen“.215 „Sowjetische Besatzungszone: Wie aus dem mitgeteilten statistischen Material hervorgeht, war die Zone vor dem Kriege in der Lage, sich selbst zu ernähren und dabei noch gewisse Überschüsse zu erzielen. Dies galt vor dem Kriege für eine Bevölkerung von 15,2 Mill. Heute ist die Bevölkerung um rund 15 v. H. größer, auch obliegt der Zone die Versorgung des sowjetischen Sektors von Berlin mit einer Bevölkerung von rund 1,2 Mill. Trotzdem dürfte es bei wieder normalen Ernten – gewisse Änderungen in der Ernährungsweise vorausgesetzt – gelingen, mit verhältnismäßig geringen Nahrungsmittelzuschüssen aus dem Ausland (Ölsaaten, Fette, Futtermittel) auszukommen. Schwieriger wird sich die Versorgung der Zone mit Roh- und Grundstoffen, insbesondere mit Kohle und Eisen gestalten. Für Kohle ergibt sich nach den im statistischen Teil gebrachten Berechnungen ein Fehlbetrag von etwa einem Drittel des Gesamtbedarfs, jedoch wurde hierbei das ‚Sortenproblem‘ noch nicht in Rechnung gestellt, d. h. die geförderte Braunkohle wurde zwar ihrem Heizwert nach auf Steinkohleeinheit umgerechnet, nicht aber wurde berücksichtigt, daß von vornherein für Steinkohlenbetrieb gebaute Lokomotiven, Kraftwerke usw. sich nicht ohne weiteres, jedenfalls nicht ohne erhebliche Energieverluste mit Braunkohle betreiben lassen. Friedensburg beziffert diese Verluste auf nicht weniger als 20 v. H. des in Betracht kommenden Gesamtverbrauchs, so daß die sowjetische Besatzungszone einschließlich Berlins bei Ausfall der Steinkohlenzufuhr praktisch über wenig mehr als die Hälfte der früheren Energieträger verfügen würde. Bei Eisen liegen die Dinge noch ungünstiger. Ohne Zufuhr von außen würden hier 52 v. H. des Bedarfs ungedeckt bleiben bei an sich gegenüber dem Verbrauch anderer Zonen von vornherein stark eingeschränkten Ansprüchen. Auch hier tritt das ‚Sortenproblem‘ erschwerend hinzu. Da Kohle und Eisen die nicht zu entbehrenden Grundlagen für große Teile der Industrie bilden, wird eine Steigerung der industriellen Leistung über den heute erreichten Stand hinaus im wesentlichen davon abhängen, ob es der Zone gelingt, sich durch Handelsverträge, sei es mit der britischen Zone, sei es mit dem Ausland (Oberschlesien) die erforderliche Zufuhr an Kohle und Eisen zu sichern. Noch eine Anzahl weiterer Roh- und Grundstoffe waren in der sowjetischen Besatzungszone vor dem Kriege nur unzureichend vorhanden, beispielsweise Zement und andere Baumaterialien, Papierholz, Textilrohstoffe, Häute usw. Es handelt sich jedoch bei diesen Waren zum Teil um Rohstoffe, die traditionell vom Ausland bezogen wurden und daher auch weiter von dort importiert werden müssen, oder auch um Materialien, wie z. B. Zement, die bei ausreichender Kohlenversorgung künftig auch innerhalb der Zone in genügender Menge erzeugt werden

215 Ebd. S. 86, 89.

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konnten, vorausgesetzt, daß es gelingt, die Produktionskapazitäten entsprechend zu erweitern. Die sowjetische Besatzungszone und das mit ihr wirtschaftlich besonders eng verbundene Berlin waren vor dem Kriege in den meisten Bereichen der Investitionsgütererzeugung, so im Maschinenbau, der Feinmechanik, Optik, Elektroindustrie, führend und konnten namhafte Überschüsse für den Export und für Lieferungen an die übrigen Zonen zur Verfügung stellen. Leider hat sich diese günstige Lage infolge der großen Kriegs- und Nachkriegsschäden (Demontagen!) grundsätzlich geändert. Die Zone ist, soweit sich dies aus der spärlichen Berichterstattung erkennen läßt, derzeit kapazitätsmäßig auf das äußerste beansprucht. Zur Wiederherstellung der industriellen Vorkriegsleistung werden neben Roh- und Grundstoffen auch Investitionsgüter in erheblichem Umfang von außen bezogen werden müssen. Von ausschlaggebender Bedeutung für die wirtschaftliche Zukunft der Zone ist die Regelung der Reparationsfrage, d. h. der unentgeltlichen Abgabe von großen Teilen der laufenden Produktion für die Zwecke der Wiedergutmachung. Von einer die Bedürfnisse der Zone in höherem Maße als bisher berücksichtigenden Regelung wird es abhängen, ob die Zone die von ihr benötigte Einfuhr tätigen kann oder nicht. Dies gilt insbesondere von der Einfuhr aus dem Ausland. Für künftige interzonale Bezüge dürfte es von Bedeutung sein, daß durch die einseitige Belastung der sowjetischen Besatzungszone mit Reparationen Ausgleichsforderungen an die übrigen Zonen entstehen, die – im Zuge eines das ganze deutsche Gebiet umfassenden Lastenausgleichs – später unter Umständen dem interzonalen Handelsverkehr nutzbar gemacht werden können“.216 Die Ausführungen von Grüning zeigen deutlich auf, welche Schwierigkeiten auf die SBZ und insbesondere auf Sachsen beim wirtschaftlichen Aufbau bei der vom amerikanischen Militärgouverneur verordneten Gegenblockade (Handelsembargo) zukamen. Die Auswirkungen des Handelsembargos auf den Wiederaufbau der Wirtschaft Sachsens konnten nach Öffnung der Archive empirisch überprüft werden. Für meine Dissertation, auf Basis von Primärquellen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden (im Folgenden: STAD) und des Stadtarchivs Plauen (im Folgenden: SAP), hatte ich Anfang der 90er-Jahre umfangreiche Archivalien gesichtet, ausgewertet und aufbereitet.217 Die Ergebnisse dieser Arbeit sind hier nachfolgend zusammengefasst.218 Quellenmaterial: Die verwendeten Akten und Datensammlungen waren fast ausschließlich als interne Arbeitsunterlagen für das sächsische Wirtschaftsministerium und den Ministerpräsidenten bzw. für die Stadtverwaltung von Plauen erstellt worden. Die Zahlen und Daten sollten folglich ein möglichst realistisches 216 Ebd. S. 91 f. 217 Hackenberg, Gerd R: Wirtschaftlicher Wiederaufbau in Sachsen 1945-1949/50, Köln / Weimar / Wien, 2000. 218 So weit nicht anders angegeben wird hierzu direkt aus der Arbeit (Hackenberg, Wiederaufbau) zitiert.

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Bild der sächsischen Wirtschaft wiedergeben, um die Grundlage für Planungen und wichtige Entscheidungen zu bilden.219 Zudem wurde die Mehrzahl dieser Quellen, die in den 40er Jahren als "streng vertraulich" bzw. als "geheim" eingestuft worden waren, bis 1989/90 unter Verschluss gehalten, was die Authentizität des Materials zusätzlich unterstreicht.220 Für die Untersuchung wurden die aufgefundenen Tabellen, Statistiken und Analysen daher weitgehend unverändert übernommen. Lediglich bei Unstimmigkeiten zwischen einzelnen Angaben oder bei Datenlücken wurden einzelne Werte aus anderen Originaltabellen ergänzt oder zurückgerechnet.221 Dies war jedoch nur sehr selten notwendig. Während in den 219 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (im Folgenden: STAD): Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, 1243, Protokoll über die Dienstbesprechung der Abteilung Reparationen der Landesregierung Sachsen mit Fachreferenten der Hauptabteilung Industrie und der Hauptabteilung Materialversorgung, Dresden, 28.11.1949. 220 Nach den Archivalien-Benutzerlisten war der Autor oftmals der erste, der (außer dem Archivpersonal) die Unterlagen seit ihrer Einlagerung zu sehen bekam; dies betraf sowohl die Akten des Stadtarchivs Plauen als auch des Sächsischen Hauptstaatsarchivs. K. C. Thalheim, Die wirtschaftliche Entwicklung in den beiden Staaten in Deutschland: Tatsachen und Zahlen, Berlin 1978, S. 3 f. W. Matschke: Die industrielle Entwicklung in der SBZ, S. 34/35. 221 STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, 527, Konjunkturbericht der IHK Sachsen für das III. Quartal 1948, Dresden, 05.11.1948. Ebd., 524, Konjunkturbericht der IHK Sachsen für das IV. Quartal 1948, Dresden, 05.02.1949. Ebd., Ministerpräsident, 2082, Landesregierung Sachsen, Hauptabteilung Wirtschaftsplanung, Jahresbericht zur Wirtschaftslage 1948, Dresden, Januar 1949. Ebd., 1123, Bericht der Reparationsabteilung des Landes Sachsen für das I. Quartal 1950, Dresden (06.04.1950). SAP, 9, Schreiben der Landesregierung Sachsen, Ministerium für Finanzen an Landräte und Oberbürgermeister, Dresden, 03.07.1948. Ebd., Sonderanordnung K Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3 der Landesregierung Sachsen, der Ministerpräsident, Dresden, 18.06.1948. Ebd., Sonderanordnung U Nr. 1, Dresden, 18.06.1948. Ebd., Anordnung zur Vorbereitung und Durchführung der Geldreform, Landesregierung Sachsen, Ministerpräsident (Seydewitz), Dresden, 21.06.1948. Ebd., Rat der Stadt Plauen Nachrichtenamt, Aufzeichnung der Nachrichtenmeldung des Leipziger Rundfunks vom 26.06.1948. Ebd., Wichtige Erklärung der Sowjetischen Militärverwaltung Deutschlands, Aufzeichnung einer Rundfunkmeldung vom 24.06.1948. Ebd., Deutsche Wirtschaftskommission, Verordnung über die Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone, Dresden, 23.06.1948. Ebd., Schreiben der Landesregierung Sachsen, Ministerium für Finanzen, Dresden, 10.07.1948. Ebd., Durchsage 21 der Landeskreditbank. Ebd., Nachrichtenamt Plauen, Durchsage des Senders Leipzig, 28.06.1948. Ebd., Durchsage Nr. 22 der Landesregierung Sachsen, Dresden, 25.06.1948. Ebd., Durchsage Nr. 35 der Landesregierung Sachsen, Dresden, 26.06.1948. Ebd., Durchsage Nr. 45 der Landeskreditbank, Dresden, 28.06.1948. Ebd., Durchsage Nr. 72 der Landeskreditbank, Dresden, 02.07.1948. Ebd., Durchsage Nr. 78 der Landeskreditbank, Dresden, 02.07.1948. Ebd., Durchsage Nr. 90 der Landeskreditbank, Dresden, 05.07.1948. Ebd., Durchsage Nr. 94 der Landeskreditbank, Dresden, 08.07.1948. P. Frenzel: Die rote Mark: Perestroika für die DDR, hrsg. v. F. Schenk, 1989. Wolff, M. W.: Die Währungsreform in Berlin 1948/49, Berlin/New York 1990/91. Aber auch in den Analysen und Statistiken der sächsischen Landesregierung wird die Geldumstellung nicht als Problem bei der wertmäßigen Feststellung des Produktionsumfangs oder der Höhe der Reparationsaufträge erwähnt (STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerpräsident, 1109, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung, Abteilung I, Dezernat für Lieferungen an sowjetische Bedarfsträger, Bericht über die Tätigkeit des Dezernats vom 01.01.1948-30.06.1948, Dresden, 28.07.1948. Ebd., 2081, Übersicht der Industrieproduktion

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Westzonen 1948 eine Währungsreform stattfand, gab es in der SBZ nur einen Geldumtausch. Die Umwertung des Betriebsvermögens in der SBZ von Reichsmark zur DM-Ost erfolgte auf der Basis Stoppreise von Ende 1944 im Verhältnis 1:1, d. h. auch in den Bilanzen der Betriebe gab es Kontinuität zu den NS-Preisen. Die Unterschiede von Währungsreform in den Westzonen und der Geldumtausch in der SBZ ist von Heinz Sauermann klar herausgearbeitet worden. „Unter Währungsreform wird eine solche Neuordnung des Geldwesens eines Landes verstanden, die einer vorangegangenen Geldzerrüttung ein Ende setzt und die Voraussetzungen für eine funktionsfähige Geldwirtschaft wiederherstellt. Daraus folgt, daß es sich bei einer Währungsreform nicht nur um ein technisches Experiment handelt. Zwar ist mit jeder Geldreform ein Geldumtausch oder die Einführung eines neuen Geldes an die Stelle des alten Geldes verbunden, aber sie beschränkt sich nicht auf diesen technischen Vorgang. Als isolierte technische Maßnahme des Geldumtausches würde eine Reform wenig Wert haben. Sie ist nur dann sinnvoll, wenn eine grundsätzliche Änderung der bisherigen Wirtschaftspolitik mit ihr verbunden ist“.222 Die enge zeitliche Staffelung des statistischen Materials, insbesondere zwischen Januar 1946 und Dezember 1948 sowie dessen Dichte ermöglichten eine äußerst plastische Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung in Sachsen. Die umfangreichen Tabellen wurden weitgehend als Graphiken wiedergegeben, während die zu Grunde liegenden, exakten Werte jeweils im Anhang aufgeführt und erläutert wurden. Darüber hinaus wurden die ganz Sachsen betreffenden Generaldaten und -analysen durch detaillierte Vor-Ort-Informationen über Betriebe, Arbeitsmarkt und Konjunkturentwicklung aus der Region Plauen ergänzt, um so ein möglichst umfassendes Bild der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zwischen 1945 und 1949/50 zu zeichnen. Plauen empfahl sich hierfür aufgrund seiner typischen Industriestruktur, mit den Schwerpunktbereichen Textil, Elektrotechnik, Maschinen- und Fahrzeugbau, die für die sächsische Industrie insgesamt kennzeichnend waren. Durch die Nähe Plauens zur bayerischen und tschechischen Grenze wurden hier außerdem die Handelsverbindungen Sachsens zu den innerdeutschen und europäischen Märkten exemplarisch sichtbar, wie auch deren Veränderung im Laufe der Nachkriegsjahre. nach Industriegruppen, Dresden, 1949. Ebd., 2082, Landesregierung Sachsen, Hauptabteilung Wirtschaftsplanung, Jahresbericht zur Wirtschaftslage 1948, Dresden, Januar 1949. Ebd., 2924, Produktionsmeldungen für Juni 1948, Dresden, Juli 1948. Ebd., 2060, Landesregierung Sachsen, Hauptabteilung Wirtschaftsplanung, Abrechnung des Produktionsplanes für den Zeitraum II. Halbjahr 1948, Dresden, 22.01.1949. Ebd., Ministerium für Wirtschaft, 1241, Berichte über Leistungen an sowjetische Bedarfsträger sowie über die Arbeit der Abteilung Reparationen 1948-1949, Dresden, 11.04.1947-28.08.1949). Die neue Währung brachte zwar in vielen Bereichen eine weitere Verknappung des verfügbaren Kapitals mit sich und nahm damit auch Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschaft, für die rein wertmäßige Einstufung der Produktionsmenge bzw. der Reparationsaufträge hatte dies jedoch keine Bedeutung (STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, 527, Konjunkturbericht der IHK Sachsen für das III. Quartal 1948, Dresden, 05.11.1948). 222 Sauermann, Heinz: Währungsreformen, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 453.

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Untersuchungsziel: Ziel der Arbeit war es, die Entwicklung der Wirtschaft, Industrie und Lebensverhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) anhand des Beispiels von Sachsen darzustellen und die Schwierigkeiten, mit denen man während dieser Phase in Ostdeutschland zu kämpfen hatte, herauszuarbeiten. Hierzu lautete die zentrale Frage an das Quellenmaterial: Wie verlief der Wiederaufbau zwischen 1945 und 1949 in Sachsen und durch welche Faktoren wurde er besonders stark beeinflusst? Da Sachsen bereits vor dem Krieg einen hohen Industrialisierungsgrad aufwies und innerhalb der SBZ sogar die höchste Industriedichte hatte, konzentrierte sich die Untersuchung vornehmlich auf diesen Bereich. Nicht zuletzt bezogen sich auch die sowjetischen Reparationsforderungen größtenteils auf die Industrie. Einen weiteren, grundlegenden Indikator für den Fortgang des Wiederaufbaus stellten die Lebensumstände der Menschen in jenen Jahren dar. Daher war die Versorgungslage der sächsischen Bevölkerung zwischen 1945 und 1949/50 ebenfalls Gegenstand der Arbeit. Inhaltliches Vorgehen: Zur Bearbeitung der Fragestellung waren zunächst die Rahmenbedingungen der sächsischen Nachkriegswirtschaft zu klären. Darunter zählten insbesondere die Ausgangssituation bei Kriegsende, die Entwicklung der Industrieproduktion und der Versorgungslage zwischen 1945 und 1948/49 sowie die speziellen Hemmnisse und Problempunkte, die den Wiederaufbau in Sachsen behinderten. Die Arbeit gliedert sich hierzu in drei Hauptabschnitte. Um die Ausgangssituation für die sächsische Wirtschaft und Industrie bei Kriegsende zu bestimmen, wurden in einem ersten Schritt deren Lage in der unmittelbaren Vorkriegszeit sowie die nationalen und internationalen Handelsverbindungen Sachsens vor 1945 untersucht. Hauptgrundlage hierfür bildete ein detaillierter Bericht der sächsischen Landesregierung zu diesem Thema aus dem Jahre 1946. 223 Dieser Rückblick war wichtig, da sich der Wiederaufbau in Deutschland und in Sachsen während der Nachkriegsjahre primär am Standard der Vorkriegszeit orientierte, sowohl bei den Produktionszahlen der Industrie, als auch im privaten Bereich. Bei letzterem ist dies, angesichts der immensen Verluste an Wohnraum und persönlichem Besitz durch Luftangriffe, Flucht und Vertreibung, unmittelbar einsichtig. Für die Industrie stellten die Jahre 1936-39 einerseits die letzte Phase weitgehend ziviler Produktion vor 1945 dar. Zum anderen war in den Jahren 1936 bis 1939 eine umfassende Industrie- und Produktionsstatistik für Deutschland erstellt worden, anhand derer der Stand des Wiederaufbaus nach 1945 jeweils direkt verglichen werden konnte.224 223 STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, 117/1-117/4, Gesamtdarstellung der sächsischen Industrie, Dresden, ohne Datum (1947). Dabei wurde offenbar weitgehend Material aus der Produktionsstatistik von 1936/39 verwendet (Tabelle 1-6. Gleitze: Ostdeutsche Wirtschaft). 224 Gleitze: Ostdeutsche Wirtschaft. Zudem lag dieser Zeitabschnitt vor dem Beginn der intensiven deutschen Rüstungsanstrengungen der 40er Jahre und konnte damit insbesondere gegenüber den Siegermächten besser als ziviles Leistungsziel herangezogen werden als etwa das Produktionsniveau der Jahre 1943 oder 1944, als die Rüstungsindustrie in Deutschland ihren Höchststand erreichte (Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S.20/21).

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Im zweiten Teil wurde die Entwicklung der Industrie, des Handels und der Versorgungslage der Bevölkerung in Sachsen während der Zeit der sowjetischen Besatzungszone eingehend untersucht, beginnend mit einem Vergleich der Situation von 1945/46 gegenüber der Vorkriegszeit. Darauf folgte eine eingehende Analyse der Produktions- und Handelsentwicklung sämtlicher sächsischer Industriezweige zwischen 1945/46 und 1948/49. In dieses Kapitel floss eine große Zahl statistischer Unterlagen der sächsischen Landesregierung ein, die die Basis für die Beurteilung der Wirtschaftsentwicklung bildeten. Anschließend wurde die Versorgung der sächsischen Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum während dieser Jahre untersucht und der Entwicklung der jeweiligen Produktionszahlen gegenübergestellt. Auch hierzu wurden umfangreiche Statistiken der Landesregierung herangezogen. Das dritte Kapitel befasste sich mit den Problemen und Hemmnissen, die einem zügigen Wiederaufbau in Sachsen im Wege standen. Hierbei konzentrierte sich die Untersuchung auf die Bereiche Kriegszerstörungen, Reparationen und sonstigen Leistungen an die Besatzungsmacht, Mangel an Arbeitskräften, Mangel an Rohstoffen und an Halbfertigwaren sowie Transportengpässe, die den Quellen zufolge die Haupthindernisse darstellten.225 Nach der Erörterung der Einzelfaktoren wurde deren jeweiliger Einfluss auf die Produktions- und Handelsentwicklung sowie auf den sächsischen Wiederaufbau insgesamt untersucht. Arbeitsgrundlage bildeten auch hierfür die Statistiken und anderes Quellenmaterial der Landesregierung Sachsens, die durch Unterlagen aus Plauen ergänzt wurden. In der abschließenden Zusammenfassung wurden die Ausgangsbedingungen und der Verlauf des Wiederaufbaus in Sachsen sowie die Situation der sächsischen Bevölkerung in den Nachkriegsjahren nochmals kurz skizziert. Nach einem Resümee über die Schwierigkeiten beim Wiederaufbau in Sachsen folgte schließlich eine Gegenüberstellung und Einordnung der einzelnen Problempunkte nach ihrer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nach 1945. Die sich hieraus ergebende "Rangliste" der sächsischen Wiederaufbauhemmnisse weicht insbesondere in der Beurteilung der Kernproblematik deutlich von den Einschätzungen bisheriger Arbeiten zur sowjetischen Besatzungszone ab.226 Zwar kann eine umfassende Aussage zur Ausgangslage und Entwicklung der Wirtschaft und Industrie in der SBZ sowie zu den hierbei wirksamen Einflüssen erst nach weiteren, die Wirtschaft der gesamten SBZ einbeziehende Untersuchungen getrof225 STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerpräsident. 226 Danach bestand das Haupthemmnis für den Wiederaufbau in Ostdeutschland in der enormen Höhe der Reparationsleistungen an die UdSSR bzw. in Transportproblemen (Zank: Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland, S. 21-27, 29. Nettl: Die deutsche Sowjetzone bis heute, S. 186 ff. Harmsen: Reparationen, Sozialprodukt, Lebensstandard. Staritz: Sozialismus in einem halben Land. Fisch: Reparationen, S. 198-201. Matschke: Die industrielle Entwicklung in der SBZ, S. 202. Melzer: Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung in der Industrie im Gebiet der DDR 1936-1975 sowie Schätzung des zukünftigen Angebotspotentials, S. 32, 170. Chr. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung: Deutsche Geschichte 1945-1955, hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 41986, S. 106-108. Weber: Die DDR 19451986, S. 9 f.).

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fen werden. Aufgrund der großen Bedeutung der sächsischen Industrie für die sowjetische Zone insgesamt, stellen die Ergebnisse aber hierfür eine wichtige Basis dar. Ergebnisse: Als Ergebnis der Untersuchung lässt sich feststellen, dass sich der Wiederaufbau in Sachsen nach 1945 zunächst an der Wirtschafts- und Industriestruktur der Vorkriegszeit orientierte. Dabei spielte sowohl der Bestand der noch vorhandenen Produktionsanlagen und Infrastruktur eine Rolle als auch das Knowhow und die Erfahrung der Fachkräfte. Die Bevölkerung in Sachsen war in den Jahren zwischen 1945 und 1949/50 jedoch vor allem damit beschäftigt, das tägliche Überleben zu sichern und zu organisieren. Die Menschen hatten gleichwohl das Ziel, baldmöglichst wieder den Lebensstandard der Vorkriegszeit zu erreichen. Ganz besonders traf dies auf die große Zahl von Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgebombten in Sachsen zu. Der Schlüssel zur Verbesserung der individuellen Lebenssituation lag dabei im schnellstmöglichen Wiederaufbau der Wirtschaft und Industrie des Landes. Sachsen war bereits in den 30er Jahren überdurchschnittlich stark industrialisiert. Innerhalb Deutschland hatte lediglich das Ruhrgebiet eine noch höhere Industriequote. Der Schwerpunkt der sächsischen Industrie lag dabei traditionell auf der Produktion von Konsumgütern, speziell im Bereich Textil und Bekleidung, sowie auf dem Maschinen-, Fahrzeug- und Apparatebau. Der Maschinen- und Anlagenbau hatte insbesondere in den Jahren zwischen 1914 und 1939 stark zugelegt. Dagegen war die Produktion von Halbfertigwaren und Vorprodukten für die Industrie in Sachsen nur schwach ausgeprägt. Die industriellen Zentren des Landes befanden sich vor allem im Westen des Landes, in Chemnitz, Zwickau, Plauen und Leipzig sowie im Raum Dresden und – zu einem geringeren Teil – in der Lausitz. Die zumeist aus Klein- und Mittelbetrieben bestehende Industrie war insgesamt relativ weiträumig über das Land verteilt. Da Sachsen lediglich über Braunkohle- und geringe Steinkohlevorkommen verfügt, waren die Unternehmen hier von je her stark auf die Einfuhr von Rohstoffen und Halbfertigwaren angewiesen. Insbesondere die sächsischen Kernindustrien – der Maschinen- und Fahrzeugbau, die Textil- und Bekleidungsbranche, die Papier- und Druckindustrie, die Chemie, die Baustoffindustrie sowie der Energie- und Treibstoffbereich – waren von Importen abhängig, die vor dem Krieg überwiegend aus Westdeutschland kamen. Umgekehrt exportierte Sachsen einen Großteil seiner Konsumgüter, Fahrzeuge, Maschinen und Anlagen in den Westen Deutschlands und ins Ausland, nicht zuletzt, um auf diesem Wege die notwendigen Einfuhren finanzieren zu können. Schon seit dem 19. Jahrhundert verfügte die sächsische Wirtschaft daher über enge Handelsverbindungen zu den deutschen und internationalen Märkten. Die Messestadt Leipzig brachte dies, als ebenso wichtiges wie traditionsreiches sächsisches Handels- und Messezentrum in der Mitte Deutschlands, signifikant zum Ausdruck. Nach dem Ende der Kampfhandlungen im Mai 1945 konnte die sächsische Industrie vergleichsweise schnell wieder die Produktion aufnehmen und schon Mitte 1946 ein stabiles Wachstum aufweisen. In einigen Bereichen konnte bis zum Herbst 1946 sogar schon wieder das Produktionsniveau der Vorkriegsjahre

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erreicht werden. Die Industrieproduktion in Sachsen lag damit 1945/46 deutlich über der Produktionsleistung der anderen SBZ-Länder wie auch über dem Produktionsniveau der westlichen Besatzungszonen. Dies war zum einen auf die Besatzungspolitik der Sowjetunion zurückzuführen, die an einem schnellen Wiederanlaufen der Produktion in der SBZ interessiert war, freilich primär mit dem Ziel, die Versorgung der sowjetischen Truppen in der SBZ zu gewährleisten und baldmöglichst Reparationen aus der Industrie abschöpfen zu können. Andererseits waren die Kriegszerstörungen in der sächsischen Industrie ausgesprochen gering. Auch im Bereich des Transportwesens hatten die Kriegszerstörungen kaum längerfristige Auswirkungen, sieht man einmal vom Waggonmangel ab, der zum Teil aber auch mit den Reparationsleistungen zusammenhing. Aufgrund der Handelsbehinderungen, welche die neu geschaffenen Grenzen innerhalb Deutschlands und Europas nach 1945 mit sich brachten, stellten sich jedoch in einigen Industriezweigen Sachsens sehr bald Probleme bei der Rohstoffversorgung ein. Vor allem Textilrohstoffe, Kohle, Eisen und Stahl sowie Baumaterial waren immerfort knapp. Zudem musste der überwiegende Teil der sächsischen Industrieausfuhren zur Finanzierung von Lebensmittelimporten verwendet werden. Die Grundstruktur der sächsischen Wirtschaft und Industrie jedoch blieb zunächst unverändert. Gegenüber den 30er Jahren zeichnete sich lediglich eine Konzentrationsbewegung bei der Zahl der Unternehmen ab. Ein gleichzeitiger Zuwachs der Produktivität blieb jedoch aus, zum Teil ging sie sogar leicht zurück. Die Probleme bei den Einund Ausfuhren, insbesondere nach der getrennten deutschen Währungsreform und der westlichen Handelsblockade ab Juni 1948; leiteten dann aber letztendlich eine Änderung der Handels- und Industriestrukturen in Sachsen ein. Diese wurde durch die zunehmend engere Kooperation zwischen den westeuropäischen Staaten – einschließlich Westdeutschlands – und den damit einhergehenden Wettbewerbsnachteilen für die sächsische Wirtschaft noch zusätzlich beschleunigt. Die Entwicklung der sächsischen Industrieproduktion und Wirtschaft wurde in den Jahren zwischen 1945 und 1949/50 durch zwei einschneidende Ereignisse geprägt, die sich in sämtlichen Branchen widerspiegelten. Dies war zum einen der lange und harte Winter 1946/47, zum anderen das westliche Handelsembargo gegen die SBZ ab dem Sommer 1948, das als Reaktion auf die sowjetische Blockade Berlins von den Westmächten verhängt worden war. Durch die Winterkrise 1946/47 fiel die Produktion in allen sächsischen Industriezweigen deutlich zurück, oftmals sogar hinter die Werte von Anfang 1946. Es dauerte im Anschluss daran bis zum Herbst 1947, ehe in der Industrie wieder die Produktionszahlen von Mitte 1946 erreicht werden konnten. Besonders stark machte sich die Krise im Bereich der Grundstoffindustrien bemerkbar, wie etwa im Kohlebergbau oder der Chemieund Kaliindustrie. Ursache dieses Konjunktureinbruchs war in erster Linie der Mangel an Rohstoffen, insbesondere an Kohle. Letzterer war in Sachsen direkt auf den stark reduzierten Kohletagebau als Folge des langen, harten Winters zurückzuführen. Hierin unterschied sich die Winterkrise in Sachsen grundlegend von jener in Westdeutschland. Zwar machte sich die Krise auch dort hauptsächlich im Mangel an Kohle bemerkbar und war letztendlich ebenso auf den langanhaltenden, intensiven Frost zurückzuführen. In Westdeutschland stellte jedoch der

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Transportengpass das Hauptproblem dar, nicht die Kohlegewinnung selbst. Der wirtschaftliche Wiederaufbau in Sachsen, der 1946 so hoffnungsvoll begonnen hatte, wurde durch die Winterkrise 1946/47 um ein ganzes Jahr zurückgeworfen. Im Vergleich zur restlichen SBZ und zu den westlichen Besatzungszonen verlief der Produktionsrückgang für die sächsische Industrie gleichwohl noch relativ glimpflich. In fast allen Branchen Sachsens setzte bereits ab dem Frühjahr 1947 eine Erholungsphase ein, durch die nach einem deutlichen Konjunkturanstieg im Herbst 1947 und dem milden Winter 1947/48 schließlich Anfang 1948 das Niveau der Vorkriegsproduktionswerte erreicht und zum Teil sogar schon übertroffen werden konnte. Die sächsische Industrie lag damit beim Wiederaufbau im gesamtdeutschen Vergleich weiterhin an der Spitze, wenngleich sich der Abstand gegenüber den Westzonen inzwischen leicht verringert hatte. Der wirtschaftliche Anstieg im Winter und Frühjahr 1948 ließ zudem einen erneuten, deutlichen Zuwachs für den Sommer 1948 erwarten, zumal die anstehende, noch für ganz Deutschland geplante Währungsreform eine deutlich stabilere Grundlage für ein weiteres konjunkturelles Wachstum versprach. Die seit 1946 erheblich gesunkenen Reparationsleistungen hatten der sächsischen Wirtschaft bereits 1947 einen größeren Freiraum ermöglicht und stellten, aufgrund ihres anhaltenden Rückgangs, für das Jahr 1948 ebenfalls eine Ausweitung des regulären sächsischen Exports in Aussicht. Außerdem hatte die UdSSR die Demontagen bereits 1947 im Prinzip eingestellt. Somit war auch von dieser Seite die Ausgangslage für einen anhaltenden Konjunkturanstieg in Sachsen im Jahre 1948 denkbar günstig. Im Sommer 1948 jedoch erfolgte der zweite, tiefgreifende Einschnitt für die sächsische Nachkriegswirtschaft. Da die Sowjetunion die Zusammenarbeit im Alliierten Kontrollrat bereits seit März 1948 verweigert hatte, führten die Westmächte Ende Juni in ihren Besatzungszonen und den Westsektoren Berlins eine eigene Währungsreform durch. Die UdSSR jedoch betrachtete ganz Berlin als Bestandteil ihrer Zone und versuchte diesen Anspruch durch die Sperrung sämtlicher Land- und Schifffahrtsverbindungen nach West-Berlin durchzusetzen. Im Gegenzug verhängten die Westmächte im Sommer 1948 ein Handelsembargo gegen die SBZ, woraufhin im zweiten Halbjahr der Warenverkehr zwischen Ost- und Westdeutschland, auf den die Wirtschaft Sachsens in weiten Bereichen zwingend angewiesen war, vollständig zum Erliegen kam. Die Blockade durch die Westmächte beendete in beinahe allen sächsischen Industriebranchen den kurzen wirtschaftlichen Aufschwung, der Ende 1947/Anfang 1948 begonnen hatte. In wichtigen Kernbereichen, wie etwa dem Maschinen- und Fahrzeugbau, der Chemie- und Textilindustrie sowie der Energie- und Treibstofferzeugung, wo man besonders stark auf die westdeutschen Einfuhren angewiesen war, führte der Mangel an Rohstoffen, Halbfertigwaren und Ersatzteilen in Folge der Handelssperre sogar zu einem erneuten, empfindlichen Produktionsrückgang. Im Gegensatz zur Winterkrise 1946/47 war davon in erster Linie die verarbeitende Industrie betroffen. Aber selbst nach dem Ende der Blockade im Mai 1949 konnte die sächsische Wirtschaft nicht mehr unmittelbar an den Entwicklungsstand von Anfang 1948 anknüpfen. Zum einen hatten in der Zwischenzeit westdeutsche und westeuropäische Konkurrenten die ehemaligen Marktpositionen der sächsischen Exportunter-

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nehmen, insbesondere im Bereich der Konsumgüter, eingenommen. Zum anderen schränkte die nunmehr eigenständige DM-West die Einkaufsmöglichkeiten der sächsischen Unternehmen in Westdeutschland stark ein. So besserte sich die Versorgungslage der Industrie bei Stahlteilen, Blechen, Steinkohle und Treibstoffen auch 1949/50 nur unwesentlich. Hinzu kamen nun außerdem Qualitätsprobleme bei den sächsischen Waren, die wiederum aus der verstärkten Verwendung von Ersatzrohstoffen und Altstoffen in der Produktion resultierten. Gleichzeitig erlangten die westdeutschen Firmen aufgrund des Marshallplans und der schrittweisen Liberalisierung des westeuropäischen Handels einen zunehmenden Wettbewerbsvorteil gegenüber den ostdeutschen Betrieben, sowohl was den Bezug von Rohstoffen anging als auch beim Absatz. Die sächsische Wirtschaft war hierdurch nicht nur bei der Beschaffung von Rohstoffen und Halbfertigwaren auf den westdeutschen und westeuropäischen Märkten benachteiligt, sondern wurde auch von ihren traditionellen Absatzmärkten für Konsumgüter, Maschinen, Anlagen und Fahrzeuge mehr und mehr verdrängt. Dies war umso schwerwiegender, als die Handelsbilanz Sachsens 1947 und 1948 ohnehin negativ war und der Export von Industriegütern primär der Finanzierung von Lebensmitteleinfuhren diente. Durch die Blockade wurde außerdem die Umorientierung der sächsischen Industrie und des Handels auf die Märkte in Ostdeutschland und Osteuropa forciert, die jedoch keinesfalls eine ausreichende Alternative für die sächsische Industrie darstellen konnten, weder als Rohstofflieferanten noch als zahlungskräftige Abnehmer für hochwertige Maschinen, Anlagen und Konsumgüter. Trotz der anfänglich günstigen Entwicklung der Industrieproduktion – gerade auch im Bereich der Lebensmittelindustrie – waren die Nachkriegsjahre für die sächsische Bevölkerung in erster Linie durch Not und Entbehrungen gekennzeichnet. Karge Lebensmittelzuteilungen, Wohnungsnot und Mangel an Kleidung und Schuhen bestimmten den Alltag der Menschen. Dies wirkte sich auch auf die Arbeits- und Leistungskraft der Menschen aus. So verhinderte der Mangel an Schuhen in einer Vielzahl von Fällen die Aufnahme einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle. Die Gründe für die schlechte Versorgungslage summierten sich dabei aus mehreren Faktoren. Wie alle Regionen in Deutschland, so erlebte auch Sachsen nach 1945 durch den Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen einen Bevölkerungszuwachs. Zwar lag der Anstieg hier deutlich unter dem Durchschnitt Gesamtdeutschlands und der SBZ. Sachsen hatte aber aufgrund seiner ausgeprägten Industriestruktur ohnehin schon eine sehr hohe Bevölkerungsdichte. Durch die Abtrennung der stark landwirtschaftlich geprägten Ostgebiete blieben zudem die Lebensmittellieferungen aus diesen Regionen aus. Innerhalb Sachsens und der SBZ war dagegen eine Ausweitung der Anbaufläche kaum möglich. Da außerdem die Düngerproduktion zurückgegangen war und oftmals Maschinen und Ersatzteile auf den Höfen fehlten, konnte selbst die Reduzierung des Anbaus von Futterpflanzen die Ertragsrückgänge in Sachsens Landwirtschaft nicht ausgleichen. Zusätzlich verschärft wurde die angespannte Situation durch Lieferverpflichtungen gegenüber den sowjetischen Besatzungstruppen sowie durch schlechte Ernten in den Jahren 1947 und 1949. Zeitweise war die Versorgungslage so kritisch, dass

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sogar aus der UdSSR Lebensmittelhilfen nach Sachsen geliefert wurden. Im Vergleich zur Gesamt-SBZ sowie zu den anderen Besatzungszonen war die sächsische Bevölkerung aber noch relativ "gut" versorgt, selbst in einigen westeuropäischen Ländern lagen die Kalorientagessätze nicht wesentlich höher als hier. Ab 1948 besserte sich die Versorgungslage bei Lebensmitteln dann langsam, die Rationierung wurde jedoch in Sachsen bis in die 50er Jahre beibehalten. Während die Westzonen ab 1948 zusätzliche Hilfslieferungen aus den USA erhielten, mussten die Länder der SBZ ihre Lebensmitteleinfuhren weiterhin über Exporte finanzieren, worin sie ab Mitte 1948 durch die westliche Gegenblockade zusätzlich behindert wurden. Die Probleme bei der Versorgung mit Kleidung und Schuhen in Sachsen hatten ihre Ursache einerseits in der hohen Nachfrage, die sich über 6 Kriegsjahre sowie durch Flucht und Vertreibung aufgestaut hatte. Andererseits schöpfte die Besatzungsmacht einen großen Teil der ohnehin geringen Produktion in diesem Bereich ab. Die Wohnungsnot in den Städten schließlich war in der Hauptsache das Resultat der alliierten Luftangriffe, denen vor allem Wohngebäude in den Innenstädten zum Opfer gefallen waren. Durch den Zuzug von Flüchtlingen und Vertriebenen spitzte sich der Wohnungsmangel in Sachsen dann nochmals zu und blieb hier – aufgrund des relativ geringen Wohnungsneubaus – länger bestehen als im Westen Deutschlands. Die Ursache für die schwache Bautätigkeit in Sachsen war unter anderem in den sowjetischen Reparationsforderungen zu suchen, die im Landeshaushalt kaum Spielraum für zusätzliche Subventionierungen ließen. Zudem hatten die Sowjets fast die gesamte Holzbauindustrie in Sachsen demontiert und damit die Instandsetzung der zerstörten Wohnungen sowie den Bau von Notunterkünften stark eingeschränkt. In den meisten Branchen der sächsischen Industrie waren die Probleme, die durch die Reparationen hervorgerufen wurden, jedoch weit geringer als in den Bereichen Holzbau, Lebensmittel, Kleidung und Schuhe. Zwar hatten fast alle Industriezweige unter den Demontagen zu leiden, insbesondere die Sparten Metallurgie, Chemie, Keramik, Holzbau, Elektrotechnik, Maschinen- und Fahrzeugbau. Wirklich nachhaltige Kapazitätsengpässe ergaben sich hierdurch aber nur im Bereich Papier-Druck, Feinmechanik-Optik, Metallurgie und Fahrzeugbau sowie in einigen Sparten des Maschinenbaus. Die meisten Branchen in Sachsen verfügten dagegen über Reserven an Produktionskapazitäten. Dies wurde einerseits durch den relativ schnellen Produktionsanstieg fast aller Industriezweige im Jahre 1946 deutlich sowie durch die vergleichsweise hohen Produktionszahlen zwischen Herbst 1947 und Frühsommer 1948, also nach dem Abschluss der Demontagen und Unternehmensübernahmen durch die Sowjets. Zum anderen bestand in den sächsischen Unternehmen eine permanent hohe Nachfrage nach Roh- und Hilfsstoffen sowie nach Arbeitskräften, insbesondere in der Maschinenbaubranche. Es existierten folglich nach wie vor freie Produktionskapazitäten in den Betrieben. Der Kapazitätsabbau im Bereich der Grundstoffproduktion, speziell in der Metallurgie, führte jedoch zu einer erhöhten Importabhängigkeit in diesem Bereich, was sich ab Mitte 1948 – mit Beginn der Gegenblockade – deutlich negativ auf die sächsische Industrie auswirkte. Umgekehrt konnte die Industrie, dank des großen

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Interesses der UdSSR an Reparationsgütern, ihre Produktion vergleichsweise schnell und weitgehend frei von Beschränkungen wieder aufnehmen. Spätestens im Laufe des Jahres 1946 hatte sich auf sowjetischer Seite zudem die Einsicht durchgesetzt, dass das Abschöpfen von Waren aus der laufenden Industrieproduktion die weit effektivere Reparationsform war, als die bis dahin durchgeführten Komplettdemontagen von Maschinen und Produktionsanlagen. Die Finanzierung solcher Reparationsfertigungen hatte die Sächsische Landesregierung aus ihrem Haushalt zu übernehmen. Entsprechend klein war der Spielraum des Landes bei Investitionen und Subventionen für den Wiederaufbau. Als Verrechnungsgrundlage für alle Reparationsaufträge hatte dabei die SMAD das Preisniveau von 1944 festgesetzt, was im Laufe der Jahre bei den sächsischen Betrieben zu einem immer stärkeren Kostendruck führte, da die Preise für importierte Rohstoffe und Halbfertigprodukte nach 1945 extrem gestiegen waren. Schwerpunkt der sowjetischen Reparationsaufträge bildeten wiederum die Bereiche Maschinen- und Fahrzeugbau, Textil, Chemie, Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik, Druck sowie Bekleidung und Leder. Allerdings sanken die sowjetischen Reparationsforderungen nach 1946 kontinuierlich und relativ schnell ab.

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Direkte Reparationsleistungen der sächsischen Wirtschaft an die sowjetische Besatzungsmacht 1945 - 1950/52 (in 1.000 RM / DM)

Quellen: STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerpräsident, 2060, Hauptabteilung Reparationen, Kurzbericht über die Planerfüllung [Reparationen], an den Ministerpräsidenten, Dresden, 24. Januar 1951. Ebd., 1125, Hauptabteilung Reparationen, Erfüllungsbericht der Reparationslieferungen für das I. Quartal 1951, an den Ministerpräsidenten, Dresden, 17 April 1951. Ebd., Monatsbericht über den Erfüllungsstand der Reparationslieferungen für den Monat April 1951, Dresden, 15.°Mai 1951. Ebd., 354, Schreiben der Hauptabteilung Reparationen an den Ministerpräsidenten, Dresden, 28. Juni 195. Ebd., Hauptabteilung Reparationen, Zwischenbericht über den Stand der Erfüllung des 1. Halbjahres [1952], Dresden, 27. Juni 1952. Ebd., 1109, Ministerium für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung, Abteilung I., Dez. für Lieferungen an die sowjetischen Bedarfsträger, Bericht über die Tätigkeit des Dezernats vom [01. Januar 1947] 01. Januar 1948 bis 30. Juni 1948, Dresden, 28. Juli 1948.

Dies betraf sowohl die direkten Reparationen an die UdSSR als auch die Leistungen an die diversen sowjetischen Einrichtungen und Handelsorganisationen in der SBZ bzw. an die Besatzungstruppen. In der entscheidenden Phase von Anfang

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1946 bis Ende 1948 verringerten sich die sowjetischen Forderungen von knapp einem Drittel der sächsischen Bruttoproduktion auf unter ein Sechstel, mit weiter abnehmender Tendenz. Die hierdurch frei werdenden Produktionskapazitäten nutzte die sächsische Industrie primär zum Wiederaufbau ihres traditionellen Exportgeschäfts. Die Erlöse hieraus mussten in der Hauptsache jedoch zur Finanzierung dringend benötigter Lebensmittelimporte verwendet werden. Zeitgleich mit der Umorientierung der Reparationspolitik auf laufende Entnahmen aus der Produktion begann die UdSSR besonders leistungsfähige, sächsische Großbetriebe in exterritoriales, sowjetisches Eigentum zu überführen, nach dem Vorbild der gemischten sowjetischen AGen in Rumänien und Ungarn. Den Schwerpunkt dieser "Sowjetischen Aktiengesellschaften" bildeten dabei in Sachsen Schlüsselunternehmen der Textil-, Bekleidungs-, Elektro-, Druck-, Maschinen- und Fahrzeugbauindustrie sowie der Energie- und Brennstofferzeugung. Im Jahre 1948, nach Abschluss dieser Übernahmen, erbrachten die SAGen knapp ein Viertel der gesamten Industrieproduktion in Sachsen. Zusammen mit den Reparationsaufträgen aus den übrigen Unternehmen beanspruchte die UdSSR damit über ein Drittel der gesamten Bruttoproduktion des Landes. Eine Sonderstellung unter den SAGen nahm die Wismut AG ein. Die UdSSR betrieb unter diesem Decknamen den Abbau von Uranerz im sächsischen Erzgebirge, das zum Bau der ersten sowjetischen Atombombe dienen sollte. Hierbei nahm die Wismut AG in großem Umfang dringend gesuchte Arbeitskräfte und rare Transportkapazitäten in Beschlag. Fasst man Demontagen, Reparationsaufträge an die sächsischen Unternehmen und die Firmenübernahmen durch die Besatzungsmacht zusammen, so waren in Sachsen die Branchen Textil und Bekleidung, Maschinenbau, Elektrotechnik, Glas und Keramik, Holz, Druck, Kohle, Treibstoffhydrierung sowie ganz besonders der Fahrzeugbau am stärksten von den sowjetischen Reparationsforderungen betroffen. Neben der Einschränkung des Warenangebots für die Bevölkerung behinderten die Reparationen aus der laufenden Produktion und die sowjetischen Firmenübernahmen vor allem die Ausweitung des regulären sächsischen Exports und somit indirekt die Finanzierungsmöglichkeiten für zusätzliche Halbfertigwaren- und Rohstoffeinfuhren. Da jedoch der Warenaustausch Sachsens hauptsächlich mit Westdeutschland und Westeuropa erfolgte, bestanden diese Handelsmöglichkeiten ab Mitte 1948, aufgrund der Gegenblockade, ohnehin kaum noch. Andererseits besaß die sächsische Industrie selbst nach den Demontagen und Betriebsübernahmen durch die Sowjets noch immer ausreichende Fertigungskapazitäten, um ihre Produktion zwischen Herbst 1947 und Sommer 1948 deutlich zu steigern. Die Phase der Stagnation bzw. des Konjunkturrückgangs folgte in Sachsen erst ab Mitte 1948, also nach Abschluss der Demontagen und sowjetischen Unternehmensübernahmen. Der Grund für den Produktionsrückgang von 1948 lag somit eindeutig im Mangel an Rohstoffen und Halbfertigwaren und nicht in fehlenden Produktionskapazitäten. Sicher wäre die Krise von 1948/49 weniger gravierend für die sächsische Wirtschaft ausgefallen, hätte den Unternehmen jene Rohstoffreserven zur Verfügung gestanden, die vorzugsweise für die SAGBetriebe reserviert waren. Die positive Konjunkturentwicklung von Anfang 1948 belegt jedoch, dass die sächsische Wirtschaft, trotz vielfältiger Bevorzugung der

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SAGen, durchaus zu einer Produktionssteigerung in der Lage war. Voraussetzung hierfür waren allerdings zusätzliche Einfuhren aus Westdeutschland, die seit 1947 nach Sachsen gelangten. Mit dem Ausbleiben dieser Lieferungen, mit Beginn der Gegenblockade – ab Sommer 1948, gerieten selbst die SAG-Unternehmen in Rohstoffprobleme. Den sowjetischen Demontagen und Reparationen kann somit zwar ein gewisser negativer Einfluss auf die Intensität und die Dauer der Winterkrise 1946/47 angelastet werden. Für den Konjunktureinbruch ab dem Sommer 1948 können diese jedoch nur äußerst bedingt verantwortlich gemacht werden, auch wenn die westliche Handelsblockade nur eine Reaktion auf das Vorgehen Moskaus war und damit letztendlich ebenfalls ein Resultat der sowjetischen Politik darstellte. In beiden Fällen aber – im Winter 1946/47 wie auch ab dem Sommer 1948 – waren die Reparationsleistungen nicht der Auslöser der Krise. Vielmehr wurde der wirtschaftliche Wiederaufbau in Sachsen, je weiter er voranschritt, durch den Mangel an Rohstoffen, Halbfertigwaren und Ersatzteilen immer stärker belastet, insbesondere ab Mitte 1948. Zwar hing der Rohstoffmangel in einigen Bereichen auch mit den Demontagen, Betriebsübernahmen sowie den laufenden Forderungen der Sowjetunion zusammen, die Verknüpfung war hierbei jedoch nicht zwingend, wie der positive Konjunkturverlauf von 1946 und die Zuwachsraten von Anfang 1948 deutlich zeigten. Das Ausbleiben der westlichen Importe ab dem Sommer 1948 dagegen wirkte sich unmittelbar negativ auf den Wiederaufbau in Sachsen aus. Stalins langes Festhalten an der Blockade Berlins, das somit gleichbedeutend war mit dem Fortschreiben der Wirtschaftsprobleme in den ostdeutschen Unternehmen, einschließlich der SAG-Betriebe und der sowjetischen Reparationsaufträge, verweist darauf, dass die UdSSR spätestens ab 1948 ihre machtpolitischen Ziele gegenüber den Westmächten eindeutig über das Interesse an maximalen deutschen Reparationsleistungen gestellt hatte. Die hohe Nachfrage der sächsischen Industrie nach Fachkräften – trotz des Bevölkerungszuwachses nach 1945 – sowie die Probleme im Transportbereich hatten im Vergleich zum Rohstoffmangel und den Reparationen einen eher geringen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zwischen 1945 und 1949. Der permanente Arbeitskräfte- und Rohstoffbedarf unterstreicht dagegen nochmals den Umfang an Kapazitätsreserven in der sächsischen Industrie – selbst nach den sowjetischen Demontagen und Betriebsübernahmen. Allerdings weist die anhaltende Nachfrage nach Arbeitskräften auch auf einen Rückgang der Arbeitsproduktivität in den sächsischen Unternehmen hin. Hier zeichnete sich, ebenso wie bei der Qualität der Waren, ein Problem ab, das die sächsische Wirtschaft über die gesamte Zeit der DDR belasten sollte. Der Eisenbahnverkehr, auf dem nach 1945 die Hauptlast der Transportaufgaben ruhte, stellte trotz Kriegszerstörungen, Entnahmen und Demontagen der Besatzungsmächte sowie intensiver Beanspruchung durch die Wirtschaft kein bedeutendes Hindernis für den Wiederaufbau dar. Zwar gab es in Sachsen beim Eisenbahn- und Lkw-Transport wegen fehlender Waggons sowie Reifen- und Treibstoffmangels immer wieder Engpässe. Die sächsische Industrie wurde hierdurch aber zu keinem Zeitpunkt nachhaltig behindert, weder bei ihrer ersten Erholungsphase ab Anfang 1946 noch beim Konjunkturanstieg von 1947/48. Selbst der Krisenwinter 1946/47 führte im Transport-

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bereich Sachsens nicht annähernd zu vergleichbaren Schwierigkeiten wie in den Westzonen. Haupthemmnisse für den Wiederaufbau in Sachsen. Auf Grundlage der genannten Quellen lässt sich folglich feststellen, dass die Rohstoff- und Ersatzteilprobleme, die Sachsens Wirtschaft über die gesamte Zeitspanne der SBZ und darüber hinaus belasteten, ihre Ursache nicht primär und hauptsächlich in den Reparationslasten hatten: Im Jahre 1946 – zum Zeitpunkt der umfangreichsten Reparationsleistungen bei gleichzeitig hoher Produktion – waren die Rohstoffschwierigkeiten beispielsweise weniger gravierend als etwa im Winter 1946/47 oder gar im Sommer 1948, als die Reparationsforderungen bereits deutlich zurückgegangen waren.227 Zwar beanspruchten die Reparationslieferungen aus der laufenden Produktion wie auch die SAG-Betriebe einen wichtigen Teil der sächsischen Rohstoffe – meist auch noch den mit der besten Qualität. Dieser Eingriff erfolgte aber permanent und kann daher kaum mit dem krisenhaften Einbruch im Winter 1946/47 oder mit der Gegenblockade ab Sommer 1948 in Zusammenhang gebracht werden.228 Im Fall der Braunkohle sowie der angeschlossenen Treibstoffund Energieerzeugung wie auch in der Metallurgie sowie im Maschinen- und Fahrzeugbau hatte die Besatzungsmacht zwar einen bedeutenden Anteil an den Engpässen, sei es nun durch Unternehmensübernahmen, Demontagen oder Entnahmen aus der laufenden Produktion. Für die Probleme in den übrigen Bereichen, beispielsweise in der Textilindustrie, können die sowjetischen Stellen jedoch nur bedingt verantwortlich gemacht werden. Die Rohstoffversorgung wurde hier lediglich indirekt, durch die laufenden Reparationen, behindert: Dadurch standen der sächsischen Wirtschaft entsprechend weniger Exportwaren zur Verfügung und somit auch entsprechend geringere Finanzierungsmöglichkeiten für die Einfuhr von Rohstoffen und Ersatzteilen. Zur Zeit der Blockade wie auch danach spielten die Reparationen jedoch keine entscheidende Rolle mehr.229 Die Demontagen von Unternehmen erfolgten durch Konfiskation von Privatvermögen, das nicht Eigentum der 1949 gegründeten DDR war. Hauptursache des Rohstoff- und Ersatzteilmangels von 1948/49 war vielmehr die westliche Handelsblockade. In der Zeit danach war es dann vor allem der Mangel an Devisen. Durch den Marshallplan und die zunehmende wirtschaftliche Integration Westeuropas verschlechterten sich gleichzeitig die sächsischen Absatzchancen auf den westlichen Märkten, was sich letztendlich ebenfalls auf die Rohstoff- und Ersatzteilimporte auswirkte. Daneben zeichneten sich allerdings auch schon Qualitätsmängel und Kostendeckungsprobleme bei den sächsischen Produzenten ab.

227 Hackenberg, Gerd: Wiederaufbau, Kapitel II., A. Abbildung 66 und ebd., Kapitel III., B. 2, Abbildung 95 und 96. 228 Die Gegenblockade war zwar eine direkte Antwort auf die sowjetische Blockade Berlins, die Handelssperre zwischen der SBZ und den Westzonen war jedoch nicht von den Sowjets initiiert worden. 229 Hackenberg, Gerd: Wiederaufbau, Kapitel II., A., ebd. Kapitel III., B. 2.

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Produktion der sächsischen Industrie 1946 - 1948 (in 1.000 RM/DM)*

Quellen: STAD: Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft, 117/1, Gesamtdarstellung der sächsischen Industrie, Dresden (1947), Entwicklung der Produktionswerte der sächsischen Industrie 1936-1946. STAD: Ministerpräsident, 2911, Produktionsmeldungen der sächsischen Industrie nach Branchen, Januar-April 1946. Ebd. 2913, Mai-Juni 1946. Ebd. 2915, Juli-September 1946. Ebd. 2916, Oktober-November 1946. Ebd. 2920, Dezember 1946 - Mai 1947. Ebd. 2921, Juni-Juli 1947. Ebd. 2922, August-Oktober 1947. Ebd. 2923, November-Dezember 1947. Ebd. 2924, Mai/Juni 1948. Ebd. 2060, Abrechnung des Produktionsplanes nach Industriegruppen und Eigentumsformen der Betriebe für den Planungszeitraum II. Halbjahr 1948. Ebd. 2081, Übersicht der Bruttoindustrieproduktion nach Industriegruppen. STAD: Ministerium für Wirtschaft, 527, Produktion, Lohnarbeit, Reparaturen nach Industriegruppen, III. Quartal 1948. Ebd., 530, Auszug aus dem Konjunkturbericht II/1948 der IHK Sachsen, Dresden, 04. Oktober 1948, Produktion der sächsischen Industrie nach Branchen 1948. * Für Januar bis Juni 1948 liegt nur der Gesamtwert für das erste Halbjahr 1948 vor. Die aufgetragenen Monatswerte sind daher errechnet und – mit jeweils einem Sechstel des Halbjahresergebnisses – identische Werte. Die tatsächliche Entwicklung dürfte dagegen für Januar und Februar niedrigere Werte ergeben haben, dagegen für Mai und Juni entsprechend höhere.

Fazit: Fasst man alle Teilaspekte zusammen, so bestand das Haupthindernis für den Wiederaufbau Sachsens im Mangel an Rohstoffen und Halbfertigwaren. Die hieraus resultierenden Probleme belasteten die sächsischen Wirtschaft und

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Industrie weitaus stärker als die Reparationen an die Sowjetunion. Ursache der Rohstoffprobleme waren dabei in erster Linie Handelshemmnisse, die sich infolge der neuen Grenzziehung in Deutschland und in Europa einstellten. Den Tiefpunkt erreichte diese Entwicklung mit der westlichen Gegenblockade in den Jahren 1948/49, die als Reaktion auf die sowjetische Blockade Berlins zugleich die neue Frontstellung des Kalten Krieges erstmals eindringlich widerspiegelte. 10. Der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961 Von Gunter Holzweißig „Um 0.00 Uhr wurde Alarm gegeben und die Aktion ausgelöst. Damit begann eine Operation, die an dem nun anbrechenden Tag, einem Sonntag, die Welt aufhorchen ließ“. Was Erich Honecker hier in seinen Memoiren als „Aktion“ oder „Operation“ umschrieb, war der Beginn des Mauerbaus – die brutale Abriegelung Ost-Berlins am 13. August 1961 vom freien Teil der Vier-Sektoren-Stadt. Für Honecker war der Mauerbau die erste große Bewährungsprobe seiner Karriere, denn Walter Ulbricht hatte ihn zuvor zum „Stabschef“ des von der SED als Erfolg gefeierten Handstreichs bestimmt. Honecker unterstanden an der Sektorengrenze in vorderster Linie Einheiten der Betriebskampfgruppen, der Volks- und Grenzpolizei, Pioniere der Nationalen Volksarmee sowie zwangsverpflichtete Bauarbeiter, die zunächst provisorische Sperranlagen errichten mußten. Im Hinterland waren Truppenteile und Verbände der NVA und Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit in Alarmbereitschaft versetzt (Bewaffnete Kräfte)230 Für den Fall eines offenen Widerstandes der Bevölkerung oder eines, allerdings nicht erwarteten, militärischen Eingreifens der Westmächte sollten in der DDR stationierte, unter dem Oberbefehl von Marschall Iwan Konew stehende sowjetische Streitkräfte in Aktion treten. Der Mauerbau hatte zwar in der Öffentlichkeit – vor allem in der unmittelbar von der Absperrung betroffenen Berliner Bevölkerung – einen großen Schock ausgelöst, aber man hatte insgeheim bereits erwartet, daß die SED Vorkehrungen zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms durch das letzte Schlupfloch über die noch offene Berliner Sektorengrenze treffen werde. Dadurch erklärt sich auch die im Juli 1961 auf 30.415 Personen sprunghaft angestiegene Zahl der Flüchtlinge. Insgesamt verließen im Jahre 1961 bis zum 13. August 125.053 DDR-Bewohner ihre Heimat – von der Gründung der DDR im Jahre 1949 bis zum Mauerbau waren es fast 2,7 Mio. (Fluchtbewegung).231 Zur Unterbindung dieser „Abstimmung mit den Füßen“ versuchte die DDR-Führung schon seit dem Frühjahr 1961 mit Nachdruck – allerdings zunächst vergeblich –, ihre Verbündeten von der Notwendigkeit zu überzeugen, Gegenmaßnahmen einzuleiten. Ulbricht bestritt zwar noch mit Entschiedenheit auf einer Pressekonferenz im Juni 1961, eine Mauer bauen zu wollen, doch diesen längst vorhandenen Schubladenplan sanktionierten die in 230 Lepp, Peter Joachim: Bewaffnete Kräfte, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., 1997, S. 147-153. 231 Eisenfeld, Bernd: Fluchtbewegung, in: Ebd., S. 268-271.

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Moskau vom 3. bis 5. August versammelten kommunistischen Parteiführer aus den Staaten des Warschauer Paktes auf Drängen Ulbrichts und mit Billigung des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow. Die DDR-Führung hatte sich nicht zuletzt deshalb in Moskau durchgesetzt, weil man sich inzwischen sicher war, daß es nicht zu einem militärischen Konflikt mit den Westmächten kommen werde. Schließlich hatte der amerikanische Präsident Kennedy kurz zuvor – am 25. Juli – drei unverrückbare Grundsätze seiner Berlin-Politik öffentlich verkündet: das Recht der Alliierten auf ihre Anwesenheit in West-Berlin, ihr ungehindertes Zugangsrecht dorthin und das Recht der West-Berliner, über ihre Zukunft selbst bestimmen und ihre Lebensweise frei wählen zu können. Bei Beachtung dieser Grundsätze stand einem Mauerbau nichts im Wege. Von diesem Kalkül ließ sich die SED-Führung leiten. Honecker bestätigt dies sogar 1980 in seinen Memoiren und führt damit die parteioffizielle Rechtfertigung des Mauerbaus ad absurdum, indem er feststellt, man sei 1961 kein Kriegsrisiko eingegangen, weil es zuverlässige Informationen darüber gegeben habe, daß ein militärisches Vorgehen der NATO nicht möglich gewesen wäre, da die USA ihre Interessen in Berlin nicht gefährdet gesehen hätten. Die jahrelang mit Inbrunst gepflegte Propagandamär vom geplanten Einzug der Bundeswehr „mit klingendem Spiel“ durch das Brandenburger Tor fällt somit in sich zusammen. Ebenso wie diese Legende diente auch die Behauptung, westliche „Menschenhändler“ hätten systematisch DDR-Bewohner in den Westen gelockt, um die DDR wirtschaftlich auszubluten, lediglich dem Zweck, von den Verletzungen der Grund- und Menschenrechte und den hausgemachten Versorgungsproblemen im eigenen Machtbereich abzulenken. Die Hauptverlierer waren nach dem Mauerbau die Bewohner der DDR und Ost-Berlins. Der ostdeutsche Zeithistoriker Hartmut Mehls, bis 1989 ein besonders eifriger Mauer-Propagandist, legte nach der Wende eine Dokumentation aus den Akten der Berliner SED-Bezirksleitung vor, die auch ungeschönte Situationsund Informationsberichte über spontane Reaktionen von Parteimitgliedern und aus der Bevölkerung enthält.232 In den Betrieben kam es demnach zu gewalttätigen Übergriffen gegen protestierende Arbeiter. Aber auch Kampfgruppenkommandeure und Volkspolizeioffiziere entledigten sich demonstrativ ihrer Parteibücher. FDJ-Funktionäre weigerten sich, die „freiwillige“ Verpflichtung für den Dienst in der NVA zu unterschreiben. Sportler verlangten die Aufrechterhaltung des Sportverkehrs mit ihren Kameraden in West-Berlin. Die Partei- und MfS-Informanten registrierten immer häufiger Rufe nach freien Wahlen und nach einem Generalstreik. Jugendliche und Angehörige der „Intelligenz“ – hauptsächlich Krankenhausärzte und Wissenschaftler in den volkseigenen Betrieben – wurden für gefährliche Unruhestifter gehalten. Als ein Unsicherheitsfaktor galten die ca. 60.000 „Grenzgänger“. Dabei handelte es sich um Arbeitnehmer aus Ostberlin und dessen Umland, die in West-Berlin beschäftigt waren. Viele von ihnen ließen ihrem Unmut über den erzwungenen Verlust ihrer Arbeitsplätze freien Lauf. Vor dem 232 Mehls, Hartmut (Hrsg.): Im Schatten der Mauer. Dokumente. 12. August bis 29. September 1961, Berlin 1990.

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13. August 1961 wurden sie als angebliche Nutznießer des Währungsgefälles und der sozialistischen Errungenschaften233 der DDR öffentlich an den Pranger gestellt. Nunmehr sollten sie möglichst reibungslos in DDR-Betriebe integriert werden. Die erhalten gebliebenen Dokumente der SED-Bezirksleitung Berlin verdeutlichen, daß lediglich die nach dem Mauerbau einsetzende Resignation und die Enttäuschung der Bevölkerung darüber, daß der Westen sich mit der gewaltsamen Teilung Berlins abgefunden hatte, einen Generalstreik oder eine Neuauflage des Volksaufstandes vom Siebzehnten Juni 1953 verhindert haben.234 Zu keiner Zeit erfüllte der „antifaschistische Schutzwall“ – seit dem ersten Jahrestag seiner Errichtung in der Agitprop-Sprache (Agitation und Propaganda235 – Sprache und Politik)236 der SED die verbindliche Bezeichnung für die Mauer – die Erwartungen seiner Bauherren. So erhielten die Chefredakteure der SED-Bezirkszeitungen im März 1963 den Hinweis aus der Agitationskommission beim SED-Politbüro, viele Menschen würden nicht die Bedeutung „unserer Maßnahmen vom 13. August zur Sicherung der Staatsgrenzen“ verstehen. Die damit verbundene, ständig wiederholte Aufforderung zur Forcierung der Erfolgspropaganda, die allerdings bei einigen westlichen Politikern und Intellektuellen durchaus eine gewissen Wirkung zeitigte, vermochte die Glaubwürdigkeit des SED-Regimes innerhalb der DDR-Bevölkerung nicht zu erhöhen. Der versprochene wirtschaftliche Aufschwung trieb nur Scheinblüten. Die von großen Teilen der künstlerischen Intelligenz237 erwartete Liberalisierung des kulturellen und geistigen Lebens fand nicht statt. Es wurde vielmehr durch verstärkte Repression lahmgelegt. Der „Schutzwall“ und der Schießbefehl238 dienten ausschließlich dem Selbstschutz der SED-Führung vor einem Massenexodus, der im Sommer 1989 auf anderen, von ihr nicht mehr kontrollierbaren Wegen stattfand. Die bis zu ihrem Fall am 9. November 1989 mit unverantwortlich hohem materiellen und personellen Aufwand technisch ständig perfektionierte Mauer war ein Bestandteil des unmenschlichen Grenzregimes,239 dem allein in Berlin nach den bisherigen gesicherten Feststellungen der „Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ 175 Menschenleben strafrechtlich relevanten Handlungen zum Opfer fielen.240

233 Schaefer, Anka: Sozialistische Errungenschaften, in: Ebd., S. 757 f. 234 Haupts, Leo: Siebzehnter Juni 1953, in: Ebd., S. 697-701. 235 Holzweißig, Gunter: Agitation und Propaganda, in: Ebd., S. 53 f. 236 Bergsdorf, Wolfgang: Sprache und Politik, in: Ebd., S. 781-787. 237 Voigt, Dieter / Meck, Sabine: Intelligenz, in: Ebd., S. 412-414. 238 Kittlau, Manfred: Schießbefehl, in: Ebd., S. 680 f. 239 Kittlau, Manfred: Grenzregime, in: Ebd., S. 353. 240 Holzweißig, Gunter: Mauerbau, in: Ebd., S. 550-553.

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11. Die antagonistische Drei-Klassen-Struktur der DDR-Gesellschaft Der demokratische (bürokratische) Zentralismus241 war das grundlegende Organisations- und Leitungsprinzip der marxistisch-leninistisch-stalinistischen SED, des sozialistischen Staates, der sozialistischen Zentralplanwirtschaft und der Massenorganisationen wie z. B. dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB)242.Sein Wesen ist auf staatlicher Ebene gekennzeichnet durch die Leitung aller gesamtstaatlichen Angelegenheiten. Er ist „die einheitliche Organisation des politischen Systems der SED, führt zur Machtakkumulation bei einzelnen Personen und dem hierarchisch gegliederten Kadersystem“.243 Nach Günter Schabowski war erster Glaubenssatz der SED die „führende Rolle“, anders gesagt, die autoritäre Vorherrschaft der „Partei der Arbeiterklasse“. Ihr Organisationsaufbau war streng hierarchisch. Ihr inneres Regulativ hatten Marx und Engels schon 1848 für den „Bund der Kommunisten“ definiert: Demokratischer Zentralismus. Es war ein Prinzip, das auf das Disziplingebot eines verfolgten Geheimbundes zugeschnitten war. Wenn es, wie im Falle der SED, mit sächsisch-preußischer Pingeligkeit angewendet wurde, blieb das Attribut „demo-

241 Dohlus, Horst: Der demokratische Zentralismus – Grundprinzip der Führungstätigkeit der SED bei der Verwirklichung der Beschlüsse des ZK, Berlin (-Ost) 1965; Demokratischer Zentralismus, in: G. König et al. (Hrsg.), Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin (-Ost) 1967, S. 126 f. Art.: Demokratischer Zentralismus, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 3, Leipzig 1972, S. 351 f. Walter Ulbricht (Hrsg.): Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin (-Ost) 1969, S. 223: „Das Leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus ist deshalb die einzig mögliche Gestaltungsweise der ökonomischen Beziehungen der Werktätigen als kollektive Eigentümer der Produktionsmittel“. 242 Eckelmann, Wolfgang / Hertle, Hans-Hermann / Weinert, Rainer: FDGB intern. Innenansichten einer Massenorganisation der SED, Treptow 1990. Wetzker, Konrad et al.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Teil 1. Die SED und ihre „ökonomische Strategie“ in der Nach-Ulbricht-Zeit, Berlin 1990, S. 89: „Das Prinzip des ‚demokratischen Zentralismus kannte in Wahrheit nur die totale Über- und Unterordnung, denen pseudodemokratische Mäntelchen umgehängt wurde. Alle Entscheidungen zur Entwicklung in der Gesellschaft, so auch in der Wirtschaft, wurden in hohem Grade zentralisiert. Die Entscheidungsgewalt selbst gehörte dabei nicht eigentlich der Regierung, in der auch Vertreter der Blockparteien saßen. Alle wesentlichen Fragen wurden im Politbüro oder im Sekretariat des ZK der SED und nicht zuletzt in der von Mittag geleiteten Wirtschaftskommission des ZK entschieden. Als ungeschriebenes Gesetz galt, daß Regierungsbeschlüsse erst mit der Absegnung durch eines der genannten Gremien der Parteiführung ihre endgültige Bestätigung erhielten. Und die Mehrzahl der Regierungsbeschlüsse wurde diesen Gremien noch einmal vorgelegt, während umgekehrt alle Beschlussfassungen der SED-Führung – bis auf parteiinterne Fragen – durch den Ministerrat nachvollzogen werden durften“. 243 Neubert, Ehrhard: Politische Verbrechen in der DDR, in: Courtois, Stéphane et al., Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Mit dem Kapitel „Die Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR“ von Joachim Gauck und Ehrhard Neubert, München 1998, S. 833.

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kratisch“ gewöhnlich auf der Strecke, und der Zentralismus obsiegte mit allen bürokratischen Folgen“.244 In der sozialistischen Gesellschaft wurde sowohl die Gesellschaft als Ganzes als auch jeder einzelne Bereich (Staat, Wirtschaft, Bildungswesen usw.) nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus geleitet. „Der Zentralismus ist darauf gerichtet, Staat und Gesellschaft von einem Zentrum zu beherrschen bzw. zu leiten und zu lenken“.245 Das Zentrum des totalitären SED-Staates war das allmächtige und allgewaltige Politbüro. „Allmächtig bedeutet über alle und alles herrschend, grenzenlos mächtig, omnipotent“ und Allgewalt „unbeschränkte, umfassende, höchste Gewalt“.246 Günter Schabowski, der ab 1981 Mitglied des Zentralkomitees, 1981-84 Kandidat, ab 1984 Mitglied des Politbüros, ab 1986 Sekretär des Zentralkomitees der SED und 1985 bis 8.11.1989 1. Sekretär der SED Bezirksleitung Berlin 247 war, charakterisiert die Machtstrukturen so: „An der Spitze der SED stand das Zentralkomitee. Formell wählte es aus seiner Mitte das Politbüro, das man als eine Art Illuminatenorden bezeichnen könnte. Tatsächlich bestimmte jedoch der Generalsekretär nur seine Protegés zu Mitgliedern des Konsortiums. Er wiederum hatte als oberster Wächter und Richter der ideologischen Reinheit mit Härte und Eindeutigkeit die geschlossene Identität der Partei zu verkörpern. Wenn er auch nur im Ansatz die Bildung von Fraktionen zugelassen hätte, dann hätte er sich als Schwächling disqualifiziert. … Die Beschlüsse des Politbüros galten als direkte, situationsbezogene Weiterentwicklung der kommunistischen Theorie und mussten von allen Parteimitgliedern willig befolgt werden. Es war gegen den kritischen Einspruch von Parteimitgliedern faktisch immun. Jegliches Nachdenken oder Diskutieren über Alternativen, ob von Gruppen oder von Einzelnen, galt als parteiwidrig und wurde als der Versuch gewertet, Plattformen in der Partei aufzubauen, um die Zentralgewalt zu untergraben. Die entsprechenden Etikette lauteten ‚kleinbürgerliche’ oder ‚sozialdemokratische Abweichungen’, ‚Schützenhilfe für den Klassenfeind’ oder ‚Angriffe auf die Einheit und Reinheit der Partei’. Das Politbüro, das aus 26 Mitgliedern und einigen nicht stimmberechtigten Kandidaten, also Beisitzern, bestand, und das ZK, das rund 200 Mitglieder zählte, thronten über dem Parteiapparat. Er umfasste die Parteibürokratie mit der Nomenklatura, den hauptamtlichen Sekretären, Instrukteuren und Mitarbeitern, die allesamt auf die Zentrale eingeschworen waren. Aus den Berufsrevolutionären 244 Schabowski, Günter: Abschied von der Utopie. Die DDR – das deutsche Fiasko des Marxismus, Stuttgart 1994, S. 28. 245 Art.: Zentralismus, in: Meyers Neues Lexikon, Bd. 15, Leipzig 1977, S. 417. 246 Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 30. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache°1. A-F, 1979, S. 107. 247 Wieczorek, Evelyn, in: Jochen Cerný (Hrsg.), Wer war wer – DDR – Ein biographisches Lexikon, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 387. Publikationen: Das Politbüro, Ende eines Mythos. Eine Befragung. Hrsg. von Sieren, F. und Koehne, L., Reinbek 1990. Der Absturz, Berlin 1991. Abschied von der Utopie. Die DDR – das deutsche Fiasko des Marxismus, Stuttgart 1994.

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von einst war eine Beamtenhierarchie geworden, die von den mittleren und kleinen Funktionären Aktivismus, Prinzipientreue und Gläubigkeit einforderte. Ganz unten schließlich bildeten die Parteimitglieder gemäß der von Lenin geforderten Hingabe die ‚Rädchen und Schräubchen’ im großen Mechanismus der Partei. … Die führende Rolle der Partei bestand darin, in erster Linie Sachwalter der Macht zu sein. Zur führenden Rolle der Partei gehörte es, alle Bereiche der Gesellschaft lückenlos zu kontrollieren. Das hieß, dass die Partei mit dem Staatsapparat und der Wirtschaft verflochten war, mit den Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen, aber auch mit der Armee und der Polizei. Überall waren die Mitglieder der Partei eingebaut. Der Sicherheitsapparat wurde ohnehin von Anfang an unmittelbar vom Generalsekretär betreut. So durchdrang der bürokratische Zentralismus den Staatsapparat. Er prägte beispielsweise das Planungssystem und die Kommandostrukturen der Volkswirtschaft, und mit der Konstruktion einer ‚Nationalen Front’ sicherte die SED ihren Einfluss auf die anderen Parteien und auf die Massenorganisationen. Sie verfügte selbst in den Verbandsvorständen der Schriftsteller und Künstler über die Mehrheit. Außerdem steuerte sie mit ihrer Kaderpolitik die Medien. Das Resultat war eine totale Beherrschung von Staat und Gesellschaft durch die Partei. Die vorgeschaltete Optik einer Mehr-ParteienLandschaft konnte das mehr schlecht als recht verschleiern“.248 Die Soziologin Heike Solga analysierte auf der Basis eines klassentheoretischen Ansatzes die der DDR-Gesellschaft innewohnende Widersprüchlichkeit.249 „Ausgangspunkt der Überlegungen zum Klassencharakter staatssozialistischer Gesellschaften ist die Frage nach dem Charakter des gesellschaftlichen Eigentums. Bei näherer Betrachtung dieser Gesellschaften und ihrer Funktionsweise ist festzustellen, daß sich das gesellschaftliche Eigentum nicht als Volkseigentum, sondern als staatliches Eigentum realisierte. Es gehörte ‚denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, denen der Staat gehört. […] Die politische Macht verbindet sich so mit der Macht über den Produktions- und den Verteilungsprozeß’. In diesem Sinne ‚stellte das juristisch-fixierte Volkseigentum nur ein formales Verhältnis dar, das keine konkreten individuellen Verfügungsrechte begründete’. Die tatsächlichen Verfügungsrechte besaß ‚eine politisch weisungsberechtigte Klasse, die im Namen der Gesellschaft faktisch über die Volkswirtschaft verfügte und die Subsistenzmittel der einzelnen Gruppen verteilte’. Die Eigentümerprivilegien dieser Klasse manifestierten sich in dem exklusiven Recht, über die Verteilung des produzierten Nationaleinkommens, die Höhe der Löhne, die wirtschaftliche Entwicklung und schließlich über die Verwendung des staatlichen und weitgehend auch des existierenden Privateigentums entscheiden zu können. ‚Die Liquidierung des Privateigentums und seine Umwandlung in sozialistisches Eigentum stellte daher nichts anderes dar als die Übergabe des gesamten Vermögens eines Landes an die

248 Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren. Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, 2. Aufl., Berlin 2009, S. 84-86. 249 Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995, S. 12.

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herrschende Klasse der Nomenklatura. … Sie ist der kollektive Unternehmer im Realsozialismus’. Definiert man Eigentum als die ‚Fähigkeit, den Zugang zu bestimmten ökonomischen Ressourcen kontrollieren zu können’, dann ist eine wesentliche strukturelle Ursache sozialer Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften in der Entscheidungsmacht über die Verteilung und Nutzung der Produktionsmittel sowie der produzierten Güter und Leistungen zu suchen. Uneingeschränkte Kontrolle, Partizipationsmöglichkeiten an oder Ausschluß von dieser redistributiven Macht (und darüber vermittelt der Zugang zu Teilen des produzierten Reichtums) werden durch den Besitz bzw. Nicht-Besitz an politischer, ökonomischer und/oder technokratischer Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel bestimmt. Technokratische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wird hierbei ebenfalls relevant, da es mit ihrer Hilfe gelingt, sich aufgrund von exklusivem Wissen oder von organisatorischen Befugnissen einen privilegierten Anteil des gesellschaftlichen Reichtums anzueignen. Generell gilt – wie in kapitalistischen Klassengesellschaften – auch hier: Wer entscheidet, was und wie produziert wird, der besitzt auch die Entscheidungsmacht darüber, wie dieser produzierte Reichtum verteilt wird. Aus dem Blickwinkel des Ausbeutungsmechanismus der DDR-Gesellschaft heißt das: Wer politische, ökonomische und/oder technokratische Verfügungsgewalt besaß oder zumindest an ihnen partizipieren konnte, der konnte sich auch einen privilegierten Anteil am produzierten Reichtum aneignen, der damit denjenigen, die weder diese Verfügungsgewalten besaßen noch an ihnen partizipieren konnten, diesen Reichtum jedoch produzierten, verwehrt blieb. Damit gestalteten sich auch in der DDR die Verhältnisse zwischen den Klassen als Beziehungen, in denen das Wohlergehen der einen Klasse in kausalem Zusammenhang zum Schlechtergehen der anderen Klasse(n) stand“.250 Die einzelnen Gruppen werden von Heike Solga so definiert:251 Herrschende Klasse (Ausbeuterklasse) Das Politbüro (Politisches Büro) der SED beschäftigt sich mit allen Grundsatzfragen der Politik, der Partei, der Staatsführung, der Volkswirtschaft und der Kultur. Zur „Parteielite“ (der herrschenden Klasse) gehörten die Angehörigen des Parteiapparates im engeren Sinne Sekretäre, Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees der SED, Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, Leiter der Abteilungen des ZK der SED, erste Sekretäre der SED-Bezirksleitungen sowie die Mit-

250 Solga, Heike: Klassenlagen und soziale Ungleichheit in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8. November 1996, S. 19 f. 251 Ebd., S. 22.

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glieder der obersten Führungsgremien der parteiabhängigen Massenorganisationen.252 In der Position der „Administrativen Dienstklasse des staatssozialistischen Planungssystems“ befanden sich die Nomenklaturkader der administrativen Ebene des Planungssystems (Volkskammer, Staatsrat, Ministerrat, Staatliche Plankommission, Kombinatsleitungen, Militär, Staatssicherheit, obere Führungsgremien der Partei, Blockparteien und Massenorganisationen, Führungsebenen der wissenschaftlichen Institute des ZK sowie der Akademie der Wissenschaften). Zur „Operativen Dienstklasse“ zählten alle Kader der mittleren Führungsebene. Intelligenz Intelligenz ist „die Gesamtheit der Geistesschaffenden (Wissenschaftler, Ärzte, Lehrer, Künstler, Ingenieure, Techniker usw.), die soziale Schicht derjenigen Menschen, die sich berufsmäßig mit geistiger Arbeit befassen. Diese bilden in keiner Gesellschaftsordnung eine besondere Klasse, weil sie keine selbständige Stellung in der Produktionsweise einnehmen und sich aus verschiedenen Klassen und Schichten zusammensetzen. […] Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik vergrößert die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung der Intelligenz. […] Das sich schon im Kapitalismus entwickelnde Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Intelligenz wird in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus gefestigt. Die Arbeiterklasse vernichtet mit der Errichtung ihrer politischen Herrschaft und Schaffung der neuen sozialistischen Produktionsverhältnisse alle objektiven Grundlagen, die die Intelligenz mit der Bourgeoisie verbanden. Durch die Heranziehung der alten, im Kapitalismus herangewachsenen und ausgebildeten Intelligenz zur Mitarbeit am sozialistischen Aufbau sowie durch die Heranbildung einer neuen Intelligenz, die sich vorwiegend aus Angehörigen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft zusammensetzt, wandelt sich das soziale Antlitz der Intelligenz. Die Intelligenz als Ganzes wird nach und nach zu einer sozialen Schicht, die ausschließlich den Interessen des Volkes dient und gemeinsam mit der Arbeiterklasse und der Klasse der Genossenschaftsbauern unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei für den Sozialismus und Kommunismus arbeitet“.253 Klasse „Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der Klassen ist ihr Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion und das dadurch gegebene Verhältnis zu den Produktionsmitteln“.254

252 Schneider, Eberhard: Die politische Funktionselite der DDR. Eine empirische Studie der SED-Nomenklatura, Opladen 1994, S. 121. 253 Klaus, Georg / Buhr, Manfred (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1965, S. 261. 254 Ebd., S. 275.

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Schicht „Menschengruppe, die sich von den Klassen dadurch unterscheidet, daß sie in bezug auf ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln nicht homogen ist. Den Angehörigen der sozialen Schicht ist die Art und Weise, die Arbeit auszutauschen und Einkünfte zu erlangen, gemeinsam. Da sie sich aus verschiedenen Klassen rekrutieren, spielen die sozialen Schichten in der Geschichte keine selbständige Rolle. Nur im Zusammenhang, im Bündnis mit einer der Grundklassen können sie als gesellschaftliche Kraft wirken. Die wichtigste soziale Schicht ist im Kapitalismus wie im Sozialismus die Intelligenz. In der bürgerlichen Soziologie wird der Begriff ‚Schicht‘ subjektiviert und gegen den marxistisch-leninistischen Begriff der Klasse ausgespielt. Die bürgerliche Soziologie bestimmt die Struktur der Gesellschaft nicht auf ihren objektiven Klasseninhalt hin, sondern teilt sie in beliebige Schichten ein, und zwar nach einem sog. typischen Status ihrer Mitglieder. Der Begriff ‚Status‘ umfaßt Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glücksmöglichkeit, Privilegien, Rang, Ansehen usw.“.255 Beherrschte Klasse (Ausgebeutete Klasse) Zur „sozialistischen Arbeiterklasse“ gehörten die Facharbeiter, die qualifizierten Angestellten sowie die Arbeiter und Angestellten mit un- und angelernten Tätigkeiten. Ihr einziges Recht – und ihre zugleich unabdingbare Pflicht – bestand darin, die Produktionsmittel durch ihre Arbeit zu nutzen und den Hauptteil des gesellschaftlichen Reichtums zu produzieren. Aufgrund der starken Monopolisierungstendenzen von politischer, ökonomischer und technokratischer Macht war diese breite Gruppe der Bevölkerung von jeglicher Verfügungsgewalt ausgeschlossen und in diesem Sinne durch ein homogenes Verhältnis zu den anderen Klassen gekennzeichnet, obwohl sie in bezug auf Qualifikation und Arbeitsinhalte recht heterogen gewesen ist. Zur „Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums“ gehörten die Vorsitzenden von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) sowie von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH). Aufgrund ihres Eingebundenseins in den staatlichen Planungsprozeß besaßen sie gegenüber den anderen Genossenschaftsmitgliedern privilegierende Organisationsbefugnisse. Die „PGH-Handwerksmeister“ waren gekennzeichnet durch Reste an ökonomischer und technokratischer Verfügungsgewalt. Zu den „Genossenschaftsbauern“ zählten alle Mitglieder in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Das von den Genossenschaftsbauern eingebrachte Land blieb rein formal ihr persönliches Eigentum. Damit verblieb ihnen ein Teil der ökonomischen Verfügungsgewalt über ihre Produktionsmittel,

255 Ebd., S. 497.

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die jedoch durch staatliche Regulierungsmechanismen stark eingeschränkt wurde.256 Die antagonistische staatssozialistische Drei-Klassen-Struktur der DDR-Gesellschaft wird anhand einer Modellkonstruktion dargestellt. Modellkonstruktionen sind „nicht die Wirklichkeit selbst, sondern nur ein Hilfsmittel zur Erfassung der Wirklichkeit“.257 Die antagonistische staatssozialistische Drei-Klassen-Struktur der DDR-Gesellschaft 258

Entwurf: Jürgen Schneider, Altdorf bei Nürnberg, 2012.

256 Klasse der Genossenschaftsbauern, in: Buhr, Manfred / Kosing, Alfred (Hrsg.): Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, Berlin (-Ost) 1974, S. 155. 257 Schneider, Erich: Einführung in die Wirtschaftstheorie. IV. Teil. Ausgewählte Kapitel der Geschichte der Wirtschaftstheorie, 1. Bd., Tübingen 1962, S. 7. 258 Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995.

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Der Klassencharakter der DDR-Gesellschaft definiert sich durch „bürokratische Herrschaftsmacht plus Verfügung über Produktionsmittel und den Ausschluß der anderen Klassen davon“.259 „Die Trennung von (juristisch fixiertem) Eigentum und tatsächlicher Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ist die Ursache für die Entstehung von verschiedenen Klassen im realen Sozialismus. Diese Trennung erzeugt die Demarkationslinien zwischen Leitung versus Ausführung, Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen versus Befehlsempfang, Zugang zu knappen Gütern und Informationen versus Konsum- und Informationsdefizite“.260 Der kollektive Besitzer des sozialistischen Volkseigentums in der DDR war die SED-Parteielite, deren Verhältnis zu den Produktionsmitteln genau dem des Eigentumsverhältnisses entsprach. Nach mehreren Verstaatlichungswellen (194549, 1953/54 und 1972) war der SED-Staat „faktisch Alleineigentümer der vermittels des Rechtsinstituts des sozialistischen Eigentums und seiner unterschiedlichen Ausprägungen vermutlich mehr als 90 % des DDR-Vermögens gehörten. … Außer einer geringeren Staatsquote von 40 % im Handwerk gehörten dem Staat 90 % der Landwirtschaft überwiegend in der Form ‚genossenschaftlichen Ge259 Solga, Heike: Klassenlagen und soziale Ungleichheit in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8. November 1996, S. 20; Wilke, Manfred: Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945. Zur Einführung, in: Manfred Wilke (Hrsg.): Autonomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998, S. 13-15: „Die Parteizentralen der kommunistischen Parteien des sowjetischen Imperiums betrieben konsequent die Gewaltenkonzentration und nutzten den Staat als wichtigstes Instrument, um zu einer totalitären und durch Kader organisierten Lenkung und Kontrolle aller gesellschaftlichen Lebensbereiche der ihnen unterworfenen Menschen im Namen des Sozialismus zu gelangen. In dieser Gesellschaftsordnung besaß die individuelle Selbstbestimmung ebenso wenig Bedeutung wie das kollektive Recht von Berufsgruppen. Zutreffend und ungeniert benutzte die Parteipropaganda den Terminus von „unseren Menschen“. – Dieses Verständnis von der Struktur und dem totalitären Charakter der kommunistischen Parteiherrschaft basiert auf den Ergebnissen einer realistischen Kommunismusforschung. … Die Parteielite war gleichzeitig die Machtelite, die alle staatlichen Entscheidungen traf und deren Mitglieder eine Kumulation von Ämtern betrieben. Da diese Machtelite über den Staat verfügte, bestimmte sie gleichzeitig über die verstaatlichten Produktionsmittel, entschied über die Investitionen, die Produktion und Verteilung der Konsumgüter sowie über den Anteil der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen am Volkseinkommen. Die Machtelite entschied eigenmächtig, und sie war frei von jeder Kontrolle von seiten der ihr unterworfenen Bevölkerung, einschließlich der einfachen Parteimitglieder. 260 Solga, Heike: Auf dem Weg, S. 48. Djilas, Milovan: Die Neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1958, S. 63, 73 f.: „Das sogenannte sozialistische Eigentum ist ein Vorwand für die wirkliche Ausübung des Eigentumsrechts durch die politische Bürokratie. … Die Begründer der neuen Klasse sind nicht in der Partei bolschewistischen Musters als Ganzes zu suchen, sondern in der Schicht von Berufsrevolutionären, die ihren Kern bildeten, bevor sie zur Macht gelangte“. Kloepfer, Michael: Öffentlich-rechtliche Vorgaben für die Treuhandanstalt, in: Fischer, Wolfram et al. (Hrsg.), Treuhandanstalt, S. 48: „Der Staat als Instrument des Volkes übte die oberste Verfügungsgewalt über das Volkseigentum aus und war dadurch Träger des Eigentumsrechts des Volkes an den Produktionsmitteln“.

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meineigentums’, 98 % der Industrie und des Kommunikationssektors, 95 % des Dienstleistungssektors, 91 % des Baugewerbes und 89 % des Einzelhandels“.261 Helmut Gollwitzer schrieb zur Frage der Konfiskation des Privateigentums: „Die Sozialisierung der Produktionsmittel bringt nichts als eine Verlagerung der Macht. Sie erhöht noch die Gefahr unbegrenzter und unkontrollierter Machtkonzentration. Entscheidend sind in der Zukunft wie in der Vergangenheit die Menschen. Das Sowjetsystem leistet nichts von dem, was Lenin sich von ihm versprach, es macht durch seine ökonomischen Veränderungen die Menschen nicht frei von sich selbst, es drängt sie nicht zu uneigennützigem Denken, es schützt sie nicht vor den Versuchungen der Macht, sondern liefert sie ihnen gerade aus“.262 Der Soziologe Theodor Geiger (1891-1952) hatte schon 1949 festgestellt, „daß diejenigen, welche über die Produktionsmittel disponieren und den Zugang anderer zu ihnen kontrollieren, die herrschende Gesellschaftsschicht sind, muß wohl zugegeben werden“.263 Die beherrschte Klasse produzierte im realen Sozialismus der DDR einen Mehrwert. „Das Mehrprodukt (oder der Mehrwert) ist die Differenz zwischen dem Wert des Produktes, das im Verlauf des Prozesses der materiellen Herstellung entstanden ist, und den Ausgaben, die für seine Herstellung notwendig sind (einschließlich Lohnkosten, des Wertes der verbrauchten Rohstoffe, der Amortisation der Werkzeuge, usw.)“.264 Die SED-Parteielite erhielt den Mehrwert ganz und ungeteilt und konnte dann ganz und ungeteilt nach Gutdünken über den gesamten Mehrwert verfügen, da sie über ein Produktions- und Verteilungsmonopol verfügte. Sie war die Ausbeuterklasse in der DDR-Gesellschaft. Die wissenschaftliche Betriebswirtschaftslehre, die auf der Basis einer Marktwirtschaft entstanden war, wurde in der SBZ 1948/49 liquidiert. Es entstand ein Vakuum, dessen „Ausfüllung war von Staats wegen schon vorsorglich jüngeren Kräften, meist noch in der Position eines wissenschaftlichen Assistenten übertragen worden. Diese sind nun bei dem Versuch, die marxistisch-sowjetische Theorie und Ideologie auf den – sozialisierten! – deutschen Betrieb zu projizieren“.265 Dabei wurden zunächst rein technische Probleme aufgegriffen und „ideologisiert“. 261 Heimann, Christian: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989, Frankfurt am Main 1997, S. 14. 262 Gollwitzer, Helmut: … und führen, wohin du nicht willst. München (1951), S. 177. 263 Geiger, Theodor: Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln und Hagen 1949, S. 213. 264 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, 3. Aufl., 1985, S. 233. 265 Hasenack, W. / Oertel, R.: Die geistige Lage und die fachliche Problematik der OstzonenBetriebswirtschaftslehre, in: Neue Betriebswirtschaft. Beilage 7 zum Betriebs-Berater, Heft°28, 10. Okt. 1951, S. 97-100. Wieder abgedruckt in: Schneider, Jürgen: „Marxistischleninistische Wirtschaftswissenschaften“ nach sowjetischem Modell an den Hochschulen der SBZ/DDR: Legitimation und Propaganda für die Parteitage der SED, in: Gerhard, HansJürgen (Hrsg.), Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65.°Geburtstag, Bd. 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 260 f.

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„So z. B., wenn Wolf und Überück266 den Versuch machten, den alten Industrie-Kontenrahmen marxistisch umzugestalten. Daß dieser kontenplantechnisch sauber durchgeführte Versuch vor den höchsten Instanzen auf die Dauer keine Gnade fand, liegt vielleicht daran, daß bei diesem Kontenrahmen (vgl. Oertel, Marxismus und Kontenrahmen, BFuP 1950, S. 422/25) der ‚Mehrwert’ im Marx’schen Sinne kontenklassenmäßig isoliert wurde. Bei der Anwendung mußte sich ergeben, daß auch im System der ‚volkseigenen’ Wirtschaft dem Arbeiter ein beachtlicher ‚Mehrwert’ entzogen wird; allerdings wird er jetzt nicht vom Unternehmer ‚appropriiert’, sondern von anderen ‚Expropriateuren’. Ein so intensives Hineinleuchten in die tatsächlichen Verhältnisse aber, in einer nicht zielbewußt auch auf politische Propaganda abgestellten Weise, war nicht das eigentliche Anliegen der politischen Kräfte, die nunmehr auch den Inhalt, die Anwendungsweise und die Folgeerscheinungen der ökonomisch-theoretischen Arbeit an den Hochschulen und des rechnungstechnischen Instrumentariums in der Praxis kontrollierten und, wenn notwendig, als Abweichungen von der (Moskauer) ‚Linie’ verurteilten. Jedenfalls sind, teilweise mit innerer Überzeugung, wissenschaftliche Nachwuchskräfte in das Lager der marxistischen Ideologie übergegangen“. 267 Die „anderen Expropriateure“ war die Herrschende Klasse, die Ausbeuter Klasse, die Parteielite der SED. „Kein Mitglied der sozialistischen Gesellschaft hat das Recht, besondere Privilegien aus dem Volkseigentum abzuleiten“.268 Die sozialistische Realität sah für die SED-Parteielite anders aus. Alle Privilegien der SED-Parteielite beruhten auf der Aneignung des durch die ausgebeutete Klasse erzeugten Mehrwertes. Die Privilegien der herrschenden SED-Klasse sind nach Winiecki der Grund dafür, das bestehende System aufrecht zu erhalten, obwohl die sozialistische Zentralplanwirtschaft gesamtwirtschaftlich ineffizient war. Winiecki erklärte dies mit Hilfe des Property-Rights-Ansatzes („VerfügungsHandlungsrechte“) 269 von D. C. North.270 „Nach Winiecki lag es in den sozialis-

266 Wolf, Herbert und Überück, Horst, Dipl.-Kfm.: Zur Gestaltung des Rechnungswesens. Sonderheft im Rahmen der Schriftenreihe „Die Finanzwirtschaft der volkseigenen Betriebe“ der Deutschen Finanzwirtschaft. Berlin (-Ost) 1950. Bei Herbert Wolf handelt es sich um den am 3.5.1925 geborenen Stellvertretenden Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission. Wolf war von 1949-1952 Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Finanzwirtschaft bzw. der KMU Leipzig. Müller-Enbergs, Helmut: Wolf, Herbert, geb. 3.5.1925, in: MüllerEnbergs, Helmut et al. (Hrsg.), Wer war wer in der DDR?, S. 934. 267 Schneider, Jürgen: Marxistisch-leninistische Wirtschaftswissenschaften, S. 261. 268 Winiecki, J.: Resistance to Change in the Soviet Economic System. A Property Rights Approach, London/New York, 1991. Die Ausführungen von Winiecki gelten auch für die DDR. 269 Heimann, Christian: Textilindustrie, S. 13 ff.: „Die zentralverwaltungswirtschaftliche Property-Rights Struktur der DDR“, besonders „Verfassungsrechtliche und faktische PropertyRights-Struktur der DDR“ (S. 14). 270 North, D. C.: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988. North dürfte von James Burnham: The Managerial Revolution, New York

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tischen Staaten im Interesse der dort mächtigen Gruppen, am ineffizienten Wirtschaftssystem festzuhalten, weil sie aufgrund der Property-Rights-Struktur in den Genuß beträchtlicher Renten gelangten, die bei einem Übergang zur Marktwirtschaft verlorengegangen wären. Parteifunktionäre und Verwaltungsbeamte wurden durch die Property-Rights-Struktur besonders begünstigt. Sie erhielten relativ hohe Gehälter und wurden bei der Zuteilung knapper Güter bevorzugt. Außerdem besaßen sie die Chance, auf höhere Posten in der Partei, der Staatsverwaltung oder in der Führung der Staatsbetriebe berufen zu werden. Daher lag es in ihrem Interesse, das bestehende System aufrecht zu erhalten. … Auch die Manager der Staatsbetriebe gehörten zur herrschenden Schicht“.271 Die Neue Institutionenökonomik272 kann damit dazu beitragen, den langen Bestand der Zentralplanwirtschaft in der DDR und ihre Reformunfähigkeit zu erklären.

1939, angeregt worden sein. Burnham betonte, daß in der Aktiengesellschaft Kapital (Aktionäre) und Verfügung darüber durch Manager getrennt seien. 271 Feldmann, Horst: Transformation von Wirtschaftssystemen: Neue Institutionenökonomik als Analyseinstrument, in: Dieter Cassel (Hrsg.), Perspektiven der Systemforschung, Berlin 1999, S. 187. 272 Leschke, Martin: Institutionenökonomik, in: Hasse, Rolf H. et al. (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik von A bis Z. 2. Aufl., Paderborn 2005, S. 263. „Die Institutionenökonomik beschäftigt sich mit der Rolle von Institutionen als Beschränkungen menschlichen Handelns. Unter Institutionen werden Langfristverträge, Organisationen, formelle Regeln wie Gesetze und Verfassungsregeln, aber auch informelle, nicht-form-gebundene Regeln wie Moral, Sitten und Gebräuche verstanden. … Innerhalb der Neuen Institutionenökonomik existieren verschiedene Forschungsgebiete, von denen die Prinzipal-AgentTheorie, die Governance-Kosten-Theorie, die Property-Rights-Theorie einschließlich der Analyse des Rechts, die Public-Choice-Theorie und die Konstitutionenökonomie sowie die institutionenorientierte Wirtschaftsgeschichte die bedeutendsten sind“. Dazu: Erlei, M. / Leschke, M. / Sauerland, D.: Neue Institutionenökonomik, Stuttgart. Richter, R. / Furubotn, E.: Neue Institutionenökonomik, 3. Aufl., Tübingen 2003. Leipold, Helmut: Wirtschafts- und Gesellschaftssystem im Vergleich, 5. Aufl., 1988, S. 20 ff. Die Theorie der Property Rights.

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12. Das Kadernomenklatursystem und die Rekrutierung des Leitungspersonals in der DDR-Wirtschaft Von Axel Salheiser Einleitung: Mit der Etablierung einer diktatorischen Herrschaftsordnung ergab sich für die DDR die dauerhafte Herausforderung an eine planmäßige und gezielte Entwicklung loyaler sowie fachlich kompetenter Funktionseliten in allen Gesellschaftsbereichen. Die Staats- und Parteiführung verfolgte damit in erster Linie ein Prinzip der „personellen Absicherung von Herrschaftsinteressen“.273 Es mussten allerdings auch demographische Entwicklungen berücksichtigt, der Allokationsund Qualifizierungsbedarf von Leitungspersonal antizipiert werden. Die Besetzung der wichtigen Funktionen wurde deshalb in den Nomenklaturen, von den Kaderabteilungen geführten, hierarchisch gegliederten „Personal-Stellen-Listen“274 überwacht. Diese zentrale Kaderplanung und -kontrolle wurde als perfektionistisches System „Orwell‘scher Dimensionen“275 beschrieben; Wagner276 nannte sie „Planwirtschaft mit Menschen“. Die sozialistische Kaderpolitik und ihre Umsetzung durch die gezielte Kaderarbeit auf nationalen, regionalen und lokalen Ebenen führten allerdings auch zu unintendierten Folgen. Teilweise erwiesen sie sich gar als ungeeignet, nicht erwünschten sozialstrukturellen Veränderungen wirksam zu begegnen. Dieser Beitrag diskutiert das Kadernomenklatursystem und die Rekrutierung des Leitungspersonals im produzierenden Sektor der DDR-Wirtschaft aus eliten- und industriesoziologischer Sicht.277 Das Kaderprinzip: Die Kader der zentralgeleiteten Industrie der DDR wurden als Staatliche Leiter auf ihre Positionen berufen, um im Vollzug des betrieblichen Alltagshandelns die Aufgaben der sozialistischen Volkswirtschaft zu erfüllen, wie sie im Volkswirtschaftsplan formuliert und kodifiziert wurden, und damit den Beschlüssen der SED Folge zu leisten.278 Im „Auftrag der Arbeiterklasse“ agierend, waren sie, ungeachtet ihrer ursprünglichen Herkunft aus sozialer Klasse und 273 Brandt, Hans-Jürgen / Dinges, Martin: Kaderpolitik und Kaderarbeit in den „bürgerlichen“ Parteien und den Massenorganisationen in der DDR. Berlin1984. 274 Welzel, Christian: Demokratischer Elitenwandel. Die Erneuerung der ostdeutschen Elite aus demokratie-soziologischer Sicht. Opladen 1997, S.73. 275 Brandt, Hans-Jürgen / Dinges, Martin: Kaderpolitik, S. 33. 276 Wagner, Matthias: Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR. Berlin 1998. Ders.: Das Kadernomenklatursystem – Ausdruck der führenden Rolle der SED. In: Hornbostel, Stefan (Hrsg.): Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, Opladen 1999, S. 45-58. 277 Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung von Auszügen aus Salheiser, Axel: Parteitreu, plangemäß, professionell? Rekrutierungsmuster und Karriereverläufe von DDR-Industriekadern. Wiesbaden 2009. 278 Marx und Engels sahen in ihrer ursprünglichen Vision sozialistischer Produktionsverhältnisse die Leitung der Betriebe nicht durch (einzelne) staatliche Funktionäre, sondern durch Arbeiterausschüsse vor. (Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entläßt ihre Kinder. Köln: 1990, S. 604.)

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Schicht, letzten Endes doch der Arbeiterklasse entrückt. Als Angehörige einer Elite (obgleich i. d. R. ohne elitäres Selbstverständnis)279 waren sie in gesellschaftliche Entscheidungsstrukturen eingebunden und an der Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Ressourcen unterschiedlicher Art zumindest in Stellvertretung beteiligt. Und je höher die Position in der Kadernomenklatur, desto höher waren auch in der DDR finanzielles Einkommen, der allgemeine Lebensstandard sowie die Zugangschancen zu exklusiven kulturellen und sonstigen Leistungen des Gesellschaftsbetriebs. Anstelle einer Verwirklichung des traditionellen sozialegalitären Programms der sozialistischen Bewegung spiegelte sich darin eine rigide Statusordnung, die letztendliche Zementierung sozialer Ungleichheit im Realsozialismus auf recht markante Weise wider. Diese Ungleichheit hatte spürbare Ausformungen im Alltag, die sich nicht auf Fälle des Amtsmissbrauchs oder der Korruption von Spitzenfunktionären reduzieren lassen, sondern die sozialstrukturellen Unterschiede setzten angesichts der Versorgungsproblematik schon spürbar auf unteren Ebenen ein. Der Zugang zu dabei nützlichen formellen wie informellen Netzwerken war an die Positionierung in der Hierarchie gebunden. Neben der Kompensation von Systemmängeln fand in und mit diesen Beziehungsnetzwerken auch eine Integration der Akteure in das System selbst statt. Das Kadernomenklatursystem280 und das Leitungsprinzip des so genannten demokratischen Zentralismus in Kombinat und Betrieb waren jedoch auch die Institutionen, mit welchen die Handlungsautonomie der Kader in entscheidendem Maße restringiert wurde, die sie zur Loyalität gegenüber Staat und Partei verpflichtete und ihre persönliche Verantwortung einforderte, was mitunter durch die subjektivistische Fehlerattribution von Seiten der Partei und anderer übergeordneter Stellen auch rasch äußerst unangenehme individuelle Konsequenzen für den Leiter mit sich bringen konnte. Als Nomenklaturkader einerseits definitionsgemäß den Parteibeschlüssen verpflichtet und – auch ohne SED-Parteibuch – der Kontrolle durch die Partei und deren Planungsinstanzen unterworfen, waren die Industriekader der unteren, mittleren 279 Hübner, Peter: Durch Planung zur Improvisation: Zur Geschichte des Leitungspersonals in der staatlichen Industrie der DDR. In: Archiv für Sozialgeschichte, H. 39, 1999, S. 197-233. Ders.: Einleitung. Antielitäre Eliten. In: Ders. (Hrsg.): Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR. Köln / Weimar / Wien 1999, S. 9-36. Nick schreibt von Generaldirektoren, die „sich wie Arbeiter fühlten“ (Nick, Harry: Gemeinwesen DDR. Erinnerungen und Überlegungen eines Politökonomen. Hamburg 2003). Vor allem handelt es sich auch um ein Problem der ideologischen Rhetorik: Kader galten nach marxistischen Duktus als „Avantgarde“, nicht als Elite. „In der DDR war der Begriff der Elite bis zu den achtziger Jahren negativ besetzt oder sogar tabuisiert. ‚Elite‘ wurde als ‚bürgerliches‘ Konzept bezeichnet“ (Bauerkämper, Arnd: Die tabuisierte Elite. Problembereiche, Fragen und Hypothesen der historischen Forschung über Führungsgruppen der DDR. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, H. 9, 1997, S. 21.) 280 Zum Kadersystem: Zimmermann, Hartmut: Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ / DDR. In: Kaelble, Hartmut / Kocka, Jürgen / Zwahr, Hartmut (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 322–356. König, Klaus (Hrsg.): Verwaltungsstrukturen der DDR. Baden-Baden 1991.

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und oberen Ebene andererseits jedoch auch mit den funktionalen Anforderungen ihres konkreten Wirkungsfeldes im Kombinat und Betrieb konfrontiert. Das waren Handlungsbedingungen, die ein Abweichen von den zentralistischen Planvorgaben oft unumgänglich machten.281 Die Entscheidungen entsprachen teilweise völlig anderen Notwendigkeiten, als es die SED oder die von der SED eingesetzten Steuerungsinstitutionen vorsahen. Der Konflikt zwischen (Plan-)Soll und Ist in der Ökonomie, im betrieblichen Alltag, im Kaderhandeln fand somit auch sein psychosoziales Korrelat in der impliziten Forderung, ein Kader müsse gewissermaßen Diener zweier Herren sein – denn vieles, was nach wirtschaftlichem Rationalitätskalkül geboten war und die konkrete Situation erzwang, wurde von politischer Seite nicht gewünscht und vice versa. Dies geht auch aus biographischen Interviews mit ehemaligen Leitungskadern hervor.282 Wirtschaftspolitik und zentralistische Herrschaft: Seit den sechziger Jahren wurde im Zusammenhang mit der verkündeten „wissenschaftlich-technischen Revolution“283 (WTR) zunehmend die Qualifikation der Mitarbeiter und vor allem des Leitungspersonals als Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg und damit als „Triebkraft“ des gesellschaftlichen Fortschritts erkannt.284 Der Technik- und Wissenschaftsdiskurs zur WTR war hochgradig ideologisiert und fand im direkten Kontext des Wettstreits der Systeme statt.285 Tendenziell begünstigte die WTR jedoch eine Pragmatisierung der Kaderpolitik, die stärkere Betonung von Fachlichkeit und Expertentum gegenüber Aspekten der reinen Loyalitäts- und Herrschaftssicherung. Die Technikwissenschaften wurden zum zahlenmäßig wichtigsten Ausbildungszweig an den Hochschulen und Fachschulen der DDR. Der Anteil der Hochschulabsolventen an der Gesamtbeschäftigtenzahl wurde zwischen 1955 und 1975 vervierfacht.286 An Schlagworten wie dem der „Verwissenschaftlichung der Leitung“ ist ersichtlich, dass sich die Debatte um veränderte Kaderanforderungen und veränderte Kaderpolitik ausdrücklich auf Aspekte der Professionalisierung (Kompetenz- und 281 Lepsius, M. Rainer: Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre in der Ära Honecker. In: Pirker, Theo / Ders. / Weinert, Rainer / Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 347-362. 282 Zum Beispiel in Ansorg, Leonore: ‘Ick hab immer von unten Druck gekriegt und von oben’. Weibliche Leitungskader und Arbeiterinnen in einem DDR-Textilbetrieb. Eine Studie zum Innenleben der DDR-Industrie. In: Archiv für Sozialgeschichte, 39 / 1999, S. 123-165. 283 Hager, Kurt: Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution Berlin 1972. Haase, Herwig E.: Das Wirtschaftssystem der DDR. Eine Einführung, 2. überarbeitete Auflage. Berlin 1990, S.240. 284 Glaeßner, Gert-Joachim / Rudolph, Irmhild: Macht durch Wissen. Zum Zusammenhang von Bildungspolitik, Bildungssystem und Kaderqualifizierung in der DDR. Opladen 1978, S. 134 f. 285 Meier, Klaus: Auf Kosten der Zukunft. Zur Überalterung der Forschungstechnik und ihren Folgen. In: Meyer, Hansgünter (Hrsg.): Intelligenz, Wissenschaft und Forschung in der DDR. Berlin / New York 1990, S. 115. 286 Thomas, Rüdiger: Aspekte des sozialen Wandels in der DDR. In: Timmermann, Heiner (Hrsg.): Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR. Saarbrücken 1988, S. 39.

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Performanzkriterien) bezog, auch wenn sie innerhalb der üblichen Sprachkonventionen der sozialistischen Gesellschaftswissenschaften geführt wurde.287 Die ausgeprägte Ingenieurskultur in den Kombinaten und Betrieben stand mit ihrer technokratischen Orientierung im prinzipiellen Konflikt zur politischen Durchherrschung, dem Herrschaftsanspruch der SED. Die SED legte deswegen größten Wert darauf, selbst die Leitung der Volkswirtschaft maßgeblich zu bestimmen und auch auf unteren Ebenen einzugreifen. Bei Günter Mittag als dem Sekretär für Wirtschaft des ZK lag die zentrale Steuerungskompetenz, seine Entscheidungen waren für die Industrieministerien verbindlich.288 Die Wirtschaftsabteilungen des Sekretariats des ZK korrespondierten unmittelbar mit den Kombinaten (Vorgaben, Richtlinien, Berichtswesen) oder übermittelten Anweisungen an die Industrieministerien. Anlässlich zentraler Leitertagungen wie den „Leipziger Seminaren“ wurden die Generaldirektoren auf die Linie der SED-Wirtschaftsführung eingeschworen.289 Dabei duldete Mittag keinen Widerspruch. Die Generaldirektoren führten die Kombinate nach dem „Prinzip der Einzelleitung bei kollektiver Beratung der Grundfragen“ und sollten, so die ausdrückliche Formulierung, der Verwirklichung von ZK-Beschlüssen verpflichtet sein.290 Stets wurde die persönliche Verantwortung gegenüber der SED betont: „Der Generaldirektor eines Kombinates ist und bleibt in erster Linie politischer Funktionär [...]“.291 Die Partei zeigte außerdem mittels ihrer Funktionäre in den Grundorganisationen „vor Ort“ Präsenz.292 Der „demokratische Zentralismus in der Wirtschaftsführung“ 287 Schaefer / Wahse diskutieren ein „höheres Anforderungsniveau an Kenntnissen und Fähigkeiten“, Bohring / Ladensack die Bedeutung der Qualifikation für „den Erfolg der Leitungstätigkeit“. Schaefer, Reinhard / Wahse, Jürgen: Zum Einfluß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die Struktur der Arbeitskräfte und ihre Qualifikation. In: Wirtschaftswissenschaft, 34. Jg., 1986, H. 8, S. 1135. Bohring, Günther / Ladensack, Klaus: Leiter und Leiterverhalten. Berlin (-Ost): Dietz 1980/1981, S. 146. 288 Lepsius, M. Rainer: Wirtschaftliche Entscheidungsstrukturen der DDR in den achtziger Jahren: der „Bereich Mittag“ im Zentralkomitee der SED. In: Esser, Hartmut (Hrsg.): Der Wandel nach der Wende. Wiesbaden 2000, S. 31. 289 Roesler, Jörg: Die Stunde der Generaldirektoren? Ein zu Unrecht vergessenes Moment der „Wende in der Wirtschaft“. In: Deutschland Archiv, 38. Jg., 2005, H. 3, S. 444. 290 Krömke, Klaus / Friedrich, Gerd: Kombinate – Rückgrat sozialistischer Planwirtschaft. Berlin 1987, S. 32. 291 Ebd., S. 33. „Aus Sicht der SED war die Koppelung von beruflicher Karriere und politischer Bindung ein geeignetes Mittel zur Konfliktminimierung und -vermeidung: Auf diese Weise konnte sie die betrieblichen Leitungskader nicht nur über die staatliche Planungsbürokratie, sondern gleichzeitig über die Parteiinstitutionen kontrollieren und gegebenenfalls per Parteibeschluss zusätzlich in die Pflicht nehmen. Die ‚Parteidisziplin‘ griff in der DDR eben gerade auch, wenn es um unmittelbare Produktionsaufgaben ging“ (Ansorg: ‚Ick hab immer […]‘, S. 144). 292 Die Rolle der Betriebsparteileitungen diskutiert u. a. Reichel, Thomas: Die „durchherrschte Arbeitsgesellschaft“. Zu den Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnissen in DDR-Betrieben. In: Renate Hürtgen / Ders. (Hrsg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 85-110.

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der SED wirkt im Rückblick seltsam pedantisch und detailverliebt. Besonders beim Studium der Akten des Büros Günter Mittag im Sekretariat des ZK der SED drängt sich der Verdacht auf, dass der Apparat aus paranoider Angst vor dem Kontrollverlust den Blick für das Wesentliche verloren hatte. So stellte sich die zentrale Steuerung und Kontrolle der Planwirtschaft als ein Problem der bürokratischen Organisation dar: Wer über alles entscheiden und das letzte Wort haben will, muss sich auch mit allem befassen, ungeachtet dessen, wie irrelevant es erscheint. Anstatt sich auf eine „Leitlinienkompetenz“ zu beschränken, griffen die Wirtschaftsabteilungen des ZK mit Mittag an der Spitze konkret in den betrieblichen Alltag der Kombinate ein und vervielfachten damit den ohnehin ineffektiven bürokratischen Aufwand der Industrieministerien. Somit wurde auch das Delegationsprinzip des Kadersystems unterlaufen: Anstatt den eingesetzten Kombinats- und Betriebsdirektoren umfängliche Entscheidungsbefugnis zu gewähren, wurden diese oftmals zu bloßen Befehlsempfängern degradiert. Leitungshierarchie und betrieblicher Alltag in den Kombinaten: Der sozialistische Betrieb mit seinen charakteristischen Ausformungen und Sonderentwicklungen war eine markante Schnittstelle im widersprüchlichen Institutionengefüge der DDR-Gesellschaft. Dies trat insbesondere da zutage, wo Planvorschriften und harte Realitäten des ökonomischen Alltagschaos aufeinander prallten. Für die SED stand fest: „Die Erfüllung staatlicher Planaufgaben war in erster Linie eine politische Aufgabe“.293 Dabei bedurfte es von Seiten der Generaldirektoren auch eines besonderen Verhandlungsgeschickes – der Plan war Gegenstand eines Aushandlungsprozesses, bei dem es galt, die Position des Kombinates bzw. Betriebes zu verteidigen und im

293 Ansorg: ‚Ick hab immer[…]‘, S. 144. Den Zwiespalt der Generaldirektoren zwischen Politik und Ökonomie verkörperte wohl Carl-Zeiss-Generaldirektor Wolfgang Biermann in Jena wie kein anderer (Remy, Dietmar: Kaderauswahl und Karrierekriterien beim Kombinat VEB Carl Zeiss Jena in der Ära Biermann. In: Best, Heinrich / Hofmann, Michael (Hrsg.): Unternehmer und Manager im DDR-Sozialismus, Historical Social Research, 30. Jg., 2005, H. 112 (Sonderheft 2), S. 50-72.) In öffentlichen Vorträgen führte ZK-Mitglied Biermann gern an, dass es „[b]ei jeder täglich zu treffenden inhaltlichen Entscheidung [...] um die allseitige Erfüllung der Parteibeschlüsse” (Biermann, Wolfgang: Das Kombinat VEB Carl Zeiss Jena in den 80er Jahren. Jenaer Reden und Schriften (Reihe), Friedrich-Schiller-Universität Jena 1985, S. 22) ging. Im gleichen Rahmen wies er aber auch darauf hin: „Der Weltmarkt fragt nicht nach freundlich klingenden, gut aussehenden Berichten, sondern nach erstklassigen Geräten und wissenschaftlich-technischen Leistungen“ (Ebd., S. 30). Es galt, so der Generaldirektor, „das Hauptaugenmerk auf die qualitative Seite des Reproduktionsprozesses zu lenken und Erscheinungen einer gewissen Tonnenideologie und -praxis nunmehr endgültig zu überwinden” (Ebd., S. 10). Retrospektiv schrieb Biermann über seine Funktion als Generaldirektor: „Man mußte ein König der Improvisation sein“. (Biermann, Wolfgang: Man mußte ein König der Improvisation sein. In: Pirker, Theo / Lepsius, M. Rainer / Weinert, Rainer / Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 213-236.).

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Rahmen des Möglichen auf die Festlegung der später abverlangten Kennziffern einzuwirken.294 Die Plandiskussion wurde als Musterbeispiel „sozialistischer Demokratie“ propagiert; war allerdings insofern eine Farce, da in der Regel über die Köpfe der wirklich Betroffenen und Rechenschaftspflichtigen auf den unteren Ebenen hinweg entschieden wurde,295 die im Ernstfall als „Prügelknaben“ herhalten mussten.296 Scheiterte das Planziel, gerieten Generaldirektoren und Werkleiter als Staatliche Leiter zu Sündenböcken für Fehlentscheidungen der Partei. Innerhalb der straffen Kombinatshierarchie wurde versucht, ökonomische Rationalität mit politischen Notwendigkeiten auszutarieren und beispielsweise zwischen den Interessen unterschiedlicher Mitarbeitergruppen zu vermitteln.297 Von „sozialistischer Demokratie“ und Mitbestimmung war allerdings auch hier nicht viel zu spüren. Bisweilen regierten die Generaldirektoren selbstherrlich und mit militärischer Strenge in „ihrem“ Kombinat. Die unterstellten Leiter erhielten Anweisungen und waren persönlich verantwortlich für deren Umsetzung. Dabei wurde immer wieder die „Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse“ angemahnt: So gesehen übten Leitungskader nach unten auch eine „politische Repressionsfunktion“ aus.298 Im Alltag mussten die Wirtschaftskader teilweise beträchtliches Improvisationstalent beweisen, um Systemmängel zu kompensieren und die Funktionsfähigkeit der Betriebe aufrechtzuerhalten.299 Entscheidungsprozesse waren voluntaristisch-subjektiv anstatt ökonomisch rational.300 Neben den eigentlichen Wirtschaftsfunktionen und den Versorgungsaufgaben des Kombinates waren dies auch Fragen der betrieblichen Arbeitskräftelenkung und Personalplanung, der Frauenförderung, der Sozialpolitik etc.

294 Pohlmann, Markus / Meinerz, Klaus-Peter / Gergs, Hanjo: Manager im Sozialismus. In: Pohlmann, Markus / Schmidt, Rudi (Hrsg.): Management in der ostdeutschen Industrie. Opladen 1996, S. 23-60. In diesem Zusammenhang wird von „weichen Plänen“ gesprochen (Lepsius: Handlungsräume […]). 295 Fritze, Lothar: Kommandowirtschaft: ein wissenschaftlicher Erlebnisbericht über Machtverhältnisse, Organisationsstrukturen und Funktionsmechanismen im Kombinat. In: Leviathan, 21. Jg., 1993, H. 2, S. 182. 296 Pohlmann, Markus / Meinerz, Klaus-Peter / Gergs, Hanjo : Manager im Sozialismus, S. 49. 297 Kretzschmar, Albrecht: Zu den Machtverhältnissen und Leitungsstrukturen in den Kombinaten und Betrieben der DDR. Berlin 1991. 298 Windolf, Paul / Brinkmann, Ulrich / Kulke, Dieter: Warum blüht der Osten nicht? Zur Transformation der ostdeutschen Betriebe. Berlin 1999, S. 70. 299 Pohlmann, Markus / Meinerz, Klaus-Peter / Gergs, Hanjo: Manager im Sozialismus, S. 54. 300 Kreutzer, Florian: Die gesellschaftliche Konstitution des Berufs. Zur Divergenz von formaler und reflexiver Modernisierung in der DDR. Frankfurt am Main / New York 2001 (zugleich: Dissertation Fern-Universität Hagen 2000), S. 12.

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Rekrutierung und Karrieren von DDR-Wirtschaftskadern: Wie statistische Analysen prozessproduzierter Massendaten wie des „Zentralen Kaderdatenspeichers“ ZKDS301 zeigen, stellten DDR-Wirtschaftskader weder bezüglich ihrer Rekrutierungsmuster noch bezüglich ihrer Karriereverläufe eine homogene Personengruppe dar. Insbesondere die vertikale Binnendifferenzierung war beachtlich: Kader verschiedener Positionsstufen in der Kaderhierarchie besaßen ein Profil von Rekrutierungsmerkmalen, mit denen sie sich gegeneinander abgrenzen lassen und durch die sie sich deutlich von der Gruppe der Mitarbeiter ohne Leitungsbefugnis unterschieden. Schwächer, doch gut erkennbar ist eine horizontale Binnendifferenzierung nach volkswirtschaftlich bedeutsamen Industriesektoren bzw. prestigeträchtigen Technologieschwerpunkten. Die vertikalen Differenzierungsmuster bei der Rekrutierung und den Karriereverläufen zeugen von unterschiedlichen Graden der Fachlichkeit und politischen Anpassung. Neben der Komplementarität und Amalgamierung von „politisch-ideologischer Konformität und fachlich-instrumenteller Leitungsfähigkeit der führenden Kader”302 traten außerdem deutlich erkennbare Tendenzen illegitimer sozialer Reproduktionsmodi zutage.303 Aspekte der Legitimität, Loyalität und Effizienz verbanden sich zu Anforderungsprofilen, die bestimmend für berufliche Mobilität wurden und von denen in kaum nennenswertem Umfang abgewichen wurde. Ein Beispiel dafür war die Normierung der Kadereigenschaften von Generaldirektoren: Als Ideal galt der Dreiklang SED-Mitgliedschaft – Arbeiterherkunft – Hochschulstudium. Am häufigsten waren noch Ausnahmen hinsichtlich der sozialen Herkunft möglich. Wenn loyale Industriekader im volkseigenen Betrieb nicht den eigentlichen Volksmassen entstammten, ließ sich Legitimität ausreichend dadurch herstellen, dass sie den Vorstellungen von sozialistischer Professionalität entsprachen. Infolge der Anreiz- und Motivationsproblematik wurde auch karrieristisches Opportunitätskalkül in Kauf

301 Best, Heinrich: Cadres into Managers: Structural Changes of East German Economic Elites before and after Reunification. In: Lane, David / Lengyel, György / Tholen, Jochen (Hrsg.): Restructuring of the Economic Elites after State Socialism. Stuttgart 2007, S. 27-44. Gebauer, Ronald: Wo geht’s nach oben? Karrieremobilität von DDR-Kadern zwischen Aufstieg, Rückstufung und Abstieg. In: Best, Heinrich / Remy, Dietmar (Hrsg.): Die geplante Gesellschaft. Analysen personenbezogener Massendatenspeicher der DDR (Wissenschaftliche Reihe des SFB 580, H. 18), Jena 2006, S. 47-76. Salheiser, Axel: Parteitreu, plangemäß, professionell? Remy, Dietmar: Datenfriedhof oder Füllhorn für die DDR-Forschung? Geschichte, Funktionsweise und wissenschaftlicher Wert des Zentralen Kaderdatenspeichers des Ministerrates der DDR. In: Best, Heinrich / Hornbostel, Stefan (Hrsg.): Die Funktionseliten der DDR. Sonderheft 1 / 2 der Historical Social Research, 28. Jg., 2003, H. 103 / 104, S. 73-107. 302 Meyer, Gerd: Zur Soziologie der DDR-Machtelite. Qualifikationsstruktur, Karrierewege und „politische Generationen“. In: Deutschland Archiv 18, 1985, S. 521. 303 Best, Heinrich: Did Family Matter? The Formation and Reproduction of Functional Elites in a Socialist Society, in: Best, Heinrich / Gebauer, Ronald / Salheiser, Axel (Hrsg.): Elites and Social Change, Krämer: Hamburg 2009, S. 13–24.

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genommen bzw. ausgenutzt. Letztendlich war das Abgleiten vom planmäßigen Weg der sozialen Egalisierung unaufhaltsam. Die Karrieren von Leitungskadern waren gleichermaßen durch ökonomische und politische Rahmenbedingungen bestimmt, die neben einem hohen Ausbildungs- und Qualifikationsniveau und fachlicher Erfahrung einen ausgeprägten Grad politischen Engagements sowie formaler Loyalitätsbeweise gegenüber SEDStaat und sozialistischer Gesellschaft einforderten. Zwar war eine Akademisierung und hochgradige Professionalisierung der Leitungskader (im Sinne fachlicher Qualifikation) zu konstatieren, doch hatten Kriterien der politischen Loyalität im direkten Vergleich zu den Qualifikationsaspekten einen stärkeren Einfluss darauf, inwieweit ein Kader letztendlich in die obersten Leitungspositionen berufen werden konnte. Die soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse hatte auch für das Erreichen von Spitzenpositionen (Generaldirektoren und deren Stellvertreter) nicht den von der DDR-Propaganda suggerierten Effekt. Trotz des hohen Anteils von Kadern mit (vermeintlicher) Arbeiterherkunft stellte dieselbe einen relativen Nachteil dar. Kader aus Intelligenz- und Selbständigenfamilien hatten vergleichsweise günstige Karrierechancen. Dies zeigt die Janusköpfigkeit der DDR-Kaderpolitik oder auch den opportunistischen Umgang mit den eigenen Zielstellungen des sozialstrukturellen Reformprogramms. Anstatt wirklich der Arbeiterklasse anzugehören (bzw. zu entstammen), war in der Wirtschaft letztendlich nur wirklich wichtig, inwieweit man der Partei der Arbeiterklasse angehörte und gesellschaftlich integriert war. Abkömmlinge „antagonistischer Klassen“ wurden seit den siebziger Jahren auf jeden Fall nicht diskriminiert, insofern sie sich innerhalb des Kadersystems nach oben bewegen wollten. Weiterhin waren bei Spitzenkadern auch ausgeprägte Tendenzen zur Isogamie bzw. der Dominanz bürgerlicher Ehe- und Familienmuster (Ehegattin: Hausfrau, durchschnittlich zwei Kinder) feststellbar. Weibliche Spitzenkader stellten Ausnahmen dar. Bereits auf niedrigeren Positionsebenen ist eine erhebliche strukturelle Diskriminierung von Frauen erkennbar, die sich vor allem in der Unterrepräsentanz in verantwortlichen Funktionen ausdrückte Die wenigen wirklich erfolgreichen weiblichen Kader (stark vereinzelt Kombinatsdirektorinnen, mehrheitlich Betriebsdirektorinnen und Abteilungsleiterinnen) schienen jedoch sich in ihren Karriereverläufen nicht wesentlich von ihre männlichen Kollegen zu unterscheiden. Markant ist allerdings ein Unterschied: Während Kinder für männliche Kader ein karriereförderndes Merkmal darstellten, waren sie für weibliche Kader tendenziell ein Karrierehemmnis. Dies verweist einmal mehr darauf, dass auch in der DDR erhebliche Defizite bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auftraten, die durch die staatliche Frauenförderung allenfalls abgeschwächt wurden und mit traditionellen Rollenverteilungen in den Familien korrespondierten. Fazit: Das Kadernomenklatursystem in der DDR-Wirtschaft war ein wichtiges Instrument der Herrschaftssicherung der SED. Mit der Formulierung und Kontrolle von Zugangsvoraussetzungen zu Leitungsfunktionen in den Kombinaten und Betrieben setzte die Partei ihren universellen Machtanspruch auch auf dem Gebiet der Personalauswahl und Personalplanung durch. Der Charakter der Wirtschaftskader

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als sozialistische Staatsfunktionäre stand zwar im Widerspruch zu ihrem typischen Selbstverständnis als „Macher“ und vielen Selbstbeschreibungen, in denen immer wieder der Konflikt ‚zwischen Markt und Marx‘304 thematisiert wurde. Doch in der Realität wurde die Notwendigkeit, bei der Kaderauslese zugunsten der Systemperformanz der Wirtschaft verstärkt auf fachliche Qualifikation zu achten, nur selten mit Zugeständnissen an politikferne ‚Technokraten‘ oder mit nennenswerten Abstrichen bei sozialistischen Grundprinzipien ‚erkauft‘.

304 Götz, Hans Herbert: Manager zwischen Marx und Markt. Generaldirektoren in der DDR, Freiburg im Breisgau 1988.

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V. Die Übertragung von Stalins Industrialisierungsmodell der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln auf die SBZ / DDR führte zur Mangelversorgung und verursachte den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Die völlig verschiedenen ordnungspolitischen Grundkonzeptionen beim Wiederaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Westzonen / BRD und in der SBZ / DDR sollen analysiert werden. Ludwig Erhard regte mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 die Konsumgüternachfrage an, was zum Wirtschaftswunder, zum Wohlstand für Alle führte. Stalins / Ulbrichts ordnungspolitische Grundkonzeption des Vorrangs der Schwerindustrie beim Wiederaufbau war die Hauptursache für den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. 1. Die Übertragung des Modells des Stalinschen „Fünfjahrplans“ (1928-1932/33) auf die SBZ / DDR (ab 1948) führte dort zu hohen Disproportionalitäten (= Ungleichgewichten) und hohen Instabilitäten 1966 publizierte I. B. Berchin in Moskau seine „Geschichte der UdSSR (19171964)“. Dieses Werk wurde vom „Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der RSFSR“ als Lehrbuch für Universitäten zugelassen. Günter Rosenfeld und Alfred Anderle übersetzten das Lehrbuch. Die deutsche Ausgabe wurde von I. B. Berchin ergänzt und mit einem Vorwort versehen.1 Die Strukturierung von Berchins Geschichte zeigt, daß in der SBZ / DDR die einzelnen Phasen 1:1 imitiert werden: Die Konfiskation von privatem Grund und Boden, der privaten Industriebetriebe und der Banken. Die „Geschichte der UdSSR (1917-1964)“ gliedert Berchin folgendermaßen: ERSTER TEIL: DIE GROßE SOZIALISTISCHE OKTOBERREVOLUTION. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus (1917-1937). Erstes Kapitel: Rußland in der Periode des Hinüberwachsens der bürgerlichdemokratischen in die sozialistische Revolution (März-Oktober 1917). Zweites Kapitel: Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland. Der Beginn des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Drittes Kapitel: Das Sowjetland in der Periode der ausländischen militärischen Intervention und des Bürgerkrieges (1918-1920). Viertes Kapitel: Die UdSSR in der Periode des Kampfes um die Wiederherstellung der Volkswirtschaft (1921-1925).

1

Berchin, I. B.: Geschichte der UdSSR 1917-1970, Berlin (-Ost) 1971, S. 5-9.

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Das Modell für die SBZ / DDR ab 1948 Fünftes Kapitel: Die UdSSR in der Periode der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft. Die Errichtung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus (1926 bis 1932). Der erste Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft. Der Beginn seiner Verwirklichung. Die Ausarbeitung und Bestätigung des ersten Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft für die Jahre 1928/1929 bis 1932/1933.

Sechstes Kapitel: Die UdSSR in der Periode der Vollendung der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft (1933-1937). Der Sieg des Sozialismus in der UdSSR. Der Kampf um die Verwirklichung des zweiten Fünfjahrplans auf dem Gebiet der Industrie und des Transportwesens. ZWEITER TEIL: DIE SCHAFFUNG DER ENTWICKELTEN SOZIALISTISCHEN GESELLSCHAFT. DER ENDGÜLTIGE SIEG DES SOZIALISMUS (1938-1958). Siebentes Kapitel: Kampf für die Festigung des siegreichen Sozialismus. Der Eintritt neuer Republiken in die UdSSR (1938-1941). Der dritte Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR und seine Verwirklichung. Achtes Kapitel: Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion (1941-1945). Neuntes Kapitel: Die UdSSR in der Periode der Wiederherstellung und Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft nach dem Kriege (1946-1950). Die Wiederherstellung und weitere Entwicklung der Volkswirtschaft in den Jahren 1946-1950. Der Übergang der UdSSR zum friedlichen Aufbau. Die Hauptaufgaben des vierten Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR. Die Maßnahmen der Partei und der Regierung zur Sicherung der Erfüllung des vierten Fünfjahrplans. Der Arbeitsaufschwung der Arbeiterklasse. Die Wiederherstellung und Entwicklung der Industrie in der Nachkriegszeit. Der Kampf für die Wiederherstellung der Landwirtschaft. Die sozialistische Umgestaltung der Bauernwirtschaften in den neuen Republiken und Gebieten. Die Hebung des Lebensstandards des Sowjetvolkes. Zehntes Kapitel: Die Schaffung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Der endgültige Sieg des Sozialismus in der UdSSR (1951-1958). 1. Die Verstärkung des Kampfes der Sowjetunion für die Milderung der internationalen Spannungen und für die Festigung des Friedens in den Jahren 19511958.

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Zwei Weltsysteme und die Entwicklungswege. Die Verstärkung der Aggressivität des internationalen Imperialismus. Der Kampf der UdSSR für die Milderung der internationalen Spannungen, für die Erhaltung und Festigung des Friedens. Die Festigung des sozialistischen Weltsystems. 2. Die gesellschaftliche und politische Entwicklung der UdSSR in den fünfziger Jahren. Der XIX. Parteitag der KPdSU. Die Wiederherstellung der Leninschen Normen des Partei- und Staatslebens. Die Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit. Der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Die weitere Demokratisierung der sowjetischen Staatsordnung. 3. Die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft in den fünfziger Jahren. Neue Möglichkeiten. Die Maßnahmen zur Beschleunigung des Industrieaufbaus und des technischen Fortschritts. Ein neuer Arbeitsaufschwung. Die industrielle Entwicklung der UdSSR in den Jahren 1951 bis 1958. Der Kampf für die Überwindung des Zurückbleibens der Landwirtschaft. Die Reorganisation der MTS. Die spürbare Hebung des materiellen Lebensniveaus der Werktätigen. 4. Der Kulturaufbau in den Nachkriegsjahren (1946-1958). Neue Aufgaben. Der Wiederaufbau und die Erweiterung des Netzes der kulturellen Institutionen. Die Volksbildung. Die Heranbildung von Fachleuten. Die Entwicklung der Wissenschaft. Die Verstärkung der kommunistischen Erziehung der Werktätigen. Die Entwicklung von Literatur und Kunst. 5. Die Schaffung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Die Verbreiterung und Entwicklung der materiell-technischen Basis des Sozialismus. Die Vervollkommnung der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Die Sowjetgesellschaft nach der Volkszählung vom 15. Januar 1959. Die Festigung der sozialökonomischen und moralisch-politischen Einheit der Sowjetgesellschaft. DRITTER TEIL: DER AUFBAU DES KOMMUNISMUS IN DER UdSSR Elftes Kapitel: Die UdSSR in den Jahren des Kampfes für die Erfüllung des Siebenjahrplans (1959-1965). 1. Die Hauptaufgaben des Siebenjahrplans. Der Beginn seiner Erfüllung (19591961) Die neue Entwicklungsperiode der UdSSR. Die Hauptaufgabe des Siebenjahrplans. Der sozialistische Staat und das Hauptinstrument für den Aufbau des Kommunismus. Die Bewegung für die kommunistische Arbeit. Die Entwicklung der Industrie in den ersten Jahren des Siebenjahrplans. Die Verlangsamung des Tempos der landwirtschaftlichen Entwicklung in den ersten Jahren des Siebenjahrplans.

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2. Das große Programm des Aufbaus des Kommunismus in der UdSSR. Der XXII. Parteitag der KPdSU. Das neue Parteiprogramm. 3. Der Kampf für die erfolgreiche Erfüllung des Siebenjahrplans. Der Parteiund Staatsaufbau nach dem XXII. Parteitag. Das neue Herangehen an die Leitung der Wirtschaft. Die Bilanz der Erfüllung des Siebenjahrplans. Das weitere Steigen des Lebensstandards des Volkes. 4. Der Kulturaufbau in den Jahren des Siebenjahrplans Die Entwicklung der Volksbildung. Die hervorragenden Erfolge der sowjetischen Wissenschaft. Die Entwicklung der Literatur und Kunst. 5. Die Außenpolitik der UdSSR in den Jahren 1959-1965 Der Kampf der UdSSR für die weitere Festigung und den Zusammenschluß des sozialistischen Weltsystems. Die wirkungsvolle Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegung. Der Kampf der UdSSR für die weitere Entspannung der internationalen Lage. Zwölftes Kapitel: Die neue Etappe im Aufbau der materiell-technischen Basis des Kommunismus in der UdSSR. 1. Der XXII. Parteitag der KPdSU. Die Arbeit des Parteitages. Der Parteitag über die internationale Lage und die Außenpolitik der KPdSU. Der XXIII. Parteitag über die innere Lage und die nächsten Aufgaben beim kommunistischen Aufbau in der UdSSR. Die weitere Festigung der materiell-technischen Basis des Kommunismus. Die Aufgaben auf dem Gebiet der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen. Größte Aufmerksamkeit der kommunistischen Erziehung des Volkes. Die Veränderungen im Statut der KPdSU. 2. Der Kampf für die Verwirklichung des achten Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR. Die gesellschaftliche und politische Entwicklung des Landes. Die Wirtschaftsreform. Die Entwicklung der Industrie in den Jahren 1966 bis 1969. Die Entwicklung der Landwirtschaft in den Jahren 1966-1969. Die Hebung des materiellen Wohlstands des Volkes. Gesamtbilanz. Der weitere Aufschwung der Wissenschaft und Kultur. Die Außenpolitik der UdSSR in den Jahren 19661969. Die Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien. 3. Der 50. Jahrestag des Großen Oktober. Das Sowjetland begeht den großen Feiertag. Eine historische Bilanz. 4. Unter dem Banner Lenins. Das Lenin-Jubiläum. Der Arbeitsaufschwung des ganzen Volkes. Die Propagierung des Leninismus. Das Sowjetvolk feiert das Jubiläum. Die ganze fortschrittliche Welt beging den 100. Geburtstag Lenins.2

2

Ende der Gliederung des Werkes von Berchin.

440

Alle Phasen der Geschichte der UdSSR seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 wurden in der SBZ / DDR 1:1 imitiert. Nur die KPdSU besaß eine originäre Macht. Die SED hatte nur eine derivative Macht als Sektion der KPdSU. Auch alle Feiertage (Marx, Lenin, Stalin) wurden synchron in der Sowjetunion und der SBZ / DDR begangen. 2. Stalins Gesetz der vorrangigen Produktion von Produktionsmitteln beim Wiederaufbau der Wirtschaft der SBZ / DDR führte zur Mangelversorgung und zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 „Die Industrialisierung in den Ostblockländern wird nach sowjetischem Vorbild und Schema unter betonter Entwicklung der Grundstoff- und Schwerindustrien – Hüttenindustrie, Stromerzeugung, Schwermaschinenbau, Schwerchemie – vorgetrieben, auch wenn im Einzelfall nicht ganz ausreichende materielle Voraussetzungen hierfür vorliegen“.3 Beim wirtschaftlichen Wiederaufbau in der SBZ / DDR wurde vorrangig in die Grundstoff- und Schwerindustrie investiert. Die von Stefan Unger analysierte „schwarzmetallurgische Industrie der DDR war in westlicher Terminologie identisch mit der Eisen- und Stahlindustrie, beide Begriffe werden deshalb durchgehend synonym verwandt. Diese umfaßt die aufeinander aufbauenden Produktionsstufen der Roheisen- und Rohstahlerzeugung, der Warmverformung sowie der sich an diese unmittelbar anschließenden Weiterverarbeitungsstufen“.4 Der Wiederaufbau der Stahlindustrie in der SBZ / DDR begann im Oktober 1947, als Kowal, der Stellvertreter des Obersten Chefs der SMAD, die Anweisung erteilte, „Maßnahmen zur Errichtung eines Stahl- und Walzwerkes in Riesa und das Stahlwerk in Hennigsdorf zu ergreifen“.5 Schon im Zweijahrplan 1949/50 wurde die Schwerindustrie vorrangig aufgebaut. „Offensichtlich war die spätestens mit dem Zweijahrplan getroffene Grundsatzentscheidung, dem Auf- und Ausbau der Schwerindustrie volkswirtschaftliche Priorität zu verleihen, im Vorfeld auch in den Reihen der Planungsbehörde nicht unumstritten gewesen. Jedenfalls fühlte sich der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK), Fritz Selbmann, noch im August 1949 veranlaßt, diesen Kurs durch die bis dahin erreichten Erfolge nachträglich zu rechtfertigen: ‚Diese Feststellung ist außergewöhnlich wichtig. Als wir den Zweijahrplan (1949/50) diskutierten, gab es Leute, die glaubten, daß sie sowohl klüger als auch sozialer seien als wir, wenn sie forderten, an Stelle des Aufbaus der Grundstoffindustrie in die erste Reihe den Aufbau der Konsumgüterindustrie zu stellen. Wir haben damals im Kreuzfeuer gestanden. Niemand läßt sich gern den Vorwurf machen, 3

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung): Wochenberichte, Januar 1953, S. 5 f.

4

Unger, Stefan: Eisen und Stahl für den Sozialismus. Modernisierungs- und Innovationsstrategien der Schwarzmetallurgie in der DDR von 1949 bis 1971, Berlin 2000, S. 25.

5

Ebd., S. 176.

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daß er nicht sozial genug ist. Angesichts der schwierigen Lage mit Konsumgütern – ich habe das damals in einer Sitzung des Plenums ausgesprochen – ist es natürlich populärer und billiger zu sagen: produzieren wir lieber Schuhe als Eisen und Stahl! Aber damals haben wir gesagt, eine solche Wirtschaftspolitik würde bedeuten, den Versuch zu machen, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen oder – wenn ich es anders ausdrücken soll – den zweiten oder dritten Schritt vor dem ersten zu machen. Solche Versuche haben gewöhnlich dazu geführt, daß man auf die Nase fiel. Wir haben uns also in unserer Planpolitik nicht beirren lassen und haben das Schwergewicht auf die Entwicklung der Grundstoffindustrie gelegt‘“.6 Das Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln bestimmt die grundlegenden Austauschbeziehungen der sozialistischen Reproduktion. Seit dem ersten Fünfjahrplan 1928-1932/33 wurde das vorrangige Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln in der Sowjetunion praktiziert. Stalin erhob die Praxis in der UdSSR zum Gesetz.7 „Das gesellschaftliche Gesamtprodukt ist bei einfacher Reproduktion so zusammengesetzt, daß nur der Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel möglich ist. Das gesamte Nettoprodukt besteht aus Konsumtionsmitteln – es kann nicht akkumuliert werden. Für die erweiterte Reproduktion ist ein Überschuß an produzierten Produktionsmitteln gegenüber dem erforderlichen Ersatzbedarf notwendig, damit akkumuliert werden kann“.8 Nach marxistisch-leninistisch-stalinistischer Auffassung lassen die „Austauschbeziehungen zwischen den Abteilungen I und II und bei erweiterter Reproduktion […] einige Gesetzmäßigkeiten erkennen, die für die planmäßige Gestaltung des sozialistischen Reproduktionsprozesses große Bedeutung haben. Erstens: Der Ausgangspunkt des gesamten Reproduktionsprozesses ist im Sozialismus das Produkt der Abteilung I. Es liefert die erforderlichen Produktionsmittel sowohl für die einfache Reproduktion der Abteilungen I und II als auch für die erweiterte Reproduktion beider Abteilungen. Zweitens: Das Tempo der erweiterten Reproduktion in beiden Abteilungen wird daher vom Zuwachs des Produkts der Abteilung I bestimmt. Drittens: Die Bedingungen für die kontinuierliche Fortführung der Produktion sind nur dann gegeben, wenn nicht nur ein Teil des Gesamtprodukts, beispielsweise das Mehrprodukt, realisiert wird, sondern wenn sämtliche Teile des gesellschaftlichen Produkts sowohl dem Wert als auch der stofflichen Form nach realisiert werden.

6

Ebd., S. 178 f.

7

Stalin, Josef W.: Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, 2. Aufl., 231-330. Tausend, Berlin (-Ost) 1952, S. 10, 22-24, 41 f.

8

Becher, Jürgen et al. (Hrsg.): Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, 6. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 684.

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Die Austauschbeziehungen zwischen und innerhalb der beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Reproduktion sowie die sich daraus ergebenden Gesetzmäßigkeiten setzen Rahmenbedingungen, die bei der planmäßigen Beherrschung des sozialistischen Reproduktionsprozesses weiter zu konkretisieren sind. Diese Konkretisierung ist in dreifacher Hinsicht vorzunehmen: Erstens: Erweiterte Reproduktion drückt aus, daß mehr Produktionsmittel erzeugt und eingesetzt wurden, als für den Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel erforderlich sind, wodurch das Produktionswachstum möglich wird. Es wird keine Aussage über die Wachstumsrelationen und Proportionalität der beiden Abteilungen getroffen. Zweitens: Mit Hilfe der dargestellten Gleichgewichtsbeziehungen kann die Proportionalität des sozialistischen Reproduktionsprozesses noch nicht planmäßig aufrechterhalten werden. Dazu bedarf es einer Vielzahl volkswirtschaftlicher Bilanzen (Materialbilanzen und Finanzbilanzen), die in einer volkswirtschaftlichen Gesamtbilanz zusammenfließen. Drittens: Bei der Bestimmung der grundlegenden Austauschbeziehungen wurde von wichtigen Faktoren und ihren Einflüssen auf die Proportionen abstrahiert. Solche Faktoren sind: der Außenhandel, der wissenschaftlich-technische Fortschritt, das zeitliche Auseinanderfallen zwischen Ersatz und Verbrauch der Produktionsmittel, die Erhöhung der Effektivität der Produktion und anderes. Ungeachtet der erforderlichen Konkretisierungen bleiben die dargestellten Austauschbeziehungen und die sich aus ihnen ergebenden Gesetzmäßigkeiten allgemeine Proportionalitätsbedingungen der erweiterten sozialistischen Reproduktion. Das Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln: Die Austauschbeziehungen zwischen den Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion sagen noch nichts darüber aus, in welchem Verhältnis sich die beiden Abteilungen zueinander entwickeln. Die Herstellung und das Wachstum einer bestimmten Menge von Konsumtionsmitteln erfordert die Existenz und das Wachstum einer bestimmten Menge von Produktionsmitteln. Von Lenin wurde nachgewiesen, daß ‚in letzter Instanz […] die Produktion von Produktionsmitteln notwendigerweise mit der Produktion von Konsumtionsmittel zusammen(hängt), denn die Produktionsmittel werden nicht um der Produktionsmittel selbst willen erzeugt, sondern nur deshalb, weil immer mehr und mehr Produktionsmittel in den Industriezweigen erforderlich sind, die Konsumtionsmittel herstellen‘.9 Lenin untersucht diesen Zusammenhang für den Kapitalismus und kommt dabei zu der Feststellung, ,daß in der kapitalistischen Gesellschaft die Produktion von Produktionsmitteln schneller wächst als die Produktion von Konsumtionsmitteln‘,10 und bezeichnet dies als ein ökonomisches Gesetz, das sowohl im Kapitalismus wie auch im Sozialismus wirkt. Lenin weist jedoch auf die prinzipielle Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse hin, wenn er schreibt, daß 9

Lenin, Wladimir I.: Antwort an Herrn P. Neshdanow, in: Werke, 4. Bd., S. 155. 10 Ders.: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, in: Werke, 2. Bd., S. 149.

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die Produktionsmittel im Kapitalismus nur als Kapital dienen können, sie aber ausschließlich den Kapitalisten zufallen und sich demzufolge die Konsumtion im Gefolge der Akkumulation beziehungsweise Produktion entwickelt; ‚so sonderbar dies auch erscheinen mag, aber anders kann es in der kapitalistischen Gesellschaft auch gar nicht sein. In der Entwicklung dieser beiden Abteilungen der kapitalistischen Produktion ist also Gleichmäßigkeit nicht nur nicht unbedingt notwendig, sondern im Gegenteil, die Ungleichmäßigkeit ist unvermeidlich‘.11 Im Sozialismus dient die schnellere Entwicklung der Abteilung I entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz der Schaffung von Voraussetzungen zur Produktionsentwicklung für die immer umfassendere Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen. Durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität verändern sich die Relationen des Aufwandes an lebendiger und vergegenständlichter Arbeit in der Produktion. Die lebendige Arbeit wird mit immer wirkungsvolleren Produktionsmitteln ausgestattet und dadurch befähigt, in der gleichen Zeit mehr Erzeugnisse zu produzieren. Marx schreibt, ‚der wachsende Größenumfang der Produktionsmittel im Vergleich zu der ihnen einverleibten Arbeitskraft drückt die wachsende Produktivität der Arbeit aus‘. Die mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität verbundene Voraussetzung, daß die lebendige Arbeit mehr Produktionsmittel in Bewegung setzt, führt dazu, daß ein wachsender Teil des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens in der Abteilung I, das heißt zur Herstellung von Produktionsmitteln, benötigt wird und so die Abteilung I vorrangig wächst. Auf das vorrangige Wachstum der Abteilung I wirken die Schaffung und der Ausbau der materiell-technischen Basis des Sozialismus, besonders die sozialistische Industrialisierung, die Errichtung einer eigenen Schwerindustrie, die Entwicklung der sozialistischen Großproduktion in der Landwirtschaft mit industriemäßigen Produktionsmethoden, die umfangreiche Mechanisierung und Automatisierung der Arbeit sowie die Erfordernisse der Verteidigungsproduktion. Die kommunistischen und Arbeiterparteien der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft haben sich beim Aufbau der sozialistischen Wirtschaft stets von der marxistisch-leninistischen Erkenntnis leiten lassen, die Produktion von Produktionsmitteln vorrangig zu entwickeln. Dank dieser Wirtschaftspolitik konnte die ökonomische Rückständigkeit überwunden und eine industrielle Basis geschaffen werden, die die Voraussetzung für die bessere Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen im Sozialismus bildet. Die Industrieproduktion der UdSSR wuchs zum Beispiel in der Zeit von 1913 bis 1970 auf das 91fache. Dabei erhöhte sich die Gruppe A (die Industrieproduktion von Produktionsmitteln) auf das 213fache und die Gruppe B (die Industrieproduktion von Konsumgütern) auf das 30fache. Das Gesetz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln bringt die Erfordernisse der Entwicklung einer den volkswirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechenden Struktur der Wirtschaft verallgemeinert zum Ausdruck. 11 Marx, Karl: Das Kapital, Erster Band, in: MEW, 23. Bd., S. 651.

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Es trifft keine exakte Aussage darüber, um wieviel die Produktion von Produktionsmitteln zum jeweiligen Zeitpunkt oder in der betreffenden Planperiode vorauseilen muß. Es ist notwendig, die Proportion zu konkretisieren. Das Wachstum der einzelnen Wirtschaftszweige, Branchen, Erzeugnisgruppen und Erzeugnisse ist, ausgehend vom Ziel der sozialistischen Produktion, exakt zu bestimmen. Das Wachstumstempo der beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion beeinflussen direkte und indirekte Faktoren. Eine weitere wichtige Voraussetzung der Annäherung des Wachstumstempos ergibt sich aus der vorwiegend intensiv erweiterten Reproduktion. Ihr Ziel ist die schnelle und stabile Erhöhung der Effektivität der sozialistischen Volkswirtschaft auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Dabei spielen vor allem die Senkung des Materialaufwandes und die Verbesserung der Grundfondsökonomie eine entscheidende Rolle. Beides sind Faktoren, die dem vorrangigen Wachstum der Abteilung I entgegenwirken und den Grad der Vorrangigkeit der Produktionsmittelproduktion verringern können“.12 Die Behauptung von Lenin, „daß in der kapitalistischen Gesellschaft die Produktion von Produktionsmitteln schneller wächst als die Produktion von Konsumtionsmitteln“,13 ist falsch. Walther G. Hoffmann14 hat den „Prozeß der Industrialisierung einer sektoralen Strukturanalyse unterzogen und ihn in vier Perioden (17701820, 1821-1860, 1861-1890, seit 1890) eingeteilt, die in etwa auch der Kondratieffschen Theorie der langen Wellen entsprechen. Den Aufbauprozeß der Industriewirtschaften unterteilt er in drei Stadien: 1. 2. 3.

Vorherrschen der Konsumgüterindustrien Relatives Wachstum der Kapitalgutindustrien Gleichgewicht zwischen Konsumgut- und Kapitalgutindustrien.

In dieser Einteilung drückt sich die Bedeutung der Kapitalakkumulation im Gewicht des Kapitalgütersektors aus“.15

12 Becher, Jürgen et al. (Hrsg.): Politische Ökonomie, S. 683-689. 13 Lenin, Wladimir I.: Zur sogenannten Frage der Märkte, in: Werke, Bd. 1, S. 79. 14 Hoffmann, Walther G.: Stadien und Typen der Industrialisierung. Ein Beitrag zur quantitativen Analyse historischer Wirtschaftsprozesse, Jena 1931. Ders. unter Mitarbeit von Franz Grumbach und Helmut Hesse: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin, Heidelberg, Berlin, 1965. 15 Helmstätter, Ernst: Wachstumstheorie I: Überblick, in: HdWW, Bd. 8, 1988, S. 480.

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Produktionsindizes ausgewählter Industrien Großbritanniens (Volumenindizes, halblogarithm. Maßstab)

Walther G. Hoffmann, Industrialisierung (II), in: HdSW, Bd. 5, 1956, S. 233.

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Nach Hoffmann gilt für „alle bisherigen Industrialisierungsfälle die nachweisbare Verschiebung in der industriellen Produktionsstruktur (gemessen am Nettoproduktionswert) vom anfänglichen Übergewicht der Konsumgutindustrien (einschließlich der für sie arbeitenden Rohstoff- und Halbfabrikatindustrien) bis zum allmählich gleich großen Gewicht und schließlich sogar tendenziellen Übergewicht der Produktionsmittelindustrien (einschließlich ihrer Vorindustrien). Obwohl diese Erfahrung im wesentlichen die starke Zunahme des Realeinkommens und als Voraussetzung dafür den entsprechenden Spar- und Investitionsprozeß verständlich macht, bleibt damit immer nur ein Teilbereich der Wirtschaft, nämlich die branchenmäßige Struktur der Industrie, erfaßt“.16 Der Vorrang der Investitions- und sonstigen Produktionsgüterindustrien im Krieg 1939/45 wurde in der SBZ / DDR nach 1945 fortgeführt und führte zur Mangelversorgung und zum Volksaufstand am 17. Juni 1953. Das Statistische Reichsamt in Berlin wurde nach 1945 zweigeteilt, woraus dann das Statistische Bundesamt der Bundesrepublik und die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (SZS) entstanden. Das Entstehen der beiden Ämter soll kurz skizziert und Bruno Gleitze, der von 1945 bis 1948 Leiter der „Deutschen Verwaltung für Statistik“ in der SBZ war, kurz vorgestellt werden. „Nach dem Zusammenbruch des Jahres 1945 versuchte das Statistische Amt der sowjetischen Besatzungszone mit den Resten des Personals und des in Berlin verbliebenen Materials des Reichsamts, die Arbeit für diese Zone wiederaufzunehmen. Im jetzigen Gebiet der Bundesrepublik entstand ein Statistisches Amt der britischen Besatzungszone (1946) in Hamburg, während in der amerikanischen Zone im Einklang mit den Prinzipien des staatlichen Aufbaus nur Statistische Landesämter errichtet wurden, deren Arbeiten in einem statistischen Ausschuß beim Länderrat der amerikanischen Besatzungszone in Stuttgart vereinheitlicht wurden (19461947). Mit dem Zusammenschluß der britischen und der amerikanischen Besatzungszone wurde ein Statistisches Amt des Vereinigten Wirtschaftsgebietes errichtet (1948), das sich erst nach der Gründung der Bundesrepublik (1949) und der Einbeziehung der französischen Zone, in der die Überleitung der statistischen Arbeiten auf deutsche Dienststellen besonders lange gedauert hatte, zum Statistischen Bundesamt entwickelte. Der in den ersten Nachkriegsjahren außerordentlich starke Einfluß der Besatzungsmächte auf die Statistik ihrer jeweiligen Zone gab schwierige Probleme auf. Eine Zusammenarbeit aller vier Zonen ist nur bei der Volks-, Berufsund Betriebszählung 1946 erreicht worden“.17 In der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands wurde bereits am 19.10.1945 die amtliche Statistik unter der Bezeichnung „Deutsche Verwaltung für Statistik“ geschaffen. „Sie wurde später als ‚Statistisches Zentralamt‘ bezeichnet

16 Hoffmann. Walther G.: Industrialisierung (I) Typen des industriellen Wachstums, in: HdSW, 5. Bd., 1956, S. 226. 17 Fürst, Gerhard: Statistik, amtliche (II) Bundesstatistik, in: HdSW, Bd. 10, 1959, S. 55 f.

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und hat ihren Sitz in Berlin C 2. Fachlich gliederte sich diese erste amtliche statistische Verwaltung in fünf Hauptabteilungen: Bevölkerung, Landwirtschaft, Wirtschaft, Handel und Verkehr, Finanzen. Hinzu kam die technische Abteilung mit einer Hollerithanlage. Mit entsprechender Aufgabenstellung und Gliederung wurden in den damaligen fünf Ländern (Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen) Statistische Ämter geschaffen. Darüber hinaus wurden durch diese im Frühjahr 1946 Statistische Referate bei allen Kreisverwaltungen eingerichtet. Damit waren auf allen Ebenen der staatlichen Verwaltung statistische Dienststellen vorhanden“.18 Bruno Gleitze19 hatte die Statistiken von 1936 bis 1945 auf die Sowjetisch besetzte Zone umgerechnet, bis 1950 verlängert und mit denen von Westdeutschland verglichen. Besonders interessant und aussagekräftig ist die Graphik „Der Vorrang der Investitions- und sonstigen Produktionsgüterindustrien im Krieg 1939/45 wurde in der SBZ nach 1945 fortgeführt“. Diese Fortführung entspricht dem Stalinschen Modell des Vorrangs der Produktionsgüterindustrien. Dadurch mußte die Verbrauchsgüterindustrie gedrosselt werden, es kam zur Mangelversorgung und zum Volksaufstand am 17. Juni 1953.

18 Behrens, Fritz: Statistik, amtliche (V) Amtliche Statistik in der Deutschen Demokratischen Republik, a. a. O., S. 67. 19 Gleitze, Bruno Otto Fritz, Wirtschaftswissenschaftler, * 4.8.1903 in Berlin, † 17.11.1980 in Berlin (-West). Der Sohn eines Tischlers absolvierte 1917-1919 eine Lehre in der Kommunalverwaltung und trat 1919 der SPD bei. Nach dem Studium der Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Univ. Berlin und der Promotion zum Dr. rer. pol. arbeitete er als Sozialstatistiker im Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. 1933 aus politischen Gründen entlassen, war er 1935-45 als Industriestatistiker tätig. 1945-48 leitete G. die Deutsche Verwaltung für Statistik in der Sowjetischen Besatzungszone, lehrte 1946-48 als o. Prof. der Statistik an der Ostberliner Humboldt-Universität und ging, nachdem er wegen politischer Unstimmigkeiten alle Ämter niedergelegt hatte, 1949 nach Westberlin. 1949-53 Abteilungsleiter im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, wurde er 1954 Mitglied der Geschäftsführung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WWI), dessen alleinige Leitung er 1956-68 innehatte, und entwickelte den auf langfristige Eigentumsbildung aller Arbeitnehmer angelegten „Gleitze-Plan“. Gleitze war 1966/67 Wirtschafts- und Finanzminister in Nordrhein-Westfalen. In: DBE, Bd. 4, 2001, S. 30. Zu seinen Werken zählen Wirtschafts- und sozialstatistisches Handbuch (1960 Hrsg.), Sozialkapital und Sozialfonds als Mittel der Vermögenspolitik (1968) und Die Produktionswirtschaft der DDR nach 25 Jahren (1975).

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Die Überdimensionierung der Produktionsgüterindustrien machte im Deutschen Reich von 1936 bis 1943 rasante Fortschritte 1)

Die industrielle Bruttoproduktion in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1936-1950 1) (in Prozent)

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Der Vorrang der Investitions- und sonstigen Produktionsgüterindustrien im Krieg 1939/1945 wurde in der SBZ nach 1945 fortgeführt. Er führte zur Mangelversorgung und zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 1) (in Mio. Reichsmark)

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Deutschlands Industriewirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 bis 1950 (1936 = 100)

Die Graphik „Deutschlands Industriewirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 bis 1950“ zeigt zweierlei: 1. Die Währungsreform vom 20. Juni 1948, d. h. ein Geldumtausch, verbunden mit der Liquidierung der Bewirtschaftung und dem Übergang zur freien Marktwirtschaft, gaben der Wirtschaft starke Impulse. Der Geldumtausch in der SBZ im Juni / Juli 1948 hatte keinen Einfluß auf die Produktion. 2. Die Währungsreform in den Westzonen erfolgte durch eine Stimulierung der Nachfrage. Die Versorgung in Westdeutschland verbesserte sich sehr schnell, während in der SBZ die Lebensmittelrationierung bis 1958 beibehalten wurde. Gegenüber 1936 lag die Versorgung in der SBZ bei etwa 45 % und in den Westzonen bei etwa 80 %.

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3. „Die Versorgung der Bevölkerung in der SBZ / DDR lag auch noch 1949 unter dem Existenzminimum“20 Die SBZ / DDR unter dem Volkswirtschaftsplan 1950: „Bereits vor Monaten berichtete die ostzonale Presse darüber, daß die erst im Frühjahr aufgestellten Planungen für 1949 – jedenfalls im Bereich der industriellen Produktion – durch erhebliche Planüberschreitungen gesprengt worden sind. Überschreitungen von 2030 v. H. stehen erheblichen Unterschreitungen der ursprünglich gesteckten Ziele gegenüber, wodurch man den Gesamtplan rechnerisch mit 104 v. H. erfüllt zu haben behauptet. Danach befand sich die Wirtschaft der sowjetischen Besatzungszone in einem im einzelnen zwar noch dirigierten, im ganzen aber effektiv planlosen Zustande. Die entstandenen Disproportionalitäten haben daher zu einer Revision des ursprünglichen Zweijahresplanes gezwungen. Mit ihm steht der neu vorgelegte Volkswirtschaftsplan für 1950 nur noch in einem formalen Zusammenhang mit dem ursprünglichen Zweijahresplan. Die Wirtschaft der sowjetischen Besatzungszone ist in den vergangenen Jahren etappenweise in ein Planungs-System hineingezogen worden, das bisher keinesfalls eine wirkliche Planwirtschaft erstrebte, geschweige denn erreichte. Verplant wurden anfänglich neben den sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) die sog. volkseigenen Betriebe und von der übrigen Wirtschaft nur der Teil, der zur Sicherung der Reparationswirtschaft in Produktion und Distribution unter Kontrolle gehalten werden sollte. Nach dem Geldumtausch (Juni / Juli 1948) war die Geld- und Güterseite der Wirtschaft in eine geordnete Beziehung zu bringen. Dies war der Anlaß für den kurzfristig erstellten Volkswirtschaftsplan für das zweite Halbjahr 1948, der im wesentlichen aber nur die Apparatur der Dispositions- und Kontrollorgane einzuspielen vermochte. Dieser Halbjahresplan war ein Experiment, dessen Gelingen oder Nichtgelingen die Reparationslieferungen kaum gefährden konnte, weil bis dahin eine starke und verzweigte Planungs-Apparatur der sowjetischen Militäradministration alle im Rahmen des russischen Reparationsplanes notwendigen Maßnahmen durch Befehl dirigierte. Nach diesem Provisorium wurde der Zweijahresplan für die sowjetische Besatzungszone durch die ostzonale Verwaltung verkündet. In seinem Rahmen wurde ein Jahresplan für 1949 erstellt. Jetzt liegt der Plan für 1950 vor mit einem Rechenschaftsbericht für 1949. Danach ist der Umfang der Industrieproduktion im Vergleich zu 1948 um etwa 20 v. H. gestiegen. Die Arbeitsproduktivität der volkseigenen Betriebe – also die Leistung je Arbeitskraft – stieg ebenfalls um 20 v. H. Da gleichzeitig die Beschäftigtenzahl der volkseigenen Betriebe um 32 v. H. zunahm,21 ist die volkseigene Produktion anteilig gestiegen. Entsprechend muß die noch verbliebene Privatwirtschaft weiter verkümmert sein. 20 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung). Wochenbericht, 17. Jg., Berlin, den 4. Februar 1950, Nr. 6, S. 23 f. 21 Neues Deutschland vom 29.11.1949, S. 4.

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Nach der Begründung22 zum Gesetzentwurf über den Volkswirtschaftsplan 1950 ist die Erzeugung der allgemeinen Produktionsgüterwirtschaft (Bergbau und Energie) von 1948 auf 1949 nur um einige Prozente angestiegen. Nur die chemische Industrie weist nach der Planabrechnung eine Steigerung bestenfalls um 17 v. H. aus, verbleibt damit aber merklich hinter dem ursprünglich verkündeten Plansoll. Dagegen sollen sich die Investitionsgüterindustrien, insbesondere durch Übererfüllung ihres Solls, erheblich ausgeweitet haben. Gegenüber dem Jahre 1948 wurden im Jahre 1949 der Planabrechnung nach mehr ausgewiesen in der Eisen- und Metallgewinnung im Maschinenbau in der Elektrotechnik in der Feinmechanik und Optik in der Zellstoff- u. Papierindustrie

+ 72 + 41 + 45 + 23 + 88

v. H. v. H. v. H. v. H. v. H.

Auf keinem Gebiete der Verbrauchsgüterindustrie wagen die Kommentare zum Gesetzentwurf wie zum verkündeten Gesetz konkrete Angaben über die Planerfüllung zu machen. Dabei stehen alle für 1949 genannten Erfolgszahlen unter dem Einfluß des seit Mitte des Jahres in Kraft befindlichen Vertragssystems, das die Produktion derjenigen Mittel- und Kleinbetriebe, die bisher außerhalb der Planauflage standen, mit den Betriebsleistungen der verplanten Großbetriebe verkoppelt. Die betreffenden Mittel- und Kleinbetriebe erhalten Rohstofflieferungen nur, wenn sie sich als Zulieferer für die – überwiegend volkseigenen – Großbetriebe verdingen. So entsteht durch Veränderung der statistischen Vergleichsmassen im Produktionsbereich der sowjetischen Besatzungszone zwangsläufig eine Verzerrung der Größenordnungen, auch wenn sie formal richtig errechnet werden. Der bisherige Leistungsstand: Über das Kernstück eines planwirtschaftlichen Rechnungswesens, nämlich über die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, besagen die veröffentlichten Daten unmittelbar überhaupt nichts. Trotzdem lassen sie sich mit ziemlicher Sicherheit auf Annäherung errechnen. Das Institut für Wirtschaftsforschung hat sich bemüht, für 1949 eine mit der Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland methodisch vergleichbare volkswirtschaftliche Gesamtrechnung durchzuführen. Die Hauptergebnisse dieser Untersuchung sind, zunächst in nominellen Werten, die folgenden:

22 Jährliche Rundschau vom 19.01.1950, S. 3.

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Normalwerte der Gütererzeugung (einschließlich der Dienste) in Westdeutschland und in der sowjetischen Besatzungszone Schätzung in Mrd. RM bzw. DM Sowjetische Besatzungszone1)

Westdeutschland 1947 30 2 5

1948 40 5 7

1949 51 9 8,3

6

5

4,7

Nettosozialprodukt Abzügl. Leistungen a. d. Besatzungsmächte Zuzügl. Auslandshilfe

43

57

6 1

Für deutsche Zwecke verfügbar

38

Verbrauchsgüter u. Dienste Investitionen Öffentl. Bedarfsdeckung Leistungen a. d. Besatzungsmächte

1947 13 _

1948 14 1 3

1949 16 2 3,2

4,5

4,5

4,3

73

20

22,5

25,5

5 1

4,7 2

4,5 _

4,5 _

4,3 _

53

70,3

15,5

18

2,5

21,2

1) Zum

Vergleich muß noch eine Preisbereinigung vorgenommen werden. Es sind bei der sowjetischen Besatzungszone zur Ausscheidung der vielfach überhöhten Preise (Branntweinsteuer, freie Käufe, HO-Läden) jährlich 4 bis 4,5 Mrd. RM bzw. DM abzusetzen, andererseits bei den Reparationsleistungen usw. zur Bereinigung des hier besonders niedrigen Preisniveaus jährlich 1,5 Mrd. RM bzw.DM zuzuschlagen.

Hinter verhältnismäßig hohen Nominalziffern der Sowjetischen Besatzungszone verbirgt sich allerdings ein sehr niedriger tatsächlicher Versorgungsstand. Nach Rückführung der Gesamtrechnung auf Vorkriegspreise ergibt sich folgende volumenmäßige Entwicklung (Durchschnitt 1949 gegenüber Durchschnitt 1936): Westdeutschland

Sowjetische Besatzungszone 1936 = 100

Gesamtwirtschaftlicher Produktionsindex Industrieller Produktionsindex Landwirtschaftlicher Produktionsindex Index der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Verbrauchsgütern Leistungen an die Besatzungsmächte (in westdt. Preisen v. 1949)

90-95 87 90 75

100

70 67-70 70 44

in DM je Kopf der Bevölkerung 95 360

Nahezu ein Viertel der gesamten Produktion und fast zwei Drittel der industriellen Produktion allein genommen flossen an die Besatzungsmacht. Die Versorgung der Bevölkerung liegt auch heute noch unter dem Existenzminimum. Die Investitionsrate ist sehr gering, sofern man die erforderlichen Ersatzinvestitionen mit der in Westdeutschland üblichen Quote einsetzt. Der Außenhandel hat, wenn man von irregulären Käufen über den Geldwechsel absieht, nominell kaum nennenswerte Bedeutung, materiell sind die auf diesem Wege ermöglichten Bezüge lebenswichtig für die Zone.

454

Die Planziele für 1950: Erst von dieser aufgezeigten Basis her lassen sich die realen Aussichten des neu verkündeten Planes beurteilen. Selbst wenn durch weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität und durch die geplante Erhöhung der Zahl der industriell Beschäftigten um 8 v.H. die geplante Ausweitung der Industrieproduktion um 21 v. H. erreicht werden sollte, wäre der Stand der mitteldeutschen Industriewirtschaft von 1936 bei weitem noch immer nicht erreicht. Gemessen an der Produktion von 1939 bliebe sie um mindestens ein Drittel zurück, und vom industriellen Produktionsvolumen des letzten Kriegsjahres würden bei voller Planerfüllung 1950 sogar erst 55 v. H. erreicht werden. Die Erfolgsaussichten in der Landwirtschaft dürften etwas günstiger sein, aber nur eine Rekordernte könnte die in Aussicht gestellte Hebung der landwirtschaftlichen Bodenproduktion auf den Vorkriegsstand ermöglichen. Der Versorgungsgrad der Bevölkerung sowohl mit agrarischen als auch mit gewerblichen Erzeugnissen wird einschneidend beeinflußt durch die Tatsache, daß im mitteldeutschen Raum – Berlin auch hier ausgenommen – gegenwärtig etwa 15 v. H. mehr Menschen leben als vor dem Kriege“.23 Fritz Selbmann, 1949/50 Minister für Industrie und 1950/51 für Schwerindustrie, behauptete noch im Juli 1950, daß die stärkste Konzentration auf die Entwicklung der Schwerindustrie im Zweijahrplan (1949/50) richtig war. „Bereits bei der Aufstellung des Zweijahrplans war klar zu erkennen, daß das Schwergewicht dieses Planes in der Konzentration aller Kräfte auf dem Ausbau der Grundstoffindustrie als die entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Industriezweige lag. Damals, als der Zweijahrplan vom Partei-Vorstand unserer Partei beschlossen wurde, gab es ernsthafte Versuche einer demagogischen Gegenüberstellung der von der Partei vorgeschlagenen stärksten Konzentration auf die Entwicklung der Grundstoffindustrie einerseits und der Forderung nach einem Erhöhen des Lebensstandards andererseits. Damals wurde versucht, eine wirtschaftliche Entwicklung aufzuzwingen, die den verstärkten und schnellen Aufbau der Schwerindustrie zurückstellte hinter die Entwicklung der Konsumgüterindustrie und derjenigen Wirtschaftszweige, die eine unmittelbare Beziehung zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung haben. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, daß die von der Partei angestrebte Schwerpunktbildung im Zweijahrplan richtig war. Hätten wir damals und während der ganzen Periode der Verwirklichung des Zweijahrplans das Hauptgewicht nicht auf die Grundstoffindustrie und auf die Schwerindustrie gelegt, wären die heute sichtbaren Erfolge auch in der Verbesserung der Lebenshaltung nicht möglich gewesen. Heute sieht jeder, daß die von der Partei damals geforderte und durchgesetzte Politik die einzig richtige und mögliche Politik des Aufbaus aus eigener Kraft war und daß die Konzentration auf die Entwicklung der Schwerin-

23 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung): Wochenbericht, 17. Jg., Berlin, 4. Februar 1950, Nr. 6, S. 23 f.

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dustrie nicht etwa die Hebung des Lebensstandards beeinträchtigte, sondern im Gegenteil erst die Voraussetzungen dafür schuf“.24 Real war dies nicht möglich. Jede Erhöhung der Investitionen in der Schwerindustrie führte real zu einer Verschlechterung des Lebensstandards. Selbmann wollte Kanonen und Butter produzieren, real gingen nur Kanonen oder Butter. 4. Die II. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952. Walter Ulbricht: Beschleunigter Aufbau des Sozialismus in der DDR „Als Walter Ulbricht25 am 9. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle den berühmten Satz verkündete, das ZK habe beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, ‚daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird‘,26 wurde ein kompliziertes Gesellschaftsprojekt als Überraschungseffekt angeboten“.27 Diese Ausführungen galten jedoch nur für die Sozialisten, die sich mit der Wirtschaftsgeschichte der UdSSR nicht gut auskannten. Das Modell für den Fünfjahrplan (1951/55) der DDR war der Fünfjahrplan (1928 bis 1932) der UdSSR. Fünftes Kapitel. Die UdSSR in der Periode der sozialistischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft. Die Errichtung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus (1928 bis 1932) 1. Der Beginn der Industrialisierung des Landes (1926-1928). Der Beginn des Kampfes für die Industrialisierung des Landes. 2. Die Verschärfung des Klassenkampfs in der Stadt. Die Zerschlagung des parteifeindlichen Blocks der Trotzkisten und Sowjet-Leute. Das Anwachsen der Gefahr eines neuen Krieges gegen die UdSSR. Der Kampf der Sowjetregierung für die Sicherung des Friedens. 3. Der Kurs auf die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Schaffung der Voraussetzungen für die durchgängige Kollektivierung des Dorfes und für die Liquidierung des Kulakentums als Klasse (1928/1929) Der Kurs auf die Kollektivierung. Die Verschärfung des Klassenkampfs im Dorfe. Die Schaffung der Voraussetzungen für die Verwirklichung der durchgängigen Kollektivierung der Bauernwirtschaften und für die Liquidierung des 24 Fritz Selbmann, auf dem III. Parteitag der SED im Juli 1950. Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (20. bis 24. Juli 1950 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin). 4. und 5. Verhandlungstag, Berlin (-Ost) 1951, S. 102. 25 30.06.1893-1.8.1973, Generalsekretär des ZK der SED, Mitglied des Politbüros und des Sekretariats des ZK. 26 Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 9.-12. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin 1952, S. 58. 27 Otto, Wilfriede: Eine edle Idee im Notstand. Zur Zweiten Parteikonferenz der SED im Juli 1952 (mit zwei Dokumenten), in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jg. 2002, S. 4.

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Kulakentums als Klasse. Die Agrarreform und die Reform der Wassernutzung in den Republiken Mittelasiens. 4. Der erste Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft. Der Beginn seiner Verwirklichung. Die Ausarbeitung und Festigung des ersten Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft für die Jahre 1928/1929. Der Beginn des Kampfes für die Verwirklichung des Fünfjahrplans in der Industrie. Der Umschwung im Dorfe 5. Die durchgängige Kollektivierung der Landwirtschaft. Die entfaltete Offensive des Sozialismus auf der ganzen Front. Der große revolutionäre Umschwung auf dem Dorfe. Der Kampf gegen die Verzerrungen der Leninschen Prinzipien beim kollektivwirtschaftlichen Aufbau. Der XVI. Parteitag der KPdSU. Die Verdrängung der kapitalistischen Elemente aus Industrie und Handel. Das Ansteigen der politischen Aktivität und des Arbeitselans der Massen. Das Anwachsen der Gefahr eines antisowjetischen Krieges. 6. Die vorfristige Erfüllung des Fünfjahrplans. Die Schaffung des ökonomischen Fundaments des Sozialismus. Das gewaltige Ausmaß der Investitionsbauten. Die Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit der Industrie und des Transports. Der Kampf um die Beherrschung der neuen Betriebe. Der neue Aufschwung der Kollektivwirtschaftsbewegung. Der Kampf um die organisatorisch-wirtschaftliche Festigung der Kollektivwirtschaften. Die Ergebnisse des ersten Fünfjahrplans. Die DDR besaß eine wesentlich bessere industrielle Ausgangsbasis als die UdSSR beim ersten Fünfjahrplan. Ulbricht, dem nie alles schnell genug ging, wollte Stalin nachweisen, daß die DDR den Aufbau des Sozialismus in kürzester Zeit vollbringen könne. Wenn ein solcher Gewalt- und Kraftakt gelingen würde, dann wäre der Sozialismus auch für die Bürger der Bundesrepublik attraktiv. Das weit überzogene Verhalten in Verbindung mit dem Ehrgeiz und der Hektik Walter Ulbrichts führte zum Volksaufstand am 17. Juni 1953. Walter Ulbricht28 und Heinrich Rau29 formulierten auf der II. Parteikonferenz die beim beschleunigten Aufbau des Sozialismus anzugehenden Aufgaben. Walter Ulbricht: „Durch den großen Fünfjahrplan wird ein solcher Aufschwung der Wirtschaft erreicht werden, daß bis zum Jahre 1955 die Lebenshaltung des Volkes die der Bevölkerung der kapitalistischen Länder übertreffen wird. Die führende Rolle hat die Arbeiterklasse in ihren Händen, als die fortgeschrittenste Klasse, die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, von der Partei, die sich von der Lehre von Marx-Engels-Stalin leiten läßt, geführt wird. (Starker Beifall.) Was sind die Aufgaben der Staatsmacht in der Deutschen Demokratischen Republik? 28 Protokoll der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 9.-12. Juli 1952, Berlin (-Ost) 1952, S. 20-122. 29 Ebd., S. 409-419. Die gegenwärtigen und die neuen Aufgaben der SED.

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1. Brechung des Widerstandes der gestürzten und enteigneten Großkapitalisten und Großagrarier, Liquidierung aller ihrer Versuche, die Macht des Kapitals wiederherzustellen. 2. Organisierung des Aufbaus des Sozialismus mit Hilfe des Zusammenschlusses aller Werktätigen um die Arbeiterklasse. (Wiederholter starker Beifall.) 3. Schaffung der bewaffneten Streitkräfte der Deutschen Demokratischen Republik zur Verteidigung der Heimat gegen die äußeren Feinde, zum Kampf gegen den Imperialismus. (Lang anhaltender Beifall.) Von der Erfüllung dieser Schwerpunktaufgaben in den Grundstoffindustrien hängt das Tempo des sozialistischen Aufbaus entscheidend ab. Je unabhängiger wir von Lieferungen aus den kapitalistischen Staaten sind, desto leichter ist es, mit ihnen auf gleichberechtigter Basis Außenhandelsverhandlungen zu führen. Besonders der Bau der Stalinallee verpflichtet unsere Meister der Baukunst zu hohen architektonischen Leistungen. Die Stalinallee ist der Grundstein zum Aufbau des Sozialismus in der Hauptstadt Deutschlands, Berlin. (Starker Beifall.) Sie ist der Grundstein insofern, als diese Bauten dem Volk dienen und ihre Architektur die Entwicklung der Städtebaukunst des neuen Deutschlands verkörpert. Die Städteplanung, wie sie in der Deutschen Demokratischen Republik durchgeführt wird, ist neuartig und nur durchführbar in dem Staat des werktätigen Volkes. Der Neubau der Stadt des Hüttenwerkes Ost ist der erste vollständige Bau einer sozialistischen Stadt. (Starker Beifall.) In diesem Industriegebiet und in der Stadt wird in ihren monumentalen Bauten das hehre Ziel des Sozialismus zum Ausdruck gebracht. Die Versorgung der Bevölkerung erfolgt durch die staatlichen Handelsorganisationen und Genossenschaften, während die Dienste für die Bevölkerung, wie Schneiderei, Schuhmacherei, von Produktionsgenossenschaften des Handwerks ausgeführt werden. (Wiederholter starker Beifall.) Die grundlegende Aufgabe beim Aufbau der sozialistischen Wirtschaft ist die ständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Das geschieht vor allem mit Hilfe der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung. Die Grundlagen der Berechnung des Wettbewerbs sind die technisch begründeten Arbeitsnormen. Der Aufbau solcher neuen Werke, wie das Eisenhüttenkombinat Ost, das Eisenwerk West in Calbe, die Großkokerei Lauchhammer, die Rekonstruktion der Hüttenbetriebe und der Bergbaubetriebe, der Bau der Schiffswerften stellen an unsere gesamte Industrie hohe Anforderungen. Unsere Arbeiter, Aktivisten, Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker werden sie meistern, indem sie die Erfahrungen der fortgeschrittenen Technologie anwenden lernen. Von der Seite der Finanzierung unserer volkseigenen Wirtschaft sind als entscheidende Aufgaben folgende zu lösen: 1. In den entscheidenden Wirtschaftszweigen müssen die Fabrikabgabepreise auf den Stand der in den Plänen festgelegten Selbstkosten gebracht werden. In diesen wichtigen Wirtschaftszweigen muß das System der Subventionierung aus dem Staatshaushalt liquidiert werden. Dadurch werden die betreffenden Betriebe die Kosten ihrer Produktion aus eigenen Einnahmen finanzieren, und der erfolgreiche

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Kampf um die Senkung der Selbstkosten wird bei ihnen als Gewinn in Erscheinung treten. Bisher haben Betriebe, die stark subventionierte Rohstoffe und Halbfabrikate verarbeiten, auf Grund dieser Tatsache hohe Gewinne ausgewiesen. Dadurch waren sie ungenügend daran interessiert, den Kampf um eine echte Senkung der Selbstkosten zu führen. Nach Einstellung der Subventionen werden sie den Kampf um die Senkung der Selbstkosten verstärken und die Rohstoffe und Halbfabrikate sparsamer und zweckentsprechender verwenden. Diese Maßnahme ist notwendig, um allseitig den Kampf um die Senkung der Selbstkosten und die sparsame Verwendung des Materials zu stärken“.30 „Heinrich Rau:31 Genossinnen und Genossen! Wir haben gestern alle bei der großen Demonstration erlebt, welcher Jubel, welcher Enthusiasmus bei den werktätigen Massen, Männern und Frauen, bei jung und alt das im Bericht des Genossen Walter Ulbricht begründete Neue unserer Entwicklung, der Aufbau des Sozialismus, ausgelöst hat. Gleichzeitig erleben wir die Tatsache, daß die Massen sehr wohl verstehen, was besonders Genosse Pieck in so überzeugender Weise begründete, die Notwendigkeit der Schaffung einer gutgeschulten und gutbewaffneten Volksarmee. Genosse Ulbricht betonte, daß die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit gewisse materielle und finanzielle Ausgaben erfordert, daß wir aber bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität trotz der zusätzlichen Ausgaben imstande sein werden, den Fünfjahrplan in allen seinen Positionen zu erfüllen, auch in bezug auf die Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung. Damit ist eine große Aufgabe gestellt, deren Lösung eine beträchtliche Steigerung der Arbeitsproduktivität erfordert. Die entscheidende ökonomische Aufgabe unserer Partei besteht daher in der maximalen Steigerung der Arbeitsproduktivität. In seinem Bericht anläßlich des XVI. Parteitages der KPdSU(B) bezeichnete Genosse Stalin die Steigerung der Arbeitsproduktivität als ein Problem ersten Ranges, und er zeigte auch die Wege zur Lösung des Problems. Genosse Stalin sagte: ‚Die Maßnahmen der Partei zur Lösung dieses Problems bewegen sich in drei Richtungen: in der Richtung einer systematischen Verbesserung der materiellen Lage der Werktätigen, in der Richtung der Einbürgerung einer kameradschaftlichen Arbeitsdisziplin in den Betrieben der Industrie und Landwirtschaft und endlich in der Organisierung des sozialistischen Wettbewerbs und der Stoßbrigadebewegung. Und dies alles auf der Basis einer verbesserten Technik und rationelleren Organisierung der Arbeit‘. Man muß besonders den Hinweis beachten, daß alles zur Lösung des Problems Notwendige auf der Basis einer verbesserten Technik und rationelleren Organisie-

30 Ebd., S. 40, 56, 59, 74, 78 f., 92 f. 31 Ebd., S. 409 f.

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rung der Arbeit erfolgen muß. Liegen also die Ursachen in der allgemeinen Entwicklung unserer Wirtschaft? Zweifellos gibt es hier wunde Punkte. Im Plan der Entwicklung unserer Volkswirtschaft gibt es Disproportionen, die große Schwierigkeiten schaffen und die man schnell beseitigen muß. Die Entwicklung unserer Metallurgie erfolgt zu langsam und bleibt hinter der Entwicklung der Produktion unseres Maschinenbaus zurück, obwohl im Maschinenbau der Aufbau der 24 Schwermaschinenbetriebe noch keineswegs im möglichen und notwendigen Tempo durchgeführt wird. Daraus ergibt sich, daß wir das Tempo des Aufbaus der Metallurgie erneut enorm beschleunigen müssen. Es muß besonders die Produktion von Roheisen und Stahl stark erhöht, in den Walzwerken die Glühkapazität erweitert, die Herstellung von Schiffsblechen und Kesselblechen mengen- und qualitätsmäßig erhöht und die Produktion von nahtlos gewalzten Rohren erweitert werden. Eine weitere gefährliche Disproportion in unserer Volkswirtschaft ergibt das Zurückbleiben unserer Stromerzeugung hinter der allgemeinen Entwicklung der Wirtschaft und des Bedarfs an Energie“. „Tausende Erfinder führen in unserer Republik täglich einen langen und verzweifelten Kampf mit den Ministerien, Hauptverwaltungen, VVBs, Betriebsleitungen, um die Verwendung ihrer technischen Verbesserungen und Erfindungen durchzusetzen oder um wenigstens in angemessener Zeit eine fachlich einwandfreie Beurteilung ihrer Vorschläge zu erreichen. Diesem Zustand muß man schnell und gründlich ein Ende machen. (Beifall.) Anna Mann (Brikettfabrik ‚Gute Hoffnung‘, Roßbach):32 Genossinnen und Genossen! Genosse Walter Ulbricht hat uns in seinem Referat über die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der SED die große Aufgabe für die kommende Zeit gezeigt. Wir werden den Aufbau des Sozialismus schneller vorantreiben, wenn es uns gelingt, die Frauen stärker in unsere Produktion einzubeziehen. Beschluß der II. Parteikonferenz: Die Hauptaufgabe auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Schaffung ökonomischer Grundlagen des Sozialismus durch die weitere Erfüllung des Fünfjahrplans zur Entwicklung der Volkswirtschaft. Die Parteikonferenz lenkt die Aufmerksamkeit der Parteimitglieder im Staatsapparat und in der Industrie auf die Notwendigkeit der Rekonstruktion der Hüttenindustrie, des Bergbaus, des Schwermaschinenbaus und der Energiewirtschaft und der raschesten Beseitigung der Engpässe in der Entwicklung der Energiewirtschaft, des Schwermaschinenbaus, des Hüttenwesens und der Rohstoffbasis, ohne deren Überwindung die erfolgreiche Erfüllung des Fünfjahrplanes nicht möglich ist. Eine gewaltige Rolle im Kampf für die Erfüllung und Übererfüllung des Fünfjahrplanes müssen die Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, zur Senkung der Selbstkosten, zur Qualitätsverbesserung der Produktion und zur Einführung eines strengen Sparsamkeitsregimes in allen Zweigen der Volkswirtschaft sowie in allen Gliedern der wirtschaftlichen und staatlichen Verwaltung spielen. Der breiteste sozialistische Wettbewerb ist zu entfalten, die Erfahrungen der Neuerer sind weitestens zu verbreiten und zu popularisieren. Die Bewegung der 32

Ebd., S. 425.

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Aktivitätsbrigaden nach dem Beispiel der Genossen Franik und Kramer sowie die Rationalisatoren- und Erfinderbewegung sind systematisch zu fördern. Das Tempo des sozialistischen Aufbaus ist entscheidend abhängig von der Überwindung der Überreste des kapitalistischen Denkens und der kapitalistischen Methoden in der volkseigenen Wirtschaft. Ziel unserer sozialistischen Wirtschaftspolitik ist die Verwirklichung des von Genossen Stalin formulierten ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus. Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch das ununterbrochene Wachstum und die Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchsten Technik. Es sind besondere Maßnahmen zu treffen, um die Frauen, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, gleichberechtigt in das große Werk des sozialistischen Aufbaus einzubeziehen“.33 Walter Ulbricht und der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Rau thematisierten die systemimmanenten Dysfunktionen, die nie beseitigt werden konnten: -

Niedrige Arbeitsproduktivität Disproportionen zwischen den einzelnen Bereichen der Volkswirtschaft Senkung der Selbstkosten Verschwendung von Material und Rohstoffen (Sparsamkeitsregime) Qualitätsverbesserung der Produktion („Ausschuß“).

5. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juli 1950 forciert Stalin den Ausbau der Schwerindustrie (= Rüstungsindustrie) in den Volksdemokratien und in der DDR Der Ausbruch des Koreakrieges bestärkte Stalins Obsession vor einem Krieg und führte zum exzessiven Ausbau der Schwerindustrie in der DDR und den Volksdemokratien. Der politische Rahmen: 26. Juni 1948 bis 4. Mai 1949: Berliner Blockade und Blockade im innerdeutschen Handel Juni 1950 bis 27. Juli 1953: Truppen der Volksrepublik Korea (Nordkorea) dringen in Südkorea ein. 27. Juli 1953 bis Ende des Koreakrieges. Waffenstillstand in Panmunjeom Februar 1952: Der Bundestag beschließt gegen die Stimmen der SPD, grundsätzlich einen deutschen Verteidigungsbeitrag zu leisten.

33 Ebd., S. 493.

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1. April 1952: In der Besprechung zwischen Stalin und der SED-Führung in Moskau notiert Pieck: „Polizei – Bewaffnung Recht nicht ausgenutzt Volksarmee schaffen – ohne Geschrei Pazifistische Periode ist vorbei“34 „Die Wiederbewaffnung in der SBZ / DDR begann am 2. Juli 1948“.35 26. Mai 1952: In Bonn wird der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten (Zusatzabkommen über Truppen-, Finanz- und Überleitungsvertrag) unterzeichnet: Deutschland- oder Generalvertrag, auch Bonner Konvention.36 9.-12. Juli 1952: II. Parteikonferenz der SED 5. März 1953: Tod Stalins, das Amt des Ministerpräsidenten und (bis 13. Sept.) auch das Amt des Parteichefs übernimmt Georgi M. Malenkow. 3./9. Februar 1955: Rücktritt von Ministerpräsident Malenkow37, sein Nachfolger wird Nicolai A. Bulganin.

Die Gründungsväter der Sowjetunion und der DDR: Karl Marx (1818-1883) Friedrich Engels (1820-1895) W. I. Lenin (1870-1924) J. W. Stalin (1879-1923

34 Badstübner, R. / Loth, W. (Hrsg.): Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, Berlin 1994, S. 395 f. 35 Wettig, Gerhard: Wiederbewaffnung, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., 1997, S. 947-949. 36 Birke, Adolf M.: Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961, Berlin 1989, S. 296 f. 37 Malenkow, Georgi Maximilianowitsch (1901-1988), ab 1934 Leiter der Abteilung Parteiorgane beim ZK, 1939-46 und 1948-53 Sekretär des ZK der WKP(B) / KPdSU, 1939-57 Mitglied des Politbüros / Präsidiums des ZK der WKP(B) / KPdSU; 1953-55 Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR, 1955-57 Minister für Kraftwerke der UdSSR, 1957 ZK- und 1961 KPdSU-Ausschluß.

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Die Gleichschaltung der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralpläne 1)

Die Grundtendenzen der Arbeits- und Lohnpolitik in der DDR 1951: Bevorzugung der rüstungswirtschaftlich wichtigen Branchen Schwerindustrie und Maschinenbau.38 „Drei Grundtendenzen der Arbeits- und Lohnpolitik heben sich in der Sowjetzone immer deutlicher heraus: die Bevorzugung der Rüstungswirtschaft, die Forcierung der Frauenarbeit und der Druck auf die Löhne. So erfolgten im 1. Vierteljahr 1951 die meisten Einstellungen von Arbeitskräften in den rüstungswirtschaftlich wichtigen Branchen Schwerindustrie und Maschinenbau.39 Als anspornendes Beispiel für die forcierte ‚Einschleusung von Frauen in die Produktion‘ wurde bekanntgegeben, daß die Maschinenfabrik Halle den Anteil der Frauen an der Belegschaft auf 31 v. H. erhöht hat.40 Eine besondere soziale Bedeutung kommt den umfassenden indirekten Lohnsenkungen zu, die die sowjetzonale Verwaltung durch Erhöhung der Arbeitsnormen erzielen will. Das SED-Organ ‚Neues Deutschland‘41 behauptet, ‚daß die von zahlreichen Arbeitern geleistete Arbeit nicht den gezahlten hohen Löhnen entspricht‘. Dabei liegt das Lohnniveau in der Sowjetzone im nominellen Geldwert keineswegs höher als in Westdeutschland; in effektiver Kaufkraft liegt es weit unter dem heutigen westdeutschen Lohnniveau“.42 38 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung):Wochenberichte, 1951, S. 116. 39 „Die Wirtschaft“, 4.5.1951, wo außerdem berichtet wird: „Die Berufs- und Fachschulen haben besonders den Unterricht für die Berufe der Schwerindustrie und des Maschinenbaus gefördert.“ 40 Neues Deutschland, 15.6.1951. Wochenbericht des DIW, 18. Jg., Nr. 9 vom 2.3.1951: „Die Bedeutung der Frauenarbeit in der sowjetischen Besatzungszone“. 41 Neues Deutschland, 16.6.1951. 42 Wochenberichte des DIW, 17. Jg., Nr. 50 vom 8.12.1950: „Ein Kaufkraftvergleich zwischen Westdeutschland und der Sowjetzone“.

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Nach dem Ausbruch des Koreakriegs am 25. Juni 1950 forcierte Stalin den exzessiven Auf- und Ausbau der Schwerindustrie in der DDR und den Volksdemokratien. „Exzessiv“ bedeutet, daß die Schwerindustrie einen sehr hohen Anteil an den Investitionen hat, in der DDR z. B. 1953 60 %. Der exzessiv hohe Anteil der Schwerindustrie bei den Investitionen hat zwei Folgen: -

Für die Konsumgüterversorgung bleiben nur geringe Investitionsanteile, was zur Mangelversorgung führt.

-

Die Investitionen deformieren die vorhandenen Produktionsstrukturen und führen zu Disproportionen (Ungleichgewichten) in der Wirtschaft, zu einer permanenten hohen Instabilität der Wirtschaften der DDR und der Volksdemokratien, zur dauerhaften Mangelversorgung, die die Hauptursache für die Aufstände in der DDR und den Volksdemokratien waren.

Der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 war der erste Aufstand im sozialistischen Lager. Die Mangelversorgung und die totalitäre Diktatur der SED wirkten besonders auf die Arbeiter in Ost-Berlin durch den Kontrast mit dem Wirtschaftswunder und der Freiheit im Schaufenster West-Berlin und der Bundesrepublik. Auf dem Hintergrund der Aura der westlichen Konsumwelt wurde die Misere der sozialistischen Versorgung besonders deutlich. In der Bundesrepublik und in West-Berlin lohnte sich harte Arbeit wieder, denn mit dem Lohn dafür konnten Konsumgüter und Genußmittel wie z. B. Kaffee erworben werden. Der Arbeiter in Ost-Berlin und der DDR arbeitete hart, erhielt als Lohn aber nur Geld, das im Vergleich zur DM wesentlich weniger wert war. 5.1. Der forcierte Ausbau der Schwerindustrie in Polen und in der Tschechoslowakei43 Im März 1946 erläuterte Stalin intern in einer Unterredung mit Milovan Djilas,44 „daß der Zweite Weltkrieg nicht wie andere Kriege war. Wer immer ein Territorium besetzt, nötigt ihm sein eigenes System auf, soweit seine Armee reichen kann. Es kann nicht anders sein“.45 Von Stalin kamen die Direktiven zur Transformation der SBZ und der späteren Volksdemokratien nach dem Modell Sowjetrußland. Dies gilt auch für den Halbjahres- und den Zweijahreszentralplan in der SBZ / DDR. Der Fünfjahrplan 1951 bis 1955 war für die DDR und alle Volksdemokratien verbindlich. Ausgangspunkt waren Direktiven von Stalin, die über Gosplan und den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Moskau und von dort an die Zentralplanstellen der einzelnen Länder weitergeleitet wurden. Der RGW (Comecon) 43 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung): Wochenberichte, 20. Jg., Berlin, 9. Jan. 1952, Nr. 2, S. 5 f. 44 Milovan Djilas war bis Januar 1954 der dritte Mann der jugoslawischen KP und Vizepräsident der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien, seit dem 19. November 1956 politischer Häftling des Toto-Regimes und wurde wegen Staatsgefährdung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. 45 Hamel, Hannelore: Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, in: Eppelmann, Rainer et al.

(Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., 1997, S. 647.

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war der Zusammenschluß der sozialistischen Volksdemokratien unter Führung der Sowjetunion mit dem Ziel einer politisch ausgehandelten Arbeitsteilung im sozialistischen Lager. „Seine Gründung im Januar 1949 war allerdings vorwiegend politisch motiviert: Unter dem Druck Stalins sollte verhindert werden, daß die kleineren osteuropäischen Länder ihre gewachsenen Handelsbeziehungen mit dem Westen wiederaufnahmen und sich an dem von amerikanischer Seite initiierten Wiederaufbauprogramm (Marshall-Plan) beteiligten. Statt dessen mußten sich Bulgarien, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei und Ungarn als Gründungsmitglieder verpflichten, ihren Außenhandel mit der Sowjetunion durch eine entsprechende Industrialisierungspolitik auszubauen. Die DDR wurde im September 1950 als Mitglied in den RGW aufgenommen“.46 Der „Aufbau des Sozialismus“ erfolgte nicht auf den vorhandenen Produktionsstrukturen, sondern nach Direktiven von Stalin an Gosplan und über den RGW an die DWK und die SPK (Staatliche Plankommission). Der exzessive Ausbau der Schwerindustrie führte zur Vernachlässigung des Wiederaufbaus der vorhandenen Produktion. Dies führte zu einer Deformation, zu einer Verformung, zu Disproportionalitäten des Produktionsapparates, die erst mit der Transformation des Stalinschen Modells der vorrangigen Produktion von Produktionsgütern in Marktwirtschaften 1989/1990 endigte. Der folgende Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (Berlin) zeigt die Umwandlung zu den deformierten Wirtschaften in den Volksdemokratien. „Die Wirtschaftspläne der einzelnen Ostblockländer, die vom Comecon in Moskau, der wirtschaftlichen Zentralstelle der Kominformländer, bis in kleinste Einzelheiten hinein durchgeführt werden, erscheinen auf den ersten Blick ziemlich statisch. Eine genauere Analyse läßt jedoch die Entstehung einer stärker industrialisierten Ländergruppe (Polen, Tschechoslowakei) um das oberschlesische Industrierevier erkennen, während in den südlichen Ländern der dort vorhandene Agrarcharakter nicht ganz so entscheidend verändert werden soll, so daß sich hier Landwirtschaft und Industrie in etwa die Waage halten. Die Planung im nördlichen Industrieblock wird ohne Rücksicht auf nationale Gefühle und Vorurteile oder die innere Ausgeglichenheit der betreffenden Volkswirtschaften durchgeführt. In dem Fünfjahresabkommen zwischen Polen und der Tschechoslowakei vom April 1951 wurde eine ‚wissenschaftlich-technische‘ Zusammenarbeit und eine Normung der industriellen Produktion vorgesehen. Ähnliche Abkommen bestehen zwischen allen fünf europäischen Ostblockstaaten und der Sowjetunion. Sie gehen über eine umfassende sowjetische Kontrolle der Volkswirtschaften weit hinaus bis zum direkten Einsatz sowjetischer Techniker und Ingenieure in den Wirtschaftszweigen und Unternehmen dieser Länder. Die Industrialisierung in den Ostblockländern wird nach sowjetischem Vorbild und Schema unter betonter Entwicklung der Grundstoff- und Schwerindustrien – Hüttenindustrie, Stromerzeugung, Schwermaschinenbau, Schwerchemie – vorge-

46 Ebd.

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trieben, auch wenn im Einzelfall nicht ganz ausreichende materielle Voraussetzungen hierfür vorliegen. Diese gleichgerichtete Tendenz ist ein Beweis dafür, daß es sich hierbei nicht allein um die im Interesse der betreffenden kommunistischen Länderregierungen durchgeführte Verwirklichung der kommunistischen Ziele handelt, sondern auch die Gründung von bestimmten Stützpunktindustrien, ja sogar einzelnen großen Stützpunktunternehmen auf solchen Produktionsgebieten erstrebt wird, auf denen sich die Sowjetunion noch nicht voll entwickeln konnte und einer Ergänzung bedarf. Entscheidend für den Ausbau des Produktionsapparates der Ostblockländer sind die in Übereinstimmung mit den politischen Zielen gestellten wirtschaftlichen Forderungen der Sowjetunion, denen alle Wirtschaftspläne der Ostblockländer Rechnung tragen müssen. Von einer arbeitsteiligen Spezialisierung der Länder auf bestimmten Produktionsgebieten unter Berücksichtigung der Standortsund kostenbegünstigten Schwergewichte innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften kann nicht die Rede sein. Die Einseitigkeit dieser Tendenz geht auch aus der Tatsache hervor, daß die Konsumgüterindustrie, deren Vernachlässigung in jedem Land und zu jeder Zeit die Voraussetzung für den Aufbau einer Produktions- und Investitionsgüterindustrie charakteristisch ist, in einem Maße zurückgedrängt wird, wie es nationalwirtschaftlich nicht zu verantworten ist, so daß die gesamte Entwicklung zu Lasten der Lebenshaltung betreffender Völker geht. Bekanntlich ist das entscheidende Merkmal in der Wirtschaftsentwicklung der Ostblockstaaten seit 1945 die Industrialisierung der einzelnen Volkswirtschaften. In den kurzfristigen Wiederaufbauplänen bis 1948 wurde unter Einsatz der privaten Initiative und nur allmählicher Verstaatlichung der Wirtschaft das Vorkriegsniveau im allgemeinen erreicht. Nach 1948 traten die 5- und 6-Jahrespläne, die vereinzelt bis 1953 bzw. 1955 laufen, an ihre Stelle mit dem ausgesprochenen Ziel des Aufbaues einer Schwerindustrie. Seit dem Koreakonflikt [25.06.1950-27.07.1953] griff die Sowjetunion stärker in die Gestaltung dieser Pläne ein, indem sie eine Konzentration aller Kräfte auf die Entwicklung der Grundstoff- und Schwerindustrien durchsetzte. Die von den einzelnen Ländern bereitzustellenden Investitionssummen wurden wesentlich erhöht und schwankten zwischen 17 v. H. (Bulgarien) und 35 v. H. (Ungarn) des Volkseinkommens. In Polen sollen 1955 drei Viertel der Gütererzeugung auf die Industrie entfallen. Die Produktionsgütererzeugung der Tschechoslowakei soll 1953 288 v.H.47 des Vorkriegsniveaus (1937 = 100), die Verbrauchsgüterproduktion nur 144 v. H. erreichen; allein der Anteil der Schwerindustrie an der tschechoslowakischen Gesamtproduktion würde im Jahre 1952 55 v. H. betragen. Ungarn soll seine Industrieproduktion bis 1954 gegenüber 1949 verdoppeln, während Rumänien eine Vervierfachung seiner Industrieerzeugung gegenüber 1938 erstrebt. In Bulgarien soll sich das Verhältnis der industriellen zur landwirtschaftlichen Erzeugung von 30 zu 70 vor dem Kriege auf 47 zu 53 im Jahre 1953 erhöhen. Im Hinblick auf die niedrigere Ausgangsbasis in diesen drei letztgenannten Ländern wird die Produktion nur in Einzelfällen über den eigenen Bedarf 47 Diese Zahlen haben nicht den sonst gültigen Charakter von Meßziffern, da die Festsetzung der Basis und die Fortrechnung methodische Mängel enthalten. Dies gilt auch für die übrigen noch folgenden Größenangaben.

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hinausgehen, während der Schwerpunkt auf der Erschließung der mineralischen Bodenschätze in diesen Ländern liegt. In Polen sollen die oberschlesischen Kohlen- und Kokserzeugung vergrößert und das Hütten- und Stahlwerk in Labedy und Tschenstochau, das Hüttenkombinat Nova Huta bei Krakau (Kapazität 1,5 Mio. t Stahl), das Hüttenwerk in Gleiwitz (Kapazität 1,5 Mio. t Roheisen und 1 Mio. t Stahl) sowie verschiedene Kraftwerke in Danzig, Posen, Warschau, Dychow, Miechowice und Jaworowo und die Traktoren- und Automobilwerke in Warschau und Lublin ausgebaut werden. In der Tschechoslowakei entsteht ein ostslowakisches Industrierevier mit dem größten tschechoslowakischen Hüttenkombinat Huko östlich von Kaschau als Mittelpunkt, das 1953 vollendet sein und eine Jahreskapazität von 1 Mio. t Roheisen haben soll. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß in der Sowjetzone an der Fertigstellung des Hüttenkombinats Ost bei Fürstenberg a. O. mit einer geplanten Leistungsfähigkeit von 0,5 Mio. t Roheisen und 0,52 Mio. t Rohstahl gearbeitet wird. Ein anderes Stahlwerk ist in Calbe a. d. Saale, ein Edelstahlwerk in Döhlen bei Dresden geplant. In Ungarn wird ein Zentrum der Schwerindustrie in Sztalinvaros / Donau neu errichtet, ferner die Röhrenfabrik der Matyas Rakosi-Werke, die Fabrik für Eisenkonstruktionen in Kiskunfélegyháza und das Eisen- und Stahlwerk in Dioczd. Ein anderer Bezirk der Schwerindustrie ist im Kombinat Borzcod auf der Grundlage der dortigen Vorkommen von Kohle, Eisenerz, Kaolin und Bauxit im Aufbau. In Rumänien werden die Erdölindustrie, andere Grundindustrien und die Energiegewinnung ausgebaut. Von den Investitionen in Höhe von 684 Mrd. Lei sind allein 560 Mrd. Lei oder 82 v. H. für die Schwer- und Produktionsmittelindustrie bestimmt. In Baia Mare soll sogar auf der Grundlage von an sich unbedeutenden Kupfer-, Blei- und anderen Metallvorkommen ein metallurgisches Werk entstehen. In Bulgarien werden in der neuen Industriestadt Dimitrowgrad das Stalinwerk für Stickstoffdüngemittel (Jahreskapazität 70.000 t), ferner das thermoelektrische Werk Maritza III und das Stau- und Kraftwerk Wassil Kolarow im Rhodopegebirge erbaut. Selbst Albanien muß in dem von der Natur gesetzten bescheidenen Rahmen die Grundstoffindustrien entwickeln. Nach der Absage der Ostblockländer an den Marshallplan und der von der Sowjetunion erzwungenen Abwendung von Westeuropa im Jahre 1948 muß der geplante Ausbau der Industriezweige in erster Linie aus der eigenen Wirtschaftskraft des Ostblocks erfolgen. Die Schaffung eines von der Sowjetunion beherrschten Wirtschaftsraumes wird auch durch den Ausbau des Verkehrsnetzes (Schiene, Straße und Wasserweg) mit Zielrichtung nach Osten gefördert. Die Kooperation der Ostblockländer kann möglicherweise am Ende der Fünfjahrplanperiode in eine Wirtschaftsunion mit der Sowjetunion übergehen, die heute schon währungspolitisch durch die Angleichung der einzelnen Länderwährungen an den Rubel und die Verwendung des Rubels als Basiswährung im Außenhandel vorbereitet wird“.48

48 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung): Wochenberichte vom 9. Januar 1953.

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5.2. Die überstürzte Kapazitätserweiterung der Schwerindustrie im 1. Fünfjahrplan 1951-1955 geht auf Kosten der Konsumgüterindustrien49 In seiner Dissertation analysiert Stefan Unger die Eisen- und Stahlindustrie der SBZ / DDR von 1947 bis 1971. Fritz Selbmann, 1949/50 Minister für Industrie, 1950/51 für Schwerindustrie, 1951-53 für Hüttenwesen und Erzbergbau, 1953-55 für Schwerindustrie, hatte sich „mehrfach gegen ein überzogenes Tempo beim Aufbau der Stahlindustrie gewandt. Im Dezember 1952 hatte sich der stellvertretende Vorsitzende der Sowjetischen Kontrollkommission Pereliwtschenko von Selbmann gefordert, dieser müsse der Regierung sofort nach Verabschiedung des Volkswirtschaftsplanes (1951-55) einen Beschluß über die Sicherung der Investitionen des Ministeriums für Hüttenwesen und Erzbergbau vorlegen. Daraufhin hatte Selbmann an einer diesbezüglichen Vorlage gearbeitet, bis er schließlich von Pereliwtschenko50 ein Dokument mit dem Titel ‚Maßnahmen zur Entwicklung der Eisenindustrie im Jahre 1953‘ erhielt, das als Grundlage des Regierungsbeschlusses dienen sollte. Nunmehr schaltete Selbmann Ulbricht ein, dem er sowohl das sowjetische Dokument als auch die vom ihm hieraus entwickelte Ministerratsvorlage zur Kenntnis gab. Der Minister für Hüttenwesen und Erzbergbau bewertete dieses Papier als eine außerordentlich wichtige Hilfe bei der Realisierung der Investitionsvorhaben und sprach sich für seine Beratung im Sekretariat der SED aus, um es sodann der Regierung zuzuleiten. Dieser Vorgang stand am Beginn der in den nächsten Monaten unternommenen Versuche zur weiteren Beschleunigung des Aufbaus der Stahlindustrie. Das diesbezügliche, von der Sowjetischen Kontrollkommission erstellte, ‚Maßnahmen zur Entwicklung der Eisenindustrie im Jahre 1953‘ überschriebene, Papier unterstrich zunächst einmal mehr die Bedeutung der Eisen- und Stahlproduktion für die Entwicklung des Maschinenbaus, des Bergbaus sowie der chemischen Industrie und damit letztlich für die gesamte Volkswirtschaft der DDR. Dabei seien in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielt worden, andererseits seien – so die SKK [Sowjetische Kontrollkommission] – jedoch gravierende Defizite im Hinblick auf die zu geringe Wachstumsgeschwindigkeit und den technologischen Zustand der errichteten Aggregate zu konstatieren: ‚Daneben ist in der Entwicklung der Eisenindustrie ein Rückstand in der Inbetriebnahme neuer Produktionskapazitäten und eine unzureichende Ausnutzung der sich in Betrieb befindlichen Kapazitäten zu verzeichnen. So ist z. B. im Eisenhüttenkombinat Ost und in den Eisenwerken West kein einziger Hochofen zum festgesetzten Termin in Betrieb genommen worden. Von fünf Walzstraßen ist fast keine einzige Straße in Betrieb genommen. Die Walzstraße, die in der ‚Maxhütte‘ 49 Unger, Stefan: Eisen und Stahl für den Sozialismus, Berlin 2000. 50 Pereliwtschenko, Michail Jossifowitsch (geb. 1900), stellvertretender Volkskommissar für allgemeinen Maschinenbau der UdSSR, 1948-49 Chef der Planökonomischen Abteilung der SMAD, 1948-49 stellvertretender Oberster Chef der SMAD für Industrie, 1949-53 stellvertretender bzw. erster stellvertretender Vorsitzender der SKK für Industrie.

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in Betrieb genommen wurde, läuft wegen Fehlens des Antriebs nur mit halber Kapazität. Infolge des Zurückbleibens der Entwicklung der Grundlagen der Metallurgie wird die Hochofenproduktion nicht mit Kalkstein, Eisenerz und Qualitätskoks versorgt‘. Darüber hinaus konstatierte die Sowjetische Kontrollkommission häufige Havarien an den Produktionseinrichtungen, die sie auf den ‚Mangel an qualifizierten Kadern‘ und die hieraus resultierende Mißachtung der Technologie zurückführte. Insgesamt formulierte die SKK mit dieser Einschätzung eine scharfe Kritik an dem bis zu diesem Zeitpunkt erreichten Stand des Aufbaus der Schwarzmetallurgie in der DDR. Diese Mißstände sollten nach ihrer Meinung nun beseitigt werden, damit die Stahlindustrie der wachsenden Nachfrage nach Eisen- und Stahl gerecht werden könne. Zu diesem Zeitpunkt enthielt das Papier verschiedenste Maßnahmen, die vier Bereiche betrafen und darüber hinaus einen weitreichenden Einzelvorschlag enthielten. Zusammengefaßt setzte die im Fünfjahrplan 1951-1955 formulierte Wirtschaftspolitik die im Zweijahrplan begonnene Ausrichtung der Eisen- und Stahlindustrie mit der Konzentration auf den proportionalen Kapazitätsausbau der Branche fort. Allerdings erfolgte nunmehr eine deutliche Forcierung des avisierten Expansionsprogramms, wozu vor allem eine enorme Ausweitung der Erzeugungsmöglichkeiten durch umfangreiche Investitionen angestrebt wurde. Bis zum Herbst 1952 geriet das für die Schwarzmetallurgie der DDR konzipierte Wachstumsprojekt dann jedoch zunehmend in die Krise, in deren Verlauf sämtliche Entwicklungsprobleme der Branche zum Thema gemacht wurden. Die in diesem Zusammenhang formulierten Strategien zur Krisenüberwindung trugen ihrerseits zur Verschärfung der Problemlage bei und beförderten die allgemeine Krise von Wirtschaft und Gesellschaft der DDR, die schließlich im Zusammenhang mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 eskalierte“. Mit dem Beschluß des Politbüros vom 9. Juni 1953 „endete die erste Entwicklungsphase der Schwarzmetallurgie der DDR, noch vor der, sich vordergründig an der Normenfrage entzündenden, Eskalation der politischen Lage am 17. Juni 1953. Wie der ein halbes Jahr zuvor begonnene Versuch, in dieser Frage den Durchbruch zu erreichen, resultierte auch der Abbruch des forcierten, proportionalen Aufbaus der Eisen- und Stahlindustrie aus den Forderungen der Sowjetunion. Die Implikationen und Folgenprobleme, welche dieser Kurswechsel im Bereich der Schwarzmetallurgie seinerseits hervorbrachte, wurden in den folgenden Jahren immer deutlicher. […] Vor allem bedingte der Abbruch des forcierten Aufbaus der Stahlindustrie, daß zunächst kein konkretes und eindeutiges Leitbild für die zukünftige Entwicklung der Branche vorhanden war und eine gewisse Orientierungslosigkeit vorherrschte. Der ‚Neue Kurs‘ führte damit vor allem auch zu einer Stagnation der Schwarzmetallurgie, deren Aufbau bis zum Sommer 1953 in weiten Teilen unvollendet geblieben war“.51 „Zusammengefaßt befand sich die DDR am Ende des Jahres 1960 in einer außerordentlich bedrohlichen wirtschaftlichen Lage: Insbesondere durch die zu ge-

51 Unger, Stefan: Eisen und Stahl für den Sozialismus, Berlin 2000, S. 196, 212.

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wärtigenden Walzstahldefizite erwartete man eine starke Beeinträchtigung der gesamten metallverarbeitenden Industrie, der Bauindustrie, aber auch der Exporte. Dies – so das Fazit der Ausarbeitung – würde jedoch unweigerlich eine Gefährdung des Energie- und Chemieprogramms sowie der Rekonstruktionsprogramme, v. a. auch in der Metallurgie, mit sich bringen. Bemerkenswert ist an der hier zitierten, ansonsten sehr offen argumentierenden Darstellung, daß die Fluchtbewegung aus der DDR als Krisenfaktor überhaupt nicht benannt wird. Im Gegenteil wurde ernsthaft die Möglichkeit der Kurzarbeit erwogen: ‚Es muß mit allem Ernst darauf hingewiesen werden, daß nach der jetzigen Lage, d. h., wenn keine außergewöhnliche Hilfeleistung erfolgt und der innerdeutsche Handel vollständig zum Erliegen kommt, es schon im I. Quartal 1961 zu schwierigen Situationen kommt und daß in vielleicht 400-500 größeren Betrieben des Maschinenbaus, der Textilindustrie und des Bauwesens sowie der chemischen Industrie Betriebsstillstände eintreten und daß vielleicht sogar einzelne Industriezweige zur Kurzarbeit übergehen müssen. […] Natürlich wird bei dieser zu erwartenden Entwicklung die Erfüllung der ökonomischen Hauptaufgabe bis Ende 1961 ernsthaft in Frage gestellt, ebenso wie das Programm zur Entwicklung der sozialistischen Landwirtschaft. Außerdem muß natürlich auf die politischen Wirkungen hingewiesen werden, die sich aus Betriebsstillständen, Kurzarbeit, verringertem Warenangebot und einer u. U. sogar rückläufigen Wirtschaftsentwicklung ergeben. Aufgrund des hier vorgestellten Quellenmaterials kann demgegenüber festgestellt werden, daß die ökonomische Krise 1960 zuvorderst durch die ausbleibenden Importe aus den sozialistischen Staaten verursacht wurde. Diese Defizite verursachten aufgrund der Mechanismen einer geplanten Volkswirtschaft im Jahresverlauf eine Dynamik, die bedingte, daß der Siebenjahrplan bereits 1960 – d. h. ein gutes Jahr nach seiner Verkündung – gescheitert war. In Zusammenhang damit setzte sich zu Beginn der sechziger Jahre in der DDR sukzessive die Erkenntnis durch, daß das im Zuge der Stalinschen Industrialisierung in der UdSSR entwickelte extensive Wachstumsmodell gerade für die DDR mit ihrer geringen Ressourcenausstattung (Rohstoffe, Arbeitskräfte) zunehmend untauglich sei und durch eine intensivere und effizientere Nutzung der Produktionsfaktoren ersetzt werden mußte. Die ‚Störfreimachung‘: Die unmittelbare Reaktion der Entscheidungsträger auf die 1960 aufbrechende volkswirtschaftliche Krise der DDR bildete die sogenannte ‚Störfreimachung‘ gegenüber der Abhängigkeit von Zulieferungen aus Westdeutschland. In bezug auf die Schwarzmetallurgie enthielt das Programm inhaltlich folgende zentrale Aussagen: Einen wesentlichen Ausgangspunkt bildete die Erkenntnis, daß trotz aller im Zuge der ,Störfreimachung‘ erzielten Teilerfolge die Volkswirtschaft der DDR immer noch durch eine ausgeprägte Importabhängigkeit bei Erzeugnissen der Schwarzmetallurgie, insbesondere bei Gütern der zweiten Verarbeitungsstufe, geprägt wurde. Diese Situation wurde erneut als ‚Störanfälligkeit‘ gegenüber den westlichen Staaten bewertet.

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Im Anschluß an diese Überlegungen bewertete das Metallurgieprogramm den Zustand und die technisch-ökonomische Leistungsfähigkeit der Metallurgie. Erneut zeigte sich dabei ein Bewußtsein von den gravierenden Defiziten der Branche und der daraus resultierenden Rückständigkeit im internationalen Vergleich: ‚Der gegenwärtig erreichte technische und ökonomische Zustand des Industriezweiges ist im Vergleich zu anderen hochentwickelten Industriestaaten insgesamt unbefriedigend. Die Arbeitsproduktivität der Schwarzmetallurgie der Deutschen Demokratischen Republik (Roheisen, Rohstahl und Walzstahl) liegt, gemessen zu (sic!, St. U.) Naturaleinheiten je Arbeitskraft, weit unter den vergleichbaren Werten der UdSSR, Westdeutschlands und teilweise der CSSR.‘ Als Ursachen für diese Problemlage führte das Programm ein breites Spektrum von Faktoren an, wobei die unbefriedigende technische Entwicklung der Schwarzmetallurgie an vorderster Stelle rangierte: Mit wenigen Ausnahmen seien die neuesten technologischen Entwicklungen bislang noch nicht in der Eisen- und Stahlindustrie der DDR eingeführt worden, dies betreffe insbesondere die Innovation der Sauerstoffmetallurgie, v. a. des Aufblasverfahrens, des Stranggießens sowie den Einsatz vollkontinuierlicher Walzstraßen. Als weitere Faktoren, welche für die ungenügende Arbeitsproduktivität verantwortlich seien, wurden benannt: Die strukturelle Dominanz von Klein- und Mittelbetrieben, das Fehlen (Ausnahme: Maxhütte) integrierter Hüttenwerke und die damit verbundene Notwendigkeit des Einsetzen kalten Roheisens in den Stahlwerken, die werksinternen Disproportionen zwischen den einzelnen Produktionsstufen und die Notwendigkeit zur intensiven Kooperation zwischen den Werken, die ungenügende Konzentration und Spezialisierung der Betriebe insbesondere auf der zweiten Verarbeitungsstufe, die unwirtschaftlichen Losgrößen aufgrund des vielfältigen Bedarfssortiments bei geringer Gesamtproduktion, die Dominanz kleiner und mittelgroßer Produktionsaggregate sowie schließlich die minderwertige Qualität der in der DDR vorhandenen Eisenerze. Vergleicht man die Aufzählung dieser Faktoren mit früheren Analysen, beispielsweise der von Minister Steinwand 1958 vorgelegten Untersuchung, so drängt sich der Eindruck auf, daß sich die Leistungsfähigkeit der Schwarzmetallurgie am Beginn der wirtschaftspolitischen Reformen gegenüber der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre kaum wesentlich verbessert hatte. Darüber hinaus hatten die für die Branche zuständigen Organe bis zu diesem Zeitpunkt offensichtlich eine Problemsicht entwickelt, welche auf einer standardisierten Identifizierung konkreter kritischer Faktoren basierte, ohne Wirtschaftsreformen abgeleitet. In diesem Sinne kommentierte Thalheim bereits 1964 den gerade beginnenden Reformprozeß mit der Einschätzung, aufgrund des auch fürderhin nicht gewollten Privateigentums an den Produktionsmitteln, des fehlenden Wettbewerbs und der nicht existierenden Marktordnung könne die DDR keine ausreichende Effizienz erreichen, so daß die Zeit der ‚krisenhaften Störungen‘ und der ‚wirtschaftsorganisatorischen Experimente‘ mitnichten beendet sei.52 Letztlich exemplifizierte er damit lediglich das zugrundeliegende Urteil, ohne marktwirtschaftliche Transformation sei die ökonomische Stabilisierung der DDR undenkbar. 52 Ebd.

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Ein weiteres Spezifikum manifestierte sich sodann auf der Produktebene, wo der Anteil der flachgewalzten Produkte in der DDR, anders als in den übrigen sozialistischen und kapitalistischen Industriestaaten, seit 1955 rückläufig war. Nach den vorliegenden, unveröffentlichten Daten konnte die Arbeitsproduktivität der ostdeutschen Schwarzmetallurgie zwischen 1955 und 1967 deutlich gesteigert werden, wobei dieser Prozeß allerdings mit sehr großer Wahrscheinlichkeit langsamer als in der bundesdeutschen Branche verlief. Es ist somit davon auszugehen, daß sich im Untersuchungszeitraum die Produktivitätsschere zwischen den beiden deutschen Stahlindustrien öffnete. Die schwierige ökonomische und technologische Entwicklung der Schwarzmetallurgie der DDR wurde damit insgesamt durch die Defizite des sozialistischen Wirtschaftssystems und Fehlentscheidungen der Wirtschaftspolitik geprägt, wie auch die historischen Bedingungen insgesamt als ungünstig zu bezeichnen sind. Mit dieser allgemeinen Feststellung ist jedoch die Frage noch nicht beantwortet, wie diese Faktoren die historische Entwicklung der schwarzmetallurgischen Industrie konkret beeinflußten. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu erklären, warum die beobachteten Einzelprobleme in derartig gehäufter Form und Intensität auftraten, warum sie ferner zu keinem Zeitpunkt wirklich überwunden wurden und warum sie derart gravierende Konsequenzen zeitigten. Eine Annäherung erlaubt die Spezifizierung der Wirkungsweise der drei entscheidenden Dimensionen: Das Wirtschaftssystem definierte innerhalb dieses Spannungsfelds langfristig, stetig wirksame Handlungsbeschränkungen, -limitierungen und -anreize, bestimmte Handlungsoptionen waren in diesem Rahmen nahezu ausgeschlossen, wie etwa die Schließung unwirtschaftlicher Werke und die Entlassung von Arbeitskräften. Konkret beeinflußt wurde die schwarzmetallurgische Branche insbesondere von den Wirkungen des verzerrten, staatlich administrierten Preissystems, den schwachen Incentives für wirtschaftliches und innovatives Handeln, den teilweise kurzfristig und unvorhergesehen auftretenden Mangelsituationen, den intransparenten bürokratischen Regulierungen sowie den fehlenden Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen bzw. Betriebe. Allerdings bot das Wirtschaftssystem Spielräume zur Formulierung der konkreten Wirtschaftspolitik, innerhalb eines ‚Entscheidungskorridors‘ resultierte diese nicht zwangsläufig aus den systemspezifischen Strukturen“.53 Die überstürzte Kapazitätserweiterung wird auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bestätigt. „Der Fünfjahrplan 1951-1955 hat zum Ziel, die industrielle Produktion gegenüber 1936 auf mehr als das Doppelte zu steigern, um ‚eine weitgehende Unabhängigkeit vom kapitalistischen Ausland sicherzustellen‘. Das Schwergewicht wurde bei dieser Aufgabe auf den Auf- und Ausbau der Grundstoff-, Produktionsgüter- und Investitionsgüterindustrien und hier in den ersten Jahren insbesondere auf die Verstärkung der eisenschaffenden Industrien gelegt. Die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten im Frühsommer 1953 zwangen

53 Ebd., S. 184 f., 208, 256 f., 288 f., 359.

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allerdings die verantwortlichen sowjetzonalen Stellen zu einer Revision der ursprünglich gesteckten Ziele. Die Entwicklung bis 1948: Der Anteil Mitteldeutschlands an der gesamtdeutschen eisenschaffenden Industrie war bis 1945 nur gering. Eine ausreichende Rohstoffgrundlage – Steinkohle und Eisenerz – fehlte. Nur die in erheblichem Maße an den Maschinenbau gebundene und zumeist mit eigenem Schrott arbeitende Gießereiindustrie war stärker entwickelt. Anteil der eisenschaffenden Industrie Mitteldeutschlands an der Produktion Gesamtdeutschlands1) in v.H.

Erzeugnis Roheisen Rohstahl Walzstahl Eisen-, Temper-, Stahlguß 1)

1936 1,8 6,6 5,1 18,4

1943 1,4 7,9 6,9 19,3

Altreich, Gebietsstand, 1937.

Verluste durch Kriegsschäden waren unerheblich. Unter der Voraussetzung einer normalen Rohstoffversorgung hätte die Produktion nach dem Zusammenbruch sofort wieder aufgenommen werden können. In Durchführung der ‚Potsdamer Beschlüsse‘ wurden jedoch von der sowjetischen Besatzungsmacht umfangreiche Demontagen vorgenommen, die bei Roh- und Walzstahl mehr als 80 v. H. und bei den Gießereien rd. 50 v. H. der bestehenden Kapazitäten beanspruchten. Der einzige, übrigens schon damals veraltete Hochofenbetrieb, die Maxhütte in Unterwellenborn, Thüringen, wurde sowjetisches Staatseigentum (SAG). Nach Abschluß der Aktion, die sich zum Teil bis auf die Zerstörung der Werkhallen und Sprengung der Fundamente erstreckte, waren als Jahreskapazitäten vorhanden bei Rohstahl von rd. 1,3 Mio. t nur noch 180.000 t, Walzstahl von rd. 1,0 Mio. t nur knapp 100.000 t. Die Entwicklung seit dem Geldumtausch am 21. Juni und 24. Juli 1948:Für 1936 ist der Zuschußbedarf Mitteldeutschlands mit ungefähr 1 Mio. t Walzstahl und ¼ Mio. t Gießereierzeugnissen anzunehmen. Die Lieferungen aus Westdeutschland sanken nach 1945 stark ab, kamen während der Blockade Berlins vollständig zum Erliegen und betrugen nach dem Wiederanlaufen des Interzonenhandels bis in die Gegenwart hinein nur noch Bruchteile des früheren Umfanges. Die immer stärker hervortretende Diskrepanz zwischen Bedarf und Bedarfsdeckung und die politisch bedingte Unmöglichkeit, die Fehlmenge durch Einfuhren auszugleichen, zwangen neben dem Ausbau der vorhandenen Werke zum Wiederaufbau der demontierten Anlagen sowie zur Errichtung neuer Werke. Ansätze hierzu waren bei Roh- und Walzstahl schon im Zweijahrplan zu finden. Der systematische, besonders die metallurgische Industrie bevorzugende Ausbau erfolgte jedoch erst im Fünfjahrplan. Trotz großer Schwierigkeiten ist es mit Hilfe westdeutscher Lieferungen und durch Rückgabe einiger von der UdSSR demontierter Walzwerke tatsächlich gelungen,

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eine Anzahl vollständig demontierter Anlagen zu ergänzen und zwei neue Hochofenwerke zu errichten. Durch diese Maßnahme wurde eine nicht unerhebliche Steigerung der Produktion gegenüber 1936 erreicht. Roheisen, Produktion Mitteldeutschlands an Rohstahl in Blöcken und Walzstahl 1936 und 1946-1954 Roheisen Jahr 1936 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 Korrigierter Plan 1954

Rohstahl in Blöcken

Walzstahl

1000 t 201 123 132 274 313 348 402 573 1.174

v. 100 61 66 136 156 173 200 285 584

1.000 t 1200 97 108 308 648 963 1.537 1.808 1.911

v. 100 8 9 33 54 80 128 151 160

1000 t 898 76 92 192 468 872 1.084 1.328 1.485

1.650

821

2.180

182

1.720

H.*)

H.*)

v. H.*) 100 8 10 21 52 97 121 147 165 192

*) 1936 = 100

Im Jahre 1953 konnte der Plan bei Roheisen mit 98 v. H., bei Rohstahl in Blöcken mit 99 v. H. und bei Walzstahl mit 95 v. H. erfüllt werden. Roheisen: Das bedeutendste der neu errichteten Werke ist das ‚Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin‘ (EKS) im Gebiet von Fürstenberg / Oder, zu dem am 1. Januar 1951 der Grundstein gelegt worden ist. Der Standort des Werkes – unmittelbar an der derzeitigen Grenze zum deutschen unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiet – ist ausschließlich auf der Basis der Zulieferung von polnischem Koks und sowjetischem Erz gewählt worden. Bis Ende 1953 wurden insgesamt 6 Hochöfen erstellt. Unter Berücksichtigung der zur Zeit bestehenden Schwierigkeiten kann mit einer jährlichen Roheisenerzeugung von rd. 0,8 Mio. t gerechnet werden. Die maximale Kapazität beträgt 1,1 Mio. t im Jahr. Zur Erreichung dieses Zieles wären allerdings die Vervollständigung der Hochöfen, regelmäßige und qualitativ ausreichende Anlieferung von Erz und Koks, fachgerechte Hochofenführung sowie Verbesserung der Arbeitsverhältnisse unbedingt erforderlich. Mit dem Aufbau eines zweiten Betriebes, der Eisenhüttenwerke Calbe (EWC), Calbe / Saale ist im September 1950 begonnen worden. Statt mit den üblichen Hochöfen wurde dieses Werk mit Niederschachtöfen ausgestattet. Es ist errichtet worden, um die zahlreich anfallenden Feinerze sowie die in der Provinz Sachsen geförderten eisenarmen und kieselsäurereichen Erze zu verarbeiten. Die ursprünglich als Brennstoff vorgesehene Rohbraunkohle aus dem Gebiet von Calbe hat sich jedoch wegen ihres Salzgehaltes für metallurgische Zwecke als nicht geeignet erwiesen. Auch der in der Großkokerei Lauchhammer erzeugte Hochtemperaturkoks auf Braunkohlenbasis konnte die in ihn gesetzten Erwartungen bisher nicht erfüllen. Für die Verhüttung wird daher nach wie vor Steinkohlenkoks mit geringen Zusätzen von Hochtemperaturkoks (bis zu 10 v. H.) verwandt. Das Werk arbeitet zur Zeit mit 10 Niederschachtöfen. Die derzeitige Kapazität beträgt rd. 220.000 t jährlich.

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Bei Einsatz von gereinigtem Erz und hüttenfähigem Koks stellt sich die maximale Kapazität auf 275.000 t im Jahr. Erzeugt wird ausschließlich Gießereiroheisen. Das dritte Hochofenwerk Mitteldeutschlands, die Maxhütte in Unterwellenborn, ist mit 4 Hochöfen, und zwar mit drei von je 360 cbm [cbm = Kubikmeter] und einem von 285 cbm ausgerüstet. Bei dem veralteten Stand der Anlage dürfte die Jahreshöchstleistung bei 355.000 t Roheisen liegen. Durch den Einbau einer Skip-Begichtung (zur Zeit Begichtung von Hand) und anderer Hilfseinrichtungen könnte die Kapazität um 10 bis 15.000 t jährlich gesteigert werden. Eine Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Werken wird jedoch wohl kaum zu erreichen sein. Stahl- und Walzerzeugnisse: Zu den bedeutendsten Stahl- und Walzwerken, die nach der Demontage wieder aufgebaut wurden, gehörten das Stahl- und Walzwerk Riesa, Riesa / Sa., Stahl- und Walzwerk Brandenburg, Brandenburg a. d. Havel, Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf, Hennigsdorf bei Berlin, Eisen- und Stahlwerk Gröditz, Gröditz / Sa., Edelstahlwerk Döhlen, Freital-Döhlen. Für Anfang 1954 kann die jährliche Kapazität Mitteldeutschlands an Rohstahl auf 2,1 Mio. t und an Walzstahl auf 1,8 Mio. t veranschlagt werden. Hierzu ist auch die Produktion der am 1. Januar 1954 zurückgegebenen ehemaligen SAG-Betriebe (Eisen- und Hüttenwerke Thale und das im Jahre 1947 von Buntmetall auf Eisen umgestellte Walzwerk Hettstedt) enthalten“.54 5.3. Der beschleunigte Aufbau des Sozialismus in der DDR war ein Strategiefehler von Stalin / Ulbricht und führte zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 Im Februar 1989 übergab Erich Honecker, Ulbrichts „liebes Kind“ (Elli Schmidt), den Mitgliedern des Politbüros einen braunen Kalbslederband. Wilfriede Otto ist der Geschichte des braunen Kalbslederbandes nachgegangen und versuchte zu klären: „Was hat Erich Honecker im Februar 1989 mit seinen ‚Enthüllungen‘ über Walter Ulbricht bezweckt“? „Die Dokumente widerspiegeln mehrere Kapitel DDR-Geschichte: von Anfang der 50er bis zu Beginn der 70er Jahre. Da ist zunächst das Geheimdokument der KPdSU ‚Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR‘ von 1953 (1990 erstmals in der ‚Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung‘ / BzG veröffentlicht), das seinerzeit Grundlage für den sogenannten ‚Neuen Kurs‘ war. Eines der aufschlußreichsten Papiere in dem voluminösen Band, den Honecker im Februar 1989 dem PB [Politbüro] zur Lektüre aufgab, ist ein 26 Seiten umfassendes Dokument mit der Überschrift ‚Zur Korrektur der Wirtschaftspolitik Walter 54 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung): Wochenberichte, 5. Febr. 1954, S. 25 f.

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Ulbrichts auf der 14. Tagung des ZK der SED 1970‘. Wie aus seinem Inhalt zu erschließen, ist es vermutlich kurz nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 im ‚Hause‘ Mittag zur Information bzw. Beruhigung der sowjetischen Seite verfaßt worden. Weitschweifig wird auf Ulbrichts Wirtschaftspolitik eingegangen, diese einer vernichtenden Kritik unterzogen, vor Verleumdungen nicht zurückgeschreckt“.55 Alle Dokumente, die im braunen Kalbslederband publiziert wurden, sind ohne jeglichen Kommentar, so daß sich jeder Leser aufgrund der Fakten ein eigenes Urteil über die Dokumente bilden konnte. Wilfriede Otto versuchte eine politische Interpretation: „Welche Intentionen nun verband Honecker im Februar 1989 mit dem Kalbslederband? Diskutiert wurde über die Dokumente im Politbüro jedenfalls nicht. An eine Veröffentlichung war nicht gedacht. Nur eine erneute Abkanzlung Ulbrichts zu vermuten, erscheint mir zu einfach. Wahrscheinlicher ist, daß Honecker dem Politbüro – wie auch Moskau (über Drähte im PB, die er vermuten mußte) – demonstrieren wollte, welche Machtkämpfe er bereits bestanden hatte und auch künftig bestehen könne. Vielleicht präsentierte er diesen Band, der die Entscheidungen der Sowjetunion 1953 und 1971 dokumentierte, auch, weil er noch auf bestimmte Kräfte in der KPdSU hoffte. Denn daß die Weichen in Moskau auf Preisgabe der DDR – und natürlich auch seiner selbst – standen, dürfte zu diesem Zeitpunkt Honecker selbst gewußt haben“.56 Die Interpretation von Otto ist nicht überzeugend. Wenn man sich ein Urteil erlauben will, muß man das 26 Seiten umfassende Dokument „Zur Korrektur der Wirtschaftspolitik Walter Ulbrichts auf der 14. Tagung des ZK der SED 1970“ näher analysieren. „Am 10. Juli 1970 betonte Walter Ulbricht in der Bauakademie Rostock: Es sei schon eine solche Lage entstanden, daß die Menschen in den kapitalistischen Ländern in der DDR das Beispiel eines Modells des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in Europa sehen. Dies sprach er in Rostock und in der Bauakademie zu einem gleichen Zeitpunkt aus, als in der DDR im Ergebnis seiner Politik ‚Überholen ohne einzuholen‘ große Versorgungsschwierigkeiten bei Waren des täglichen Bedarfs auftraten, einschließlich Zahnbürsten und Scheuerlappen. Angesichts der großsprecherischen Reden des Genossen Ulbricht von der DDR, als dem Modell der sozialistischen Gesellschaft in Europa, trat in der Bevölkerung immer mehr die Stimmung auf, daß die Partei und Regierung die reale Lage nicht kenne. Diese Situation führte zu harten Auseinandersetzungen im Politbüro. Im Politbüro wurde durch Genossen Ulbricht lange Zeit keine sachliche Diskussion über die wirkliche Lage der DDR, über die Realität von Zielstellungen, die Rolle und Realität der Prognosen und über die großen Disproportionen, die sich inzwischen in der Volkswirtschaft herausbildeten, zugelassen. Mit Absicht wurde von ihm eine große Verschuldung gegenüber der Sowjetunion 55 Otto, Wilfriede: Was hat Erich Honecker im Februar 1989 mit seinen „Enthüllungen“ über Walter Ulbricht bezweckt? Die Geschichte eines braunen Kalbslederbandes, in: Neues Deutschland, 29./30. August 1992. 56 Ebd.

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und den sozialistischen Ländern sowie gegenüber kapitalistischen Ländern durchgesetzt. Auf Grund vorhandenen Widerspruchs erklärte er, daß Verschuldung für ein Land wie die DDR etwas ganz normales sei. Selbst die Kapitalisten, so sagte er, kritisieren uns nicht wegen unserer Wirtschaftspolitik. Offensichtlich wollte er nicht merken, daß er mit seiner Wirtschaftspolitik der BRD, ökonomisch in der DDR Fuß zu fassen, in die Hand arbeitete. Durch die Entwicklung wurde die DDR in den Jahren 1970 an den Rand einer Katastrophe getrieben [Hervorhebung Jürgen Schneider]. Diese Entwicklung war nur möglich, weil Genosse Ulbricht vor dem VII. Parteitag, aber besonders nach dem VII. Parteitag in wichtigen Entscheidungen das Kollektiv des Politbüros und des Sekretariats des ZK zuschaltete und sich in seiner Tätigkeit nicht auf die Mitarbeit des ZK, sondern auf Wissenschaftler, die über wenig Verbundenheit gegenüber der Partei und dem sozialistischen Staat verfügten, stützte. Die Ausarbeitung der wirtschaftspolitischen Konzeption für den VII. Parteitag, wie auch anderer wesentlicher Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung hat Genosse Ulbricht persönlich vorbereitet und geleitet. […] Wie in der Vorbereitungszeit des VII. Parteitages, so gab es auch in der Zeit danach eine bewußte Ausschaltung der Abteilung des ZK. Charakteristisch für all diese Beratungen war, daß Genosse Ulbricht selbst die schon oftmals übertriebenen Vorstellungen der betreffenden Genossen zur Entwicklung ihrer jeweiligen Bereiche zurückwies und größere, umfassendere Lösungen in kürzeren Fristen forderte. Dies, weil er der Auffassung war, daß es für die DDR sowie ihre internationale Autorität notwendig wäre, allseitig das Weltniveau zu erreichen. Westdeutschland hat sich nur zum Ziel gestellt, Japan zu überbieten. Wir stellen uns das Ziel, allgemein die Überlegenheit zu erreichen. Das fand später seinen komprimierten Ausdruck in der von ihm aufgegriffenen und für die DDR generell ausgegebenen Losung des ‚Überholens ohne Einzuholen‘.“ Der Fünfjahrplan 1971-1975 mit einer Zielvorstellung von 10 % Wachstumstempo war nicht zu bilanzieren. „Trotz gehäufter Kritiken des Genossen Ulbricht an der Arbeit der SPK, die nach seiner Meinung ‚keine richtige Planmethodik hat, um die Durchbruchstellen ökonomisch zu sichern‘, wurden ständig weitere, nicht bilanzierte Aufgaben in die Pläne hineingedrückt. […] An die elektronische Datenverarbeitung als vorteilhaftes technisches Mittel zur Rationalisierung der Verwaltungsarbeit und Instrument der Leistungstätigkeit in Betrieben, Kombinaten und Zweigen, als technisches Mittel der Leistung und Planung wurden in ihrer Auswirkung übertriebene Erwartungen geknüpft. Ihr Einsatz wurde nicht im Einklang mit den realen Möglichkeiten vorgesehen. Das stand in unmittelbarer Verbindung mit der Vorstellung, durch Systeme und Modelle für die Planung faktisch die Bilanzlücken ausgleichen zu können. […] Die Rolle der EDV für die gesellschaftliche Entwicklung wurde von Genossen Ulbricht stark überschätzt. Das zeigte sich nicht nur in der pompösen Planung bei Robotron, sondern auch in seiner jeglicher realen Zielstellung widersprechenden Forderung bei Tharandt (Bezirk Dresden), eine Stadt der Elektronik aufzubauen.

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Gleichzeitig kritisierte er die Sowjetunion und andere sozialistische Länder, daß sie zu wenig für den Einsatz der EDV tun, daß sie das Zeitalter der Computer nicht erkennen. Das führte zu einer Lage in der DDR, die ernste Gefahren für die Entwicklung hatte. Er schlug alle Warnungen der Genossen, auch der mit uns auf das Engste verbundenen Bruderparteien, in den Wind. Einer der Genossen der Bruderparteien erklärte: ‚Sie können das, Genosse Ulbricht, in der DDR machen, aber wir müssen unser Volk ernähren‘. Die unrealistischen Vorstellungen über die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung führten zu tiefgreifenden Auswirkungen in der Volkswirtschaft. So wurde z. B. das Konsumgüterprogramm des ehem. Rafena-Werkes umgestellt auf die Produktion von EDV-Anlagen, jetzt Kombinat Robotron. Dafür war ein Investitionsprogramm in der Kette: Granulatproduktion im Chemiefaserwerk Schwarza, Magnetbandfabrik Dessau, Magnetspeicherfertigung bei Zeiss, periphere Geräte in verschiedenen Betrieben der Elektrotechnik / Elektronik, Rechenstationen und erhebliche Ausbildungskapazitäten erforderlich. Die effektive Nutzung dieser Kapazitäten wird für den vorgesehenen Zweck auch in einigen Jahren noch nicht vollständig möglich sein. […] Die Sprengung des Planes in der DDR durch subjektivistische Entscheidungen, die vom Genossen Ulbricht erzwungen wurde, führte nicht nur zu starken Disproportionen und erheblichen Versorgungsschwierigkeiten, die es bereits seit Jahren gab, sondern führte weiterhin zur groben Vernachlässigung und Zurücksetzung des Wohnungsbaues. So ist z. B. der Wohnungsbau von 85.600 Neubauwohnungen im Jahre 1961 auf 56.500 Neubauwohnungen im Jahre 1969 zurückgegangen. Stattdessen wurden in den Stadtzentren Verwaltungsgebäude gebaut, die in ihrem großzügigen Ausbau überflüssig waren. Der Bau und die Renovierung von Krankenhäusern wurden vernachlässigt. Die überspitzten Forderungen nach Weltniveau-Objekten, die EDV-Linie, die Schaffung zusätzlicher Internate und Ausbildungskomplexe, die Errichtung neuer Werke und Stadtzentren, die Aufblähung des Umfanges und der Anzahl sogenannter Strukturobjekte 1969 waren – zumal alles auf einmal und in der Mehrzahl außerhalb des Planes – volkswirtschaftlich nicht zu verkraften. Hinzu kam auch die wesentliche Überziehung der geplanten Investsumme im Handel sowie in anderen Bereichen. Der Umfang dieser Investitionssumme, die nicht nur in der Industrie, sondern in der gesamten Volkswirtschaft in der Periode 1966-1970, vor allem in den letzten Jahren zusätzlich in den Plan gedrückt wurden, berechnet die [Staatliche Plankommission] mit ca. 20 Mrd. Mark. Die Auswirkungen daraus betrugen in den Jahren 1968-1970 zusätzlich 9 Mrd. Mark und belasteten die Volkswirtschaft, insbesondere ihre Effektivität noch mehrere Jahre. Sie führten zu einer starken Auslandsverschuldung der DDR [Hervorhebung Jürgen Schneider]. […] Auf der Leipziger Messe wurde von ihm im Beisein fast des gesamten Politbüros, ohne vorher ein Wort zu sagen, über Rundfunk die Einstellung des Automobilbaues der DDR verkündet. Das Sekretariat des ZK, an dessen Sitzungen Genosse Ulbricht seit 1960 nicht mehr teilnahm, und das Politbüro haben das verhindert.

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Ähnlich waren die Konsequenzen für die Konsumgüterindustrie. Auch hier wurden vom Genossen Ulbricht mögliche Schwierigkeiten für die Versorgung im Ergebnis der von ihm gegebenen wirtschaftspolitischen Orientierung von vornherein einkalkuliert. Er führte z. B. aus, daß es für ein Land, wie die DDR, äußerst kompliziert ist, ‚die Struktur so zu entwickeln, daß eine ständige systematische Erhöhung des Lebensstandards garantiert wird und keine Einbrüche eintreten‘. […] 1. Gen. W. U. hat immer wieder Einschätzungen und Fragen aufgeworfen, die nicht mit der realen Lage, unseren Aufgaben und Beschlüssen in Übereinstimmung stehen. 2. Sein Gesundheitszustand und seine körperliche Verfassung hat sich leider zusehends verschlechtert. 3. Wir sehen sie zuerst in seinem Alter und Gesundheitszustand. Also, es geht um ein tragisches menschliches Problem. Er umgibt sich mit Menschen, die weit weg sind von der Realität des Lebens – ja, die ihre Vorschläge aus dem Westen entnehmen. 4. Die übertriebene Einschätzung seiner Person überträgt er auch auf die DDR, die er immer mehr in eine Modell- und Lehrmeisterrolle hineinmanövrieren will. Wir, die DDR, sei ja schließlich Belorussische Staatsrepublik. 5. Partei, Staat und Wirtschaft sollen, ginge es nach seinem Willen so erneut auf irreale, gefährliche Zielstellungen orientiert werden. Begründung – Das Volk muß Opfer für wissenschaftlich-technische Revolution bringen. Man muß gegen die Konsumentenideologie Stellung nehmen etc.“.57 Walter Ulbricht besaß nach seinem Selbstverständnis die allerhöchste Kompetenz in der Wirtschaft. Selbstzweifel dürften ihn nicht geplagt haben. Eine gewisse Überheblichkeit, Selbstherrlichkeit und ein Gefühl der Unfehlbarkeit zeichneten ihn aus. Die Parteitage der KPdSU waren zeitlich immer vor denen der SED. Durch seine Netzwerke in der KPdSU war Ulbricht immer früh über neue Strömungen in dieser informiert und besaß daher einen Informationsvorsprung, den er nutzte. Bei den Verhandlungen mit Stalin58 und bei seinen „grundlegenden“ Beiträgen auf den 7 Parteitagen (1946-1967) und den drei Parteikonferenzen (1949, 1952, 1956)59 begründete Ulbricht die richtungsweisenden Aufgaben der SED in den Zentralplänen.

57 SMAD DY 30/2119. 58 Badstübner. Rolf / Loth, Wilfried: Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953, Berlin 1994, S. 50-53, 68-70, 189-202, 246-274, 242-309, 334 f., 343-348. 59 Schroeder, Klaus / Wilke, Manfred: Parteitage und -konferenzen der SED, in: Eppelmann et al. (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, 2. Aufl., Bd. 2: N-Z, 1975, S. 624-626.

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Die Handlungsspielräume gegenüber Stalin und der nach ihm folgenden KPdSU-Führung waren ziemlich begrenzt, die Zwangslagen dominierend. Ulbricht war sich immer bewußt, daß nur unbedingte Loyalität und das Anpassen an jede Strategie von Stalin und seinen Nachfolgern das politische Überleben garantierte. Für die KPdSU-Führung gab es nach dem 17. Juni 1953 keinen Ersatz für Ulbricht. Mit dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juli 1950 forcierte Stalin den Ausbau der Schwerindustrie in den Volksdemokratien und der DDR. Diese Strategie setzte Ulbricht auf der II. Parteikonferenz (9.-12. Juli 1952) um. Mit den Maßnahmen zur „Entwicklung der Eisenindustrie im Jahre 1953“ wurde von sowjetischer Seite (SKK) der Ausbau der Schwerindustrie noch stärker forciert und damit die Versorgung der Bevölkerung so verschlechtert, daß der 17. Juni 1953 regelrecht programmiert wurde. Die Bedenken, die Ulbricht und auch Selbmann gegenüber der immer schlechter werdenden Mangelversorgung besaßen, wurden durch die unbedingte Loyalität zu Stalin und der nachfolgenden KPdSU-Führung überspielt. Die Zusammenhänge waren für Ulbricht klar: „Die Tatsachen zeigen, daß unter den Bedingungen der Herrschaft der amerikanischen und westdeutschen Monopolherren die Reichen immer reicher werden, die Arbeitermassen jedoch immer größere Not leiden. Die Entwicklung in Westdeutschland widerspiegelt die allgemeine Krise des Kapitalismus, verschärft durch die doppelte Versklavung der westdeutschen Bevölkerung und die hohen Kosten für die Wiedererrichtung des Militarismus in Westdeutschland. Es ist deshalb lächerlich, wenn die Führer der westdeutschen Regierungsparteien angesichts der Verschärfung der inneren Wiedersprüche des Kapitalismus in Westdeutschland behaupten, daß die Durchführung des Generalkriegsvertrages60 keine tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen habe. Im Gegenteil. Mit der Unterzeichnung des Generalkriegsvertrages geht die Zeit der Massentäuschung durch gefüllte Schaufenster zu Ende. Die Umstellung auf die Rüstungswirtschaft wird zur Deformation der westdeutschen Wirtschaft, zur Drosselung der Gebrauchsgüterindustrie, zum verschärften Druck auf die Arbeiterklasse und die werktätigen Bauern sowie zur Verschärfung des Klassenkampfes in Westdeutschland führen“.61 Was Walter Ulbricht für die Bundesrepublik prophezeite, war in der DDR Realität: leere Schaufenster infolge des forcierten Ausbaus der Schwerindustrie und verschärfter Druck der SED auf die Arbeiterklasse und die werktätigen Bauern. Bruno Thoß hat die Kosten der „verdeckten Aufrüstung der DDR“ analysiert und mit der Bundesrepublik verglichen. „Im Gesamtgefüge von systembedingten wirtschaftlichen Problemen und gravierenden Fehlentscheidungen der Regierenden stellte die Aufrüstung in der DDR 1952/53 eine wesentliche Mitursache für die Krise dar. Das soll im folgenden eine Hochrechnung belegen.

60 Am 26. Mai 1951 wurde in Bonn der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten (Zusatzabkommen über Truppen-, Finanz- und Überleitungsvertrag) unterzeichnet. 61 II. Parteikonferenz (9.-12. Juli 1952), S. 40 f.

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Im Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1954 sind die Militärausgaben im weiteren Sinne in bezug zum Bruttosozialprodukt aufgeschlüsselt. Für 1952 wurden demnach 6,3, im Jahr 1953 5,6 Prozent für die Verteidigungsbereitschaft ausgegeben. In der DDR belaufen sich die Kosten, bezogen auf das annähernd vergleichbare Nationaleinkommen, in den Jahren 1952 auf 8,4 und 1953 auf 8,2 Prozent, und liegen damit deutlich über denen der Bundesrepublik“.62 Vergleich der nach ähnlichen Kriterien zusammengefaßten Militärausgaben von BRD und DDR nach offiziellen Angaben in Mio. DM Bundesrepublik Jahr

Verteidigungsausgaben 4.646 7.916 7.896 7.391

% des BSP

1950 1951 1952 1953 DDR Jahr

Bruttosozialprodukt (BSP) 89.765 113.596 126.002 133.666 Nationaleinkommen

Militärausgaben

1950 1951 1952 1953

30.662 36.513 39.745 41.521

2.690 2.745 3.319 3.400

Anteil an Einnahmen in % 8,8 7,5 8,4 8,2

5,2 7 6,3 5,6

Die Verschärfung des Klassenkampfes der SED gegen die Arbeiterklasse und die werktätigen Bauern führte zur massenweisen Flucht dieser Schichten in die Bundesrepublik und zum 17. Juni 1953. Walter Ulbricht war der Hauptverantwortliche auf deutscher Seite für die Umsetzung dieser Strategie. „Ohne Walter Ulbricht – kein 17. Juni 1953“.63 Von 1966-1970 wurden zusätzlich 20 Mrd. Mark investiert, wodurch das Bilanzsystem als „tragendes Gerüst“ des sozialistischen Zentralplans praktisch nicht mehr beherrschbar war und die DDR von Ulbricht „an den Rand einer Katastrophe“ getrieben wurde, d. h., es drohte ein neuer Aufstand wie 1953. Dies war die Botschaft, die Honecker den Mitgliedern des Politbüros mit Hilfe des braunen Kalbslederbandes vermitteln wollte. Die Mitglieder des Politbüros verstanden die Botschaft von Honecker, was auch von Prof. Dr. Claus Krömke bestätigt wird. „Eine Entscheidung zu treffen, und das war doch ein Problem zu sagen, so geht es nicht mehr weiter, wir müssen bestimmte Abstriche machen – der 17. Juni 1953 62 Diedrich, Torsten: Aufrüstungsvorbereitung und -finanzierung in der SBZ / DDR in den Jahren 1948 bis 1953 und deren Rückwirkungen auf die Wirtschaft, in: Thoß, Bruno (Hrsg.): Volksarmee schaffen – ohne Geschrei! Studien zu den Ausführungen einer „Verdeckten Aufrüstung“ in der SBZ / DDR 1947-1952, München 1994, S. 328 f. 63 Herrnstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 7.

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saß allen immer im Nacken, allen! Es war die Furcht, daß hier riesige Unruhen ausbrechen, und es wäre zweifellos dazu gekommen, denn mit dem Druck der Medien dahinter wäre das passiert. Nun wollen wir nicht darüber philosophieren, zu welchem Zeitpunkt das zu welchen Katastrophen geführt hätte; zumindest solange die Breschnew-Doktrin galt, hätte das zu einer Katastrophe geführt. Das hatten wir auch immer im Hinterkopf, ohne daß jemand ein Wort dazu gesagt hat“.64 Erich Honecker wollte darüber hinaus den Mitgliedern des Politbüros aufzeigen, daß er in einem Notstand gehandelt habe, als er Walter Ulbricht zum Rückzug zwang. 5.4. Die Herrnstadt-Dokumente: Das Politbüro der SED und der Volksaufstand am 17. Juni 1953 Rudolf Herrnstadt, von 1950 bis 1953 Kandidat des Politbüros der SED und Chefredakteur von Neues Deutschland, hat drei Jahre nach dem gegen ihn und den ehemaligen Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, angestrengten Parteiverfahren ein Manuskript mit dem Titel „Zur Angelegenheit Zaisser-Herrnstadt“ hinterlassen. Seine Tochter Nadja Stulz-Herrnstadt schreibt zu dem Manuskript, das sie edierte: „Das Herrnstadt-Dokument wirft ein Schlaglicht auf den Zustand des engsten Führungszirkels der SED vor, während und nach dem Aufstand eines Teils der DDR-Bevölkerung am 17. Juni 1953. Es enthüllt, wie sehr die DDR im Sommer 1953 vor einer Wende stand. Einige Wochen lang schien die Abkehr vom stalinistischen Herrschaftssystem greifbar nahe. Seit 1951 schon hatten sich die Politbüromitglieder Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser gegen den fortschreitenden Personenkult um Walter Ulbricht und für eine Reform der stalinistisch-bürokratischen Apparateherrschaft in der DDR eingesetzt. Im Frühsommer 1953 hatten sie im Politbüro zeitweilig die Mehrheit. Ulbricht hatte seine Macht stets auf die Sowjetunion gestützt, die von ihrem militärischen Hauptquartier in Karlshorst aus das Geschehen in der DDR lenkte. Am 17. Juni 1953 – auch das enthüllt das Dokument – existierte in der DDR faktisch keine deutsche Staatsmacht mehr. Die Sowjets entschieden und machten die verschreckten Politbüromitglieder zu ihren Laufburschen. Nach Stalins Tod (5.3.1953) und nach den Ereignissen des 17. Juni stand Ulbrichts weitere Karriere zur Disposition. Im Politbüro wurden einschneidende Einschränkungen seiner Macht diskutiert. Gestoppt wurde der Ost-Berliner Reformprozeß, als die Machtkämpfe um Stalins Nachfolge – die im Partei-Ausschluß und der Hinrichtung des sowjetischen Innenministers Berija gipfelten – beendet waren. Ulbricht fand mit taktischem Geschick neuerlichen Anschluß an die Machtzentrale der UdSSR. Herrnstadt und Zaisser wurden von der Gruppe der verbündeten Opponenten (die sich rasch wieder unterwarfen) abgegrenzt und mit einem parteiinternen politischen Prozeß überzogen. Unter den Vorwürfen, parteispaltenden ,Fraktionismus‘, ,Sozialdemokratismus‘, ,Kapitulantentum vor den imperialistischen Mächten‘, die 64 Innovationen – nur gegen den Plan. Gespräch mit Prof. Dr. Claus Krömke, Berlin, 18.10.1993, in: Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion, 1995, S. 50.

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Zusammenarbeit mit dem ,Volksfeind‘ Berija, Trotzkismus, Titoismus und den Sturz Ulbrichts betrieben zu haben, wurden Herrnstadt und Zaisser ihrer Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Ulbrichts stalinistischer Sieg über die innerparteilichen Reformer bedeutete auch für seinen Nachfolger Erich Honecker die Rettung. Für spätere SED-Größen wie Kurt Hager, Erich Mielke, Otto Winzer, Hermann Axen und Willi Stoph bedeutete ihre Profilierung im ‚Fall Herrnstadt/Zaisser‘ das Sprungbrett zur weiteren Karriere. Das ‚Herrnstadt-Dokument‘ zeichnet die entscheidenden Diskussionen der SED-Spitze im Sommer 1953 akribisch nach“.65 Die Beschlüsse der II. Parteikonferenz 1952 führten direkt zum Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, „im östlichen Teil Berlins und in zahlreichen Städten, vor allem den Industriezentren des Landes, wurde die extreme Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit der bestehenden Staatsordnung signalisiert. Die im Frühjahr 1953 verkündeten Normenerhöhungen dürften lediglich eine mobilisierende Wirkung, keineswegs jedoch ursächlichen Charakter gehabt haben. Zu den auslösenden Momenten des Aufstandes zählt der übereilte und wirtschaftlich in keiner Weise abgesicherte Beschluß von 1952 über den ‚beschleunigten Aufbau des Sozialismus‘. Er hatte die Forcierung der Schwerindustrie, die rapide Erweiterung der bewaffneten Streitkräfte einschließlich der Aufstellung des paramilitärischen ‚Dienst für Deutschland‘ und die weitgehend auf Zwang beruhenden Anfänge der Kollektivierung der Landwirtschaft zur Folge. Gleichzeitig setzte ein verstärkter Kirchenkampf ein. Die Fluchtwelle aus der DDR nahm mit Spitzenwerten von monatlich bis zu 30.000 Personen im Mai / Juni 1953 zu. Gleichzeitig signalisierten Arbeitsniederlegungen die angespannte innenpolitische Lage. Das überstürzte Eingeständnis von Fehlern im Zusammenhang mit der Verkündigung des ‚Neuen Kurses‘ am 9. Juni dürfte der letzte auslösende Faktor gewesen sein. Der Juniaufstand war, obgleich zwangsläufig nach wie vor exakte soziologische und historische Untersuchungen fehlen, vorrangig eine Protestbewegung der Arbeiterschaft. Zentren der Aktionen waren nicht zufällig neben Ost-Berlin die industriellen Ballungsgebiete Bitterfeld, Halle, Leipzig, Merseburg, der Magdeburger Raum und in geringerem Umfang die Gebiete Jena / Gera sowie Brandenburg / Görlitz. Ein nahezu geschlossenes Auftreten zeigten die Arbeiter aus Großbetrieben wie Leuna (28.000), Buna (18.000), Farbenwerke Wolfen (12.000), Hennigsdorfer Stahlwerke (12.000), gleichzeitig fanden republikweit Solidaritätsstreiks der Bauarbeiter statt. Die ländliche Bevölkerung war kaum beteiligt, sie reagierte seit Beginn der Kollektivierung mit der Flucht in die Bundesrepublik. Eine Beteiligung aus den Kreisen der gewerblichen Mittelschichten, der Verwaltungsangestellten und der Intelligenz ist in ihrem Umfang schwer zu quantifizieren. Sie dürfte jedoch gering gewesen sein“.66 65 Herrnstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 2. 66 Ebd., S. 12 f.

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Eine Zusammenstellung der Volkseigenen Betriebe, in denen am 17. Juni 1953 die Arbeit niedergelegt wurde, und ein Katalog der typischen Forderungen, die am 17. Juni 1953 gestellt wurden, befindet sich in den Archiven des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Es folgt die Zusammenstellung vom Zentralvorstand IG Metall (FDGB) der Betriebe, die am 17. Juni 1953 die Arbeit niederlegten.67 „Bezirk Cottbus: Gesamtzahl der Betriebe: 75 mit 14.380 Beschäftigten Bezirk Frankfurt (Oder): Gesamtzahl der Betriebe: 29 mit 8.966 Beschäftigten Bezirk Potsdam: Gesamtzahl der Betriebe: 134 mit 34.819 Beschäftigten Bezirk Rostock: Gesamtzahl der Betriebe: 59 mit 18.183 Beschäftigten 1. Warnow-Werft Warnemünde Beschäft. 9.059 Streik 8.000 2. Neptun-Werft Rostock Beschäft. 8.500 Streik 6.000 3. Dieselmotorenw. Rostock Beschäft. 1.980 Streik 1.000 4. Volkswerft Stralsund Beschäft. 5.700 Streik 5.000 Bezirk Schwerin: Gesamtzahl der Betriebe: 31 mit 6.182 Beschäftigten Bezirk Karl-Marx-Stadt: Gesamtzahl der Betriebe: 481 mit 104.751 Beschäftigten Bezirk Dresden: Gesamtzahl der Betriebe: 509 mit 113.466 Beschäftigten Bezirk Leipzig: Gesamtzahl der Betriebe 379 mit 97.355 Beschäftigten Bezirk Halle: Gesamtzahl der Betriebe: 318 mit 74.285 Beschäftigten Im Bezirk Halle beteiligten sich 52 Betriebe an der Arbeitsniederlegung. In diesen Betrieben sind 45.677 Beschäftigte. Die einzelnen Betriebe wurden vom Bezirk nicht namentlich aufgeführt. Bezirk Magdeburg: Gesamtzahl der Betriebe: 154 mit 66.893 Beschäftigten Im gesamten Gebiet Magdeburg war am 17. 6. eine allgemeine Arbeitsniederlegung zu verzeichnen. In den übrigen Gebieten nur in ganz wenigen Betrieben die Arbeit aufgenommen. Konkrete Angaben vom Bezirk nicht vorhanden. Bezirk Erfurt: Gesamtzahl der Betriebe: 193 mit 75.059 Beschäftigten Im Bezirk Erfurt waren die Gebiete Sömmerda, Erfurt, Weimar, Gotha und Nordhausen Schwerpunkte der Arbeitsniederlegungen. In den Gebieten Apolda, Arnstadt, Eisenach, Heiligenstadt und Mühlhausen erfolgten nur einzelne Versuche, die im Keim erstickt wurden. Genaue Angaben über Anzahl der Betriebe und der Beschäftigten fehlen. Bezirk Gera: Gesamtzahl der Betriebe: 123 mit 42.575 Beschäftigten Bezirk Berlin: Gesamtzahl der Betriebe: 228 mit 79.594 Beschäftigten Folgende Betriebe in Berlin haben am 17.6.1953 durchgearbeitet: VEB Secura Berlin Beschäft. 856 VEB Metallguß, Lichtenberg Beschäft. 166 VEB Oberflächenveredelung Beschäft. 91 Privatbetrieb Kleinmann Beschäft. 92 SANAR Köpenick Beschäft. 225 DHZ Industriebedarf Beschäft. 188 67 Eckelmann, Wolfgang / Hertle, Hans-Hermann / Weinert, Rainer: FDGB intern. Innenansichten einer Massenorganisation der SED, Berlin 1990, S. 151-156.

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Niles-Preßluft, Pankow Beschäft. 294 VEB Bacu, Pankow Beschäft. 158 VEB Apparate- und Kesselbau, Pankow Beschäft. 337 VEB Transportgeräte, Pankow Beschäft. 106 VEB Ätz- und Emaillierwerk, Weißensee Beschäft. 108 VEB Kühlautomat, Treptow Beschäft. 979 Privatbetrieb Karo Beschäft. 110 SAG Kabel Friedrichshain Beschäft. – Bezirk Neubrandenburg: Gesamtzahl der Betriebe: 30 mit 1.916 Beschäftigten In allen Betrieben wurde weitergearbeitet. Bezirk Suhl: Gesamtzahl der Betriebe: 175 mit 39.059 Beschäftigten In allen Betrieben des Bezirks Suhl wurde weitergearbeitet. Davon haben sich an der Arbeitsniederlegung beteiligt: 383 Betriebe mit 332.653 Beschäftigten Von diesen 332.653 Beschäftigten haben sich 274.725 Metallarbeiter an der Arbeitsniederlegung beteiligt.

Die Mitglieder der IG Metall waren in der ganzen Republik – mit Ausnahme der Bezirke Suhl, Karl-Marx-Stadt, Neubrandenburg, Schwerin – massenhaft an Streiks und Demonstrationen beteiligt; in zahlreichen Bezirken – so in Gera, Magdeburg, Rostock und Dresden – begannen die Arbeitsniederlegungen in Metallbetrieben und wurden von dort auf weitere Fabriken übertragen. An Streiks im Organisationsbereich der IG Metall beteiligten sich mit 383 von 2.918 zwar nur 13,1 Prozent aller erfaßten Betriebe. Darin waren aber 332.652 von insgesamt 807.438 Beschäftigten tätig; mit 274.725 legte republikweit ein Drittel der Metallarbeiter die Arbeit nieder. In Berlin ließen sogar 71 Prozent der Metaller die Räder stillstehen. Einen umfassenden Katalog typischer Forderungen des 17. Juni, die zumeist auf Belegschaftsversammlungen in den bestreikten Gebieten erhoben wurden, listet eine Streikanalyse der IG Metallurgie auf: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Gesamte, freie Wahlen für ganz Deutschland. Einen sofortigen Friedensvertrag für ganz Deutschland. Abzug der Besatzungstruppen in ganz Deutschland. Presse- und Rundfunkfreiheit. Strengste Bestrafung der Schuldigen, die diese Fehler verursachten. Preissenkung sämtlicher HO-Waren um 40 %. Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften beim ZK und der Regierung. Die in den Zuchthäusern unschuldig sitzen, sollen freigelassen werden. Die Zeitungen sollen über alle Geschehnisse in der DDR die Bevölkerung in Kenntnis setzen.

Keine Repressalien gegenüber den Kollegen. Aufklärung über den Aufenthalt des Genossen Wilhelm Pieck und was er tut. Aufklärung über die Vermißten des letzten Krieges. Lohnkürzungen nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch bei der Intelligenz.

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Wegfall der Klassenunterschiede zwischen der Arbeiterschaft (Aktivisten, Helden der Arbeit usw.). Weiterhin sind noch folgende Forderungen erhoben worden: 1. Vertretung der Interessen der Werktätigen durch den FDGB und Verwirklichung derselben. 2. Sofortige Erhöhung der Lohngruppen 1-4 um 10 bis 12 %. 3. Verteilung der 40stündigen Arbeitszeit auf sechs Tage, freier Sonntag bzw. 50 % Sonntagszuschlag. 4. Preis- und Qualitätsüberprüfung des Werkküchenessens. 5. Höhere Renten für die Arbeitsinvaliden und Fürsorgeempfänger. 6. Gesamtdeutsche Beratungen, Vier-Mächte-Konferenz und einen Friedensvertrag. 7. Jeden Freitag Lohnzahlungen. 8. Weiterbeschäftigung der ausgelernten Facharbeiter in ihrem Beruf. 9. Waschtag für alle Frauen, die keine Männer haben, aber Kinder über 14 Jahre“.68 „Schnell folgte die Gewerkschaftsführung der Linie der Partei, erklärte den 17. Juni [1953] als den lange vorbereiteten Tag X des Westens und die politischen Forderungen zur faschistischen Provokation, ihren sozialen Teil dagegen, einschließlich des Kampfes gegen die Normenerhöhungen, für berechtigt und mit dem ‚neuen Kurs‘ der SED verträglich. Zur Vorbereitung von Belegschaftsversammlungen empfahl Herbert Warnke den Bezirksvorständen eine Doppelstrategie: Einerseits sollten sie vor der Aufklärung über den faschistischen Hintergrund des 17. und 18. Juni nicht ausweichen, andererseits aber eine volle Entfaltung der Kritik und Vorschläge der Basis zulassen: ‚Das ist die beste Vorbereitung der Bundesvorstandssitzung, die völlig im Zeichen dieses engen Kontakts mit den Betrieben stehen muß‘. Selbstverständlich solle auch über die Fehler der Gewerkschaften gesprochen werden, die in gutem Glauben an die Richtigkeit der politischen Linie die Fehler unterstützt haben. Der größte Fehler der Gewerkschaften aber sei ‚die Vernachlässigung der Vertretung der Interessen der Werktätigen‘ gewesen. Die Gewerkschaften sollten fortan zu ‚wirklichen Interessenvertretern‘ gemacht werden und ‚tatsächliche Demokratie‘ in ihre Organisationen einkehren lassen. Alles müsse dafür getan werden, die Tätigkeit der Industriegewerkschaften auf der ganzen Linie stark herauszustellen“.69 Der Schriftsteller Stefan Heym war im Januar 1952 in die DDR gewechselt. Er folgte ganz der parteioffiziellen Propaganda der SED. „Stefan Heyms parteitreue ‚Forschungsreise in das Herz der deutschen Arbeiterklasse‘: Rundreisen mehrerer sogenannter ‚sowjetischer Arbeiterdelegationen‘ durch die Großbetriebe der DDR waren ein Teil der nach der Bundesvorstandssitzung begonnenen ‚politischen Massenarbeit‘ zur Übertragung der von der Partei 68 Ebd., S. 26f. 69 Ebd., S. 27 f.

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festgelegten ‚wahren‘ Hintergründe des 17. Juni. Ihre offizielle Zielstellung sollte darin bestehen, uns zu helfen, die Stimmung in den Betrieben zu klären und das Vertrauen zur Regierung, zur Partei und den Gewerkschaften zu festigen‘. Der Parteidevise ‚Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen‘ folgend, gehörte dazu auch, den Betriebskollektivvertrag als ‚Bibel der Arbeiter‘ zu popularisieren und damit die betrieblichen Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in ein systemakzeptables Korsett zu zwängen. Mit der propagandistischen Aufbereitung der ersten Rundreise vom August 1953 betraute der FDGB den Schriftsteller Stefan Heym, der den Besuch der sowjetischen Delegation in einer Broschüre zur Forschungsreise in das Herz der deutschen Arbeiterklasse erhob.70 Weder handelte es sich indes um eine ‚Forschungsreise‘ noch suchten die handverlesenen Mitglieder der Delegation – Stachanow-Höchstleistungsarbeiter, Stalinpreisträger, Deputierte von Stadt- und Bezirksräten sowie des Obersten Sowjet, hochrangige Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre – tatsächlich ,eine Erklärung für das, was geschehen war‘, wie Heym glauben machen wollte. Über die Hintergründe des 17. Juni reisten die Mitglieder der Delegation vielmehr mit fest umrissenen Vorstellungen an, wie eine Begrüßungsansprache von Pawel Bykow zeigte, einem Schnelldreher aus Moskau, der in den Jahren des Fünfjahrplanes 23 Jahresnormen erfüllt hatte: ‚Die faschistischen Provokateure: der Bonner Kanzler Adenauer und der Minister Kaiser sammelten hitlerhörige Leute und das ganze faschistische Gesindel und versuchten durch Brandstiftungen und Pogrome einen Zusammenstoß zwischen dem deutschen und sowjetischen Volk zu provozieren und diese Völker in einen neuen Krieg zu stürzen. Mit diesen niederträchtigen Handlungen versuchten sie, die junge, friedliebende Deutsche Demokratische Republik abzuwürgen. Die erste Geige spielten in dieser Angelegenheit die amerikanischen Imperialisten‘. In der Absicht, mit dem fälschlichen Glauben aufzuräumen, ‚daß ein wirklicher Zusammenhang zwischen den Normen und den Ereignissen am 17. Juni‘ bestand und um ‚ein Ende zu machen mit der Blindheit den Hintergründen des 17. Juni gegenüber‘, stellte Heym seine ‚Forschungsreise‘ vollkommen in Dienst der parteioffiziellen Propaganda. Am 17. Juni sei nicht weniger als ‚ein neuer Weltkrieg‘ abgewehrt worden, ‚den die Westmächte auszulösen beabsichtigten – ein Vernichtungskrieg mitten in Deutschland‘. Die Niederschlagung der ‚amerikanisch gelenkten Anschläge‘ verkaufte Heym entsprechend als ‚Freundschaftsdienst‘: ,Die sowjetischen Soldaten in ihren Tanks haben tatsächlich den deutschen Arbeitern in der Deutschen Demokratischen Republik den größten Freundschaftsdienst erwiesen, den ein Arbeiter dem anderen erweisen kann, indem sie zu verhindern halfen, daß die Faschisten und Kapitalisten wieder an die Macht kamen – und indem sie diejenigen deutschen Arbeiter, die wie mit Blindheit geschlagen waren,

70 Heym, Stefan: Forschungsreise in das Herz der deutschen Arbeiterklasse. Nach Berichten 47 sowjetischer Arbeiter, hrsg. vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Abteilung kulturelle Massenarbeit, Berlin (-Ost) 1953.Eckelmann, Wolfgang et al. (Hrsg.): FDGB intern, S. 37 f.

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davon abhielten, noch einmal wie 1933 und 1939 in ihr eigenes Unglück und ihren eigenen Untergang hineinzumarschieren‘. Die mit Blindheit geschlagene deutsche Arbeiterklasse solle ihre Möglichkeiten nutzen, so die Botschaft Heyms, etwas Entscheidendes für den Frieden zu tun: ‚Mehr und besser produzieren und besser leben!‘ Die Arbeiter sollten die DDR zu einem ‚Musterstaat der neuen Gesellschaftsordnung‘ machen. Dabei könnten und sollten sie von der Sowjetunion lernen, wie man Normenerhöhungen durchführt, die Arbeitsproduktivität steigert, den sozialistischen Wettbewerb organisiert und die Arbeiter für Neuerervorschläge und die Rationalisatoren-Bewegung begeistert. Im Gegensatz zu Heyms Darstellung, der von einer ‚eisigen Wand‘ und dem ‚Mißtrauen‘ zwischen den deutschen Arbeitern und ihren ‚sowjetischen Freunden‘ nur schrieb, um mit ihrem angeblichen Verschwinden den Erfolg der Delegation zu illustrieren, scheinen die deutschen Arbeiter für derlei Ratschläge nicht besonders ansprechbar gewesen zu sein. Der Abschlußbericht beklagt die generell geringe Teilnahme an den betrieblichen ‚Freundschaftsbekundungen‘. Die Parteileitung im Böhlener Braunkohlekombinat ‚Otto Grotewohl‘ hatte gar versucht, eine Verschiebung der Ankunft der sowjetischen Delegation zu erwirken, weil einige Funktionäre befürchteten, ‚man werde die sowjetischen Kollegen beim Betreten des Betriebes mit Eisstücken bewerfen‘. An der Abschlußveranstaltung nahmen in diesem Werk nur 250 der 13.800 Beschäftigten teil, was intern als ‚Katastrophe‘ und ‚Schande‘ verzeichnet wurde. Auch von ihrer Wirkung her waren die Besuche ein Fehlschlag. So berichtete Herbert Warnke auf der 14. Tagung des Bundestages,71 daß ‚sofort nach dem Besuch der Delegation alles wieder beim alten geblieben ist. [...] Man wurschtelt weiter‘.“72 „Seit ihrer Gründung 1946 hatte sich die SED sehr rasch zu einer administrierenden Staatspartei entwickelt. Sie hatte einen ebenso mächtigen wie willfährigen Funktionärsapparat geschaffen und ihren eigenen innerparteilichen Führungsprinzipien, das nackte Administrieren und widerspruchslose Unterordnung, mit teils unnachgiebiger Härte, besonders gegen Sozialdemokraten und die sogenannten bürgerlichen Parteien, auf alle Bereiche des Lebens übertragen. Es ist fraglich, ob sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung wesentlich durch die auch damals reichlich unrealistisch wirkenden Verheißungen des raschen sozialistischen Aufbaus in der DDR erhöhte. Die überwiegende Mehrheit der DDR-Bewohner empfand sich durch die im Zuge der Nachkriegsregelung auf unbestimmte Zeit festgelegte Teilung des Landes und die Installierung der Sowjetischen Militäradministration ohnehin als besiegt. Sie wurde darüber hinaus offensichtlich am härtesten von der schrankenlosen Selbstdarstellung der regierenden SED getroffen. Der Alltag war überflutet mit der unaufhörlichen Präsentation des Fiktiven: der ‚ersten Arbeiter- und Bauernmacht auf deutschem Boden‘ und der nun zur Realität erklärten Identität von Produzenten 71 Eckelmann, Wolfgang et al.: FDGB intern. Protokoll der Bundesvorstandssitzung vom 13. bis 15. August 1953, S. 7. 72 Ebd., Ende der wortwörtlichen Wiedergabe, S. 151-156, 26 f., 37-39.

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und Eigentümern. So mußten nicht unbeträchtliche Drangsalierungen, der Anspruch der SED, die Lebensperspektive aller zu formulieren, zugleich hohe Arbeitsleistungen zu verordnen und dafür überdies eine pseudodemokratische Zustimmung abzuverlangen, auf tiefe Verbitterung stoßen, die in den Junitagen des Jahres 1953 in offene Rebellion und Widerstand umschlugen. Für die Sowjetische Militäradministration in Deutschland und die SED-Führung war eine Befriedung des Konflikts mit dem Ziel, den Status quo zu erhalten, faktisch nur durch Gewalt möglich. Allein der massive Einsatz der sowjetischen Panzer hat die Aufstände zum Stillstand gebracht. Der freiwillige Konsens der Bevölkerung zum Staat DDR konnte nicht erlangt werden. Es hatte ihn, das wußten die Beteiligten auf beiden Seiten, nie gegeben. Auch und gerade insofern signalisierte der 17. Juni 1953 eine empfindliche Niederlage der SED. Weitgehend unbekannt ist, daß die Differenzen der SED-Führung vom Frühsommer 1953 lediglich der Höhepunkt von teils heftigen Auseinandersetzungen waren, die bereits seit 1951 im Politbüro73 der SED geführt wurden. Rudolf Herrnstadt beabsichtigte, darüber gesondert zu berichten. Eine Minderheit im SED-Politbüro, zu der neben Wilhelm Zaisser und Herrnstadt vermutlich Heinrich Rau, Anton Ackermann und Franz Dahlem zählten, kritisierte in den frühen 50er Jahren die Arbeitsweise des sich verselbständigenden Parteiapparates und die persönliche Diktatur Walter Ulbrichts. Der Begriff ‚Personenkult‘, so Herrnstadt, sei von ihnen damals nicht verwandt worden, ‚wir [...] sprachen, schon um Walter Ulbricht nicht zu reizen, von der Notwendigkeit einer kollektiv arbeitenden Führung‘. […] Rudolf Herrnstadts Schilderung der Ereignisse vom Frühsommer 1953 enthüllt die stalinistischen Strukturen und Mechanismen in der DDR vier Jahre nach ihrer Gründung. Der vehemente Kampf des SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht mit den angeblichen Fraktionisten Zaisser / Herrnstadt war nicht mehr als die endgültige Abrechnung mit seinen schärfsten und überzeugendsten Kritikern. Daß er dazu mit dem 17. Juni 1953 gerade jenen für die SED-Führung unrühmlichsten Anlaß zu einer beachtenswerten Flucht nach vorn nutzte, spricht für sein außerordentliches taktisches Geschick – auch im Umgang mit den nach Stalins Tod vermutlich unterschiedlichen Strömungen in der sowjetischen Führung. Es zeigte zugleich den in dieser Beziehung geübten KP-Politiker. Der intellektuellen Logik Herrnstadts, innerparteiliche Kritik sei förderlich und damit lebensnotwendig, konnte Ulbricht nur das traditionelle Feindbild der Kommunistischen Partei entgegenhalten. Eine ‚Er-

73 Politbüro, PB oder Politisches Büro: leitendes Gremium der SED, das schon in den frühen 50er Jahren uneingeschränkte Macht in der DDR ausübte, löste das noch paritätisch zusammengesetzte Zentralsekretariat ab. Dem im Juli 1950 (III. Parteitag der SED) gewählten Politbüro gehörten 9 Mitglieder und 6 Kandidaten an: Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, beide Parteivorsitzende; Walter Ulbricht, Generalsekretär; Franz Dahlem (wurde im Mai 1953 ausgeschlossen), Friedrich Ebert, Hermann Matern, Fred Oelßner, Heinrich Rau, Wilhelm Zaisser und als Kandidaten Anton Ackermann, Rudolf Herrnstadt, Erich Honecker, Hans Jendretzky, Erich Mückenberger und Elli Schmidt. Ehemalige Mitglieder der SPD waren lediglich Grotewohl, Ebert und Mückenberger.

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neuerung‘, wie Herrnstadt sie verlangte, so der Parteichef, sei ‚absolut nicht originell‘. Damit habe ‚jede feindliche Gruppierung in der KPD begonnen. Das hat bei Levi angefangen und bei Neumann aufgehört.‘ […] Otto Grotewohl, Fred Oelßner und Walter Ulbricht waren am 3. und 4. Juni 1953 mit der sowjetischen KPdSU-Führung in Moskau zusammengetroffen. [...] [A]m 9. Juni fand eine Sondersitzung des Politbüros im Zimmer des Genossen Grotewohl statt. Nach Eröffnung der Sitzung durch Genossen Grotewohl sprach als erster Oelßner.74 Er begann mit den Worten: ‚Zwei Jahre lang habe ich geschwiegen, heute werde ich reden‘. Er erklärte sodann sein Einverständnis zu sämtlichen Vorschlägen und Gedanken des sowjetischen Dokuments und warf die Fragen auf, die alle Anwesenden beherrschten: Was haben wir deutschen Genossen falsch gemacht? Wie konnte es geschehen, daß wir im Rahmen einer richtigen Politik ein Jahr lang einen falschen Kurs gesteuert und Fehler über Fehler gemacht haben? Als Antwort gab er eine breite Schilderung der Zustände im Sekretariat des ZK, der damals faktisch führenden Körperschaft der Partei, dem er seit 1950 angehörte. Er schilderte die Arbeitsweise des Sekretariats, die Diktatur Ulbrichts, die Erziehung zu Liebdienerei und Furcht, den Dualismus zwischen Sekretariat und Politbüro, seine eigenen Ängste usw. Seine Ausführungen gipfelten darin, daß die wahren Wurzeln der begangenen Fehler nicht in den Beschlüssen der II. Parteikonferenz zu suchen seien, sondern weit tiefer und auch zeitlich weit länger zurückreichen. (Seine Kritik betraf das, was seit dem XX. Parteitag in den Begriff Personenkult zusammengefaßt wird; damals gebrauchten wir diesen Ausdruck nicht, sondern sprachen, schon um Walter Ulbricht nicht zu reizen, von der Notwendigkeit einer kollektiv arbeitenden Führung.) Mit großer Leidenschaft sprach Elli Schmidt.75 Sie schilderte an vielen Beispielen die Loslösung der Partei von den Massen, insbesondere von großen Teilen der Arbeiterklasse. Sie trete seit Jahrzehnten im Namen der Partei vor Arbeiter, sei selber Arbeiterin und wisse sich unter Arbeitern zu bewegen. Aber sie habe keine Resonanz mehr und auch kein gutes Gewissen. Sie habe zuletzt in Görlitz und vorher vor den Textilarbeiterinnen in Thüringen Dinge verteidigt, die nicht zu verteidigen sind und Zustände beschönigt, die zu beschönigen ein Verbrechen sei. Wie könne ein Kommunist in eine solche Lage kommen? Die Ursachen hierfür lägen

74 Fred Oelßner (1903-1977), ZK-Sekretär für Propaganda und Chefredakteur der „Einheit – Theoretisches Organ der SED“. 75 Schmidt, Elli (1908-1980): Seit 1927 in der KPD, 1937/38 Besuch der Internationalen LeninSchule in Moskau, 1935-46 Mitglied des ZK der KPD, 1940/45 Emigration in die UdSSR, 1944/45 Mitarbeit an programmatischen KPD-Dokumenten für die Nachkriegszeit, Rückkehr nach Deutschland, Mitunterzeichnerin des Aufrufs der KPD vom 11.6.1945. Ab Juli 1945 Mitglied des ZK der KPD, 1953 Vorsitzende der Staatlichen Kommission für Handel und Versorgung, 1950-1954 Mitglied des ZK der SED, 1950-Juni 1953 Kandidatin des PB des ZK der SED, wegen Unterstützung von Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt aller leitenden Funktionen enthoben. Jan. 1954 Parteirüge und Ausschluß aus dem ZK der SED. Müller-Enbergs, Helmut / Laude, Horst: Elli Schmidt (1908-1980), in: Müller-Enbergs, Helmut et al. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, 2000, S. 748.

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nicht nur in der faschistischen Provokation vom 17. Juni. Es sei auch ein Selbstbetrug zu glauben, sie lägen nur in den fehlerhaften Beschlüssen der II. Parteikonferenz. ,Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast Du die meiste Schuld, und das willst Du nicht eingestehen, daß es ohne alldem keinen 17. Juni gegeben hätte‘. (H. Matern verlangte von mir später – in der Untersuchung vor der ZPKK [Zentrale Parteikontrollkommission] – eine Bestätigung dafür, daß Elli Schmidt gesagt hätte: ‚Ohne Walter Ulbricht –- kein 17. Juni!‘ Das ist sinngemäß richtig, aber die thesenartige Zuspitzung ist nicht richtig. (Die Äußerung fiel in der genannten Form.) Eine zweite Äußerung, die Elli Schmidt großen Haß eintrug, weil sie das Kind beim Namen nannte, betraf die Günstlingswirtschaft. ‚Es geht nicht gerecht zu, Walter. Wer Dir zum Munde redet und immer hübsch artig ist, der kann sich viel erlauben. Honecker, zum Beispiel, das liebe Kind. Aber wer Dir nicht zum Munde redet, der bekommt keine Hilfe und kann sich totarbeiten, und es wird nicht anerkannt. Und wehe gar, es passiert ihm ein Fehler!‘ Der Höhepunkt der Sitzung war das Auftreten Anton Ackermanns.76 Er gab zunächst eine Analyse des Zustands der Partei und dann eine ausführliche Einschätzung unserer Politik in der Frage der Aktionseinheit der Arbeiterklasse und der Herstellung eines einheitlichen, demokratischen Deutschlands. Er versuchte, kühl zu bleiben, geriet aber bald in so tiefe Erregung, daß er wie in einer Art Ekstase sprach. Er sagte u. a.: ‚Viele Jahre habe ich dich unterstützt, Walter. Trotz allem, was ich sah. Lange Zeit habe ich geschwiegen, aus Disziplin, aus Hoffnung, aus Angst. Heute liegt das alles hinter mir. Die Partei steht höher, und ich werde die Wahrheit sagen und nur die Wahrheit‘. ‚Es gibt in diesem Politbüro nur zwei Sorten von Genossen: solche, die es wagen, den Mund aufzumachen, und solche, die den Mund halten und dasselbe denken‘. Folgende Beschlüsse wurden gefaßt (wenn ich nicht irre, sämtlich in der eben geschilderten Sitzung): […] Es ist sofort ein kurzes, zur Veröffentlichung bestimmtes Kommuniqué des Politbüros zu verfassen, in dem die wichtigsten Maßnahmen des bevorstehenden Kurswechsels bekanntgegeben werden (Tempominderung in der Forcierung des Aufbaus der Schwerindustrie, vergrößerte Investitionen in die Leichtindustrie, Veränderungen in der Lohnpolitik, Widerrufung der Maßnahmen gegen die Großbauern, die Kirche usw.). Als Berija verhaftet wurde, war klar, daß die Genossen Grotewohl und Ulbricht zur Entgegennahme von Informationen in dieser Angelegenheit nach Moskau gebeten worden waren. 76 Anton Ackermann (1905-1973): Ab 1926 KPD, seit 1935 Mitglied des ZK der KPD und Kandidat des PB der KPD, 1945 sowj. „Orden Roter Stern“. Febr. 1945 Aufsatz „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?“, den er im September 1948 widerrufen mußte. 1954 aus dem ZK ausgeschlossen und gerügt. War mit Elli Schmidt verheiratet.

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Nach ihrer Rückkehr informierten Grotewohl und Ulbricht in einer Abendsitzung das Politbüro. Nicht sie allein seien nach Moskau eingeladen worden, sondern auch Vertreter anderer Bruderparteien. Die Genossen Malenkow, Molotow und Chruschtschow77 hätten ihnen mündliche Informationen gegeben sowie ein Dokument des Präsidiums des Zentralkomitees der KPdSU.78 Mündlich sei ihnen u. a. gesagt worden: ‚In den letzten Lebensjahren des Genossen Stalin haben bei uns nicht immer normale Verhältnisse geherrscht‘. Die Prinzipien der innerparteilichen Demokratie seien verletzt worden. Das habe den Nährboden für das Heranwachsen einer solchen Figur wie Berija gegeben. – Diese Bemerkungen waren die erste Andeutung, die unser Politbüro über die Lage in der Führung der KPdSU zu Lebzeiten Stalins erhielt. Dann verlas Genosse Grotewohl das Dokument des Präsidiums des ZK der KPdSU. Je weiter er las, desto glücklicher wurde ich. Ebenso Zaisser, Ackermann und viele andere. (Das Wort glücklich mag sonderbar klingen, aber es stimmt.) Was da geschildert wurde, war – in den Grundzügen – die Lage bei uns! Verletzung der innerparteilichen Demokratie und infolgedessen: Hochwachsen von Willkür, Karrierismus, Administrieren, Wegstoßen ganzer bündnisfähiger Schichten der Bevölkerung von der Partei. Und was im sowjetischen Dokument als Heilmittel abgegeben wurde, als das gesetzmäßige und unfehlbare Heilmittel in geradezu beschwörenden Worten – das war dasselbe, wofür auch wir seit Jahr und Tag verzweifelt kämpften, was eben noch von Ulbricht und Matern wütend bagatellisiert worden war, weswegen wir gerade wieder und schlimmer als je zuvor angegriffen, mißverstanden, verdächtigt wurden: Kollektives Arbeiten der gewählten Führung, echtes, unzweideutiges kollektives Arbeiten“.79 Mit dem kollektiven Arbeiten sollten die Willkürhandlungen, die persönliche Diktatur und der Personenkult von Walter Ulbricht „gebändigt“ werden.80 77 Dieses Triumvirat bildete nach der Liquidierung Berijas die Moskauer Führungsspitze, wobei alle bereits unter Stalin entscheidende Positionen besetzt hatten und nach dessen Tod dem auf zehn Personen reduzierten Politbüro angehörten. 78 Ein derartiges Schreiben ist offensichtlich an die Parteiführung aller Ostblockstaaten gegangen. Der Passus über die LPG ist vermutlich lediglich in der für die SED bestimmten Version enthalten gewesen. 79 Herrnstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument, S. 12 f., 19, 62-64, 128. 80 Ebd., S. 165, 158 f., 212, 238: „Die zentrale Lüge oder ‚Der Genosse Rau hat geschwankt‘. Als Heinrich Rau, einer der konsequentesten Kommunisten, am 30. März 1961 gestorben war, beeilte sich Hermann Matern am Grabe zu erklären: ‚[…] er war stets und immer konsequent‘. Mit diesen Worten versuchte er, die Spuren der Anschläge auf Heinrich Rau zu verwischen, die er im Auftrage Walter Ulbrichts durchgeführt und die zu dessen vorzeitigen Tode beigetragen hatten. Bei drei dieser Anschläge, Heinrich Rau als ‚Feigling‘ und ‚Revisionisten‘ zu verleumden, war ich zugegen. Warum hatte sich Heinrich Rau, der die Zurückhaltung in Person war, den Haß Ulbrichts, Materns und ihrer Hintermänner […] zugezogen? Die zentrale Lüge, mit der die Anhänger des Personenkults in der DDR ihre Verbrechen zu rechtfertigen versuchten, lautet: ‚Man muß die damalige Lage berücksichtigen. Ohne unsere Entschlossenheit, ohne die harte Hand wäre die DDR umgekippt, dem westdeutschen Revanchismus zum Opfer gefallen‘.“

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5.5. Der neue Kurs der SED: Änderungen des 1. Fünfjahrplans (1951-1955) „Stalin starb zum rechten Zeitpunkt [am 5. März 1953]. Die Säuberung in der Sowjetunion konnte noch gestoppt werden. Aber die nach seinem Tod von Malenkow begonnene Verbesserung der Lebenslage der Sowjetvölker setzte die Russen außerstande, der Zone zu helfen. Das vergrößerte die mitteldeutschen Schwierigkeiten; denn dort waren nicht nur alle Reserven schon ausgeschöpft, man hatte auch stillschweigend die obligatorische Frühjahrshilfe der Russen vorausgesetzt. Als diese ausblieb, verstieg sich die SED-Führung mit Riesenschritten in jene Maßnahmen, die letztlich den Aufstand vom 17. Juni 1953 hervorriefen. Seit Anfang 1953 betrieb sie vor allem die Erhöhung der Arbeitsnormen, von der sie sich eine Steigerung der Produktion versprach, zumindest aber eine Senkung der Löhne und damit Abbau des Kaufkraftüberhanges und Entlastung des durch die Kollektivierung, die ‚Großbauten des Sozialismus‘ und den Ausbau der Streitkräfte überbeanspruchten Staatshaushaltes erwartete. Zunächst versuchte die SED, mit Hilfe des FDGB die Arbeiter zu ‚freiwilligen‘ Normenerhöhungen zu bewegen. Als das erfolglos blieb, beschloß das Zentralkomitee am 13. und 14. Mai 1953 die Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent und ließ diesen Beschluß am 28. Mai vom Ministerrat bestätigen. Die Normerhöhung sollte bis zum 30. Juni durchgeführt sein. Die Sowjetunion stand zu dieser Zeit ganz im Zeichen von Malenkows Neuem Kurs, der auf wirtschaftlichem Gebiet vor allem die Steigerung der Konsumgüterproduktion und die Verbesserung der Versorgung zum Ziel hatte. Die These Malenkows, daß auch im Sozialismus die Produktion der Abteilung B (d. h. die Produktion von Konsumgütern) vorübergehend schneller erhöht werden könnte als die Produktion der Abteilung A (das ist die Produktion von Produktionsmitteln), schlug bei den SED-Ideologen wie eine Bombe ein. Wenn sie auch äußerst vorsichtig formuliert war, so hätte sie doch zu Stalins Lebzeiten eine gewaltige Ketzerei bedeutet. Das Politbüro der SED beschäftigte sich seit Ende April 1953 fast ununterbrochen mit dieser Frage und den damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Problemen der Zone – Leuschner ließ kommentarlos alle Arbeiten am Volkswirtschaftsplan 1954, dessen Ausarbeitung zu dieser Zeit begann, stoppen. Auch Hilferufe der Minister und Katastrophenmeldungen, die den Plan für 1953 betrafen, blieben unbeantwortet. Unter dem Druck der Sowjets entschloß sich die SED-Führung Anfang Juni schließlich, ebenfalls einen Neuen Kurs zu proklamieren. Am 9. Juni beschloß das Politbüro ‚Maßnahmen zur entschiedenen Verbesserung der Lebenshaltung aller Teile der Bevölkerung und der Stärkung der Rechtssicherheit in der DDR‘, die am 11. Juni vom Ministerrat verfügt wurden. In der Verlautbarung des Politbüros hieß es: Das Politbüro des ZK der SED ging davon aus, daß seitens der SED und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurden, die ihren Ausdruck in Verordnungen und An-

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ordnungen gefunden haben, wie zum Beispiel der Verordnung über die Neuregelung der Lebensmittelkartenversorgung, über die Übernahme devastierter landwirtschaftlicher Betriebe, in außerordentlichen Maßnahmen der Erfassung, in verschärften Methoden der Steuererhebung usw. Die Interessen solcher Bevölkerungsteile wie der Einzelbauern, der Einzelhändler, der Handwerker, der Intelligenz wurden vernachlässigt. Bei der Durchführung der erwähnten Verordnungen und Anordnungen sind außerdem ernste Fehler in den Bezirken, Kreisen und Orten begangen worden. Eine Folge war, daß zahlreiche Personen die Republik verlassen haben. Das Politbüro hat bei seinen Beschlüssen das große Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands im Auge, welches von beiden Seiten Maßnahmen erfordert, die die Annäherung der beiden Teile Deutschlands konkret erleichtern […] Aus diesen Gründen hält das Politbüro des ZK der SED für nötig, daß in nächster Zeit im Zusammenhang mit Korrekturen des Planes der Schwerindustrie eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt werden, die die begangenen Fehler korrigieren und die Lebenshaltung der Arbeiter, Bauern, der Intelligenz, der Handwerker und der übrigen Schichten des Mittelstandes verbessern. Sofort setzte eine radikale Veränderung des Volkswirtschaftsplanes 1953 ein. Die Parteiführung verlangte, alle großen Investitionsvorhaben abzubrechen und die gesamte wirtschaftliche Kraft auf die Steigerung des Wohnungsbaues und der Konsumgüterproduktion zu konzentrieren“.81 Wie das praktisch geschah, wird von Fritz Schenk geschildert, der von 1952 bis 1957 Mitarbeiter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Bruno Leuschner82 war: „Der Juni-Aufstand 1953 ,hatte bewirkt, daß Moskau jetzt die Hilfe zusagte, die die Plankommission schon im Frühjahr angefordert, aber zunächst nicht erhalten hatte. So wurde unsere ganze Arbeit aus der Zeit vor dem 17. Juni hinfällig, und wir begannen von vorn. […] Nach Ansicht von Bruno Leuschner mußte sich die durch die Sowjetunion zugesagte Hilfe im neuen Planentwurf ausdrücken. ‚Die neuen Tabellen enthielten deshalb drei Hauptspalten: erstens die Zahl des alten Planes, zweitens die der ersten Ausarbeitung des Neuen Kurses und drittens, die letzte und höchste Variante. Da es jedoch an Zeit fehlte, die Minister und Experten einmal gründlich zu konsultieren, setzten die acht Leitungsmitglieder der Plankommission in die dritte Spalte selbstherrlich die Zahlen ein, die sie für angebracht hielten. […] [Leuschner] wies mich an: ‚Nehmen Sie sich ein großes Blatt Papier und schreiben Sie alle Beträge auf, die wir jetzt streichen werden‘. Dann forderte er Straßenberger auf, der Reihe nach die in seinen Listen aufgeführten schwerindustriellen Objekte und die dafür vorgesehenen Investitionssummen zu nennen. Widerwillig las Straßenberger vor: 81 Schenk, Fritz: Magie der Planwirtschaft, Köln, Berlin 1960, S. 65-68. 82 Bruno Leuschner, Heinrich Rau, Franz Dahlem und Hans Seigewasser gehörten zu den Führungskräften der illegalen Lagerleitung im KZ Mauthausen. Rau war im Oktober 1945 in der Abteilung des KPD-Sekretariats im Ausschuß für Landwirtschaftsfragen und Bruno Leuschner seit Juli 1945 in der Wirtschaftsabteilung und im Ausschuß für Wirtschaftsfragen.

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‚Ministerium für Erzbau und Hüttenwesen für das EKO (das war das Eisenhüttenkombinat Ost, später Stalinstadt) 80 Millionen‘. Leuschner fragte: ‚Was kann man davon nach deiner Meinung kürzen?‘. ‚Ich muß das gleiche antworten wie Kerber und Bayer: von meiner Warte aus kann ich unmöglich beurteilen, ob sich 20 oder 50 Millionen herausnehmen lassen‘. Leuschner hörte auch das nicht. Er biß die Zähne ärgerlich zusammen, holte tief Luft und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Nach wenigen Sekunden entschied er: ‚Also streichen wir zunächst mal 30 Millionen! Schenk, schreiben Sie das auf. Weiter, Paul, das nächste Objekt.‘ Straßenberger schlug ein Blatt um und fuhr fort: ‚Ministerium für Hüttenwesen und Erzbergbau für das Stahlwerk Riesa 75 Millionen‘. ,20 weg!‘ ,Hüttenwerk Calbe, 80 Millionen‘. ,20 weg!‘ So ging es stundenlang weiter. Während die anderen Mitglieder tuschelten, die Achseln zuckten oder den Kopf schüttelten, entwickelte Leuschner einen immer größeren Arbeitseifer. Nach Straßenberger kamen die übrigen an die Reihe. Einer nach dem anderen mußte Leuschner die Zahlen für die einzelnen Objekte nennen, und jedesmal wurde nicht mehr gesagt als: ,10 weg!‘ oder ,15 weg!‘ oder ,20 weg!‘. Ich notierte. Als ich am Schluß zusammenzählte, ergab sich die Summe von etwa einer Milliarde. Diesen Betrag verteilte Leuschner nun in gleicher Manier auf die Zweige der Konsumgüterindustrie. Und wie mit den Investitionen verfuhr er auch mit den Materialkontingenten, den Produktions- und Finanzzahlen und allen anderen Planpositionen: die Zahlen der Schwerindustrie wurden gekürzt, die der Leichtindustrie erhöht. […] Endlich, nach mehreren Tagen, zog Leuschner Bilanz: ‚So habe ich mir das gedacht‘, sagte er mit überlegener Zufriedenheit. ‚Wir hatten im alten Plan rund 4 Milliarden für Investitionen vorgesehen. Davon sollten über 60 Prozent auf die Schwerindustrie entfallen. Die haben wir jetzt mal ganz schematisch zusammengestrichen und zugunsten der Leichtindustrie verteilt. Jetzt sieht das Bild schon anders aus. Wir haben etwa 48 Prozent für die Schwerindustrie und 52 Prozent für die Konsumgüterindustrie. Mit diesen Zahlen kann ich mich im Politbüro sehen lassen. Nun müßt ihr euch allerdings mit den Ministerien zusammensetzen und die Sache konkretisieren und ein bißchen ausfeilen. Natürlich weiß ich, daß man das nicht ganz so schematisch machen kann, wie ich es in den letzten Tagen getan habe. Aber grundsätzlich darf sich an diesem Bild nichts mehr ändern‘“.83 „Die SED stand jetzt vor dem Ergebnis ihrer jahrelang betriebenen Investitionspolitik, die nur verständlich ist als Wirtschaftspolitik im Interesse der Sowjetunion und des Ostblocks. Sie war nicht nur vom gesamtdeutschen Standpunkt aus verfehlt und nachteilig, sondern entsprach auch keineswegs den Interessen der [DDR] als eigenem Staatsgebilde. Im Interesse [der DDR] hätte es gelegen, mög-

83 Schenk, Fritz: Vom Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow, Köln, Berlin 1962, S. 226-229.

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lichst schnell die Produktivität zu erhöhen und dem Staat eine gesunde wirtschaftliche und vor allem finanzielle Basis zu geben. Dazu wäre erforderlich gewesen, auf dem Vorhandenen aufzubauen und die traditionell in der Zone ansässigen Industrien entsprechend den geographischen, arbeitskräfte- und kapazitätsmäßigen Voraussetzungen weiterzuentwickeln. Dies hätte z. B. bedeutet, die Braunkohlenförderung und Briketterzeugung, die mitteldeutsche chemische Industrie, die früher führende feinmechanisch-optische Industrie, die Leicht- und Lebensmittelindustrie, die Automobilindustrie und die Landwirtschaft großzügig mit Investitionen zu unterstützen und sich frei entfalten zu lassen. Statt dessen blieben diese Industrien liegen, wurden rücksichtslos ausgebeutet und heruntergewirtschaftet, und man entwickelte im sowjetischen Interesse, angesichts des chronischen Eisen- und Stahlmangels im gesamten Ostblock, Industriezweige, die niemals im mitteldeutschen Raum beheimatet waren und für die keinerlei oder höchst unzureichende Voraussetzungen bestanden. Ihrem Bedürfnis nach Stahl und Eisen, strategischen Grundstoffen und dem katastrophalen Mangel an Transportraum ordneten die Sowjets alles andere unter und zwangen die Zone, die Eisenhüttenindustrien, die Stahl- und Walzwerke, den Schwermaschinenbau, den Schiffsbau für große Tonnagen und den Uranbergbau zu forcieren und völlig einseitig zu entwickeln. Nach 15 Jahren einer derartigen Investitions- und Wirtschaftspolitik ist der Erfolg mehr als zweifelhaft. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sei hier nur hingewiesen auf die schlechte Qualität des erzeugten Eisens, die Mängel der gelieferten Stahlsorten, den wirtschaftlichen Unsinn eines Objektes wie das Eisenhüttenkombinat Stalinstadt, die fragwürdige Qualität des sowjetzonalen Schiffbaus und das gleichbleibend niedrige Niveau des mitteldeutschen Lebensstandards mit seinen immer wieder auftretenden Mangelerscheinungen. Wenn nicht eher, so hätte das 1953 unter allen Umständen zur Einsicht führen müssen, vorausgesetzt, daß die SED-Führung wirklich ehrlich um eine Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung bemüht war. Sie kann sich auch nicht damit verteidigen, daß es an klugen und ehrlichen Hinweisen aus den eigenen Reihen gefehlt hätte. Aber anstatt eine systematische Politik der Wiedergutmachung der begangenen Fehler einzuleiten und den Anfang einer gesunden Wirtschaftspolitik auf lange Sicht zu machen, entschieden sich die Kommunisten zu radikalen Änderungen, die die Wirtschaft noch mehr desorganisierten und von vornherein jeden Erfolg illusorisch machten. Vor allem die Wirtschaftskader kritisierten die im Beschluß über den Neuen Kurs angeordneten Maßnahmen und bezeichneten sie offen als Schildbürgerstreich. Die ökonomischen Schwierigkeiten der Zone, so hielten sie den Parteistrategen vor, erwachsen vor allem aus dem ungeheuren Mangel an Rohstoffen. Wenn man nun aber ins andere Extrem verfällt und alle Investitionen für die Grundstoffindustrie (also auch für jene Zweige, die sich günstig entwickeln lassen) streicht, so versperrt man sich jede wirtschaftliche Entwicklung überhaupt. Sie schlugen vor, zunächst die auf der 2. Parteikonferenz eingeleiteten Maßnahmen (wie Aufbau der kasernierten Volkspolizei, Zwangskollektivierung, Ruinierung der Privatwirtschaft, Aufbau der Rüstungsindustrie im Schwermaschinenbau) wieder rückgängig zu machen, alle weiteren Schritte nach ökonomischen Gesichtspunkten

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zu beurteilen und erst nach gründlicher Überlegung einzuleiten. Diese Diskussionen wurden sowohl in der Staatlichen Plankommission als auch in den Ministerien geführt. Charakteristisch dafür ist ein Zornesausbruch Leuschners: ‚Man kann eine Volkswirtschaft nicht über Nacht umstellen wie eine Wurstfabrik von grober Braunschweiger auf Mettwurst!‘ Aber alle klugen Reden halfen nichts, die Forderung Moskaus hieß ‚Radikale Verbesserung des Lebensstandards in kurzer Zeit‘, und Ulbricht war gewillt, diesen Kurs unter allen Umständen in der Sowjetzone durchzusetzen. In der Staatlichen Plankommission wurde wieder Tag und Nacht gearbeitet. Die Minister, Vorsitzenden der Bezirksräte, Leiter von wichtigen Großbetrieben und sonstige Wirtschaftskader wurden nach Berlin beordert und erhielten eine Unmenge Aufträge, wie und in welcher Zeit die Produktion umzustellen sei. Die Projekte des Eisenhüttenkombinates Stalinstadt wurden geändert mit dem Ziel, nur wenige Teilabschnitte fertigzustellen und dann das Vorhaben ruhen zu lassen. In der Großkokerei Lauchhammer sollten statt 12 Hochofenbatterien nur 6 montiert werden. Auch andere wichtige Objekte wurden ‚planmäßig‘ stillgelegt, und es entstand der im Ostblock landläufige Begriff der ‚Investruinen‘. Andere unliebsame Maßnahmen wurden hingegen zunächst nicht rückgängig gemacht. Das waren vor allem die, welche die weitere Ausbeutung der Arbeitskräfte vorsahen, so die befohlene zehnprozentige Normenerhöhung der betrieblichen Umlaufmittel, die immer wieder dazu führte, daß einzelne Werke die Löhne nicht rechtzeitig auszahlen konnten, und einige Preiserhöhungen, die den Lebensstandard der Bevölkerung verschlechterten. Die Arbeiter durchschauten dieses Spiel, und es kam zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953. An diesem bisher schwärzesten Tag der SED-Führung hüllte sich das Politbüro völlig in Schweigen. Die einzige Anweisung, die an diesem Tag herauskam, erreichte die Grundorganisationen der Partei um 18 Uhr, nachdem die Sowjettruppen den Aufstand niedergeschlagen und den Ausnahmezustand bereits verhängt hatten. Die Parteimitglieder wurden aufgefordert, noch am selben Abend in den Wohngebieten die Plakate über den Ausnahmezustand anzukleben und alle Personen zu melden, die sich am Aufstand beteiligt hatten. Darin zeigte sich die ganze ‚Kraft und Stärke der Partei‘.“ 5.6. Das Fiasko des Neuen Kurses „Unmittelbar nach dem Aufstand mußte die Plankommission ihre Arbeiten an der Änderung des Planes für 1953 von vorn beginnen. Moskau hatte aufgrund des Volksaufstandes jegliche Hilfe zugesagt. Die Zonenplaner konnten nun großzügigere Aufgaben stellen. Die Verwirklichung all dieser Maßnahmen in der zweiten Hälfte des Jahres 1953 ließ eine weitere Hauptschwäche des stalinistischen Partei- und Wirtschaftsapparates offensichtlich werden: die Schwerfälligkeit des scheinbar lückenlos durchorganisierten stalinistischen Machtinstrumentes bei Kursänderungen. Obwohl Leuschner Anfang Oktober vor der Volkskammer die Planänderungen mit den optimistischen Worten begründete, Wohlstand in nie gekanntem Ausmaß

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proklamierte und den Partei- und Wirtschaftsfunktionären Mut zu großzügigen und kühnen ‚Schnitten‘ versprach, verliefen die praktischen Maßnahmen im Sande. Was die Experten vorausgesagt hatten, bewahrheitete sich. Eine Volkswirtschaft kann nicht von heute auf morgen umgestellt werden. Die Funktionäre in den Betrieben gingen nur zögernd in die Stillegung der großen Investitionsprojekte. Es war nicht möglich, einfach nur Gerüste abzureißen, Menschen und Materialien an die neuen Bauplätze zu beordern und dort über Nacht Wohnungen, Kinos, Theater, Gaststätten, Geschäfte usw. aus der Erde zu stampfen. Die Investitionsobjekte mußten erst einmal winterfest gemacht werden; das zog sich bis Ende des Jahres hin und verschlang einen großen Teil der für den Wohnungsbau bestimmten finanziellen und materiellen Mittel. Die durch den jahrelangen Terror vorsichtig gewordenen Funktionäre dachten nicht im geringsten daran, ‚Schnitte‘ zu machen und sich dafür später von der Partei wieder prügeln zu lassen. Ähnliche Schwierigkeiten gab es bei der Umstellung der industriellen Produktion von schweren Ausrüstungen auf Massenbedarfsgüter. Von der ursprünglich geplanten Produktion waren erhebliche Mengen für den Außenhandel vertraglich gebunden, und die Ministerien wiesen nach, daß die Nichteinhaltung der Verträge erheblich mehr kosten würde, als die Konsumgüterproduktion einbringen konnte. Wo dennoch mit der Massenbedarfsgüterproduktion begonnen wurde, war das Ergebnis äußerst mager. Die Erzeugnisse waren technisch unvollkommen und von mangelhafter Qualität, sie fanden bei den Käufern keinen Anklang. Die in technisch-wirtschaftlichen Dingen wenig bewanderten Parteistrategen bekamen eine vage Vorstellung davon, wieviel Erfahrung, Schöpfergeist, Ausdauer und vor allem betriebliche Kontinuität dazu gehören, um eine leistungsfähige moderne Waschmaschine, einen Motorroller, einen praktischen, störungsfreien Kühlschrank oder gar ein modernes, dem Weltstand der Technik entsprechendes Automobil auf den Markt zu bringen. Die einzige Verbesserung, die auch die Bevölkerung spürte, gab es in der Lebensmittelversorgung. Der Bedarf an Butter, Fleisch, Kaffee, Südfrüchten, Gewürzen und sonstigen Mangelwaren wurde erstmals einigermaßen befriedigt, wenngleich das hohe Preisniveau und die immer noch geringe Auswahl keinen Vergleich mit Westdeutschland zuließen. Auch bei dieser Gelegenheit hatte die SED-Führung wieder Lohnverbesserungen zugesagt und durch Zurücknahme der Normerhöhungen und anderer unliebsamer Bestimmungen nach dem 17. Juni zum Teil schon realisiert, so daß die Kaufkraft der Bevölkerung anstieg, noch ehe die Produktion die Voraussetzungen zur Befriedigung der Käuferwünsche geschaffen hatte. So blieb trotz der höheren sowjetischen Lieferungen ein Kaufkraftüberhang von über einer Milliarde Ostmark bestehen. Selbstverständlich geht es bei so weitreichenden wirtschaftlichen Maßnahmen nicht ohne personelle und strukturelle Umstellungen ab. Im Politbüro wurde die ‚parteifeindliche Fraktion Zaisser-Herrnstadt‘ ausgeschaltet, die während des Auf-

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standes versucht hatte, Ulbricht zu stürzen. Im Staatsapparat wurden zahlreiche leitende Funktionen umbesetzt, Ämter zusammengelegt, aufgelöst oder neu geschaffen.84 SSD-Minister Wilhelm Zaisser wurde abgesetzt und seine Dienststelle als Staatssekretariat unter Ernst Wollweber (SED) dem Innenministerium angegliedert. Seine Frau, Else Zaisser, seit 1952 Minister für Volksbildung, verlor ebenfalls ihren Posten. Das langjährige ZK-Mitglied Max Fechner verlor den Posten des Justizministers an Hilde Benjamin (SED), die sich als Anklägerin in den berüchtigten politischen Schauprozessen der Stalinzeit hervorgetan hatte. Anton Ackermann (SED) wurde als Staatssekretär im Außenministerium von Georg Handke (SED) abgelöst; Außenminister wurde der frühere Aufbauminister Dr. Lothar Bolz (NDP). Neuer Aufbauminister wurde Heinz Winkler (als einziger CDU). Fritz Macher (SED) erhielt das schon 1950 vom Gesundheitsministerium getrennte Arbeitsministerium, dessen bisheriger Chef, Roman Chwalek (SED), den parteilosen Verkehrsminister Prof. Dr. Reingruber verdrängte. Das Staatssekretariat für Nahrungs- und Genußmittelindustrie wurde in ein Ministerium für Lebensmittelindustrie unter Kurt Westphal (SED) umgewandelt. Die Leitung des Ministeriums für Handel und Versorgung war schon im Februar 1953, nach der Verhaftung des Handelsministers Karl Hamann, LDP, an Curt Wach, SED, übergegangen. Außenhandelsminister war im September 1952 Kurt Gregor, SED, geworden. Verschiedene Reorganisationsmaßnahmen aus den Jahren 1951/52 wurden rückgängig gemacht: Es wurde wieder ein Ministerium für Schwerindustrie unter Vorsitz von Selbmann geschaffen, in das die bis dahin selbständigen Staatssekretäre für Kohle und Energie (Fritsch) und für Chemie, Steine und Erden (van Rickelen) eingegliedert wurden. Die Koordinierungs- und Kontrollstellen für Handel und Versorgung (Elli Schmidt), für Industrie und Verkehr (Heinrich Rau) und für Land-, Forst- und Wasserwirtschaft (Paul Scholz) wurden wieder aufgelöst. Im November 1953 wurde der Maschinenbau wieder in einem Ministerium für Maschinenbau unter Rau zusammengefaßt. Paul Scholz übernahm wieder das Landwirtschaftsministerium. Ziller verließ den Staatsapparat und avancierte zum Wirtschaftssekretär des Zentralkomitees der SED. Neu gebildet wurde das Staatssekretariat für örtliche Wirtschaft unter Karl Kasten (SED). Das sind längst nicht alle Verschiebungen, aber sie lassen die Verwirrung erkennen, die in der obersten Zonenführung nach dem Volksaufstand herrschte. Der Volkswirtschaft halfen sie allerdings wenig; denn auch im Jahre 1954 mußte der Volkswirtschaftsplan wieder geändert werden, weil es überall an Material, Geld und Arbeitskräften mangelte. Der Neue Kurs, vor allem die Umstellung und Reduzierung des Investitionsprogramms, warf die Wirtschaft weit zurück. Nachwirkungen zeigen sich noch 84 Schenk, Fritz: Magie der Planwirtschaft, Köln, Berlin 1960, S. 71-73.

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heute in der Braunkohlenindustrie, insbesondere bei Braunkohlenbriketts. Hier wurden 1953 zur Produktionssteigerung dringend benötigte neue Brikettfabriken aus dem Investitionsplan gestrichen. Auch in der chemischen Industrie, in der Metallurgie, vor allem in der Buntmetallurgie, sind nicht wieder aufzuholende Rückstände eingetreten. Im Herbst 1954 kritisierte das Politbüro wieder die Plankommission und versuchte, sie zum Sündenbock für den wirtschaftlichen Fehlschlag des Neuen Kurses zu machen. Leuschner ging jedoch in die Offensive und gewann das Rennen. Auf dem 16. Plenum des ZK der SED (8. bis 9. September 1953) hielt er ein großes Referat, in welchem er die unwirtschaftliche Arbeitsweise der Ministerien und Betriebe anprangerte. (Das Referat durfte nur als ‚parteiinternes Material‘ an die Parteileitungen gegeben werden). Er forderte, die Parteiorganisationen sollten sich mehr um die ökonomischen Belange kümmern. Einzig und allein der ökonomische Nutzeffekt sei das Kriterium dafür, ob ein Betrieb gut oder schlecht gearbeitet habe. Leuschner warf der Partei- und Regierungsführung vor, sie fasse voreilig Beschlüsse über die Verbesserung der Lebenslage, ohne vorher genau zu prüfen, ob auch die Voraussetzungen hierfür vorhanden sind. Dabei wärmte er die alte These von 1947 wieder auf, die erst mehr Arbeit forderte und dann ein besseres Leben versprach. Nach Leuschners Ansicht war der Lebensstandard in der Zone im Verhältnis zur Produktion zu hoch. Die Partei müsse sich darüber im klaren sein, daß auf lange Sicht weder Preissenkungen noch Lohnerhöhungen vorgenommen werden könnten. Die Kritik am Apparat der Plankommission wies er zurück mit dem Argument, dieser sei noch zu klein und ungenügend mit qualifizierten Kadern besetzt. Damit behielt er die Oberhand. Die Staatliche Plankommission wurde um drei neue Stellvertreter erweitert: Dr. Grete Wittkowski (Stellvertreter für Handel und Versorgung), Erich Miller (Stellvertreter für Maschinenbau, Verkehr, Post und Fernmeldewesen), Erich Jaschke (Stellvertreter für Land-, Forst- und Wasserwirtschaft). Die Propaganda für das Konsumgüterprogramm ließ Ende des Jahres 1954 merklich nach. Die Partei forderte wieder die stärkere Entwicklung der Schwerindustrie. Sie befand sich damit in Übereinstimmung mit dem Chruschtschow-Flügel in der sowjetischen Partei, der ebenfalls auf die vorrangige Entwicklung der Schwerindustrie drängte und für die Partei die ‚führende Rolle‘ im Staat beanspruchte. Diese gegen die Politik Malenkows gerichteten Forderungen setzten sich immer mehr durch. Der Sturz Malenkows im Februar 1955 hat deshalb die Funktionäre im östlichen Machtbereich nicht überrascht. Vier Monate später, im Juni 1955, trug Ulbricht den Neuen Kurs in der Sowjetzone offiziell zu Grabe: Die Bezeichnung der Korrekturen, die wir auf einigen Gebieten im Herbst 1953 vorgenommen haben, als ‚Neuer Kurs‘ hat einige Genossen veranlaßt, falsche Theorien über die vorrangige Entwicklung der Konsumgüterindustrie zu verbreiten [...] Das Bemerkenswerteste eines solchen Kurses wäre nicht, daß er neu ist, sondern, daß er falsch ist, und ich kann nicht umhin, den Leuten, die solchen Vorstellungen nachhängen, einen Zahn zu ziehen. Wir hatten niemals die Absicht, einen solchen falschen Kurs einzuschlagen und werden ihn niemals einschlagen.

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Der Abschluß des I. Fünfjahrplanes (1951-1955): Der I. Fünfjahrplan der Zone nahm ein unrühmliches Ende. Mit dem Planentwurf für 1955, dem letzten Jahr des Fünfjahrplanes, legte die Staatliche Plankommission dem Politbüro ein Dokument vor, welches die gesamten Rückstände des I. Fünfjahrplanes enthielt. Diese ‚vorläufige Fünfjahrplananalyse‘ sah wenig ermutigend aus. Im Teil ‚Lebensstandard‘ war der Fünfjahrplan infolge der Maßnahmen, die zur Vorbereitung der Volkskammerwahlen vom Oktober 1954 beschlossen worden waren, bereits Ende 1954 übererfüllt. (Die schon für 1953, dann für 1954 versprochene Aufhebung der Lebensmittelrationierung konnte allerdings erst 1958 realisiert werden.) Der Produktionsplan schloß mit Minus ab. Vor allem in der Schwerindustrie, in der Energiewirtschaft, der chemischen Industrie und der Landwirtschaft konnten die Produktionsziele bei weitem nicht erreicht werden. Die Erzeugung von Rohstahl in Blöcken sollte mindestens 2,5 Millionen Tonnen pro Jahr betragen – die tatsächliche Produktion lag unter 2 Millionen. Zudem war die Qualität von Roh- und Kokszufuhr äußerst schlecht, die Ausschußquote lag zwischen 20 und 30 Prozent. Auch in der Braunkohlenförderung, in der Briketterzeugung und in der Energiewirtschaft gab es erhebliche Rückstände. Bei Briketts lagen sie um 13 Millionen Jahrestonnen. Die strenge Kontingentierung und die Stromabschaltungen für die Haushalte mußten beibehalten werden. (Noch 1960 müssen zahlreiche Betriebe wegen Stromknappheit nachts arbeiten, und die zwischenzeitlich eingestellten Abschaltungen der zivilen Abnehmer haben wieder eingesetzt.) Auch die chemische Produktion ist in erster Linie wegen des Energiemangels zurückgeblieben. Die SED erklärte das Jahr 1955 zum ‚Jahr der großen Initiative‘, in dem alle Rückstände aufgeholt werden sollten. Davon versprach sich der Parteiapparat wieder Wunder. Losungen konnten jedoch die fehlenden Materialien nicht ersetzen. Die anhaltende Abwanderung von Arbeitskräften sowie die Nachwirkungen des Neuen Kurses ließen sich durch nichts wieder gutmachen. Die Kommunisten hatten im Zusammenhang mit der Verkündigung des Neuen Kurses erstmals ‚ernsthafte Fehler‘ eingestanden. Sie waren sich über die Auswirkungen dieses Geständnisses sicherlich nicht im klaren. Mit einem Male wurde alles unglaubwürdig, was die Partei jemals verkündet hatte. Vorbei schien es mit dem Song ‚Die Partei, die Partei, sie hat immer recht […]‘. Plötzlich wurde alles angezweifelt oder zumindest kritisch diskutiert, was die Partei anordnete“.85

85 Schenk, Fritz: Magie der Planwirtschaft, 1960, S. 68-77, 93.

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VI. Das Grundmodell der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der SBZ / DDR (1948-1989) 1. Die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) und die Staatliche Plankommission (SPK) waren Exekutiv-Organe der sowjetischen Gosplankommission „Von der Errichtung einer Zentralen Verwaltung durch den Befehl Nr. 1 der SMAD vom 9. Juni 1945 führt ein gerader Weg über die Konstituierung der ‚Deutschen Wirtschaftskommission‘ (DWK) und die Schaffung volkseigener Betriebe bis zur Bildung der Sowjetzonenregierung mit den Koordinierungs- und Kontrollstellen und der Staatliche Planungskommission, die oberste Organe der Gesetzgebung und gleichzeitig Exekutive sind. Unerläßliche Ergänzung und Bedingung für diese Entwicklung war die zunehmende Erfassung des gesamten wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Sowjetzone in ‚Plänen‘. Den Quartalsplänen ab 1946 folgten der Zweijahrplan 1949/50 und nach dessen Ablauf der Fünfjahrplan 1951/55. Mit der Realisierung des Fünfjahrplanes sollten gleichzeitig weitere Voraussetzungen für den ‚Aufbau des Sozialismus‘ im Sinne Moskaus geschaffen werden. Die Arbeitsweise der Staatlichen Plankommission: Die Staatliche Plankommission kapselt sich in ihrer Arbeit – ebenso wie die ihr vorgesetzte Behörde, die Koordinierungs- und Kontrollstellen – völlig von der Umwelt ab. Sie trifft ihre Entscheidungen unbeeinflußt von sachlichen Erwägungen untergeordneter Regierungs- und Verwaltungsbehörden und stellt sich außerhalb jeder Kritik. Trotz der riesigen sowjetzonalen Verwaltungsbürokratie gewährt sie nur einem verschwindend kleinen Kreis Einblick in ihre Arbeitsmethoden. Ein gut organisiertes Sicherungs- und Geheimhaltungssystem schließt hiervon alle nicht genehmen Personen aus, ohne Rücksicht auf deren sonstige Funktionen in der Regierung. Sämtliche Unterlagen, die über die Wirtschaft der Sowjetzone Aufschluß geben könnten, werden als ‚Geheime Verschlußsache‘ behandelt. Die der Staatlichen Plankommission unterstellten Planungsbehörden der Fachministerien und Bezirke erhalten lediglich Einzelanweisungen, aus denen sich ein Einblick in größere Zusammenhänge nicht gewinnen läßt. Alle Anweisung der Staatlichen Plankommission sind Befehle ohne Kommentar. Die personelle Zusammensetzung und die Personalpolitik der Staatlichen Plankommission: Als Heinrich Rau Mitte 1952 die Leitung der Koordinierungsund Kontrollstelle für Industrie und Verkehr übernahm, wurde er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission von Bruno Leuschner abgelöst. Den Posten des 1. Stellvertretenden Vorsitzenden übernahm Ende 1952 Staatssekretär Willi Sägebrecht. Ferner sind dem Vorsitzenden die Staatssekretäre Paul Straßenberger, Erwin Kerber und Kurt Opitz als Stellvertreter beigegeben. Die wichtigsten Abteilungen der Staatlichen Plankommission verfügen über die nachstehend genannte Anzahl von Mitarbeitern:

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Planungshauptabteilungen mit angeschlossenen Planungsfachabteilungen und sonstige Abteilungen Staatliche Verwaltung für Materialversorgung Staatliche Zentralverwaltung für Statistik Zentralamt für Forschung und Technik

320 – 340 260 – 285 280 – 300 180 – 200

Alle mittleren und höheren Angestellten sind Mitglieder der SED und haben zumindest eine Kreisparteischule, die sogenannte ‚Grundschule‘, absolviert. Während noch bis 1950 in der Planungsbehörde eine größere Anzahl wirtschaftlicher und technischer Fachleute tätig war, hat man gegen Ende 1950 mit der systematischen Entfernung aller älteren Akademiker und darüber hinaus aller Mitarbeiter ‚bürgerlicher‘ Herkunft begonnen. Die hierdurch freigewordenen Stellen besetzte man mit ‚Aktivisten‘, die vor ihrer Einstellung eine Landesparteischule der SED besuchen mußten. Es wurde angestrebt, allen maßgeblichen Stellungen der Staatlichen Plankommission ausschließlich Personen proletarischer Herkunft zu verwenden. Bereits Mitte 1950 waren außerdem alle Angestellte, die unter Befehl Nr. 2 1 fielen, versetzt oder ausgeschlossen worden. Einstellungen bei der Staatlichen Plankommission werden abhängig gemacht von der Zustimmung des Leiters der Kaderabteilung der SED. Bei Unklarheiten wird die Vergangenheit der betreffenden Person vom Ministerium des Innern überprüft. Wer von der sowjetischen Linie der Wirtschaftspolitik abweicht, wird als ‚Vertreter des Sozialdemokratismus‘ oder als ‚Opportunist, Titoist, Zionist‘ usw. ‚entlarvt und ausgemerzt‘. Nach Abschluß der ersten Lehrgänge der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Ende 1949, wurden zahlreiche 20-25jährige sogenannte Diplom-Volkswirte durch die Staatliche Plankommission übernommen. Diese ‚Volkswirte‘ bringen als wichtigste Voraussetzung für ihre Berufsarbeit das Resultat ihres ‚Studiums‘, die Kenntnis der Geschichte der KPdSU (B) – der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) –, mit. Nach dem Stand von Ende 1952 waren bereits 75 % aller Planstellen von Angehörigen dieses Personenkreises besetzt. Das Durchschnittsalter der in der Staatlichen Plankommission beschäftigten Personen liegt nach dem Stande vom September 1952 bei 34 Jahren. 2 Die Bezahlung ist im Durchschnitt um 30-40 % höher als bei ähnlichen Berufen in der Industrie. Außerdem empfingen höhere Angestellte von einer bestimmten Gehaltsgruppe an bis April 1953 sogenannte ‚Intelligenz-Lebensmittelkarten‘, d. h. Lebensmittel-Sonderzuteilungen. Die Sowjetisierung der Staatlichen Plankommission und ihre Abhängigkeit von der UdSSR: Seit Erlaß des SMAD-Befehls Nr. 1 im Jahre 1945 wird die gesamte Struktur der Regierungsorgane der Sowjetzone mehr und mehr dem Aufbau 1

Befehl Nr. 2 betrifft Personen, die in Kriegsgefangenschaft oder Emigration außerhalb der Sowjetrußland beherrschten Gebiete waren, und solche, die verwandtschaftliche oder andere Beziehungen zu außerhalb des Ostblocks befindlichen Personen haben.

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Die Erhöhung des Durchschnittsalters gegenüber 1950/51 erklärt sich aus der Tatsache, daß neben jüngeren Kräften auch eine größere Anzahl älterer Aktivisten und „Helden der Arbeit“ eingestellt wurde.

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sowjetischer Regierungsstellen angepaßt. In besonderem Maße gilt dies für die Staatliche Plankommission. Sowohl in der UdSSR wie in der Sowjetzone gehen die Pläne von der Staatlichen Plankommission an die Fachministerien und von diesen direkt oder über die unteren Verwaltungseinheiten an die Betriebe und Kombinate. Die Umbildung des ehemaligen ‚Zentralen Planungsamtes‘ in ein Ministerium für Planung und später in Planungsabteilungen, die unmittelbar dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission unterstehen, war auf diesem Gebiet der letzte Schritt zur Angleichung an sowjetische Verhältnisse. Andere Beispiele für die Übernahme des sowjetischen Schemas sind die Aufteilung des Ministeriums für Industrie in die Fachministerien Maschinenbau, Schwerindustrie und Leichtindustrie im Jahre 1950 und die weitere Aufgliederung des Ministeriums für Maschinenbau in die Ministerien für Schwermaschinenbau, Transportmittel- und Landmaschinenbau sowie Allgemeinen Maschinenbau ab 1.1.1953. Auch die Art der Planerstellung in der Sowjetzone gleicht dem sowjetischen Vorbild bis auf geringe Abweichungen, die durch das Nichtvorhandensein von Privatbetrieben und anderen nichtstaatlichen Unternehmungen bedingt sind. Die Formblätter, die Nomenklatur, das Warenverzeichnis und die Planmethodik wurden von der sowjetischen Planwirtschaft unverändert übernommen. Es besteht eine absolute Abhängigkeit der Staatlichen Plankommission von der Dienststelle der sowjetischen Gosplankommission in der Sowjetzone, der ‚Planökonomischen Verwaltung der SKK‘ in Berlin-Karlshorst.3 Die Sowjets stellen drei Gospläne auf: einen für das eigene Land, einen weiteren gemeinsam für Sowjetrußland und Rotchina und einen dritten für Sowjetrußland, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Albanien und die Sowjetzone. Diese Pläne enthalten die für alle Ostblockstaaten festgelegten Planzahlen für Schlüsselpositionen. Zu den Schlüsselpositionen gehören: Energieerzeugung, Steinkohlenförderung, Hüttenkokserzeugung, Erdölförderung, Roheisenerzeugung, Rohstahl in Blöcken, Warmgewalzter Walzstahl, Kupfer- und Bleierzeugung, Schwermaschinenbau, Fahrzeugbau, Schiffbau, Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik, Anorganische und organische Chemikalien, Gummiund Asbesterzeugung, Chemische Spezialerzeugung. Die Planungsbehörden der Satellitenstaaten müssen die im Gosplan genannten Zahlen bedingungslos akzeptieren; sie haben Materialien, Investitionen, Subventionen und Arbeitskräfte bereitzustellen sowie alle anderen notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die befohlene Produktionshöhe erreicht werden kann. Die Wirtschaftspläne der Sowjetzone bedürfen vor Veröffentlichung und Inkrafttreten hinsichtlich der wichtigsten im Gosplan genannten Gebiete der Zustimmung und Betätigung durch die Planökonomische Verwaltung der SKK. Diese Bestimmung betrifft:

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Walther, Otto: Verwaltung, Lenkung und Planung der Wirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone, Bonn 1953, S. 18-20.

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a) Die Produktion der gesamten verstaatlichten Industrie; b) Investitionen und Eigentumsveränderungen; c) den Außenhandel mit Staaten, die nicht zum Ostblock gehören; d) die Materialversorgung der verstaatlichten Industrie und der SAG-Betriebe; Ferner erläßt die Planökonomische Verwaltung der SKK nach wie vor Anordnungen über die Durchführung von Komplexaufgaben sowie über Produktionsverbote oder Produktionsverpflichtungen. Durch den Gosplan wird außerdem festgelegt, welche Erzeugnisgruppen zu exportieren und zu importieren sind. Die Planungsbehörden der Ostblockstaaten sind – mit Ausnahme derjenigen von China, dem eine besondere Funktion im Ostblock zukommt – ‚Exekutivorgane der sowjetischen Gosplankommission‘. Damit hat die UdSSR einen entscheidenden Einfluß auf den Aufbau und die wirtschaftliche Entwicklung der Ostblockstaaten gesichert“. (Hervorhebung Jürgen Schneider). 2. Das Grundmodell der politisch natural gesteuerten Zentralplanwirtschaft 4 Von Gernot Gutmann und Hannsjörg F. Buck Die Zentralplanwirtschaft der DDR ruhte auf zwei konstitutiven Fundamenten: dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln in sämtlichen führenden Wirtschaftsbereichen und der zentralen staatlichen Planung aller wichtigen Wirtschaftsprozesse. Diese beiden grundlegenden Bausteine der sozialistischen Wirtschaftsordnung in der DDR waren auch in der Ulbricht-Verfassung von 1968 und in der Honecker-Verfassung von 1974 verankert worden. Dort heißt es in Artikel 2 und 9: „Das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln [und] die Leitung und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung [...] bilden unantastbare Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung. [...] Die Volkswirtschaft der DDR beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln. [...] In der DDR gilt der Grundsatz der Leitung und Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche. Die Volkswirtschaft der DDR ist sozialistische Planwirtschaft“.5

4

Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, in: Kuhrt, Eberhard in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, Opladen 1996, S. 23.

5

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974, in: GB1. der DDR, Teil I, Nr. 47, S. 432 ff., hier S. 434 und S. 436 und dazu die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968, Teil I, Nr. 8, S. 199 ff., hier S. 205 ff.

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Im Untergangsjahr der DDR (1989) stammten rd. 96 v.H. des „produzierten Nationaleinkommens“ (= gesamtwirtschaftliches Nettoprodukt)6 aus „sozialistischen Betrieben“. Mit einem Anteil von rd. 86 v. H. stellten dabei die staatseigenen Betriebe den bei weitem größten Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Jahresergebnis. Der Anteil der „sozialistischen Genossenschaften“ zum Nettoprodukt belief sich auf rd. 10 v.H. Der Leistungsbeitrag der Privatwirtschaft war inzwischen auf nur noch 4 v.H. des „produzierten Nationaleinkommens“ geschrumpft.7 Die imperative Planung hatte für das ideologische Selbstverständnis aller kommunistischen Parteien einen hohen Stellenwert. Denn Ausrichtung und Ablauf des Wirtschaftsprozesses mußten in jeder Wirtschaftsperiode im Dienste des von den Klassikern des Marxismus-Leninismus verheißenen Geschichtsprozesses stehen, der zum Endziel des Kommunismus führen sollte. Wichtigster Wegweiser und ein unverzichtbares Vollzugsmittel beim Aufbau der „materiell-technischen Basis des Kommunismus“, die in ferner Zukunft der Gesellschaft einen Überfluß an Gütern bescheren sollte, war der verbindliche Wirtschaftsplan. In ihm wurde das von der Führung der kommunistischen Staatspartei formulierte taktische Zielprogramm der jeweiligen Aufbauetappe des Sozialismus/Kommunismus festgelegt. Planung, Lenkung und Kontrolle der Produktion, der Verteilung und der Verwendung aller volkswirtschaftlich wichtigen Güter (=Wirtschaftsprozesse) hatte ein die gesamte Volkswirtschaft überdeckender Wirtschaftsverwaltungsapparat übernommen. Bei ihm und nicht bei den Unternehmen waren alle wesentlichen Planungsbefugnisse konzentriert. Dieser Apparat unterstand der politischen Führung des Landes (Politbüro und Zentralkomitee der SED). Damit die von einer Befehlszentrale an der Spitze des Zentralstaates gefassten Beschlüsse überall in der Wirtschaftspraxis des Landes befolgt und durchgesetzt wurden, war das gesamte Instanzengebäude der Wirtschaftsverwaltung hierarchisch aufgebaut und jede Instanz mit der Zentrale nach dem Liniensystem verbunden worden (= Verwaltungsaufbau nach dem „Prinzip des demokratischen Zentralismus“). Um die dem Staat aufgebürdete ungeheure Arbeitslast bei der zentralen Lenkung der Wirtschaft zweckmäßig auf zentrale und territoriale Staatsorgane zu verteilen, hatte die Wirtschaftsführung der DDR die Betriebe und Kombinate der Staatswirtschaft in zwei Gruppen eingeteilt. Dabei war für die Zuordnung eines Staatsbetriebes zu einer dieser beiden Gruppen maßgebend, welche gesamtwirtschaftliche oder regionale Bedeutung dieser für die Erfüllung der Staatspläne und für die Deckung des Bedarfs besaß. In der ersten Gruppe, der „zentralgeleiteten Industrie und Bauwirtschaft“, wurden alle VEB und Kombinate zusammengefaßt, die für die Erreichung der Hauptziele der Wirtschaftspläne von herausragender 6

Zur Methodik der Ermittlung des „produzierten Nationaleinkommens“ in der DDR siehe das Statistische Jahrbuch, Ausgabe 1990, Berlin (Ost), S. 97-100.

7

Ebd., S. 105. In der „Privatindustrie“ der DDR waren 1988 nur noch 1.900 Heimarbeiter beschäftigt. Im gleichen Jahr belief sich die Zahl der Berufstätigen in der „privaten Bau Wirtschaft“ (= Bauhandwerk) auf 44900 und im „privaten Verkehrswesen“ auf 15.000 Erwerbspersonen. Vgl. das Statistische Jahrbuch der DDR 1990, S. 126.

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Wichtigkeit waren. Ihr Absatzgebiet umschloss das gesamte Territorium der DDR und die Auslandsmärkte. Betriebe dieser Kombinate hatten an verschiedenen Standorten im gesamten Territorium der DDR ihren Sitz. Alle Staatsunternehmen dieser Gruppe wurden - nach dem Branchenprinzip - den Industrie- und Fachministerien in Ost-Berlin direkt unterstellt. Demgegenüber umfaßte der Kundenkreis der „bezirks- und örtlich geleiteten Betriebe und Kombinate“ diejenigen Abnehmer, welche zumeist in der gleichen Region oder am gleichen Ort wie der Lieferbetrieb ihren Sitz und Arbeitsplatz hatten. Zu den typischen Branchen der „bezirks- und örtlich geleiteten Betriebe“ gehörten die Leichtindustrie, die Nahrungs- und Genußmittelindustrie, der Wohnungsbau, das Dienstleistungsgewerbe und die kommunale Versorgungs- und Entsorgungswirtschaft. Im Unterschied hierzu umfaßte die „zentralgeleitete Staatswirtschaft“ vor allem die kapitalintensiv produzierenden Betriebe und Kombinate der Industriezweige Bergbau, Energieerzeugung, Eisen- und Stahlgewinnung, Chemie, Schwermaschinen-, Schiff- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Elektronik. Die der „bezirks- und örtlich geleiteten Wirtschaft“ angehörenden Kombinate wurden nach dem Territorialprinzip von den Staatsorganen und Wirtschaftsbehörden auf der Ebene der 15 Bezirke (Bezirksplankommission und Bezirkswirtschaftsrat) und der 227 Stadt- und Landkreise geleitet. Die Lenkung der DDR-Wirtschaft erfolgte auf bürokratische Weise. Dazu gehörte vor allem die bürokratische Erfassung der betrieblichen Produktionsmöglichkeiten und Produktionsergebnisse über ein papieraufwendiges Meldewesen (Planangebote und Planerfüllungsabrechnungen) und die Lenkung der Wirtschaftsaktivitäten der Betriebe a) mit Hilfe von administrativ übermittelten Leistungsanforderungen in Plänen (Planbefehle) und b) durch laufend erteilte behördliche Anweisungen. 2.1. Aufgaben, Organisation und Befugnisse der Wirtschaftsverwaltung Oberstes staatliches Leitungsorgan für die Verwaltung des Staates und für die Lenkung der Wirtschaft war der „Ministerrat der DDR“.8 Auf dem Papier stellte er die „Regierung der DDR“ dar. Im letzten Jahrzehnt vor dem Untergang der DDR gehörten ihm in der Regel 45 Minister an (ein Vorsitzender, zwei Erste Stellvertreter des Vorsitzenden, neun Stellvertreter und dreiunddreißig Fachminister und Leiter oberster Staatsbehörden im Ministerrang). Von den insgesamt 45 Mitgliedern des Ministerrates befassten sich 30 Amtsträger mit wirtschaftsleitenden Aufgaben. Allein für die staatliche Entwicklungsplanung und operative Leitung der Industrie, des Bergbaus (einschließlich geologische Erkundung) und des Bauwesens waren 12 Ministerien zuständig (siehe Schaubild auf der nächsten Seite).

8

Gesetz über den Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. Oktober 1972, in: GBl. der DDR, Teil I, Nr. 16 S. 253 ff.

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Formalrechtlich regierte der Ministerrat Staat und Wirtschaft im Auftrag der „obersten Volksvertretung“. Sie trug in der DDR den Namen „Volkskammer“. In der Praxis jedoch leitete der Ministerrat die Staatsgeschäfte ausschließlich nach den Weisungen des Generalsekretärs der SED, des Politbüros und des Zentralkomitees der SED (Plenum und Parteiverwaltung des ZK). Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit stand die strategische Planung und operative Leitung des gesamten Wirtschaftsprozesses und die gesetzliche und administrative Umsetzung der von der SED-Führung beschlossenen Maßnahmen in der Innenund Außenpolitik. Er überprüfte und verabschiedete am Ende jedes Planjahres die zuvor vom ZK der SED gutgeheißenen Entwürfe des Volkswirtschafts- und Staatshaushaltsplanes und leitete diese dann der „Volkskammer“ zur Akklamation zu. Mit der in allen Jahren stets einstimmigen Verabschiedung dieser Planentwürfe durch die Kammer erhielten diese Gesetzeskraft und wurden damit zur verbindlichen Handlungsanweisung für alle Planträger (Staatsorgane, VEB, Kombinate, Produktionsgenossenschaften).9 Die Planung der Wirtschaftsentwicklung über ein Jahr oder über mehrere Jahre im voraus war einem speziellen Planungsstab übertragen, der Staatlichen Plankommission. Als Organ des Ministerrates war diese Behörde der Generalstab für die konzeptionelle Erarbeitung der Wirtschaftsstrategie der DDR. Die Kommission war mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestattet. In Fragen der Wirtschaftsplanung und bei der Durchsetzung der vollzugsverbindlichen Wirtschaftspläne in der Praxis (Planerfüllung) konnte sie sowohl den Branchenministerien als auch den wirtschaftsleitenden Fachministerien Weisungen erteilen.10 Neben der Staatlichen Plankommission und der Gruppe der 30 „Wirtschaftsministerien“ befassten sich noch zwei verselbständigte Staatssekretariate (für Arbeit und Löhne und für Berufsbildung) und neun Ämter mit Spezialfragen der Wirtschaftslenkung. Unter diesen neun Behörden besaßen das Amt für Preise, für Außenwirtschaftsbeziehungen, für Erfindungs- und Patentwesen und für Atomsicherheit und Strahlenschutz die größte Bedeutung. Die restlichen noch nicht verteilten Leitungsaufgaben hatte die Wirtschaftsführung der Zentralverwaltung für Statistik, der Zollverwaltung und der Verwaltung der Staatsreserve zugewiesen. Unterstützt wurde die Leitungstätigkeit und Planerfüllungskontrolle der Plankommission und der „Wirtschaftsministerien“ letztlich noch durch zwei spezielle Überwachungs- und Schlichtungsinstitutionen, und zwar durch den Kontrollapparat der „Arbeiter- und Bauerninspektion“ (ABI) und durch das „Staatliche Vertragsgericht“. Auf der Ebene des Zentralstaats (Verwaltungszentrum Berlin/Ost) umfaßte 1987 das Leitungs- und Verwaltungspersonal in den wirtschaftsleitenden Ministe9

Gesetz über den Volkswirtschaftsplan der DDR 1989 und das Gesetz über den Staatshaushaltsplan 1989 vom 14. Dezember 1988, in: GBl. der DDR. Teil I, Nr. 27, S. 311 ff. und 318 ff.

10 Statut der Staatlichen Plankommission – Beschluß des Ministerrates vom 9. August 1973, in: GBl. der DDR, Teil I, Nr. 41, S. 417 ff.

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rien und Staatsorganen der DDR 26.171 Personen.11 Die meisten Leitungs- und Verwaltungskräfte waren dabei in der Staatlichen Plankommission (=1918 Personen), im Ministerium der Finanzen (einschließlich Staatliche Finanzrevision) (= 2.234 Personen), im Ministerium für Bauwesen (=2.124 Personen) und im Ministerium für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie (einschließlich der Wirtschaftsräte der Bezirke als Nebenstellen des Ressorts) (= 1.930 Personen) beschäftig.12 Den 11 Industrieministerien der DDR (ohne Geologie) unterstanden zuletzt (1988/89) in der Industrie 126 und in der Bauwirtschaft 21 zentralgeleitete Kombinate. 1988 umfassten diese in der Industrie etwa 3.000 und in der Bauindustrie über 300 Betriebe. 2.2. Die Methodik der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft Laufzeit der Wirtschaftspläne: Die in der DDR aufgestellten Wirtschaftspläne wurden in „Perspektivpläne“ und „laufende Pläne“ unterschieden. In die „Perspektivpläne“ nahm die Staats- und Wirtschaftsführung die von ihr langfristig angestrebten wirtschaftspolitischen Ziele auf. Sie erstreckten sich in der Regel über 5 bis 7 Jahre. Die Bedeutung der Mehrjahrespläne bestand vor allem darin, daß in ihnen eine langsame Veränderung der Daten (Produktionsbedingungen) und Strukturen (z. B. der Wirtschaftszweigstruktur und des Produktionsprofils) vorprogrammiert werden konnte. Bei der Aufstellung der „laufenden Volkswirtschaftspläne“ für das jeweils nächste Planjahr waren demgegenüber die am Ende der auslaufenden Planperiode Vorgefundenen Produktionsbedingungen und Außenhandelsvereinbarungen in hohem Maße Datum. Mit den von ihr konzipierten „Perspektivplänen“ hatte die Wirtschaftsführung kein Glück. Seit Ende der 50er Jahre scheiterten sämtliche beschlossenen Mehrjahrespläne. Daran ändern auch die Planabrechnungstricks während der Honecker-„Ära“ nichts. Mit ihnen wurde versucht, durch geschickte Auswahl der Abrechnungsgrößen, durch schönfärberische Änderungen der statistischen Leistungserfassung und durch plumpe Fälschungen von Planerfüllungsziffern (siehe Wohnungsbau) eine weit vorausschauende Programmierungskraft der staatlichen Wirtschaftsplanung vorzutäuschen. Die größte Bedeutung unter den Wirtschaftsplänen unterschiedlicher Fristigkeit kam den Jahresvolkswirtschaftsplänen zu. Sie besaßen die vergleichsweise größte Direktionskraft für die unmittelbare Steuerung des Wirtschaftsprozesses. Durch sie wurden die einzelnen Kombinate, Betriebe und Arbeitskräfte direkt für konkrete staatliche Ziele eingespannt. 11 Ohne Hauspersonal und mit Unterstützungsaufgaben befaßte Arbeiter. 12 Brief des Ministers der Finanzen der DDR, Höfner, an das Mitglied des Politbüros und den ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, Mittag, vom 20. Mai 1988, über die Zahl der Leitungsund Verwaltungskräfte in der Wirtschaft und im Staatsapparat SAPMO BArch, DY 30/41 753/1.

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Das Plankennziffernwerk der Volkswirtschaftspläne: Alle Volkswirtschaftspläne bestanden aus einem - je nach Lenkungsbereich unterschiedlich stark detaillierten - Konglomerat a) von materiellen (güterwirtschaftlichen) und finanziellen Planzielen (Orientierungs- und Plankennziffern) und b) von quantitativen und qualitativen Vorgaben (Normen, Richtwerte, Gütestandards). Grob gesehen umfaßte das Plankennziffernprogramm einerseits Planaufgaben auf allen Gebieten der Leistungserstellung (Produktionsziele und Leistungsanforderungen in Form von output-Vorgaben) und andererseits Planaufgaben zur Sicherung einer möglichst sparsamen Verwendung von Produktionsfaktoren (Vorgaben über den Höchstverbrauch von Einsatzfaktoren / Inputs Materialverbrauchsnormen). Ergänzt wurden diese Zielgrößen dann noch durch Anweisungen und Normative für die Gewinnermittlung und die Verwendung der Erträge (z. B. Normative zur Verschleiß- und Abschreibungsberechnung, Gewinnverwendung und zur Vorratsbildung). Staatsplanpositionen: Kernstück jedes Volkswirtschaftsplanes war der in der „Staatsplannomenklatur“ erfaßte Block der „Staatsplanpositionen“. Hierbei handelte es sich um die für das Wachstum und die Stabilität der Volkswirtschaft sowie für die Planerfüllung wichtigsten Güter (= Gütergerüst der Volkswirtschaft). Dazu zählten alle wichtigen Roh- und Baustoffe, Energieträger, hochwertigen Werkstoffe und Bauelemente, Geräte der Betriebsmeß-, Steuerungs- und Regelungstechnik, Maschinen, Roboter, Fahr- und Hebezeuge, Industrieanlagen und hochwertige Exporterzeugnisse. Die Festlegung der Produktionsziele sämtlicher „Staatsplanpositionen“ erfolgte sowohl in Mengen- als auch in Werteinheiten. Für jede „Staatsplanposition“ wurde eine eigene Güterbilanz aufgestellt. Die Bilanz Verantwortung hierfür lag bei der Staatlichen Plankommission. Sicherung der Einheitlichkeit der Planausarbeitung: Um die Informationsbeziehungen zwischen Planern und Planträgern verbindlich festzulegen, den Ablauf der Planausarbeitung sachlich zu ordnen und zeitlich zu regeln sowie eine einheitliche Ermittlung und Begründung der Planziele (Plankennziffern, Normative) für alle Planungsinstanzen sicherzustellen, verabschiedete die Wirtschaftsführung vor jeder neuen Perspektivplanperiode eine detaillierte „Planungsordnung“13 und eine oder mehrere umfängliche „Rahmenrichtlinien für die Jahresplanung in den Kombinaten und Betrieben“.14 Diese von vielen Planökonomen sicher nur sehr schwer bezwungenen Regelwerke waren allein deshalb so kompliziert und voluminös (allein die „Planungsordnung“ für 1981-1985 umfaßte 742 Seiten), weil hierdurch versucht wurde, möglichst alle ökonomischen, finanziellen, technischen und wissenschaftlichen (innovationsbezogenen) Leistungskomponenten der Betriebe und Kombinate einem lückenlosen Staatsdiktat zu unterwerfen. So umfaßte Ende der 13 Anordnung über die Ordnung der Planung der Volkswirtschaft der DDR 1981-1985 vom 28. November 1979, in: GB1. der DDR, Sonderdruck Nr. 1 020 (Teil A-Q). 14 Anordnung über die Rahmenrichtlinie für die Planung in den Kombinaten und Betrieben der Industrie und des Bauwesens – Rahmenrichtlinie – vom 30. November 1979, in: GBl. der DDR, Sonderdruck Nr. 1021.

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80er Jahre jeder der rund 4 200 „Betriebspläne“ der Kombinate und Betriebe der Industrie und Bauwirtschaft acht Planteile15 mit jeweils mindestens einem Dutzend Planauflagen. Zentrale Wirtschaftslenkung bei hoher Außenhandelsabhängigkeit: Der zu Beginn des jährlichen Planungsprozesses von der Zentrale (ZK-Apparat, Ministerrat, Plankommission) aufgestellte vorläufige Volkswirtschaftsplan für das nächste Jahr basierte erstens auf dem Kenntnisstand der Planbehörden über die bei den Inlandsbetrieben vorhandenen Produktionsmöglichkeiten. Von mindestens ebenso großer Wichtigkeit für die Planausarbeitung waren jedoch zweitens die Ergebnisse, welche die DDR bei der Abstimmung ihrer Perspektiv- und Jahrespläne mit denen der Staaten des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) erreicht, und die Vereinbarungen, die sie durch den Abschluß von Außenhandelsverträgen erzielt hatte. Jedes hochfliegende wirtschaftliche Zielprogramm, das die DDR-Führung aufstellte, mußte als Begrenzungs- und Formierungsfaktoren folgende real existierenden Abhängigkeiten in Rechnung stellen: Die Rohstoffarmut des Landes, die hohe Außenhandelsabhängigkeit der Volkswirtschaft, die Blockbindung an die Wirtschaftsallianz der sozialistischen Staaten (RGW) und die enorme Ostorientierung des Außenhandels. Mehr als 60 v. H. der Rohstoffe, die jährlich in der DDR für die Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen benötigt wurden, mußten aus dem Ausland und aus der Bundesrepublik Deutschland eingeführt werden. Bei weitem größter Rohstofflieferant der DDR war die Sowjetunion. Mehr als die Hälfte des Sozialprodukts der DDR (nach östlicher Berechnungsmethode) wurde auf der Grundlage von Außenwirtschaftsbeziehungen erzeugt.16 Die Exportquote der DDR lag schätzungsweise bei 30 v. H. bezogen auf das „produzierte Nationaleinkommen“.17 Rund zwei Drittel des Außenhandels wickelte die DDR mit den Mitgliedsländern des RGW ab. Im Außenhandel nahm die UdSSR den ersten Platz ein: Rund 40 v.H. des gesamten Außenhandelsvolumens und weit mehr als die Hälfte des RGW-Handels der DDR entfielen auf die Sowjetunion. Für eine einigermaßen verlässliche Planung der Produktionsziele und des Wirtschaftswachstums und für eine vorausschauende Bilanzierung des Aufkommens und der Verwendung des Sozialprodukts benötigte die DDR somit möglichst sichere Daten über die künftigen Importmöglichkeiten vor allem bei Rohstoffen, Energieträgern und Halbfabrikaten und möglichst zutreffende Informatio15 Zu diesen acht Aufgabengebieten gehörten die Planteile Produktion, Absatz, Wissenschaft und Technik, Grundfondsreproduktion, Materialökonomie, Arbeitsproduktivität und Arbeitskräfte, Arbeits- und Lebensbedingungen und Finanzen und Kosten. 16 Mit der Erfüllung von Exportaufträgen waren (unter Einbeziehung der Zulieferindustrien) in der Wirtschaft der DDR etwa 1,8 bis 1,9 Millionen Berufstätige beschäftigt. 17 Exportquote = preisbereinigtes Exportvolumen der DDR-Wirtschaft in Prozent des produzierten Nationaleinkommens.

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nen und Abmachungen über die bestehenden Exportchancen bei Fertigwaren. Deshalb suchte sie nicht nur aus politischen, sondern vor allem auch aus planökonomischen Gründen sowie aus Devisenmangel außenwirtschaftlich eine enge Anlehnung an die anderen sozialistischen Zentralplanwirtschaften. Für die Wirtschaftsplaner der DDR war somit die langfristige Stabilität der wechselseitigen Lieferungen und Bezüge zu den anderen RGW-Staaten eine unverzichtbare Voraussetzung für eine einigermaßen realistische Zukunftsprogrammierung. Systementsprechend war daher auch die zwischenstaatliche Koordinierung der Perspektiv- und Volkswirtschaftspläne die Hauptmethode zur Lenkung von zwei Dritteln der Außenhandelsströme. Ihre Ergebnisse wurden dann in Handelsabkommen mit längeren Laufzeiten und in Handelsprotokollen über den Warenverkehr für ein Jahr verankert. Erreichte einer der RGW-Staaten nicht die angestrebten Ziele seiner Wirtschafts- und Außenhandelspläne und vermochte infolgedessen seine Liefer- und Abnahmeverpflichtungen nicht zu erfüllen, so führte dies bei den Partnerländern im RGW zu einer Kettenreaktion von Produktionsstörungen, Stillstandszeiten in Betrieben, Disproportionen im Produktionsprozeß, Produktivitätsverlusten, Kostenerhöhungen, Gewinneinbußen und Zahlungsbilanzproblemen. „Externe Schocks“ auf den plangesteuerten Produktionsprozeß der RGW-Mitgliedsländern traten jedoch auch dadurch ein, wenn in den Hartwährungsländern stattgefundene unerwartete Preiserhöhungen für Ost-Rohstoffe und -Fertigwaren eine spontane Umlenkung der Exporte in die westlichen Industriestaaten attraktiv machten. Da das Wohlwollen der „Bruderländer“ weniger wert war als die Steigerung der Einnahmen bei West-Devisen, wurden rigoros vereinbarte Liefermengen an die RGW-Partner gekürzt. Infolge der bürokratischen Schwerfälligkeit der Zentralplanwirtschaften waren notwendige Anpassungen an plötzlich veränderte Wirtschaftsbedingungen jedoch nur unter großen Mühen und mit einem enormen Zeitaufwand zu erreichen. Daher führten die aus solchen einzelstaatlichen Leistungsschwächen oder aus „externen Schocks“ herrührenden Störungen im Außenhandelsgeflecht der Zentralplanwirtschaften immer wieder zu Wachstumseinbrüchen und Wirtschaftskrisen bei den hiervon betroffenen Partnerländern. Markanteste Beispiele dieser Art waren für die DDR die mehrmalige Kürzung und Unterbrechung der polnischen Steinkohlelieferungen 1981-1985 (Massenstreiks, innenpolitische Kämpfe, Militärdiktatur)18 die beträchtliche Verteuerung der sowjetischen Energie- und Rohstofflieferungen ab 1975 und die abrupte Kürzung der Rohöllieferungen der UdSSR im Jahre 1982.

18 Im Jahre 1979 erhielt die DDR aus Polen noch 2.382.000 Tonnen Steinkohle und Steinkohlenkoks. 1981 waren es nur noch 1.396 000 und 1982 sogar nur noch 764.000 Tonnen.

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3. Der VEB-Plan und die Bilanzierung. Die Bilanzierung ist eine Methode mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zu erreichen. Im Ergebnis entstehen betriebliche Bilanzen der VEB Die Finanzbilanz der Volkswirtschaft läßt sich in zwei Gruppen gliedern. „Die erste erfaßt die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft; zu ihr gehören die Bevölkerungs- und Arbeitskräftebilanz, die Bilanzen des Nationalreichtums, der Grund- und Umlaufmittel sowie der Bildungsfonds und der Fonds Wissenschaft und Technik. Die Bilanzen der zweiten Gruppe geben den abgelaufenen Wirtschaftsprozeß wieder; die wichtigsten sind neben den beiden genannten die Bilanzen der naturalen Verflechtung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, der Geldeinnahmen und -ausgaben und des Realeinkommens der Bevölkerung, des Außenhandels- und -zahlungsverkehrs, die Finanzbilanz des Staates. Die gesamtwirtschaftlichen Bilanzen werden durch Zusatztabellen und Teilbilanzen für einzelne Erzeugnisse und Erzeugnisgruppen ergänzt, in denen Aufkommen und Verwendung gegenübergestellt werden. Das Bilanzsystem ist hierarchisch aufgebaut. So wurden 1971 in der Sowjetunion vom Staatlichen Plankomitee etwa 1.900, vom Staatskomitee für natural-technische Versorgung etwa 13.000 und von den Ministerien rund 40.000 Bilanzen und Verteilungspläne aufgestellt, in der Regel in Naturaleinheiten (Biersack u. a. 1974). In der DDR wird zur Zeit (1988) mit etwa 4.500 Erzeugnisgruppenbilanzen gearbeitet“.19 Wenn man Aufschluß über die Ursachen des extensiven Wachstums der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft gewinnen will, muß man sich den Betriebsplan eines Volkseigenen Betriebs im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtbilanz näher ansehen. „Bilanz (ital., lat., = Gleichgewicht)20 Darstellung miteinander verbundener ökonomischer Größen als Aufkommen einerseits und Fonds für bestimmte Verwendungszwecke und/oder Organe andererseits in Form von Tabellen (Bilanztabellen) und Gleichungen zur Aufarbeitung, Koordinierung und Beurteilung von Planentwürfen und -varianten sowie für die Analyse zur Vorbereitung ökonomischer Entscheidungen, die auf die Sicherung des in der Volkswirtschaft erforderlichen Gleichgewichts gerichtet sind. Die Bilanzen beschreiben den Prozeß der erweiterten sozialistischen Reproduktion insgesamt (Volkswirtschaftsbilanz) und in seinen Teilen, um die in diesem Prozeß objektiv existierenden Beziehungen und Abhängigkeiten so sichtbar zu machen, daß sie bei der Planausarbeitung und -durchführung sowie bei der Analyse berücksichtigt werden können“.21 Bilanzen „dienen der Sicherung der Effektivität und Proportionalität des Reproduktionsprozesses, indem sie zur Entscheidungsfindung beitragen. Neben den herkömmlichen zweiseitigen Bilanzen, die ökonomische Tatbestände isoliert er19 Finanzbilanz des Staates, in: Steeger, Horst (Hrsg.): Lexikon der Wirtschaft. Volkswirtschaftsplanung, Berlin (-Ost) 1980, S. 193 f. 20 Pfeifer, Wolfgang: Bilanz, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3. Aufl., München 1997, S. 136. 21 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 358 f.

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fassen (z. B. Aufkommen und Verwendung einzelner Erzeugnisse oder Geldeinnahmen und -ausgaben der Bevölkerung), gewinnen die Verflechtungs-Bilanzen (Verflechtungs-Bilanzen des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und verschiedenartige Teilverflechtungs-Bilanzen) zunehmend Bedeutung, da sie ökonomische Zusammenhänge komplexer widerspiegeln. Sie werden als relativ einfache mathematisch-ökonomische Modelle und zur Aufbereitung der Daten für Optimierungsmodelle eingesetzt. Die Aussagefähigkeit einzelner Bilanzen ist beschränkt, deshalb werden sie zu Bilanzsystemen zusammengefügt, die alle wesentlichen Seiten des jeweiligen Reproduktionsprozesses erfassen (z. B. die volkswirtschaftlichen Bilanzen)“.22 Die Utopie eines Gleichgewichts zwischen einer naturalen (materiellen) und finanziellen Verflechtungsbilanz: In der Verflechtungsbilanz der Geldbeziehungen wird ein ökonomisch-mathematisches Modell zur Planung, Bilanzierung und Analyse der Finanzbeziehungen der Volkswirtschaft in Wechselwirkung mit den naturalen (materiellen) Proportionen beschrieben. „Das Ziel besteht darin, die aktive Rolle der Finanzen bei der effektiven Produktion und der rationellen Verteilung und Verwendung des gesellschaftlichen Produkts und des Nationaleinkommens, vor allem unter dem Aspekt der Übereinstimmung von naturaler (materieller) und finanzieller Planung, besser durchsetzen zu helfen. […] Dabei besteht der Kerngedanke bei der Ausarbeitung derartiger Modelle in der Planung darin, den Fluß naturaler (materieller) Produkte in seiner Verflechtung zur finanziellen Bewegung über alle Phasen des Reproduktionsprozesses hinweg zu erfassen (= Gleichgewichtsmodell) […] Die Verknüpfung naturaler (materieller) mit finanziellen Prozessen in einem Modell erfordert die Lösung komplizierter inhaltlicher und methodischer Probleme und die Erarbeitung spezieller Informationen zur Erfassung der Primärverteilung, der Sekundärverteilung und der Endverwendung des Nationaleinkommens. Sie muß in engem Zusammenhang mit der Vervollkommnung der traditionellen zentralen finanziellen Bilanzen (Finanzbilanz des Staates, Staatshaushaltsbilanz, Kreditbilanz u. a.) mit dem Ziel ihrer zunehmenden Wirksamkeit im Rahmen der Instrumentarien der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erfolgen. Angeregt durch entsprechende Arbeiten in der UdSSR werden auch in der DDR Untersuchungen durchgeführt, die Voraussetzungen für eine im Zentralplanprozeß einsetzbare Verflechtungsbilanz der Geldbeziehungen schaffen. Internationale Arbeiten auf dem Gebiet der Entwicklung schachbrettförmiger reiner Geldverflechtungsbilanzen haben bisher in der Zentralplanungspraxis noch keine verwendbaren Ergebnisse gezeigt. Das ist vor allem darin begründet, daß diese Modelle nicht unmittelbar an naturale (materielle) Prozesse geknüpft sind, sondern Geldflüsse in ihrer Verselbständigung erfassen und deshalb für die Finanzplanung mit dem Ziel der Erarbeitung adressierbarer Effektivitätsanforderungen und damit der Erschließung von Effektivitätsreserven in der Volkswirtschaft weniger geeignet sind“.23 22 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1972, S. 312 f. 23 Ökonomische Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 428 f.

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Eine Verknüpfung naturaler mit finanziellen Prozessen in einem Modell von Verflechtungsbilanzen ist nur in einer Volkswirtschaft in einem statischen Gleichgewicht interdependenter Größen (Walras) denkbar, nicht jedoch in einer dynamischen Wirtschaft, denn der Fortschrittsprozeß besteht in der Zerstörung eines statischen Gleichgewichts.24 Finanzielle Planung, Finanzplanung. „Widerspiegelung der wertmäßigen Seite des Reproduktionsprozesses, wichtiger Bestandteil der einheitlichen Volkswirtschaftsplanung. Die finanzielle Planung dient der planmäßigen Gestaltung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik des sozialistischen Staates. Ausgehend von den objektiven Bedingungen der Warenproduktion und der Existenz des Geldes ergibt sich die sozialistische Reproduktion als einheitlicher dynamischer Prozeß in naturaler wertmäßiger und finanzieller Gestalt. Im Rahmen der Einheit von naturaler, wertmäßiger und finanzieller Planung liegt im Sozialismus das Primat eindeutig auf der naturalen Seite, weil letztlich nicht das Geld und die Finanzen das Ziel der sozialistischen Reproduktion darstellen, sondern die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse. Entsprechend den Erfordernissen des Gesetzes der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft muß die finanzielle Planung in allen Planungsphasen und auf allen Leitungsebenen mit der naturalen Planung sowie der Preisplanung (wertmäßige Seite) übereinstimmen“.25 Das Primat der naturalen sozialistischen Zentralplanung ging so weit, daß sowjetische Schriftsteller der Politischen Ökonomie des Sozialismus in den 1980er Jahren vorschlagen, die finanzielle Zentralplanung ganz aufzugeben und zur rein politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft überzugehen. Die Preise bei der finanziellen Zentralplanung waren konstante Preise, die ohne ökonomische Aussagekraft waren (chaotische Preise). Mit der finanziellen Zentralplanung sollte die Erfüllung der Zentralpläne kontrolliert werden. Nach der Aussage im „Ökonomischen Lexikon“ (1979) sollte das „Ziel der sozialistischen Reproduktion die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse“ im Sozialismus sein. Eine solche Aussage ist Humbug (= Schwindel, Unsinn, Aufschneiderei).26 Die individuellen Bedürfnisse lassen sich wissenschaftlich nicht zu den sozialistischen Jahreszentralplänen aggregieren. Die Realität war, daß die Mangelversorgung im Sozialismus ein elementares Dauerproblem war.

24 Brandt, Karl: Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre. Bd. 2: Vom Historismus bis zur Neoklassik, Freiburg i. Br. 1993, S. 327 f.: „Schumpeter trennt scharf zwischen Statik und Dynamik. Die Statik ist Gleichgewichtstheorie, eine auf einen Beharrungszustand fixierte Betrachtungsweise. Sie ist zugleich die besondere Ausprägung eines entwicklungslos gedachten Systems, eine in sich ‚ruhende, passive, stationäre Wirtschaft‘. Statische Betrachtung und stationärer Zustand sind für ihn ein und dasselbe“. 25 Ökonomisches Lexikon, H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 701 f. 26 Humbug: Schwindel, Unsinn, Aufschneiderei, Entlehnung (19. Jh.) von englisch humbug ‚Täuschung, Betrug, Vorwand‘.

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Der VEB-Betriebsplan. Ausgangspunkt für den Betriebsplan eines Volkseigenen Betriebes waren die Direktiven des Politbüros. Direktiven sind von einer übergeordneten Stelle gegebene Weisungen, Richtlinien, Verhaltensmaßregeln und Befehle, die nur das Ziel des Handelns vorschreiben, aber den Untergebenen die Ausführung überlassen. Ziel war die Erfüllung des Jahresplans in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Das Kombinat arbeitet auf der „Grundlage der von übergeordneten Organen dazu übergebenen staatlichen Plankennziffern und anderen staatlichen Aufgaben einen einheitlichen Kombinatsplan aus“.27 „Planung der betrieblichen Ziele und Mittel für Zeiträume von weniger als einem Jahr zur Durchsetzung des Jahresplanes und seiner Monats- und Quartalsgliederung. Die Aufgaben der operativen Betriebsplanung sind: a) Sicherung einer rhythmischen und kontinuierlichen Produktion. Hierzu sind die Kennziffern detailliert, räumlich und zeitlich mit den Produktionsmöglichkeiten des Betriebes zu bilanzieren. b) Aufschlüsselung der Plankennziffern. Um den Einfluß des einzelnen Werktätigen auf die Planaufschlüsselung zu verstärken, werden die Plankennziffern auf möglichst kleine Zeiteinheiten (z. B. Dekade, Woche, Planabschnitt, Tag) aufgeteilt. – Die operative Betriebsplanung ist eine wesentliche Grundlage für eine tägliche Produktionskontrolle bis zum Arbeitsplatz“.28 Der Handlungsspielraum bei der Zentralplanerfüllung der VEB war klein. Die politische Direktive des Politbüros war die „Richtlinie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands für die Entwicklung der Volkswirtschaft im Fünfjahrplanzeitraum. Sie ist die entscheidende wirtschaftspolitische Grundlage für die staatlichen Aufgaben zur Ausarbeitung des Fünfjahrplanes sowie für die Arbeiten am Fünfjahrplanentwurf in den Betrieben und Kombinaten und auf allen Ebenen der Staats- und Wirtschaftsleitung. Vom IX. Parteitag der SED wurde die ‚Direktive zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft, die grundlegenden Aufgaben zur Vertiefung der sozialistischen ökonomischen Integration, zur Entwicklung der Industrie und der anderen Bereiche der Volkswirtschaft, die Zielsetzungen zur Entwicklung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes, zur Standortverteilung der Produktivkräfte und die Entwicklung in den Bezirken sowie zur weiteren Vervollkommnung der Leitung, Planung und ökonomischen Stimulierung. Richtlinie und Weisung der Leiter staatlicher Organe bzw. wirtschaftsleitender Organe zur Ausarbeitung und Durchführung des Planes durch die nachgeordneten Organe, Betriebe und Einrichtungen“.29 Der VEB-Betriebsplan ist ein „verbindliches Dokument über die künftige Entwicklung eines Betriebes entsprechend den gesellschaftlichen, durch staatliche Planauflagen ausgedrückten Erfordernissen. Der Betriebsplan ist auf die Befriedi27 Klinger, Günther: Kommentar zur Verordnung über die Aufgaben, Rechte und Pflichten der volkseigenen Betriebe, Kombinate und VVB, Berlin (-Ost) 1975, S. 117. 28 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 337. 29 Ebd., S. 463.

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gung des volkswirtschaftlich begründeten Bedarfs, die Durchsetzung der Intensivierung und hohe betriebliche Effektivität sowie auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen gerichtet. Er enthält für einen durch staatliche Festlegungen bestimmten Zeitraum die Ziele der betrieblichen Entwicklung sowie die Maßnahmen und Mittel zu deren Realisierung. Er ist intern und extern koordiniert und bilanziert. Der Betriebsplan wird als Fünfjahrplan und Jahresplan erarbeitet. Er ist das entscheidende Instrument der Leitung des Betriebes. Die Gesamtheit der Tätigkeiten zur Vorbereitung und Durchführung des Betriebsplanes wird als Planung des sozialistischen Industriebetriebes bezeichnet. Wesentliche Grundlagen für die Ausarbeitung des Betriebsplans sind staatliche Plankennziffern, Ergebnisse prognostischer und konzeptioneller Arbeit des Betriebes und Wirtschaftsverträge sowie gesetzliche Bestimmungen zum Inhalt, Ablauf und zur Organisation der Planung (Ordnung der Planung der Volkswirtschaft. Rahmenrichtlinie für die Jahresplanung der Betriebe und Kombinate der Industrie und des Bauwesens). Beide gesetzlichen Bestimmungen dienen dazu, Verantwortung, Organisation der Planung festzulegen. Die Rahmenrichtlinie hat vor allem die Funktion, in den Betrieben und Kombinaten der Industrie und des Bauwesens eine weitgehend einheitliche Ausarbeitung des Betriebsplans zu sichern. […] Der Betriebsplan wird in drei Etappen erarbeitet: 1. Etappe – Konzeptionelle Vorbereitung: Grundlage der konzeptionellen Vorbereitung des Betriebsplans sind die staatlichen Planauflagen des jeweils längerfristigen Planes (z. B. des Fünfjahrplanes bei der Jahresplanung), prognostische Erkenntnisse, Rationalisierungs- bzw. Intensivierungskonzeptionen, die die Betriebe und Kombinate entsprechend den Festlegungen der Planungsordnung auszuarbeiten haben, sowie Analysen und Konzeptionen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. 2. Etappe – Ausarbeitung des Planentwurfs: Der Entwurf des Betriebsplans wird auf der Grundlage der staatlichen Planauflagen längerfristiger Pläne, der staatlichen Aufgaben, langfristiger Konzeptionen, der Ergebnisse der konzeptionellen Vorbereitung sowie weiterer interner und externer Informationen und Abstimmungen durch die Planungsorgane des Betriebes in allen Planteilen und Plänen ausgearbeitet. 3. Etappe – Ausarbeitung des Betriebsplans: Die endgültige Ausarbeitung erfolgt auf der Grundlage der staatlichen Planauflagen, der Ergebnisse der Verteidigung des Planentwurfs vor dem übergeordneten Organ, der vollständigen Auswertung der Ergebnisse der Plandiskussion, weiterer Abstimmungen mit den Bilanzorganen und Bilanzentscheidungen und der Stellungnahme der Betriebsgewerkschaftsleitung zum Planentwurf. In dieser Planungsetappe wird der Planentwurf konkretisiert; es werden weitere interne und externe Abstimmungen vorgenommen; ausgehend von den zugewiesenen Bilanzanteilen und abgeschlossenen Wirtschaftsverträgen wird die Terminisierung der Produktion und des Absatzes sowie eine Präzisierung des Ressourceneinsatzes vorgenommen.

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Der Betriebsplan wird auf die einzelnen Struktureinheiten aufgeschlüsselt, die Werktätigen erhalten die Kennziffern, die ihren Anteil am Plan und die durch sie zu lösenden Aufgaben widerspiegeln. – Der Betriebsplan wird unter Anwendung spezieller Planungsmethoden (z. B. Bilanzierung und Anwendung von Normen) und Hilfsmittel (z. B. Systematiken und Nomenklaturen, betriebliche Planungsordnungen, ökonomisch-mathematische Methoden und EDV) ausgearbeitet. Die Bilanzierung ist eine wichtige Methode, um die notwendigen Abstimmungen bei der Erarbeitung des Betriebsplans durchführen zu können. Sie dient der Gegenüberstellung bestimmter Kennziffern (z. B. Arbeitskräftebedarf – Arbeitskräfteaufkommen, benötigte Kapazität – vorhandene Kapazität, Finanzbedarf – finanzielle Mittel) mit dem Ziel, ein Gleichgewicht zwischen ihnen zu erreichen. Im Ergebnis der Bilanzierung entstehen betriebliche Bilanzen. Diese widerspiegeln die Ziele der betrieblichen Entwicklung und erleichtern Entscheidungen über Maßnahmen zu deren Realisierung. In ihnen werden Aufkommen und Bedarf bzw. Aufkommen und Verteilung einander gegenübergestellt. Durch die Bilanzierung ist eine Summengleichheit beider Größen und eine strukturelle Übereinstimmung zu erreichen“.30 Von besonderem Interesse ist die 1. Etappe des Betriebsplans, die konzeptionelle Vorbereitung des Betriebsplans. Eine zentrale Rolle spielen dabei die volkswirtschaftlichen Prognosen. „Zwischen Analysen und Prognosen besteht ein enger Zusammenhang. Deshalb ist die analytisch-prognostische Arbeit ein einheitlicher vorbereitender Prozeß der Volkswirtschaftsplanung. Unter Prognose versteht man eine ‚[…] komplexe wissenschaftlich begründete Voraussage über Inhalt, Richtung, Umfang und Verflechtungen von künftigen Prozessen in Systemen der Natur und Gesellschaft‘. Das Ziel der volkswirtschaftlichen Prognosearbeit ist eine wissenschaftliche Tätigkeit, die auf die Erforschung und Herausarbeitung der künftigen Entwicklungstendenzen des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses und seiner wichtigsten Elemente gerichtet ist. Ausgehend von der gesellschaftlichen Entwicklung, der ständigen Veränderung der Bedürfnisse sowie der Wirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts entstehen, in Übereinstimmung mit den konkreten Anforderungen der langfristigen Planung, Prognosen auf ausgewählten Gebieten der volkswirtschaftlichen Entwicklung. Prognosen sind eine Grundlage, um bei Entscheidungen von den Erfordernissen der Zukunft ausgehen zu können. Sie haben wesentliche Bedeutung für die Vorbereitung und Begründung der volkswirtschaftlichen, zweiglichen, territorialen und auch betrieblichen Pläne. Besondere Bedeutung haben sie für die langfristige Planung. Aus diesem Grunde orientiert die Partei der Arbeiterklasse auf die ständige Verbesserung der Prognosearbeit und die Nutzung ihrer Ergebnisse. Prognosen unterscheiden sich durch verschiedene Merkmale von Zentralplänen. Zentralpläne enthalten verbindliche gesellschaftliche Entscheidungen über die in einem bestimmten zeitraum zu erreichenden Ziele und die dafür einzuset30 Betriebsplan, in: Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 333-337.

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zenden Mittel. Zentralprognosen haben dagegen eine zentralplanvorbereitende Funktion. Ihre Aussagen haben orientierenden Charakter und zeigen mögliche Varianten der Entwicklung. Sie liefern, gemeinsam mit der Analyse, wesentliche Informationen für die inhaltliche Gestaltung der Zentralpläne. Auf ihrer Grundlage vollzieht sich der Übergang von der Vorbereitung des Zentralplanes zur direkten Zentralplanausarbeitung. Verschiedentlich wird die prognostische Tätigkeit deshalb als Vorstadium der Zentralplanung oder zentralplanerische Vorschau bezeichnet. Die Hauptgebiete der Prognosearbeit sind die sich ständig verändernden Bedürfnisse, die wissenschaftlich-technische Entwicklung und die sozialistische ökonomische Integration. Die Bedürfnisprognosen werden bei den Ursachen der Mangelwirtschaft analysiert. Prognosen auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik sollen Kenntnisse über neue Verfahren, Technologien und Erzeugnisse liefern, die aus der Entwicklung von Wissenschaft und Technik resultieren und bedeutenden Einfluß auf die Struktur und Effektivität der Volkswirtschaft haben. Sie müssen zugleich die Wirkungen der prognostizierten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen auf die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und auf die Persönlichkeitsentwicklung der Bürger des sozialistischen Staates deutlich machen und somit helfen, die Ergebnisse der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus zu verbinden. Die wissenschaftlich-technische Prognosearbeit muß stets auf die entscheidenden volkswirtschaftlichen Probleme orientiert sein und von ökonomischen Zielstellungen ausgehen. Entsprechend sind auch die Hauptrichtungen der Forschung und Entwicklung sowie die Einsatzvarianten des wissenschaftlich-technischen Potentials herauszuarbeiten“.31 Nach Dieter Friedrich umschreibt der Begriff Prognose die „Bemühungen, aus der Analyse und der Erfahrung vergangener Ereignisse Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen, die Aussagen über unbekannte, unsichere, i. d. R. in einem zukünftigen zeitlich und räumlich abgrenzbaren Umfeld eintreffende Ereignisse ermöglichen. Hierbei sollten bedingte und unbedingte Prognosen (Prophetien) unterschieden werden. Wissenschaftliche Prognosen sind stets bedingte Aussagen, die auf Beobachtungen und Theorien aufbauen, aus denen aufgrund von Gesetzmäßigkeiten unter bestimmten erwarteten oder tatsächlich vorhandenen Randbedingungen Aussagen über unbekannte (nicht notwendig zukünftige) Ereignisse abgeleitet werden. In logischer Hinsicht besteht zwischen wissenschaftlicher Erklärung und Prognose kein Unterschied. Erklärung ist eine nachträgliche (Expost-) Prognose, die nach denselben Regeln des Schließens abläuft, wie die in die Zukunft gerichtete (Ex-ante-) Prognose. Im Gegensatz zu unbedingten, oft nur vage formulierten Vorhersagen (Prophetien), bei denen die Randbedingungen implizit enthalten sind und nicht offengelegt werden, müssen wissenschaftliche Prognosen sowohl in ihrer Entstehung als auch im Ergebnis überprüfbar sein. Die Schwierigkeiten der Abgrenzung und Vorgabe erwarteter oder prognostizierter Randbedingungen macht es bei komplexen sozio-ökonomischen Vorhersagen nicht immer leicht, 31 Kinze, Hans-Heinrich et al. (Hrsg.): Volkswirtschaftsplanung, Berlin (-Ost) 1975, S. 89-92.

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wissenschaftliche Prognosen und Prophetien methodisch zu unterscheiden, sowohl qualitative als auch quantitative“.32 Die Ausführungen in dem von Hans-Heinrich Kinze herausgegebenen Sammelwerk „Volkswirtschaftsplanung“ (1975) zu Prognosen gehören eindeutig in den Bereich der unbedingten Prognosen, d. h. zu den Prophetien. Die bei den sozialistischen Prophetien (Kinze) angeführten Quellen sprechen für sich.33 Karl R. Popper begrenzt den Begriff „Prognose“ auf die Naturwissenschaften: Die Wissenschaft kann die Zukunft nur vorhersagen, wenn die Zukunft determiniert ist. „Diese Betonung der Bedeutung wissenschaftlicher Vorhersagen – eine an und für sich wichtige und fortschrittliche methodologische Entdeckung – führte Marx unglücklicherweise in die Irre. Denn die plausible Annahme, daß die Wissenschaft die Zukunft nur vorhersagen kann, wenn die Zukunft vorherbestimmt ist, wenn sie gleichsam in der Vergangenheit gegenwärtig, in ihr eingeschlossen ist, diese Annahme führte ihn zu dem falschen Glauben, daß eine streng wissenschaftliche Methode auf einem strengen Determinismus beruhen müsse. Marxens ‚unerbittliche Gesetze‘ der Natur und der historischen Entwicklung zeigen deutlich den Einfluß der Atmosphäre Laplaces und der französischen Materialisten. Aber die Ansicht, daß die Begriffe ‚wissenschaftlich‘ und ‚deterministisch‘, wenn schon nicht synonym, so doch untrennbar miteinander verbunden sind, diese Ansicht erweist sich nunmehr als eines der abergläubischen Vorurteile einer noch nicht völlig vergangenen Zeit. Betrachten wir zunächst etwas näher die Rolle von Theorien in einer Naturwissenschaft wie etwa der Physik. Hier haben die Theorien verschiedene, miteinander verbundene Aufgaben. Sie helfen uns, die Wissenschaft zu vereinheitlichen, und sie helfen uns auch, Ereignisse zu erklären und sie vorherzusagen. Zum Problem der Erklärung und Vorhersage sei mir gestattet, aus einer meiner eigenen Publikationen folgendes zu referieren. ‚Einen Vorgang kausal erklären heißt, einen Satz, der ihn beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen deduktiv ableiten. (Einen solchen Satz werden wir eine Prognose nennen.) Wir haben zum Beispiel das Zerreißen eines Fadens kausal erklärt, wenn wir festgestellt haben, daß der Faden eine Zerreißfestigkeit von einem Kilogramm hat und mit zwei Kilogramm belastet wurde. Diese Erklärung enthält zwei verschiedene Bestandteile. (1) Wir nehmen Hypothesen an, die den Charakter allgemeiner Naturgesetze haben, in unserem Fall etwa: ‚Jedesmal, wenn ein Faden einer Spannung ausgesetzt wird, die das Maximum an Spannung, die er aushält, übersteigt, muß er reißen‘. (2) Wir nehmen spezifische Sätze an (die Ausgangsbedingungen), die sich auf das besondere Ereignis beziehen, das gerade untersucht wird, etwa: ‚Für diesen Faden 32 Friedrich, Dieter: Prognose, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp. 589. 33 Dobrow, G. M.: Prognostik in Wissenschaft und Technik, Berlin (-Ost) 1971, S. 58. Direktive des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971 bis 1975, in: Dokumente des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (-Ost) 1971, S. 63. Prognose, in: Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1973, S. 812 f.

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ist die maximale Spannung ein Kilogramm. Wenn diese Spannung überschritten wird, reißt der Faden‘. Und ‚Das an diesem Faden angehängte Gewicht ist ein Zweikilogrammgewicht‘. Wir haben also zwei verschiedene Arten von Sätzen, die erst gemeinsam die vollständige kausale Erklärung liefern: (1) allgemeine Sätze (Hypothesen, Naturgesetze) und (2) besondere Sätze, das heißt Sätze, die nur für den betreffenden Fall gelten (die Randbedingungen). Aus den allgemeinen Sätzen (1) kann man mit Hilfe der Randbedingungen (2) den folgenden besonderen Satz (3) deduzieren: ‚Dieser Faden wird reißen, wenn man dieses Gewicht an ihn hängt‘. Wir nennen diesen Schluß (3) eine (besondere oder singuläre) Prognose. – Die Randbedingungen (oder genauer, die von ihnen beschriebene Situation) pflegt man gewöhnlich die Ursache des in Frage stehenden Ereignisses zu nennen, die Prognose (oder genauer, das durch die Prognose beschriebene Ereignis) die Wirkung. Wir sagen: Daß dem Faden mit der Zerreißfestigkeit von einem Kilogramm eine Last von 2 Kilogramm angehängt wurde, ist die Ursache, das er reißen mußte‘. Aus dieser Analyse einer kausalen Erklärung können wir verschiedenes ersehen. Erstens, daß wir von Ursache und Wirkung nie in einer absoluten Weise sprechen können. Vielmehr ist ein Ereignis Ursache eines anderen Ereignisses (das seine Wirkung darstellt) nur mit Rücksicht auf ein universelles Gesetz. Diese universellen Gesetze sind jedoch im allgemeinen (wie auch in unserem Beispiel) so trivial, daß wir sie in der Regel einfach hinnehmen, statt sie bewußt zu verwenden. Zweitens sehen wir, daß die Verwendung einer Theorie zum Zweck der Vorhersage eines bestimmten Ereignisses nur ein anderer Aspekt ihrer Verwendung zum Zweck der Erklärung eines derartigen Ereignisses ist. Und da wir eine Theorie überprüfen, indem wir die vorausgesagten Ereignisse mit den tatsächlich beobachteten Ereignissen vergleichen, so zeigt unsere Analyse weiterhin, wie wir Theorien überprüfen können. Ob wir nun eine Theorie zur Vorhersage, zur Erklärung oder zur Nachprüfung verwenden, das hängt von unserem Interesse ab und auch davon, welche Sätze wir als gegeben oder als angenommen voraussetzen“.34 Der politisch natural gesteuerte sozialistische Jahrzentralplan mußte einige Monate vor Inkrafttreten umfassend bilanziert sein. Im Modell waren die naturale und die finanzielle Zentralplanung im Gleichgewicht. Die Bedeutung des technischen Fortschritts35 für das intensive Wachstum war den Ökonomen der politischen Ökonomie sehr wohl bekannt. „Da der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Hauptfaktor des intensiven Wachstums ist, bewirkt die rasche und effektive Einführung wissenschaftlich-technischer Neue-

34 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 7. Aufl., Tübingen 1992, S. 100, 307 f. 35 Ott, Alfred E.: Technischer Fortschritt, in: HdSW, 10. Bd., 1959, S. 302 ff. Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt, Überblick. Walter, Helmut: Technischer Fortschritt I: in der Volkswirtschaft. Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt II: im Betrieb, in: HdWW, Bd. 7, 1988, S. 567 ff.

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rungen in die Produktion den Hauptteil der erforderlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität und Aufwandssenkung der laufenden Produktion“.36 Der technische Fortschritt (= Innovation) setzt eine Erfindung voraus. Eine Erfindung im weiteren Sinn ist „jeder schöpferische Einfall, der zur Gestaltung eines praktisch verwendbaren Gegenstandes (chemische Verbindung, Maschine u. ä.) führt, der vorher noch nicht vorhanden war; im engeren Sinn die Lösung einer technischen Aufgabe durch schöpferische menschliche Tätigkeit, die gegenüber der vorhandenen Technik prinzipiell neu ist und einen technischen Fortschritt darstellt. Für eine Erfindung, wenn sie allen vorgeschriebenen Anforderungen genügt, auf Antrag vom Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR ein Patent erteilt werden. Neuerervorschlag, Vorschlags- und Erfindungswesen“.37 Erfindung (Invention) geht „häufig Hand in Hand mit der Entdeckung, ist ein Aufdecken bislang unbekannter Zusammenhänge, aus denen sich technische und ökonomische Folgen ergeben können. Erfindung ist die Grundlage jedes technischen Fortschritts. Ohne sie wäre z. B. die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Die Entwicklung der Nachkriegszeit ist geradezu gekennzeichnet durch (wirtschaftlich sinnvolle) technische Erfindungen und neue Güter und Verfahren, die wirtschaftlich genutzt worden sind (Wachstumstheorie, neuere). Die Innovation ist die wirtschaftliche Verwertung der Invention (Forschungsökonomie)“.38 Die Problematik des stationären39 und dynamischen ökonomischen Gleichgewichts ist von den Politökonomen klar erkannt worden: Ökonomisches Gleichgewicht: „Zustand eines ökonomischen Systems, bei dem keines der beteiligten Wirtschaftssubjekte (z. B. Volkswirtschaft, Betrieb, Verbraucher) Veranlassung hat, sein Verhalten (z. B. Produktionsplan, Nachfrage, Preise) zu ändern. Der Gleichgewichtszustand ist durch eine Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage bei allen Ressourcen gekennzeichnet. Es sind verschiedene Formen des ökonomischen Gleichgewichts zu unterscheiden: a) stationäres und dynamisches ökonomisches Gleichgewicht. Stationäres ökonomisches Gleichgewicht liegt vor, wenn die Variablen des Systems im Zeitverlauf immer wieder die gleichen Werte annehmen; dynamisches ökonomisches Gleichgewicht ist ein störungsfreies Wirtschaftswachstum und setzt qualitative Veränderungen im System voraus. K. Marx und W. I: Lenin lieferten im Rahmen ihrer Reproduktionsschemata (Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtprodukts) die klassischen Beispiele für Gleichgewichtsbedingungen bei stationärem (konstante organische Zusammensetzung) und dynamischem Wachstum (wachsende organische 36 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 91: Revolution, wissenschaftlich-technische. 37 Meyers Neues Lexikon, 3. Aufl., Bd. 4, Leipzig 1972, S. 338. 38 Grüske, Karl-Dieter / Rechtenwald, Horst Claus: Wörterbuch der Wirtschaft, 12. Aufl., Stuttgart 1995, S. 295 f. 39 Schneider, Helmut: Preise. I.:Konkurrenzpreisbildung, in: HdWW, 6. Bd., 1988, S. 187: Das Marktgleichgewicht als stationärer Zustand. Unter einem stationären Zustand oder Gleichgewicht versteht man einen Zustand des Systems, der sich von sich aus nicht mehr ändert.

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Zusammensetzung); b) kurz- und langfristiges ökonomisches Gleichgewicht, in Abhängigkeit davon, ob die Produktionskapazitäten variabel sind oder nicht; c) partielles und totales ökonomisches Gleichgewicht. Partielles ökonomisches Gleichgewicht ist immer auf Variable eines ökonomischen Teilzusammenhangs bezogen, totales ökonomisches Gleichgewicht auf alle Variable des entsprechenden Systems. Der Begriff des ökonomischen Gleichgewichts spielt in der bürgerlichen politischen Ökonomie seit Anbeginn eine dominierende Rolle (Gleichgewichtstheorie, bürgerliche). Seine volle Ausprägung erhielt er jedoch erst im Rahmen der mathematischen Gleichgewichtstheorie, als deren bedeutendste Vertreter Walras, Arow, Debreu, Koopmans, Uzawa, von Neumann und Wald gelten. Da die zugrunde gelegten Prämissen sehr unrealistisch sind und bestenfalls im Kapitalismus der freien Konkurrenz eine gewisse Entsprechung haben, besitzen auch die daraus abgeleiteten Schlußfolgerungen bezüglich der Existenz eines gleichgewichtigen ‚störungsfreien‘ Entwicklungspfades und der Rationalität der ‚freien‘ Marktwirtschaft für das heutige kapitalistische Wirtschaftssystem keinerlei praktische Relevanz, was nicht zuletzt durch die krisenhafte Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahren eindrucksvoll bestätigt wurde“.40 In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanung können die Ergebnisse von Forschung und Entwicklung nicht in die Produktion übergeleitet werden, da die Innovation grundsätzlich im laufenden Jahreszentralplan das ökonomische ausbilanzierte Gerüst sprengt. Die Rückwirkungen einer Innovation auf das Bilanzgerüst führen zu Ungleichgewichten, zu Disproportionen. Marie Esprit Léon Walras (1834-1910) wies mit Hilfe seines Systems von Tauschgleichungen (Angebot- und Nachfragefunktionen) das prinzipielle Gleichgewicht der Marktwirtschaft nach. In der Marktwirtschaft existiert eine ständige Tendenz zum Gleichgewicht. „Man rechnet Walras besonders die kristallklare Erfassung der Volkswirtschaft in einem statischen Gleichgewicht interdependenter Größen zu, das auf ein einheitliches Prinzip begründet ist. Mit William Stanley, Jevons und Carl Menger gehört er zum Triumvirat der Grenznutzenlehre. […] Gewiß handelt es sich bei Walras stets nur um Teilgleichgewichte, aber es sind nicht nur die Gleichgewichte auf den Märkten, sondern die Systematik wird auch übertragen auf die Produktionsprobleme und nicht zuletzt auch auf die Geldtheorie, für deren Behandlung das Walrassche System sich deswegen besonders eignet, weil das Geld seines fetischistischen Charakters enthoben und als besonderes Gut unter vielen behandelt werden kann. Gewiß sind das alles nur Teilmosaike, und es ist ein weiteres Verdienst von Walras, diese Betrachtung in einer Form durchgeführt zu haben, die sich loslöst von der Substanz und damit dem Geist erheblich größere Freiheitsgrade gibt. Sie sind bei der Komplikation der Systeme und Phänomene erforderlich. Zum Marxschen Kollektivismus stand Walras im Gegensatz. Die enge Wertlehre, die Verstaatlichung der Produktionsmittel, die Metaphysik einer determinierten Expropriation lagen ihm nicht“.41 40 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 792. 41 Waffenschmidt, Walter Georg: Walras, Léon, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 495 f.

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Als Fazit der Analyse ergibt sich, daß die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft weitgehend dem Modell eines statischen Gleichgewichts entsprach, d. h. einer stationären Wirtschaft ohne großen technischen Fortschritt. Dies entspricht auch dem Forschungsergebnis von Gernot Gutmann.42 In der Marktwirtschaft mit Geldrechnung, Privateigentum, Unternehmern und Wettbewerb existiert ein dynamisches Gleichgewicht.43 Der technische Fortschritt führt permanent zu Ungleichgewichten.44 In der Marktwirtschaft herrscht jedoch eine ständige Tendenz zum Gleichgewicht. Der technische Fortschritt wird durch den Gewinn, die oberste Leitmaxime in der Marktwirtschaft vorangetrieben.45 Der Wettbewerb sorgt für die permanente Anpassung an den technischen Fortschritt. Der endogene Entwicklungsprozeß durch den technischen Fortschritt existiert nur in der Marktwirtschaft. Die Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft hatte bereits fünf Jahre nach der Währungsreform die Zerreißung des deutschen Wirtschaftskörpers überwunden und ein weitgehend äußeres und inneres Gleichgewicht erlangt. „Neben dem Umstand, daß seit der Währungsreform ein Jahrfünft und damit ein ausreichender Zeitraum für die Darstellung einer Strukturentwicklung verstrichen ist, rechtfertigt sich diese Untersuchung dadurch, daß nach allen Anzeichen die Periode des dringlichsten Wiederaufbaues und damit die erste Phase des Wachstums mit ihrer besonderen Dynamik, die im Ausland gelegentlich als ‚Wirtschaftswunder‘ bezeichnet wurde, beendet ist; weiter durch den Auslauf der Marshallplanhilfe Mitte 1953.46 Gleichzeitig hatte die Soziale Marktwirtschaft wieder weitgehend ein äußeres und inneres Gleichgewicht erlangt. Die westdeutsche Ausfuhr hat wieder einen Umfang erreicht, der gestattet, die notwendigen Einfuhren an Nahrungsmitteln und Rohstoffen und darüber hinaus noch Auslandsschulden zu begleichen. Im Inneren sind Bundes- und Länderhaushalte ausgeglichen, befinden sich Produktion und Verbrauch im Gleichgewicht und sind die früheren produktionsstörenden Engpässe überwunden. Dazu ist die Sparrate fast wieder auf den Stand der Vorkriegszeit gestiegen“.47 Als es nach dem Ersten Weltkrieg (1914/18) zu Disproportionalitäten zwischen Konsumgüter- und Investitionsgüterindustrie kam, wurde dies durch die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft korrigiert. „Die von Mises, Hayek, Strigl, in Deutschland auch von Wilhelm Röpke (1899-1966) vertretene monetäre Überinvestitionstheorie führt die Kristen auf die Disproportionalitäten im vertikalen Aufbau der Produktion zurück. In der störungsfreien monetären Situation, also 42 Gutmann, Gernot: Zentralgeleitete Wirtschaft, in: HdWW, 9. Bd., 1988, S. 604. 43 Scheele, Erwin: Einkommensverteilung. I. Theorie, in: HdWW, Bd. 2, 1988, S. 279. 44 Stackelberg, Heinrich Freiherr von: Marktform und Gleichgewicht, Wien, Berlin 1934. Möller, Hans: v. Stackelberg, Heinrich Freiherr (1905-1946), in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 770-772. 45 Heinen, Edmund: Ziele und Zielsysteme in der Unternehmung, in: HdWW, Bd. 9, 1988, S. 616 ff. 46 Das Gesetz über die Marshallplanhilfe trat am 2.4.1948 in Kraft. 47 IFO-Institut für Wirtschaftsforschung: Fünf Jahre Deutsche Mark. Der Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft seit der Währungsreform, Berlin, München 1954, Vorwort.

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bei neutralem Geld, bestimmen allein die Ersparnisse über den Umfang der Kapitalgüterproduktion. Durch Kreditschöpfung wird dagegen die Kapitalstruktur verfälscht, nämlich über Gebühr ausgedehnt, und somit eine Reduktion des Konsums erzwungen, die nicht in der Absicht der Einkommensbezieher lag. Wegen der Disproportionalitäten zwischen Konsumgüter- und Investitionsgüterindustrie kommt es zur Krise, die ein Bereinigungsprozeß zwecks Korrektur fehlgeleiteter Ressourcen ist“.48 Die Selbstheilungskräfte bei der Korrektur fehlgeleiteter Ressourcen existieren nur in der Marktwirtschaft. Der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft war die Fehlleitung der Ressourcen von Anfang an systemimmanent. Das Primat der Schwerindustrie mit dem politisch festgelegten wichtigsten Ziel, die „Kriegs- und Polizeimaschinerie des Nomenklaturstaates Sowjetunion aufzurüsten“,49 wurde von Stalin bereits im ersten Fünfjahrplan (1928/32) festgelegt. Alle seine Nachfolger bauten die Produktion der Gruppe A (Schwerindustrie) in beschleunigtem Tempo auf Kosten der Konsumgütererzeugung wesentlich schneller aus. „Im Rahmen der Gruppe A hat sich der Anteil der Produktion von Produktionsmitteln, die wieder nur für die Herstellung von Produktionsmitteln bestimmt waren (Gruppe A 1), seit Stalins Zeiten nicht verringert, sondern wuchs im Vergleich zur Gruppe A 2 (Produktion von Produktionsmitteln der Konsumgüter) unentwegt weiter. Wenn dieser Anteil in der Stalin-Ära (1950) 72 % betragen hatte, so erreichte er unter Chruščev (1960) 78 % und machte unter Brežnev und Kosygin (1965-66) bereits 82 % aus. Hier sieht man mit aller Deutlichkeit: Die Hauptlinien der sowjetischen Wirtschaftspolitik werden nicht von Generalsekretären, sondern von der herrschenden Nomenklaturaklasse bestimmt. Die Generalsekretäre kommen und gehen, aber die Politik bleibt. Merken wir trotzdem an: Der achte Fünfjahrplan war der einzige, in dem der Plan auch der Gruppe B endlich erfüllt (und sogar übererfüllt) wurde. So wirkten auf die Nomenklatura die Ereignisse von 1968 in der Tschechoslowakei und von 1970 in Polen. Diese Ereignisse gehören nun der Vergangenheit an: das Leben kehrte in seine gewohnten Bahnen zurück. Davon zeugte eindeutig der neunte Fünfjahrplan (1971-76). Das war wieder ein normaler Fünfjahrplan, von einer Überflügelung im Wachstumstempo der Gruppe A durch die Gruppe B konnte keine Rede sein. Obwohl man sich scheute, die Ziffern der Gruppe A zu veröffentlichen, waren die Resultate aus der Mitteilung, daß ‚der Umfang der Industrieproduktion um 43 % zunahm‘, während sich ‚die Produktion von Konsumgütern um 37 % erhöhte‘ klar zu ersehen. Der Plan wurde bezüglich der Gruppe B wieder nicht erfüllt – zum achten Mal von neun. Auf dem XXV. Parteitag verkündete Brežnev, daß es ‚nicht gelang, die Planziffer in der Konsumgüter- und Lebensmittelindustrie zu errei48 Brandt, Karl: Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre. Bd. 2. Vom Historismus zur Neoklassik, Freiburg i. B. 1993, S. 335. 49 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, 3. Aufl., 1985, S. 267. I. B. Berchin: Geschichte der UdSSR 1917-70, Berlin (-Ost) 1971.

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chen‘. Er kam zu dem Schluß: ‚Bisher haben wir noch nicht gelernt, neben der Sicherung des schnellen Ausbautempos der Schwerindustrie auch die Wachstumsrate bei der Gruppe B und den Dienstleistungsbetrieben beschleunigt voranzutreiben. Die Verantwortung dafür tragen viele‘. Das ist wahr – es sind viele: Die Nomenklaturaklasse. In einem Zeitraum von mehr als 60 Jahren ihrer Herrschaft und von mehr als 50 Jahren Planwirtschaft hat sie nicht gelernt, dem arbeitenden Volk die notwendigen Gebrauchsgüter zu geben. Aber auch jetzt hat diese Klasse, die ins Pensionsalter eingetreten ist, nicht die Absicht, die Lage radikal zu verändern. Im zehnten Fünfjahrplan (1976-80) hat die Sowjet-Nomenklatura folgendes vorgesehen: Wenn 1975 die Produktion von Konsumgütern um 237 Mrd. Rubel hinter der Erzeugung von Produktionsmitteln zurückblieb, sollte 1980 der Unterschied bereits 351 Mrd. betragen. Dabei war das Gesamtvolumen der Konsumgüterproduktion nur auf 186-189 Mrd. geplant; somit wurde allein das Übergewicht der Schwerindustrie (in Geld ausgedrückt) fast doppelt so hoch wie die ganze Erzeugung von Konsumgütern für die Bevölkerung. Das faktische Ergebnis war für die ‚Gruppe B‘ noch ungünstiger als geplant – und zwar um 30 %. Die Diskrepanz zwischen der Produktion von Konsumgütern für die Sowjetbürger und dem Ausstoß der Schwerindustrie ist in der UdSSR enorm. Die sowjetische Statistik verwendet nämlich bei der Gruppe A die niedrigen Lieferantenpreise der Betriebe, die die Gestehungskosten nur um ein Geringes übersteigen und von den Staatsbetrieben gegenseitig für die Bilanzen in Rechnung gestellt werden. Bei der Gruppe B verwendet die Statistik hingegen die hohen Einzelhandelspreise mit den Aufschlägen, die in manchen Fällen (z. B. bei den Personenkraftwagen) die Gestehungskosten um 800-900 % übersteigen“.50 Politisch konnte in der natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft ein volkswirtschaftliches Gleichgewicht zwischen der Investitions- und Konsumgüterindustrie nie hergestellt werden. Was dazu in der Politischen Ökonomie ausgeführt wird, ist absurd und widerspricht jeder Realität: „Der Charakter und die Art und Weise der Herstellung volkswirtschaftlicher Proportionen hängen in jeder sozialökonomischen Formation von den herrschenden Eigentumsverhältnissen und dem durch sie konstituierten Wirken spezifischer ökonomischer Gesetze ab. […] Die Ausnutzung des Gesetzes der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft erfordert in erster Linie die ständige, bewußte Herstellung und Aufrechterhaltung der volkswirtschaftlichen Proportionen in und zwischen den Zweigen der gesellschaftlichen Produktion. Ständige Proportionalität ist nur der sozialistischen Wirtschaft eigen. Sie stellt das wichtigste Merkmal des Gesetzes der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft dar. Auf die Sicherung und Herstellung bestimmter volkswirtschaftlicher Proportionen – insbesondere mit Hilfe der volkswirtschaftlichen Bilanzierung – zielt die Volkswirtschaftsplanung ab. In diesem Sinne bedeutet Proportionalität eine bestimmte Bilanziertheit des volkswirtschaftlichen Repro50 Ebd., S. 270 f.

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duktionsprozesses. Mit der Vertiefung der sozialistischen internationalen Arbeitsteilung wird die Gestaltung und Einhaltung vieler volkswirtschaftlicher Proportionen immer mehr zu einer internationalen Aufgabe. Das betrifft z. B. die zwischenund innerzweiglichen Proportionen der Produktion, die Proportion zwischen der Produktion von Produktionsmitteln und der Produktion von Konsumtionsmitteln, die Proportionen der Im- und Exporte und im bestimmten Maße die Proportionen des Einsatzes der Arbeitskräfte. Nach ihrer Funktion im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß werden sieben Gruppen volkswirtschaftlicher Proportionen unterschieden: a) zwischen den Fonds der Produktion und der Verwendung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts; b) zwischen dem inländischen Reproduktionsprozeß und der Außenwirtschaft; c) zwischen den Elementen des Produktions- und Konsumtionsprozesses; d) zwischen den finanziellen Einnahme- und Ausgabefonds; e) zwischen den verschiedenen Kauf- und Warenfonds in der Volkswirtschaft; f) zwischen Aufwand und Ergebnis der Produktion; g) Proportionen, die wichtige volkswirtschaftliche Wachstumsrelationen zum Ausdruck bringen. Bei der planmäßigen Wirtschaftsführung sind insbesondere folgende volkswirtschaftliche Proportionen zu beachten und – ausgehend von der objektiven Dynamik der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung – durchzusetzen: die durch das Gesetz der vorrangigen Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln bestimmte Proportion zwischen den Abteilungen I und II der gesellschaftlichen Produktion“.51 „Im Kapitalismus ist die Disproportion eine zwangsläufige Folge des Grundwiderspruchs. Der Antagonismus der Grundklassen führt zu ständigen Störungen des Grundgleichgewichts zwischen Akkumulation und Konsumtion. Auf Grund der Tendenz zur schrankenlosen Ausdehnung der Produktion und der beschränkten Konsumtionskraft der Massen muß notwendigerweise die Abteilung I der Produktion (Produktionsmittel) der Abteilung II der Produktion (Konsumtionsmittel) mehr vorauseilen, als auf Basis der engen Konsumtionsverhältnisse des Kapitalismus proportional wäre. Ein vorübergehender Ausgleich der Disproportionen erfolgt in zyklischen Krisen“.52 In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft ist grundsätzlich nur die einfache Reproduktion möglich. Eine Dynamisierung der einfachen Reproduktion ist nicht möglich, es sei denn außerhalb des bilanzierten Zentralplanes (Militärtechnik). Dies war ursächlich für das Verbleiben in altindustriellen Strukturen (Schwerindustrie) und dem sich beschleunigenden Rückgang der Arbeitsproduktivität der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Der Verschleiß des maroden Kapitalstocks führte dazu, daß die Kosten der DDR-Produkte unaufhaltsam stiegen und sie deshalb immer weniger DM (Devisen) erhielt. Die sozialistischen Ideologen kolportierten das Märchen von der Sicherheit der Arbeitsplätze im Sozialismus. Die Beschäftigten im Sozialismus saßen auf einem Pulverfass, dessen Lunte (= Zündschnur) schon lange abbrannte. 51 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 824. 52 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 467.

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4. Die praktische Nichtbeherrschbarkeit des Bilanzsystems als tragendes Gerüst der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft Die Ökonomen des ökonomischen Forschungsinstituts der Staatlichen Plankommission Günter Kusch, Rolf Montag, Günter Specht und Konrad Wetzker besaßen aus ihrer verdichteten Erfahrung einen tiefen Einblick in die Steuerung der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. „Es konnte der SED-Führung mit der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft aus systembedingten Gründen nicht gelingen, die Betriebe bzw. Kombinate zu effizient wirtschaftenden Einheiten zu entwickeln. Ganz anders der volkseigene Betrieb in der sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Dessen Zentralplanung begann mit der Übergabe von Plan- und Bilanzdirektiven und endete mit der Verteilung zentral bilanzierter staatlicher Auflagen. Alle wirtschaftlichen Beziehungen fanden jedoch auf horizontaler Ebene statt. Eine Zentralplanung im gesamtvolkswirtschaftlichen Rahmen stellte sich deshalb zunächst als Informationsproblem dar. Die Organisation des Informationsflusses für zentrale Entscheidungen, die horizontale Beziehungen betrafen, gestaltet sich zu einem überaus komplizierten Prozeß der gegenseitigen Abstimmung zwischen Lieferern und Verbrauchern, in den Territorien, mit Außenhandelsorganen und Banken. Er setzt sich mit der Koordinierung in übergeordneten Organen fort und fand in der zentralen Bilanzierung oder meistens Nichtbilanzierung seinen vorläufigen Abschluß. In diesem Prozeß waren lange Informationswege, zeitaufwendige und komplizierte Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse, lange Reaktionszeiten und geringe Flexibilität unvermeidlich. Der mit der Vervollkommnung der zentralen Planung verbundene Abbau eigener Entscheidungen in den horizontalen Beziehungen und der große Aufwand sowie die wachsende Kompliziertheit, diese Beziehungen über vertikale Strukturen zu planen, führten zur immer geringeren Beachtung der bei allen ökonomischen Entscheidungen bestehenden komplexen Zusammenhänge zu vor- und nachgelagerten Produktionsstufen bzw. Phasen des Reproduktionsprozesses. Das Kernstück der zentralen staatlichen Planung bildete das System der Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzen. Die Metapher vom tragenden Gerüst der Planung ist durchaus zutreffend, verbanden sich doch in ihm die vertikalen Planauflagen mit den horizontalen Verflechtungen. Die Bilanzierung sollte damit das Pendant zur Herstellung der Gleichgewichte von Angebot und Nachfrage bzw. in der Planwirtschaft von Aufkommen und Bedarf sein, wie sie in liberalisierten Wirtschaften vom Markt hergestellt werden. Der Bilanzierung wurde der Vorzug zugesprochen, daß sie im voraus, eben planmäßig, Gleichgewichte herstellen können, wozu der Markt immer erst im Nachhinein in der Lage sei. In der Tat ist eine zentrale Planwirtschaft ohne Bilanzsystem nicht denkbar. Der Bilanzierung haften jedoch systemimmanent zwei nicht lösbare Probleme an. Zum einen ergibt sich die Unmöglichkeit, die ungeheure Vielfalt der horizontalen Beziehungen des volkswirtschaftlichen Gesamtorganismus und den dazu

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notwendigen Informationsfluß in vertikale Planungsstrukturen zu integrieren. Der Ausweg wurde in zweierlei Richtung gesucht. Typisch war der Versuch, des wachsenden Informationsflusses Herr zu werden. Der XI. Parteitag der SED forderte, dafür die moderne Rechentechnik zu nutzen, um die wachsenden horizontalen Beziehungen immer besser zu beherrschen. Eine totale Erfassung horizontaler Beziehungen war damit nicht zu erreichen. Sie wäre aber notwendig gewesen, um informationsbedingte Mängel der Bilanzierung auszuschließen. In drei Bilanzen erfaßte Ersatzteile für Landmaschinen ließen z. B. bei rund 120.000 Einzelteilen nicht erkennen, welche wenigen ‚Skandalpositionen‘ eigentlich die jährlich wiederkehrenden Ersatzteilprobleme auslösten. Eine zentral beauflagte wertmäßige Erhöhung der Ersatzteilproduktion konnte diese Probleme nicht lösen und niemals ersetzen, was nur zwischen Verbrauchern und Produzenten unmittelbar auszuhandeln war. Es setzte sich deshalb allmählich und zuletzt die Einsicht durch, die Bilanzen und Pläne besser auf den abgeschlossenen Wirtschaftsverträgen aufzubauen, die Einheit von Plan – Bilanz – Vertrag von unten entstehen zu lassen. Ein solches Herangehen konnte jedoch keine praktische Bedeutung mehr erlangen. Das zweite Hauptproblem für die Bilanzierung ergab sich aus der unzureichenden Gewinnorientierung der Zentralverwaltungswirtschaft, im Zusammenhang mit der ungelösten Eigentümeridentifikation. Die Wirtschaft neigt unter diesen Bedingungen beständig zur Verschwendung von Ressourcen“.53 5. W. S. Nemtschinow weist wissenschaftlich nach, daß von der Sozialistischen einfachen Reproduktion (= statische Theorie) kein Weg zur Sozialistischen erweiterten Reproduktion (= dynamische Theorie) führt 5.1. Totale Liquidierung von Privateigentum und Marktwirtschaft mit Geldrechnung in der UdSSR Der Bericht von Jossif Wissarionowitsch Stalin auf dem Außerordentlichen VIII. Sowjetkongreß der UdSSR am 25. November 1936 umfaßt zwei Teile: (1) Einen Zustandsbericht der UdSSR 1936 und (2) Stalins Utopie Stalins Bericht erschien 1936 im Stern-Verlag Wien. Der Verlag stellte dem Bericht eine Einleitung voran: „Zum erstenmal in der menschlichen Geschichte gibt es einen sozialistischen Staat. Seine Verfassung ist daher völlig neuartig und mit keinem alten Schema vergleichbar. Kein Wunder, daß sie das Interesse aller geistig lebendigen Menschen erweckt und eine ganze Reihe von Fragen hervorgerufen hat. Auf alle diese Fragen, ob sie nun von Sympathie, von bloßem Wissensdurst oder von feindseliger Kritiksucht gelenkt sein mögen, kann es keine bessere, 53 Kusch, Günter et al. (Hrsg.): Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 110 f., 117 f.

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keine vollständigere Antwort geben als den Bericht Stalins selbst. Stalin hielt dort die vorliegende Rede, in der er eine grundlegende Analyse der Veränderungen im Leben der UdSSR seit der Annahme der ersten Verfassung (1924) gab und die Besonderheiten des neuen Entwurfs darlegte. Wir Österreicher waren damals und die ganze Zeit seither durch den eisernen Vorhang des reaktionären und faschistischen Terrors von der Menschheit abgeschnitten und erfuhren von ihrer Errungenschaft nur wenig und das in der verzerrenden Entstellung einer verlogenen Propaganda. Vieles, was die Welt längst weiß, ist bei uns noch ganz oder nahezu unbekannt. Wir glauben darum, daß wir mit der Veröffentlichung dieses Berichtes Stalins über die neue Sowjetverfassung einem allgemeinen Bedürfnis entgegenkommen und dazu beitragen werden, Unklarheiten und Unwahrheiten zu beseitigen“.54 Die Zerstörung der bestehenden Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ verband Stalin mit dem holistischen Experiment, auf den Trümmern der zerstörten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eine neue sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung mit einer politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft zu errichten. „Die Veränderungen im Leben der UdSSR in der Periode von 1924 bis 1936. Die Verfassungskommission hatte somit an der gegenwärtig geltenden Verfassung, die im Jahre 1924 angenommen wurde, Abänderungen vorzunehmen und dabei jene Fortschritte im Leben der Union der SSR in der Richtung zum Sozialismus zu berücksichtigen, die in der Periode von 1924 bis auf unsere Tage verwirklicht worden sind. Welches sind jene Veränderungen im Leben der UdSSR, die in der Periode von 1924 bis 1936 eingetreten sind und die die Verfassungskommission in ihrem Verfassungsentwurf zum Ausdruck zu bringen hatte. Hatten wir damals die erste Periode der NEP, den Beginn der NEP, die Periode einer gewissen Belebung des Kapitalismus, so haben wir jetzt die letzte Periode der NEP, das Ende der NEP, die Periode der restlosen Liquidierung des Kapitalismus in allen Sphären der Volkswirtschaft. Was den Warenumsatz im Lande betrifft, so sind die Kaufleute und Spekulanten von diesem Gebiet gänzlich vertrieben. Der gesamte Warenumsatz liegt jetzt in Händen des Staates, der Genossenschaften und der Kollektivwirtschaften. Es entstand und es entwickelte sich ein neuer Handel, der Sowjethandel, ein Handel ohne Spekulanten, ein Handel ohne Kapitalisten. Somit ist der restlose Sieg des sozialistischen Systems in allen Sphären der Volkswirtschaft jetzt Tatsache. Was aber bedeutet das? Das bedeutet, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben, liquidiert, das sozialistische Eigentum an den Produktionsinstrumenten

54 Stalin über die Verfassung der UdSSR, Wien 1936, S. 3.

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und -mitteln aber als unverrückbare Grundlage unserer Sowjetgesellschaft verankert ist. Im Ergebnis aller dieser Veränderungen auf dem Gebiete der Volkswirtschaft der UdSSR haben wir jetzt eine neue, sozialistische Wirtschaft, die keine Krisen und keine Arbeitslosigkeit kennt, die kein Elend und keinen Ruin kennt und die den Staatsbürgern alle Möglichkeiten für ein Leben im Wohlstand und Kultur gewährt. Das sind in der Hauptsache die Veränderungen, die auf dem Gebiet unserer Wirtschaft in der Periode von 1924 bis 1936 vor sich gegangen sind. Entsprechend diesen Veränderungen auf dem Gebiete der Wirtschaft der UdSSR hat sich auch die Klassenstruktur unserer Gesellschaft verändert. Die Gutsbesitzerklasse war bekanntlich schon im Ergebnis der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges liquidiert worden. Was die anderen Ausbeuterklassen betrifft, so haben sie das Schicksal der Gutsbesitzerklasse geteilt. Es gibt nicht mehr die Kapitalistenklasse auf dem Gebiete der Industrie. Es gibt nicht mehr die Kulakenklasse auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Es gibt nicht mehr die Kaufleute und Spekulanten auf dem Gebiete des Warenumsatzes. Alle Ausbeuterklassen sind somit liquidiert. Geblieben ist die Arbeiterklasse. Geblieben ist die Klasse der Bauern. Geblieben ist die Intelligenz. Es wäre aber verfehlt zu glauben, daß diese sozialen Gruppen während dieser Zeit keinerlei Veränderungen erfahren haben, daß sie dieselben geblieben sind, die sie, sagen wir, in der Periode des Kapitalismus waren. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeiterklasse der UdSSR. Man nennt sie oftmals aus alter Gewohnheit das Proletariat. Doch was ist das Proletariat? Das Proletariat ist die Klasse, die der Produktionsinstrumente und -mittel bar ist in einem Wirtschaftssystem, wo die Produktionsinstrumente und -mittel den Kapitalisten gehören und wo die Kapitalistenklasse das Proletariat ausbeutet. Das Proletariat ist die Klasse, die von den Kapitalisten ausgebeutet wird. Doch bei uns ist die Kapitalistenklasse bekanntlich schon liquidiert, die Produktionsinstrumente und -mittel sind den Kapitalisten weggenommen und dem Staat übergeben worden, dessen führende Kraft die Arbeiterklasse ist. Also gibt es keine Kapitalistenklasse mehr, von der die Arbeiterklasse ausgebeutet werden könnte. Also ist unsere Arbeiterklasse der Produktionsinstrumente und -mittel nicht nur nicht bar, sondern sie besitzt sie, im Gegenteil, gemeinsam mit dem ganzen Volke. Da sie sie aber besitzt und die Kapitalistenklasse liquidiert ist, so ist jede Möglichkeit der Ausbeutung der Arbeiterklasse ausgeschlossen. Kann man dennoch unsere Arbeiterklasse Proletariat nennen? Es ist klar, daß man es nicht kann. Marx hat gesagt: um sich zu befreien, muß das Proletariat die Klasse der Kapitalisten zerschmettern, den Kapitalisten die Produktionsinstrumente und -mittel wegnehmen und jene Produktionsverhältnisse vernichten, die das Proletariat erzeugen. Kann man sagen, daß die Arbeiterklasse der UdSSR diese Bedingungen ihrer Befreiung schon verwirklicht hat? Es bedeutet, daß das Proletariat der UdSSR sich in eine völlig neue Klasse, in die Arbeiterklasse der UdSSR, verwandelt hat, die das kapitalisti-

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sche Wirtschaftssystem vernichtet, das sozialistische Eigentum an den Produktionsinstrumenten und -mitteln verankert hat und die Sowjetgesellschaft auf der Bahn des Kommunismus leitet. Wie ihr seht, ist die Arbeiterklasse der UdSSR eine völlig neue, von Ausbeutung befreite Arbeiterklasse, wie sie die Geschichte der Menschheit noch nicht gekannt hat. Gehen wir zur Frage der Bauernschaft über. Gewöhnlich sagt man, daß die Bauernschaft eine Klasse von Kleinproduzenten ist, deren Angehörige atomisiert, über das ganze Land verstreut sind, einzeln in ihren Kleinwirtschaften mit deren rückständiger Technik herumbuddeln, Sklaven des Privateigentums sind und von Gutsbesitzern, Kulaken, Kaufleuten, Spekulanten, Wucherern und dergleichen ungestraft ausgebeutet werden. Und in der Tat, die Bauernschaft in den kapitalistischen Ländern ist, wenn man ihre Hauptmasse ins Auge faßt, gerade eine solche Klasse. Kann man sagen, daß unsere heutige Bauernschaft, die Sowjetbauernschaft, in ihrer Masse einer solchen Bauernschaft ähnlich sieht? Nein, das kann man nicht sagen. Eine solche Bauernschaft gibt es bei uns nicht mehr. Unsere Sowjetbauernschaft ist eine völlig neue Bauernschaft. Bei uns gibt es keine Gutsbesitzer und Kulaken, keine Kaufleute und Wucherer mehr, die die Bauern ausbeuten könnten. Also ist unsere Bauernschaft eine von der Ausbeutung befreite Bauernschaft. Weiter ist unsere Sowjetbauernschaft in ihrer erdrückenden Mehrheit eine Kollektivbauernschaft, das heißt sie gründet ihre Arbeit und ihr Hab und Gut nicht auf Einzelarbeit und auf eine rückständige Technik, sondern auf kollektive Arbeit und auf die moderne Technik. Schließlich liegt der Wirtschaft unserer Bauernschaft nicht das Privateigentum zugrunde, sondern das Kollektiveigentum, das sich auf der Basis der kollektiven Arbeit entwickelt hat. Wie ihr seht, ist die Sowjetbauernschaft eine völlig neue Bauernschaft, wie sie die Geschichte der Menschheit noch nicht gekannt hat. Gehen wir schließlich zur Frage der Intelligenz, zur Frage der Ingenieure und Techniker, der Arbeiter der Kulturfront, der Angestellten überhaupt und dergleichen über. Sie hat in der vergangenen Periode ebenfalls große Veränderungen erfahren. Das ist schon nicht mehr jene alte, verknöcherte Intelligenz, die sich über die Klassen zu stellen suchte, tatsächlich aber in ihrer Masse den Gutsbesitzern und Kapitalisten diente. Unsere Sowjetintelligenz ist eine völlig neue Intelligenz, die mit allen Fasern mit der Arbeiterklasse und der Bauernschaft verbunden ist. Verändert hat sich erstens die Zusammensetzung der Intelligenz. Die Intellektuellen adeliger und bürgerlicher Herkunft machen einen kleinen Prozentsatz unserer Sowjetintelligenz aus. 80 bis 90 Prozent der Sowjetintelligenz entstammen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und den anderen Schichten der Werktätigen. Geändert hat sich schließlich auch der Charakter der Tätigkeit der Intelligenz. Früher mußte sie den reichen Klassen dienen, denn sie hatte keinen anderen Ausweg. Jetzt muß sie dem Volke dienen, denn es gibt keine Ausbeuterklassen mehr. Und gerade deshalb ist sie jetzt gleichberechtigtes Mitglied der Sowjetgesellschaft, wo sie zusammen mit den Arbeitern und Bauern, an demselben Strang ziehend, den Aufbau der neuen, klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft betreibt.

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Wie ihr seht, ist das eine völlig neue, eine werktätige Intelligenz, wie ihr sie ähnlich in keinem Lande des Erdballs finden. Die grundlegenden Besonderheiten des Verfassungsentwurfs. Welche Widerspiegelung haben alle diese Veränderungen im Leben der UdSSR im Entwurf der neuen Verfassung gefunden? Unsere Sowjetgesellschaft hat es erreicht, daß sie den Sozialismus im wesentlichen schon verwirklicht, die sozialistische Gesellschaftsordnung geschaffen, das heißt das verwirklicht hat, was bei den Marxisten anders die erste oder untere Phase des Kommunismus heißt. Also ist bei uns die erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, im wesentlichen bereits verwirklicht. Das Grundprinzip dieser Phase des Kommunismus ist bekanntlich die Formel: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung‘, Muß unsere Verfassung diese Tatsache, die Tatsache der Erringung des Sozialismus, widerspiegeln? Muß sie auf dieser Erringung basieren? Unbedingt muß sie das. Sie muß das, weil der Sozialismus für die UdSSR das ist, was bereits erreicht und errungen ist. Aber die Sowjetgesellschaft hat noch nicht die Verwirklichung der höheren Phase des Kommunismus erreicht, in der das herrschende Prinzip die Formel sein wird: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‘, obgleich sie es sich zum Ziele setzt, in der Zukunft die Verwirklichung der höheren Phase des Kommunismus zu erzielen. Kann unsere Verfassung auf der höheren Phase des Kommunismus basieren, die es noch nicht gibt und die erst errungen werden muß? Nein, sie kann das nicht, denn die höhere Phase des Kommunismus ist für die UdSSR das, was noch nicht verwirklicht ist und was in Zukunft verwirklicht werden soll. Sie kann es nicht, wenn sie sich nicht in ein Programm oder in eine Deklaration über die künftigen Errungenschaften verwandeln will. Das ist der Rahmen unserer Verfassung im gegebenen historischen Augenblick. Somit stellt der Entwurf der neuen Verfassung das Ergebnis des zurückgelegten Weges dar, das Ergebnis bereits erzielter Errungenschaften. Er ist also die Registrierung und gesetzgeberische Verankerung dessen, was bereits in der Tat erreicht und errungen ist. Darin besteht die erste Besonderheit des Entwurfs der neuen Verfassung der UdSSR. Weiter. Die Verfassungen der bürgerlichen Länder gehen gewöhnlich von der Überzeugung aus, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung unerschütterlich sei. Die Hauptgrundlage dieser Verfassungen bilden die Prinzipien des Kapitalismus, seine Grundpfeiler: das Privateigentum an Grund und Boden, Waldungen, Fabriken und Werken und anderen Produktionsinstrumenten und -mitteln; die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und das Vorhandensein von Ausbeutern und Ausgebeuteten; Unsicherheit der Existenz der werktätigen Mehrheit auf dem einen Pol der Gesellschaft und Luxus der nichtwerktätigen, aber in ihrer Existenz gesicherten Minderheit auf dem anderen Pol; und so weiter und so fort. Sie stützen sich auf diese und ähnliche Stützpfeiler des Kapitalismus. Sie widerspiegeln sie, sie verankern sie auf dem Wege der Gesetzgebung.

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Zum Unterschied von ihnen geht der Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR von der Tatsache der Liquidierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aus, von der Tatsache des Sieges der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der UdSSR. Die Hauptgrundlage des Entwurfs der neuen Verfassung der UdSSR bilden die Prinzipien des Sozialismus, seine bereits errungenen und verwirklichten Grundpfeiler: das sozialistische Eigentum an Grund Boden, Waldungen, Fabriken und Werken und anderen Produktionsinstrumenten und -mitteln; die Liquidierung der Ausbeutung und der Ausbeuterklassen; die Liquidierung des Elends der Mehrheit und des Luxus der Minderheit; die Liquidierung der Erwerbslosigkeit; die Arbeit als Verpflichtung und Ehrenpflicht eines jeden arbeitsfähigen Staatsbürgers nach der Formel: ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘. Das Recht auf Arbeit, das heißt das Recht jedes Staatsbürgers, garantierte Arbeit zu erhalten; das Recht auf Erholung; das Recht auf Bildung; und so weiter und so fort. Der Entwurf der neuen Verfassung stützt sich auf diese und ähnliche Stützpfeiler des Sozialismus. Er widerspiegelt sie, er verankert sie auf dem Wege der Gesetzgebung. Die bürgerliche Kritik am Entwurf der Verfassung. Die offiziöse ‚Deutsche Diplomatisch-Politische Korrespondenz‘ behauptet direkt, daß der Entwurf der Verfassung der UdSSR ein leeres Versprechen sei, ein Betrug, ein ‚Potemkinsches Dorf.‘ Sie erklärt ohne Schwanken, daß die UdSSR kein Staat sei, daß die UdSSR ‚nichts anderes darstellt, als einen genau bestimmten geographischen Begriff,‘ daß die Verfassung der UdSSR infolgedessen nicht als eine wirkliche Verfassung anerkannt werden könne. In einer seiner Märchenerzählungen schildert der große russische Schriftsteller Schtschedrin den Typus eines sehr beschränkten und stupiden, aber äußerst eingebildeten und dienstbeflissenen eigensinnigen Bürokraten. Nachdem dieser Bürokrat in dem ihm ‚anvertrauten‘ Gebiet ‚Ruhe und Ordnung‘ hergestellt hatte, indem er tausende Einwohner ausrottete und Dutzende Städte niederbrannte, blickte er um sich und bemerkte am Horizont Amerika, ein freilich wenig bekanntes Land, wo es, wie sich herausstellt, irgendwelche Freiheiten gibt, die das Volk aufreizen, und wo der Staat mit anderen Methoden regiert wird. Der Bürokrat bemerkte Amerika und war entrüstet: was ist das für ein Land, woher ist es aufgetaucht, mit welchem Rechte existiert es? Gewiß, man hat es zufällig vor einigen Jahrhunderten entdeckt, kann man es aber denn nicht wieder zudecken, damit von ihm ja nichts übrigbleibt? Und nachdem er dies gesagt, setzte er den Entscheid hin: ‚Amerika ist wieder zuzudecken!‘ Mir scheint, daß die Herren aus der ‚Deutschen Diplomatisch-Politischen Korrespondenz‘ dem Schtschedrinschen Bürokraten wie ein Ei dem andern gleichen. Diesen Herren ist die UdSSR schon längst ein Dorn im Auge. Ich muß zugeben, daß der Entwurf der neuen Verfassung tatsächlich das Regime der Diktatur der Arbeiterklasse aufrechterhält, genau so wie er die jetzige führende Stellung der Kommunistischen Partei der UdSSR unverändert beibehält. Wenn die verehrten Kritiker dies für einen Mangel des Verfassungsentwurfs hal-

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ten, so kann man dies nur bedauern. Wir Bolschewiki aber halten dies für einen Vorzug des Verfassungsentwurfs. Man spricht von Demokratie. Doch was ist Demokratie? Die Demokratie in den kapitalistischen Ländern, wo es gegensätzliche Klassen gibt, ist in letzter Instanz eine Demokratie für die Starken, eine Demokratie für die besitzende Minderheit. Die Demokratie in der UdSSR ist, umgekehrt, eine Demokratie für die Werktätigen, das heißt eine Demokratie für alle. Daraus folgt aber, daß die Grundlagen des Demokratismus nicht durch den Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR verletzt werden, sondern durch die bürgerlichen Verfassungen. Deshalb glaube ich, daß die Verfassung der UdSSR die einzige bis ins letzte demokratische Verfassung der Welt ist. So steht es mit der bürgerlichen Kritik am Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR“.55 Stalins Bericht von 1936 zeigt den totalen Bruch mit der bisherigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und auf den Trümmern eine neue Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung aufzubauen. Mit dem holistischen Experiment soll der Kommunismus aufgebaut werden, eine neue industrielle Massengesellschaft mit einer politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Wenn man Stalins Bericht von 1936 analysiert, kann man deutlich unterscheiden zwischen dem, was liquidiert wurde und dem kommunistischen holistischen Experiment: - Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist aufgehoben. Alle Ausbeuterklassen sind liquidiert. - Die neue sozialistische Wirtschaft ist frei von Krisen und Arbeitslosigkeit. - Es sind alle Möglichkeiten vorhanden für ein Leben im Wohlstand und in Kultur. - Neue Klassenstruktur der Gesellschaft: Proletariat ist eine völlig neue Klasse. Sowjetbauernschaft ist eine völlig neue Bauernschaft. - Unsere Sowjetintelligenz ist eine völlig neue Intelligenz, die mit allen Fasern mit der Arbeiterklasse und der Bauernschaft verbunden ist. Die erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus ist im wesentlichen bereits verwirklicht. Der Kommunismus war nach Stalin das Endziel.56 An dem Endziel hielten KPdSU und SED bis zum Zusammenbruch 1989/90 unverändert fest. Kommunismus. „Klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch 55 Ebd., S. 5-28. 56

Ebd., S. 16.

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die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fließen werden und wo das große Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewußtsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur Bewußt gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem größten Nutzen für das Volk anwenden wird“.57 Programm der SED. „Beim Aufbau des Kommunismus sind drei untrennbar miteinander verbundene Aufgaben zu lösen: erstens die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus; zweitens die Herausbildung kommunistischer Produktionsverhältnisse und des kommunistischen Charakters der Arbeit; drittens die Entwicklung kommunistischer gesellschaftlicher Beziehungen und die Erziehung des Menschen der kommunistischen Gesellschaft“.58 5.2. Die Sozialistische erweiterte Reproduktion: Akkumulation ohne technischen Fortschritt Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in der DDR folgten einem Konzept des Wirtschaftskreislaufs, in dessen Zentrum die Produktion, Distribution, Zirkulation und Verwendung von Sachgütern steht. Der Freiburger Volkswirt Karl Brandt hat in seiner „Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre“ den Sozialismus und insbesondere das „Kapital“ von Marx analysiert. „Im ‚Kapital‘, der Marxschen Theorie der kapitalistischen Produktion, treten der Revolutionsaspekt und die Schilderung der zukünftigen sozialistischen Wirtschaftsordnung zurück. Materialistische Geschichtsauffassung und Klassenkampftheorie stehen aber nach wie vor im Vordergrund. Sie dienen einerseits dazu, die Widersprüche im kapitalistischen System nachzuweisen, andererseits sollen sie begründen, warum der Kapitalismus an diesen Widersprüchen zugrunde gehen muß. ‚Basis‘ des Systems sind die Produktionsverhältnisse. Nicht mehr das Bewußtsein bestimmt, wie bei Hegel, über das Sein, sondern umgekehrt ist das Bewußtsein Ausfluß des gesellschaftlichen Seins. Deshalb gibt es auch einen geistigen ‚Überbau‘, der sich über die materielle Basis stülpt, verkörpert durch staatliche Institutionen, durch Recht, Sitte, Kunst usw. Der Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise besteht zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der kapitalistischen Form der Aneignung des Produktionsergebnisses. Dieser Widerspruch setzt sich zwischen Basis und Überbau fort. Wer57

Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin (-Ost) 1961, S. 59.

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Programm der SED, Berlin (-Ost) 1976, S. 75.

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den die Grenzen zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen erreicht, dann werden letztere zu Fesseln der Wirtschaftsentwicklung. Stagnation macht sich breit, das System ins zusammenbruchsreif. In seinen Grundanschauungen ist Marx Spätklassiker. Er übernimmt die Ricardianische Wert- und Preislehre und modifiziert die Arbeitswertlehre lediglich insoweit, als die aufgewendete Arbeitszeit statt der unbestimmten Arbeitsmenge in den Wert eingeht. Seine Mehrwertlehre besagt Folgendes: Die aus der kapitalistischen Produktion hervorgehenden Güter haben Warencharakter. Sie werden zum Erwerb, nicht zu eigenem Verbrauch, hergestellt. Wert hat eine Ware, weil in ihr menschliche Arbeit enthalten ist, die durch die aufgewendete Arbeitszeit gemessen wird. Im Verwertungsprozeß der Produktion wird die Arbeit selbst Ware. Ihr Wert orientiert sich nicht an der individuellen Arbeitszeit, sondern an der ‚gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit‘, die die Arbeiter zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft befähigt. Der Arbeitswert ist für Marx geronnene Arbeitszeit, die als wertbildende Substanz in die Waren eingeht. Zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert der Arbeit besteht ein Unterschied. Der Kapitalist zahlt zwar dem Arbeiter den vollen Marktwert der Ware Arbeit, nicht aber den echten Arbeitswert der hergestellten Produkte. Der Erlös aus dem Warenverkauf enthält neben dem Lohn noch den Mehrwert. Er ist zurückbehaltener Arbeitsertrag, eine Form der Ausbeutung, die nur wegen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse möglich ist. Diese lassen zwei Wege zur Erzielung von Mehrwert zu: 1. Indem die Kapitalisten den Gesamtarbeitstag länger einrichten als zur Reproduktion der Arbeitskraft benötigt wird, entsteht ‚absoluter Mehrwert‘, der das Ergebnis von ‚Mehrarbeit‘ ist, die nicht vergütet wird. 2. Zusätzlich zum absoluten Mehrwert erzielen die Kapitalisten einen ‚relativen Mehrwert‘, wenn sie bei technischen Verbesserungen mit gleichbleibender Arbeitszeit weiter produzieren. Wegen der unterlassenen Arbeitszeitverkürzung fallen die Gewinne aus arbeitssparenden Erfindungen allein den Kapitalisten zu. Der ‚Produktwert‘ oder Produktionswert einer Ware richtet sich nach dem ‚Wert der Produktbildner‘, den im Arbeitsprozeß verzehrten Produktionsmitteln, die selbst das Ergebnis ‚vorgetaner Arbeit‘ sind, und dem ‚zugesetzten Quantum Arbeit‘. Der Wert der Produktbildner ist: c + v, wobei c den für Rohstoffe, Hilfs- und Arbeitsmittel benötigten Kapitalanteil bezeichnet und v den in Arbeitskraft umgesetzten Teil des ‚verwerteten Kapitals‘, kurz variables Kapital genannt. Der Produktwert übersteigt den Wert der Produktbildner, weil aus dem variablen Kapital ‚neu erzeugtes Wertprodukt‘ in Höhe von: v + Δv = v + m hervorgeht, also Mehrwert, Δv = m, geschaffen worden ist. Der Produktwert ist daher: c + v + m.

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Im Marktwert, dem Preis einer Ware, ist neben den Produktbildnern c und v der Profit enthalten. Profit und Mehrwert müssen nicht notwendigerweise übereinstimmen, da einzelne Waren über oder unter ihrem Arbeits- oder Produktwert getauscht werden können. Mehrwert entsteht nur aus variablem Kapital. Der Marxsche Produktionspreis entspricht dem auf die Dauer und im Durchschnitt geltenden natürlichen Preis der Klassiker, nur daß bei ihm klassische Kostenbestandteile, der Zins und der Kapitalprofit, in Mehrwert aufgelöst worden sind. Auch bei Marx schwankt der effektive Marktpreis um den Produktionspreis, so daß Extraprofite als vorübergehende Marktlagengewinne möglich sind. Über Mehrwertlehre ist im Marxschen System zugleich der Lohn bestimmt. Weil die Kapitalisten den Mehrwert für sich vereinnahmen können, drücken sie den Lohn auf das Existenzminimum. Über die Mehrwertlehre kommt Marx zur Akkumulationstheorie. Verdienter Mehrwert wird in Produktivkapital verwandelt, dessen Umfang das kapitalistische Entwicklungstempo bestimmt. Hier geht Marx über die klassischen Denkansätze hinaus. Er zeigt, daß Wirtschaftswachstum aus kreislauftheoretischen Zusammenhängen abgeleitet werden kann und benutzt dazu sogenannte Reproduktionsmodelle. Ohne Akkumulation gibt es nur einen stets gleichbleibenden Wirtschaftskreislauf, die ‚Reproduktion auf einfacher Stufenleiter‘, ein stationärer Prozeß mit festen Verteilungsregeln. Die Akkumulation des Kapitals erzeugt dagegen eine Verbreiterung der Kapitalbasis, aus der ein Zuwachs des Sozialproduktes hervorgeht, es findet eine ‚Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter‘ statt. Im einfachen Reproduktionsmodell löst sich Marx von der Quesnayschen Kreislaufkonzeption (1758), ihrer willkürlichen Klasseneinteilung und Produktivitätszumessung. Er greift auf ein sektoral disaggregiertes Modell mit Kapitalgüterund Konsumgüterabteilung zurück und transformiert die in der Mehrwertlehre ausgewiesenen Produktbildner c und v, sowie den Mehrwert m, in Kreislaufströme. Anhand von Zahlen für die Abteilung I (Produktionsmittelabteilung) und die Abteilung II (Konsummasse) zeigt Marx die Gleichgewichtsbedingung des stationären Kreislaufs. Sie besagt, daß in der einfachen Reproduktion der periodische Kapitaleinsatz in der Konsumgüterabteilung gerade die für die Produktion dieser Kapitalgüter erforderlichen Einsätze an variablem Kapital und Mehrwert der Abteilung I ausgleicht, so daß sich der Kreislauf auf vorgezeichneter Bahn von Periode zu Periode wiederholen kann. Marx hat im Briefwechsel mit Engels die einfache Reproduktion auch graphisch dargestellt. Sie bleibt aber für ihn eine theoretische Konstruktion, die nur der Vorbereitung der ihn viel stärker interessierenden ‚erweiterten Reproduktion‘ dient, weil erst in der erweiterten Reproduktion die Wirkungen der Akkumulation des Kapitals erfaßt werden können. Die Akkumulation erfolgt bei Marx ausschließlich aus Mehrwert, da die Löhne bekanntlich beim Existenzminimum verharren. Durch den Kapitalbildungsprozeß wird das Kreislaufgleichgewicht der einfachen Reproduktion aufgehoben. Das Marxsche Modell der erweiterten Reproduktion ist ein in einzelne Anpassungsschritte zerlegtes Wachstumsmodell.

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In der Vorgehensweise von Marx beschreibt die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter einen sich im Ungleichgewicht vollziehenden Wachstumsprozeß, der die Expansionskraft einer Volkswirtschaft ausdrückt, die ohne Einsatz technischen Fortschrittes realisiert werden kann. Für ihn ist damit der kapitalistische Entwicklungsprozeß natürlich noch nicht vollständig erfaßt. Das Wachstumsmodell muß durch eine Entwicklungstheorie ergänzt werden, in welcher die im Reproduktionsmodell als konstant angenommenen Größen problematisiert werden. Neben der Mehrwert- und Akkumulationstheorie stellt Marx daher: - die Konzentrationstheorie - die Verelendungstheorie und - die Zusammenbruchstheorie. Konzentrations- und Verelendungstheorie befassen sich mit dem Reifegrad des Kapitalismus, mit Indikatoren, die anzeigen, ob das System bereits dem Todesstoß ausgesetzt werden kann. Die Zusammenbruchstheorie zeigt nur noch die Endbedingungen auf, unter denen die anarchische Produktionsweise des Kapitalismus aufgegeben wird, um der ‚Diktatur des Proletariats‘ zu weichen. Zur Konzentration des Kapitals kommt es aufgrund der Wettbewerbsbedingungen. Wachstum beinhaltet die ‚Expansion vieler kleiner Kapitalien‘. Durch Verdrängungswettbewerb ballt sich aber das Kapital zu ‚wenigen großen Kapitalien‘ zusammen. Die kleinbetrieblichen Strukturen werden vernichtet. Mit dem im Zuge dieser Entwicklung eintretenden ‚tendenziellen Fall der Profitrate‘ kommt es zu konjunkturbedingter Freisetzung und nachfolgender Verelendung der Arbeiter“.59 Angesichts der zunehmenden Mangelversorgung in der Sowjetunion, der DDR und den anderen Volksdemokratien denkt man hier an Utopie. „Utopien im Sinne idealer Gesellschafts- oder Staatsentwürfe hat es von Anfang an in der philosophischen Literatur gegeben, wenn auch das Wort Utopie erst seit Th. Morus‘ Werk Utopia (1516) ein Terminus ethisch-praktisch-politischen Denkens geworden ist. Auch in der schönen Literatur finden sich zahllose utopische Romane, Reisebeschreibungen von fernen Inseln und entlegenen Orten, an denen gemeinschaftliche Lebensformen praktiziert werden, denen exemplarische Gültigkeit zugeschrieben wird. Die klassischen Utopien sind i. d. R. Gesamtentwürfe für eine vollkommene, auf dem Prinzip der Gerechtigkeit basierende Gesellschaftsordnung, die ein in kritischer Absicht entwickeltes Kontrastprogramm als Korrektiv zu bestehenden Verhältnissen abgeben soll. Im Unterschied zur vertikalen Utopie, die als statische Orts-Utopie konzipiert ist, kann man die Zeit-Utopie als horizontale Utopie charakterisieren. Das platonische Modell einer auf- und absteigenden Dialektik wird gewissermaßen im Uhrzeigersinn aus der Vertikalen in die Horizontale gedreht und das utopische Konstrukt aus dem ‚Nirgendwo‘ ins ‚Irgendwann‘ verlegt. Die horizontale Utopie ist als Zukunftsentwurf in erster Linie nicht mehr Maßstab, regulative Norm zur Beurteilung bestehender Verhältnisse, sondern Resultat eines gesellschaftlichen Ent59 Brandt, Karl: Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre. Band 2: Vom Historismus bis zur Neoklassik, Freiburg i. Br. 1993, S. 153-162.

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wicklungsprozesses, an dessen Ende die verwirklichte Utopie als Ziel steht. Entsprechend bekommen die Überlegungen, die den Weg zur als Ziel vorgestellten Utopie betreffen, stärkeres Gewicht als in den klassischen vertikalen Utopien, die von der Fiktion einer durch keine Tradition und Konvention vorbelasteten Neugründung ausgehen. Die horizontalen Utopien hingegen knüpfen an eine bestehende Gesellschaftsordnung an und suchen von dorther an gemessene Mittel und Wege zur utopisch vorentworfenen besseren oder besten Staats- bzw. Lebensform. Vertikale Utopien sind ungeschichtlich, horizontale Utopien dagegen eminent geschichtlich. Obwohl Karl Marx und Friedrich Engels (Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880) ihr Modell einer klassenlosen Gesellschaft nicht als Utopie verstanden wissen wollten, gibt es doch das beste Beispiel für eine horizontale Zeit-Utopie ab. Ausgehend vom Kapitalismus, entwickeln sie über die Stufen des Sozialismus und Kommunismus die Utopie eines Reichs der Freiheit, indem sie in einer Fortschrittsdialektik den Weg als einen notwendigen Gang wissenschaftlich zu konstruieren versuchen. Jede Stufe treibt aufgrund der ihr immanenten Widersprüche die nächste aus sich heraus. Getragen durch die Revolution des Proletariats, wird die Entwicklung dahin führen, daß mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit verbunden der Klassengegensätze schließlich der Staat überflüssig und absterben wird. An seine Stelle tritt eine sich einvernehmlich organisierende Gemeinschaft freier Individuen. Die marxistische Utopie hat von verschiedenen Seiten Kritik erfahren. Während E. Bloch (Geist der Utopie, 1918) im Reich der Freiheit eine metaphysische oder religiöse Dimension vermißt, die den von der Arbeit entlasteten, neuen kreativen Menschen mit dem Sinn einer verwandelten Kirche erfüllen soll, konstatiert L. Kolakowski (Marxismus-Utopie und Anti-Utopie, 1974) für die ‚utopische Anti-Utopie‘ von Marx einen Widerspruch: sie hebe den Unterschied zwischen normativem Anspruch und empirischer Prognose auf. Außerdem ermangele sie einer Ethik, die statt für eine auf Kosten der Menschlichkeit praktizierte perfekte Gesellschaftsordnung für eine vielleicht nicht vollkommene, aber doch erträgliche Lebensform plädiere. H. Jonas (Kritik der Utopie und die Ethik der Verantwortung, 1979) wendet sich gegen das Projekt ‚Umbau des Sterns Erde‘ (Bloch) schlechthin und deklariert den Glauben, man könne das Reich der Freiheit von dem der Notwendigkeit abtrennen, als einen Irrtum. Es gelte, dem erbarmungslosen Optimismus der Utopisten eine barmherzige Skepsis, dem Prinzip Hoffnung das Prinzip Verantwortung entgegenzusetzen und anstatt von einem schlechthin Guten zu träumen die Ausbreitung des Bösen verhindert“.60 Im „Kapital“ hat Karl Marx eine Theorie der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entwickelt. Die Analyse besteht aus ökonomischen Kategorien. Eine Kategorie ist ein grundlegender und allgemeinster Begriff einer Wissenschaft oder Theorie. 60 Pieper, Annemarie: Utopie, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, Sp. 576-580.

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So ist z. B. eine ökonomische Kategorie ein „politökonomischer Grundbegriff (z. B. Ware, Wert, Kapital, Mehrwert), in dem sich objektive ökonomische Prozesse und Verhältnisse in verallgemeinerter Form widerspiegeln. Ökonomische Kategorien sind historisch bedingt, ihr Inhalt verändert sich mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse“.61 Kategorien sind Erkenntnismittel, geben aber keine Hinweise für wirtschaftspolitische Maßnahmen, was auch der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Schürer zugab. Schürer: „Ich habe allerdings frühzeitig Marxismus wirklich studiert, also Marx studiert. Die meisten studieren ja nicht Marx, sondern über Marx. Schon in der Wirtschaftsschule in Mittweida und dann in der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst; dort war ich im Fernstudium. Und dann beim Studium in der UdSSR, in Moskau, drei Jahre. Da studierte man wirklich Marxismus, Marx, Engels, Lenin. 1956 war der XX. Parteitag, da war von Stalin schon gar nicht mehr viel in der Lehre drin. Da hat man die Breite kennengelernt und die Tiefe des Marxismus und hat auch gemerkt, daß es Ecken gibt, wo Theorie und Praxis schon gar nicht mehr übereinstimmten. Lepsius: Aber in Ihrer Tätigkeit in der Plankommission, das waren doch alles ad-hoc-Entscheidungen in einem gegeben Datenkranz. Hat da der Marxismus überhaupt noch eine Rolle gespielt? Schürer: Na, in dem Sinne, daß man irgendeine Anleitung zum Handeln hatte durch den Marxismus […] Lepsius: […] hatten Sie eine, konkret? Schürer: Das Gesamtsystem der sozialistischen Ökonomie war ja nach marxistischen Grundsätzen aufgebaut, also die Begriffe des Nationaleinkommens, des produktiven Bereichs, Konsumtion, Akkumulation, Mehrwerttheorie […] Lepsius: […] ja, aber das sind ja nur Ordnungskategorien? Schürer: Ja, also Ordnungskategorien wurden vom Marxismus übernommen. Aber wenn man entscheiden mußte, ob im Eisenhüttenkombinat Ost eine Warmbandstraße gebaut wurde, hat einem der Marx überhaupt nicht geholfen. Lepsius: Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Wie sind die Entscheidungen z. B. für die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubes, für die Einrichtung der Kindertagesstätten, also die ungeheure Frauenpolitik, getroffen worden? Das ist Sozialpolitik und kostet ja sehr viel Geld. Wie haben Sie das entschieden? Oder war die Plankommission daran gar nicht beteiligt? Schürer: Wir waren schon beteiligt. Wir haben in der Regel eine politische Vorgabe bekommen, vom Politbüro“.62 61 Meyers Lexikon, 3. Aufl., Bd. 7, Leipzig 1973, S. 404. 62 Wir waren die Rechner, immer verpönt. Gespräch mit Dr. Gerhard Schürer und Siegfried Wenzel, Berlin, 25.2.1993 und 21.5.1993, in: Pirker, Theo et al.: Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 72.

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Auch von Lenin und Stalin konnten aus den Ordnungskategorien von Karl Marx keine wirtschaftspolitischen Maßnahmen abgeleitet werden. 5.3. Nemtschinow: Von der statischen Theorie der Sozialistischen einfachen Reproduktion führt kein Weg zu einer dynamischen Theorie der Sozialistischen erweiterten Reproduktion Der sowjetische Ökonom und Wirtschaftsmathematiker W. S. Nemtschinow (1894-1964) „gilt als einer der Begründer der Anwendung von Mathematik und Rechentechnik in der ökonomischen Analyse und Planung der UdSSR. Er war seit 1946 Mitglied der Akademie der Wissenschaften“.63 Sein Werk „Ökonomischmathematische Methoden und Modelle“ (1966) gibt Einblick in den Stand der Diskussion um die Politische Ökonomie des Sozialismus in der Sowjetunion. Nemtschinows Studie ist eine Diagnose der politisch natural gesteuerten Zentralplanwirtschaft der Sowjetunion, die auf der Basis von Karl Marx im Gefolge der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 von Lenin und Stalin realisiert wurde. Der Weg von der ersten makroökonomischen Darstellung des Wirtschaftskreislaufs von François Quesnay (1758) über Karl Marx zu den Wachstumstheorien soll kurz skizziert werden. „Die klassischen Nationalökonomen, angefangen bei Smith und Ricardo bis hin zu Marx vertraten die Auffassung, dass wirtschaftliches Wachstum insbesondere auf Kapitalakkumulation zurückzuführen sei. Die Quelle des Wachstums war für die Klassiker somit bei gegebenem technischen Wissen, bei gegebener Bedürfnisstruktur, bei gegebenen Naturbedingungen und Ordnungen die Produktion und der Einsatz zusätzlicher Kapitalgüter. Als treibende Kraft des Akkumulationsprozesses sahen die Klassiker das Streben der Unternehmer nach Profiten. Daraus folgt, dass der Akkumulationsprozess anhält, solange zusätzliche Profite erzielt werden können. Da die klassischen Nationalökonomen – allen voran Marx – langfristig eine fallende Profitrate erwarteten, waren sie der Überzeugung, dass der Wachstumsprozess, der mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Akkumulation von Kapital einsetzte, ins Stocken geraten, und die Volkswirtschaften zu neuen stationären Gleichgewichten tendieren würde. Die von ihnen aufgezeigten Gegentendenzen (z. B. verbesserte Produktionsmethoden bei Smith, Ricardo und J. S. Mill, Arbeitszeitverlängerung oder Kapitalvernichtung bei Marx) konnten ihrer Ansicht nach den Prozess der fallenden Profitrate zwar abschwächen und somit hinauszögern, aber letztendlich nicht verhindern. Erst 1912 stellte Schumpeter die Zwangsläufigkeit einer im Zeitablauf fallenden Profitrate in Frage. Demnach führt die Verbindung von Kapitalakkumulation mit technischem Fortschritt zu dauerhaftem Wachstum. Die Quelle des technischen Fortschritts ist nach Schumpeter die dem kapitalistischen Produktionspro63 Opitz, Petra: Nemtschinow, Wassili, Sergejewitsch (1894-1964), in: Krause, Werner et al. (Hrsg.): Ökonomenlexikon, Berlin (-Ost) 1989, S. 389.

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zesses innewohnende Innovationsfähigkeit.64 Mit seinen Überlegungen schuf er eine wesentliche Grundlage für Modelle der neuen Wachstumstheorie,65 die sich Ende des 30. Jahrhunderts etablierte“.66 Wenn man sich mit dem Kreislaufschema von Karl Marx beschäftigt, muß man zuerst die bei der Analyse benutzten Fachtermini definieren. „Statik und Dynamik als Formen der Analyse wirtschaftlicher Phänomene. Statik und Dynamik bezeichnen zwei verschiedene Arten der theoretischen Analyse wirtschaftlicher Phänomene. Man sagt, eine Analyse bestimmter wirtschaftlicher Erscheinungen bzw. Prozesse sei statisch, wenn in diese Analyse nur solche Relationen zwischen den relevanten Variablen eingehen, in denen sich die Werte der Variablen auf den gleichen Zeitpunkt oder auf die gleiche Zeitperiode beziehen. Eine Theorie, die mit statischen Relationen arbeitet, wird entsprechend als statische Theorie bezeichnet. Eine Analyse bestimmter wirtschaftlicher Erscheinungen bzw. Prozesse ist dagegen dynamisch, wenn sich die Werte der relevanten Variablen in den zur Erklärung benutzten Relationen nicht sämtlich auf den gleichen Zeitpunkt bzw. auf die gleiche Periode beziehen. Eine Theorie, die mit dynamischen Relationen arbeitet, ist entsprechend eine dynamische Theorie. Statik – Dynamik versus stationäre – nicht-stationäre Phänomene. Statik und Dynamik dürfen nicht mit stationären und nicht-stationären Vorgängen verwechselt werden. Die Ausdrücke ‚stationär‘ und ‚nicht-stationär‘ beschreiben das Erscheinungsbild ökonomischer Variabler im Zeitablauf, während ‚Statik‘ und ‚Dynamik‘ zwei verschiedene Methoden der Analyse ökonomischer Phänomene charakterisieren. Wir sagen, das Erscheinungsbild eines wirtschaftlichen Ablaufs sei stationär, wenn die relevanten Variablen im Zeitablauf konstant sind. Das Erscheinungsbild eines wirtschaftlichen Ablaufs ist dagegen nicht-stationär oder evolutorisch, wenn die relevanten Variablen im Zeitablauf nicht konstant sind. Wenn hier und da immer noch eine stationäre Wirtschaft als eine statische Wirtschaft und eine sich in Entwicklung befindliche Wirtschaft als eine dynamische Wirtschaft bezeichnet wird, so kann das nur zu Verwirrungen führen. Statik – Dynamik versus Gleichgewicht – Ungleichgewicht. Falsch ist es auch, Statik mit Gleichgewicht und Dynamik mit Ungleichgewicht zu identifizieren derart, daß unter statischer Theorie die Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts verstanden und die dynamische Theorie als die wirtschaftlichen Ungleichgewichten adäquate Theorie angesehen wird. Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszustände können, je nach der Art der Fragestellung, sowohl die Anwendung statischer als auch dynamischer Analyseformen erforderlich machen. Die Frage 64 Schumpeter, Joseph Alois: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, München, Leipzig 1912. 65 Harrod, Roy F.: Dynamische Wirtschaft, Wien, Stuttgart 1949. Domar, Evsey David: Essays in the theory of economic growth, New York 1957. 66 Paraskewopoulos, Spiridon: Volkswirtschaftslehre. Grundriß für Studierende, Herne / Berlin 2004, S. 336.

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nach dem einer bestimmten Datenkonstellation entsprechenden Gleichgewichtszustand lange Zeit hindurch im Mittelpunkt des theoretischen Interesses gestanden hat, ist es nur natürlich, daß die ökonomische Theorie vorwiegend statische Theorie war. Die Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts von Léon Walras trägt ebenso statischen Charakter wie partiellen Gleichgewichtsanalysen von Alfred Marshall. In der Wirklichkeit vollzieht sich indessen der Übergang von einem Gleichgewichtszustand zu einem der Änderung eines Datums entsprechenden neuen Gleichgewichtszustand in der Regel nicht mit unendlich großer Reaktionsgeschwindigkeit. Der Anpassungsprozeß braucht eine gewisse Zeit. Die Theorie hat diesen Prozeß in der Zeit zu untersuchen und im einzelnen den Weg anzugeben, auf dem sich die Anpassung vollzieht; und dieses Studium des Anpassungsprozesses, das essentiell darin besteht, zu zeigen, wie das ‚Morgen‘ aus dem ‚Heute‘ herauswächst, ist eben nur im Rahmen einer dynamischen Analyse möglich“.67 Furlan grenzt ein statisches Gleichgewicht von einem dynamischen Gleichgewicht ab. Im dynamischen Gleichgewicht sind sämtliche Größen variabel, auch die „Indexfunktionen selbst, an Stelle der zuerst angenommenen Anfangsquantitäten treten fortwährend neue, und das System der Bedingungen a) bis ɛ), das wir als das Gleichungssystem des wirtschaftlichen Gleichgewichts im Falle der freien Konkurrenz bezeichnen möchten, gibt uns nur den äußeren Umriß an, unter dem sich diese Bewegungen vollziehen; das Gleichgewicht, um das es sich hier handelt, ist ein dynamisches. Sämtliche Größen des wirtschaftlichen Gleichgewichtes (Anfangs- und Endquantitäten, Preise, Indexfunktionen, Produktionskoeffizienten) sind in fortwährender Bewegung begriffen, doch immer so, daß das Gleichungssystem des wirtschaftlichen Gleichgewichtes erfüllt ist. Die Gleichungen des wirtschaftlichen Gleichgewichtes für einen speziellen Fall können unmöglich zu direkten Berechnungen Anlaß geben, nicht nur aus dem Grunde, weil wir die Gestalt der Indexfunktionen als auch der Produktionsfaktoren nicht hinreichend genau kennen, sondern vor allem weil die bisher bekannten, mathematischen Hilfsmittel nicht ausreichen, um derartige Systeme simultaner Gleichungen zu behandeln. In der Tat würde es sich hier, da wir zufolge unseres ersten Hauptsatzes einzelne Teile des Marktes nicht isoliert betrachten können, um Systeme von Hunderten von Millionen simultan bestehender Gleichungen handeln“.68 Sozialistische einfache Reproduktion und sozialistische erweiterte Reproduktion. Im sozialistischen Fachjargon wird zwischen sozialistischer einfacher Reproduktion und sozialistischer erweiterter Reproduktion unterschieden. Sozialistische einfache Reproduktion: „Ständige Erneuerung und kontinuierliche Wiederholung eines Produktionsprozesses auf einfacher Stufenleiter, d. h. bei gleichbleibender Menge angewandter Produktivkraft und gleichbleibendem Volumen des erzeugten Produkts. Die sozialistische erweiterte Reproduktion dient 67 Schneider, Erich: Statik und Dynamik, in: HdSW, 10. Bd., 1959, S. 23-26. 68 Furlan, V.: Wirtschaftliches Gleichgewicht (Mathematische Darstellung), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 5. Aufl., 8. Bd., Jena 1928, S. 1056.

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der Erhaltung des Bestehenden, sie ist somit Voraussetzung bzw. Element der sozialistischen erweiterten Reproduktion“.69 Sozialistische erweiterte Reproduktion: „Zentralplanmäßige, auf die ständige Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen des Volkes gerichtete Wiederholung und kontinuierliche Erneuerung der sozialistischen Produktion auf erweiterter Stufenleiter. Die sozialistische erweiterte Reproduktion umfaßt den ökonomischen Gesamtprozeß der sozialistischen Gesellschaft in seinem Zusammenhang mit der ständigen Erneuerung, Erweiterung und qualitativen Entwicklung ihrer materiellen Lebensbasis. Sie ist die materielle Existenz- und Entwicklungsgrundlage der sozialistischen Gesellschaft. […] Die sozialistische erweiterte Reproduktion ist vom Typ her vorwiegend intensiv erweiterte Reproduktion. […] Voraussetzung einer kontinuierlichen sozialistischen erweiterten Reproduktion ist die Entwicklung einer effektiven Volkswirtschaftsstruktur, entsprechend der Bedürfnisentwicklung und den Anforderungen des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts. […] So trägt die sozialistische erweiterte Reproduktion im Gegensatz zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation dazu bei, den Nationalreichtum zu mehren und das Lebensniveau der Volksmassen systematisch und ständig zu heben“.70 Die Bedeutung des Übergangs vom extensiven zum intensiven Wachstum ist von den Politökonomen des Sozialismus klar erkannt worden. Es „haben in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus – in den einzelnen Ländern in unterschiedlichem Maße – vorwiegend die extensiven Faktoren das ökonomische Wachstumstempo und die Effektivität der Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft bestimmt. Das ökonomische Wachstum hing in dieser Zeit in entscheidendem Maße davon ab, wie es gelang, neue Arbeitsplätze zu schaffen, um einen immer größeren Teil des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens in die Produktion einzubeziehen. Das extensive ökonomische Wachstum ist daher gekennzeichnet durch eine schnelle Ausweitung des Produktionsfonds, die Schaffung neuer Produktionskapazitäten auf dem Wege von Erweiterungsinvestitionen, das schnelle Wachstum der Zahl der Beschäftigten in der Volkswirtschaft sowie die ständige Einbeziehung neuer Ressourcen an Rohstoffen und Energie in den Reproduktionsprozeß. Seit Beginn der 60er Jahre bildete sich in einer wachsenden Zahl sozialistischer Länder die Möglichkeit und Notwendigkeit heraus, zum vorwiegend intensiven ökonomischen Wachstum, d. h. zur vorwiegend intensiv erweiterten Reproduktion überzugehen. Das entscheidende Kriterium des vorwiegend intensiven ökonomischen Wachstums besteht in der Erhöhung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität“71. Die Intensivierung blieb in hohem Maße auf die Länder mit marktwirtschaftlicher Ordnung und Geldrechnung beschränkt. 69 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 75. 70 Ebd., S. 75 f. 71 Ebd., S. 544.

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W. S. Nemtschinow: Der störungsfreie Verlauf der erweiterten Reproduktion ist nur möglich, wenn die grundlegenden Proportionen der Produktionsstrukturen eingehalten werden. Neben der Studie „Ökonomisch-mathematische Methoden“ publizierte Nemtschinow mit Dadajan u. a. den Sammelband „Mathematische Methoden in der Wirtschaft“. Beide Bände werden analysiert und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen im Kontext von Erkenntnisobjekt und Wirtschaftswissenschaften vorgenommen. In der Studie „ökonomisch-mathematische Methoden und Modell“ (1966) nennt Nemtschinow die Hauptursachen für das Nicht- oder sehr schlechte Funktionieren der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft in der Sowjetunion: 1) Preise und Kosten 2) Rentabilität (Gewinn) 3) Nutzeffekt von Investitionen. „Vor der Wirtschaftswissenschaft stehen zur Zeit einige Probleme, die vordringlich gelöst werden müssen. Es sind dies das Problem der Preisbildung, der Rentabilität und des Nutzeffekts der Investitionen. Einige Wissenschaftler bemühen sich schon seit einigen Jahren um die Lösung dieser Probleme, doch haben die Anstrengungen bis jetzt zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt. Dieser Umstand hemmt die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft, erschwert ihr Vorwärtskommen. Die Wirtschaftspraxis kann jedoch nicht warten, sie fordert, daß diese Probleme schnell gelöst werden. Im Sozialismus bilden sich die Preise nicht spontan auf dem Markt, sondern werden bewußt und planmäßig festgelegt. Um die Zentralplanpreise richtig festzusetzen, hat man – in der Sprache der Kybernetik ausgedrückt – zwei im Preis verschlüsselte Signale mit hinreichender Genauigkeit aufzufangen: das Signal vom gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand (Arbeitswert) und jenes vom Verhältnis zwischen den vorhandenen Ressourcen und den gesellschaftlichen Bedürfnissen (Gebrauchswert). Verstehen wir es nicht, diese Signale ‚aufzufangen‘, dann werden die festgelegten Zentralplanpreise nicht wissenschaftlich begründet sein, und die Praxis der Preisbildung bleibt unvollkommen.72 Um unsere Praktiker mit den erforderlichen Methoden der Preisbestimmung auszustatten, genügt es nicht, nur die Geschichte der Preisbildung zu studieren. Man hat den Prozeß der Preisbildung in der sozialistischen Wirtschaft zu analysieren und dadurch seinen Wirkungsmechanismus aufzudecken. Es ist ein Modell der zentralplanmäßigen Preisbildung zu entwickeln. Ferner muß der Mechanismus der Rentabilitätsplanung enthüllt werden. Man darf nicht einfach die Rentabilität in Prozenten zu den Selbstkosten planen und 72 Die Planpreise wurden in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft willkürlich politisch festgesetzt. Für die politische Fortsetzung existierten keine Kriterien. Die Arbeitswerktheorie konnte nie in Kosten umgesetzt werden, die der Knappheit der Ressourcen entsprachen.

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dies als die wissenschaftliche Grundlage des sozialistischen Wirtschaftens ansehen. Der Mechanismus der Gewinnbildung und der zentralplanmäßigen Gewinnverteilung ist kompliziert, und nur an Hand eines entsprechenden Wirtschaftsmodells der sozialistischen erweiterten Reproduktion lassen sich hierfür optimale Proportionen ermitteln. Mit den Problemen der Planpreise und der Rentabilitätsplanung ist auch unlösbar die Frage nach dem ökonomischen Nutzen der Investitionen verbunden. Die Versuche, diese Frage losgelöst von diesen Problemen zu klären, sind zum Scheitern verurteilt. Die wichtigste Aufgabe, die gegenwärtig vor der Wirtschaftswissenschaft steht, ist darin zu erblicken, daß das Zurückbleiben der Theorie hinter der Praxis überwunden werden muß. Diese Forderung des Lebens muß und kann erfüllt werden. Unser Land verfügt über die nötigen qualifizierten Fachkräfte. Unsere Jugend bringt den neuen Wissenszweigen wie der ökonomischen Kybernetik, der mathematischen Programmierung, der Ökonometrie und der Elektronik großes Interesse entgegen. Gegenwärtig wird offenkundig, daß sich die wissenschaftlichen Probleme der Wirtschaftsentwicklung nicht erfolgreich lösen lassen, solange man diese neuen Zweige der Wissenschaft ignoriert. Bis jetzt wurde jedoch von den sowjetischen Wirtschaftlern und Mathematikern noch kein allgemein anerkanntes ökonomisch-mathematisches Modell der sozialistischen erweiterten Reproduktion geschaffen, das auf einem eindeutig bestimmten System mathematischer Gleichungen und Ungleichungen aufbaut und es ermöglicht, die verschiedenen Wirtschaftsaufgaben in optimaler Weise zu lösen. Die wichtigsten Aufgaben, Methoden und Teilgebiete der Planometrie. Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft ist ein höchst verzweigter Komplex sozialökonomischer Maßnahmen, die in den sozialistischen Staaten verwirklicht werden. In diesem System von Maßnahmen spielen die statistischen und mathematischen Methoden zwar nur eine helfende und unterstützende, nichtsdestoweniger aber eine wichtige Rolle. Als System staatlicher Maßnahmen ist die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft untrennbar mit der Organisation der Volkswirtschaft verbunden und verliert außerhalb derselben ihre wesentlichen Merkmale und Eigenschaften. Die Grundlage der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft in der Volkswirtschaft bilden: 1. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln – zumindest in den führenden Zweigen der Volkswirtschaft – als wichtigste Voraussetzung dafür, daß gesellschaftliche Direktiven erteilt und auch verwirklicht werden können; 2. Die Existenz eines Wirtschaftssystems, worin das Wirken ökonomischer Gesetze bewußt ausgenutzt wird und eine den Interessen der Gesellschaft gemäße Richtung und Geschwindigkeit der Entwicklung gewährleistet ist. Hierbei wird die Zweckbestimmtheit des Wirtschaftens durch ein in den Direktiven und Kontrollziffern genau formuliertes gesellschaftliches Ziel umrissen.

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Unter den Bedingungen einer zentralgeplanten Wirtschaft fußt die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft auf Jahres- und Perspektivplänen, die Programme des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus sind. Sie werden durch technisch-ökonomische Zentralplanberechnungen begründet und basieren auf Direktiven und Kontrollziffern. Folglich liegen der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft keine Zentralplanprognosen, sondern Zentralplandirektiven zugrunde. Die Belange der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft haben eine Reihe neuer ökonomisch-mathematischer Methoden ins Leben gerufen, die die Grundlage der Planometrie bilden. Die Planometrie verknüpft harmonisch die ökonomischen, mathematischen und statistischen Methoden, die zur laufenden und langfristigen naturalen Zentralplanung und Lenkung der gesellschaftlichen Produktion verwendet werden. Die prinzipiellen Besonderheiten der sozialistischen Wirtschaft und die in Plänen festgelegten Aufgaben widersprechen der Ausnutzung der Ökonometrie keineswegs, sondern verleihen ihr spezifische Züge, die sie in eine neue Wissenschaft – die Planometrie – verwandeln. Ein wichtiges Prinzip der sozialistischen Wirtschaft ist die Planmäßigkeit des wirtschaftlichen Wachstums, das von Lenin als bewußt aufrechtzuerhaltende Proportionalität verstanden wurde. Wie bereits erwähnt, ist es für die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft besonders wichtig, solche Größen wie Umfang, Proportionen und Zuwachsraten der wirtschaftlichen Entwicklung richtig festzusetzen. Die Wahrung der festgesetzten Proportionen im Verlaufe der wirtschaftlichen Entwicklung zu den im voraus ermittelten Zielen ist die hauptsächlichste und zugleich schwierigste Aufgabe einer wissenschaftlich begründeten naturalen Zentralplanung. Zur Lösung dieses Problems müssen die Grundsätze der Planung mit den Prinzipien der ökonomischen Kybernetik aufs innigste verbunden und abgestimmt sein. Das Problem der einfachen und erweiterten Reproduktion besteht einerseits darin, jene Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das konstante Kapital der Abteilung II, das in Form von Lebensmitteln reproduziert worden ist, im Zirkulationsprozeß durch die Naturalform der Produktionsmittel ersetzen läßt, denn das ist die einzige Form, in der es auch weiterhin als Kapital fungieren kann. Andererseits ist es erforderlich, den variablen Teil des Kapitals der Abteilung I ebenso wie auch den Mehrwert dieser Abteilung, die als Produktionsmittel existieren, im Zirkulationsprozeß gegen eine solche Form zu ersetzen, die ihre Verwendung als Einkommen ermöglicht. Die Bedingungen der erweiterten Reproduktion. Es ist bekannt, daß der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung des Mehrprodukts unter den Bedingungen des Kapitalismus antagonistischer Natur ist. Er gelangt auch bei der Durchsetzung der statischen und dynamischen Bedingungen der einfachen und erweiterten Reproduktion zum Ausdruck.

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In der Vergangenheit gelang es einigen Ökonomen nicht, den Inhalt der Bedingungen des Prozesses der erweiterten Reproduktion exakt zu bestimmen, und es unterliefen ihnen in ihren Forschungen ernste Fehler. Nach Rosa Luxemburg kann man das Schema der erweiterten Reproduktion von Karl Marx nicht auf die Bedingungen des technischen Fortschritts anwenden. ‚Das heißt‘, schrieb 1912 Rosa Luxemburg, ‚wenn wir mit dem Marxschen Schema annehmen, daß die kapitalistische Produktionserweiterung stets nur mit dem im voraus in Kapitalgestalt produzierten Mehrwert vorgenommen wird, ferner – was indes nur die andere Seite derselben Annahme ist –, daß die Akkumulation der einen Abteilung der kapitalistischen Produktion in strengster Abhängigkeit von der Akkumulation der anderen Abteilung fortschreiten kann, dann ergibt sich eine Verschiebung in der technischen Grundlage der Produktion (sofern sie sich im Verhältnis von c zu v ausdrückt) unmöglich ist‘.73 Das Schema der erweiterten Reproduktion. Das Schema der erweiterten Reproduktion von Karl Marx ist das theoretische Modell einer wachsenden Volkswirtschaft (in seiner allgemeinsten Form). Dem Modell liegt die Untergliederung der Sphäre der materiellen Produktion in zwei gesellschaftliche Abteilungen zugrunde: Abteilung I – die Produktion von Produktionsmitteln, Abteilung II – die Produktion von Konsummitteln. Karl Marx vermochte nicht, seine Erläuterungen zum Schema der erweiterten Reproduktion abzuschließen. Im Prozeß der erweiterten Reproduktion müssen demzufolge gewisse Proportionen zwischen den Perioden, zwischen Basisperiode, erster Periode und zweiter Periode beachtet werden.74 Somit erfolgt aus der Behandlung der Schemata von Karl Marx, daß der einfachen und erweiterten Reproduktion eindeutig bestimmte quantitative Beziehungen eigen sind. Wobei die erweiterte Reproduktion nur ausbilanziert verläuft bei entsprechenden Relationen zwischen den stofflichen Bestandteilen und den Wertelementen des gesellschaftlichen Gesamtprodukts, bei Proportionen also, die die Übereinstimmung der naturalen und der wertmäßigen Struktur (Geld) des gesellschaftlichen Gesamtprodukts kennzeichnen. (Hervorhebung Jürgen Schneider). Vom Reproduktionsschema zur Volkswirtschaftsbilanz. Für die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft haben die Berichts- und Planbilanzen der Volkswirtschaft, denen das Schema der erweiterten Reproduktion von Karl Marx zugrunde liegt, eine außerordentlich große Bedeutung. In dem Marxschen Schema wird von vielen Seiten des wirtschaftlichen Lebens abstrahiert. Das ist durchaus zulässig, sofern es für die allgemeine politökonomische Analyse der gesellschaftlichen Produktion verwendet wird. Für die Ziele der Wirtschaftsführung und Planung wird es jedoch unumgänglich, die ökonomischen Erscheinungen weit mehr aufzugliedern und zu konkretisieren. Damit entsteht das 73 Luxemburg, Rosa: Die Akkumulation des Kapitals, Leipzig 1921, S. 310. 74 Die Bilanz der Volkswirtschaft der UdSSR für das Wirtschaftsjahr 1923/24, Materialien der Zentralverwaltung für Statistik der UdSSR, Bd. XXIX, 1926.

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schwierige Problem, von den Ausgangsschemata der erweiterten Reproduktion in wissenschaftlich begründeten Schritten zur umfassenden Bilanz der Volkswirtschaft überzugehen. Das sind die Hauptrichtungen, in denen die Konkretisierung des Reproduktionsschemas von Karl Marx erfolgen sollte, um zu einer wissenschaftlichen Bilanz der Volkswirtschaft zu gelangen. Das Modell der Verflechtungsbilanz. Bilanzschemata. Der erste Versuch zur Entwicklung eines solchen Bilanzsystems war die Volkswirtschaftsbilanz der UdSSR für das Wirtschaftsjahr 1923/24, die sowjetische Statistiker und Ökonomen in den Jahren 1925 bis 1926 aufstellten.75 Die Besonderheit der zusammengefaßten Materialbilanz besteht darin, daß in ihr die verschiedenen Erzeugnisse jeweils in natürlichen Maßeinheiten (Tonnen, Kilometer, Kilowatt, Stück usw.) ausgewiesen werden. Die zusammengefaßte Materialbilanz in Naturaleinheiten läßt sich nur nach Zeilen summieren. Die Addition der Spalten wird erst möglich, wenn die Produkte in Durchschnittspreisen oder in Arbeitszeiteinheiten gemessen werden. Sehr viele Erzeugnisse des Maschinenbaus, der chemischen Industrie und der Bauwirtschaft können gar nicht in Naturaleinheiten ausgedrückt werden. Die zusammengefaßte Materialbilanz im Naturalausdruck kann folglich nicht die gesamte materielle Produktion erfassen. Die Aggregation ökonomischer Daten. In der Verflechtungsbilanz vergleicht man die in natura aufgestellten Materialbilanzen mit den entsprechenden Kostenund Wertberechnungen der einzelnen Erzeugnisarten. Bei der Aggregation ist unbedingt danach zu streben, eine bestimmte Homogenität der Erzeugnisse des zusammengefaßten Zweiges zu bewahren. Homogenität ist allerdings ein höchst komplizierter Begriff. Schlußbemerkungen. Die Modellierung ökonomischer Prozesse ist eines der wichtigsten ökonomisch-mathematischen Verfahren. Nur auf der Grundlage dieser Methode ist es möglich, ökonomische Prozesse der sozialistischen Gesellschaft mathematisch zu programmieren und elektronisch zu simulieren. Die Entwicklung und Verbesserung von ökonomisch-mathematischen Modellen der Planwirtschaft ist für diese Etappe der wissenschaftlichen Forschung von entscheidender Bedeutung. Deshalb erachten wir es für notwendig, in den Schlußbemerkun75 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 824, Volkswirtschaftliche Proportionen: Objektive Größenverhältnisse des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses, die in der Regel Gegenstand der sozialistischen Volkswirtschaftsplanung sind. Die Einhaltung volkswirtschaftlicher Proportionen ist ausschlaggebend für die kontinuierliche Entwicklung der Volkswirtschaft sowie für die Effektivität der gesellschaftlichen Produktion. Volkswirtschaftliche Proportionen beziehen sich auf materielle Produkte und Fonds, finanzielle Fonds und Arbeitskräfte in ihrer zweiglichen territorialen und zeitlichen Relation. Bei der planmäßigen Wirtschaftsführung sind insbesonders folgende volkswirtschaftliche Proportionen zu beachten und – ausgehend von der objektiven Dynamik der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung – durchzusetzen: die durch das Gesetz der vorrangigen Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln bestimmte Proportion zwischen den Abteilungen I und II der gesellschaftlichen Produktion.

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gen die Aufmerksamkeit auf einige Probleme zu lenken, die sich bei der Ausarbeitung von Modellen dieser Art ergeben. Zugleich wollen wir die Hauptwege angeben, auf denen die ökonomische Modellierung in der Sowjetunion vorangetrieben werden sollte. Beim Aufbau von Modellen der Planwirtschaft liegt die Hauptschwierigkeit darin, daß die Volkswirtschaft des Landes einen Komplex verschiedenartiger mehrdimensionaler ökonomischer Größen und Objekte bildet. Aus diesem Grunde sind in die volkswirtschaftlichen Modelle mindest drei verschiedene Bemessungsgrundlagen einzuführen. So wird der materielle Güterfluß in natürlichen Maßeinheiten gemessen, die Produktion als Arbeitsprozeß wird in Arbeitsaufwandseinheiten bewertet, und die technologischen Prozesse bemißt man nach ihrem jeweiligen Ausnutzungsgrad (nach Aufwand und Ertrag) sowie nach dem Grad der Verwertung der eingesetzten Ressourcen. Diese mehrdimensionalen Größen lassen sich nur dann auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wenn in den Modellen die eingeführten ökonomischen Größen nach einem bestimmten Koeffizientensystem bewertet werden. Eine der wichtigsten Eigenarten volkswirtschaftlicher Modelle besteht gerade darin, daß sich sämtliche Größen des Modells stets in zwei Komponenten aufspalten: die eine Komponente mißt ihren mengenmäßigen Umfang, während mit der zweiten diese inhomogenen Mengen kommensurabel werden. Außerdem werden bei der Zusammenfassung der Daten aus den Techpromfinplänen der Betriebe mit gleichartiger Technologie die Koeffizienten bestimmt, die den Ausnutzungsgrad der unterschiedlichen technologischen Verfahren kennzeichnen. Die Vergleichskoeffizienten unterscheiden sich voneinander. In der gegenwärtigen Wirtschaftspraxis übt die Rolle zum Beispiel das geltende Preissystem aus, das auch die Bewertung der Arbeitseinheit durch den Lohn einschließt. Um die vielfältigen volkswirtschaftlichen Größen mit unterschiedlichen Dimensionen aggregieren zu können, kann auch der Aufwand an Arbeitszeit je Einheit des Produktionsausstoßes verwendet werden. Das ist die reziproke Kennziffer der Arbeitsproduktivität, deren Dynamik den Ablauf der ökonomischen Prozesse in der Volkswirtschaft determiniert“.76 Zu dem Werk „Ökonomisch-mathematische Methoden und Modelle“ verfaßte Eberhard Fels ein Schlußkapitel „Nemtschinow und die Wirtschaftswissenschaft der Gegenwart: Eine biographische und bibliographische Einleitung“. Fels: „Man muß dazu wissen, daß oft geltend gemacht wird, Input-Output-Modellkonzeptionen seien schon in den zwanziger Jahren auf russischem Boden aufgekeimt; noch schwerer ist zu leugnen, daß der Mann, der in den Vereinigten Staaten zum Pionier dieser ‚linearen‘ Klasse von Modellen wurde, russischer Herkunft ist: Wassily Leontief. Weniger verwunderlich ist nun, daß es so lange gedauert hat, bis die ideologischen Widerstände gegen diese Modellklasse in der Sowjetunion 76 Nemtschinow, Wassili Sergejewitsch: Ökonomisch-mathematische Methoden und Modelle, München-Wien 1966, S. 13 f., 20, 25, 54, 88 f., 97, 107 f., 110-112, 118, 120 f., 133, 259261, 263 f., 279.

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überwunden worden sind, sondern vielmehr, daß nach Leontiefs moralischer Repatriierung und einer Reihe vielversprechend begonnener Input-Output-Studien für den Gesamtunionsbereich die vorherrschende Begeisterung dafür schon wieder verebbt ist, so daß auf diesem Gebiet andere osteuropäische Länder inzwischen mehr und Besseres aufzuweisen haben. Mutmaßungen über die Gründe dafür drängen zu dem Schluß, daß es das mangelhafte, auch nach der marxistischen Arbeitswertlehre unzureichend wertrepräsentative Werteinheitensystem ist, weswegen Input-Output-Modelle in monetären Werteinheiten bisher anscheinend nicht als leistungsfähige Planwerkzeuge taugen“.77 Preis, Rentabilität und Nutzeffekt von Investitionen in Marktwirtschaften mit Geldrechnung und in marktlosen politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften

Preis

Rentabilität

Marktwirtschaft mit Geldwertrechnung Preis ist das in Geld ausgedrückte Austauschverhältnis der Waren und Dienste auf dem Markt.1)

Rentabilität ist der Erfolg einer Unternehmung, gemessen am Verhältnis des Reingewinns zum Kapital. Als Bezugsgröße dient das Eigenkapital, besser das gesamte von der Unternehmung in Anspruch genommene Kapital (Eigen- und Fremdkapital einschl. Rücklagen), bei der AG in der Regel das

Marktlose politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft Preis – in Geld ausgedrückter Wert einer Ware, der durch die in den Waren enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit bestimmt ist. Marx begründet, daß der Wert ein Verhältnis zwischen Personen (Warenproduzenten) in dinglicher Hülle ist, also ein gesellschaftliches Verhältnis. Die Erkenntnis vom Wert als gesellschaftliches Verhältnis ist deshalb wesentlich, weil ausgehend davon die Rolle des Preises im Reproduktionsprozeß und die Möglichkeiten und Methoden zur Ermittlung der Wertgröße zu bestimmen sind. Auf der Grundlage dieser Marxschen Feststellung beruht die Gestaltung der Preise im Sozialismus auf drei entscheidenden Merkmalen: a) Der Wert ist das Gesetz der Preise. Er bringt die Einheit von Wertproduktion und Wertrealisierung zum Ausdruck. Die Bedingungen der Wertproduktion und Wertrealisierung ergeben sich aus dem Entwicklungsstand von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. b) Der Preis im Sozialismus ist ein planmäßiger Preis. Seine Bildung und Entwicklung wird vom sozialistischen Staat geplant, analysiert und kontrolliert. c) Im Preis kreuzen sich alle grundlegenden politischen und ökonomischen Probleme des sozialistischen Staates.1) Rentabilität – Verhältnis des bei der wirtschaftlichen Tätigkeit in einer Abrechnungsperiode erzielten Gewinns zum einmaligen Aufwand (Fondsvorschuß) bzw. laufenden Aufwand (Kosten). Im Sozialismus ist die Rentabilität auf der Grundlage des sozialistischen Eigentums an den Produktionsmitteln wichtiges Kriterium bzw. wesentliche Ausdrucksform der Effektivität für die bei der wirtschaftlichen Tätigkeit eingesetzte oder

77 Fels, Eberhard, in: Nemtschinow, W. S.: Ökonomisch-mathematische Methoden, S. 319.

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Nutzeffekt von Investitionen

1)

Grundkapital. Ertrag, Produktivität, Wirtschaftlichkeit.2) Investition ist der Einsatz von Kapital, der zur Ausweitung der Anlagen (Kapazität) und der sonstigen Sachgüterbestände führt. Hat sich der Wert dieser Bestände vermindert, liegt Des-Investition vor. Unter Brutto-Investition versteht man den Ersatz der durch Produktion verbrauchten Bestände zuzüglich der Neu- oder NettoInvestitionen Investitionsquote. 3) Investitionsrechnung: Entwickelt Methoden, mit deren Hilfe die Entscheidung vorbereitet wird, welche Investition ausgewählt und wie ein optimales Investitionsprogramm aus der Sicht der Ziele der Unternehmung aufgestellt werden kann. Zu den üblichen Verfahren zählen: Kapitalwertmethode, Methode des internen Zinsfußes und Annuitätenmethode. Nutzen-Kosten-Analyse.4)

Grüske, Karl-Dieter / Recktenwald, Horst Claus: Wörterbuch der Wirtschaft, 12. Aufl., Stuttgart 1995, S. 488. 2) Ebd., S. 523. 3) Ebd., S. 296. 4) Ebd., S. 297.

aufgewendete gesellschaftliche Arbeit.2) Investitionsentscheidung – Entscheidung der zuständigen Staats- und Wirtschaftsorgane über den Abschluß der Vorbereitung und über die wichtigsten technisch-ökonomischen Nutzenskennziffern eines Investitionsvorhabens. Die Investitionsentscheidung ist die Voraussetzung für die Aufnahme des Investitionsvorhabens in den Volkswirtschaftsplan und für den Beginn der Investitionsdurchführung.3) Investitionsrechnung – Rechnung in der betrieblichen Rechnungsführung und Statistik zur mengen-, zeit- und wertmäßigen Erfassung und Analyse der Vorbereitung und Durchführung von Investitionen. […] Die Ergebnisse der Investitionsrechnung werden im Betrieb vor allem für die Kontrolle der Investitionsdurchführung, für die Bewertung der in Betrieb genommenen Investitionsobjekte und für die Bewertung der am Bilanzstichtag noch nicht fertiggestellten Investitionen verwendet. Überbetrieblich gehen die Ergebnisse der Investitionsrechnung vor allem in die Investitionsberichterstattung ein. In der BRD versteht man unter Investitionsrechnung ein Rechenverfahren, nach dem der ökonomische Nutzeffekt einer Investition im voraus durch Analyse der zu erwartenden Kosten und Erlöse ermittelt werden soll.4) 1) Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 733. 2) Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 64. 3) Ökonomisches Lexikon, H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 144. 4) Ebd., S. 151 f.

Nemtschinow benannte die zentralen Problemfelder der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft:78 1) In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft ist ein „Modell der zentralplanmäßigen Preisbildung“ zu entwickeln. 2) Es muß der Mechanismus der Rentabilitätsplanung enthüllt werden. 3) Der ökonomische Nutzen von Investitionen kann nicht festgestellt werden. Nach der Liquidierung von Markt und Geld tappten alle politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften ohne Kompaß orientierungslos 78 Nemtschinow, Wassili Sergejewitsch: Ökonomisch-mathematische Methoden und Modelle, München-Wien 1966, S. 13 f.

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im Dunkeln. Nemtschinow und ihm nahestehende Politökonomen suchten mit „ökonomisch-mathematischen Methoden und Modellen“ Abhilfe um die Labilität und Ineffizienz der sozialistischen Länder zumindest teilweise zu beheben. Kosten und Preise, Orientierung am Gewinn (Rentabilität) und der ökonomische Nutzeffekt von Investitionen können nur in einer Marktwirtschaft mit Geldrechnung festgestellt werden. Im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ ist Marktwirtschaft mit Geldrechnung liquidiert worden und hier liegen die Ursachen für den Zusammenbruch aller Länder des sozialistischen Lagers. Der radikale Bruch in der langen Evolution kann nur durch eine Rückkehr in die lange Evolution, d. h. eine Transformation der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft überwunden werden, was ein langer und schmerzhafter Weg ist, der aber alternativlos ist.

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VII. Systemimmanente Dysfunktionen im Spiegel der Berichte der „Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK) und der Stellungnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) 1. Die Berichte der „Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland“ (SKK) 1.1. „Es gibt Fakten, daß die Regierung betrogen wird“ (2. Januar 1953) Zu den Lehren aus dem Prozeß gegen die Bande R. Slánskýs für die DDR.1 „Die angloamerikanischen und französischen Geheimdienste werden zweifellos nach wie vor nicht wenige Anstrengungen unternehmen, um auch in der DDR die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung zu vereiteln oder wenigstens zu verzögern, werden versuchen, die DDR von der Sowjetunion loszulösen. Davon, daß die Geheimdienste der Westmächte in der DDR eine fünfte Kolonne organisieren, zeugen die in der DDR durchgeführten Prozesse gegen einzelne feindliche Gruppierungen, die ihre Schädlingstätigkeit in verschiedenen Zweigen der DDRVolkswirtschaft ausübten. Die feindliche Tätigkeit der westlichen Agenten in der Wirtschaft der DDR fällt in vieler Hinsicht mit jenen Richtungen zusammen, die die Slánský-Gruppe2 in der Tschechoslowakei verfolgte. So wird beispielsweise in der DDR Jahr um Jahr der Plan im Investitionsbau und bei der Inbetriebnahme volkswirtschaftlich wichtiger Objekte nur unzulänglich erfüllt. Im ersten Halbjahr 1952 wurde der Plan im Investitionsbau nur zu 29,2 Prozent erfüllt. Weit im Rückstand ist die Planerfüllung bei so wichtigen Objekten wie dem Bergbau- und KupferhüttenKombinat Mansfeld, den Braunkohlebetrieben in Borna und Welzow, den Kraftwerken in Lauta und Kulkwitz, der Tonerdefabrik ‚Ljaputa‘, den Zementwerken Fürstenberg und Rüdersdorf u. a., für diese Objekte waren die Arbeiten im ersten Halbjahr dieses Jahres nur zwischen 13,4 und 37 Prozent des Jahresplans erfüllt worden. Eine der Hauptursachen für die Nichterfüllung des Plans im Investitionsbau bestand – wie auch in der Tschechoslowakei – darin, daß auf den meisten 1

Foitzik, Jan (Hrsg.): Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954. Dokumente. Herausgegeben und eingeleitet von Jan Foitzik, München 2012, S.593-596. Nr. 135. Denkschrift des Leiters der 3. Europa-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR an den Außenminister der UdSSR zu den Lehren aus dem Prozeß gegen die Bande R. Slánskýs für die DDR. 2. Januar 1953. Sekretariat des Genossen Wyschinski. Streng geheim. Einverstanden. Benachrichtigen Sie die Genossen Tschuikow und Semjonow.

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Slánský, Rudolf (1901-1952), 1945-1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, 1951verhaftet und im Nov. 1952 in einem Schauprozeß als „Rädelsführer einer staatsfeindlichen Verschwörung“ zum Tode verurteilt, am 3. Dezember zusammen mit zehn weiteren Mitangeklagten hingerichtet. 1963 gerichtlich und 1968 auch von der Kommunistischen Partei rehabilitiert. Den Beschluß „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský“ faßte das ZK der SED am 20. Dez. 1952. Wortlaut in: Zentralkomitee der SED (Hrsg.): Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band IV, Berlin (Ost) 1954, S. 199-219.

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Baustellen nicht genügend Ausführungszeichnungen vorhanden waren, was im Falle der DDR mit ihrer großen Anzahl von ingenieurtechnischen Kräften nicht auf bloße Unorganisiertheit zurückzuführen ist. Zugleich macht sich in der DDR ein empfindlicher Mangel beispielsweise an Elektroenergie bemerkbar. Die Stromversorgung ist mit häufigen Ausfällen verbunden. Dadurch erleidet die Volkswirtschaft große Verluste. Allein im ersten Halbjahr 1952 gab es in den Betrieben der Leichtindustrie der DDR wegen Stromausfällen Stillstandzeiten von 166.000 Stunden. Infolge dieser Unterbrechungen hatte der Staat Verluste von 385.000 Stück Untertrikotagen und 42.000 Stück Übertrikotagen. Die gleiche Situation bei der Stromversorgung setzte sich auch im zweiten Halbjahr dieses Jahres fort. In einzelnen Fällen gab es in der DDR Versuche, niedrigere Pläne für die volkswirtschaftliche Entwicklung durchzubringen, deren Bestätigung ein Auf-derStelle-Treten der Industrie oder sogar eine Absenkung des Produktionsniveaus mit sich gebracht hätte. So war im Bezirk Dresden im Plan für 1953 für die BergbauIndustrie ein Rückgang um 14 Prozent gegenüber den Kontrollziffern des Fünfjahresplans vorgesehen. Weiter waren (folgende) Reduzierungen gegenüber den Kontrollziffern des Fünfjahresplans vorgesehen: für die Energiewirtschaft – um 6 Prozent, für den Maschinenbau – um 2,5 Prozent, für die Chemie – um 1,5 Prozent usw. Nur dank des Eingreifens der Organe der SKK in Deutschland wurde der Plan korrigiert. Weil der Produktionsplan für den Schwermaschinenbau-Betrieb ‚Heinrich Rau‘ in Wildau für 1952 unrichtig aufgestellt wurde, kann dieses Werk seinen Plan zu höchstens 75 Prozent erfüllen. Für einzelne Werksabteilungen waren die Produktionspläne zu niedrig angesetzt, so daß diese Abteilungen bereits im November des Jahres ihren Plan zu 108 Prozent erfüllten; für andere Abteilungen dagegen waren die Produktionspläne überhöht, so daß der Plan nur zu 50 Prozent erfüllt wurde. Ein so aufgestellter Plan wirkt demoralisierend auf die Arbeiter und ruft große Unzufriedenheit hervor. Ernsthafte Mißstände wurden in manchen Großbetrieben aufgedeckt. So wird beispielsweise im Zwickau-Oelsnitzer Kohlerevier infolge schlechter Arbeitsorganisation und weil das ingenieurtechnische Personal und die Verwaltung nicht gewillt sind, neue, technisch begründete Normen einzuführen, ständig der Plan nicht erfüllt. In dem Revier gibt es eine hohe Zahl außerordentlicher Vorkommnisse mit Todesopfern und gewaltigen materiellen Verlusten. Ungeachtet solcher ernsthaften Mängel in der Arbeit des Reviers sind in einzelnen Schächten nach wie vor zweifelhafte Personen beschäftigt. So arbeitet im Karl-Marx-Schacht ein gewisser Kandler als technischer Leiter, der von 1933 bis 1945 NSDAP-Mitglied und Informant der Gestapo war. Der technische Direktor des Martin-HoopSchachts stellte seinen eigenen Plan der Kohleförderung auf, der viel niedriger war als der staatliche Plan. Im Stahlwerk Brandenburg hatten sich im November 1952 40.000 Tonnen Fertigerzeugnisse angesammelt, die in den anderen Werken dringend gebraucht wurden. Doch die Erzeugnisse wurden nicht ausgeliefert, weil die erforderliche Anzahl von Eisenbahnwaggons fehlte. Dabei sind in der DDR genügend Eisen-

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bahnwaggons vorhanden, was auch die Deutschen nicht leugnen. In diesem Werk wird ein Walzbetrieb errichtet, dessen Inbetriebnahme bereits dreimal verschoben werden mußte, weil der Motor für den Anlauf dieses Walzbetriebs nicht rechtzeitig geliefert worden war. Allein infolge der letzten Verschiebung der Inbetriebnahme wird die Republik zum Mai 1953 70.000 Tonnen Eisenwalzgut weniger erhalten. Zur gleichen Zeit erfüllte das Traktorenwerk in Brandenburg, angeblich wegen Materialmängeln, seinen Jahresplan zum 1. Oktober 1953 nur zu 28 Prozent. Von den laut Plan vorgesehenen 675 Raupenschleppern fertigte das Werk nur zwölf. Im Ergebnis wird das Werk, statt Gewinn zu erzielen, einen Verlust von mindestens 4,5 Millionen Mark haben, zudem eine Erhöhung der Selbstkosten um 36 Prozent. Die Werft ‚Ernst Thälmann‘ in Brandenburg kann ihren Plan für 1952 wegen Rohstoffmangels nicht erfüllen. Die Werft arbeitet mit nur 50 Prozent ihrer Kapazität, und viele hochqualifizierte Fachleute sind mit Arbeiten beschäftigt, die nichts mit der Produktion zu tun haben (mit dem Roden von Kartoffeln usw.). In vielen Industriezweigen werden die Erzeugnisse mit einem hohen Prozentsatz an Ausschuß und Abweichungen von den Standards hergestellt. So stellte man im Oktober 1952 fest, daß sich der Ausschuß und die Abweichungen von den Standards der bewährten Muster im Maschinenbau auf zehn Prozent beliefen, in der Elektrotechnik auf 22 Prozent, bei Kulturwaren auf 19 Prozent, bei Nahrungsund Genußmitteln auf 41 Prozent usw. Große Mißstände und Fälle direkter Schädlingstätigkeit wurden in der Organisation der Lebensmittelversorgung der DDR-Bevölkerung aufgedeckt. Der Plan zur Verteilung der Lebensmittel auf die Bezirke für 1952 wurde ohne ausreichende Berechnungen und ohne Berücksichtigung der Besonderheiten der einzelnen Bezirke aufgestellt. Das führte dazu, daß in der Versorgung großer industrieller Zentren wie Leipzig, Chemnitz, Dresden u. a. mit Fetten, Kartoffeln, Gemüse und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen im vierten Quartal des Jahres große Störungen auftraten. Häufig wurde zur Versorgung der Bevölkerung Butter statt Margarine geschickt, während sich in manchen Betrieben große Mengen Margarineerzeugnisse befanden und diese Betriebe nicht wußten, wohin sie sie liefern sollten. Diese Verausgabung der Butter führte dazu, daß bereits zu Beginn des vierten Quartals 1952 fast der ganze Jahresvorrat an Butter ausgegeben worden war. Die Regierung der DDR sah sich gezwungen, sich an die Regierung der UdSSR mit der Bitte um eine vorfristige Lieferung von Butter aus der UdSSR zu wenden. Es gibt Fakten, daß die Regierung der DDR betrogen wird. So meldeten die Machtorgane des Landes Sachsen den Regierungsorganen der DDR eine hundertprozentige Erfüllung des Aussaatplanes bei Frühkartoffeln, während in Wirklichkeit der Plan nur zu 75 Prozent erfüllt war. Infolge solcher Desinformationen kam es im Juli und August im Industriegebiet Sachsen zu Unterbrechungen der normalen Versorgung der Werktätigen mit Frühkartoffeln und Gemüse, was bei der Bevölkerung Unzufriedenheit und Klagen hervorrief. Im November 1952 hatte das Finanzministerium der DDR einen Vorschlag ausgearbeitet, der die Empfehlung enthielt, die Weihnachtsprämie der Werktätigen nicht direkt auszuzahlen, sondern auf Sparbücher zu überweisen. Gleichzeitig

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schlug das Finanzministerium vor, mit den Bauern bei landwirtschaftlichen Aufkäufen zur bargeldlosen Verrechnung überzugehen. Es ist völlig offenkundig, daß diese Vorschläge des Finanzministeriums der DDR bei der Bevölkerung nur große Unzufriedenheit mit solchen Handlungen der Regierung hervorrufen konnte, daß sie Befürchtungen und Mißtrauen hinsichtlich des Zustandes des Geldumlaufs säen und den Aufkaufplan bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen durchkreuzen mußten. Aufmerksamkeit erregte auch die Beziehung der betreffenden Organe der DDR zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber der UdSSR und den Ländern der Volksdemokratie. Die Jahresverpflichtungen der DDR gegenüber einzelnen Ländern beim Warenexport wurden für die ersten zehn Monate 1952 folgendermaßen erfüllt: gegenüber der UdSSR – zu 58 Prozent, gegenüber Albanien – zu 42,5 Prozent, gegenüber Bulgarien – zu 45 Prozent, gegenüber Ungarn – zu 54,5 Prozent, gegenüber Polen – zu 57 Prozent, gegenüber Rumänien – zu 53,5 Prozent, gegenüber der Tschechoslowakei – zu 77,5 Prozent. Besondere Rückstände bei den Lieferungen der DDR in die Sowjetunion gibt es bei Lokomobilen, Schiffskesseln, Ausrüstungen für die Buntmetallurgie und die Chemieindustrie, bei Lokomotiven und anderen Waren. So lieferte die DDR in den ersten zehn Monaten des laufenden Jahres nur sechs Lokomobile mit 300 PS von den 75 laut Jahresverpflichtung vorgesehenen; überhaupt nicht geliefert wurden Schiffskessel, von denen im Lieferabkommen für 1952 175 Stück vorgesehen waren, ebenso keine der 40 im Lieferabkommen festgelegten Lokomotiven usw. Insofern wurde eine erhebliche Menge an hochwichtigen Lieferungen in die UdSSR 1952 nicht erfüllt und auf 1953 verschoben. Die angeführten Tatsachen enthüllen bei weitem nicht alle ernsthaften Mängel in der Wirtschaft der DDR, doch auch die genannten Fakten zeigen, daß die feindlichen Agenturen der Westmächte gewaltige Anstrengungen unternehmen, um wie in den Ländern der Volksdemokratie auch in der DDR die Vorwärtsbewegung der Wirtschaft zu untergraben. Es scheint zweckmäßig, in der SKK die Frage der Lehren aus dem Prozeß gegen Slánský im Lichte der obengenannten Fakten gesondert zu erörtern“.3 M. Gribanow

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Foitzik, Jan (Hrsg.): Sowjetische Interessenpolitik, S. 594-596.

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1.2. „In der DDR kommt es zu großen Vergeudungen bei der Ausgabe staatlicher Mittel. Besonders unbefriedigend steht es um die Verwendung der Lohnfonds (9. Januar 1953)“4 Zu Beginn des Gesprächs sagte Genosse Tschuikow5, daß das Ziel der gegenwärtigen Zusammenkunft darin besteht, die wichtigste Aufgabe der Stärkung des Sparsamkeitsregimes zu beraten, das mit Beginn des Jahres 1953, dem entscheidenden Jahr für die Erfüllung des gesamten Fünfjahresplans, große Bedeutung erlangt. Genosse Tschuikow bat die deutschen Genossen, die Mitteilung des Genossen Sitnin zu Finanzfragen entgegenzunehmen. Zur Charakterisierung der finanziellen Situation der DDR sagte Genosse Sitnin: Das schnelle Wachstum der Investitionen, die die Projektierungen des Fünfjahresplans überschritten, sowie die Notwendigkeit umfangreicher Ausgaben für den Aufbau nationaler Streitkräfte brachten Schwierigkeiten für die Lage der Finanzen der Republik und schufen erhebliche Spannungen im Haushalt der DDR und im Geldumlauf.

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Foitzik, Jan (Hrsg.): Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954. Dokumente. Herausgegeben und eingeleitet von Jan Foitzik, München 2012, S.598-605.

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Nr. 136. Aufzeichnung eines Gesprächs führender Vertreter der SKK mit der Führung der SED. Das Gespräch fand am 9. Januar 1953 im Dienstzimmer des Gen[ossen] Tschuikow statt und dauerte von 20.00 Uhr bis 23.45 Uhr. Aufzeichnung des Gesprächs des Vorsitzenden der SKK in Deutschland Genosse Armeegeneral W. I. Tschuikow, des Botschafters der UdSSR in der DDR Genosse I. I. Iljitschow, des Stellvertreters des Politischen Beraters beim Vorsitzenden der SKK Genosse N. W. Iwanow und des Chefs der Finanzabteilung der SKK Genosse W. X. Sitnin mit dem Präsidenten [der DDR] W. Pieck, dem Ministerpräsidenten [der DDR] O. Grotewohl, dem Generalsekretär der SED W. Ulbricht, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR H. Rau, dem Vorsitzenden der Zentralen Partei-Kontrollkommission der SED H. Matern und dem Mitglied des Politbüros der SED F. Oelßner. Iwanow, Nikolai Wassiljewitsch (1905 – 1996), 1938 – 39 Erster Sekretär der sowjetischen Botschaft in Berlin, 1940 – 44 im Zentralapparat des Volkskommissariats für Äußeres in Moskau, 1944 – 45 Berater der sowjetischen Delegation bei der Europäischen Beratenden Kommission in London, 1945 – 47 Chef der Politischen Abteilung in der Verwaltung des Politischen Beraters und stellvertretender Politischer Berater der SMAD, danach im Zentralapparat des Außenministeriums in Moskau. Sitnin, Wladimir Xenofontowitsch (geb. 1907), Chef der Abteilung Sonderfinanzierung der Staatsbank des Volkskommissariats für Finanzen der UdSSR; ab 1945 stellvertretender und 1949 Chef der Finanzabteilung / Finanzverwaltung der SMAD, 1949-51 und 1952-53 Leiter der Abteilung Finanzen der SKK. Oelßner, Fred (1903-1977), 1920 KPD, 1946 SED, 1947-58 Mitglied des PV / ZK der SED, 1949-55 Mitglied des Kleinen Sekretariats / des Sekretariats des ZK der SED, 1950-58 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1950-56 Chefredakteur der theoretischen Zeitschrift der SED „Einheit“, 1955-58 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der DDR, 1958 Verlust aller staatlichen Ämter und Parteifunktionen „wegen mehrmaliger Verletzung der Disziplin des Politbüros“.

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Die relativ günstigen Ergebnisse bei der Haushaltsdurchführung 1952 sind nur dadurch zu erklären, daß 1952 der Investitionsplan nicht erfüllt wurde und Ausgaben für die nationalen Streitkräfte in erheblich geringerem Umfang getätigt wurden als im Haushalt vorgesehen. Wenn diese im Grunde negativen Erscheinungen nicht gewesen wären, hätte das Haushaltsdefizit 1.200 Millionen Mark betragen. Nach vorläufigen Berechnungen blieben die Haushaltseinnahmen 1952 etwa 650 Millionen Mark unter dem Plan, im wesentlichen wegen der Nichterfüllung des Plans der Abführungen aus der volkseigenen Industrie und aus dem staatlichen Einzelhandel. Andererseits waren einige Haushaltsausgaben wie beispielsweise die Zuschüsse für die Sozialversicherung6, die Subventionen für den Ankauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die Finanzierung der außerplanmäßigen Verluste volkseigener Betriebe und noch weitere beträchtlich überhöht. Der Haushaltsentwurf für 1953 weist zur Zeit ein Defizit von 700 Millionen Mark auf. Die Faktoren, die 1952 die finanzielle Lage erleichterten, werden 1953 offensichtlich nicht vorhanden sein. Es ist damit zu rechnen, daß der Investitionsplan 1953 erfolgreicher erfüllt werden wird als 1952, und die Entwicklung der nationalen Streitkräfte wird das ganze Finanzvolumen verlangen, das für diesen Zweck im Haushalt vorgesehen ist. Unter diesen Bedingungen bietet nur die Einhaltung eines strengen Sparsamkeitsregimes die Gewähr dafür, daß der Haushalt weiterhin ohne Defizit und der Geldumlauf stabil bleiben. In der DDR kommt es zu großen Vergeudungen bei der Ausgabe staatlicher Mittel. Besonders unbefriedigend steht es um die Verwendung des Lohnfonds. Nach Angaben der Deutschen Notenbank der DDR stieg die Summe der ausgezahlten Löhne 1952 um 2,3 Milliarden Mark, während der Volkswirtschaftsplan für 1952 einen Zuwachs des Lohnfonds um insgesamt 1,3 Milliarden Mark vorgesehen hatte. Der Lohnzuwachs übersteigt das Wachstum der Produktion. So erhöhte sich von Juli bis November die Summe der Lohnzahlungen in der volkseigenen Industrie im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum des Vorjahres um 18,3 Prozent bei einem Produktionszuwachs um 14,2 Prozent. Dieser Lohnzuwachs kann nicht allein mit der Erhöhung der Lohnsätze erklärt werden, die mit der Verordnung der Regierung der DDR vom 28. Juni 19527 eingeführt wurden, denn diese Erhöhung brachte nur einen Zuwachs des Lohnfonds um 400 bis 500 Millionen Mark. Die überplanmäßige Erhöhung des Lohnfonds erklärt sich im wesentlichen durch das Vorhandensein großer Mengen überzähliger Arbeitskräfte in den Betrieben, vor allem bei den Angestellten und dem Hilfspersonal, durch massenhafte Verletzungen der Lohnsätze, aber auch durch veraltete Arbeitsnormen.

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Mit der Verordnung des Ministerrates der DDR vom 26. April 1951 wurde die Zuständigkeit der Länder beseitigt und die Sozialversicherung in den zentralen Staatshaushalt eingegliedert.

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Am 28. Juni 1952 wurden mehrere Verordnungen über die Erhöhung von Löhnen und Gehältern erlassen. Gesetzblatt der DDR Nr. 84 vom 2. Juli 1952, S.501-514.

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Das überplanmäßige Wachstum des Lohnfonds, das zu einer überplanmäßigen Zunahme der Kaufkraft der Bevölkerung führte, war eine der Ursachen für die Schwierigkeiten im Warenumlauf, die im vierten Quartal 1952 auftraten. Die Befriedigung der rasch wachsenden zahlungsfähigen Nachfrage der Bevölkerung war für den Staat um so schwieriger, als in den letzten Jahren in der DDR ein System weite Verbreitung fand, wonach die meisten Dienstleistungen staatlicher Betriebe für die Bevölkerung kostenlos oder zu sehr günstigen Bedingungen zur Verfügung gestellt werden. Allein die Vergünstigungen für die Personenbeförderung mit der Eisenbahn kosten den Staat etwa 500 Millionen Mark. Dementsprechend erhöht sich die Nachfrage der Bevölkerung nach Waren des täglichen Bedarfs. Darüber hinaus nutzt die Bevölkerung in breitem Umfang die Vergünstigungen für Theater- und Kinobesuche, für die Inanspruchnahme von Kindereinrichtungen, für Heilkuren und Sanatorienaufenthalte, für Dienste des Gesundheitswesens u. a. Die Bauern der DDR, die die Möglichkeit erhalten haben, in zunehmendem Maße ihre Produktionsüberschüsse den staatlichen Aufkauforganen zu Preisen zu verkaufen, die im Dezember 1951 deutlich höher wurden, nutzen zur gleichen Zeit die umfangreichen Vergünstigungen für die Dienste der MaschinenTraktoren-Stationen und für den Erwerb von Mineraldünger. Dabei decken die Tarife der Maschinen-Traktoren-Stationen bekanntlich nur zu einem Drittel die Selbstkosten. Die staatlichen Subventionen bei Mineraldünger beliefen sich 1952 auf etwa 80 Millionen Mark. Die unbefriedigende Finanzdisziplin in den volkseigenen Betrieben findet ihren Ausdruck nicht nur in der unkontrollierten Verausgabung der Lohnfonds, sondern auch in der unwirtschaftlichen Verwendung von Mitteln für andere Zwecke. Allein die sogenannten neutralen Verluste betrugen in der zentral unterstellten volkseigenen Industrie in den ersten neun Monaten 1952 348 Millionen Mark bei einem Jahresplan von 336 Millionen Mark. Infolge dieser Praxis mußten 1952 aus dem Haushalt der DDR zur Deckung außerplanmäßiger Verluste 396 Millionen Mark ausgegeben werden. Nicht zu akzeptieren sind insbesondere die großen außerplanmäßigen Verluste in den staatlichen Einzelhandelsorganisationen und in den Erfassungsorganisationen. In den ersten neun Monaten 1952 brachte der staatliche Handel insgesamt einen Gewinn von 28 Millionen Mark bei einem Jahresplan von 224 Millionen Mark, dabei hatte der staatliche Lebensmittelhandel in den neun Monaten Verluste von 59 Millionen Mark. Eine verantwortungslose Einstellung zur Verausgabung staatlicher Mittel ist auch in den Haushaltsorganisationen weit verbreitet. So ließen die Organe der Sozialversicherung infolge einer unzulänglichen Kontrolle über die Verwendung der Mittel Mehrausgaben in Höhe von 240 Millionen Mark gegenüber dem Plan zu, was einen Anstieg der Subventionen aus dem Haushalt von 260 auf 420 Millionen Mark zur Folge hatte. Die Sozialversicherung erhält staatliche Subventionen, obwohl die Abführungen an die Sozialversicherung der DDR um das Vierfache höher sind als in der UdSSR, wo die Sozialversicherung keine Subventionen erhält.

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Über die Verwendung der Mittel in den demokratischen Massenorganisationen gibt es keinerlei Kontrolle, obwohl die ihnen gewährten Zuschüsse aus dem Haushalt 1952 mehr als 260 Millionen Mark betrugen. Ohne Kontrolle werden auch die Mittel in den 1952 neu geschaffenen Organisationen Rotes Kreuz und Dienst für Deutschland ausgegeben. Dem Deutschen Roten Kreuz8 hatte man die Krankentransporte aus dem Bereich des Gesundheitswesens übertragen. Während das Gesundheitswesen für diese Zwecke 15 Millionen Mark ausgegeben hatte, sind im Haushalt des Deutschen Roten Kreuzes dafür 40 Millionen Mark veranschlagt. Der gleiche Haushalt sieht die kostenlose Ausgabe von Uniformen an die 30.000 Mitglieder der Organisation vor. Negative Auswirkungen auf die Finanzdisziplin hat die verbreitete Praxis, daß der Ministerrat der DDR Bewilligungen genehmigt, die im Haushaltsplan nicht eingeplant sind. Bei einer Haushaltsreserve von 300 Millionen Mark im Jahr 1952 wurden vom Ministerrat der DDR im Laufe des Jahres Beschlüsse über zusätzliche Bewilligung in Höhe von 1.205 Millionen Mark gefaßt, allein bei den letzten beiden Sitzungen 1952 vom 11. und 19. Dezember waren es 158 Millionen Mark. Sogar auf der Sitzung der Regierung am 8. Januar 1953 wurde die Frage nach außerplanmäßigen Ausgaben aus dem Haushalt für 1952 aufgeworfen. Die SKK übergab den Freunden 9 einige Empfehlungen 10 für notwendige Maßnahmen zur Verwirklichung des Sparsamkeitsregimes in der Wirtschaft und in den Haushaltsorganisationen. Am 22. August wurde eine Empfehlung zur Regelung der Unterstützungszahlungen der Sozialfürsorge und der Ausgabe von Kurschecks für Sanatorien der Sozialversicherung zu übergeben, außerdem zur Beendigung der Praxis, daß die Deutsche Notenbank der DDR Betrieben zur Auszahlung der Arbeitslöhne automatisch Kredite gewährte, obwohl bei ihnen die gesetzlich festgelegten Objekte zur Kreditgewährung nicht vorhanden sind. Die Maßnahmen zur Regelung der Unterstützungszahlungen der Sozialfürsorge wurden vom Sekretariat des ZK am 23. Oktober gebilligt, d. h. zwei Monate nach der Beratung dieser Frage bei der Führung der SKK. Das Sekretariat des ZK der SED beauftragte das Arbeitsministerium, die notwendigen Direktiven dazu auszugeben. Diese Direktiven wurden vom Ministerium erst Anfang Januar des Jahres ausgegeben, nach mehrmaligen Mahnungen. So wurden fast viereinhalb Monate für die Umsetzung dieser Vorschläge benötigt. Die Frage der Ausgabe von Kurschecks für Sanatorien der Sozialversicherung wurde vom Sekretariat des ZK der SED am 23. Oktober beraten und entschieden. 8

Das „Deutsche Rote Kreuz“ wurde in der DDR durch Verordnung vom 23. Okt. 1952 gebildet.

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Der Ausdruck „Freunde“ wurde im Sprachgebrauch der sowjetischen Staatspartei als Euphemismus für „ausländische Partei-Genossen“ benutzt und von der SED zunächst als Bezeichnung für sowjetische Amtsträger und dann generell für „sowjetische Menschen“ übernommen. Hier sind „SED-Genossen“ gemeint.

10 Der Ausdruck „Empfehlung“ wurde als Euphemismus für Weisungen der SKK benutzt.

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Ungeachtet des ZK-Beschlusses weigerte sich der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund diese Maßnahme zu verwirklichen, und Mitte Dezember hob das Sekretariat des ZK auf Drängen der Gewerkschaftsfunktionäre seinen früheren Beschluß wieder auf. Erst am 2. Januar bekräftigte das Politbüro des ZK der SED erneut die Notwendigkeit, die Ordnung für die Einweisung in Sanatorien der Sozialversicherung zu verändern. Doch praktische Direktiven wurden bisher nicht erteilt. Die Vorschläge über die Beendigung der automatischen Kreditvergabe für die Zahlung von Arbeitslöhnen wurde am 9. Oktober vom Sekretariat des ZK der SED beraten und abgelehnt. Für die Verabschiedung einer Verordnung der Regierung der DDR über die Registrierung der Stellenpläne des Leitungsapparats, wozu die Führung der SKK ebenfalls am 22. August eine Empfehlung ausgegeben hatte, wurden vier Monate gebraucht.11 Dabei haben Stellenüberbesetzungen und Verletzungen der Gehaltsdisziplin ein außerordentlich hohes Maß erreicht, vor allem im Leitungsapparat der Wirtschaft, und jede Verzögerung bei der Lösung dieser Frage bedeutet eine große Verausgabung staatlicher Mittel. Am 15. September übergab die SKK Empfehlungen zur verstärkten Kontrolle über die Verwendung der Mittel im Gesundheitswesen und zum Entzug des Rechts der privat praktizierenden Ärzte, Krankschreibungen wegen zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit auszustellen.12 Danach fanden in den Staatsorganen der DDR, im ZK der SED und auch in der SKK mehrere Beratungen statt, bei denen alle notwendigen Vorschläge erörtert und abgestimmt wurden. Doch bis jetzt ist kein Beschluß zu dieser Frage gefaßt worden. Am 20. Oktober unterbreitete die SKK Empfehlungen zur Regelung der Benzinpreise. Diese Frage ist bis jetzt noch nicht gelöst. Während Vorschläge zu Sparmaßnahmen im Staats- und Parteiapparat monatelang geprüft und nur sehr zaghaft umgesetzt werden, erfolgt die Durchführung von Maßnahmen, die auf Lohnerhöhungen und Preissenkungen gerichtet sind, unverzüglich. So war es bei den Gehaltserhöhungen für Lehrer der allgemeinbildenden Schulen sowie bei der Verordnung zur Preissenkung bei Kinderbekleidung. Sogar die Organe, die wie die Staatliche Stellenplankommission die Einhaltung von Sparsamkeit bei der Verwendung staatlicher Mittel gewährleisten sollen, gehen leicht auf Vorschläge zu weiteren Gehaltserhöhungen ein. Die Staatliche Stellenplankommission legte am 19. Dezember der Regierung der DDR einen Vorschlag zur Beratung vor, der über die bereits abgeschlossenen 28.000 Einzelverträge mit erhöhten Gehältern hinaus und zusätzlich zu den 2.250 Gehältern, die von der Verordnung des Ministerrats vom 28. Juni 1952 festgesetzt 11 Verordnung über die Registrierung und Kontrolle der bestätigten Stellenpläne und Verwaltungsausgaben der staatlichen Verwaltungen und Einrichtungen sowie der Verwaltungen und Betriebe der volkseigenen Wirtschaft vom 19. Dez. 1952, in: Gesetzblatt der DDR Nr. 178 vom 23. Dez. 1952, S. 1336-1338. 12 1952 betrug der jahresdurchschnittliche Krankenstand der Beschäftigten in der DDR 6,7 Prozent und war damit fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland (3,54 Prozent). Schon ab 1952 durften in der DDR nur Betriebsärzte Krankschreibungen vornehmen.

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worden waren, die Einführung neuer Gehälter aus Einzelverträgen für 1.250 Planstellen vorsah. Diese Verordnung wurde nur wegen des Einspruchs der SKK nicht angenommen. Völlig unrichtige Positionen zum Sparsamkeitsregime bezieht die Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED, insbesondere Franz Ulbrieg, der im ZKApparat für Finanzfragen zuständig ist. Statt die Vorschläge zur Durchsetzung der Sparsamkeit zu unterstützen und sich um die Stabilität des Finanzsystems der DDR zu sorgen, behindert er in jeder Weise die Einbringung dieser Fragen in das Sekretariat des ZK und das Politbüro. Zur Frage des Sparsamkeitsregimes wurde den Freunden eine Denkschrift13 übergeben. Grotewohl sagte, daß die Vorschläge des Genossen Sitnin im wesentlichen nicht von der Auffassung der DDR-Führung abweichen. Beispielsweise beriet das Politbüro des ZK der DDR vor sechs Wochen den Volkswirtschaftsplan der DDR für 1953 und den Haushaltsentwurf für 1953. Dem Finanzministerium der DDR wurde nach der Beratung die Weisung erteilt, das Sparsamkeitsregime streng durchzusetzen. Grotewohl bedauerte, daß er im Moment nicht über die genauen Zahlen verfügt und deshalb nur aus dem Gedächtnis die beabsichtigten Maßnahmen mit Zahlen illustrieren kann. Dem Beschluß des Politbüros des ZK der SED zufolge soll eine Einsparung von Mitteln in folgenden Bereichen erzielt werden: Durch die Eintreibung von Steuerrückständen im Jahr 1953 (vermutlich wird das mindestens 400 Millionen Mark einbringen, wobei die Summe bei strenger Befolgung aller Weisungen höher liegen kann). Für den Bereich der Sozialfürsorge und der Sozialversicherung wird eine Einsparung von 400 Millionen Mark angenommen. Durch eine bessere Auslastung der Theater, durch Kürzung der den Kirchen gewährten Vergünstigungen und der Zuwendung an die demokratischen Massenorganisationen werden vermutlich zusätzliche 100 Millionen Mark eingespart. Dem Beschluß des Politbüros des ZK der SED zufolge sollen 1953 durch Einsparungen und Einnahmen insgesamt eine bis 1,5 Milliarden Mark eingespart werden. Es ist klar, fuhr Grotewohl fort, daß es für die Stärkung des Sparsamkeitsregimes nicht ausreicht, nur diese Fragen zu lösen. Zur Stärkung dieses Regimes ist es erforderlich, drei14 große Probleme zu lösen: 1. die Senkung der Selbstkosten der Erzeugnisse in der Produktion, 2. die Festlegung fester Materialverbrauchsnormen, 3. die Einführung technisch begründeter Arbeitsnormen und 4. Die Lösung der mit der Organisation des sozialistischen Wettbewerbs zusammenhängenden Fragen. Für die Erfüllung dieser wichtigen Aufgaben sind die entsprechenden Beschlüsse schon gefaßt worden, die nun so schnell wie möglich realisiert werden 13 Im Original „pamjatka“, d. i. „pamjatnaja sapiska“. Eine „Denkschrift“ des ZK stellte einen Befehl dar. 14 So in der Originalvorlage. Vielleicht war eines der insgesamt vier Probleme nicht „groß“.

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müssen. Grotewohl räumte ein, Genosse Sitnin habe zu Recht getadelt, daß auf der Sitzung der Regierung vom 8. Januar 1953 die Frage nach außerplanmäßigen Ausgaben aus dem Haushalt von 1952 aufgeworfen wurde. Grotewohl erkannte auch an, daß die systematische Kontrolle der Haushaltsdurchführung unzulänglich war. Hinsichtlich der Abteilung Finanzen des ZK der SED sagte Grotewohl, daß auch er deren Arbeit für unbefriedigend hielt. Das Politbüro hat unlängst beschlossen, eine Kommission zur Überprüfung und Analyse der Arbeit des Finanzministeriums und der Abteilung Finanzen beim ZK der SED zu bilden. Die Ergebnisse dieser Analyse werden dem Politbüro des ZK der SED vorgelegt. Oelßner sagte, daß man zur Stärkung des Sparsamkeitsregimes und zur Erschließung zusätzlicher Mittel die Anzahl und die Gehälter der in der Produktion und der Verwaltung beschäftigten Angestellten überprüfen muß. In diesem Bereich gibt es noch große ungenutzte Reserven. Nach Oelßners Ansicht wird gesellschaftliche Arbeit häufig auf Kosten der Arbeitszeit durchgeführt. Auch die Gemeinkosten müssen deutlich gesenkt werden, hier bestehen ebenfalls große Reserven. Eine Einsparung von Mitteln läßt sich auch dadurch erreichen, daß die Aufwendungen für Feierlichkeiten, Bankette usw. organisiert und gekürzt werden, die auf Kosten des Staates ausgerichtet werden und viel Geld kosten. Danach sagte Ulbricht, daß die sowjetischen Genossen zwei Gruppen von Fragen aufgeworfen haben: Grundsatzfragen und praktische Vorschläge. Nach Ulbrichts Meinung können die Ausgaben für das Deutsche Rote Kreuz gekürzt werden. Hinsichtlich der Kürzung bei Ermäßigungen für die Personenbeförderung mit der Eisenbahn sagte Ulbricht, daß er die Abschaffung dieser Ermäßigungen nicht für möglich hält, da sie schon lange Zeit bestehen und zur Tradition geworden sind. Ein Teil dieser Vergünstigungen wurde seinerzeit auch schon gekürzt, und weitere Kürzungen können wir hier nicht vornehmen, denn das ruft bei den Arbeitern Unzufriedenheit hervor, von denen viele 50 oder 60 Kilometer zur Arbeit fahren müssen. Die Frage der Vergünstigungen für die Kirche ist schon entschieden, die Kirche wird nicht mehr in ihren Genuß kommen. Auf die von Genossen Sitnin berührten Grundsatzfragen eingehend, sagte Ulbricht, daß man seiner Ansicht nach keine neuen Dokumente des ZK der SED zu diesen Fragen erarbeiten muß, da auf dem III. Parteitag (20.-24.7.1950) und der 2. Parteikonferenz der SED klar gesagt wurde, was zu tun ist und wie die Finanzfragen gelöst werden müssen. Das Schlimme ist, daß die angenommenen Beschlüsse nicht erfüllt werden, und darauf muß man ein sehr ernstes Augenmerk legen. Ulbricht bemerkte, daß die Fragen des Lohnfonds nicht mit dem Volkswirtschaftsplan koordiniert werden, was vielen Betriebsdirektoren die Einführung der wirtschaftlichen Rechnungsführung erschwert. In vielen Betrieben, fuhr Ulbricht fort, erhöhen die Arbeiter absichtlich nicht die Arbeitsproduktivität, da sich ohnehin in der Mitte des Jahres gewöhnlich zeigt, daß nicht genug Material vorhanden ist. Wenn man zusätzliche Aufgaben stellt, muß sofort auch die Frage nach der Bereitstellung des für die Erfüllung dieser Aufgaben notwendigen Materials gelöst werden. Doch in dieser Hinsicht haben

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die Leitungsorgane bisher Fehler zugelassen. Ulbricht bemerkte dazu, daß diese Fragen von der DDR-Führung noch schärfer gestellt wurden als von den sowjetischen Genossen. Dann sagte Ulbricht, daß im Kampf für die Festsetzung richtiger Arbeitsnormen im letzten Jahr im Vergleich zum vorangegangenen Jahr ein Zurückbleiben festzustellen sei. Ulbricht stimmte auch dem zu, daß die Zahl der Angestellten in den Betrieben viel zu hoch ist, was zusätzliche unproduktive Kosten verursacht. In diesem Bereich muß man eine strenge Ordnung einführen. Man muß erreichen, daß Fragen der Wirtschaftlichkeit und der Finanzen nicht nur für die Gruppe der entsprechenden Fachleute, sondern für den gesamten Wirtschaftsapparat zu Lebensfragen werden. Die Industrieministerien müssen sich in die Arbeit der einzelnen Betriebe einmischen und die Durchsetzung einer strengen Ordnung erreichen. Sie müssen die Betriebe führen und von einer Leitung durch Papiere zu einer lebendigen Leitung und Kontrolle übergehen. Die Führungskräfte müssen die große Rolle der Finanzen als Mittel für die Durchsetzung der Kontrolle richtig verstehen. Ulbricht teilte dann auch mit, daß in Kürze Beratungen mit den Ministern und Werkdirektoren stattfinden werden, auf denen Grundfragen der Finanzpolitik der DDR erörtert werden. Auf diesem Gebiet muß eine breite Aufklärungskampagne durchgeführt werden. Über die Abteilung Finanzen im ZK der SED sagte Ulbricht, daß der Abteilungsleiter für diese Arbeit nicht geeignet ist und die Führung zur Zeit einen anderen Funktionär sucht. Rau erklärte sich mit den von Genossen Sitnin dargelegten praktischen Vorschlägen einverstanden. Die zweite große Frage, sagte er, betrifft Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaft. Hier muß eine bessere Organisation der Arbeit in der Industrie und der Landwirtschaft erreicht werden. Gegenwärtig bestehen alle Industriezweige für sich und isoliert voneinander, was unnötige Kosten verursacht. Es fehlt die Koordinierung solcher Fragen wie Selbstkostensenkung, Stärkung des Sparsamkeitsregimes, Einführung technisch begründeter Arbeitsnormen und anderer Fragen mit der allgemeinen Finanzpolitik. Auf die Fragen der allgemeinen Finanzpolitik muß man das stärkste Augenmerk legen. Vieles krankt auch an dem bestehenden bürokratischen System der Berichterstattung. Viele Fragen sind auch in den Betrieben noch ungelöst. So gibt es beispielsweise die Situation, daß einem Arbeiter nur 20 Prozent der Normübererfüllung bezahlt werden, während der übrige Teil, wenn er die Norm – sagen wir – zu 140 oder 150 Prozent erfüllt hat, unbezahlt bleibt. Das führt dazu, daß der Arbeiter, wenn er die Norm zu 119 bis 120 Prozent erfüllt hat, seine Arbeit im Grunde beendet und an einer weiteren Erhöhung der Arbeitsproduktivität nicht interessiert ist. Pieck stellt fest, daß man die Hilfe seitens der sowjetischen Genossen, die unsere Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit der Stärkung des Sparsamkeitsregimes gelenkt haben, nur begrüßen kann. Pieck sagte, daß ein echter Kampf für die Festigung des Sparsamkeitsregimes noch gar nicht geführt wird. Wir reden viel darüber auf Konferenzen, in der Presse und im Rundfunk, doch wir haben den Leitern der Betriebe und den Funktionären des Staatsapparates noch kein hohes

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Verantwortungsbewußtsein für die Organisation der Arbeit und die Erfüllung unserer Pläne anerzogen. Dieses Bewußtsein fehlt auch bei einigen Mitgliedern des Politbüros und des Sekretariats. Jetzt muß man sich mit den Stellen befassen, an denen besonders große Mängel auftreten, diese beseitigen und praktische Resultate erzielen. Die Tatsachen, die Genosse Sitnin hier angeführt hat, sind einfach nicht zu akzeptieren. In bezug auf die Organisation Dienst für Deutschland sagt Pieck, daß diese Organisation nicht als eine gewinnbringende Organisation gedacht war, daß sie vielmehr auf Staatskosten existieren sollte. Wenn natürlich, bemerkte Pieck, die Organisation für praktische Arbeiten eingesetzt wird (auf dem Bau z. B.), dann können wir vielleicht auch von ihr irgendwelche Einnahmen erhalten, doch ich glaube nicht, daß es viel sein wird. Pieck sagt dann, daß der Vorschlag der sowjetischen Genossen im Sekretariat des ZK der SED beraten wird, wo zur Bestätigung durch das Politbüro des ZK der SED ein entsprechender Entwurf erarbeitet werden wird. Danach stellte Pieck fest, daß in allen Fragen, in den grundsätzlichen wie in den praktischen, die Auffassung der deutschen Genossen mit der Ansicht der Führung der SKK übereinstimmt. Genosse Tschuikow machte die deutschen Genossen auf den Ernst dieser Lage aufmerksam. Besondere Bedeutung erlangt die Stärkung des Sparsamkeitsregimes im laufenden Jahr, denn 1953 wird das entscheidende Jahr für die Erfüllung des gesamten Fünfjahresplans sein. Genosse Tschuikow stimmte dem zu, daß keine Notwendigkeit besteht, zur Frage des Sparsamkeitsregimes ein gesondertes Dokument zu verfassen, daß es besser ist, alle Aufmerksamkeit auf die Erfüllung der vom III. Parteitag und der 2. Parteikonferenz der SED gestellten Aufgaben zu richten. Genosse Tschuikow lenkte dann die Aufmerksamkeit der Freunde auf die außerordentliche Wichtigkeit der Preispolitik, insbesondere bei den Metallpreisen, da hier zur Zeit von einigen Genossen (Oelßner) ernste Fehler zugelassen werden. Genosse Tschuikow führte zusätzlich einige Beispiele für die unwirtschaftliche Verwendung staatlicher Mittel an und bat die Freunde, ihr Augenmerk auf die Praxis der Privatärzte zu legen, die den Arbeitern ohne besondere Notwendigkeit Krankschreibungen ausstellen. In bezug auf die Bemerkung von Rau über den fehlenden Willen der Arbeiter, die Arbeitsproduktivität über ein bestimmtes Maß hinaus (119 bis 120 Prozent) zu erhöhen, sagte Genosse Tschuikow, daß unter den Arbeitern nicht genügend politische Erziehung betrieben wird. Man muß die Situation erreichen, daß wie in der Sowjetunion die Arbeiter von sich aus Vorschläge zur Überprüfung und Erhöhung veralteter Arbeitsnormen unterbreiten. Genosse Tschuikow machte die Freunde auf die Notwendigkeit aufmerksam, die Arbeit in neu geschaffenen Verwaltungsorganen zu verbessern. Genosse Tschuikow schlug den Freunden vor, noch einmal die Zweckmäßigkeit der Organisation Dienst für Deutschland zu überlegen.

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Auf die Feierlichkeiten zum Karl-Marx-Jahr (1953)15 eingehend, lenkte Genosse Tschuikow die Aufmerksamkeit der deutschen Genossen auf die Notwendigkeit, die entsprechenden Vorbereitungsarbeiten so anzulegen, daß die in diesem Zusammenhang zu erwartenden Diskussionen nicht zur Tribüne für opportunistische Äußerungen genutzt werden und daß die Lehre von Marx nicht losgelöst wird von der einheitlichen Kette der Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin, womit die deutschen Genossen einverstanden waren. Sodann empfahl Genosse Tschuikow, die Arbeit zur Annäherung der lokalen Behörden an das Volk zu verstärken, wofür die weitere Festigung und Verbesserung der Arbeit der Verwaltungsorgane in den Bezirken und Kreisen erforderlich ist. In diesem Zusammenhang ist es auch zweckmäßig, das Augenmerk auf das Leitungspersonal der Gemeinden und Stadtverwaltungen zu lenken. Genosse Tschuikow übergab Grotewohl eine Denkschrift zur Teilnahme der DDR am Weltpostverein und zu Trawlern.

15 Das Jahr 1953 wurde in der DDR zum „Karl-Marx-Jahr“ erklärt.

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1.3. Vermerk über die Vorschläge der Genossen Sokolowski, Semjonow und Judin im Zusammenhang mit der in der DDR entstandenen Lage nach dem Volksaufstand am 17. Juni 195316 Vorschläge der Gen. Sokolowski,17 Semjonow18 und Judin19

Was unternommen wurde

1. Hart und konsequent ist der neue politische Kurs zu realisieren, der durch die Anordnung der sowjetischen Regierung vom 6. Juni 1953 über die Gesundung der politischen Lage in der DDR festgelegt wurde.

Der Vorschlag erforderte keine neuen Maßnahmen und stellt einen allgemeinen Wunsch dar.

2. Für eine radikale Verbesserung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung der DDR sind Sofortmaßnahmen durch entsprechende Hilfeleistungen von seiten der Sowjetunion und der Länder der Volksdemokratie zu ergreifen. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die bisher unternommenen Hilfeleistungen, einschließlich der zusätzlichen Lieferungen auf Beschluß der sowjetischen Regierung vom 24. Juni, nur die Ausgabe von Verpflegung auf Karten

Das Ministerium für Binnen- und Außenhandel der UdSSR erarbeitet konkrete Vorschläge zu dieser Frage.

16 Foitzik, Jan (Hrsg.): Sowjetische Interessenpolitik, S.608-614. Nr. 138. Vermerk „Über die Vorschläge von Sokolowski und Judin im Zusammenhang mit der in der DDR entstandenen Lage“. 9. Juli 1953. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR. Sekretariat des Genossen Gromyko. Streng geheim. Exemplar Nr. 1 Europa-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR. 9. Juli 1953 17 Marschall Sokolowski, damals Chef des Generalstabes und stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR, befand sich vom 17. Juni 1953, 11.30 Uhr (Berliner Zeit – so nach diplomatischen bzw. ab 20.43 Uhr Moskauer Zeit nach militärischen Quellen), in Ost-Berlin als Leiter des Krisenstabes, dem auch die früheren bzw. amtierenden Hochkommissare der UdSSR in Deutschland P. F. Judin und W. S. Semjonow angehörten. Am 24. Juni 1953 legte der Krisenstab einen Abschlußbericht über die Ereignisse in Berlin und in der DDR vom 17. bis zum 19. Juni 1953 vor, der auch die im Dokument referierten Vorschläge enthielt (englische Übersetzung in: Ostermann, Christian F.: Uprising 2001, S. 257-284). Dort ist auf S. 293-294 auch das Beschlußprotokoll einer Kommission unter der Leitung des stellvertretenden Außenministers Wyschinski vom 2. Juli 1953 veröffentlicht, die Empfehlungen für den Ministerrat der UdSSR auszuarbeiten hatte. Die Kommission bestand aus Vertretern des sowjetischen Außen-, Außenhandels- und Finanzministeriums, ihr gehörten ebenfalls ehemalige bzw. amtierende Vertreter der sowjetischen Besatzungsverwaltung in der DDR an. 18 Semjonow, Wladimir Semjonowitsch (1910-1992), 1945-46 Erster stellvertretender Politischer Berater für allgemeine und außenpolitische Fragen sowie Chef der Abteilung Politik, 1946-49 Politischer Berater des Obersten Chefs der SMAD und anschließend bis 1953 Politischer Berater beim SKK-Vorsitzenden, 1953 kurze Zeit Leiter der 3. Europa-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR, ab 1966 Kandidat der ZK KpdSU, 1978-86 Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland. 19 Judin, Pawel Fjodorowitsch (1899-1968), Direktor des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1947-50 Chefredakteur der Zeitschrift „Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie!“, des Presseorgans des Informationsbüros der kommunistischen und Arbeiterparteien (Kominform), in Belgrad und Bukarest. Ab 21. April 1953 für mehrere Wochen Politischer Berater beim Vorsitzenden der SKK in Deutschland, dann Erster Stellvertreter Semjonows als Hochkommissar der UdSSR in Deutschland. 1953-59 Botschafter in der Volksrepublik China.

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und einen minimalen Handel in den „HO“-Geschäften für das dritte Quartal dieses Jahres gewährleisten. 3. Für die Herstellung einer stabilen ökonomischen Lage in der Republik und die Erhöhung des Lebensniveaus der Bevölkerung der DDR auf das Niveau der Bevölkerung Westdeutschlands ist die Frage der Einstellung von Warenlieferungen auf Reparationskonto an die Sowjetunion und Polen sowie der Ausfuhr von Waren in die UdSSR als Einnahmen sowjetischer Unternehmen in der DDR vom zweiten Halbjahr 1953 an zu prüfen, und zwar mit der Aufgabe, diese Waren für die Entwicklung des Außenhandels der DDR und für die Sicherstellung der internen Bedürfnisse der Republik zu verwenden. Die Reparationsentnahmen in Mark sind in dem Umfang zu belassen, der einen normalen Betrieb der „Wismut“-SAG gewährleistet.

Das Ministerium für Binnen- und Außenhandel der UdSSR bereitet Vorschläge über den Verzicht der Sowjetunion auf Reparationen vor.

4. Die Frage einer drastischen Kürzung der Besatzungskosten, die von der DDR für den Unterhalt der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland erhoben werden, ist zu prüfen.

Die Unterkommission des Genossen A. Ja. Wyschinski hat Vorschläge vorgelegt. Gegenwärtig bereitet das Ministerium für Binnenund Außenhandel der UdSSR zusätzliche Vorschläge im Zusammenhang mit dem geplanten Verzicht auf Reparationen vor.

5. Alle auf dem Territorium der DDR verbliebenen Industrie-, Handels- und Transportbetriebe sind zu günstigen Bedingungen für eine angemessene Bezahlung in das Eigentum der DDR zu übergeben, ebenso die Bank und die Schwarzmeer-Baltische Versicherungsgesellschaft, wobei die für diese Betriebe erhaltene Abzahlung zur Deckung künftiger Ausgaben der Sowjetunion für die „Wismut“-SAG genutzt werden soll.

Das Ministerium für Binnen- und Außenhandel der UdSSR bereitet Vorschläge vor.

6. Für die Verrechnungen zwischen der DDR und der UdSSR ist der Kurs der DDR-Mark gegenüber dem Rubel entsprechend dem realen Verhältnis der Kaufkraft zwischen Mark und Rubel festzulegen.

Die Unterkommission des Genossen A. Ja. Wyschinski hat Vorschläge vorgelegt.

7. Als erstrangige Aufgabe des ZK der SED und der Regierung der DDR sind anzusehen: die ernsthafte Verbesserung der materiellen Lebenslage in den volkseigenen und privaten Betrieben der DDR sowie die Entfaltung einer breiten politischen Arbeit unter den Arbeitern, die auf die Festigung der Verbindung von Partei und Arbeiterklasse ausgerichtet ist.

Der Vorschlag wurde von den Genossen Sokolowski, Semjonow und Judin zurückgezogen, da dieser Wunsch bereits in Beschlüssen der Regierung der DDR und des ZK der SED seinen Ausdruck fand.

8. Angesichts dessen, daß das ZK der SED in der letzten Zeit eine falsche Methode bei der Führung des Staates und der Volkswirtschaft anwendet und staatliche und wirtschaftliche Organe ersetzt hat, ist eine strenge Abgrenzung der Funktionen der Regierung der DDR auf der einen Seite und des ZK der SED auf der anderen Seite vorzunehmen, wobei zur Behandlung im ZK der SED nur gewichtige prinzipielle Fragen des staatlichen Aufbaus und der Entwicklung der Volkswirtschaft eingebracht werden sollten. Die

Der Vorschlag wird in Verbindung mit dem Aufenthalt der Führung des ZK der SED in Moskau erörtert werden.

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Aufmerksamkeit des ZK der SED hat sich auf die Entfaltung der politischen Arbeit in den Bevölkerungs-massen und auf die Regelung der innerparteilichen Arbeit der SED auf der Grundlage einer breiten Entwicklung der inner-parteilichen Demokratie von Kritik und Selbstkritik von unten nach oben zu konzentrieren. In Übereinstimmung damit ist als notwendig zu erachten: a) eine Reorganisation der Regierung der DDR mit dem Ziel, den Staatsapparat auf zentraler und lokaler Ebene zu stärken und gleichzeitig zu verkleinern, wobei eine Reihe kleinerer Ministerien und Verwaltungen zu größeren Ministerien und Verwaltungen zusammenzufassen sind.

Die Unterkommission des Genossen A. Ja. Wyschinski hat den Vorschlag mit Einverständnis der Genossen Solokowski, Semjonow und Judin als nicht zeitgemäß zurückgezogen.

b) das Ministerium für Staatssicherheit aufzulösen und es in den Bestand des Ministeriums des Innern der DDR einzugliedern.20

Der Vorschlag wurde ebenfalls zurückgezogen.

c) Genossen Ulbricht von der Funktion des stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR zu entbinden, damit er seine Aufmerksamkeit auf die Arbeit des ZK der SED konzentriert.

Der Vorschlag wurde zurückgezogen.

d) die Rolle der Volkskammer als ein aktiv handelndes Parlament der Republik anzuheben, welches die Gesetze der Republik berät und verabschiedet, Kommissionen einberuft, Anfragen und Forderungen der Abgeordneten der Volkskammer erörtert usw. Die Annahme irgendwelcher Beschlüsse mit Gesetzescharakter an der Volkskammer vorbei ist zu verbieten.

Der Vorschlag wird in operativer Weise realisiert, ein Beschluß darüber ist nicht erforderlich.

e) eine außerordentliche Sitzung der Volkskammer der DDR zu ihrer eigenen Arbeit und den von der Regierung begangenen Fehlern einzuberufen, daraufhin die Zusammensetzung der Regierung umzugestalten, wobei unfähige und unpopuläre Minister zu entlassen und im Lande populärere Personen für Ministerposten unter breiter Hinzuziehung von Vertretern anderer Parteien vorzuschlagen sind.

Der Vorschlag wurde zurückgezogen.

9. Die Funktionen des Sekretariats des ZK der SED sind zu begrenzen auf Fragen der Kontrolle der Ausführung von Beschlüssen des Politbüros des ZK, auf organisatorische Fragen, auf die Auswahl, den Einsatz und die Erziehung von Kadern sowie auf Fragen der parteipolitischen Arbeit in den Massen. In der Zusammensetzung des Sekretariats des ZK der SED ist eine Umstellung vorzunehmen mit dem Ziel der Aufnahme neuer Mitarbeiter in das Sekretariat, darunter aus der Intelligenz. Die Zahl der Sekretariatsmitglieder ist von elf auf fünf Personen zu verkleinern. Der derzeit existierende Posten des Generalsekretärs

Die Frage wird in Verbindung mit dem Aufenthalt der Führung des ZK der SED in Moskau erörtert werden.

20 Tatsächlich nahm das SED-Politbüro am 30. Juni und abermals am 18. Juli 1953 den Beschluß an, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR im Rang eines Staatssekretariats dem Innenministerium der DDR zu unterstellen, was erst 1955 wieder rückgängig gemacht wurde.

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des ZK der SED ist zu liquidieren, als neue Posten sind Sekretäre des ZK einzuführen.21 10. Es wird als notwendig erachtet, im Verlauf der nächsten drei bis vier Monate den ordentlichen IV. Parteitag der SED durchzuführen,22 auf welchem die Aufgaben der Partei im Zusammenhang mit der Durchführung des Neuen Kurses zu erörtern sind. Auf dem Parteitag ist eine ernsthafte Erneuerung der Zusammensetzung des ZK vorzunehmen, vermittels Ergänzung durch junge Kader, die sich in der praktischen Arbeit mit den Massen, der Arbeiterklasse, der werktätigen Bauernschaft und ebenso der Intelligenz positiv hervorgetan haben. Grundlegend ist der Bestand des Politbüros des ZK der SED zu erneuern, indem aus ihm diejenigen ausgeschlossen werden, die nicht auf dem Niveau stehen, das für die Führung der Partei und des Staates unter den gegenwärtigen Bedingungen erforderlich ist.

Die Frage wird in Verbindung mit dem Aufenthalt der Führung der SED in Moskau erörtert werden.

11. Eine spezielle Untersuchung der Arbeit der Gewerkschaften und konsequente Veränderungen im Bestand der leitenden Organe der Gewerkschaft sind durchzuführen; es ist ein neues Statut anzunehmen, das den Charakter der Arbeit der Gewerkschaften entsprechend den Aufgaben des Neuen Kurses grundsätzlich verändert.

Der Vorschlag wird in operativer Weise realisiert, ein Beschluß darüber ist nicht erforderlich.

12. Der zahlenmäßige Bestand, die Organisation und die Dislokation der Volkspolizei sind zu überprüfen, sie ist mit modernen Waffen auszurüsten, einschließlich Schützenpanzerwagen, gepanzerten Fahrzeugen und Kommunikationsmitteln. Aus den derzeitigen kasernierten Polizeieinheiten sind ausreichend starke mobile Bereitschaften der Volkspolizei zu schaffen, die fähig sind, ohne Hilfe sowjetischer Truppen die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der Republik zu gewährleisten. Es ist als notwendig zu erachten, das derzeit existierende Armeekorps der DDR in eine Formation von Truppen des inneren Dienstes der DDR umzugestalten, analog zu den Formationen, die in Westdeutschland bestehen.

Die Führung der DDR soll zur Frage der Polizei ihre Vorschläge vorlegen, die vorbereitet werden.

13. Der FDJ-Organisation ist unter Nutzung entsprechender Erfahrungen früher in Deutschland existierender Jugendorganisationen der Charakter einer breiten überparteilichen Jugendorganisation zu verleihen. Ein Austausch der Führung des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend (FDJ) ist vorzunehmen.

Der Vorschlag wird in operativer Weise realisiert, ein Beschluß darüber ist nicht erforderlich.

14. Als zweckmäßig wird erachtet, den Charakter der Delegationen, die von der DDR in die Sowjetunion geschickt werden, sowie ihre Aufgaben zu ändern. Die kulturellen und technischen Beziehungen der DDR mit der Sowjetunion sind zu stärken. Als zweckmäßig wird erachtet, Reisen von Funktionären der SED zur Erholung und zur Genesung in die Sowjetunion und andere Län-

Die Unterkommission des Genossen A. Ja. Wyschinski hat den Vorschlag zurückgezogen, mit Einverständnis der Genossen Sokolowski, Semjonow und Judin. Die

21 Die 1950 geschaffene Position des Generalsekretärs des ZK der SED wurde 1953 in die des Ersten Sekretärs des ZK der SED umbenannt. Sie nahm weiterhin Walter Ulbricht ein, dessen Absetzung am 7./8. Juli 1953 im SED-Politbüro zwar erwogen, der aber noch im Juli vom ZK-Plenum im Amt bestätigt wurde. 22 Der IV. Parteitag der SED fand vom 3. bis 6. April 1954 statt.

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der einzuschränken und Erholungsreisen für prominente Vertreter der deutschen Intelligenz, für Arbeiter und Funktionäre anderer Parteien sowie Reisen von Touristen in die UdSSR zu erweitern.

Frage ist in operativer Weise zu entscheiden.

15. Zur Steigerung des internationalen Prestiges der DDR, aber auch der Autorität der Regierung in den Augen der Landesbevölkerung wird nach der Bestätigung der neuen Regierung durch die Volkskammer eine offizielle Reise einer Regierungsdelegation der DDR nach Moskau als notwendig erachtet.

Der Vorschlag wurde ebenso als nicht zeitgemäß zurückgezogen.

16. Es wird als unzweckmäßig erachtet, die Sektorengrenze Ostberlins zu Westberlin nach Aufhebung des Ausnahmezustandes in Ostberlin zu öffnen, solange von seiten der Kommandanten Westberlins nicht alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, die garantieren, daß dem Eindringen von Agenten und Provokateuren aus Westberlin zur Durchführung von Wühltätigkeit gegen die DDR ein Ende gesetzt wird. Im Zusammenhang damit ist in nächster Zeit ein System von Dauer- und befristeten Passierscheinen für den Übertritt der Sektorengrenze zwischen Ostberlin und Westberlin zu schaffen. Dabei soll die Ausgabe dieser Passierscheine ohne unnötige Erschwernisse vonstatten gehen. Die Interessen der deutschen Bevölkerung sind weitgehend in Rechnung zu stellen.

Der Vorschlag wurde zurückgezogen, da ein Beschluß über die Aufhebung der Einschränkungen an der Sektorengrenze in Berlin angenommen wurde.

17. Dem Kommando der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen ist aufzutragen, unter Berücksichtigung der Lehren aus den Vorkommnissen des 17. Juni die Dislokation der sowjetischen Truppen zu verbessern und insbesondere die Unter-bringung einer erforderlichen Anzahl von Panzereinheiten in Berlin vorzunehmen.

Die Frage wurde vom Verteidigungsminister der UdSSR in operativer Weise entschieden.

2. Der Bericht und die Stellungnahmen der Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für Staatssicherheit 2.1. Der Bericht Nr. 170/61 über die Lage auf dem Gebiet der Versorgung vom 23. März 196123 Serie: Informationen. Verteiler: Stoph, Leuschner, Wittkowski – MfS: Ablage Für die geplante Präsidiumssitzung des Ministerrats Aus dem MfS vorliegenden Berichten geht hervor, dass in allen Bezirken Maßnahmen zum „Beschluss des Präsidiums des Ministerrates über Maßnahmen zur Organisierung der Versorgung der Bevölkerung vom 10.11.1960“ sowie zum „Beschluss des Präsidiums des Ministerrates zur Erhöhung der Verantwortung der Räte in den kreisangehörigen Städten auf dem Gebiet des Handels und der Ver23 Quelle: BStU, MfS, ZAIG 494, Bl. 1-15 (4. Expl.). Abgedruckt bei: Münkel, Daniela: Die DDR im Blick der Stasi 1961. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Bearbeitet von, Göttingen 2011, S.98-107.

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sorgung vom 5.1.1961“ eingeleitet worden sind, wenn auch in unterschiedlichem Umfang und mit verschiedenartigem Erfolg. In einer Reihe von Bezirken und Kreisen wurden sofort nach Verlautbarung des Beschlusses vom 10.11.1960 Kommissionen oder Operativstäbe gebildet mit dem Ziel, die Handelstätigkeit zu verbessern und auf diesem Gebiet bereits getroffene Festlegungen zu verwirklichen. Dabei zeigte sich jedoch, dass die Auswertung der Beschlüsse nicht in der notwendigen Breite erfolgte und daher auch kaum eine sofortige spürbare Verbesserung der Handelstätigkeit bewirkte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass diese Schwäche häufig mit Kadermangel in den verantwortlichen Abteilungen des Staatsapparates begründet und entschuldigt wird (Bezirke Cottbus, Erfurt, Kreis Havelberg / Magdeburg u. a.), in Einzelfällen auch mit dem Einsatz verantwortlicher Mitarbeiter für Handel zur Lösung von Aufgaben anderer Arbeitsbereiche. Übereinstimmend wird von den Bezirken auch eingeschätzt, dass die anfängliche Initiative der Handelsorgane und -kommissionen zur Auswertung der Beschlüsse in den letzten Wochen nachgelassen hat. Dies führte zu einem Rückgang u. a. in der Anleitung und Kontrolle der örtlichen Handelsorgane und im Einfluss des Handels auf Produktionsbetriebe, der immer noch als völlig ungenügend eingeschätzt wird. In einigen Bezirken verzögert sich die geforderte tägliche Berichterstattung an die Räte der Bezirke oder wird überhaupt nicht mehr durchgeführt, was u. a. im Bezirk Frankfurt/O. seine Ursache darin hat, dass Anfragen der Kreise in der täglichen Berichterstattung an den Bezirk unbeantwortet bleiben. Nach einigen hier vorliegenden Hinweisen soll selbst im Ministerium für Handel und Versorgung die weitere Kontrolle des Beschlusses vom 10.11.1960 vernachlässigt werden, nachdem die Kontrollmaßnahmen durch den Sektor Kontrolle und Inspektion Ende Dezember 1960 eingestellt wurden. Nach Einschätzung von Fachexperten soll dadurch keine zentrale Übersicht über die Realisierung des Beschlusses mehr vorhanden sein; vor allem würde eine Kontrolle über die Erfüllung der Lieferpläne der Industrie an den Handel völlig fehlen. Seitens der Staatlichen Plankommission, Abteilung Chemische Industrie, wurde trotz Festlegung im Beschluss nicht sofort die Erarbeitung eines Aufholplanes vorgenommen, so dass auch gegenwärtig noch erhebliche Rückstände bei der Industrie bestehen und z. B. Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung mit Waschmitteln nicht behoben wurden. Auch von der Abteilung Textil-Bekleidung-Leder der Staatlichen Plankommission sollen nach den vorliegenden Hinweisen keine konkreten Festlegungen zur Aufholung der Produktionsrückstände getroffen worden sein, obwohl sie im Beschluss dazu verpflichtet wurde; es ist lediglich eine Analyse der zzt. bestehenden Rückstände gefertigt worden. Die ungenügende und nicht allseitige Verbesserung der Handelstätigkeit und das zeitweilig unzureichende Warenangebot haben zu einer relativ breiten Unzufriedenheit unter der Bevölkerung geführt, auf deren Auswirkungen bei der Darlegung der Mängel in einzelnen Warenpositionen teilweise noch näher eingegangen wird.

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Zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln: Unzufriedene und vereinzelt auch provokatorische Diskussionen lösten die im I. Quartal 1961 aufgetretenen und vermutlich auch im II. Quartal nicht restlos beseitigten Schwierigkeiten in der Versorgung mit Schweinefleisch (Speck), Molkereiprodukten, Frischfisch und teilweise Mehl Type 405, Babysan und Hafererzeugnissen aus. Aus Handelskreisen der örtlichen Ebene werden dabei noch Befürchtungen bekannt, dass sich im II. Quartal 1961 diese Positionen in allen Bezirken noch durch größere Lücken im Angebot von Kartoffeln und Geflügel, teilweise auch Eiern erweitern werden. Das mangelnde Angebot an Schweinefleisch führt in mehreren Bezirken zu Schlangenbildungen vor den Fleischergeschäften, besonders am Wochenende. Dabei kommt es zu starken unzufriedenen Äußerungen über die unzureichende Warenbereitstellung, die auch für Speck und die verschiedenen Wurstsortimente zutrifft. Im Bezirk Cottbus kann zzt. nicht einmal Speck zu Rouladen verkauft werden. Trotz Verringerung der vorher angebotenen Wurstsortimente, die sich aus dem Zurückgehen des Anteils Schweinefleisch ergibt, besteht auch bei den gegenwärtig noch erhältlichen Sortimenten teilweise ein Verhältnis von 30 bis 40 % Schweinefleisch zu 60 bis 70 % Rindfleisch, obwohl die Rezepturen der gebräuchlichsten Wurstsorten ein annähernd umgekehrtes Verhältnis der Anteile Rind-/Schweinefleisch vorsehen. Eine Folge der jetzigen Verarbeitung einer Höchstmenge Rindfleisch ist eine gewisse Verteuerung der Wurstarten, wofür von den Kunden kein Verständnis aufgebracht wird. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass der erhöhte Auftrieb von Rindern, der quantitativ zu einem gewissen Ausgleich für die Nichterfüllung der Schweinefleischproduktion führte, von der Mehrzahl der Bezirke mit Futterknappheit begründet wird. Die Bezirke machen weiterhin darauf aufmerksam, dass sich die Fehlpositionen in der eigenen Erfassung seit Januar ständig erhöhen und dass infolge Nichteinhaltung der Sauenbedeckungspläne und der Mastverträge sowie hoher Ferkelsterblichkeit und Viehverendungen mit einem weiteren Ansteigen der Rückstände gerechnet wird. Aus einer Statistik des Bezirkes Schwerin geht z. B. hervor, dass das staatliche Aufkommen bei Schweinen nur mit ca. 75 % erfüllt wurde und dass der Rückstand bereits bei weit über 1000 t liegt. Dagegen wurde im gleichen Bezirk der Plan bei Rind übererfüllt. Als Ursache für den unbefriedigenden Schweineauftrieb wird u. a. vom Bezirk Schwerin neben den bekannten Mängeln in der Viehwirtschaft angeführt, dass besonders die LPG Typ III 24 Ende des IV. Quartals 1960 alle Schweine im Schlachtgewicht mit 110 kg zur Erfüllung ihres Plans zur Ablieferung brachten, zzt. zahlreiche Hausschlachtungen in bäuerlichen Betrieben stattfinden und die Tiere in den Mastanstalten aufgrund der unzureichenden Futtergrundlage auf Erhaltungsfutter gesetzt wurden. 24 Es gab drei LPG-Typen: Beim Typ I wurde das Ackerland eingebracht, beim Typ II das Ackerland, die Maschinen und die Zugtiere, der Typ III war vollgenossenschaftlich, d. h., Ackerland, Maschinen, Zugtiere, das gesamte Nutzvieh, Wiesen, Weiden und Waldflächen und sonstige Güter wurden eingebracht.

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In den Bezirken und Kreisen, in denen der Viehauftrieb große Mängel aufweist, so z. B. in den Kreisen Tangerhütte und Havelberg / Magdeburg, wird der Bedarf der Bevölkerung gegenwärtig nur mit 50 bis 60 % gedeckt und entstehen am Wochenende vor den Fleischereigeschäften große Käuferschlangen. Im Kreis Havelberg wurden in letzter Zeit Gerüchte hinsichtlich einer angeblich in Kürze erfolgenden Rationierung verbreitet. Einige Bezirke (z. B. Erfurt, Magdeburg) haben bereits im IV. Quartal 1960 Vorgriffe auf den Plan Fleischaufkommen I./1961 gestattet, wodurch sich die Schwierigkeiten verstärken. Erst jetzt wurde eine korrekte Einhaltung der Dekadenmengen organisiert. Im Kreis Worbis / Erfurt u. a. Kreisen wirkt sich das so aus, dass in den Geschäften verstärkt Fleisch zum Einkochen eingekauft wird. In diesem Zusammenhang tritt wie alljährlich das Gerücht auf, dass die wichtigsten Lebensmittel zum Verbrauch auf der Leipziger Messe zur Verfügung gestellt wurden, um dort einen guten Lebensstandard der DDR zu repräsentieren, wobei der Bevölkerung in den übrigen Städten jedoch diese Menge entzogen würden. (Gerücht kursiert u. a. im Bezirk Frankfurt/O.) Aus der geschilderten Situation ergibt sich eine unkontinuierliche Belieferung der Schlachthöfe mit Schlachtvieh. Die Bezirke – bis auf Halle und Groß-Berlin – schätzen übereinstimmend ein, dass eine kontinuierliche und planmäßige Anlieferung von Schlachtvieh an die Schlachthöfe nicht gewährleistet ist. Die Ursachen liegen in der Hauptsache in nicht plangerechtem Auftrieb von Schlachtvieh und in der sporadischen Arbeit der Erfasser der VEAB sowie im hohen Rückstand des Auftriebs von Schlachtschweinen. Das Lebendvieh wird nicht nach der Tagesplanauflage erfasst, und die wöchentlichen Vorausmeldungen der VEAB an die Schlachthöfe stimmen nicht mit den folgenden Leistungen überein. Auswirkungen zeigen sich u. a. darin, dass Schlachthöfe am Wochenanfang zu gering beliefert werden, sodass die Kapazität nicht ausgelastet wird, am Wochenende – besonders auch am Monats- und Quartalsende – jedoch mit Schlachtvieh überhäuft sind, sodass 3-Schichten-Arbeit sowie Überstunden geleistet werden müssen. Der Schlachthof Greifswald z. B. hat eine tägliche Durchschnittskapazität von 120 Schweinen und 25 Rindern; am 2.2.1961 wurden aber nur 14 Schweine, am 4.2.1961 13 Schweine angeliefert, jedoch am 14.2.1961 141 Schweine und 24 Rinder und am 15.2.1961 232 Schweine und 23 Rinder. In der Konsum-Fleischerei Freiberg ist ein ähnlicher Zustand zu verzeichnen, und zeitweise ergibt sich nur eine 50 %ige Auslastung. Nach Sonderauftrieben waren Überstunden erforderlich. Im Fleischkombinat Stalinstadt wurden die Fleischer zu Hofarbeiten, zum Sägespäne-Schaufeln und Etiketten-Kleben hinzugezogen, wofür ihnen der Durchschnittslohn gezahlt wurde. Infolge sporadischer Anlieferung großer Mengen und zu leistender Überstunden wurde dort der Lohnfonds 1960 mit 43.700 DM überzogen. In diesem Jahr zeigt sich bereits die gleiche Tendenz. In einer Reihe von Schlachthöfen (z. B. Neubrandenburg) steigt zzt. die Anlieferung von Rindern an, meistens mit der Begründung, dass einige landwirtschaftliche Betriebe ihre Bestände infolge Futtermangels verringern.

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Die zur Verfügung stehenden Mengen Frischfisch, die einen gewissen Ausgleich zum fehlenden Fleischaufkommen bilden könnten, reichen in der gegenwärtigen Lage nicht aus, sodass es auch vor den Fischgeschäften mehrfach zu Käuferschlangen kommt. Im Kreis Lübz / Schwerin stehen die Kunden teilweise bereits vor 6.00 Uhr vor den Verkaufsstellen an. Durch den ungenügenden Nachschub von Frischfisch und Fischfilets sind u. a. Großküchen und Gaststätten zur Herstellung von Fleischspeisen gezwungen. Im Zusammenhang mit dem Fischverkauf während der jetzt bevorstehenden wärmeren Jahreszeit weisen besonders die Landverkaufsstellen (z. B. Bezirk Erfurt) darauf hin, dass die Lagerkapazitäten (insbesondere Kühlzellen) nicht ausreichen und nach größeren Lieferungen, die nicht sofort umgeschlagen werden können, eine Verderbgefährdung der Waren eintreten kann. Nach Auffassung der örtlichen Handelsfunktionäre werden auch im II. Quartal 1961 die zzt. bestehenden Lücken im Angebot von Geflügel nicht vollständig geschlossen werden können, da inzwischen alle Reserven verbraucht wurden. In einigen Bezirken machte sich das fehlende Angebot bereits im I. Quartal 1961 bemerkbar, wie z. B. im Bezirk Potsdam. So wurden für das Stadtgebiet Potsdam im I. Quartal 1961 nur ca. 7 t Geflügel geliefert, obwohl allein bis zum 10.2.1961 20 t eingeplant waren. Dadurch konnten nicht einmal die Spezialverkaufsstellen ausreichend beliefert werden. Die Mehrzahl der Bezirke schätzt ein, dass die ständig steigenden Milchrückstände im Allgemeinen auf die mangelhafte Futtergrundlage (Erhaltungsfutter) zurückgeführt werden. In wenigen Fällen werden die Offenställe als Ursache angeführt25, durch die während der kalten Tage Anfang des Jahres ein beträchtliches Absinken der Milchleistungen eingetreten sei. Als hauptsächlichste Ursache sind jedoch nach wie vor die mangelhafte Pflege der Kuhbestände und die Vernachlässigung der Aufzucht anzusehen. Die Auswirkungen zeigen sich u. a. darin, dass Trinkvollmilch – besonders in Flaschen abgefüllte – im Handel unzureichend erhältlich ist und in einigen Verkaufsstellen bereits Beschwerden junger Mütter vorliegen, die nach den Mittagsstunden keine Vollmilch für Kleinstkinder erhielten (Bezirke Halle und Potsdam). In Auswirkung des mangelhaften Milchaufkommens und des nicht termingemäßen Eingangs von Butterimporten treten immer noch Lücken im Angebot von Butter und anderen Molkereiprodukten auf. Nach hier vorliegenden Hinweisen wird von Fachexperten eingeschätzt, dass der Warenfonds bei Butter sehr knapp geplant ist und eine Bedarfserhöhung pro Kopf vermutlich nicht mit einkalkuliert wurde, obwohl Erfahrungswerte aus den vergangenen Jahren hinsichtlich des ständig steigenden Verbrauchs vorliegen. Zur Behebung der Komplikationen in der Butterversorgung vor allem in den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt (Kreis Rochlitz, Hainichen, Auerbach und 25 Auf der 33. Tagung des ZK vom 16. bis 19.10.1957 wurde die Errichtung von (Rinder-) Offenställen nach sowjetischem Vorbild beschlossen. Anders als intendiert, führte dies angesichts der speziellen Bedingungen in der DDR zu einem Produktionsrückgang.

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Karl-Marx-Stadt / Land) wurden dort und in einer Reihe von Kreisen anderer Bezirke Kundenlisten eingeführt, um eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Bestände vornehmen zu können. Nach unseren Feststellungen bietet jedoch diese Form noch keine Gewähr für eine annähernde Kontrolle. Neben anderen Beispielen wurde u. a. aus dem Kreis Freiberg bekannt, dass nach Kundenlisten ca. 8000 Menschen mehr erfasst sind als der Kreis Einwohner zählt. In einer Reihe von Fällen wurden erhöhte Buttereinkäufe durchgeführt, oder es wurde festgestellt, dass Bürger in anderen Bezirken und Kreisen größere Einkäufe tätigten, z. B. in den Bezirken Halle und Magdeburg, wo in den Bezirksstädten keine Kundenlisten eingerichtet wurden. Im Bezirk Schwerin war die Tendenz vorhanden, dass Konsummitglieder damit drohten, die Teilnahme an den Wahlen der Verkaufsausschüsse zu verweigern, falls sich die Butterversorgung nicht bessere. Eine Überprüfung im Bezirk Neubrandenburg ergab, dass die Butterversorgung durch falsche Kontingentverteilung des Rates des Bezirkes, Abteilung Handel und Versorgung, in den Kreisen sehr unterschiedlich war, sodass in einigen Kreisen ernste Unzufriedenheit bestand. Demgegenüber konnten andere Kreise Ende Februar größere Mengen Butter zurückgeben, wovon ein Teil bereits verdorben war. Magermilch, Kaffeesahne, Quark und einige Sorten Käse sind unzureichend im Handel. Mehrfach wird von der Bevölkerung Unverständnis geäußert, dass z. B. bei Schmelzkäse ein Überangebot besteht, während Schnittkäse fast überhaupt nicht zu bekommen ist, obwohl die Rohprodukte für beide Warenarten die gleichen sind. Die Molkereien begründen den größeren Produktionsausstoß an Schmelzkäse damit, dass im Gegensatz zur Produktion von Schnittkäse ein höherer t-Ausstoß erzielt werde und verweisen darauf, dass diese Auffassung auch von der Staatlichen Plankommission vertreten werde. Obwohl sich die Erfassung von Eiern im II. Quartal des Jahres erfahrungsgemäß immer verbessert, machen einige Bezirke auf hohe Rückstände im Aufkommen und auf die damit unzulängliche Bevorratung zum Osterfest aufmerksam. Im Bezirk Erfurt bestand Ende Februar 1961 ein Rückstand im Eieraufkommen von 2,1 Mio. Stück. Dieser Rückstand ist innerhalb weniger Tage entstanden, nachdem die Erfassungsorgane Anfang Februar 1961 nur auf die Vieherfassung orientierten und die Eiererfassung vernachlässigten. In einigen Kreisen (z. B. Kreis Heiligenstadt) ist ein Rückgang in den Abgaben nichtablieferungspflichtiger Betriebe eingetreten. Das wird auf das angeblich zzt. ungünstige Austauschverhältnis (acht abgelieferte Eier = 1 kg Futtergetreide) zurückgeführt. Groß-Berlin weist auf mangelnde Kontingente in Konservenglas hin. Von der GHG wurden 1960 845 t Konservenglas geliefert, die dem Bedarf der Bevölkerung entsprachen; 1961 sind jedoch nur 490 t vorgesehen. Alle Bezirke schätzen ein, dass das Fehlen von Edelspirituosen und Sekt besonders während der Osterferientage und der bevorstehenden Feiern der Jugendweihe zur Unzufriedenheit unter der Bevölkerung führen wird.

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Aus den hier vorliegenden Berichten geht hervor, dass z. T. große Lücken in der Versorgung der Großküchen und des Handels mit Kartoffeln entstanden sind. Die Versorgung der Großverbraucher und des Handels mit Speisekartoffeln ist nicht restlos bis zum Anschluss an die neue Ernte gesichert. In fast allen Bezirken traten bereits im I. Quartal 1961 Schwierigkeiten in der Kartoffelversorgung auf. Die Bezirke Potsdam, Groß-Berlin, Frankfurt/O., Schwerin und Magdeburg, die im I. Quartal 1961 den Handel und die Großverbraucher noch mit ausreichend Kartoffelmengen beliefern konnten, machen aber übereinstimmend darauf aufmerksam, dass noch kein umfassender Überblick über die evtl. entstehende Fehlmenge durch Verderb infolge Nass- und Braunfäule besteht, und dass sich die Situation nach Feststellung der verbleibenden Bestände sofort ändern kann. Im Bezirk Magdeburg wurden z. B. bisher 1.279,5 t ziemlich verdorbene Kartoffeln vom Handel zum Austausch angemeldet; da die Mieten jedoch bisher zum größten Teil noch nicht geöffnet wurden, konnte darüber vorläufig nicht entschieden werden. Um größeren Schwierigkeiten vorzubeugen, sind in den meisten Bezirken bereits Sparmaßnahmen angeordnet worden. Z. B. wurde im Bezirk Karl-MarxStadt, wo die Kartoffelversorgung besonders in den Wismut-Speisegaststätten und -Küchen angespannt ist, veranlasst, dass die Werkküchen 50 % und die Gaststätten 30 % Nährmittelgerichte (ohne Kartoffeln) verabreichen. Ähnlich berichten die Bezirke Halle (besonders aus den Urlaubsorten), Gera, Dresden u. a., wo die Großverbraucher wöchentlich zwei- bis dreimal Teigwaren verabreichen. Im Bezirk Leipzig waren Mitropa-Gaststätten mehrere Tage ohne Kartoffeln und konnten nur Teigwarengerichte anbieten. Besonders angespannt ist die Situation nach hier vorliegenden Berichten im Bezirk Erfurt, wo seitens der VEAB die Kartoffellieferungen an den Handel gesperrt werden mussten, sodass Haushalte, die keine Kartoffeln einkellerten, z. T. ohne Kartoffeln sind. Im Bezirk Erfurt besteht ebenfalls keine Vorstellung, wie die Schwierigkeiten überbrückt werden sollen, zumal die Nährmittelwerke Reichenbach und Zeitz mit den Lieferungen an den Bezirk Erfurt im Rückstand sind (u. a. durch Waggonmangel). In wenigen Bezirken (z. B. Suhl und Rostock) wurden Maßnahmen zur verstärkten Kartoffelerfassung und zum Ankauf von Überbeständen eingeleitet. In Suhl wurden von den Handelsorganen Kommissionen gebildet, die täglich die Erfassung und den Aufkauf organisieren. Dabei werden jedoch häufig solche Auffassungen von Bauern angetroffen, wonach die Überbestände an Kartoffeln infolge der angespannten Futtergrundlage für die Viehfütterung verwandt werden sollen, um höhere Auszahlungen bei der Ablieferung zu erreichen (Suhl, Leipzig). Entsprechend vorliegenden Hinweisen hat die Mehrzahl der Bezirke Maßnahmen zur ständigen Sortierung der Kartoffelbestände bei den Großverbrauchern eingeleitet mit dem Ziel, einen weiteren Verderb einzuschränken. Der Bezirk Karl-Marx-Stadt weist daraufhin, dass die eingeleiteten Maßnahmen zur Einsparung von Kartoffeln und zur Verstärkung des eigenen Aufkom-

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mens zu keiner Veränderung der Situation führten und einige Großverbraucher nur noch für einige Tage bevorratet sind. Die bisher geschätzten Fehlmengen in einzelnen Betrieben sind beträchtlich und können durch Eigenaufkommen fast nicht mehr verringert werden (Gera ca. 1.200 t Kartoffeln, Dresden ca. 2.000 t nur für das I. Quartal 1961 usw.). Unzufriedene Diskussionen der Bevölkerung hinsichtlich der Kartoffelversorgung werden in Einzelfällen noch durch unrichtige Maßnahmen örtlicher Staatsoder Wirtschaftsorgane gefördert. So wurde z. B. in der medizinischen Akademie Dresden ein Aushang angebracht, in dem die Weisung über die Kürzung des Kartoffelverbrauchs bei der Speisezubereitung veröffentlicht wurde. Zu bemerken ist weiterhin noch, dass die Auslieferung der Waren an die Verkaufsstellen häufig infolge zu geringer Kapazitäten des Fuhrparks (u. a. Reifenmangel) oder durch Zersplitterung und Unübersichtlichkeit der Lager verzögert wird und aus den daraus zeitweise entstandenen Lücken im Warenangebot Missstimmungen unter der Bevölkerung entstehen (z. B. Ernstthal / Neuhaus / Suhl und Karl-Marx-Stadt). In den Diskussionen über die vorgenannten Probleme der Handelstätigkeit werden zunehmend Zweifel an der Errichtung der ökonomischen Hauptaufgabe zum Ausdruck gebracht, wobei stärker bestimmte Vergleiche mit der Westzone angestellt und zu ihren Gunsten erklärt werden. In landwirtschaftlichen Gebieten hat in diesem Zusammenhang auch die Argumentation wieder zugenommen, dass sich die Ernährungsgrundlage der DDR nach Gründung der Genossenschaften verschlechtert habe, was als Beweis für die „Überlegenheit“ der bäuerlichen Einzelwirtschaft ausgelegt wird. Direkte provokatorische Handlungen im Zusammenhang mit den aufgezeigten Versorgungsschwierigkeiten sind nicht bekannt geworden. Zur Versorgung der Bevölkerung mit verschiedenen Textilerzeugnissen: Das MfS erhielt in letzter Zeit eine größere Anzahl von Hinweisen, wonach das Angebot besonders in solchen Erzeugnissen wie Untertrikotagen, Kinderbekleidung, Babywäsche und Kinderschuhen in den notwendigen Größen und Sortimenten nicht ausreicht, wobei das Sortiment an Baumwollerzeugnissen als besonders unzureichend bezeichnet wird. Der Mangel an Burschenoberbekleidung wirkt sich infolge der erhöhten Nachfrage in Vorbereitung der Jugendweihen in allen Bezirken ungünstig aus und führt zu unzufriedenen Diskussionen in allen Bevölkerungskreisen. Dabei wird besonders darauf hingewiesen, dass diese Schwierigkeiten in jedem Jahr zu verzeichnen sind. Die Konsum-Verkaufsstellen des Kreises Perleberg / Schwerin hatten z. B. Ende Februar 1961 nur ein Angebot von insgesamt 14 Burschenanzügen. Der Handel ist nicht in der Lage, Auskunft über folgende Lieferungen zu geben, da in den Auslieferungslagern der Nachkauf nicht gewährleistet ist. Die Lage in der Versorgung mit Ober- und Untertrikotagen wird durch Nichtunterbringung von Verträgen bei den Herstellerwerken, Stornierung von Verträgen, Nichteinhaltung der Lieferfristen oder teilweise Plankürzungen charakterisiert. Im Bezirk Frankfurt/O. deckt z. B. der Plan 1961 den Bedarf nur mit ca.

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70 %; gegenüber 1960 sieht der Plan keine Steigerung der einzelnen Positionen vor. Der Bezirk Schwerin soll nur über ca. 1/3 der Ware gegenüber 1960, besonders in Oberbekleidung für Jugendliche, verfügen. In Groß-Berlin ergibt die Belieferung mit Untertrikotagen (Baumwolle) im 1. Halbjahr 1961 folgendes Bild: Bedarf für Berlin: 3.216 TStck Planmenge: 2.916 TStck Vertragl. gebunden: 2.801 TStck Der Bedarf an Knabenanzügen liegt in Berlin bei 19.000 Stück, vertraglich konnten aber erst 7.600 Stück gebunden werden. Das Angebot an Arbeits- und Oberhemden reicht nicht aus. Vorschlägen des Handels zur Verbesserung des Angebots wird vereinzelt durch administratives Handeln des Staatsapparates entgegengewirkt. So versuchten die Handelsorgane in Jena, da ausreichend Meterware für Arbeits- und Oberhemden vorhanden war, den Konsum in Apolda und Zwickau für Näharbeiten zu gewinnen. Ein Vertrag kam jedoch nicht zustande, da sich die Finanzämter nicht einig wurden, an wen die Steuern abzuführen sind. Von der Bevölkerung wird auch das unzureichende und vielfach geschmacklose Angebot an Kinderbekleidung für die Übergangssaison (Frühjahr) bemängelt. Häufig ist bei Hausfrauen die Meinung anzutreffen, dass die Produktionsbetriebe die Anfertigung von Erwachsenenbekleidung vorziehen würden, um den Plan eher zu erfüllen. Kinderschuhe in den Größen 23-36 und Lederschuhe in anderen Größen sind unzureichend im Handel. Der GHG Schuhe und Lederwaren Frankfurt/O. z. B. wurden für das Jahr 1961 50.000 Paar Schuhe aus dem Warenbereitstellungsplan gestrichen, was sich ungünstig im Angebot auswirkt. Das HO-Kaufhaus Greiz hat z. B. in der letzten Woche Februar 1961 sechs Paar Lederschuhe erhalten. In allen Bezirken wird der zzt. bestehende große Engpass an Windeln zu unzufriedenen Äußerungen besonders junger Mütter genommen. Der Jahresbedarf liegt in Berlin bei ca. 400 TStck Windeln, im 1. Halbj. 1961 konnten jedoch nur 105 TStck vertraglich gebunden werden. Die aus dem VEB „Planet“ Eppendorf noch aus dem IV./60 zu liefernde Menge von 14.000 Stück Windeln wird wegen Nichteinhaltung der Verträge, angeblich aufgrund von Produktionsumstellungen, nicht gebracht. In Gera und andern Bezirken gibt es bereits ernste Schwierigkeiten in der Versorgung der Entbindungsheime und Krankenhäuser mit Windeln. Eine ähnliche Lage ergib sich in der Bereitstellung von Wickeltüchern (Vertragsabschlüsse liegen bei ca. 50 %) und Erstlings-Ausstattungen. Aus der Mehrzahl der Bezirke liegen Äußerungen von Handelsfunktionären vor, dass es durch den Winterschlussverkauf nicht gelungen sei, die vorhandenen Überplanbestände entscheidend abzubauen. Die Käufer bezeichneten das Angebot vielfach als unmodisch und noch zu teuer. Bezeichnend ist, dass sich in letzter Zeit Hinweise bzw. Argumente bezüglich vermutlicher schleichender Preiserhöhungen in der Textilbranche mehren. Dabei wurde im Bezirk Leipzig z. B. Kinderbekleidung (vor allem Anoraks, Kleider und

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Mäntel) angeführt, die im vergangenen Jahr trotz gleicher Form und Qualität billiger verkauft wurde. 2.2. Die Stellungnahme zum Fünfjahrplan 1981-1985 Die HA (Hauptabteilung) XVIII war seit 1964 zuständig für die Sicherung und Kontrolle der volkswirtschaftlichen Bereiche, Objekte und Einrichtungen entsprechend der Struktur der Industriezweige der DDR einschließlich der Leitungsund Planungsorgane des Staatsapparates; Wirtschaftsspionageabwehr u. a., einschließlich des Außenhandels und des FDGB. Hauptabteilung XVIII Berlin, 2. Januar 198226 Leiter Persönlich Genossen Minister In konsequenter Durchsetzung Ihrer Befehle und Weisungen wird es als eine vordringliche Aufgabe aufgefaßt, die politisch-operative Abwehrarbeit zur Sicherung der Volkswirtschaft auf die Realisierung der vom X. Parteitag beschlossenen ökonomischen Leistungsentwicklung zu orientieren. Daraus wird die Verantwortung abgeleitet, auf Probleme hinzuweisen, die der von Ihnen mehrfach und erneut in der Rede zur Eröffnung des Parteilehrjahres am 9.10.1981 geforderten zuverlässigen Gewährleistung der inneren Stabilität und Sicherheit der DDR auf der Basis einer störungsfreien Wirtschaftsentwicklung entgegenstehen. In diesem Zusammenhang sehe ich mich veranlaßt, darüber zu informieren, daß Wirtschaftsfunktionäre, die aus jahrelangem kameradschaftlichem Zusammenwirken als standhafte und zuverlässige Genossen bekannt sind, sich zunehmend mit Besorgnis im Hinblick auf die Realisierbarkeit für erforderlich gehaltener zentraler volkswirtschaftlicher Entscheidungen an mich und in Einzelfällen an Abteilungsleiter der Hauptabteilung XVIII wenden. In weiterer Durchführung des von Ihnen im Oktober 1980 erteilten Auftrages wird eine zusammengefaßte Ausarbeitung vorgelegt, die unter Berücksichtigung des am 25.11.1980 übergebenen Materials zu Grundfragen einer stabilen Leistungsentwicklung der Volkswirtschaft der DDR Aussagen über sicherheitspolitisch einzuordnende Probleme, besonders im Hinblick auf die zunehmend wachsende Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit der DDR im Jahre 1982 gegenüber Staaten und Einrichtungen des nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes enthält. In der Ausarbeitung werden überwiegend Aussagen zu Querschnittsproblemen getroffen, die unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten sich als die neuralgischsten Probleme darstellen. Dem Material liegen Einschätzungen sachkundiger und verantwortungsbewußter Wirtschaftsfunktionäre in leitenden Funktionen zugrunde. In vertraulichen 26 BStU MfS – HAX VIII, Nr. 4693

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Berichterstattungen und Äußerungen dieser Genossen ist häufig erkennbar, daß sie keine Möglichkeit sehen, Bedenken an zentral vorliegenden Leistungszielen, die sie selbst für unreal halten, zu äußern, zumal damit keine Veränderungen bewirkbar seien. In diesem Zusammenhang werden verstärkt Gedanken in der Richtung erwogen, gegenwärtig ausgeübte leitende Funktionen zur Verfügung zu stellen, um mit solchen Signalen der Verantwortung gerecht zu werden. Daneben existieren Erscheinungen der Resignation und Gleichgültigkeit, besonders in der mittleren leitenden Ebene. In jedem Fall wurde eine prinzipielle Antwort im Sinne der Einhaltung und Durchführung der Beschlüsse der Partei erteilt und die Notwendigkeit unterstrichen, alles zu unternehmen, die Denkprozesse weiterzuführen, um konstruktive Lösungswege und Entscheidungsvorschläge zu entwickeln. Es ist häufig die Auffassung anzutreffen, daß zentrale Entscheidungen unzureichend objektiven Verflechtungs- und Kooperationsbeziehungen Rechnung tragen bzw. nicht ausreichend ausgewogen, gründlich durchdacht und auf ihre Konsequenzen hin beurteilt, vorbereitet und gefaßt werden. Teilweise werden solche Entscheidungsprozesse als „Aktionen“ aufgefaßt, wo einheitliche Standpunkte „herbeigeführt“ und der Parteiführung „Zusicherungen“ gegeben werden, hinter denen man bereits zum Zeitpunkt ihrer Abgabe nicht stehen könne. Es sind persönliche Bedenken und Befürchtungen bei mittleren und leitenden Wirtschaftskadern, sich offiziell zu den vorgenannten Auffassungen und Haltungen zu erklären. Aus diesen Gründen und aus einer prinzipiell ausgeprägt vorhandenen Disziplin wird zentral erteilten Auflagen und Anforderungen zugestimmt bzw. werden dementsprechende Entscheidungsvorlagen eingereicht und Lösungen unterbreitet, die in ihren gesamtvolkswirtschaftlichen Auswirkungen nicht oder kaum beherrscht werden. So sei die Verpflichtungsbewegung gegenüber dem Generalsekretär des ZK der SED anläßlich der Tagung und des Erfahrungsaustausches des Zentralkomitees mit Generaldirektoren zentralgeleiteter Kombinate am 28./29.4.1981 in Leipzig, wichtige Steigerungsraten zu erhöhen und in den Volkswirtschaftsplan für 1981 aufzunehmen, auf der Grundlage von verschiedenen Fragebogen, die innerhalb von 24 Stunden auszufüllen gewesen wären, zustande gekommen. Für unreal wird des weiteren die Zielstellung gehalten, bis 1985 die WestVerschuldung in etwa zu halbieren, das heißt auf ca. 12,6 Mrd. DM zu reduzieren. Aus Beratungen der Wirtschaftskommission beim Politbüro heraus an den Generalsekretär des ZK der SED gegebene schriftliche Zusicherungen über perfekte Lösungen zum Ausgleich der reduzierten Erdöllieferungen aus der UdSSR (Briefe vom 10.8.1981, 20.8.1981 und 20.10.1981) werden nach vorliegenden Erkenntnissen selbst solchen Genossen, die die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz sachkundig einzuschätzen vermögen, als Selbsttäuschung beurteilt. Eine Grundfrage der volkswirtschaftlichen Praxis ist, daß im Interesse der Zahlungsbilanz immer wieder kurzzeitige Lösungen durch taktische Schritte in

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der Außenwirtschaft praktiziert werden, die weitere Belastungen mit sich bringen und in ihrer Langzeitwirkung schwer überschaubar sind. Im Zusammenhang mit derartigen Informationen und Einschätzungen sichtbar werdende Auswirkungen und Probleme werden in der beiliegenden Ausarbeitung aufgearbeitet. Kleine Generalmajor Von der Ausarbeitung wurden 4 Exemplare gefertigt. Das Original wird Ihnen übergeben, eine Kopie Ihrem Stellvertreter, Genossen Generalleutnant Mittig. Zwei Exemplare befinden sich in meinem Besitz. Hauptabteilung XVIII Berlin, 2. Januar 1982 Die anspruchsvollen Zielsetzungen des Volkswirtschaftsplanes 1982 und des Fünfjahresplanes 1981-1985 sind in ihrer Realisierung entscheidend von der vollständigen Erfüllung der Zielstellungen im Volkswirtschaftsplan 1981 abhängig. Von der 3. Tagung des Zentralkomitees der SED wurden die entscheidenden Führungsgrößen auf der Grundlage der Beschlüsse des X. Parteitages der SED und für die Umsetzung der Schwerpunkte der ökonomischen Strategie im begründeten Vertrauen auf die Arbeiterklasse, die Leistungsbereitschaft unserer Werktätigen und die stabilen sozialökonomischen Voraussetzungen in allen Bereichen der materiellen Produktion herausgearbeitet. Aus vorliegenden Informationen über Reaktionen leitender Kader in den zentralen wirtschaftsleitenden Organen auf die sachliche und optimistische Orientierung durch die Parteiführung wird die Bereitschaft deutlich, trotz bedeutender Belastungen für die Volkswirtschaft und der sich als äußerst kompliziert darstellenden Probleme bei der Bilanzierung der Kennziffern der Volkswirtschaftspläne durch hohe Arbeitsleistungen sich den Anforderungen zu stellen. Diese Grundhaltung ist, wenn auch differenziert, für leitende Wirtschaftskader mit zentralem Überblick bzw. umfangreichen Kenntnissen über volkswirtschaftliche Zusammenhänge festzustellen. Zuverlässige und überprüfte, für die Erarbeitung nachfolgender Probleme differenziert genutzte inoffizielle Quellen aus dem vorgenannten Kreis leitender Kader in der Ebene zentraler staatlicher wirtschaftsleitender Organe und Einrichtungen identifizieren sich mit den sicherheitspolitischen Aufgaben des MfS. Ihre durch Sachkenntnis fundierten Meinungen und Standpunkte machen auf volkswirtschaftlich bedeutende Prozesse und Faktoren in Verbindung mit der Einschätzung der gegenwärtigen Lage aufmerksam. Die im Zusammenhang mit der im November 1980 erarbeiteten volkswirtschaftlichen Lageeinschätzung bereits konsultierten ausgewählten patriotischen Kräfte verweisen darauf, daß die zum damaligen Zeitpunkt herausgearbeiteten Grundfragen, die die weitere planmäßige und proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR entscheidend beeinflussen, sich unter den gegenwärti-

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gen Bedingungen im Hinblick auf die entscheidende Frage, die Zahlungsfähigkeit der DDR zu garantieren, weiter verschärft haben. Stand der Zahlungsbilanz gegenüber dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet Am 17.12.1981 weist die Zahlungsbilanz gegenüber dem Westen einen Saldo aus Forderungen und Verbindlichkeiten in Höhe von -25,6 Mrd. DM (1980: 24,5 Mrd. DM) aus. Darunter in konvertierbaren Devisen (KD) -22,1 Mrd. DM. (Der Dollaranteil bei KD umfaßt 67 %. Das entspricht einer anteiligen Summe von 14,57 Mrd. DM zum Umrechnungskurs 1 Dollar = 1,80 DM (West) Bei Anwendung des ab 1.1.1982 geltenden realen Umrechnungskurses von 1 Dollar = 2,40 DM erhöht sich der Negativsaldo um 4,85 Mrd. DM auf 19,43 Mrd. DM. Unter Zugrundelegung dieser Neubewertung ergibt sich somit eine Gesamtverschuldung per 1.1.1982 von ca. 30,5 Mrd. DM.) Dem Volkswirtschaftsplan lag 1981 die Zielsetzung zugrunde, durch eine Steigerung des West-Exports um 43 % gegenüber 1980 einen Exportüberschuss von 2,7 Mrd. DM zu erwirtschaften. Diese anspruchsvolle Zielsetzung bildete den Ausgangspunkt, um den Ansatz dafür zu schaffen, den in der Fünfjahrplankonzeption 1981-1985 angestrebten Aufbau der Verschuldung der DDR gegenüber dem NSW zielstrebig zu realisieren. Grundsätzliche Beratungen des Vorsitzenden der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED mit dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Mitgliedern des Ministerrates und Ministern im III. Quartal 1981 führten gegenüber dem Generalsekretär des ZK der SED zu der verbindlichen Aussage, daß Voraussetzungen geschaffen sind, beginnend mit dem Jahre 1981 die zum damaligen Zeitpunkt bestehende Verschuldung in Höhe von 24,5 Mrd. DM stufenweise auf 12,6 Mrd. DM im Jahre 1985 zu verringern. Die staatliche Auflage West-Export 1981 in Höhe von 14,8 Mrd. DM (West) weist am 30.11.1981 einen Planrückstand in Höhe von 1,94 Mrd. DM aus. Das entspricht einer Erfüllung der staatlichen Auflage mit 85 %. Entgegen der für 1981 gegenüber 1980 geplanten West-Exportsteigerung um 43 % werden ca. 26 % real erreicht. Die Nichterfüllung des West-Exportplanes wird auf noch fehlende Verträge im West-Export zurückgeführt. Es wurde entschieden, die dafür spezifizierten Exportwaren zugunsten des Absatzes 1982 einzulagern. Überprüfungen zum Nachweis der einzulagernden Exportwaren legen offen, daß tatsächlich Exportfonds nur in Höhe von 758,9 Mio. DM verfügbar sind. Exakt für den West-Export im I. Quartal 1982 sind Exportwaren für 477,7 Mio. DM eingelagert; für 119,8 Mio. DM erfolgten Vorauslieferungen an sozialistische Länder für 1982; für 161,4 Mio. DM erfolgten Vorauslieferungen für die Bevölkerungsversorgung an den Binnenhandel für 1982, die dann 1982 aus der Neuproduktion wieder für den West-Export verfügbar sind. Ein Volumen von 815,0 Mio. DM kann nicht in die Verkaufsarbeit für 1982 einbezogen werden. Es handelt sich hierbei um Exportwaren und Leistungen, die

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durch nicht erfolgte Vertragsabschlüsse mit dem Westen nicht realisiert werden können. Das sind besonders Dienstleistungen, Monteurleistungen, know how und nicht gesicherte Zulieferungen für den Anlagenexport. Nach bisherigen Berechnungen ist dem Volkswirtschaftsplan 1982 ein WestExport in Höhe von 17,40 Mrd. DM zugrunde gelegt. Dies entspricht einer Steigerung des West-Exports gegenüber 1981 um etwa 34 % zum tatsächlich erreichten Erfüllungsstand 1981. Der West-Exportplan 1982 ist (Stand vom 21.12.81) mit Exportwaren in Höhe von 15,61 Mrd. DM bisher materiell untersetzt (rund 86,5 % zum Jahresplan). Die Vertragsbindung erfaßt ein Volumen von 6,65 Mrd. DM (38,2 % zum Jahresplan), wobei anteilig für das I. Quartal 1982 Exportwaren in Höhe von 3,22 Mrd. DM (18,5 % zum Jahresplan) materiell nachgewiesen sind. Wird das bisher materiell spezifizierte Exportvolumen dem operativen Valutaplan für das I. Quartal 1982 zugrunde gelegt, ergibt sich ein offenes Bargeldproblem bei konvertierbaren Devisen von 259 Mio. DM für das I. Quartal 1982. (Das offene Bargeldproblem an konvertierbaren Devisen für das Jahr 1982 besteht in Höhe von 1,019 Mrd. DM, so daß die Hauptprobleme im II.-IV. Quartal 1982 noch zu lösen sind.) Eine besondere Anspannung des Valutaplanes für 1982 entsteht daraus, daß die Aufwendungen für den Schuldendienst im Westen insgesamt 5,3 Mrd. DM betragen. Sie sind um 1,1 Mrd. DM höher als zu Beginn des Jahres 1981. Die Valutaeinnahmen aus Exporten, Dienstleistungen und anderen Faktoren, die Einschüsse aus Sondermitteln und die Neuaufnahme von Bargeldkrediten – das sind insgesamt 3,9 Mrd. DM – reichen noch nicht aus, um die Aufwendungen für den Schuldendienst von insgesamt 4,4 Mrd. DM zu decken. Für den Volkswirtschaftsplan 1982, insbesondere die Realisierung des WestImportplanes in Höhe von 11,1 Mrd. DM sowie für die Tilgung fälliger Zinszahlungen in Höhe von 5,3 Mrd. DM, haben die Außenhandelsbanken der DDR die Aufgabe, Bargeldkredite in Höhe von 2,0 Mrd. DM und Warenkredite in Höhe von 4,6 Mrd. DM zu mobilisieren. Für Warenkredite wird die Zielstellung für das I. Quartal 1982 in Höhe von 1,5 Mrd. DM bisher mit 700-800 Mio. DM als gesichert eingeschätzt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen keine verbindlichen Aussagen darüber vor, daß es der Deutschen Außenhandelsbank AG (DABA) gelingen wird, die Bargeld- und Warenkredite im erforderlichen Umfang zu realisieren. Seit Anfang 1980 zeichnet sich eine grundlegende Veränderung hinsichtlich der Beschaffbarkeit der Kredite ab. Die Ursachen dafür liegen in einer geringeren Bereitschaft der kapitalistischen Banken, Kredite an Banken in den sozialistischen Staaten auszureichen. Die Zurückhaltung und Abwarteposition der West-Banken in bezug auf Abschlüsse neuer Kreditvereinbarungen hat sich weiter verschärft. Banken, zu denen stabile Geschäftskontakte bestehen, schließen für die nächste Zukunft einen Neuabschluß von Kreditvereinbarungen aus. Dabei werden folgende Hauptargumente aufgeführt:

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- Die allgemeine Unsicherheit in der internationalen politischen Situation, insbesondere in Verbindung mit der Lage in der VR Polen und Rumänien und ihre möglichen Auswirkungen auf andere RGW-Länder. - Die in der Hetzkampagne gegen die DDR veröffentlichten Zahlen über die Verschuldung der Banken der DDR führen dazu, daß auch höhere Gewinne aus den Krediten die Banken nicht für eine Kreditvergabe stimulieren. 1. Die langfristig abgestimmte wirtschaftliche Zusammenarbeit der DDR mit der UdSSR ist die stabile Grundlage für die Leistungsentwicklung der Volkswirtschaft der DDR. Die kontinuierliche Lieferung von Energieträgern, Rohstoffen und Ausrüstungen gestattete in den zurückliegenden Jahren eine stabile Wirtschaftsentwicklung und war bis in die Gestaltung der Preis- und Kreditbedingungen vorteilhaft für die DDR. Wie erinnerlich, verwies der Generalsekretär des ZK der KPdSU während des Krimtreffens im August 1980 mit dem Generalsekretär des ZK der SED in Zusammenhang mit der Einschätzung des Standes zur Abstimmung der Außenwirtschaftsbeziehungen mit dem Westen auf Grundfragen der Zahlungsbilanz, der Abwicklung von Handelsbeziehungen mit dem Westen auf Kompensationsbasis, der Rohstoffexporte (Erdölprodukte) in den Westen darauf, daß die UdSSR der Lage der DDR Verständnis entgegenbringt, jedoch die Nutzung der Möglichkeiten des Kapitalismus bei Ausschließung der Gefahr politischer Konsequenzen, von beiderseitigem Interesse sein muß. Beratungen auf der Ebene des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission und des Planungskomitees der UdSSR besonders im September / Oktober 1981 machten deutlich, daß infolge zunehmender Belastungen und notwendiger Umverteilungen der Mittel und Ressourcen in der UdSSR Teilreduzierungen in den Lieferungen an die Länder der sozialistischen Gemeinschaft dringend notwendig wurden. Die Beratungen ergaben, daß die UdSSR vor der Notwendigkeit stand, u. a. im Interesse des Lebensmittelprogramms in der UdSSR Reduzierungen in den Erdöllieferungen gegenüber den sozialistischen Ländern, darunter gegenüber der DDR in Höhe von 2,1 Mio. Tonnen pro Jahr (t/a) ab 1982, zu beschließen. 2. Unter dem Gesichtspunkt der Lage in der Zahlungsbilanz gegenüber dem Westen und der Notwendigkeit der absoluten Steigerung des West-Exports wurde durch die Partei- und Staatsführung entschieden, die Konsequenzen aus der Reduzierung der Erdöllieferungen aus der UdSSR durch tiefgreifende Spar- und Substitutionsmaßnahmen im Innern der DDR abzufangen. Grundlegende Veränderungen wurden sowohl für den Fünfjahrplan 19811985 und besonders für den Volkswirtschaftsplan 1982 beim Einsatz von Brennstoffen und insbesondere flüssigen Energieträgern wirksam. Getroffene Entscheidungen orientieren auf den stärkeren Einsatz einheimischer Braunkohle, die Optimierung der Transportprozesse und Güterströme, die tiefere Spaltung des Erdöls und die schnellere Entwicklung der Carbochemie. Für den Verbrauch flüssiger Energieträger wurden neue Limite ausgearbeitet, die 1982 gegenüber 1981 bei Heizöl 74 % (- 1.485 Kilotonnen), bei Dieselkraft-

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stoff 79% (- 790,4 kt), bei Vergaserkraftstoff für die Wirtschaft (ohne Bevölkerung) 69% (- 237,8 kt) betragen. Diese Limitierung von Erdölprodukten geht davon aus, daß 1982 die für den technologischen Prozeß in der Erdölverarbeitung in der chemischen Industrie erforderliche Ersatzmenge von mindestens 18,5 Mio. t Erdöl / Jahr in Höhe von 18,8 Mio. t (einschließlich 2 Mio. t Intrac-Geschäft) bereitstehen. Die Importreduzierungen bei Erdöl (2,1 Mio. t/a) werden nach gegenwärtigen Festlegungen vorwiegend im Inland durch Einsparungen von Heizöl, Dieselkraftstoff, Vergaserkraftstoff und andere Erdölprodukte aus 1,5 Mio. t/a Erdöl abgefangen. An Lösungswegen und Entscheidungen für die Substituierung von 865 kt wird noch gearbeitet. (Der Import von anteilig 668 kt aus dem Westen ist beabsichtigt.) 3.1. Gegenwärtig werden die komplizierten Bilanzierungs-, Transport- und Versorgungsprobleme insbesondere bei der Reduzierung von Dieselkraftstoff noch nicht beherrscht. Für die Sicherung des Berufs-, Schüler- und Reiseverkehrs sowie der volkswirtschaftlich notwendigen Gütertransporte stehen dem Verkehrswesen und dem Wehrverkehr für das Jahr 1982 1.421 kt Dieselkraftstoff zur Verfügung. Das sind 510 kt oder 26 % weniger als der voraussichtliche Verbrauch 1981. In Durchsetzung einer energieoptimalen Arbeitsteilung zwischen den Verkehrszweigen und der damit verbundenen entschiedenen Zurückdrängung des energieaufwendigen Straßenverkehrs (bezogen auf den Tonnenkilometer ist der spezifische Dieselkraftstoffverbrauch beim Kraftverkehr im Durchschnitt etwa 3mal so hoch wie bei der Eisenbahn und 3,7mal so hoch wie bei der Binnenschiffahrt) liegen dem Volkswirtschaftsplan 1982 folgende verringerte Dieselkraftstoffkontingente gegenüber 1981 zugrunde: -

Eisenbahn Binnenschiffahrt öffentlicher Kraftverkehr Werkverkehr

92 kt oder 10 % 2 kt oder 7 % 187 kt oder 32 % 225 kt oder 59 %

Diese Konzeption setzt eine Verringerung der Transportleistung um 10,3 Mrd. tkm, das sind 16 %, und der Transportmenge um 290 Mio. t, das sind 30 %, voraus. Dabei wurden bereits spezifische Senkungen der Transportentfernungen, z. B. bei der Eisenbahn um 6,5 % und im Werkverkehr um 10 % zugrunde gelegt. Diese im Volkswirtschaftsplan 1982 enthaltene Verteilung der Leistungen auf die einzelnen Verkehrszweige bedeutet, daß die Eisenbahn im Binnengüterversand 16 Tagesleistungen gegenüber 1981 mehr einbringen muß, auf der Straße jedoch nur halb so viel Güter wie in diesem Jahr transportiert werden können. Die Reduzierung der Gutmenge im Straßentransport um etwa 300 Mio. t entspricht in ihrer Größenordnung der Jahrestransportmenge im Binnenverkehr bei der Eisenbahn. Nach vorliegenden Informationen aus den Bezirken ist die Verringerung der Transportleistungen auf der Straße um 210 Mrd. tkm gegenwärtig nur etwa zu einem Drittel durch bedarfssenkende Maßnahmen und zu erwartende Optimierungsergebnisse untersetzt.

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Die erforderliche hohe Senkung in den Transportleistungen und im Dieselkraftstoffverbrauch gestattet es noch nicht, volkswirtschaftlich notwendige Transporte im erforderlichen Maße zu sichern. 3.2. Gemäß Beschluß des Präsidiums des Ministerrates vom 1.10.1981 zur beschleunigten Durchsetzung der Optimierung der Liefer- und Transportbeziehungen im Verkehrswesen und in den Zweigen der Volkswirtschaft muß, ausgehend von den für 1982 zur Verfügung stehenden Kontingenten an Energieträgern, gegenüber dem voraussichtlichen Ist 1981 eine Senkung der Gütertransportleistungen um etwa 10 Mrd. tkm erreicht werden. Ein Maßstab für den erreichten Stand in der Durchsetzung der Transportoptimierung ist das Einsparungsniveau in der Transportleistung im Vergleich zu den Transportkennziffern. Während das Bauwesen eine Einsparung von 6,1 % und der Bereich Kohle und Energie eine Einsparung von 4,6 % – bezogen auf die Planauflage 1982 für den Eisenbahntransport – erzielen, beträgt dieses Verhältnis für den Bereich Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft nur 1,7 %, für den Bereich Erzbergbau, Metallurgie und Kali nur 1,4 % und für die chemische Industrie nur 0,8 %. Diese differenzierten Ergebnisse in den Bereichen der zentralgeleiteten Industrie stellen sich ähnlich im Verantwortungsbereich der Räte der Bezirke dar. Vom Rat des Bezirkes Dresden erfolgte eine Aufgliederung der Kontingente an Dieselkraftstoff für 1982 in Höhe von 14,2 kt anteilmäßig mit 5,1 kt für den Werkverkehr und 9,1 kt für den stationären Verbrauch. Unter Betrachtung der für die Gewährleistung der Bevölkerungsversorgung dringendsten Erfordernisse erfolgte eine differenzierte Aufgliederung der 5,1 kt für den Werkverkehr in den Bereichen Handel und Versorgung, örtliche Versorgungswirtschaft und Bauwesen (bezirksgeleitet), wobei für die noch erforderlichen weiteren Einsparungen im Bereich Handel und Versorgung 35 % der anstehenden Transportleistungen noch nicht untersetzt sind. In den Verantwortungsbereichen des Rates des Bezirkes Leipzig, die mit Dieselkraftstoff zu versorgen sind, werden 1981 voraussichtlich 12,1 kt Dieselkraftstoff verbraucht. Dem steht ein Kontingent für 1982 von 4,1 kt gegenüber. Das hat zur Folge, daß in den Verantwortungsbereichen des Rates eine Senkung des Dieselkraftstoffverbrauchs um 66,2 % eintritt, darunter beispielsweise in der bezirksgeleiteten Industrie, einschließlich der örtlichen Versorgungswirtschaft, um 82,1 %, im Bauwesen um 65 % und bei Handel und Versorgung um 55,5 %. Die Bereiche Gesundheitswesen, Kultur, Sport und Wohnungswirtschaft behalten etwa 40 % ihres Kontingentes von 1981. Die Leistungssteigerung der Industrie, des Bauwesens, der Landwirtschaft sowie im Dienstleistungs- und im Versorgungsbereich wird gegenwärtig nur mit ca. 8-9 % zur absoluten Senkung des Produktionsverbrauchs an Dieselkraftstoff abgedeckt. Die geplante Senkung von 66,2 % wird noch nicht erreicht. Im Bereich des örtlichen Bauwesens beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt wurden im Dezember 1981 Entscheidungen getroffen, die nicht in Übereinstimmung mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei stehen und Einschränkun-

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gen im Wohnungsbau zur Folge haben. Ein nicht exakter Einsatz vorgegebener Limite für den Kraftstoffverbrauch führte dazu, den Transport von Wand- und Deckenelementen für den Wohnungsbau nach bestimmten Standorten im Erzgebirge (Oberwiesenthal / Aue) einzustellen. Dies trifft auch zum Teil auf die Anlieferung von Großblockelementen bei abgelegenen Standorten (Klingenthal, Plauen/Land, Auerhammer, Olbernhau) zu. Zum 1.12.1981 wurden 68 LKW und 32 Baumaschinen stillgelegt, die dritte Schicht bei Großgeräten eingestellt und 130 Arbeitskräfte im manuellen Tiefbau eingesetzt. Diese am 10.12.1981 durch den Vorsitzenden des Ministerrates prinzipiell behandelte und durch Festlegung geklärte Situation verweist sowohl auf vorhandene subjektive Faktoren, aber auch gleichzeitig darauf, daß ausgehend von den vorgenannten Beispielen die einschneidenden Kürzungen der Treibstoffkontingente zu inneren Problemen führen bzw. als verschärfender Faktor wirken. Durch zusätzliche Bereitstellung von 1,35 kt Dieseltreibstoff aus zentralen Fonds wurde eine Verminderung der Belastung erreicht und die Planerfüllung im Bauwesen des Bezirkes gesichert. Zuverlässig und inoffiziell wurde dazu aus der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik mit Stand vom 30.11.1981 eine reale Einschätzung des Standes der Erfüllung des Wohnungsbauprogramms 1981 erarbeitet: Im Wohnungsbau bestehen weiterhin Rückstände in den Wohnungsbaukombinaten (WBK). Bis Ende November 1981 wurden durch die Wohnungsbaukombinate insgesamt 75.522 Wohnungseinheiten (WE) fertiggestellt. Die Planerfüllung beträgt 98,8 % (Untererfüllung = 902 WE). 8 Wohnungsbaukombinate erreichten keine Planerfüllung. Das betraf: WBK Rostock WBK Berlin WBK Karl-Marx-Stadt WBK Frankfurt/O. WBK Erfurt WBK Neubrandenburg WBK Potsdam WBK Dresden

(Rückstand = 338 WE) (301 WE) (277 WE) (276 WE) (275 WE) (137 WE) (108 WE) und ( 75 WE)

Weiterhin erhöht haben sich die Rückstände im Wohnungsbau in den Kreisen der Republik. Ende November bestanden in 43 Kreisen Rückstände im Wohnungsbau von insgesamt 2.312 WE (Ende Oktober: 32 Kreise / 1.668 WE). Rund 60 % dieser Rückstände konzentrierten sich auf die Kreise Stralsund-Stadt (266 WE), Löbau (183 WE), Erfurt-Stadt (172 WE), Pirna (168 WE), Eberswalde (165 WE), Bernau (132 WE), Rostock-Stadt (125 WE), Reichenbach (100 WE) sowie Rathenow (96 WE)

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Diesen Ergebnissen entgegen wird eine Erfüllung für den Wohnungsbau insgesamt von 108,8% ausgewiesen. In dieser Abrechnung sind 9.189 WE aus Umund Ausbaumaßnahmen enthalten. Ohne diese WE beträgt die reale Planerfüllung im Wohnungsneubau bis Ende November 1981 nur 99,8 %. 3.3. Das Bauwesen der DDR erhält 1982 nach der von der Staatlichen Plankommission erarbeiteten Variante 2 bei den Energieträgern Heizöl nur 35,3 %, Dieselkraftstoff nur 87,6 %, Vergaserkraftstoff nur 56,6 % der im Jahre 1981 zur Verfügung stehenden Menge. Die Reduzierung des Heizöleinsatzes im Bauwesen auf rund 1/3 des bisherigen Verbrauchs hat erhebliche Auswirkungen auf die Baumaterialienindustrie, insbesondere auf die Produktion von Zement und Mauerziegeln. Zementindustrie: Es ist vorgesehen, 4 Drehrohröfen (davon 2 bis Mai 1982 im Zementwerk Deuna) auf den Einsatz anderer Energieträger (Rohbraunkohle, Braunkohlenstaub) umzustellen. Die dafür benötigten Kohlenstaubbrenner sollen entweder vom SKET (Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“) Magdeburg produziert oder aus dem Westen importiert werden. Ungelöst ist auch die Bereitstellung von Spezialwaggons zum Transport von Braunkohlenstaub bzw. Steinkohleabrennstaub für das Zementwerk Deuna. Ziegelindustrie: In der Ziegelindustrie sind 20 Tunnelöfen auf Braunkohlenstaubfeuerung umzustellen. Die dafür benötigten Ausrüstungen, z. B. spezielle Brenner, sind bisher nicht bilanziert. Da die im eigenen Bereich vorgesehene Produktion nicht möglich sein wird, sind diese Ausrüstungen, deren Wertumfang an eventuellen Devisenaufwendungen noch nicht bekannt ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Westen zu importieren. Umstellungen sollen bis 30.6.1982 erfolgt sein. Falls keine Lösungen gefunden werden, ist mit der Stillegung von ca. 20 Betrieben bzw. Betriebsteilen zu rechnen. Von der Heizölumstellung sind im Bauwesen u. a. 79 Objekte betroffen, die ursprünglich erst 1983/84 dafür vorgesehen waren und wofür über 40 Mio. Mark Investitionsmittel benötigt werden. Über die Auswirkungen auf das örtlich geleitete Bauwesen (hier reduziert sich der Heizöleinsatz auf weniger als 1/3) liegen derzeit keine Hinweise vor. Der vom Ministerium für Bauwesen erarbeitete Maßnahmenplan zur Dieselkraftstoffeinsparung hat zum Inhalt, den Bedarf für Werkverkehr 1982 auf ca. 40 % des Verbrauchs von 1981 zu reduzieren. Inwieweit die vorgesehene Verlagerung eines Großteils der Transporte auf die Reichsbahn bzw. die Schiffahrt realisierbar ist, kann zur Zeit nicht eingeschätzt werden, weil die Abstimmung mit dem Ministerium für Verkehrswesen noch nicht erfolgt ist. Von den Transportleistungen entfallen ca. 60 % auf Erdstofftransporte, ca. 30 % auf Elementetransporte und

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ca. 10 % auf Versorgungsfahrten. Da bei Elementetransporten und Versorgungsfahrten keine Reduzierungen vorgesehen sind, entfallen die Absenkungen ausschließlich auf Erdstofftransporte. Ab 1982 beträgt die Durchschnittsnorm für m3-Erdstofftransporte nicht mehr 10 km, sondern nur noch 2 km. Auswirkungen: - In den Wohngebieten werden Schuttberge entstehen. - LKW müssen stillgelegt werden. - Kraftfahrer werden frei und müssen in andere Tätigkeiten umgesetzt werden. Die Reduzierung der Bereitstellung von Bitumen für das Bauwesen von 200 kt (1981) auf 40 kt (1982) hat zur Folge, daß 1982 Bitumen nur für LVOVorhaben, für den mit der BRD vereinbarten Autobahnneubau und zur Produktion von weichen Dachbelägen (Dachpappe) zur Verfügung steht. Die Restmenge von 5 kt reicht nach vorliegenden Hinweisen nicht aus, notwendige Straßenunterhaltungsmaßnahmen durchzuführen. Ausweichlösung: Einsatz von Zement/Beton Mit der zu erwartenden Senkung der Zementproduktion bei gleichzeitig geringerem Bitumenaufkommen sinkt, so wird inoffiziell eingeschätzt, der Bedarf an Zuschlagstoffen (Kies, Splitt). Diese Situation kann zur zeitweiligen Stillegung von Gruben und im Zusammenhang damit zur Umsetzung von Arbeitskräften führen. Die Umrüstung dieselbetriebener Baumaschinen auf Elektroantrieb hat zur Folge, daß die Elektroenergiekontingente für das Bauwesen erhöht werden müssen. 3.4. Die Einsparung an flüssigen Energieträgern beeinflußt wesentlich die Entscheidungen zur Durchführung von Substitutionsmaßnahmen auf der Basis des höheren Einsatzes einheimischer Braunkohle zur Erzeugung von Elektroenergie, Wärmeenergie und als Basisrohstoff für die Carbochemie. Dem Ministerium für Kohle und Energie ist die Aufgabe gestellt, die Rohbraunkohleförderung bis 1985 auf 290 t/a zu steigern. Die mit Beschluß des Politbüros vom 24.3.1981 geforderte Fördermenge von 290 Mio. t Rohbraunkohle sowie die aus zwischenzeitlich gestiegenen Anforderungen vorgegebene staatliche Aufgabenstellung zum Fünfjahrplan 1981-1985 in Höhe von 292 Mio. t im Jahre 1985 erfordern zwingend hohe Leistungen des Maschinenbaus, Bereich Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau, zur materiell-technischen Untersetzung der staatlichen Aufgabenstellung. Die staatliche Aufgabenstellung Tagebauanlagen mit einem Aufkommen von 4.549,5 Mio. M bis 1985 enthält eine inlandseitige Verteilung von 2.866,9 Mio. M, die verbindlich festgelegt ist. Sie beinhaltet Tagebauanlagen in Höhe von 2.834,2 Mio. M für das Ministerium für Kohle und Energie. Die Forderungen des

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MKE-Bereichs für den Zeitraum 1981-1985 beinhalten Ausrüstungen für 30 Tagebaue (Bitterfeld 14, Senftenberg 16). Mit den 2.834,2 Mio. M können 29 Tagebaue ausgerüstet werden. Entsprechend der am 4.11.1981 durchgeführten Abstimmung zwischen dem Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau, dem Ministerium für Kohle und Energie und der Staatlichen Plankommission (Energiewirtschaft) können die Forderungen des Ministeriums für Kohle und Energie für die Tagebaue 1. Reichwalde 2. Espenhain 3. Scheibe

mit 118 Mio. M mit 57 Mio. M und mit 5,3 Mio. M

nicht eingeordnet werden. Darüber hinaus bestehen aus kapazitiven Gründen gegenüber den Forderungen des Ministeriums für Kohle und Energie auch Termindifferenzen zu - Welzow-Süd - 6 Monate, - Goitzsche - 15 Monate, - Groitzscher Dreieck - 9 Monate. Der Maschinenbau stellt im Rahmen der 2,8 Mrd. M im Planungszeitraum 1981-1985 dem Ministerium für Kohle und Energie 64 Tagebaugeräte mit einem Volumen von 1.186,9 Mio. M (rund 42 %) bereit und arbeitet 17 Geräte mit einem Volumen von 197,1 Mio. M (rund 7 %) für die Inbetriebnahme nach 1985 an. Dazu gibt es bei 3 Geräten Termindifferenzen. An Bandanlagen werden bereitgestellt 1.218,1 Mio. M (rund 43 %) und 156,2 Mio. M (rund 6 %) für eine Inbetriebnahme nach 1985 angearbeitet. An Hilfsgerätetechnik wird ein Volumen von 75,8 Mio. M (rund 2 %) bereitgestellt. Weitergehend wird vom Ministerium für Schwermaschinen- und Anlagenbau und der Staatlichen Plankommission, Abteilung Maschinenbau, festgestellt, daß eine Erhöhung der Bereitstellung von Tagebaugeräten und Bandanlagen entsprechend weitergehender Forderungen des Ministeriums für Kohle und Energie über die staatliche Aufgabenstellung von 2,8 Mrd. M hinaus nur bei gleichzeitiger Reduzierung der staatlichen Aufgabenstellung NSW-Export / SW-Export in Abhängigkeit vom Gerätesortiment von Tagebauanlagen entschieden werden kann. 4. Die ausgewiesenen Hauptkennziffern des Volkswirtschaftsplanes 1982 und des Fünfjahrplanes bis 1985 haben entsprechende Konzeptionen der Industrieministerien unter Berücksichtigung der notwendigen Einsparungen an flüssigen Energieträgern zur Grundlage. Die Konzeptionen der Industrieministerien stellen unter dieser Sicht Lösungen für einzelne Industriezweige dar. Jedoch ist nach Meinung von Experten bisher die gesamtvolkswirtschaftliche Verflechtung im Interesse einer reibungslosen Kooperation in der Industrie sowie der Sicherung des Exports in das SW und NSW und der Bevölkerungsversorgung noch nicht gewährleistet. Damit sind weitere Arbeitsschritte erforderlich, um die Erreichung

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der vorgesehenen Hauptkennziffern in den Plandokumenten in ihrer volkswirtschaftlichen Komplexität zu sichern. Diese Notwendigkeit wird unter anderem durch vorliegende Informationen zum Stand der Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1981 unterstrichen, die folgendes ausweisen: Die Zielstellung der Verpflichtungsbewegung in den Betrieben und Kombinaten, am Jahresende 1981 einen Planvorsprung bei der industriellen Warenproduktion von ca. 3,4 Mrd. Mark (3 Tagesproduktionen) abzurechnen, ist per 30.9.1981 im Bereich der Industrieministerien bei der industriellen Warenproduktion mit einem Planvorsprung von 3,1 Mrd. Mark (IAP) (2,4 Tagesproduktionen) unterlegt. Demgegenüber wurden bis zum 30.9.1981 Planreduzierungen in Höhe von ca. 3,4 Mrd. Mark bestätigt, die die Übererfüllung des Planes mit 3 Tagesproduktionen wieder ausgleichen und somit keine wesentliche Erhöhung an verteilbarem Endprodukt erbracht wird. Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik rechnet in einer Vorausschau mit einer Jahresplanerfüllung des ursprünglichen Planes für 1981 in Höhe von 100,2$. (Darin sind die erreichten Tage Planvorsprung eingerechnet.) 4.1. Im Zusammenhang mit der Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1981 wird per 30.11.1981 zur Versorgung der Bevölkerung ausgewiesen: Bei der Entwicklung der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung und des Einzelhandelsumsatzes gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres werden die im Gesetz über den Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1981 festgelegten Wachstumsraten von jeweils 4,0 % nicht erreicht. Die Nettogeldeinnahmen erhöhten sich bis 30.11.1981 um 3,3 Mrd. Mark = 3,1 %. Beim Einzelhandelsumsatz wurde ein Zuwachs von 2,3 Mrd. Mark = 2,6 % gegenüber dem gleichen Zeitraum 1980 erreicht, darunter bei Industriewaren von 2,3 % (laut Gesetz = 4,6 %). Um die für das Jahr geplanten Zuwachsraten noch zu erreichen, wäre im Monat Dezember gegenüber dem Monat Dezember des Vorjahres eine Steigerung des Einzelhandelsumsatzes insgesamt von rund 17 % notwendig (= 1,7 Mrd. Mark), bei Industriewaren sogar um 25 % (= 1,3 Mrd. Mark). Obwohl 1981 eine weitere Stabilisierung des Warenangebots erreicht werden konnte (vor allem durch die Steigerung der Warenbereitstellung neuentwickelter Konsumgüter), setzte sich die 1980 eingetretene Umsatzentwicklung nicht fort. Die Bevölkerung zeigt kritisches, zurückhaltendes Kaufverhalten vor allem gegenüber solchen Konsumgütern, bei denen ein im Verhältnis zum Gebrauchswert zu hoher Einzelhandelsverkaufspreis festgelegt worden ist (z. B. bei Hörrundfunkempfängern, Farbfernsehgeräten, Magnettongeräten, Textilwaren). Bei Industriewaren ist der 1981 bisher erreichte Zuwachs des Umsatzes gegenüber dem Vorjahr voll auf die Erhöhung der Preise der abgesetzten Waren zurückzuführen. Allein ein Drittel dieser Preiserhöhungen entfällt dabei auf die Warengruppe Textilwaren (Bekleidung / Konfektion). Aufgrund dieser Tatsache ist

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mit einer weiteren überdurchschnittlichen Umsatzsteigerung im Monat Dezember 1981 kaum zu rechnen, da dem wertmäßigen Zuwachs kein entsprechender mengenmäßiger Zuwachs im Warenangebot gegenübersteht. Für die Planperiode 1982 und den Fünfjahrplan 1981-1985 wird zuverlässig bekannt: -

Im Volkswirtschaftsplan 1982 ist ein Zuwachs an Lohn und Gehältern in Höhe von 2,9 % (1982/1981) geplant, der auf Grund bestehender Beschlüsse auch objektiv eintritt.

Dem gegenüber steht ein geplanter Zuwachs der Warenfonds von nur 2,4 %. - Die effektive Größe an fehlender Ware zur Versorgung der Bevölkerung für 1982 beträgt ca. 1 Mrd. Mark. - Diese Erscheinung tritt mit dem Volkswirtschaftsplan 1982 erstmalig auf. Bisher wurden planungsseitig beide Zuwachsraten ausgeglichen gestaltet. Inoffiziell wird dazu eingeschätzt, daß diese Erscheinung zu Problemen bei der Versorgung der Bevölkerung führen wird. Die schnellere Entwicklung der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung kann zu einem Kaufkraftüberhang führen. Bereits bei einem ausgeglichenen relativen Zuwachs von jeweils 4 % Nettogeldeinnahmen und Einzelhandelsumsatz muß davon ausgegangen werden, daß die absolute Differenz im Zuwachs von Nettogeldeinnahmen und Warenumsatz nicht in vollem Umfang durch den Zuwachs an Dienstleistungen für die Bevölkerung realisiert wird. Das verstärkt sich 1982 durch das relativ schnellere Steigen der Nettogeldeinnahmen. Bei den bisherigen Berechnungen zum Fünfjahrplan ist davon ausgegangen worden, daß der jährlichen Erhöhung des Warenfonds der Bevölkerung ein Mengen- : Wertverhältnis zugrunde liegt, bei dem 50 bis 60 % aus Wertzuwachs erbracht werden. 1981 beträgt der Wertzuwachs nach vorliegenden Berechnungen ca. 2,3 Mrd. Mark. Das sind bei einem Warenfondzuwachs von ca. 3,6 Mrd. Mark rund 63 % aus Wert und 37 % aus Menge. Die Ergebnisse der Vertragsabschlüsse zur Kaufhandlung für das 1. Halbjahr 1982 bzw. 1982 bestätigen, daß die dem Plan 1982 zugrunde gelegte Entwicklung des Verbraucherpreisniveaus erreicht bzw. überschritten wird. Das heißt, es kann davon ausgegangen werden, daß der Wertzuwachs 1982 wiederum mindestens 60 bis 65 % an Zuwachs des Einzelhandelsumsatzes beträgt. Das sind bei einem geplanten Gesamtzuwachs von 2,4 Mrd. Mark mindestens 1,4 bis 1,5 Mrd. Mark. Um die konzipierte jährliche Erhöhung aus Wertzuwachs zu erreichen, müßte das Verbraucherpreisniveau jährlich um durchschnittlich 2 Prozent, bis 1985 um insgesamt 10 bis 12 Prozent ansteigen. Aus der Beibehaltung der beschlossenen Linie, die Verbraucherpreise für den Grundbedarf stabil zu halten, ergibt sich zwangsläufig, daß der erforderliche Wertzuwachs überwiegend bei den Sortimenten realisiert werden müßte, die nicht zum Grundbedarf gehören. Unter den genannten Bedingungen muß damit gerechnet werden, daß das Preisniveau 1985 zum Beispiel bei Herrenoberbekleidung um 30 bis 40 Prozent, bei Da-

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menoberbekleidung um 35 bis 40 Prozent, bei Schuhen um 35 bis 40 Prozent, bei Leibwäsche um 40 bis 60 Prozent, bei Haushaltsporzellan um 40 bis 50 Prozent, bei elektro-akustischen Geräten um 40 bis 60 Prozent und bei elektrischen Heizund Hausgeräten um 25 bis 35 Prozent höher sein wird als im Jahre 1979. 4.2. Für die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und der Industrie mit Agrarrohstoffen sind stabile und steigende Leistungen der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft von entscheidender Bedeutung. Bei der Realisierung der Planaufgaben zeichnen sich unter den Bedingungen gesamtvolkswirtschaftlicher Verflechtungen und Erfordernisse insbesondere zum Einsatz materieller Fonds folgende komplizierte Probleme ab: -

Bereitstellung von Futtermitteln Bedarfsdeckung bei Energieträgern Verfügbarkeit von Maschinen in landtechnischen Anlagen Anwendung anorganischer Düngemittel und Agrochemikalien Erhaltung / Schaffung ausreichender Stallkapazität, von Lager- und Bergeraum sowie Unterstellplätzen für Landtechnik

Einen weiteren Schwerpunkt bei der Realisierung der Planaufgaben der Land, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft bildet das verfügbare Arbeitskräftepotential sowohl hinsichtlich seines Volumens als auch der qualitativen Differenziertheit. Im Zeitraum von 1950 bis 1980 verringerte sich die Anzahl der Beschäftigten der Land- und Forstwirtschaft auf 38 % (378.500 Personen), davon in den Jahren 1970-1979 um 9 % (81.000 Personen). Insbesondere unter den in der Tierproduktion Beschäftigten ist ein starkes Qualifikations- und Leistungsgefälle bzw. Überalterungserscheinungen festzustellen. Körperlich schwere Stallarbeit muß verbreitet durch weibliche Arbeitskräfte verrichtet werden. Der Gesamtgetreidebedarf der DDR ist für 1985 auf 12,4 Mio. t festgelegt. Für Futterzwecke sind 8,7 Mio. t veranschlagt. Der Getreideimport aus dem Westen umfaßte 1980 noch 3,8 Mio. t. Über die in der Direktive des X. Parteitages der SED festgelegte Menge von 1 Mio. t hinaus soll bis 1985 der Getreideimport um weitere 2,4 Mio. t reduziert werden. Auf der Grundlage jährlicher Ertragssteigerungen von 42 GE/ha im Jahre 1981 auf 43,7-44,2 GE/ha 1985 sowie der Ausdehnung der Getreideanbaufläche bis 1985 um 120 Tha. (Vornehmlich zu Lasten des Anbaus von Ackerfutter / Klee, Luzerne, Sonnenblumen, Mais) soll die Eigenerzeugung von Getreide von 9,6 Mio. t auf 10,4 Mio. t gesteigert werden. Experten schätzen ein, daß die geplante Reduzierung des Mineraldüngerfonds für die Landwirtschaft ab 1982 (145 kt weniger Stickstoffdünger, 20 kt weniger Phosphorsäure) etwa 1-1,2 Mio. t GE für die Getreide- und Futterproduktion zur Folge haben wird. Von Experten wird darauf verwiesen, daß diese Entscheidung die Produktion von 200 kt Schlachtvieh gefährdet bzw. den Zusatzimport von 1 Mio. Getreide aus dem Westen erfordert.

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Der Reduzierung von 1 t Stickstoff stehen damit Valutaaufwendungen von 2.250 DM für den Ausgleich des ausfallenden Futters durch Getreideimporte gegenüber. Das ist das 3,5fache des Valutawertes des Stickstoffs. Bei Berücksichtigung von Zinsen für das Getreide ergeben sich über 3.000 DM, d. h. das 4,6fache. Auf dieser Basis kann die Realisierung der Forderung des 3. Plenums, „auch künftig stabil hohe Viehbestände zu halten“, auch bei Berücksichtigung der schnelleren Entwicklung anderer, auf der Pflanzenproduktion beruhender Bereiche der Futtergewinnung (Grünland, Rauhfutter) und des ökonomischen Einsatzes der Futtermittel nicht gesichert werden. Zur Bedarfsdeckung bei Energieträgern: Heizöleinsatz 1979 = 635.000 t 1980 = 547.000 t 1981 = 450.000 t geplant 1982 = 335.000 t Nach bisherigen Entscheidungen stehen somit 1982 nur 61 % des Heizölkontingentes von 1980 zur Verfügung. Da mangels erforderlicher Feuerungsanlagen, Regler und Brenner im Jahre 1982 eine schnellere Umstellung heizölabhängiger Anlagen auf Kohle und Gas nicht erfolgen kann, der Betrieb solcher versorgungswichtiger Einrichtungen wie Molkereien vorrangig zu sichern ist, müssen 128 Trocknungsanlagen (57,6 %) und eine Anzahl von Treibhäusern stillgelegt werden, wodurch Ausfälle in der Getreidetrocknung sowie Futter- und Frühgemüseproduktion unvermeidbar sind. Die vorgesehene Bereitstellung von 946.000 t Dieselkraftstoff (Verbrauch 1980 = 1.158.000 t Dieselkraftstoff) liegt nach Berechnungen von Experten, ausgehend von günstigen agrotechnischen Produktionsbedingungen und unter Berücksichtigung weiterer Einsparvarianten, 10 % unter dem Minimalbedarf. Das geplante Kontingent an Vergaserkraftstoff umfaßt 1982 nur 51 % des bereits reduzierten Verbrauchs im Jahre 1981. Damit ist die Durchführung der erforderlichen Bestell-, Pflege- und Energiearbeiten, der energieintensiven forstwirtschaftlichen Arbeiten sowie die Wahrnehmung von Aufgaben des Veterinärwesens und Pflanzenschutzes gefährdet bzw. nur in eingeschränktem Umfang möglich. Bezogen auf die Planung und Bemessung der durch verschiedene Industriezweige (Maschinenbau, chemische Industrie, Bauwesen, Verkehr / Transporte) für die Land- und Forstwirtschaft zu erbringenden Leistungen sowie unter Beachtung der Aufgaben in den von den Ergebnissen der Land- und Forstwirtschaft abhängigen Bereichen der Leicht- und Lebensmittelindustrie ist zu prüfen, inwieweit im gesamtvolkswirtschaftlichen Interesse die auf objektiven Gesetzmäßigkeiten begründete Spezifik der land- und forstwirtschaftlichen Produktion ausreichend berücksichtigt wurde. -

Im Zusammenhang mit der Erhaltung und Mehrung der Fruchtbarkeit des Hauptproduktionsmittels Boden steht die Pflanzenproduktion im einheitlichen landwirtschaftlichen Reproduktionsprozeß Boden – Pflanze – Tier

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(Mensch) – Boden an zentraler Stelle. Sie besitzt im Gegensatz zu anderen Rohstoffquellen (wie z. B. Kohle, Erdöl, Erz usw.) die Fähigkeit, sich ständig zu reproduzieren. Aus dieser Eigenschaft und den volkswirtschaftlichen Erfordernissen (Rohstoffstrategie) resultiert die zwingende Konsequenz ihrer schnelleren intensivierten Entwicklung (Bedarf an Getreide, Futter, Zucker, Gemüse, Obst und Holz). Die land- und forstwirtschaftliche Produktion vollzieht sich in bedeutendem Maße unter freiem Himmel und mit lebenden Organismen. Sie ist an Naturgesetze gebunden und in ihrer Effektivität von deren wissenschaftlich fundierten Nutzung abhängig (klimatische, biologische, agrotechnische Bedingungen). Planung und Leitung dieser Produktionsprozesse muß ungünstige Wirkungsvarianten beachten und materiell kalkulieren. Beispiel: Zur Vermeidung von Ernteverlusten (und damit bereits investierter vergegenständlichter und lebendiger Arbeit) unter Schlechtwetterbedingungen ist die Verkürzung der Erntezeit durch erhöhten Technikeinsatz bei stärkerer Materialbelastung sowie die Verfügbarkeit ausreichender Trocknungslager und Transportkapazität erforderlich. Arbeitsspitzen mit erhöhtem Arbeitszeit- und Kräfteeinsatz können sich entwickeln. Die land- und forstwirtschaftliche Produktion beeinflussende Maßnahmen wirken langfristig, insbesondere hinsichtlich der Bodenfruchtbarkeit (Fruchtfolgen – Düngung – Melioration – Erosion – Holzproduktion – Waldbodenflächen bedeutsam für Wasserhaushalt), wie auch bis zur Nutzung des Ertrags- und Leistungspotentials von Kulturpflanzen (Sortenzüchtung) und der Tierbestände (Aufzuchtzeitrum Kalb – Kuh = 3 Jahre; Ferkel – Mastschwein unter einem Jahr).

4.3. Die Verbesserung der Zahlungsbilanz und die Gewährleistung der Zahlungsfähigkeit der DDR gegenüber dem Westen werden entscheidend von der Effektivität, Devisenrentabilität und Absatzfähigkeit der Exportprodukte bestimmt. Dazu gehört auch ein planmäßiger Anlauf der Exportlieferungen vom ersten Tag des Jahres 1982. Für die bereits dargestellte ungenügende Erfüllung des Exportplanes 1981 liegen einer Ausarbeitung von Staatssekretär Beil – Ministerium für Außenhandel – zufolge folgende wesentliche Ursachen vor: -

Entgegen den Beschlüssen des Politbüros des ZK der SED und der Regierung war am 1.1.1981 die Staatliche Auflage West-Export mit 1,7 Mrd. DM materiell nicht untersetzt. Damit konnte für ca. 12 % des Planes die Verkaufsarbeit nicht organisiert und aufgenommen werden. Insbesondere beim Export von Anlagen und Maschinenerzeugnissen, bei denen ein längerfristiger Vertragsvorlauf notwendig ist, wirkte sich diese Tatsache negativ auf die Plandurchführung aus.

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Mitte des Jahres, nachdem aus volkswirtschaftlichen Gründen eine Erhöhung des West-Exportplanes vorgenommen wurde, bestand für 1.082 Mio. DM keine Klarheit über die zu verkaufenden Exporterzeugnisse. Zur Sicherung des West-Exportplanes ist es notwendig, vor Beginn des Planjahres verkaufsfähige Exporterzeugnisse konkret und verbindlich in voller Höhe der staatlichen Auflage festzulegen. In den Kombinaten und Exportbetrieben ist die Wirtschaftstätigkeit noch nicht vorrangig auf den Export und die konkreten Bedingungen des WestMarktes ausgerichtet. In der überwiegenden Zahl der Kombinate liegt der Anteil des WestExports an der gesamten Warenproduktion unter 10 %. Das hat häufig zur Folge, daß nicht gemäß den Anforderungen des WestMarktes geforscht, entwickelt, produziert und abgesetzt wird, sondern die „übrigbleibende“ Warenproduktion für den West-Export angeboten wird. Die Wirksamkeit von Wissenschaft und Technik für den West-Export ist ungenügend. Bei der Festlegung der Themen für Wissenschaft und Technik wird unzureichend auf den West-Export orientiert. Der Anteil neu- und weiterentwickelter Erzeugnisse ist zu niedrig. In den letzten Jahren betrug dieser Anteil an der Warenproduktion durchschnittlich 5 bis 8 %. In entwickelten kapitalistischen Industrieländern beträgt der durchschnittliche jährliche Anteil von Neu- und Weiterentwicklung ca. 20 %. Ungelöste Kooperationsbeziehungen vieler Kombinate und Betriebe ermöglichen noch keine planmäßige und kontinuierliche Produktion und erschweren ein erfolgreiches Auftreten auf den Märkten. Fehlen der Zulieferungen und nicht ausreichend stabile Kooperationen wirken negativ auf den Verkauf und die Realisierung von Objekten. Besonders schwerwiegende Folgen ergeben sich daraus für den Export von Erzeugnissen und Anlagen des Maschinenbaus und der Elektrotechnik. Beim Anlagenexport ergeben sich Unsicherheit bereits bei der Angebotserarbeitung und setzt sich bis zur Realisierung von Objekten fort. Das führt zu unverhältnismäßig hohen Importanteilen aus dem Westen.

Für die DDR, aber auch für die Situation in den anderen Mitgliedsländern des RGW wird von einer zuverlässigen Quelle eingeschätzt, daß die gestiegene Leistungskraft der Mitgliedsländer des RGW auch nicht in einer prinzipiellen Veränderung der Export- und Importstruktur im Handel mit den kapitalistischen Industrieländern zum Ausdruck kommt. Nach wie vor dominieren im Export Rohstoffe und Halbfabrikate. Ca. 75 % ihres Exports in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) entfallen auf Rohstoffe, während der Import aus der EWG zu ca. 56 % Fertigwaren beinhaltet. Die Stärkung der Position der Mitgliedsländer des RGW in der Weltwirtschaft und die Politik der RGW-Länder gegenüber kapitalistischen Industrieländern und Entwicklungsländern ist vor allem eine Frage der langfristigen Strategie.

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Es ist notwendig, prinzipielle Veränderungen von bestehenden Produktionsstrukturen vorzunehmen, um auf diese Weise das wissenschaftlich-technische, personelle und materielle Potential des Maschinenbaus zur Ablösung von WestImporten voll zu nutzen. Der Maschinenbau als Hauptträger der volkswirtschaftlichen Leistungsentwicklung hat entscheidende Voraussetzungen für die Lösung volkswirtschaftlicher Aufgaben und auf dem Gebiet des Exports, der Investitionen, der Konsumgüterindustrie und der Landesverteidigung zu schaffen. Gegenwärtig zeichnen sich bei der Realisierung der Aufgaben folgende Probleme ab: 5.1. Grundlage für die Erfüllung der Zuwachsraten des Jahres 1982 bis 1985 ist die Realisierung der Aufgabenstellung 1981. Unter Berücksichtigung bisheriger Ergebnisse muß mit einer Untererfüllung der staatlichen Auflagen 1981 im Bereich des Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbaus im Bereich des Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen und Fahrzeugbaus im Bereich Schwermaschinen- und Anlagenbau insgesamt gerechnet werden.

von ca. 20-110 Mio. DM von ca. 140-160 Mio. DM von ca. 140-160 Mio. DM ca. 370-430 Mio. DM

Hauptursache ist die fehlende Vertragsbindung entsprechend der staatlichen Aufgabenstellung trotz vorhandener Warenangebote. Ein Ausgleich dieses Defizits im Jahre 1982 verlangt eine Steigerung der Zuwachsraten je Ministerium um ca. 40-50 %. 5.2. Ein Sechstel der staatlichen Aufgabe West-Export 1982 ist über den Export kompletter Industrieanlagen zu realisieren (ca. 600 Mio. DM). Entsprechend der Spezifik des Anlagenexports ist die langfristige Vertragsbindung Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgabenstellung. Zur Zeit liegt eine Vertragsbindung für ca. 40 % des geplanten Exports vor. Darüber hinaus ist eine Vielzahl von Zulieferungen für den Anlagenexport materiell nicht gesichert, da die Zulieferindustrie hohe Exportaufgaben zu erfüllen hat. 5.3. Grundlage für die Erfüllung der hohen Aufgabenstellung des Maschinenbaus ist die proportionale Entwicklung der Zulieferindustrie. Gegenwärtig zeichnet sich ab, daß gegenüber 1981 keine Steigerung im Schwermaschinen- und Anlagenbau bei 12 Positionen Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau bei 10 Positionen, Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinenund Fahrzeugbau bei 16 Positionen erfolgt.

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Damit ist nach groben Schätzungen im Maschinenbau für 1982 eine Warenproduktion von 3-4 Mrd. Mark gefährdet. Eine Hauptursache ist der hohe Direktexport der wichtigsten Zulieferbetriebe. 5.4. Durch die Reduzierung der Investitionen im Bereich des Maschinenbaus, Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinenund Fahrzeugbau Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau Schwermaschinen- und Anlagenbau

in Höhe von 5,6 % bei Ausrüstungen 6,5 %, in Höhe von 5,2 %, bei Ausrüstungen 5,8 % in Höhe von 13,1 %, bei Ausrüstungen 15,4 % (Vergleich: Reduzierung Volkswirtschaft insges. 3,8 %, Ausrüstungen 6 %) ist die Realisierung solcher Aufgaben wie -

Programm zur Heizölablösung, Bereitstellung von Tagebauausrüstungen für den Aufschluß von 35 Braunkohletagebauen, - Bau des Fährhafens Mukran, - Export nicht gewährleistet. 5.5. Die Erfüllung der Aufgaben erfordert eine wesentliche Steigerung der Devisenrentabilität. Zur Zeit ist z. B. der Anteil der West-Importe zur Komplettierung von Werkzeugmaschinen für den Export in den Westen zu hoch. Es werden insbesondere - numerische Steuerungen und Meßtechnik, - stufenlose Gleichstromantriebe für Haupt-und Vorschubantriebe und - Elektroschaltausrüstungen importiert. Wesentliche Ursachen: - Forderungen aus Lastenheften der West-Kunden - fehlende Kapazitäten im Bereich des Ministeriums für Elektrotechnik / Elektronik - nicht konsequente Durchsetzung der Maßnahmen zur Ablösung von WestImporten - Qualitätsmängel von Baugruppen So werden zum Beispiel im VEB Wema Union Gera zur Erfüllung der Staatlichen Auflage West-Export 1981 in Höhe von 35.000 TVM ca. 8.500 TVM aus Lastenheften resultierende West-Importe eingesetzt. Weiterhin ergibt sich für die weiterentwickelte Bohrwerkstype BFKF 110/1 des VEB Wema Union Gera (Haupterzeugnis für den West-Markt) folgende Rentabilität:

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Industrieabgabepreis (IAP): West-Importe Verkaufspreis: Valutaerlös für DDR: Valutaeffektivität (unter Berücksichtigung der West-Importe):

1.263 Tausend Mark 300 TDM 450 TDM 150 TDM 0.13.

Reserven für die Erhöhung der Devisenrentabilität liegen in einer konsequenten Veränderung des Masse-Leistungs-Verhältnisses von Werkzeugmaschinen. DDR-Maschinen sind bis zu 50 % schwerer als West-Erzeugnisse. Pro kg eingesetztem Stahl erzielen für Maschinen und Ausrüstungen vergleichsweise die USA die Schweiz die BRD die DDR

einen Preis von einen Preis von einen Preis von einen Preis von

10,2 US-Dollar, 8,35 US-Dollar, 3,33 US-Dollar, 1,75 US-Dollar.

Weitere Probleme bei der Stabilisierung der Zahlungsbilanz ergeben sich aus der Wiedererwirtschaftung des Valutaaufwandes für Kompensationsvorhaben. 1982 sind insgesamt 2.765,1 Mio. DM für die Refinanzierung der Valutaaufwendungen für Kompensationsvorhaben zu erwirtschaften. Die Wiedererwirtschaftung soll erfolgen durch -

West-Exporte aus den Vorhaben West-Exporte des eigenen Bereichs West-Exporte aus anderen Bereichen West-Importeinsparungen Die zusätzlichen Importeinsparungen betragen

542,9 Mio. DM 678,9 Mio. DM 21,9 Mio. DM 1.521,5 Mio. DM 161,2 Mio. DM.

Bei den Vorhaben, wie z. B. „Gelenkwellenwerk Zwickau / Mosel“ und „Rohknochenextraktion Tangermünde“, die Rückstände in der Erfüllung der Refinanzierungsverpflichtung durch den Export aus den Anlagen aufweisen, müssen zusätzliche Warenfonds für den Export aus den entsprechenden Verantwortungsbereichen bereitgestellt werden. Trotz der angespannten Zahlungsbilanz sind folgende Anlagenimporte in Vorbereitung: -

Lackierung für die Fahrerhausfabrik in Ludwigsfelde, Radiofabrik Berlin, Fabrik für die Mikroelektronik über das vorgesehene West-Exportvolumen hinaus, Import einer kompletten Anlage für digitale Nachrichtentechnik,

obgleich für keines der Objekte bisher Effektivitätsberechnungen und Refinanzierungskonzeptionen vorliegen. 6. Für 1982 und den Fünfjahrplanzeitraum 1981-1985 ist die Grundstrategie der chemischen Industrie der DDR vor allem auf eine höhere Veredelung des

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Erdöls und der carbochemischen Rohstoffe aus einheimischer Braunkohle orientiert. Es ist dabei die Aufgabe gestellt, 1982 mindestens die gleichen West-Exporte an Erdölprodukten wie 1981 zu sichern. Der Plan 1981 beinhaltet West-Exporte an Erdölprodukten, insbesondere an Motorenbenzin 76,4 kt, Dieselkraftstoff 628,3 kt, Heizöl 2.461,1 kt, die auf folgender Preisbasis realisiert werden sollten: Dieselkraftstoff/ Durchschnittspreis 33 VE je t, Motorenbenzin normal und super / Durchschnittspreis zwischen 899 VE und 960 VE je t, Heizöl / Durchschnittspreis 453 VE je t. Inoffiziell wird eingeschätzt, daß die Auswirkungen der Erdöl- / Energiesituation auf dem Weltmarkt, die erheblichen Einsparungen westeuropäischer Länder, voran die BRD, beim Vergaserkraftstoff- und insbesondere beim Heizölverbrauch, den Überlegungen im Ministerium für Chemische Industrie bei den Vorschlägen zur Erdölbilanz für den Plan 1982 überhaupt nicht zugrunde gelegt wurden. Die gegenwärtig getroffenen Entscheidungen, zu Lasten der Inlandversorgung mit Erdölprodukten den West-Export in gewohnter Höhe beizubehalten, hat insofern Berechtigung, als daß für Heizöl, Diesel- und Vergaserkraftstoff sofort Bargeld im Westen erwirtschaftet werden kann. Die Prognose für den West-Markt wird in Auswertung zugänglicher offizieller Materialien dahingehend bewertet, daß es ab 1982 bei den genannten Erdölprodukten, einschließlich Benzol, unter anderem zu Absatzschwierigkeiten wegen Marktübersättigung und vorhandenen Überkapazitäten bei den Produzenten kommen wird und daß mit nicht unerheblichen Preiseinbußen zu rechnen ist, was diese Exporte noch unrentabler machen wird, als sie zum Beispiel schon sind. Dazu in der Presse, besonders der BRD, regelmäßig erscheinende Prognosen sagen ein Absinken des Bedarfs an Erdölprodukten, besonders Heizöl und Vergaserkraftstoff, zwischen 20 und 25 % voraus. Auswirkungen dieser Einschätzung werden bereits dahingehend sichtbar, daß im November / Dezember 1981 der Vertragsexport an Motorenbenzin von insgesamt 63,1 kt Vergaserkraftstoff 91,6 Oktan mit Preisminderung verbunden war. 50 kt Vergaserkraftstoff 91,6 Oktan – vertraglich gebunden mit der Firma REX / Westberlin – wurden aus Mangel an Interesse von West-Erdölgesellschaften wegen völliger Sättigung des BRD-Marktes nur anteilmäßig in Höhe von 28 kt abgenommen. Bedingung für die Abnahme war ein Preisnachlaß in Höhe von 14 %. Der Preis für eine Tonne Vergaserkraftstoff 91,6 Oktan betrug ursprünglich 924,05 VE und reduziert sich mit dem Preisabschlag von 14 % auf 795,84 VE/t. Der Export von 28 kt Motorenbenzin Vergaserkraftstoff 91,6 Oktan führte zu einem Ver-

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lust von 128,21 VE/t gleichbedeutend mit einem Gesamtverlust von 3,59 Mio. VM. Aus diesen Entwicklungstendenzen heraus veranlaßte Genosse Staatssekretär Dr. Schalck im September 1981 eine Reduzierung der Intrac-Erdölimporte zur Lohnveredelung für das IV. Quartal 1981 um 190 kt auf 410 kt. Der Minister für Chemische Industrie bestätigt, daß bei Verarbeitung von 1,3 Mio. t Erdöl (Lohnveredlung / Intrac) für 1981 Verluste in Höhe von ca. 48 Mio. US-Dollar entstehen. Von zuverlässigen Quellen wird ernsthaft darauf verwiesen, daß mit den dargestellten Unsicherheiten im West-Export bei Erdöl-Produkten die weitere Durchführung des Exports unter Inkaufnahme bedeutender Verluste sorgfältig geprüft werden sollte. Bestandteil dieser Prüfung müßte eine exakte Marktanalyse im Westen sein, um fundierte Erkenntnisse für daraus abzuleitende Entscheidungen bis zur Veränderung der Warenstruktur beim Export in den Westen zu gewinnen. Stellungnahme27 (Berlin, den 6. Februar 1984) Zur Vorlage für das Politbüro des ZK der SED „Konzeption für die Vorbereitung des Fünfjahrplanes 1986-1990 sowie zur Ausarbeitung des Volkswirtschaftsplanes 1985 und den dazu 1984 und 1985 erforderlichen Maßnahmen“ Die in der Vorlage unter den Punkten 1 und 2 des Beschlußentwurfes genannten Dokumente -

Konzeption für die Vorbereitung des Fünfjahrplanes 1986-1990 und den dazu 1984 und 1985 erforderlichen Maßnahmen,

-

Festlegung zur Ausarbeitung des Entwurfes des Fünfjahrplanes 1986 bis 1990 sowie zur Ausarbeitung des Volkswirtschaftsplanes 1985 und den dazu 1984 erforderlichen Maßnahmen

haben grundlegenden Zielstellungen, Aufgaben und Maßnahmen zum Inhalt, um auf der Grundlage der ökonomischen Strategie der 80er Jahre alle inneren Potenzen der Volkswirtschaft zu mobilisieren. Aus den eingereichten Dokumenten ist ersichtlich, daß besonders komplizierte Aufgaben -

in der Gewährleistung der Zahlungsfähigkeit und dem Abbau der Verschuldung

der DDR gegenüber dem Westen bestehen. Das unter Punkt 3 genannte Dokument „Grundlinien der Zahlungsbilanz gegenüber dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet und dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet im Zeitraum 1986 bis 1990“ enthält wesentliche Ergänzungen und 27 BStU, MfS HA XVIII, Nr. 26562

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Präzisierungen zu den in der „Konzeption“ enthaltenen Feststellung und Aufgaben. In den Berechnungen und Aufgabenstellungen, die diesem Dokument zugrunde liegen, wird als grundlegende Voraussetzung davon ausgegangen, daß -

der West-Exportplan 1984 in Höhe von 17,2 Mrd. DM und 1985 in Höhe von 18,7 Mrd. DM erfüllt werden, die Jahresimportpläne aus dem Westen für die Jahre 1984/85 strikt eingehalten werden. Das erfordert u. a., daß die beschlossenen Maßnahmen zur Importablösung (Nutzung eigener Ressourcen, Importverlagerung in das RGW) in voller Höhe realisiert werden.

Die materielle Unterstützung des Volkswirtschaftsplanes 1983 ergab, daß die hohen Zielstellungen zur Steigerung des West-Exportes nicht erfüllt werden konnten. Gegenüber dem Jahr 1982 trat ein Rückgang um 3,9 % ein. Wie in den vorliegenden Dokumenten ausgewiesen (Konzeption S. 35), ist bei der Erfüllung der Außenwirtschaftsaufgaben gegenüber dem Westen von „sich verschärfenden Bedingungen auf handels- und kreditpolitischem Gebiet“ auszugehen. Der im Januar 1984 erreichte Stand bei der Durchführung des West-Exportplanes 1984 in Höhe von 17,2 Mrd. DM weist -

einen Protokollierungsstand Außenhandel / Industrie von 16,1 Mrd. DM und einen Vertragsstand mit Kunden aus dem Westen von 8,2 Mrd. DM aus. Für das I. Quartal 1984 haben die Industrieminister bereits eine Untererfüllung in Höhe von 0,6 Mrd. DM angemeldet.

Aus dieser Entwicklung heraus wird von Experten der Staatlichen Plankommission eingeschätzt, daß die tatsächliche Erfüllung des Jahresexportplanes 1984 nicht über ca. 15 Mrd. DM liegen und die beabsichtigte Exportsteigerung auf 119 % nicht eintreten wird. Aus den in der Grundlinie durchgeführten Berechnungen geht hervor, daß -

in den Jahren 1984/1985 insgesamt eine Steigerung des Exports gegenüber dem per 31.12.1983 erreichten Stand um 47 Mrd. VM (1984:1983 um 3,2 Mrd.; 1985:1984 um 1,5 Mrd. DM), im Gesamtzeitraum des Fünfjahrplanes 1986-1990 eine Steigerung um insgesamt 3,7 Mrd. DM gegenüber dem am 31.12.1985 erreichten Stand erfolgen soll.

Damit soll in den letzten 2 Jahren des gegenwärtigen Fünfjahrplanes für 1 Mrd. DM mehr Erzeugnisse in den Westen exportiert werden als im Gesamtzeitraum des Fünfjahrplanes 1986-1990. In der Bargeldbilanz sind, wie festgelegt, - ab 1985 keine finanziellen Mittel aus dem Bereich Kommerzielle Koordinierung und - ab 1986 keine Einschüsse aus Sondermitteln des Staates enthalten.

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In der „Konzeption“ wird die Feststellung getroffen, daß mit der notwendigen Steigerung des West-Exports und der bedeutenden Reduzierung des West-Imports ein zunehmendes Auseinanderklaffen zwischen Exporten und Importen entsteht, das aus handelspolitischen Gründen nicht als realisierbar eingeschätzt werden kann. Deshalb sieht die „Konzeption“ vor, unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung der Ex- und Importe im Verlaufe des Fünfjahrplanes 1986-1990 und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten die Beschaffung hochproduktiver Ausrüstungen gegen langfristige Kredite zu prüfen und zu nutzen. Über den Umfang der notwendig erscheinenden Kreditaufnahmen im Westen, die zu einer weiteren Belastung der Zahlungsbilanz in den Folgejahren führen, ist in dem Material noch keine Aussage getroffen. Wenn keine materiellen Lösungen gefunden werden, hat das zur Konsequenz, daß der angestrebte Abbau der Verschuldung der DDR gegenüber dem Westen auf 6 Mrd. DM nicht erfolgt. Des weiteren ergäben sich aus einer solchen Entwicklung (Notwendigkeit Kreditaufnahmen wegen fehlender materieller Lösungen) noch nicht exakt berechnete, zweifellos aber erhebliche Belastungen für die Zahlungsbilanz und das Bargeldproblem. Nach internen Expertenberechnungen würde sich, wenn 1984 statt des geplanten West-Exports von 17,2 Mrd. DM nur ca. 15 Mrd. DM erbracht würden und 1985 statt 18,7 Mrd. DM nur 16,2 Mrd. DM realisiert werden könnten, durch notwendig werdende Finanzlösungen mit hohem Kostenaufwand eine Verschuldungshöhe von ca. 38 Mrd. DM Ende 1990 ergeben. In der Vorlage sind Maßnahmen festgelegt (u. a. Neuvorlage der Zahlungsbilanzprobleme nach Abschluß der Leipziger Frühjahrsmesse 1984, Entscheidungen für Veredelungskonzeptionen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft der DDR), die auf die Überwindung der offenen Probleme gerichtet sind. Es wird vorgeschlagen, der Vorlage zuzustimmen. 2.3. Die Stellungnahme zum Fünfjahrplan 1986-1990 Stellungnahme28 Erarbeitet durch HA XVIII/4, OSL Roigk Berlin, den 29. September 1986 Zur Vorlage für das Politbüro des ZK der SED zum „Entwurf des Fünfjahrplanes für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1986 -1990“ „Entwurf des Volkswirtschaftsplanes, des Staatshaushaltsplanes und der Kreditbilanz 1987“

28 BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 26563

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Die vorliegenden Entwürfe enthalten die sich aus der Direktive des XI. Parteitages und des Beschlusses des Politbüros vom 20.5.1986 ergebenen Ziel- und Aufgabenstellungen zur weiteren dynamischen Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR. Sie sind darauf gerichtet, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik als Kern der ökonomischen Strategie konsequent weiterzuführen, einen hohen Beitrag zur weiteren ökonomischen Stärkung der DDR zu leisten, vorhandene Systempositionen der DDR zu festigen sowie auf volkswirtschaftlich entscheidenden Gebieten zur Weltspitze vorzudringen. Die Leistungsziele enthalten hohe zugleich aber auch komplizierte Aufgabenstellungen. Eine der wesentlichsten Voraussetzungen zu deren Lösung ist die allseitige Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1986 als Grundlage für den Volkswirtschaftsplan 1987 als auch der weiteren Entwicklung der Volkswirtschaft in den Jahren 1988 – 1990. Es muß jedoch eingeschätzt werden, daß die allseitige Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1986 zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gesichert ist. Das findet u. a. Ausdruck in -

der Senkung der Zielstellungen im West-Export um ca. 1,5 Mrd. DM. Es wird von einer möglichen Erfüllung von ca. 15 Mrd. DM ausgegangen, die aber auch noch nicht gesichert ist. zum Teil beträchtlichen Rückständen in der Erfüllung von Staatsplanpositionen. Bei 102 Positionen ist die planmäßige Realisierung gefährdet. Wenn es nicht gelingt, diese Rückstände bis zum Jahresende zu beseitigen, wird die Ausgangsbasis für das Jahr 1987 belastet.

Zu berücksichtigen ist ferner, daß der Planentwurf 1987 gegenwärtig noch belastet ist durch unberücksichtigt gebliebene Forderungen der Minister bei volkswirtschaftlich bedeutsamen Positionen wie -

weitere Importe aus dem Westen und dem RGW, Senkung der Exportzielstellungen, Erhöhung der Investitionen

Weiterhin bestehen noch Unsicherheiten bei der materiellen und wissenschaftlich-technischen Untersetzung der vorgegebenen Leistungsziele. In den vorliegenden Entwürfen des Volkswirtschaftsplanes 1987 und des Fünfjahrplanes 1986-1990 bestehen aus gegenwärtiger Sicht folgende bedeutsame Probleme: 1. Die Entwicklung des Außenhandels 1.1. Der West-Export soll 1987 eine Höhe von 16,9 Mrd. DM erreichen. Diese Zielstellung liegt um 1,2 Mrd. DM unter der vom Politbüro am 20.5.1986 beschlossenen Entwicklung des West-Exports. (1987 sollten 18,1 Mrd. DM erreicht werden) Gegenüber der eingeschätzten Erfüllung 1986 in Höhe von ca. 15 Mrd. DM bedeutet die Zielstellung von 16,9 Mrd. DM eine Exportsteigerung um 12,7 %,

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die hauptsächlich durch den Bereich der MVI (Metallverarbeitenden Industrie) getragen werden soll. Angenommen wird, daß die Preise für Erdöl und erdölabhängige Produkte 1987 wieder ansteigen werden und daraus eine Exportsteigerung der chemischen Industrie in Höhe von ca. 700 Mio. DM eintreten wird. Die überdurchschnittliche Steigerung des MVI-Exports um 940 Mio. DM und die Version steigender Preise für Erdöl und erdölabhängiger Produkte in Höhe von ca. 700 Mio. DM werden in den Plan eingerechnet. Von Experten werden diese Berechnungen als realitätsfremd bewertet. Sie vertreten die Auffassung, daß der West-Export 1987 eine Höhe von 15,1-15,3 Mrd. DM erreichen wird; das entspricht einer Steigerung von 0,7 % bis 1,2 %. In diesem Zusammenhang ist auch die Entwicklung des West-Imports 1987 zu sehen. Entsprechend dem Politbürobeschluß vom 20.5.1986 war für 1987 ein WestImport in Höhe von 12,5 Mrd. DM vorgesehen, dem Planentwurf liegt ein WestImport von 13,3 Mrd. DM zugrunde. Es bestehen Mehrforderungen der Minister in Höhe von 800 Mio. DM, die in diese Kennziffer nicht eingerechnet wurden. Von Experten wird eingeschätzt, daß im Laufe der Plandurchführung 1987 im Interesse der materiell-technischen Sicherung der Produktion und der Versorgung der Bevölkerung eine Erhöhung des West-Importes eintreten wird. Auf der Grundlage der vorgegebenen Kennziffern wurde für 1987 ein Exportüberschuß gegenüber dem Westen von 3,6 Mrd. DM errechnet, der sich unter Berücksichtigung der vorgenannten Faktoren voraussichtlich auf 1,6 bis 1,8 Mrd. DM reduzieren wird. Da selbst der errechnete Exportüberschuß von 3,6 Mrd. DM nicht ausreicht, um die aus den Verbindlichkeiten gegenüber dem Westen resultierenden Kosten und Zinsen in Höhe von 5,8 Mrd. DM zu decken, ist durch diese Entwicklung mit einer weiteren Erhöhung des Sockels aus Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Westen zum Jahresende 1987 zu rechnen. Mit den vorliegenden Entwürfen der Plandokumente wird zum Ausdruck gebracht, daß die vom Politbüro am 20.5.1986 beschlossene Halbierung des Sockels aus Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Westen bis zum Jahre 1990 nicht realisierbar ist. Im Entwurf zum Fünfjahrplan ist zugrunde gelegt, daß der Sockel 1987 34,2 Mrd. DM erreicht und von 1988-1990 um 12,3 Mrd. DM abgebaut wird und somit Ende 1990 ca. 21,9 Mrd. DM beträgt. Experten der Staatlichen Plankommission und des MdF halten diese Zielstellung – konzentriert auf 3 Jahre – für nicht erreichbar. Sie begründen ihre Auffassung mit -

der nicht erreichbaren Steigerung des West-Exports im Fünfjahrplanzeitraum um 28,6%, die vor allem von der MVI getragen werden soll, der vorgesehenen Veränderung des Verhältnisses Export zu Import von 53,6 : 46,4 auf 65,8 : 34,2

da bereits gegenwärtig massiver Druck von Ländern des Westens ausgeübt wird, um eine ausgeglichene Handelsbilanz herzustellen,

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-

Unsicherheiten bei der Preisentwicklung bei Erdöl und erdölabhängigen Produkten, den Erfahrungen bei der Plandurchführung 1986, die zu einer erheblichen Senkung der ursprünglichen Zielstellung im West-Export führte, der Nichtrealisierung der vorgesehenen Importstrategie, die ab 1988 eine Senkung des West-Imports um ca. 20 % – absolut ca. 2,6 Mrd. DM – vorsieht, während in den Jahren 1986 und 1987 eine wesentliche Erhöhung des West-Imports gegenüber den ursprünglichen Zielstellungen erforderlich wurde.

1.2. Gegenüber dem RGW wird der Export 1987 um 6,9 %, darunter UdSSR um 5,1 % und der Import um 0,5 %, darunter UdSSR um 5,4 % gesteigert. Das entspricht den Erfordernissen der Plankoordinierung als auch dem langfristigen Handelsabkommen. Diese Exportzielstellung ist gegenwärtig in einem Volumen von 5,1 Mrd. M VGW (8 %) noch nicht ausspezifiziert, darunter UdSSR in Höhe von 1,9 Mrd. M VGW (5,6 %) und den anderen sozialistischen Ländern 3,2 Mrd. M VGW (10,6 %). Vor allem gegenüber den anderen sozialistischen Ländern ist eine konsequente Erfüllung der Zielstellung erforderlich, um volkswirtschaftlich notwendige Importe zu sichern und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz mit diesen Ländern zu gewährleisten. Die für den Fünfjahrplan vorgesehene Entwicklung des Exports und Imports mit dem SW wird insgesamt als real eingeschätzt. 2. Die materiell-technische Produktion ist auch 1987 eine komplizierte Aufgabe, für die noch keine bilanzierte Untersetzung vorgelegt werden kann. Besonders kompliziert wird die Aufgabe zur Senkung des spezifischen Verbrauchs an Walzstahl um 7,2 % (voraussichtliches Ist 1986: 5,6 %). Den Aufgaben zur Senkung des spezifischen Verbrauchs an Walzstahl stehen Mehrforderungen der Minister in Höhe von 116 kt gegenüber, um die vorgegebenen Leistungsziele in der Produktion zu erreichen. Auch die vorgegebene Senkung des spezifischen Verbrauchs von Halbzeug aus Kupfer im Bereich von Elektrotechnik / Elektronik mit 5,4 % (voraussichtliches Ist 1986: 3,1%) und Halbzeug aus Aluminium im Bereich Elektrotechnik / Elektronik mit 4,1 % (voraussichtliches Ist 1986: 3,6 %) und Fahrzeugbau mit 6,5 % (voraussichtliches Ist 1986; 6,1 %) stellen in diesen Größenordnungen kaum zu realisierende Aufgabenstellungen dar. Insgesamt bestehen seitens der Minister Mehrforderungen an materielle Fonds in Höhe von 2,9 Mrd. M, die, wenn keine Lösungen durch Maßnahmen von Wissenschaft und Technik sowie zielgerichteter Investitionen gefunden werden, über Importe ausgeglichen werden müßten, die vorwiegend aus dem Westen erfolgen würden und damit zu einer weiteren Belastung der Zahlungsbilanz führen. Von besonderer Bedeutung ist die Erreichung der vorgegebenen Energieeinsparung um 3,7 % (voraussichtliches Ist 1986: 2,0 %). Insbesondere kommt es darauf an, die konsequente Durchsetzung der Energieeinsparungs- und Kontingen-

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tierungsmaßnahmen in der Volkswirtschaft zu verwirklichen, da der für 1987 geplante Zuwachs an Elektroenergieerzeugung um 2,4 % für die Versorgung der Bevölkerung notwendig ist und damit die Volkswirtschaft mit der gleichen Energiemenge wie 1986 auskommen muß. 3. Zur weiteren Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung wird für das Jahr 1987 ein Zuwachs des Warenfonds von 4 % geplant. Damit erhöht sich das Volumen des Warenfonds gegenüber 1986 um 4,8 Mrd. DM auf 123,4 Mrd. M. Gegenwärtig ist ein Zuwachs von 3,1 % untersetzt. Es fehlen noch Warenfonds für 655 Mio. M vor allem an technischen Konsumgütern und Erzeugnissen der Leichtindustrie. Zur vorgeschlagenen Warenfondsentwicklung hat der Minister für Handel und Versorgung Mehrforderungen, um die Versorgung der Bevölkerung vor allem bei solchen Erzeugnissen wie -

Oberbekleidung für Herren Straßenschuhe Hausschuhe Untertrikotagen

stabil zu gewährleisten. Bei diesen Positionen ergaben sich 1986 erhebliche Versorgungsschwierigkeiten, weil mit den geplanten Zuwachsgrößen der Bedarf der Bevölkerung nicht abgedeckt werden konnte. Die Mehrforderungen sind nur über eine Erhöhung des West-Importes von ca. 140 Mio. DM oder entsprechende Senkung des WestExportes realisierbar. Der geplante Zuwachs des Warenfonds in Höhe von 4,8 Mrd. M soll durch Mengenerhöhung von 3,6 Mrd. M und Wertzuwachs von 1,2 Mrd. M erreicht werden. Das ist eine gerechtfertigte Proportion. Das Problem besteht jedoch darin, daß hochwertige Konsumgüter fehlen, die durch einen höheren Gebrauchswert den geplanten Wertzuwachs ermöglichen. Es wird damit gerechnet, daß 1987 die bedarfsgerechte Versorgung bei Gefrierschränken, Elektroherden und Elektroboilern nicht gewährleistet ist. Die Möbelindustrie kann aufgrund fehlender Kapazitäten in Höhe von ca. 100 Mio. M den Bevölkerungsbedarf produktionsseitig nicht abdecken. Der für den Fünfjahrplan vorgesehene durchschnittliche jährliche Zuwachs des Warenfonds um 4 % in der Proportion Zuwachs an Industriewaren Nahrungs- und Genussmittel bei einem Wertzuwachs von

5,3 % 2,7 % 25 %

ist dann erreichbar, wenn es gelingt, die geplante Steigerung der Produktion neuer industrieller Konsumgüter – 30-40 % jährlich – zu erreichen.

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Die Erfüllung des Wohnungsbauprogramms zur Lösung der Wohnungsfrage 2.064.000 Wohnungen neu zu bauen bzw. zu modernisieren, davon 1987 210.110 Wohnungen ist mit den vorliegenden Entwürfen gesichert. Die für den militärischen Schutz und die Sicherheit der DDR festgelegten materiellen und finanziellen Fonds sind in die Entwürfe eingeordnet. Das mit den Entwürfen zum Volkswirtschaftsplan und zum Staatshaushaltsplan 1987 sowie zum Fünfjahresplan 1986-1990 von der Staatlichen Plankommission vorgelegte Material „Aufgaben für die weitere Arbeit mit dem Fünfjahrplan 1986-1990 und dem Volkswirtschaftsplan 1987 zur Gewährleistung einer hohen Produktion von verteilbarem Endprodukt für die Versorgung der Bevölkerung, der Wirtschaft und die Erfüllung der Außenhandelsaufgaben“ verdeutlicht, daß von der Staatlichen Plankommission und den Ministerien auch weiterhin eine umfangreiche und komplizierte Arbeit zu leisten ist, um weitere Verbesserungen in der volkswirtschaftlichen Bilanzierung der anspruchsvollen Ziel- und Aufgabenstellungen zu erreichen. Es wird vorgeschlagen, den Vorlagen zuzustimmen. Handschriftlicher Brief von: OSL

Roigk, Horst

Berlin, den 29.9.1986

Genosse Generalmajor Kleine Ich gestatte mir, Sie auf folgende Formulierung in der Stellungnahme der Fachabteilung Planung und Finanzen vom 25.9.1986 zur Vorlage für das Politbüro des ZK der SED zum „Entwurf des Fünfjahrplanes für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1986-1990“ sowie „Entwurf des Volkswirtschaftsplans des Staatshaushaltsplanes und der Kreditbilanz 1987“ aufmerksam zu machen. Dort heißt es auf Seite 14: „Die vorliegenden Planentwürfe bis 1990 werden mit einem Preis für Erdöl von 18 US-Dollar pro Barrel ausgearbeitet. Das Preisniveau 1986 liegt bei 14 USDollar. Die weitere Entwicklung des Weltmarktpreises für Erdöl- und Erdölprodukte ist infolge starker imperialistischer Interessengegensätze schwer einschätzbar. Dadurch ergeben sich bestimmte Unsicherheiten für die Planung des in der DDR verteilbaren Nationaleinkommens im Fünfjahrplanzeitraum von 1990. Erforderliche Entscheidungen müssen mit den Jahresvolkswirtschaftsplänen getroffen werden“. Gemäß Beschlußpraxis bei den Entwürfen zum Fünfjahrplan und den Jahresvolkswirtschaftsplänen wird die Stellungnahme der Abteilung Planung und Finanzen Bestandteil des Politbürobeschlusses. Ich halte es für außerordentlich bedenklich, dem Politbüro als Beschlußvorlage zu unterbreiten, daß die volkswirtschaftliche Entwicklung (wenn man die Stellungnahme wörtlich nimmt, geht es sogar um die Entwicklung aller gesellschaftlichen Bereiche – siehe Verteilung des Nationaleinkommens) gebunden ist an die

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Entwicklung des Weltmarktpreises für Erdöl und das mindestens für die Dauer des gegenwärtigen Fünfjahrplanes. Es kann doch nicht sein, daß beschlossen wird, daß ein von uns nicht beeinflußbarer Preismechanismus auf dem kapitalistischen Weltmarkt die Prioritäten für unsere Entwicklung setzt. Wenn die Preisentwicklung „schwer einschätzbar“ ist, ist es für mich unverständlich, bereits für 1987 700 Mio. M Einnahmen aus einer Preiserhöhung zum Bestandteil des Planes zu machen, wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach Aussagen der Experten keine Anzeichen dafür vorhanden sind, daß sich in absehbarer Zeit eine Preiserhöhung abzeichnet. Ich bitte Sie persönlich, Ihren Einfluß darauf geltend zu machen, daß diese Passage nicht zur Beschlußfassung gelangt. Das könnte durch -

eine Rücksprache mit Genosse Ehrensperger oder eine spezielle Information an den Genossen Minister erfolgen.

Zu diesem Schreiben an Sie, Genosse Generalmajor, gibt es keine Notizen oder Kopien. Ich habe mit keinem anderen Genossen darüber gesprochen. OSL Roigk, Horst

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VIII. Das Scheitern der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft am technischen Fortschritt und an der Basisinnovation Informationstechnik Die Beweisführung für das Scheitern des realen Sozialismus der DDR erfolgt in drei Schritten: 1. Schritt: Innovation und Diffusion in Joseph A. Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1912).1 2. Schritt: Der wissenschaftliche Nachweis, dass eine Diffusion von Innovationen in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft systemimmanent nicht möglich ist. 3. Schritt: Der empirische Befund: Das Scheitern des technischen Fortschritts in der Eisen- und Stahlindustrie, in der Textilindustrie, im Druckmaschinenbau, im Automobilbau und an der Basisinnovation Informationstechnik. 1. Innovation und Diffusion in Joseph A. Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ (1912)2 Mit seiner 1912 publizierten „Theorie“ legte Joseph Schumpeter (1883-1950) den Grundstein für die spätere Innovationstheorie. „Zum einen werden hier psychologische, soziologische, technologische und wirtschaftliche Überlegungen auf einmalige Weise miteinander verknüpft. Zum anderen offenbart sie die enge Synthese der kurz- bis mittelfristigen konjunkturellen Sichtweise mit der langfristig angelegten Betrachtung der Wachstumstheorie. So kann es auch nicht erstaunen, dass Schumpeters Überlegungen noch heute großen Einfluss auf verschiedene Teilbereiche der Wirtschaftstheorie, insbesondere auf die moderne Wachstumstheorie, die „Neue Politische Ökonomie“ und die moderne Betriebswirtschaftslehre haben“.3 Schumpeters schöpferischer Unternehmer „gehört in ein Modell wirtschaftlicher Entwicklung und ist der Wirklichkeit abgelauscht“.4 Ziel ist eine Entwicklungstheorie, die „Ursachen und Vorgang der Entwicklung selbst erklärt“.5 Das Modell und seine Prämissen beschreibt Schumpeter so: „So wollen wir denn die Grundzüge einer gedanklichen Nachbildung des wirtschaftlichen Getriebes ent1

Schumpeter Joseph A.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912. Herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006.

2

Schumpeter, Joseph A.: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912. Herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006, S. IX.

3

Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre. Grundriss für Studierende, Herne/ Berlin 2004, S. 314.

4

Redlich, Fritz: Unternehmer, in: HdSW, 10. Bd., 1959, S. 440.

5

Schumpeter, Theorie, S. 99.

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werfen. Und zwar wollen wir dabei zunächst an eine verkehrswirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft denken, also an eine solche, in der Privateigentum, Arbeitsteilung und freie Konkurrenz herrscht“.6 Der Ausgangspunkt für Schumpeter ist, „den Kreislauf der Wirtschaft in seiner Bedingtheit durch gegebene Verhältnisse zu erklären“.7 Mit „Kreislauf der Wirtschaft ist die kristallklare Erfassung der Volkswirtschaft in einem statischen Gleichgewicht interdependenter Größen“ 8 durch Léon Walras (1834-1910) gemeint. Im statischen Gleichgewicht erzeugt der „Produzent eine solche Menge von Produkten, daß die Grenzkosten dem Grenzerlös gleich sind. […] Der Unternehmer wäre, wie gesagt – wir setzen fest, daß wir den Begriff auf unsern statischen Betriebsleiter nicht anwenden wollen –, ein entrepreneur faisant ni bénéfice ni perte (Walras). […] Voraussetzung ist immer, daß sich die Wirtschaftsweise und überhaupt die Gesamtheit aller Daten gleichbleibt. […] einer ruhenden, passiven, von den Umständen bedingten, stationären, von einer statischen Wirtschaft“.9 Schumpeter resümiert: „Überblicken wir nun den zurückgelegten Weg, so sehen wir, daß der Kreislauf der Wirtschaftsperioden soweit nichts enthält, was auf die Möglichkeit einer Entwicklung aus sich selbst heraus hindeuten würde“.10 Auch Karl Marx gehört zu den Vertretern der stationären Wirtschaft.11 „Der einzige größere Versuch nach dem Entwicklungsproblem hin ist der von Karl Marx. Wir meinen hier nicht seine Geschichtsauffassung, denn diese Auffassung steht nicht im Zusammenhange mit seiner exakten Theorie. Sie ist vielmehr eine geschichtsphilosophische Konstruktion wie jede andre. Wenn man ein wenig über die Sache nachdenkt, wird man einsehen, daß kein Paradoxon darin liegt, wenn wir sagen, daß eine ökonomische Erklärung der Geschichte, so wie sie Marx versucht, nicht zur Ökonomie im engeren Sinne gehört, denn von Ökonomie kommt in diesem Gedankengang eben nichts andres vor als die Behauptung, daß die Momente, auf die sich das soziale Geschehen zurückführen lasse, im wesentlichen wirtschaftlicher Natur seien. Das ist aber kein ökonomischer Gedankengang, er operiert nicht weiter mit ökonomischen Methoden, Theoremen und Begriffen und ist für die Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen selbst irrelevant. Allein Marx hat abgesehen von dieser Leistung noch eine andre auf „Entwicklung“ bezügliche aufzuweisen. Er hat es versucht die Entwicklung des Wirtschaftslebens selbst mit den Mitteln der ökonomischen Theorie zu behandeln. Seine Akkumulations-, seine Verelendungs-, seine Zusammenbruchstheorie ergeben sich wirklich 6

Ebd., S. 4.

7

Ebd., S. 1-102.

8

Waffenschmidt, Walter Georg: Walras, Léon (1834-1910), in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 495.

9

Schumpeter, Theorie, S. 46, 90, 97, 87. 10 Ebd., S. 87. 11 Schneider, Erich: Statik und Dynamik, in: HdSW, 10. Bd., 1959, S. 23: Statik und Dynamik als Formen der Analyse wirtschaftlicher Phänomene. Wir sagen, das Erscheinungsbild eines wirtschaftlichen Ablaufs sei stationär, wenn die relevanten Variablen im Zeitablauf konstant sind. Das Erscheinungsbild eines wirtschaftlichen Ablaufs ist dagegen nicht stationär oder evolutorisch, wenn die relevanten Variablen im Zeitablauf nicht konstant sind.

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aus rein ökonomischen Gedankengängen und stets ist sein Blick auf das Ziel gerichtet, die Entfaltung des Wirtschaftslebens als solche und nicht bloß seinen Kreislauf in einem bestimmten Zeitpunkt gedanklich zu durchdringen. Aber die Basen seiner Theorie sind dennoch durchaus statischer Natur – sind es doch die Basen der Klassiker. Und wenn auch der Ton Entwicklung atmet und darstellerisch das Moment der Statik zurücktritt, so bleibt doch auch in seiner Hand das klassische Gebäude, was es seiner Natur nach ist“.12 Auf dem Hintergrund der stationären Wirtschaft analysiert Schumpeter dann das „Grundphänomen der wirtschaftlichen Entwicklung“. „Unter ‚Entwicklung‘ sollen hier nur solche Veränderungen des Kreislaufs des Wirtschaftslebens verstanden werden, die die Wirtschaft aus sich selbst heraus zeugt, nur eventuelle Veränderungen der ‚sich selbst überlassenen‘, nicht von äußerm13 Anstoße getriebenen, Volkswirtschaft“. Neben den statischen Betriebsleitern in der stationären Wirtschaft führt Schumpeter einen zweiten Typus wirtschaftlichen Handelns vor, „der ein neues und selbständiges Agens in der Volkswirtschaft darstellt, nämlich das schöpferische Gestalten auf dem Gebiete der Wirtschaft. […] Wir gehen überhaupt von einer statischen Volkswirtschaft aus und stellen unser neues Agens in eine solche hinein, damit es sich in allen seinen Formen entsprechend abhebt“.14 Der zweite Typus, der Unternehmer, handelt dynamisch-energisch. „Die wesentlichen Merkmale dieses Typus sind erstens die Energie des Handelns und zweitens eine besondere Art der Motivation. […] Der Mann der Tat handelt auch auf wirtschaftlichem Gebiete außerhalb der gegebenen Bahn mit derselben Entschlossenheit und demselben Nachdruck wie innerhalb des erfahrungsgemäß Gegebenen. Die Tatsache, daß etwas noch nicht getan wurde, wird von ihm nicht als Gegengrund empfunden. Jene Hemmungen, die für die Wirtschaftssubjekte sonst feste Schranken ihres Verhaltens bilden, fühlt er nicht. Die verschiedenen Möglichkeiten, die er überhaupt sieht, unterscheiden sich für ihn nicht wesentlich nach dem Kriterium, ob sie schon realisiert wurden oder nicht. Er sieht sie alle mit der gleichen Klarheit und wählt frei zwischen ihnen. Sie alle sind für ihn in gleicher Weise real“.15 Zu den Motiven des dynamischen Unternehmens führt Schumpeter aus: „Wir finden deren zwei: Die Freude an sozialer Machtstellung und die Freude an schöpferischem Gestalten. […] Unser Mann der Tat ist ein Agens der Entwicklung insofern, als er eine stete Quelle von Veränderungen auf dem Felde der Wirtschaft ist, und er ist das Agens der wirtschaftlichen Entwicklung, weil er eine Veränderung aus der Wirtschaft selbst heraus erzeugt. […]16 Das schöpferische Gestalten 12 Schumpeter, Theorie, S. 98. 13 Ebd., S. 103. 14 Ebd., S. 104 f. 15 Ebd., S. 131 f. 16 Dies ist nur in der Marktwirtschaft mit Wettbewerb möglich. In der marktlosen politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft bestimmen wirtschaftsfremde über den technischen Fortschritt.

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verändert, wie wir sehen werden, die Daten auch der statischen Wirtschaften. Die letzern müssen sich anpassen. […] Unser Mann der Tat entzieht einen Teil der Güter, die in der statischen Wirtschaft, von der wir ausgehen, vorhanden sind, den statischen Verwendungen, denen sie bisher regelmäßig dienten oder für die sie produziert wurden, und verwendet sie anders. Das ist es, was wir unter der Durchsetzung neuer Kombinationen verstehen“.17 „Die wirtschaftliche Führerschaft betätigt sich also an Aufgaben, die sich in die folgenden Typen fassen lassen: 1. Die Erzeugung und Durchsetzung neuer Produkte oder neuer Qualitäten von Produkten, 2. die Einführung neuer Produktionsmethoden, 3. die Schaffung neuer Organisationen der Industrie (Vertrustung z. B.), 4. die Erschließung neuer Absatzmärkte, 5. die Erschließung neuer Bezugsquellen. Immer handelt es sich um die Durchsetzung einer anderen als der bisherigen Verwendung nationaler Produktivkräfte, darum, daß dieselben ihren bisherigen Verwendungen entzogen und neuen Kombinationen dienstbar gemacht werden. Die Natur der dabei zu bewältigenden Leistung ist charakterisiert einmal durch die objektive und subjektive Schwierigkeit, neue Wege zu gehen und sodann durch die Widerstände der sozialen Umwelt dagegen“.18 Nur eine „Minorität von Leuten mit einer schärfern Intelligenz und einer beweglichern Phantasie sehen zahllose neue Kombinationen. Mit offneren Augen blicken sie in die alltäglichen Vorkommnisse und eine Menge Ideen suggerieren sich ihnen wie von selbst. […] Nicht jeder, dem eine Unternehmung gehört und auch nicht jeder, der tatsächlich an der Spitze einer solchen steht, ist Unternehmer in unserm Sinne. Nur dann erfüllt er die wesentliche Funktion eines solchen, wenn er neue Kombinationen realisiert, also vor allem, wenn er die Unternehmung gründet, aber auch, wenn er ihren Produktionsprozeß ändert, ihr neue Märkte erschließt, in einen direkten Kampf mit Konkurrenten eintritt“.19 Schumpeter unterscheidet streng nach dem Wissen, das insgesamt vorhanden ist und dem Wissen, das der dynamische Unternehmer benötigt. „In der richtigen Wahl liegt ein wesentliches Kriterium seiner Befähigung. […] Deshalb ist stets der vorhandene Vorrat an technischem Wissen wesentlich zu unterscheiden von jenem Wissen, das in der Produktion tatsächlich verwertet wird. Beide fallen nicht zusammen, denn es ist weder das gesamte Wissen einer Zeit in der Wirtschaft verwendet noch alles das, was in der Wirtschaft geschieht, wissenschaftlich ausgearbeitet. Die tatsächlichen Kombinationen sind nicht einfach das Spiegelbild der wissenschaftlichen Erkenntnis, nicht etwa nur tatsächlich nicht, sondern auch 17

Ebd., S. 138, 147, 154.

18

Schumpeter, J. A.: Unternehmer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 8. Bd., Jena 1928, S. 483.

19

Schumpeter, Theorie, S. 163, 174.

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prinzipiell nicht. Und die Funktion des Durchführens neuer Kombinationen und die der Erweiterung unserer Erkenntnis, die Funktion des Unternehmers und die Funktion des Erfinders sind ganz verschiedene Dinge. Der Unternehmer ist weder prinzipiell selbst Erfinder – wo er es ist, liegt zufällige Vereinigung verschiedener Funktionen vor –, noch ist er der Handlanger und Ordonnanzoffizier des Erfinders, so daß der Erfinder der eigentliche Unternehmer wäre. Die Erfahrung bestätigt das, aber die Analyse hat dieser Tatsache nicht entsprechend Rechnung getragen. Wie schon gesagt, für die Vorgänge der Wirtschaft kommt nur der Unternehmer in Betracht, Erfindungen haben dafür eine ganz sekundäre Rolle – sie vermehren nur die ohnehin schon unbegrenzte Zahl der vorhandenen Möglichkeiten. […] Bei der Durchsetzung neuer Kombinationen also, welchen Vorgang wir als ‚wirtschaftliche Unternehmung‘ im eigentlichen Sinne bezeichnen möchten, tut er zweierlei: Erstens fällt er die von einer unübersehbaren Anzahl verschiedener Momente, von denen manche überhaupt nicht genau gewertet werden können, abhängige richtige Entscheidung, ohne diese Momente erschöpfend zu untersuchen, was nur wenigen Leuten von ganz bestimmter Anlage möglich ist, und zweitens setzt er sie dann durch. Das sind die Charakteristika und die Funktionen unsres Unternehmers, unsres Mannes der Tat. Sie sind untrennbar und gleich wichtig. Und das Resultat ist wirtschaftliche Entwicklung, Fortschritt. Nur von unserm Typus gehen sie aus, nur durch seine Betrachtung sind sie zu verstehen“.20 Um eine neue Kombination durchzuführen, entzieht er produktive Leistungen ihren statischen Verwendungen, „verwendet sie, ohne ihre Besitzer weiter zu fragen, und zwingt so die Volkswirtschaft in neue Bahnen hinein. […] Der typische Vorgang ist also stets der, daß sich der Unternehmer zur Durchführung seiner Pläne vor allem an einen Bankier wendet und sich von ihm Kredit verschafft. […] Dazu braucht der Unternehmer Kaufkraft, nicht Güter. Er braucht Kaufkraft und nicht Güter, um die nötigen produktiven Leistungen aus ihren bisherigen Verwendungen zu ziehen. Es sind Kaufkraftmengen und nicht Gütermengen, was nunmehr neu gebraucht wird und nicht vorhanden ist. […] Der Kredit ist also der Hebel dieses Güterentzuges. In diesem Sinne definieren wir also den innersten Kern des Kreditphänomens in der folgenden Weise: Kredit ist wesentlich Kaufkraftschaffung zum Zwecke ihrer Überlassung an den Unternehmer, nicht aber einfach Überlassung von vorhandener Kaufkraft – von Bescheinigungen über vorhandene Produkte – an ihn. Die Kaufkraftschaffung charakterisiert prinzipiell die Methode, nach der sich die wirtschaftliche Entwicklung in der nichtgeschlossenen Volkswirtschaft durchsetzt. Durch den Kredit wird den Unternehmern der Zutritt zum volkswirtschaftlichen Güterstrom eröffnet, ehe sie den normalen Anspruch darauf erworben haben. Es ersetzt gleichsam eine Fiktion dieses Anspruchs temporär diesen Anspruch selbst. Die Kreditgewährung in diesem Sinn wirkt wie ein Befehl an die Volkswirtschaft, sich den Zwecken des Unternehmers zu fügen, wie eine Anweisung auf die Güter, die er braucht, wie ein Anvertrauen von Produktivkräften. Nur so könnte sich die 20 Ebd., S. 177 ff.

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wirtschaftliche Entwicklung durchsetzen, würde sie sich aus einem statischen Zustand erheben. Und diese Funktion bildet den Grundstein des modernen Kreditgebäudes“.21 „Das Kapital ist nichts anderes als der Hebel, der den Unternehmer in den Stand setzen soll, die konkreten Güter, die er braucht, seiner Herrschaft zu unterwerfen, nichts andres als ein Mittel, über Güter zu neuen Zwecken zu verfügen oder als ein Mittel, der Produktion ihre neue Richtung zu diktieren. […] Aus diesem Grunde werden wir denn das Kapital definieren als jene Summe von Geld und andern Zahlungsmitteln, welche zur Überlassung an Unternehmer in jedem Zeitpunkte verfügbar ist“.22 Beim Unternehmergewinn greift Schumpeter auf Edmund Cartwright (17431832) zurück, der 1785 den ersten brauchbaren Webstuhl erfand. Ein Arbeiter am mechanischen Webstuhl produzierte 6mal soviel wie ein Handweber. Cartwright machte einen hohen Pioniergewinn. Der hohe Gewinn des Pionierunternehmers lockt weitere Unternehmer an und es kommt zur Diffusion des mechanischen Webstuhls in der gesamten Textilindustrie. Dieser Prozeß wird von Schumpeter genau beschrieben: „Nun aber folgt der zweite Akt des Dramas. Der statische Bann ist gebrochen und immer neue Betriebe mit mechanischen Webstühlen entstehen unter dem Impuls des lockenden Gewinns. Eine vollständige Reorganisation der Branche tritt ein mit ihren Produktionssteigerungen, ihrem Konkurrenzkampfe, ihrer Verdrängung statischer Betriebe, ihren eventuellen Arbeiterentlassungen usw. Folglich verschwindet der Überschuß unsres Wirtschaftssubjekts und seiner ersten Nachfolger. Allerdings nicht sofort, sondern in der Regel erst nach einer längern oder kürzern Periode fortschreitenden Sinkens. […] Den Wirtschaftssubjekten fällt der Gewinn zu, auf deren Tat die Einführung der Webstühle zurückzuführen ist, mögen sie sie erzeugen und verwenden oder nur erzeugen oder nur verwenden. In unserem Beispiel liegt das Hauptgewicht auf der Verwendung, doch ist das nicht essentiell. Die Einführung erfolgt durch Gründung von neuen Betrieben, sei es zur Erzeugung, sei es zur Verwendung oder zu beidem. Was haben nun unsre Wirtschaftssubjekte dazu beigesteuert? Nur den Willen und die Tat: Nicht konkrete Güter, denn diese haben sie gekauft – von andern oder von sich selbst –, nicht die Kaufkraft, mit der sie kauften, denn diese haben sie sich ausgeliehen – von andern oder, wenn wir Errungenschaften aus frühern Perioden auch einbeziehen wollen, von sich selbst –. Und was haben sie getan? Nicht irgendwelche Güter aufgehäuft, auch keine ursprünglichen Produktionsmittel geschaffen, sondern vorhandene Produktionsmittel anders, zweckmäßiger, vorteilhafter verwendet. Sie haben ‚neue Kombinationen durchgesetzt‘. Sie sind Unternehmer. Und ihr Gewinn, das Plus, dem keine Verpflichtung gegenübersteht, ist ein Unternehmergewinn. […] Aber die Einführung von Großbetrieben ist schwer. Unter unsern Voraussetzungen fehlen alle Bedingungen dafür, die Arbeiter, die geschulten Beamten, die nötigen Marktverhältnisse. Zahllose Widerstände sozialer und 21 Ebd., S. 188, 194, 214. 22 Ebd., S. 226, 236.

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politischer Natur arbeiten entgegen. Und die Organisation selbst, noch unbekannt, bedarf zu ihrer Aufrichtung eines speziellen Talentes. Hat aber jemand alles das in sich, was zum Erfolge in diesen Umständen gehört und kann er sich den nötigen Kredit verschaffen, dann kann er die Produkteinheit billiger auf den Markt bringen und, wenn unsre drei Bedingungen realisiert sind, einen Gewinn machen, der in seinen Händen bleibt. Aber er hat auch für andre gesiegt, für andre die Bahn gebrochen und eine Vorlage geschaffen, die sie kopieren können. Sie können und werden ihm folgen, zunächst einzelne, dann ganze Haufen. Wieder tritt jener Reorganisationsprozeß ein, dessen Resultat die Vernichtung des Kostenüberschusses sein muß, wenn die neue Betriebsform dem statischen Kreislauf eingegliedert ist. Aber vorher wurden eben Gewinne gemacht. Wiederum: Jene Wirtschaftssubjekte haben nichts andres getan, als vorhandene Güter wirksamer zu verwenden, sie haben neue Kombinationen durchgesetzt und sind Unternehmer in unserm Sinne. Ihr Gewinn ist ein Unternehmergewinn“.23 Schumpeter dürfte auch von Charles Darwin (1809-1892) angeregt worden sein. Wer sich in der Evolution nicht anpasst, überlebt nicht. Der Schumpetersche Nachahmer ist durch den Wettbewerb gezwungen sich anzupassen um zu überleben. Joachim Radkau hat die Technik in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis heute analysiert. Seine forschungsleitende Hypothese ist das Theorem der „angepassten Technik als zentrale Ursache für die Flexibilität der Wirtschaft im Langzeittrend“.24 Paraskewopoulos resümiert die Schumpetersche Theorie bei der die Investitionen eine zentrale Rolle spielen. „Insbesondere betonte er die Investitionen in neue Produktionstechnologien und Organisationsstrukturen. Deshalb sind für Schumpeters Argumentation die Unterscheidungen von Invention (Erfindung) und Innovation (Entwicklung und Einführung neuer Methoden in den Produktionsprozess) sowie von innovativen (Pionierunternehmer) und imitierenden Unternehmern von entscheidender Bedeutung. Während Erfindungen jederzeit stattfinden können, hängt die Einführung und Durchsetzung neuer Produktionsmethoden wesentlich von der Risikobereitschaft und Energie der handelnden Unternehmer ab. Nur ein geringer Teil der Unternehmer zählt zu diesen innovativen dynamischen Unternehmern. Sie sind diejenigen, die aufgrund ihrer besonderen Persönlichkeitsstruktur, Risikobereitschaft und Weitsicht neue Erfindungen als erste wirtschaftlich nutzen (Basisinnovationen). Folgt man den Überlegungen Schumpeters, dann sind diese Basisinnovationen der Ausgangspunkt für die „langen Wellen“ der wirtschaftlichen Entwicklung (Kondratieffzyklus). Die langen Wellen enthüllen demnach die Natur und den Mechanismus des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dieser Theorie zufolge be-

23 Ebd., S. 283-285. 24 Radkau, Joachim: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2008.

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steht jede lange Welle im Kern aus einer industriellen Revolution (Basisinnovation) und der Absorption ihrer Wirkungen u. a. durch Imitation. Diese Basisinnovationen formen nach Schumpeter – der sich auf Kondratieff bezieht – die jeweils bestehende Struktur der Wirtschaft grundlegend um, indem insbesondere neue Produktionsmethoden, neue Güter und neue Organisationsformen entstehen sowie neue Versorgungsquellen erschlossen werden. Während der Ausprägung dieser neuen Strukturen findet eine lebhafte Ausdehnung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit statt, die durch kurze Phasen negativer wirtschaftlicher Entwicklung unterbrochen sein kann. Gleichzeitig beginnt die Ablösung der alten Strukturen (Prozess der schöpferischen Zerstörung) mit der Folge, dass Abschwung und Depression unvermeidlich werden. Neben diesen langen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung, die durch Basisinnovationen ausgelöst werden und deren Gesetzmäßigkeit umstritten ist, sind es vor allem jene häufiger auftretenden Innovationen, die das durch die Basisinnovation entstandene Potential immer intensiver nutzen, die den Konjunkturverlauf in der kurzen und mittleren Frist beeinflussen. Sie finden ihren Ausdruck in den schon bekannten Juglar- und Kitchinzyklen. Diese kurz- bis mittelfristige Innovationsdynamik wird wesentlich vom dynamischen Unternehmer bestimmt. Er ist der Erste, der die vorhandene Technologie intensiver nutzt, weshalb sich der dynamische Unternehmer in einer monopolähnlichen Situation befindet. Dies hat zur Folge, dass er zunächst hohe Gewinne realisieren kann. Durch die Etablierung der Innovation am Markt und die monopolähnlichen Renditen werden andere Unternehmer (Imitatoren) ermutigt, sich ebenfalls dieser Neuerungen zu bedienen, wodurch die Wirtschaft aufblüht und sich die Neuerung durchsetzt. Je mehr Unternehmer die Innovation nutzen, desto geringer werden die Gewinne der neu auf den Markt drängenden Unternehmen. Nach einiger Zeit sind aufgrund der Zunahme des Wettbewerbs – auch für den Pionierunternehmer – die Möglichkeiten, die ursprüngliche Innovation gewinnbringend zu verwerten, erschöpft. Die sinkenden Gewinne leiten den Abschwung der Wirtschaft ein. Ein neuer Aufschwung kommt erst wieder zustande, wenn eine neue Erfindung durch einen dynamischen Unternehmer wirtschaftlich verwertet wird. Die treibende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung ist nach Schumpeter somit die Innovation und der sie durchführende dynamische Unternehmer“.25 Die freie Konkurrenz gehört zu den Prämissen von Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Später wurde die Bedeutung des Wettbewerbs von Wilhelm Röpke und Fritz Machlup hervorgehoben. Der Wettbewerb, so Röpke, enthält eine Doppelnatur. „Sie liegt darin, daß er sowohl eine Veranstaltung zur Stimulierung der Leistung wie eine solche zur Steuerung und Koordination des Wirtschaftsprozesses ist“.26 Nach Machlup hat der Wettbewerb mehrere Funktionen. Eine Funktion des Wettbewerbs ist, die verfügbaren Produktionsfaktoren in jene „Verwendungen zu lenken, die zur Hervorbringung der am dringlichsten 25 Paraskewopoulos, Volkswirtschaftslehre, S. 315 f. 26 Röpke, Wilhelm: Wettbewerb (II), in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 32.

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nachgefragten Güter führen. Der Wettbewerb in diesem Sinne ist also vornehmlich ein Lenkungsinstrument. Ein viel engerer Begriff des Wettbewerbs erlaubt es, seine Funktion in der Kostenkontrolle für die einzelnen Betriebe und Unternehmen zu sehen. Auf Grund eines anderen Wertungssystems liegt die Hauptfunktion des Wettbewerbs in der breiten Streuung wirtschaftlicher Macht. Die Wertungssysteme und Denkmodelle, von denen die drei genannten Funktionen des Wettbewerbs abgeleitet werden, sind miteinander vereinbar, d. h. die Konkurrenz kann gleichzeitig als Kostenkontroll-, Lenkungs- und Entmachtungsinstrument angesehen werden, allerdings nur, wenn eine ganz besondere Konstellation von Prämissen vorliegt“.27 Machlup weist auch auf den Zusammenhang von Wettbewerb und Gewinnstreben hin. „Nach alldem ist es ziemlich klar, daß die Hypothese des Höchstgewinnstrebens eine notwendige Voraussetzung der meisten Wettbewerbsbegriffe ist und daß marktwirtschaftliche Konkurrenz ohne Gewinnstreben nicht viel Sinn hat. […] Ein Unternehmen unter starkem Konkurrenzdruck kann es sich nicht leisten, auf den höchstmöglichen Gewinn zu verzichten“.28 Auch W. Pfeiffer und E. Staudt knüpfen in dem Beitrag „Innovation“ an Schumpeter an.29 Bei der Marktentwicklung von innovativen Produkten werden vier Stadien unterschieden. „Der Prozeß von Kreierung und Verbreitung von innovativen Produkten umfaßt in der Regel vier Stadien, die man mit Experimentierungs-, Expansions-, Ausreifungs- und Stagnationsphase bezeichnen kann. Wie der Name der ersten Phase schon deutlich macht, handelt es sich am Anfang um einen Vorgang des Suchens, Irrens, Ausprobierens, und zwar so lange, bis ein Produkt entwickelt ist, das auch bei Abnehmern auf Resonanz stößt. Erfindung und Entwicklung des Produktes zur technischen Marktreife und nicht zuletzt Schaffung eines ausbaufähigen Abnehmerkreises bilden die Charakteristika dieser Marktphase. Obgleich in diesem Stadium noch kein eigentlicher Markt existiert, gibt es meistens bereits mehrere Unternehmungen, die im Wettbewerb um den ersten erfolgreichen Vorstoß untereinander stehen. […] Wer von den Wettbewerbern auf den verschiedenen Ebenen nicht mithält, wird innerhalb kurzer Zeit aus dem Markt geworfen, unabhängig davon, welche Marktform, die des Oligopols oder Polypols, besteht. Mit dem Bild vom Wettlauf ist diese Situation treffend wiedergegeben“.30 Innovation, Wettbewerb und volkswirtschaftliches Wachstum. „Eine Erfindung bzw. Innovation kann in ihrer Art einzigartig sein, sie bleibt, solange sie einen Einzelfall darstellt, ohne Bedeutung für die Volkswirtschaft. Es ist daher erst der Wettbewerb, der durch das Nachziehen der Wettbewerber eine Innovation verbreitet und aus einem singulären Phänomen ein allgemeines macht. Soweit es Unternehmer gibt, die bereit sind, neue Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen und 27 Machlup, Fritz: Wettbewerb (III), in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 47. 28 Ebd., S. 48 f. 29 Grochla, Erwin, Wittmann, Waldemar (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., 1984, Sp. 1945 f. 30 Heuß, Ernst: Wettbewerb, in: HdWW, 8. Bd., 1988, S. 684.

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nach erfolgreichem Vorstoß Unternehmer da sind, diese Neuerungen aufzugreifen, bleibt auch den anderen Unternehmern keine andere Wahl, als ihnen zu folgen, so sehr sie es vorziehen würden, am bisherigen festzuhalten. Dieser Zwang, der von einer Minderheit (initiativer Unternehmer) auf die Mehrheit (konservativer Unternehmer) ausgeht, aktiviert menschliche Energien in einem Umfange, wie es von keinem anderen sozialen System bisher bekannt ist. Die einzelnen Marktphasen zeigen den Prozeß der Verbreitung von Innovationen durch den Wettbewerb“.31 Die Forschungen zum technischen Fortschritt aus volkswirtschaftlicher und aus betriebswirtschaftlicher Sicht knüpfen an Schumpeter an. „In volks- und betriebswirtschaftlicher Betrachtung wird technischer Fortschritt überwiegend als eine bestimmte Veränderung vorhandener Produktionsfunktionen oder als Schaffung neuer Produktionsfunktionen definiert“.32 Der technische Fortschritt in Volks- und Betriebswirtschaftslehre ist ganz unterschiedlich in die Produktionsfunktion eingebaut“.33 „Technischer Fortschritt in der Volkswirtschaft kann uns in drei Formen begegnen: - Die Anwendung neuer Produktionsverfahren, - die Schaffung neuer oder qualitativ verbesserter Güter und - die Entwicklung und Nutzbarmachung neuer Mittel und Wege zur besseren Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Hierbei handelt es sich weitgehend um qualitative, nicht exakt quantifizierbare Merkmale. Es liegt daher nahe, zumindest im Rahmen einer die quantitative Analyse in den Vordergrund rückenden Betrachtungsweise, auf eine Dimension des Fortschrittbegriffes abzustellen, die einer mengenmäßigen Erfassung leichter zugänglich ist und die sich darüber hinaus mit Hilfe der gebräuchlichen, z. B. in der Produktions- und Wachstumstheorie verwendeten Variablen umschreiben läßt. In der Volkswirtschaftslehre spricht man daher von technischem Fortschritt, wenn es möglich ist, eine Erhöhung des Sozialprodukts mit konstantem Input (Arbeitsund Kapitaleinsatz) bzw. ein konstantes Sozialprodukt mit vermindertem Einsatz an Produktionsfaktoren zu erreichen. Insoweit läuft technischer Fortschritt auf eine Zunahme der globalen Faktorproduktivität hinaus. Dieser Tatbestand läßt sich zwar prinzipiell messen, stellt aber gegenüber der ursprünglichen Kennzeichnung sehr viel vordergründiger auf die Wirkungen des technischen Fortschritts statt auf seine Ursachen ab“.34

31 Ebd., S. 686. 32 Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt, in: HdWW, 7. Bd., 1988, S. 567. 33 Ebd. 34 Walter, Helmut: Technischer Fortschritt I: in der Volkswirtschaft, in: HdWW, 7. Bd., 1988, S. 569.

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In dem „klassischen Wachstumsmodell nach Solow (1956, 1957)35 gelang es nicht, den technischen Fortschritt in den Ansatz zu integrieren, obwohl er nach seinen Untersuchungen zu über 70 % für die wirtschaftliche Entwicklung zuständig ist“.36 Neues Wissen wird in „aller Regel durch mehr oder weniger gezielte Forschungs- und Entwicklungstätigkeit (F. u. E.) erreicht. Die damit zusammenhängenden Probleme, etwa die Messung des F. u. E.-Inputs und des entsprechenden Outputs, der Grad des Zusammenhangs zwischen beiden und die Möglichkeiten seiner Beeinflußbarkeit usw., werden zwar in der Literatur eingehend diskutiert, haben aber bei weitem nicht jenen Grad von formaler Geschlossenheit erreicht, wie die den technischen Fortschritt behandelnden Wachstumsmodelle. Für den Ökonomen werden Erfindungen als unmittelbares Ergebnis von F. u. E. ohnehin erst bedeutsam, wenn und sofern sie tatsächlich angewendet, also zu Innovationen werden. […] Bei aller Bedeutung, die Erfindergeist und Forscherdrang, also Angebotsfaktoren, für die Hervorbringung von technischem Fortschritt haben, entscheidet letztlich allein die Verwendbarkeit einer Neuerung über deren Erfolg und Verbreitung, also ihre Geeignetheit, besser als bisherige Güter, Verfahren u. dgl. zur Bedürfnisbefriedigung beitragen zu können. Technologien konkurrieren somit wie andere Güter um die Gunst der Nachfrager. Und dies gilt auch und besonders im Hinblick auf die vertikale Produktionsstruktur: Die Verfahrenstechnologie eines Produzenten basiert schließlich auf der Produkttechnologie seines Zulieferers. Dieser Gedanke von Schmookler kann durchaus zu einer Theorie des nachfrageinduzierten Fortschritts erweitert werden, mit der grundlegenden Hypothese, daß sich die Unternehmer bei der Entwicklung neuer Güter und Produktionsverfahren in erster Linie von deren Durchsetzungschancen und damit von der mutmaßlichen Nachfrage leiten lassen“.37 Grundauffassungen vom technischen Fortschritt im Betrieb: „Technischer Fortschritt kann unter Zuhilfenahme einer Produktionsfunktion definiert werden. Unter einer Produktionsfunktion wird eine Abbildung von Inputs auf Outputs verstanden, den Axiomen von Shephard genügt. Diese Abbildung sichert insbesondere Wirtschaftlichkeit, d. h. gegebene Outputs werden mit minimalen Inputs erzeugt. Bei gegebenem Preissystem können verschiedene Arten von Inputs bewertet und aggregiert werden. So sind neben mengenmäßigen, auch wertmäßige Produktivitäten als Output-Input-Quotienten feststellbar. Technischer Fortschritt gilt als eine Produktivitätserhöhung durch Veränderung der Produktionsfunktion im oben erläuterten Sinne. Ein gegebener Output kann also durch eine geringere Faktoreinsatzmenge bzw. einen geringeren Wert

35 Solow, Robert M.: A Contribution to the Theory of Economic Growth, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 70, 1956, S. 65-94. – Technical Change and the aggregate production function, in: Review of Economics and Statistics, Vol. 39, 1957, S. 312-320. 36 Röpke, Jochen, Stiller, Olaf: Einführung zu Joseph Schumpeter, Theorie, S. XVI. 37 Walter, Helmut: Technischer Fortschritt, S. 581 f.

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eingesetzter Faktoren erzeugt werden, wobei wiederum eine dem Wirtschaftlichkeitsprinzip entsprechende Kombination von Faktoren realisiert werden soll. Unter technischem Fortschritt wird aber auch die Produktion neuer, bis zum Betrachtungszeitpunkt unbekannter Produkte verstanden. Im Sprachgebrauch der Produktionsfunktion kann man sich vorstellen, daß eine wirtschaftliche Faktorkombination realisiert wird, die zur Erzeugung des gegebenen Outputs (des neuen Produkts) bisher nicht bekannt war, also eine Produktionsfunktion geschaffen wird. […] Zu den genannten Schwierigkeiten empirischer Analyse tritt eine weitere. Die Betriebswirtschaftslehre arbeitet mit Systemen von Produktionsfaktoren, die ‚Organisation‘ oder ‚technisches Wissen‘ als Elemente umfassen (Gutenberg). Eine Veränderung der Produktionsfunktion oder der Technologiegrenzen im Eigenschaftsraum kann dann sowohl auf technische Veränderungen, z. B. beim Einsatz der Werkstoffe, zurückgehen als auch auf Organisationsänderungen, z. B. Einsatz neuer Planungsverfahren. Bei letzterem wird allenfalls hinsichtlich der empirisch festgestellten Wirkungen, nicht hinsichtlich der Organisationsänderung selbst von technischem Fortschritt gesprochen (Ausnahme: Mansfield u. a., S. 2). Ebenso ist festzuhalten, daß die durch Ausübung der Unternehmerfunktion durchgesetzten Veränderungen in der ‚Verwendung nationaler Produktivkräfte‘ durch Schaffung ‚neuer Kombinationen‘ (Schumpeter) weit mehr umfassen als den technischen Fortschritt. Die durch die neuen Kombinationen geschaffenen monopoloiden Stellungen werden durch Konkurrenz angegriffen und im Laufe der Zeit abgebaut. Die Erhaltung von Gewinnen setzt deshalb eine Folge von Entscheidungen der Unternehmen voraus, mit denen immer wieder neue Kombinationen durchgesetzt werden sollen. In einer den bisherigen Ansatz ergänzenden Sichtweise betrachtet man technischen Fortschritt als einen Prozeß der Informationsgewinnung und –verbreitung. Insbesondere Pfeiffer hat den Prozeß der technischen Entwicklung – letzteres als wertfreies Synonym für ‚Fortschritt‘ verwendend – gekennzeichnet als (a) einen stochastischen Prozeß, (b) als einen sozialen Prozeß und (c) als einen Denken und Handeln integrierenden Prozeß“.38 In deutschen Industrieunternehmen werden Probleme der Forschung und Entwicklung überwiegend intern behandelt. „Der größte Teil der unternehmensinternen F. u. E. wird für Zwecke des betrachteten Unternehmens durchgeführt, nur ein geringer Teil als Gemeinschafts- oder Vertragsforschung für Dritte unternommen. Dies ist beim Ziel der Arbeiten, über neues Wissen technischen Fortschritt und damit zeitweise monopoloide Stellungen zu erwerben, nicht verwunderlich. In der Bundesrepublik Deutschland wird der größte Teil der selbst durchgeführten F. u. E. auch unmittelbar von der deutschen Wirtschaft finanziert. […] Wir gehen also davon aus, daß im Unternehmen technischer Fortschritt zum Teil über eigene F. u. E. zur Optimierung der Zielfunktion eingesetzt wird. Die Ver38 Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt II: im Betrieb, in: HdWW, 7. Bd., 1988, S. 583 f.

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fügbarkeit über den bisherigen Wissensstand sowie die damit verbundene Vermutung über die Ausschöpfung der Problemlösungsmöglichkeiten und der geplante Fortschritt sind Elemente des Wertgerüsts der F. u. E.-Aufwendungen (Brockhoff 1973 b); die Verwertungsmöglichkeiten der F. u. E.-Ergebnisse sind Elemente des F. u. E.-Ertrags. ‚Without wants no problems would exist. Without knowledge they could not be solved‘ (Schmookler, S. 12). Hieraus können Stufen notwendiger und hinreichender Bedingungen für das Auftreten von technischem Fortschritt entwickelt werden”.39 2. Der wissenschaftliche Nachweis, dass eine Diffusion von Innovationen in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft systemimmanent nicht möglich ist Die Voraussetzungen für das Handeln des dynamischen Unternehmers sind Marktwirtschaft, Privateigentum, Arbeitsteilung und Wettbewerb (freie Konkurrenz).40 „Die durch die neuen Kombinationen geschaffenen monopoloiden Stellungen werden durch Konkurrenz angegriffen und im Laufe der Zeit abgebaut. Die Erhaltung von Gewinnen setzt deshalb eine Folge von Entscheidungen der Unternehmen voraus, mit denen immer neue Kombinationen durchgesetzt werden sollen“.41 Bevor analysiert wird, wie Innovation und Diffusion in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft durchgesetzt werden können, müssen einige Grundbegriffe der Wirtschaftswissenschaften geklärt werden. Der Produktionsfaktor Kapital: „Der Produktionsfaktor Kapital ist ein derivativer, d. h. ein von den originären (natürlichen) Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital über das Geld abgeleiteter Produktionsfaktor. Kapital sind produzierte Produktionsmittel. Der Begriff Kapital lässt sich betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich abgrenzen: Unter Kapital im betriebswirtschaftlichen Sinne versteht man die finanziellen Mittel einer Unternehmung bzw. eines Betriebes, die sowohl eigener oder fremder Herkunft, Eigen- oder Fremdkapital sein können und auf der passiven Seite der Bilanz eines Unternehmens gebucht werden. Auf der aktiven Seite der Bilanz wird die Kapitalmittelverwendung erfasst. Hier wird dann von Vermögen gesprochen. Vermögen sind die im Unternehmen angelegten finanziellen Mittel. Das in einem Betrieb tatsächlich vorhandene Vermögen kann sowohl Anlagevermögen (Betriebseinrichtungen, Maschinen etc.) als auch Umlaufvermögen (Energie, Arbeitskräfte etc.) sein. Unter Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne wird grundsätzlich Geld- und Real- bzw. Sachkapital verstanden. Geldkapital sind diejenigen finanziellen Mit39 Ebd., S. 588, 591. 40 Schumpeter, Joseph: Theorie, S. 4. 41 Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt II im Betrieb, in: HdWW, 7. Bd., 1988, S. 584.

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tel, die für den Kauf von Produktionsgütern (Produktionsfaktoren) bereitgestellt werden. Das Geldkapital bildet also eine Vorstufe zum Realkapital. Realkapital sind die produzierten Produktionsmittel, die direkt oder indirekt im Produktionsprozess eingesetzt werden. Das damit verfolgte Ziel besteht in der produktiveren Nutzung der eingesetzten Produktionsfaktoren Arbeit und Boden Unter Realkapital subsumiert werden alle Gebäude für Produktionszwecke, alle Maschinen und maschinellen Anlagen eines Betriebes, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie alle volkswirtschaftlichen Güter, die mittelbar in der Produktion eingesetzt werden. Obwohl die Produktion von Sachkapitalmitteln einen Produktionsumweg hinsichtlich der Konsumgüterproduktion darstellt, ist praktisch ohne den reichlichen Einsatz von Sachkapital in keiner Volkswirtschaft ökonomischer Wohlstand möglich. Begrifflich unterscheidet man das Realkapital auch in produktives und soziales Kapital. Unter produktivem Kapital versteht man alle Produktionsmittel, die direkt bei der Produktion im Betrieb eingesetzt werden (Betriebsgebäude, Maschinen etc.). Es handelt sich hier unter den Bedingungen einer Marktwirtschaft um eine privatwirtschaftliche Form des Kapitals. Soziales Kapital dagegen dient indirekt der Produktion. Darunter werden alle Einrichtungen verstanden, die als Infrastruktur zusammengefasst werden, wie Straßen, Energie- und Wasserwerke, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten usw. Die Bestimmung des Produktionsfaktors Kapital als Derivat schließt ein, dass er in mehreren Schritten entsteht. In jeder Volkswirtschaft ist heute die Kapitalbildung eine notwendige Voraussetzung für eine zufrieden stellende Versorgung der Menschen mit den gewünschten Gütern. Kapitalgüterproduktion ist allerdings keine billige und leichte Aufgabe, sondern verlangt in der Regel zunächst Konsumverzicht und den produktiven Einsatz des nicht konsumierten, gesparten Geldeinkommens durch Investitionen. Vorübergehender Verzicht auf Konsumgüterproduktion kann geleistet werden, wenn in der Volkswirtschaft ein gewisser Vorrat an Konsumgütern vorhanden ist (Notwendigkeit der Existenz eines Subsistenzmittelfonds). Die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Kapitalbildung sind: -

Konsumverzicht in der Gegenwart, Das Vorhandensein eines Subsistenzmittelfonds und Die Investition des nicht konsumierten Geldeinkommens.

Grundsätzlich ist das Ziel der Kapitalbildung die Schaffung von Realkapital. Das ist möglich, wenn Geldkapital durch die Haushalte zur Verfügung gestellt wird. Diesen Vorgang nennt man Sparen. Mit den Sparbeträgen kann ökonomisch zweierlei geschehen: Zum einen können der Ersatz des verbrauchten Realkapitals und zum anderen zusätzliches Realkapital finanziert werden. Die Finanzierung von Ersatz- und zusätzlichem Realkapital nennt man Bruttoinvestitionen. Sie setzen sich aus den Ersatzinvestitionen und den zusätzlichen, d. h. den Erweiterungs- oder Nettoinvestitionen zusammen. Da in der Regel die Kapitalgüter, die mit jeder Investition angeschafft werden,

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dem letzten Stand der Technik entsprechen, ist die Investition zugleich auch eine Rationalisierungsinvestition. Rationalisierungsinvestition bedeutet, dass die Ergiebigkeit (Produktivität) der neuen Kapitalgüter höher ist, als die der bisher vorhandenen Produktionsmittel. Der Sachverhalt der Produktion: Durch den Einsatz der Produktionsfaktoren werden Güter hergestellt. Dieser Vorgang wird Produktion genannt. Unterschieden wird zwischen einer technischen und einer ökonomischen Seite des Produktionsvorganges. Unter dem technischen Aspekt der Produktion versteht man die mengenmäßige Beziehung zwischen Faktoreinsatz und Faktorertrag (Input-Output-Relation). Dieser Sachverhalt wird durch die Produktionsfunktion dargestellt. Mathematisch ist der Ertrag (Yr) die abhängige Variable und die Produktionsfaktoren (m1 … mm) sind die abhängigen Variablen: (1..1)

Yr = (m1 … mm)

Da die Produktionsfaktoren knapp sind, müssen sie ökonomisch rational, d. h. wirtschaftlich nach dem ökonomischen Prinzip eingesetzt werden. Das heißt, entweder mit gegebenen Mitteln ein Maximum an Ergebnis zu realisieren (Maximalprinzip), oder ein Bedürfnis mit minimalen Mitteln zu befriedigen (Minimalprinzip). Der rationale Einsatz der Produktionsfaktoren ist garantiert, wenn vorher sowohl die technische als auch die ökonomische Effizienz der Produktionsfaktoren berücksichtigt worden sind. Die Erstere wird dann erreicht, wenn von den verschiedenen bekannten Produktionsverfahren, dasjenige ausgewählt wird, welches mit einer gegebenen Quantität und Qualität von Produktionsfaktoren die größtmögliche Ertragsmenge hervorbringt, oder eine angestrebte Ertragsmenge mit den geringsten möglichen Faktoreinsatzmengen erzeugt. Die ökonomische Effizienz wird realisiert, wenn das technisch effizienteste Verfahren auch das kostengünstigste ist. Die Produktionstheorie: Die Wirtschaftseinheiten, die in einer Marktwirtschaft die Produktion organisieren und realisieren, sind die Unternehmen, die über die Absatzmärkte und die Produktionsfaktormärkte miteinander in Beziehung stehen. Unter dem ökonomischen Begriff Produktion versteht man den Prozess, der Sachgüter oder Dienstleistungen in andere Güter umformt. Darunter versteht man nicht nur die physische Erstellung eines Gutes, sondern auch seinen Transport und seine Lagerung. So stellt beispielsweise dasselbe Auto in München und in Athen aufgrund der mit dem Transport von München nach Athen verbundenen Kosten nicht das gleiche Gut dar. Ebenso ist aufgrund von Lagerkosten ein Kilogramm Trauben zur Erntezeit nicht dasselbe wie dieses Kilogramm Trauben ein Vierteljahr später. Im Rahmen der Produktionstheorie werden die verschiedenen Produktionsmöglichkeiten der Betriebe analysiert und erklärt. Die wichtigsten konkreten Fragen im Rahmen dieser Theorie sind: -

Welche Veränderung erfährt die Ausbringungsmenge eines Betriebes bei Veränderung des Faktoreinsatzes?

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-

Welche Kombinationen von Faktormengeneinsätzen sind geeignet, um dieselbe Ausbringungsmenge herzustellen?

Als analytisches Instrument zur Beantwortung dieser Fragen dienen Produktionsfunktionen. Eine Produktionsfunktion stellt einen funktionalen Zusammenhang zwischen den eingesetzten Faktormengen und der erstellten (produzierten) Gütermenge dar und spiegelt die technischen Bedingungen der Produktion wider. Der mathematische Ausdruck einer Produktionsfunktion lautet: (5.2)

x = f (m1 … mn)

Die Ausbringungsmenge x ist eine Funktion der Einsatzmengen der Produktionsfaktoren m1 bis mn“.42 Aus volks- und betriebswirtschaftlicher Betrachtung wird technischer Fortschritt überwiegend als eine bestimmte Veränderung vorhandener Produktionsfunktionen oder die Schaffung neuer Produktionsfunktionen definiert. Er kann uns in drei Formen begegnen: -

die Anwendung neuer Produktionsverfahren die Schaffung neuer oder qualitativ verbesserter Güter und die Entwicklung und Nutzbarmachung neuer Mittel und Wege zur besseren Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.

Technischer Fortschritt läuft auf eine Zunahme der globalen Faktorproduktivität hinaus. „Die Unternehmer lassen sich bei der Entwicklung neuer Güter und Produktionsverfahren in erster Linie von deren Durchsetzungschancen und damit von der mutmaßlichen Nachfrage leiten“.43 Grundauffassungen vom technischen Fortschritt: „Technischer Fortschritt kann unter Zuhilfenahme einer Produktionsfunktion definiert werden. Unter einer Produktionsfunktion wird eine Abbildung von Inputs auf Outputs verstanden, die den Axiomen von Shephard44 genügt. Diese Abbildung sichert insbesondere Wirtschaftlichkeit, d. h. gegebene Outputs werden mit minimalen Inputs erzeugt. Bei gegebenem Preissystem können verschiedene Arten von Inputs bewertet und aggregiert werden. So sind neben mengenmäßigen auch wertmäßige Produktivitäten als Output-Input-Quotienten feststellbar. Technischer Fortschritt gilt als eine Produktivitätserhöhung durch Veränderung der Produktionsfunktion im oben erläuterten Sinne. Ein gegebener Output kann also durch eine geringere Faktoreinsatzmenge bzw. einen geringeren Wert eingesetzter Faktoren erzeugt werden, wobei wiederum eine dem Wirtschaftlichkeitsprinzip entsprechende Kombination von Faktoren realisiert werden soll. 42 Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre, Herne/Berlin 2004, S. 24-26, 110 f. 43 Walter, Helmut: Technischer Fortschritt I: in der Volkswirtschaft, in: HdWW, 7. Bd., 1988, S. 569. 44 Shepard, Ronald William: The Notion of a Production Function. Unternehmensforschung, Würzburg 11, 1967, S. 212 f.

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Unter technischem Fortschritt wird aber auch die Produktion neuer, bis zum Betrachtungszeitpunkt unbekannter Produkte verstanden. Im Sprachgebrauch der Produktionsfunktion kann man sich vorstellen, daß eine wirtschaftliche Faktorkombination realisiert wird, die zur Erzeugung des gegebenen Outputs (des neuen Produkts) bisher nicht bekannt war, also eine Produktionsfunktion geschaffen wird“.45 Wenn man vom „Sinn des Wirtschaftens ausgeht, kann man allgemein die ständige Erhöhung des Grades der Bedürfnisbefriedigung der Menschen eines Gemeinwesens darunter verstehen. […] Das reale Pro-Kopf-Inlandsprodukt dient als Maß zur Bewertung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. […] Eine Verbesserung der Produktionstechnik (technischer Fortschritt) hat eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität zur Folge. Dadurch ist es möglich, dass mit demselben Arbeitseinsatz ceteris paribus ein höheres Volkseinkommen erzeugt werden kann. […] Die Summe des Sachkapitals einer Volkswirtschaft wird als Kapitalstock bezeichnet. Setzt man den Kapitalstock zum Arbeitseinsatz ins Verhältnis, erhält man die Kapitalintensität. […] Hohe Kapitalintensität kennzeichnet die Produktion in den Industrienationen. Demgegenüber weisen unterentwickelte Volkswirtschaften in der Regel eine hohe Arbeitsintensität auf“.46 „Die Wirtschaftstätigkeit der ‚volkseigenen‘ Betriebe beruht auf Produktionsauflagen und ‚planmäßiger‘ naturaler Zuweisung von Rohstoffen, Materialien und Arbeitskräften“.47 Um Antwort zu erhalten über die betrieblichen Tatbestände muss man den hohen Abstraktionsgrad der Volkswirtschaftslehre verlassen und den Prozess der betrieblichen Produktion ansehen. Erich Gutenberg hat aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein System der produktiven Faktoren, der Elementarfaktoren, entwickelt. „Das System der produktiven Faktoren und das ihre Kombination regulierende Prinzip der Wirtschaftlichkeit werden hier als systemindifferenter Tatbestand aufgefasst. […] Mit diesem Kombinationsprozess verbinden sich stets noch Elemente, die nicht aus der Dimension der kombinativen Akte selbst, sondern aus dem Wirtschaftssystem stammen, in dem jeweils die produktive Kombination der Elementarfaktoren vorgenommen wird“.48

45 Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt II im Betrieb, in: HdWW, 7. Bd., 1988, S. 583. 46 Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre, S. 327-331, 224. 47 DIW. Wochenberichte 1954, S. 103. 48 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, 1951, S. 332 f.

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Direktiven des Politbüros der SED für alle grundlegenden Probleme (Kommandowirtschaft) Staatliche Plankommission Ausarbeitung der Direktiven für die naturalen Zentralpläne Naturale Zuweisung der drei elementaren Faktoren ______________________________________________________________________________ (1) Arbeitsleistungen (objektbezogene Arbeitsleistung)

(2) Betriebsmittel (Arbeitsmittel, produzierte Produktionsmittel)

(3) Werkstoffe, Rohstoffe, Halb- und Fertigerzeugnisse

Nach der naturalen Zuweisung sind die Relationen der elementaren Faktoren untereinander starr Eine Innovation (technischer Fortschritt) oder eine Diffusion von Innovationen ist eine neue Kombination der elementaren Faktoren. In der natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft sind deshalb Innovationen und deren Diffusion grundsätzlich nicht möglich. Kombination der drei untereinander starren elementaren Faktoren durch den volkseigenen Betrieb _______________________________________________________________________________ Produktion: In den Zentralplänen (= Gesetz) Sollvorgaben, d. h. was und wieviel produziert wurde, bestimmte die Staatliche Planungskommission, deren Ausarbeitung auf den Direktiven des Politbüros der SED beruhte. Sozialistischer Handel verteilt, was im Zentralplan festgelegt wurde. Keine Verbindung zwischen Produktion und Konsument. In der sozialistischen Mangelwirtschaft existieren nur Verkäufermärkte, d. h. der Konsument musste mangels Alternativen das konsumieren, was in der Zentralplanung beschlossen worden war. Entwurf: Jürgen Schneider, Altdorf bei Nürnberg, 2013.

„Die Produktionsfunktion hängt von den technischen und organisatorischen Gegebenheiten des Betriebsprozesses ab. Und zwar derart, dass, wenn die Funktion E = f (r1, r2, r3) gegeben ist, wobei E den Ertrag (Produktmenge) r1, r2, r3 die Einsatzmengen der elementaren Faktoren R1, R2, R3 bedeuten, eine neue Funktion entsteht, wenn man die Qualität von Faktoren ändert, also z. B. r1 durch r'1 ersetzt. Die neue Funktion würde dann E = g (r'1, r'2, r'3) zu schreiben sein, wobei g jetzt eine andere funktionale Beziehung ausdrückt als f. Betrachtet man nun das Verhältnis zwischen Ertragsfunktion und technischem Fortschritt, dann wird jene trendartige Entwicklung sichtbar, auf die bereits hingewiesen wurde. Der technische Fortschritt äußert sich einmal in der Form von Verbesserungen der Produkteigenschaften und zum anderen der fertigungstechnischen Bedingungen und Verfahren betrieblicher Leistungserstellung. Er setzt sich

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entweder verhältnismäßig stetig oder abrupt, in diesem Falle die Produktionsbedingungen revolutionierend, durch. Der mehr kontinuierlich verlaufende Prozess technischen Fortschrittes charakterisiert sich etwa dadurch, dass mit Hilfe arbeitsorganisatorischer Verbesserungen eine günstigere Gestaltung der subjektiven und objektiven Arbeitsbedingungen erreicht wird oder verbesserte oder dem Betrieb mehr angepasste Betriebsmittel oder Verfahren eingeführt werden oder die Werkstoffe in Qualitäten, Abmessungen oder sonstigen Eigenschaften verbessert, auch für die Bearbeitung konstruktiv günstiger gestaltet werden. Das gleiche gilt für Planung und Betriebsorganisation. In solchen Fällen vollzieht sich betrieblich nicht nur ein Regenerationsprozess, vielmehr hebt sich das Niveau der technischorganisatorischen Beschaffenheit der betrieblichen Produktionsbedingungen, - oft kaum merklich und mehr perennierend als abrupt. Zu den ‚oszillativen‘ Veränderungen in der qualitativen Beschaffenheit der produktiven Faktoren tritt hier eine trendartige Niveauverschiebung, die, wenn der Betrieb auf ‚extensivere‘ Formen der Leistungserstellung zurückfällt, auch eine Senkung des betrieblichen Leistungsniveaus bedeuten kann. Bei derartig stetigem technischen Fortschritt (oder auch technischem Rückschritt) ergibt sich eine Abfolge von Produktionsfunktionen, wobei sich die Produktionsfunktionen in diesem Falle jedoch nur wenig voneinander unterscheiden werden. Wird z. B. ein maschinelles Aggregat durch ein neues mit veränderten technischen Eigenschaften ersetzt, dann bedeutet ein solcher Vorgang nichts anderes, als dass die Produktmenge nunmehr mit Faktoreinsatzmengen von anderer Qualität hergestellt wird. Die Veränderungen in dem Verhältnis zwischen Produktzuwachs und Faktoreinsatzmenge, welches die bisherige Ertragsfunktion angab, vollziehen sich in einer neuen, von den technischen Eigenschaften des Ersatzaggregates bestimmten Weise. Die bisherige Produktionsfunktion gilt also nicht mehr. An ihre Stelle ist eine neue Funktion getreten, welche auf Grund der neuen Faktorqualitäten ein anderes Verhältnis zwischen Produktzuwachs und Faktormengenzuwachs ausdrückt, als die bisherige Produktionsfunktion indizierte. Nun braucht der technische Fortschritt aber nicht einen in diesem Sinne stetigen und kontinuierlichen Verlauf aufzuweisen, von dem soeben die Rede war. Wenn beispielsweise eine große Bank ihren gesamten buchhalterischen Apparat von manueller auf maschinelle oder gar auf Hollerithbuchhaltung umstellt, dann wird man bei der großen Bedeutung, die diese Dinge für die Leistungserstellung in Bankbetrieben besitzen, von einer sprunghaften, abrupten Änderung der Bedingungen betrieblicher Leistungserstellung sprechen können. Oder: Wenn ein Fabrikationsbetrieb von einem Fertigungsverfahren auf ein anderes übergeht, etwa von der Werkstattfertigung auf die Fließfertigung, oder wenn ein solcher Betrieb völlig neuartige und in dieser Kombination noch nicht benutzte Werkstoffe verwendet, dann schieben sich plötzlich gewissermaßen zwei verschiedene betriebliche Leistungserstellungen übereinander, die ein voneinander abweichendes fertigungstechnisch-organisatorisches Gepräge besitzen. Diese, das bisherige Produktionssystem ruckartig in eine neue Form bringenden ‚Stöße‘ technischen Fortschrittes bezeichneten wir als fertigungstechnische ‚Mutationen‘. Wir wollen die-

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sen Ausdruck beibehalten, da er den hier gemeinten Sachverhalt mit besonderer Deutlichkeit kennzeichnet. Derartige ‚mutative‘ Änderungen in den technisch-organisatorischen Bedingungen der Produktion, bzw. der betrieblichen Leistungserstellung überhaupt, bedeuten, dass wiederum an die Stelle der ‚bisherigen‘ Produktionsfunktion eine neue Funktion tritt, die sich dann allerdings von der bisherigen Ertragsfunktion wesentlich unterscheiden kann. Nimmt man an, dass die Entscheidung darüber, mit welchen Arten von Produktionsmitteln eine bestimmte technische Aufgabe durchzuführen ist, gefallen sei, dann gilt es, die Mengen zu bestimmen, die von jedem Faktor für eine bestimmte Produktmenge (bzw. n Produktmengen) verwendet werden sollen. Das Kombinationsproblem kann sich dabei wiederum als ein Substitutionsphänomen präsentieren, nun aber nicht alternativer, sondern anderer Art. Diese neue Substitution fängt gewissermaßen da an, wo die alternative Substitution aufhört. Denn die auf das Quale der Faktoren gerichteten Vorentscheidungen sind bereits getroffen. Sollen die Faktorpreise oder andere ökonomische Fakten den Kombinationsprozess regulierend beeinflussen, dann wird damit vorausgesetzt, dass eine Wahl zwischen mehreren Faktorkombinationen besteht, mit deren Hilfe eine bestimmte Produktmenge hergestellt werden kann“.49 In der Marktwirtschaft sind Innovationen und deren Diffusion (= technischer Fortschritt) eine neue Produktionsfunktion, d. h. eine neue Kombination der elementaren Faktoren (1) Arbeit, (2) Betriebsmittel und (3) Werkstoffe. Nach Gutenberg bildet das „Prinzip der ‚Autonomie‘ den tragenden Gedanken der freien Markt- und Unternehmerschaft. Betriebe, die dieses Merkmal aufweisen, erhalten damit eine zusätzliche Bestimmung, die aus dem Wirtschaftssystem stammt, in welchem sich die kombinativen Akte vollziehen. Durch diese, zu dem Betriebsprozess zusätzlich hinzutretende ‚Determinante‘ werden die Betriebe in eine ganz bestimmte wirtschaftliche, soziale und geistesgeschichtliche Situation eingewiesen. Es entsteht ein Betriebstyp, welcher für ein bestimmtes Wirtschaftssystem charakteristisch ist. Mit dem Begriff Autonomie ist hier jenes Verhältnis gemeint, das zwischen den Personen, die den Betrieb für eigene Rechnung und Gefahr betreiben und staatlichen oder sonst übergeordneten wirtschaftlichen Verwaltungsstellen besteht. Es handelt sich um ein Abgrenzungsverhältnis zwischen Wirtschaft und Staat, derart, dass Autonomie die Verweigerung eines Mitbestimmungsrechtes staatlicher oder sonst irgendwie übergeordneter Stellen an der Durchführung der einzelbetrieblichen Leistungserstellung und –verwertung bedeutet“.50 Der Unternehmer kauft die drei elementaren Faktoren auf den nationalen und internationalen Beschaffungsmärkten ein. Hier beginnt die Wirtschaftsrechnung, denn der Unternehmer muss versuchen, die Preise der elementaren Faktoren mög49 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, 1951, S. 199-202, 208, 210. 50 Ebenda, S. 335.

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lichst gering zu halten. Er handelt nach dem erwerbswirtschaftlichen Prinzip, d. h. der Gewinnmaximierung, und dem wirtschaftlichen Prinzip. Wenn ein Pionierunternehmer eine Innovation macht, müssen andere Unternehmer der gleichen Branche die Innovation aus Wettbewerbsgründen übernehmen. Innovation und Wettbewerb erzwingen geradezu die Diffusion von Innovationen. In der natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft sieht es vollkommen anders aus. Es ist möglich, einen Betrieb wie „Robotron“ aus zentralen Bilanzanteilen eines Zentralplanes zu bauen, eine Diffusion der Mikroelektronik auf andere volkseigene Betriebe in der DDR ist grundsätzlich nicht möglich. Nach der naturalen Zuweisung (Bilanzanteil) durch die Staatliche Plankommission sind die Relationen der drei elementaren Faktoren untereinander im Prinzip starr, d. h. Innovationen und deren Diffusion sind in den volkseigenen Betrieben nicht möglich. Diese Analyse wird von Prof. Dr. Claus Krömke,51 der von 1962 bis zu dessen Ablösung im Oktober 1989 persönlicher Referent von Güter Mittag im Apparat des Zentralkomitees der SED in einem Gespräch am 18. Oktober 1993 in Berlin bestätigt. „Krömke: Wir waren in dem Glauben, wenn wir in der DDR überhaupt noch vorwärtskommen wollen, dann geht das nur auf diesem Weg. Das gleiche galt für die wissenschaftlich-technischen Fragen. Ich will jetzt nicht für Walter Ulbricht Propaganda machen, um Gottes Willen, er war natürlich auch in seinem Denken begrenzt, er war auch ideologisch und auf kulturpolitischem Gebiet konservativ; man kann ihn nicht als Reformer bezeichnen, ich würde eher sagen, ein aufgeklärter Absolutist, aus heutiger Sicht gesehen. Er hatte aber einen gewissen Intelligenzspielraum, um einige wesentliche Fragen zu erfassen. So war das z. B. mit der Datenverarbeitung. Er hatte die Datenverarbeitung unterstützt und forciert in den sechziger Jahren. Wir wollen nicht vergessen, für nicht wenige war das im Westen damals auch noch ein halbes Fremdwort. Pirker: Naja, nicht ganz! Krömke: Aber es war noch nicht so verbreitet. Wir hatten z. B. in das Buch „Politische Ökonomie“ deshalb auch hineingeschrieben, das automatische Maschinensystem ist eine neue Stufe. Das wurde uns ja unerhört übelgenommen. Die Ansätze zur EDV sind dann in einer Art Bilderstürmerei mit dem VIII. Parteitag (15.-19.6.1971) und danach kaputtgemacht worden. Und dann wurde wieder an51 Innovationen – nur gegen den Plan. Gespräch mit Prof. Dr. Claus Krömke, Berlin, 18.10.1993: Persönlicher Referent von Günter Mittag, Professor an der Hochschule für Ökonomie. Geboren am 24. März 1930 in Berlin. 1948 Abitur in Berlin-Neukölln, Studium der Wirtschaftswissenschaft an der Humboldt Universität. 1949 Eintritt in das neugegründete Planökonomische Institut der Staatlichen Plankommission. 1951 Hochschulabschluss als Diplomwirtschaftler. Danach Assistent am Planökonomischen Institut. 1955 Promotion mit dem Thema „Der Betriebsvergleich in der sozialistischen Industrie“. 1961 Habilitation mit einer Arbeit über Spezialisierung, Kooperation, Konzentration und Kombination in der sozialistischen Industrie; Professor an der Hochschule für Planung (später: Hochschule für Ökonomie). Von 1962 bis zu dessen Ablösung im Oktober 1989 persönlicher Referent von Günter Mittag im Apparat des Zentralkomitees der SED.

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gefangen, das von hintenherum zu fördern. Warum? Mittag kam viel im Westen herum, er hatte Betriebe gesehen in Frankreich, in Japan, in Österreich, und hatte sich auch in der Bundesrepublik, zum Beispiel auf der Hannover-Messe, informiert. Wir haben die Literatur studiert, wir hatten Informationen. Das Ministerium für Wissenschaft und Technik hat uns monatlich Informationen über die neuesten Entwicklungstendenzen geliefert, die waren alle zugänglich, für alle leitenden Funktionäre im Staatsapparat. Bloß damit hat keiner gearbeitet, das stieß immer auf Widerstand und der Widerstand kam daher, daß jede technische Neuerung neue Ausrüstungen erfordert und bedeutet hätte, einen neuen Betrieb zu bauen. Forschungsergebnisse waren schon da, aber die investitionsmäßige Realisierung funktionierte nicht, und deshalb war man instinktiv dagegen, manchmal auch unbewußt. Das war auch das große Problem von Schürer: Er mußte die vorhandenen Disproportionen aufarbeiten; jetzt kamen aber neue Dinge hinzu, und er wußte nicht, wie er das bilanzieren sollte, deshalb flog das alles wieder heraus. Einiges konnte nur mit Brachialgewalt gemacht werden, das waren dann die sogenannten Abweichungen vom Plan. Hertle: Was meinen Sie da zum Beispiel? Krömke: Ich meine jetzt bestimmte Innovationsvorhaben. Alle Investitionsvorhaben, die technisch bedeutsam waren, mußten in irgendeiner Form zusätzlich durchgepaukt werden. Da gab es dann das Modell der Kompensationsvorhaben.52 Man hat die Möglichkeit gesehen, Akkumulationsmittel von außen (z. B. Bundesrepublik Deutschland) in Kreditform zu erhalten und, da wir ja keine konvertierbare Währung hatten, das mit der Produktbezahlung auszugleichen. Das ist dann aber nachher auch schon sehr kritisch betrachtet worden. Die wirklichen Fortschritte mußten außerhalb des Planes durchgeboxt werden, weil die materielle Decke nicht vorhanden war und weil das übrige System sich dagegen gesträubt hat“. (Hervorhebung Jürgen Schneider)53 Die theoretischen Ausführungen über die Starrheit der Relationen der elementaren Faktoren untereinander werden von Krömke voll bestätigt. In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft gab es zwei Möglichkeiten, um technisch bedeutsame Investitionsvorhaben zu realisieren: 1) Als Teil des Zentralplanes. Das Vorhaben erhielt dann Bilanzanteile. 2) Außerhalb des Zentralplanes, was sehr schwierig war, denn die Bilanzanteile, die dafür verwendet wurden, beeinträchtigten andere Vorhaben, d. h. 52 Judt, Mathias: Kompensationsgeschäfte der DDR-Instrumente einer europäischen Ost-WestWirtschaftsintegration? In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2008/2, S. 134: „Sowohl die Ende der 1980er Jahre umgesetzten als auch die verworfenen Projekte belegen, dass wegen der abnehmenden Konkurrenzfähigkeit der DDR-Volkswirtschaft nur solche Projekte ins Auge gefasst wurden, die DDR-Betriebe faktisch zur verlängerten Werkbank westlicher Konzerne machten“. 53 Pirker, Theo / Lepsius, M. Rainer / Weinert, Rainer / Hertle, Hans-Hermann: Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 42 f.

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es gab Rückwirkungen letztlich auf die Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzierung, auf das tragende Gerüst der Zentralplanung. Technischer Fortschritt und Innovationen störten letztlich das System der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. 3. Determinanten des Betriebstyps in verschiedenen Wirtschaftsordnungen: Autonomieprinzip (Marktwirtschaft) und Organprinzip (Zentralplanwirtschaft) als Determinanten des Betriebstyps „Dass anstelle des Marktes als Leiter der Wirtschaft ein umfassender Plan zu treten habe, der einen krisenlosen Ablauf des gesamten Wirtschaftsprozesses gewährleisten solle, ist einer der Grundgedanken der bolschewistischen Theorie“.54 Dieser Grundgedanke führte zum Dekret vom 22.2.1921 mit dem die staatliche Institution für die Wirtschaftsplanung der UdSSR Gosplan geschaffen wurde.55 Die preisgesteuerte Marktwirtschaft wurde durch die politisch (Direktiven) natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft ersetzt. Bei der Analyse der Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR (1948-1989) wird auf die Ordnungstheorie von Walter Eucken56 (zuerst 1940) und für die volkseigenen Betriebe auf die Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion (1951) von Erich Gutenberg zurückgegriffen. Die „Grundlagen“ von Gutenberg sind das einzige Werk der Betriebswirtschaftslehre,57 dessen Determinanten des Betriebstyps mit den systemindifferenten und den systembezogenen Tatbeständen als Methode für die wissenschaftliche Aufarbeitung der volkseigenen Betriebe geeignet ist. Was Eucken auf volkswirtschaftlicher Ebene konzipiert, konstruiert Gutenberg auf der Ebene der Betriebe.58 Walter Eucken beschreibt sein methodisches Vorgehen: „Die Haushaltung ist also beides zugleich: Glied einer großen Verkehrswirtschaft und Träger einer 54 Pollock, Friedrich: Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927, Leipzig 1929, S. 233. 55 GOSPLAN. Kurzbezeichnung für Gossudarstwenny planowy komitet sowjeta ministrow SSSR (russ., „Staatliches Plankomitee beim Ministerrad der UdSSR“): auf Initiative W. I. Lenins durch das Dekret vom 22.2.1921 geschaffene staatliche Institution für die Wirtschaftsplanung der UdSSR. Sie entwarf die Fünfjahrpläne und arbeitete die Perspektivpläne für die Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den nächsten Jahrzehnten aus. 56 Eucken, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie, 5. Aufl., Godesberg 1947. 57 Für die wirtschaftshistorische Aufarbeitung sind nicht geeignet: Grochla, Erwin: Betrieb und Wirtschaftsordnung, Berlin 1954. Pohmer, Dieter / Hagmayer, Joachim: Wirtschaftsordnung und Betrieb, in: Grochla, Erwin / Wittmann, Waldemar (Hrsg.) Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 4579-4588. 58 Menrad, S.: Anmerkungen zu Gutenbergs System der Betriebstypen, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 38. Jg., 1968, S. 563-586. Gutenberg, Erich: Thünens isolierter Staat als Fiktion, Diss. 1921, München 1922. Johann Heinrich von Thünen (1783-1850): Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, 3 Teile in 4 Abteilungen 18261863. Gutenberg habilitierte sich 1929 zur Thematik: Die Unternehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Theorie, Berlin, Wien 1929.

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kleinen Eigenwirtschaft. – Natürlich hängen beide Teile zusammen. Die Haushaltung hat also einen Doppelcharakter. An diesem Punkte nun setzt dasjenige Abstraktionsverfahren ein, das zu verstehen von entscheidender Wichtigkeit ist. Die einzelnen Seiten der individuellen Erscheinung – dieser einen Haushaltung der Familie A – werden herausgehoben und so ‚Idealtypen‘ gewonnen. In scharfem Gegensatz zu der ‚generalisierenden‘ Abstraktion, die in vielen Tatbeständen Gemeinsames festhalten will und mit der die Konstrukteure von Wirtschaftsstufen und Wirtschaftsstilen arbeiten, erfolgt die ‚pointierend hervorgehende‘ oder ‚isolierende‘ Abstraktion am einzelnen Tatbestand. (Auf den überaus wichtigen Unterschied dieser beiden Abstraktionsverfahren werden wir noch oft stoßen.) An einem einzigen Landgut hat Johann Heinrich von Thünen seine Idealtypen des isolierten Staats gewonnen. In dieser einen konkreten Haushaltung A finden sich zwei konstituierende Elemente. Pointierend heben wir jeweils eines heraus und finden so zwei verschiedene Wirtschaftsordnungen (= Wirtschaftssysteme): Marktwirtschaft (= Verkehrswirtschaft) und Zentralplanwirtschaft (= Zentralgeleitete Wirtschaft). […] Statt uns von den Einzelheiten der wirtschaftlichen Wirklichkeit zu distanzieren, wollen wir entschieden an die wirtschaftliche Wirklichkeit und gerade an ihre Einzelheiten herangehen. […] Von vornherein unterscheidet sich Wissenschaft von dieser vorwissenschaftlichen Haltung zur Wirtschaft durch Radikalismus der Fragestellung und durch denkende Durchdringung der Tatbestände. Dabei gruppieren wir die beiden Probleme – aus dem genannten Grunde – anders als bisher, indem wir zunächst die Ordnungsformen der Wirtschaft untersuchen und dann erst die Zusammenhänge des alltäglichen Wirtschaftsprozesses“.59 Als Determinanten des Betriebstyps arbeitet Gutenberg für die Marktwirtschaft das Autonomieprinzip und für die Zentralplanwirtschaft das Organprinzip heraus. Das „Prinzip der Autonomie“ bildet den „tragenden Gedanken der freien Markt- und Unternehmerwirtschaft. Betriebe, die dieses Merkmal aufweisen, erhalten damit eine zusätzliche Bestimmung, die aus dem Wirtschaftssystem stammt, in welchem sich die kombinativen Akte vollziehen. Durch diese, zu dem Betriebsprozeß zusätzlich hinzutretende ‚Determinante‘ werden die Betriebe in eine ganz bestimmte wirtschaftliche, soziale und geistesgeschichtliche Situation eingewiesen. Es entsteht ein Betriebstyp, welcher für ein bestimmtes Wirtschaftssystem charakteristisch ist. Mit dem Begriff der Autonomie ist hier jenes Verhältnis gemeint, das zwischen den Personen, die den Betrieb für eigene Rechnung und Gefahr betreiben und staatlichen oder sonst übergeordneten wirtschaftlichen Verwaltungsstellen besteht. Es handelt sich um ein Abgrenzungsverhältnis zwischen Wirtschaft und Staat, derart, daß Autonomie die Verweigerung eines Mitbestimmungsrechtes staatlicher oder sonst irgendwie übergeordneter Stellen an der Durchführung der einzelbetrieblichen Leistungserstellung und -verwertung bedeutet“.60 59 Eucken, Walter: Die Grundlagen, S. 112, 114. 60 Gutenberg, Erich: Grundlagen, S. 335.

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Die Betriebe in der Zentralplanwirtschaft sind „Glieder eines übergeordneten Ganzen. Sie bestimmen ihren Produktionsplan nicht autonom. Damit wird das Autonomieprinzip durch das ‚Organprinzip‘ ersetzt, welches alle Betriebe zu im Grunde organisatorisch unselbständigen Teilen, Organen, fast möchte man sagen ‚Filialen‘ eines größeren Ganzen macht. Dieses ‚Organprinzip‘ bildet den Gegenbegriff zu dem ‚Autonomieprinzip‘. Es stellt eine Determinante dar, die zu dem Wirtschaftssystem gehört, in dem sich die betriebliche Betätigung vollzieht. Im Grunde ist das Organprinzip so, wie wir es hier verstanden haben möchten, lediglich der ökonomische Reflex einer geistigen Haltung, die die individualistische Position aufgibt, welche den liberalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen zugrunde liegt und an ihre Stelle Bindungen setzt, welche das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht vom Individuum, sondern vom Gesellschaftlichen her zu bestimmen versucht. In dem Organprinzip wird also auf wirtschaftlichem Gebiete ein ganz bestimmter geistiger Gehalt sichtbar, der weit über die Grenzen des Ökonomischen reicht und sich in Schichten verliert, die mit ökonomischen Mitteln und Argumenten nicht mehr erreichbar sind. […] Erst wenn man einen Betriebsprozeß durch das Autonomieprinzip oder das Organprinzip determiniert, wird der Typ sichtbar, den das System kreiert und dessen Modalitäten ohne die für ihn jeweils dominante Kategorie, von denen wir bisher zwei, das Autonomieprinzip und das Organprinzip, kennengelernt haben, nicht zu verstehen sind“.61 In den „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“ behandelt Erich Gutenberg im ersten Band „Die Produktion“.62 Dabei unterscheidet er drei Teile. Erster Teil: Im „System der produktiven Faktoren“63 behandelt Gutenberg „Die Elementarfaktoren“ und die „dispositiven Faktoren“, die „Geschäfts- und Betriebsleitung“, der vierte Produktivfaktor, wird „hier als das Zentrum, als die eigentlich bewegende Kraft des Betriebsprozesses aufgefaßt“.64 Zweiter Teil umfaßt den Produktionsprozeß, die ertragstheoretischen und kostentheoretischen Perspektiven.65 Dritter Teil: Hier analysiert Gutenberg die „Determinanten des Betriebstyps“ in verschiedenen Wirtschaftsordnungen66 und unterscheidet dabei zwischen systembezogenen und systemindifferenten Tatbeständen. Er klärt die Fragen, was gilt allgemein für alle Betriebe unabhängig von der Wirtschaftsordnung (systemindifferente Tatbestände) und wodurch unterscheiden sich die Betriebe in der Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft von denen in der Wirtschaftsordnung der Zentralplanwirtschaft (systembezogene oder wirtschaftsordnungsbezogene Tatbe61 Ebd., S. 338. 62 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, 1951. Insgesamt 4 Bde., 1951-1969. 63 Ebd., S. 14-196. 64 Ebd., S. 103 f. 65 Ebd., S. 197-331. 66 Ebd., S. 332-397.

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stände). Gutenberg geht von den Modellen (Idealtypen) aus, die Walter Eucken in seinen „Grundlagen der Nationalökonomie“ konzipiert hat67 und arbeitet analytisch heraus, welche Determinanten der jeweiligen Wirtschaftsordnung konstitutiv für den Betrieb sind. Gutenberg bezeichnet sein geschlossenes System in Anlehnung an Eucken als „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“.68 Neben dem Autonomieprinzip der Unternehmen in der Marktwirtschaft und dem Organprinzip der Betriebe in der Zentralplanwirtschaft arbeitet Gutenberg weitere Determinanten des Betriebstyps heraus: (1) Das erwerbswirtschaftliche Prinzip für die Unternehmen in der Marktwirtschaft. Das „erwerbswirtschaftliche Prinzip bildet die Maxime, nach der die Leiter ‚autonomer‘ Betriebe ihre geschäftlichen Maßnahmen treffen und an der sie feststellen, ob ihre Maßnahmen ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ waren. Das System beruht dabei auf der fundamentalen Annahme, daß volkswirtschaftlich die beste Versorgung mit Gütern und Diensten erreicht wird, wenn jedes einzelne Unternehmen versucht, auf die Dauer einen möglichst großen Gewinn auf das eingesetzte Kapital zu erzielen. Es entwickle sich dann, so wird argumentiert, ein gewisser gesamtwirtschaftlicher Automatismus, der die volkswirtschaftlichen Produktivkräfte ohne wesentliches behördliches Dazutun so lenkt, daß nicht nur das größte, sondern auch das qualitativ am günstigsten auf den Bedarf abgestimmte Sozialprodukt hergestellt wird. […] Das Erwerbsprinzip bildet doch immer die Grundorientierung der privatwirtschaftlich-erwerbswirtschaftlich-kapitalistischen Betriebe“. (2) Das Prinzip zentralplandeterminierter Leistungserstellung. „Wenn wir nunmehr die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit und der obersten Maxime betrieblicher Leistungserstellung in zentralverwaltungswirtschaftlichen Systemen aufwerfen, dann wird man unterstellen dürfen, daß auch in Betrieben, die solchen Wirtschaftssystemen angehören, das Prinzip der Wirtschaftlichkeit, also das Prinzip sparsamster Mittelverwendung, gilt, und zwar erstens in dem Sinne, daß auch diese Betriebe versuchen müssen, die produktiven Faktoren, mit denen sie arbeiten, auf ein möglichst hohes qualitatives Niveau zu bringen und zweitens auf die Art, daß sie jeweils für jede Ausbringung die günstigste Kombination der produktiven Faktoren zu realisieren versuchen werden. […] Der Ausdruck ‚planbestimmt‘ oder ‚plandeterminierte Leistungserstellung‘ ist als Prinzip am besten geeignet. Diese Formulierung läßt erstens deutlich hervortreten, daß die betriebliche Betätigung unter solchen Umständen unmittelbar auf Leistungserstellung (und nicht auf die Realisierung des erwerbswirtschaftlichen Prinzips) gerichtet ist. Die Unterscheidung in Primär- und Sekundäreffekt betrieblicher Betätigung hört damit auf, sinnvoll zu sein. Zweitens zeigt die vorgeschlagene Formulierung an, daß die Leistungserstellung in den Betrieben 67 Eucken, Walter: Grundlagen, S. 112, 114. 68 Gutenberg, Erich: Grundlagen, S. 332.

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nach Art, Menge und Zeit an die gesamtwirtschaftliche Planung gebunden ist und jeweils einen Teil dieser Planung darstellt. Da nun das Prinzip plandeterminierter Leistungserstellung im System freier Markt- und Unternehmerwirtschaft fehlt, so sind wir berechtigt, es als ‚systembezogen‘ zu charakterisieren. In der Tat stellt es eine nicht aus individualistischer Haltung, sondern aus der universalistisch-kollektivistischen Grundsubstanz planwirtschaftlicher Systeme stammende Determinante dar, welche zugleich dem Betriebstyp sein Gepräge gibt, der für planwirtschaftliche Systeme typisch ist. Das Prinzip planbestimmter Leistungserstellung bildet, so können wir zugleich sagen, den Gegenbegriff oder die Gegenkategorie zu dem erwerbswirtschaftlichen Prinzip. […] Die planwirtschaftlichen Überschüsse oder die ‚planwirtschaftliche Rentabilität‘, wenn man diesen Ausdruck vorzieht, stellt mithin ein von der ‚privatwirtschaftlichen Rentabilität‘ durchaus verschiedenes Gebilde dar. Beide Phänomene stimmen zwar darin überein, daß es sich um Überschüsse handelt, die sich ergeben, wenn die Verkaufspreise über den Kosten liegen. Sinn und Funktion dieser Überschüsse sind jedoch in marktwirtschaftlichen und in zentralverwaltungswirtschaftlichen Systemen keineswegs identisch“.69 Zur kategorialen Struktur der Begriffe „Unternehmung“ und „Betrieb“ führt Gutenberg aus: „Wenden wir uns aber nun speziell der Frage zu, worin begrifflich der Unterschied zwischen ‚Betrieb‘ und ‚Unternehmung‘ zu suchen sei. Die herrschende Lehre definiert den Betrieb in der Regel als eine technische, die Unternehmung dagegen als eine rechtliche oder ökonomische oder organisatorische oder finanzielle erwerbswirtschaftliche Einheit. […] Unternehmung ist also nur der Ausdruck für einen bestimmten, in diesem Falle den ‚kapitalistischen‘ Betriebstyp“.70 4. Der empirische Befund: Das Scheitern des technischen Fortschritts in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft 4.1. Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der DDR 1992 wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) das Schwerpunktprogramm „Wirtschaftliche Strukturänderungen, Innovationen und regionaler Wandel in Deutschland nach 1945“ eingerichtet. „Im Rahmen dieses Schwerpunkts wurden wirtschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR unter Auswertung des seit 1990 zugänglichen Quellenmaterials vergleichend analysiert. Die Beiträge enthalten Fallstudien aus den Arbeitsgebieten der einzelnen Projekte, die das Innovationsverhalten und die Entscheidungsstrukturen 69 Ebd., S. 340, 349, 355. 70 Ebd., S. 394, 397.

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in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der DDR an ausgewählten Beispielen untersuchen. […] Die Fallstudien werden durch einen Beitrag von Hans-Jürgen Wagener eingeleitet, der die umfangreiche wirtschaftswissenschaftliche Literatur zur Innovationsschwäche sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaften zusammenfaßt und davon ausgehend Leitfragen für die wirtschaftshistorische Forschung skizziert, die sich erst seit wenigen Jahren systematisch mit dieser Thematik beschäftigt. […] Das Spektrum der vorliegenden Fallstudien ermöglicht es, generalisierende Aussagen zum Innovationsverhalten und den Entscheidungsstrukturen in beiden Volkswirtschaften zu treffen, wobei die Erfahrungen mit industriellen Entwicklungsprozessen im Vordergrund stehen“.71 Da die Thematik des Schwerpunktprogramms der DFG zu der hier behandelten Problematik paßt, sollen die Schlußfolgerungen aus einigen Beiträgen vorgestellt werden. Innovationsverhalten und Energieversorgung. Die technologische Entwicklung im Turbinen-, Generatoren- und Transformatorenbau der Bundesrepublik und der DDR 1949-196572 Fazit: Im Vergleich mit der Bundesrepublik hatte die DDR der vierziger Jahre auch im Bereich des Energiemaschinenbaus und der Starkstromindustrie ungünstigere Ausgangsbedingungen. Wichtige Fertigungszweige wie der Turbinenbau waren hier unterrepräsentiert. Ein großer Teil der bei Kriegsende vorhandenen Kapazitäten war durch Demontagen verlorengegangen. Durch die stetige Abwanderung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren nach Westdeutschland hatte das technologische Potential dauerhafte Substanzverluste erlitten. Die bundesdeutschen Unternehmen verfügten dagegen über einen modernen Kapitalstock und einen intakten Stamm erfahrener Fachkräfte. Die Fallstudien zum Turbinen-, Generatoren- und Transformatorenbau zeigen, daß der Einfluß der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen auf den späteren Rückstand der DDR nicht überbewertet werden sollte. In Bereichen, in denen die DDR über eine vergleichsweise günstige Ausgangsposition verfügte, wie im Transformatorenbau, war der Rückstand der DDR bereits Mitte der fünfziger Jahre nicht geringer als in solchen Bereichen, die – wie der Turbinen- und Generatorenbau – völlig neu aufgebaut wurden. In der Bundesrepublik bestanden ebenfalls teilungsbedingte Engpässe und Rückstände, die schon Anfang der fünfziger Jahre überwunden waren. Großen Einfluß auf die technologische Entwicklung hatte dagegen die Integration der Bundesrepublik in die Weltwirtschaft des Westens und die Einbindung der DDR in den von der Sowjetunion dominierten Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). In der metallverarbeitenden Industrie der DDR bestand als Folge der Abtrennung von der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie ein kontinuierlicher Man71 Bähr, Johannes / Petzina, Dietmar (Hrsg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studie zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 19451990, Berlin 1996, S. 11. 72 Ebenda, S. 161 ff.

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gel an Rohstoffen und Halbfertigwaren. Daraus ergaben sich zu lange Entwicklungszeiten, qualitative Mängel und eine entsprechend geringe Exportfähigkeit. Durch die Autarkisierung wurde die DDR aber auch von der technologischen Entwicklung in den führenden westlichen Industrieländern abgeschnitten. Die Schwerpunkte der Forschungs- und Entwicklungs-Tätigkeit orientierten sich im Zweifelsfall am Substitutionszwang und nicht am technologischen Entwicklungsstand. Politische Zielsetzungen wurden – wie im Falle des Bergmann-Borsig-Projekts – auch gegen den technischen und ökonomischen Sachverstand realisiert. In der Bundesrepublik bewirkte dagegen die Weltmarktintegration einen kontinuierlichen Modernisierungsdruck. Hohe Forschungs- und Entwicklungs-Leistungen waren seit Anfang der fünfziger Jahre notwendig, um die technologische Wettbewerbsposition zu verbessern und die Exportfähigkeit wiederzuerlangen. In den untersuchten Bereichen gelang dies mit beträchtlichem Erfolg. Fortbestehende Lücken waren weniger durch den technologischen Entwicklungsstand als durch Kostenfaktoren bedingt, wie im Fall des Texturblechverfahrens oder der Großturbinen. Die Unterschiede im Innovationsverhalten wurden auch entscheidend von den Spielräumen und der Stellung der Forschungs- und Entwicklungsbereiche geprägt. In der DDR bestimmte der Zwang zur kurzfristigen Erfüllung der Produktionspläne und Plantermine den Horizont des betrieblichen Handelns. Mit Sanktionen wurde auf Planrückstände – später auch auf Planschulden – reagiert, nicht aber auf Innovationsdefizite. Langfristige, risikobehaftete Forschungs- und EntwicklungsVorhaben waren mit der kurzfristigen Orientierung auf die Planerfüllung nicht vereinbar. Kostenaufwendige Projekte wie die Errichtung leistungsfähiger Prüffelder wurden aufgeschoben, wenn sie sich nicht unmittelbar in einer Steigerung der quantitativen Produktion niederschlugen. In Verbindung mit dem Zwang zur Substitution westlicher Lieferungen wirkte sich dieser Druck langfristig kontraproduktiv aus, insbesondere in Schwerpunktbereichen, für die ein überdurchschnittlich hohes Produktionswachstum eingeplant war. Die Weichen für diese Entwicklung wurden Anfang der fünfziger Jahre gestellt, als z. B. im Transformatorenbau die Forschungs- und EntwicklungsKapazitäten für die Lösung von „Gegenwartsaufgaben“, d. h. für die Überwindung von akuten Mängeln in der Stromversorgung, benötigt wurden. Trotz der wirtschaftspolitischen Kurskorrekturen blieb dieser systemimmanente Mechanismus auch in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren bestehen. Schwerpunktprogramme wie das Kohle- und Energieprogramm von 1957 konnten den Innovationsrückstand nicht verringern. Die Entscheidung zur Übernahme neuer Verfahren ging in der Bundesrepublik von den Forschungs- und Entwicklungs-Abteilungen und – entscheidender noch – von den Unternehmensleitungen aus, in der DDR von den Wirtschaftsplanungsbehörden, die nach politischen Kriterien handelten. Hier war die Notwendigkeit neuer Verfahren erst dann einsichtig, wenn die Betriebe auf einen gravierenden Rückstand gegenüber der Bundesrepublik verweisen konnten. Als Folge der Rückständigkeit blieb die DDR aber bei den jeweils neuesten Technologien von Lieferungen aus der Bundesrepublik und anderen westlichen

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Industrieländern abhängig, wie etwa bei den Höchstspannungstransformatoren, die für die Durchführung des 400 kV-Programms benötigt wurden. Da diese Abhängigkeit andererseits aus politischen Gründen verringert werden mußte, befand sich die DDR in einer „technologischen Falle“. Mit dem Übergang zur Hochenergietechnik wurde Anfang der sechziger Jahre aus vergleichender Sicht eine qualitativ neue Stufe erreicht. .Während die bundesdeutschen Unternehmen diesen Übergang – wenn auch mit einem erheblichen Rückstand gegenüber den USA – innerhalb weniger Jahre bewältigten, war die Leistungsfähigkeit der Betriebe in der DDR überfordert. Der Versuch, in den Großturbinenbau einzusteigen, scheiterte hier z. B. vollständig. Damit nahm das technologische Gefälle auf diesem Gebiet während der sechziger Jahre scherenförmig zu. Die Option der DDR, leistungsstärkere Maschinen und Anlagen aus der UdSSR zu beziehen, wie es im Turbinenbau vereinbart wurde, war nicht nur mit Einschränkungen in der Qualität und Unwägbarkeiten hinsichtlich der Einhaltung der Lieferverträge verbunden, sondern auch mit einer Begrenzung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und einer Verschlechterung der Außenhandelsposition innerhalb des RGW. Die Alternative des Technologietransfers aus dem Westen war wegen der geringen Exportfähigkeit der DDR-Industrie längerfristig nur noch auf dem Weg der Verschuldung praktizierbar. Die Auswirkungen auf die Stromerzeugung und die Stromversorgung In der Bundesrepublik konnte die Stromerzeugung zwischen 1950 und 1960 mehr als verdoppelt werden. Die reale Steigerung lag mit durchschnittlich 9 % pro Jahr deutlich höher als in der Zwischenkriegszeit. Der Stromverbrauch stieg dann zwischen 1960 und 1973 nochmals um durchschnittlich 7,5 % pro Jahr. Die Entwicklung der Stromerzeugung in der DDR blieb demgegenüber auf einem sehr viel niedrigeren Niveau (siehe Abbildung). 1950 erzeugte die DDR 43,8 % der in der Bundesrepublik produzierten Elektroenergiemenge, 1970 nur noch 27,9 %. Dieser Rückstand bildete sich in den fünfziger Jahren heraus. Zwischen 1950 und 1960 stieg die Elektroenergieerzeugung in der Bundesrepublik um 251 %, in der DDR dagegen um 107 %. Elektrizitätserzeugung in der Bundesrepublik und in der DDR 1949-1965

643

Die fahrbare Leistung der Kraftwerke nahm in der Bundesrepublik allein zwischen 1950 und 1952 um rund 25 % zu, in der DDR im gleichen Zeitraum dagegen lediglich um 9 %. Da sich der optimale Wirkungsgrad der Kraftmaschinen mit ihrer Leistung erhöhte, lagen die Kosten pro installiertes MW in der DDR Anfang der sechziger Jahre doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik. Die Elektroenergieerzeugung pro Kopf der Bevölkerung (Stromintensität) lag schon vor dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der späteren DDR höher als auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik, bedingt durch Unterschiede in der Struktur der Industrie und der Primärenergiebasis. In den frühen fünfziger Jahren nahm dieses Gefälle noch zu. Dennoch blieb die Stromversorgung in der DDR angespannt, da hier mehr als 50 % der Primärenergie bei der Umwandlung in Endenergie verloren gingen. Die höhere Stromintensität war seit Ende der vierziger Jahre also auch ein Indikator für den technologischen Rückstand der DDR im Kraftmaschinen- und Kraftwerksanlagenbau. Für die gleiche Endleistung war in der DDR ein erheblich höherer Energieeinsatz notwendig als in der Bundesrepublik. Neu errichtete Kraftwerke hatten in Ostdeutschland einen deutlich höheren Verbrauch als in Westdeutschland. Insgesamt lag der Pro-Kopf-Verbrauch von Primärenergie in der DDR noch 1990 um rund 25 % höher als in der alten Bundesrepublik, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen unter 50 % des westdeutschen Niveaus lag. Durch die unwirtschaftliche Energieanwendung und den überhöhten Verbrauch war die Sicherstellung der Stromversorgung in der DDR mit vergleichsweise höheren ökonomischen und ökologischen Kosten verbunden als in der Bundesrepublik. Der technologische Rückstand der Stromwirtschaft in der DDR war also sowohl durch den energiepolitischen Autarkiekurs bedingt, der zunächst zu einer nahezu ausschließlichen Orientierung auf die Braunkohle und damit auf einen ineffizienteren Primärenergieträger zwang, als durch die Innovationsschwäche in der Energietechnik. Der Autarkiekurs, die Vernachlässigung von Forschung und Entwicklung und die Orientierung auf die Kurzzeitperspektive der Produktionsplanung führten in Verbindung mit dem Mangel an Halbfertigwaren und Rohstoffen dazu, daß der Entwicklungsstand der Energieerzeugungs- und Umwandlungsmaschinen hinter dem westlichen Niveau zurückblieb. Innerhalb des technischen Systems der Energiewirtschaft wurden die Auswirkungen der Innovationsschwäche noch durch andere Faktoren (Rückständigkeit des Spannungsnetzes u. a.) verstärkt. Unter den Bedingungen der DDR-Wirtschaft waren technische Systeme aufgrund ihrer Komplexität für Funktionsstörungen besonders anfällig. Die technischen Voraussetzungen für den Übergang zu Hochleistungs-Energiesystemen bestanden in der DDR erst etwa zehn Jahre später als in der Bundesrepublik. Durch den technologischen Rückstand der Stromwirtschaft wurde wiederum der Ausbau energieaufwendiger Industriezweige wie der Chemischen Industrie behindert. Gerade diese Branchen gehörten aber zu den Schlüsselindustrien der DDR. Für die Bundesrepublik wird aus der vergleichenden Perspektive deutlich, daß das Innovationsverhalten entscheidend zur Sicherstellung der Energieversorgung beitrug. Die hohen Zuwachsraten bei der Stromerzeugung wären ohne die For-

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schungs- und Entwicklungs-Leistungen der Unternehmen und die rasche Übernahme neuer, in den USA eingeführter Verfahren nicht möglich gewesen. In Verbindung mit der zunehmenden Umstellung der Primärenergiebasis auf Erdöl trug die steil ansteigende Leistungsfähigkeit der Kraftwerke dazu bei, daß die Furcht vor einer Energielücke ab Mitte der fünfziger Jahre ihren realen Hintergrund verlor. Da diese Effizienzsteigerung auf der Basis von fossil beheizten Kraftwerken erfolgte, sanken damit in der Bundesrepublik aber auch die wirtschaftlichen Erfolgschancen für die Kernkrafttechnologie. Entscheidungsspielräume und Innovationsverhalten in der Synthesekautschukindustrie – Die Einführung des Kaltkautschukverfahrens in den Chemischen Werken Hüls und im Buna-Werk Schkopau.73 Resümee – erfolgreiche Unternehmensstrategie oder Fehlentwicklung? Für Professor Franz Broich, Vorstandsvorsitzender der Hüls AG von 1965-72, war der Erfolg des neuen Synthesekautschukwerkes vorprogrammiert gewesen. Er bezeichnete den gemeinschaftlichen Aufbau des Buna-Werkes rückblickend als eine „große Fehlentscheidung“. Nach seiner Meinung hatte sich Hüls unter der Regie seines Vorgängers, Dr. Baumann, mit der Rolle als Werk der Grundstoffchemie abgefunden und damit längerfristig eine erhöhte Krisenanfälligkeit des Hülser Werkes verursacht. Was hatte Broich zu dieser Einschätzung veranlaßt? Während der Vorstandsvorsitzende Baumann im Interesse der Risikominimierung in der Phase der Ausarbeitung des Projektes Kaltkautschukfabrik seit Anfang der fünfziger Jahre für staatliche Hilfen und ein Zusammengehen mit den „großen Drei“ plädiert hatte, sahen andere Vorstandsmitglieder, insbesondere Professor Franz Broich, keine Notwendigkeit für eine Kooperation mit den I. G.-Nachfolgern. Broich favorisierte den eigenständigen Aufbau der Kaltkautschukfabrik und eine Kooperation mit einem großen internationalen Mineralölkonzern. Noch vor dem Abschluß der Entflechtung hatte Hüls eine stärkere Anlehnung an BP in Hamburg erwogen. Doch eine Mehrheit der Vorstandsmitglieder lehnte diese ambitionierte Konzeption, nach Meinung von Broich, „aus überzogener I. G.-Treue ab und erschwerte damit die Emanzipation von Hüls“. Dr. Bornhofen, ebenfalls langjähriges Vorstandsmitglied der Chemischen Werke Hüls AG, sah die Dinge weniger dramatisch. Nach seiner Meinung war das Risiko für einen Alleingang von Hüls beim Aufbau des neuen Kaltkautschukwerkes zu groß. Eine Unternehmensstrategie, die erneut auf den Vorrang der BunaProduktion gesetzt hätte, wäre nach seiner Ansicht mit schwer kalkulierbaren Risiken verbunden gewesen. Das Unternehmen wäre in diesem Fall in eine große Abhängigkeit von den Entwicklungen auf dem Kautschukmarkt geraten. Der Übergang zur Kaltkautschukproduktion schuf besonders enge Berührungspunkte zwischen den Interessen der Firma und denen des Staates. Das Projekt konnte erst nach dem Wegfall der alliierten Beschränkungen 1951 „begonnen 73 Karlsch, Rainer: Ebenda, S. 102-105, 107.

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werden, als der Korea-Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte“. Für die Bundesregierung stellte die Sicherung der Selbstversorgung mit Synthesekautschuk ein zentrales Motiv für die Unterstützung des Aufbaus neuer Anlagen dar. Das war auch der Grund für die Einrichtung der „Preisausgleichskasse“ für Kautschuk. Gleichwohl fand keine Fortsetzung der Autarkiepolitik der dreißiger Jahre statt. Der Import des Know-how im Jahr 1955, mit aktiver Unterstützung des Staates, und der folgende Rückzug des Staates aus dem Synthesekautschukprojekt markierten den Bruch mit der Unternehmens- und Wirtschaftspolitik der Vergangenheit. Hüls fand Anschluß an den Weltmarkt. Zusammenfassung: Der Anstoß zur Veränderung der Technologie kam für die deutschen Buna-Produzenten 1948 aus den USA. Die Meldungen über die Aufnahme der Massenproduktion von Kaltkautschuk veranlaßte sowohl die Werkleitung von Schkopau als auch den Vorstand von Hüls zur Wiederaufnahme kriegsbedingt unterbrochener Forschungsarbeiten. Beide Leitungen, dominiert von Fachleuten aus der alten I. G. verfügten über ein ausreichendes Innovationsbewußtsein. Auf dem Hintergrund des Kalten Krieges und der amerikanischen EmbargoBestimmungen blieb für Schkopau von vornherein nur der Weg der Eigenentwicklung und damit die Fortsetzung der Autarkiepolitik. Für Hüls markierte der Beginn des Korea-Krieges einen Wendepunkt in der Firmengeschichte. Die alliierten Restriktionen fielen und der Import amerikanischer Anlagen wurde möglich. Die mehrjährige Unterbrechung der Buna-Produktion und die zwischenzeitlich erfolgte Profilierung anderer Unternehmensbereiche legten dem Hülser Vorstand eine Strategie des Innovationseinkaufs zum Zweck des Überspringens des technologischen und zeitlichen Defizits nahe. Mit staatlicher Hilfe erhielt das Werk Zugang zur modernsten amerikanischen Kaltkautschuktechnologie und konnte die eigenen Forschungs- und Entwicklungs-Arbeiten auf die dritte Kautschukgeneration konzentrieren. Infolge der politisch bedingten Prämissen ging der Forschungs- und Entwicklungs-Vorsprung, über den Schkopau noch Ende der vierziger Jahre gegenüber Hüls verfügte, verloren. Mit der Inbetriebnahme der neuen Kaltkautschukfabrik 1958 verfügte Hüls über einen deutlichen Vorsprung gegenüber Schkopau, der sich durch die Systemkrise in der DDR 1960/61 noch vergrößerte. Eine vergleichbare Produktion lief in Schkopau erst acht Jahre später an. Die Schwierigkeiten in Schkopau waren nur zum kleineren Teil dem Forschungs- und Entwicklungs-Bereich geschuldet. Sowohl die personellen als auch finanziellen Voraussetzungen für das Vorhaben „Kaltkautschuk“ waren seit Ende der vierziger Jahre vorhanden. Wesentlich erschwert wurde der Innovationsverlauf in Schkopau jedoch durch den schwerfälligen Planungsmechanismus. Ein großes Hindernis war die Bewertung der betrieblichen Leistung nach der Bruttoproduktion und die operative Steuerung des Werkes über Jahrespläne. Sowohl das vorgegebene Bewertungssystem als auch das starre Preissystem erwiesen sich als Innovationsbarrieren. Das plan-

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wirtschaftliche System führte schrittweise zu einer immer stärkeren Zentralisierung von Entscheidungen, womit die Gefahr von Fehlsteuerungen wuchs. Widerstände gingen auch von der innovationsfeindlichen Eigendynamik der Administration aus. Diese schätzte bis Anfang der sechziger Jahre den bestehenden Zustand als „gar nicht so schlecht“ ein und zögerte Investitionsentscheidungen mehrfach hinaus. Bis zur Umsetzung des „Kautschukumstellungsprogramms“ mußten mehrere hierarchische Ebenen durchlaufen werden, traten Koordinationsprobleme und Filtereffekte auf. Neben diesen systembedingten Barrieren wirkten jedoch auch noch Elemente der Firmenphilosophie der I. G. fort, die bereits in den dreißiger/vierziger Jahren zur Unterschätzung der Leistungsfähigkeit ausländischer Firmen und zu einer Vernachlässigung der Zusammenarbeit mit der Gummiindustrie geführt hatten. Ähnlich der I. G. blieb das Buna-Werk, allerdings auf einem wesentlich kleineren Territorium, der Alleinanbieter von Synthesekautschuk. Doch während die I. G. noch über das gesamtdeutsche Potential verfügt hatte und eng mit amerikanischen Firmen kooperierte, waren die Ressourcen der DDR-Chemie kleiner und der Know-how-Transfer auf den RGW-Bereich beschränkt. Außerdem wirkte sich das Fortbestehen einer quasi monopolistischen Position und den damit verbundenen relativ statischen Umweltbedingungen nicht eben förderlich auf das Innovationsverhalten aus. Die Innovation „Kaltkautschuk“ wurde durch die wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzungen des Chemieprogramms, das eigentlich ein Programm zum Nachvollzug von Innovationen bzw. zur Adaption darstellte, verzögert. Die Synthesekautschuk-Entwicklung war kein Schwerpunkt des Chemieprogramms. Dennoch wäre es zu weit gegriffen; in den wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der SED-Führung die entscheidende Innovationsbarriere zu sehen. In der Ära Ulbricht ist die Bedeutung technischer Innovationen keineswegs verkannt worden. Im Falle einer stärkeren Beachtung des Kautschuks im Chemieprogramm hätte die Kaltkautschukproduktion unter Umständen 1 bis 2 Jahre eher aufgenommen werden können. Doch auch in diesem Fall wäre Schkopau gegenüber Hüls um ca. 5 Jahre und gegenüber amerikanischen Herstellern um ca. 10 Jahre zurückgeblieben. Das entscheidende Hindernis für die Innovation „Kaltkautschuk“ bestand für Schkopau in der Abschottung vom internationalen Technologietransfer. Während alle großen Chemieunternehmen in der Bundesrepublik über eine Zusammenarbeit mit amerikanischen und britischen Firmen in den fünfziger Jahren den Anschluß wiederherstellten, blieb Schkopau notgedrungen isoliert und mußte zudem das eigene Produktionsprofil in die Breite entwickeln (Drang zur autonomen Größe). In der marktwirtschaftlichen verfassten Bundesrepublik gelang es den Chemischen Werken Hüls, mit staatlicher Hilfe den Übergang vom Warm- zum Kaltkautschuk zu beschleunigen. Allerdings beschränkte sich der Staat vornehmlich auf die Unterstützung beim Technologietransfer und eine zeitlich begrenzte „Anschubförderung“ der Synthesekautschukproduktion. Während die technologiepolitische Strategie von Schkopau letztlich von den Vorgaben der Planungszentralen abhängig war und damit einen Teil ihrer Wirksamkeit verlor, befand sich Hüls

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nicht in Abhängigkeit von übergeordneten Instanzen, stand wohl aber in einem komplizierten Beziehungsgeflecht zu den „Großen Drei“, in dem sich bis zu einem gewissen Grade die Verhältnisse der Vorkriegszeit widerspiegelten. Von einer eigenständigen Unternehmensstrategie bei Hüls kann daher nur unter Vorbehalten gesprochen werden. Ob Hüls mit dem Verzicht auf den eigenständigen Aufbau des Kaltkautschukwerkes eine große Chance vertan (Broich), oder eine unumgängliche Strategie der Risikominimierung (Baumann) gewählt hatte, bleibt strittig. In den fünfziger Jahren stand für Schkopau ein Technologieimport nicht zur Debatte. Die Kaltkautschuktechnologie hätte nur von amerikanischen Firmen erworben werden können, doch das Verfahren unterlag den Cocom-Bestimmungen und wurde nicht in Ostblockstaaten verkauft. Erst Anfang der sechziger Jahre wurde das Technologieembargo für Kaltkautschukanlagen gelockert, woraufhin die UdSSR und Rumänien amerikanische Anlagen erwarben. Auch die Betriebsdirektoren der chemischen Industrie der DDR drängten den Partei- und Planungsapparat zum Technologieimport. Dieser erfolgte jedoch nur partiell und oft mit erheblicher Zeitverzögerung. Von einem bewussten „Technologieverzicht“ kann nicht gesprochen werden, wohl aber von der Unfähigkeit des planwirtschaftlichen Systems, auf veränderte Weltmarktbedingungen rasch zu reagieren. So lange als möglich wurde an binnenorientierten, das Bestehende sichernden Lösungen festgehalten. Buna-Anteil am Gesamtumsatz von Hüls (Umsatz in Mio. RM/DM) Jahr

Umsatz

davon Buna

Anteil in %

1941

88,6

55,8

63%

1942

132,8

84,8

64%

1943

135,8

79,2

58%

1944

161,1

92,0

57%

1945

42,3

29,0

69%

1946

128,1

63,7

50%

1947

105,3

34,1

32%

1948

114,9

20,6

18%

1949

101,9

0

0

1950

150,1

0

0

1951

251,5

0

0

1952

258,1

20,6

8%

1953

315,1

18,9

6%

648

Die Integration der Elektronik in den wissenschaftlichen Gerätebau – eine Fallstudie, dargestellt in einer vergleichenden Betrachtung von Carl Zeiss Jena und Carl Zeiss Oberkochen während der sechziger Jahre Innovation und Entscheidungsstrukturen – eine abschließende Wertung:74 Für den Zeitraum der sechziger Jahre ist das Bemühen beider Zeiss-Werke sichtbar, sich dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu stellen und ihn in einzelnen Teilbereichen auch mitzubestimmen. Beide Werke waren auf den Binnen- und Außenmärkten aktiv und erhielten – wenn auch in unterschiedlichem Maße und aus verschiedenen Richtungen – zahlreiche Innovationsimpulse, die sie nach ihren Möglichkeiten zu verarbeiten suchten. Der große Unterschied zwischen beiden bestand darin, daß sie in gegensätzlichen Gesellschaftssystemen ihren Platz hatten und in ihnen als Wirtschaftsfaktor existieren mußten. Hieraus läßt sich – trotz vielfach gleicher oder ähnlicher wissenschaftlich-technischer Aufgabenstellungen – in den sechziger Jahren ein zunehmend auftretendes unterschiedliches Herangehen an deren Lösung erkennen, wobei am Ende der Dekade das Jenaer Zeiss-Werk immer schlechter abschneidet. Das Bemühen, in beiden Werken auf Innovationsimpulse zu reagieren, wurde am Beispiel des Versuchs der Integration elektronischer Bauelemente in die Erzeugnispalette des Gerätebaus dargestellt. In keinem der untersuchten Beispiele konnte – nicht zuletzt auch aufgrund des relativ kurzen Untersuchungszeitraumes – eine Basisinnovation in dem Sinne nachgewiesen werden, daß neue Wirkprinzipien entdeckt und neue Anwendungsgebiete für den Gerätebau erschlossen wurden. Selbst zusätzlich entwickelte Geräteteile vermochten nicht, die Leistungsfähigkeit des gesamten Gerätes revolutionierend zu verbessern. Die eingeführten Neuerungen trugen vielmehr den Charakter einer Verbesserungsinnovation, wenngleich der Grad der erzielten Verbesserung im einzelnen sehr unterschiedlich war. In den überwiegenden Fällen wurde das entsprechende Gerät bzw. die Gerätegruppe nur in einzelnen Teilen oder Elementen, d. h. partiell verändert. Beim Anwender trugen die Veränderungen dazu bei, Arbeitsschritte zu erleichtern oder rationeller zu gestalten. Vielfach gelang es auch, genauere Meßund Untersuchungsergebnisse zu erhalten bzw. die Erzeugnisqualität zu erhöhen. Die partiellen Neuerungen blieben meistens auf das jeweilige Erzeugnis begrenzte Einzelfälle und hatten keinen Einfluß auf durchgreifende innovative Veränderungen in einzelnen Fertigungsbereichen oder gar Industriezweigen. Technisch-technologische oder Prozeßinnovationen konnten in der in Rede stehenden Zeit weder in Jena noch in Oberkochen festgestellt werden. Bezogen auf die Elektronik bleibt festzuhalten, daß der Entwicklungsstand ihrer Fertigung in beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich war. In der DDR wurde gerade mit der industriellen Produktion von einfachen Halbleitern begonnen, deren Qualität sowie Verwendbarkeit in den gesamten sechziger Jahren nie den Anforderungen der Anwender genügte. Hinzu kam, daß die vorrangige Orientierung auf den sehr aufnahmefähigen und im Rahmen des RGW relativ geschütz74 Kowalski, Roland: Ebenda, S. 210-213.

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ten östlichen Außenmarkt zu einer gewissen Beständigkeit im Sortimentsangebot verleitete und technische Neuerungen nicht in der Schärfe verlangt wurden, wie es auf dem freien Markt üblich war. Die Ablösung der Elektronenröhre durch Halbleiterbauelemente besaß in Jena einen weniger wichtigen Stellenwert als in Oberkochen. Trotzdem konnte auch in Oberkochen in den sechziger Jahren der Widerspruch zwischen der Forderung nach umfassender Elektronisierung und Automation von Meßvorgängen, Sammlung, Auswertung und Wiedergabe von Daten einerseits und den vorhandenen elektrotechnisch-elektronischen Möglichkeiten andererseits nicht völlig gelöst werden. Dies konnte erst mit der massenhaften Fertigung preiswerter Mikroelektronik-Bauelemente und ihrer Anwendung im Präzisionsgerätebau der siebziger Jahre gelingen. Insofern stellten die bei Zeiss durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten einschließlich erster praktischer Anwendungsversuche der Kombination von Elektronik und Feinmechanik einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Lösung dieses Problems in den Folgejahren dar. Die Intensität und die Qualität dieses Schrittes wurden von den Beschäftigten beider Unternehmen geprägt, wobei sich zwischen Oberkochen und Jena deutliche Unterschiede abzuzeichnen begannen. Diese wiederum wurden nicht unwesentlich von den Entscheidungsstrukturen geprägt, einem bislang eher unterschätzten Einflußfaktor. Das Oberkochener Zeiss-Unternehmen hatte bei seiner Gründung die Struktur des Jenaer Stammhauses übernommen. Ihr wesentliches Kennzeichen bestand darin, daß die Leiter der einzelnen Geräteabteilungen für die Grundlagenentwicklung, Produktplanung, Entwicklung und den Vertrieb selbst verantwortlich waren und nur der Geschäftsleitung unterstanden.75 Sie trugen damit die volle Verantwortung für alle Belange der Entwicklung ihrer Abteilung, was wiederum hohe fachliche Kompetenz voraussetzte. Dies ermöglichte es, maßgeblich den inhaltlichen Werdegang der jeweiligen Geräteabteilung mitzubestimmen und die Mitarbeiter entsprechend zu motivieren. So kamen Mitte der sechziger Jahre rund 5060 % aller Entwicklungsideen bei Zeiss Oberkochen von den eigenen Wissenschaftlern. Etwa 20-25 % waren auf Anregungen aus Kundenkreisen zurückzuführen und der Rest stammte aus den Fertigungsbereichen.76 Derartige Vorschläge bzw. Ideen wurden im eigenen Haus hinsichtlich des wissenschaftlichen Gehalts, der Innovationsträchtigkeit und der Patentlage sowie der Fertigungsmöglichkeit, der Kostenfrage und der Absatzfähigkeit überprüft. Danach erfolgte die konkrete Terminplanung bis zur Endfertigung, wobei ständig der Markt beobachtet wurde, um gegebenenfalls Projekte abzubrechen, für die sich die Marktlage bzw. die Konkurrenzsituation verändert hatte.77 Ein hohes Maß an Eigenverantwortung und die Fähigkeit, rasch zu reagieren und Entscheidungen zu treffen, da jede Fehlentwicklung sich unmittelbar auf das eigene Un75 Köhler, Horst: 30 Jahre Forschung und Entwicklung im Zeiss Werk Oberkochen, Oberkochen 1983, S. 24. 76 Kühn, Gerhard: Abhandlungen und Vorträge aus den Jahren 1958 bis 1966, hg. von den Optischen Werken Carl Zeiss in Oberkochen, Oberkochen 1967, S. 121. 77 Ebenda, S. 121 f.

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ternehmen auswirkte, waren bei jedem verantwortlichen Leiter in Oberkochen stets gefragt. Diese Situation begann sich im Jenaer Werk spätestens ab Mitte der sechziger Jahre merklich zu wandeln. Zwar existierte im wesentlichen die gleiche innerbetriebliche Struktur wie in Oberkochen, jedoch hatten über 10 Jahre Planwirtschaft schon erste Spuren hinterlassen. Die Spezifik des Betriebes ermöglichte bis in die erste Hälfte der sechziger Jahre vor allem dem wissenschaftlich-technischen Personal in seiner Tätigkeit noch zahlreiche Freiräume zur schöpferischen Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Diese Jahre werden noch heute von ehemals leitenden Mitarbeitern der Forschung und Entwicklung als „erfolgreichste und kreativste Zeit“, in der der „innovative Gedanke am ausgeprägtesten entwickelt war“, charakterisiert.78 Das Neue Ökonomische System – 1963 verkündet – hielt diesen Zustand mit seiner Forderung nach erhöhter Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit der Betriebe zunächst noch aufrecht. Ab Mitte der sechziger Jahre veränderte sich jedoch das Bild. Die genannten Freiheiten wurden schrittweise zurückgenommen und durch eine Ausweitung der Planvorgaben, stärkeren Bürokratismus und Bevormundung ersetzt. Der Prozeß war ein fließender und hatte für Carl Zeiss Jena gesellschaftliche wie innerbetriebliche Ursachen. Gesamtgesellschaftlich setzte das 11. SED-Plenum vom Dezember 1965 mit seinen verordneten Einschränkungen der Handlungsspielräume in Kultur, Politik und Wirtschaft eine entscheidende Zäsur. Die strikte Gängelei und Kontrolle aller gesellschaftlichen Bereiche trat wieder in den Vordergrund und wurde perfektioniert. Damit erhielt ein Teil der leitenden Mitarbeiter bei Zeiss, die bis in die fünfziger Jahre hinein zwangsverpflichtet in der Sowjetunion arbeiteten, stärkere Rückendeckung bei der Durchsetzung eines Leitungs- und Verwaltungsstils, der vornehmlich durch Administrieren und Dirigieren bei gleichzeitiger Beschneidung der Selbständigkeit der Untergebenen gekennzeichnet war. Wenn zweifellos solche Leitungsmethoden für die fünfziger Jahre in der Sowjetunion durchaus angebracht gewesen sein mögen, so mußten sie die Selbständigkeit gewohnten ingenieurtechnischen und wissenschaftlichen Belegschaftsangehörigen mehr und mehr brüskieren. Allmählich wurde ein auf gegenseitigem Vertrauen, auf Verantwortungsfreude, Selbständigkeit und Sachkunde beruhendes Arbeitsklima demontiert und durch Gängelei, Bevormundung und Bürokratismus ersetzt. In der Folge dieser sich fließend vollziehenden Wandlung wurden Begabung und Fähigkeiten immer mehr eingeengt, Sachkunde durch Scheinideologie ersetzt, begrüßenswerte Experimente verstärkt der Willkür einzelner Leiter ausgesetzt, was letztendlich zu einem drastischen Rückgang von Entscheidungsfreudigkeit und Eigeninitiativen führte und ein Betriebsklima schuf, in dem innovatives Gedankengut nur schwer gedeihen konnte.79 Dazu kam am 1. Januar 1965 die Kombinatsbildung, in deren Folge auch der Bürokratie- und Verwaltungsapparat anwuchs. In diese Zeit fiel auch der Wechsel 78 Dr. Falta / Dr. Guynot / Prof. Pohlack: Tonbandprotokoll einer Diskussion zur Entwicklung des Jenenser Zeiss-Unternehmens in den sechziger Jahren, Jena, 28.5.1993. 79 Ebenda, Prof. Pohlack.

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des Generaldirektors im Jenaer Zeiss-Kombinat. Professor Hugo Schrade, besonders von der Partei-Bürokratie nach 1945 stets als letzter Repräsentant der alten Konzern-Leitung argwöhnisch betrachtet, wurde kurz nach Erreichen seines 65. Lebensjahres im August 1966 in den Ruhestand geschickt. An seine Stelle rückte sein 1. Stellvertreter, Ernst Gallerach, ein „Kader sozialistischen Typs“, dessen Leitungsstil sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mehr und mehr durch Anweisen und Administrieren gegenüber der Belegschaft sowie Versuche abzeichnete, mittels ständigem Dokumentieren ideologischer Zuverlässigkeit die Obrigkeit in Partei und Staat gegenüber der eigenen Person wohlgesonnen zu halten. Zweifellos ging mit einem solchen Wechsel ein weiteres Stück Engagement und schöpferischer Initiative in der Belegschaft verloren. Dies umso mehr, als in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unter Gallerachs Regie der massiven Einflußnahme von SED- und staatlichen Stellen auf den wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Werdegang des Betriebs Tür und Tor geöffnet wurde. Wissenschaftlich-technische wie produktionsbedingte Entscheidungen wurden in zunehmendem Maße von Arbeitsgruppen staatlicher oder SED-Dienststellen getroffen, die auch die praktische Durchführung kontrollierten Die Handlungsfreiheiten der leitenden Mitarbeiter beschränkten sich im wesentlichen auf das Ausführen von Weisungen. Eigene Entscheidungen waren kaum noch gefragt und bedurften in jedem Falle der Abstimmung mit dem jeweiligen Vorgesetzten. Zweifellos bildete eine solche Wandlung den Hintergrund für die bereits beschriebene abwartende und distanzierte Haltung zu Innovationsfragen. Während in Oberkochen das Agieren der Zeiss-Mitarbeiter nach wie vor gefordert wurde, stand in Jena immer mehr das Reagieren auf der Tagesordnung. Die massive Einmischung des Staates in den Werdegang des Jenenser Zeiss-Werks erlangte ihren traurigen Höhepunkt mit dem Ministerratsbeschluß vom 28. August l968.80 Er führte Carl Zeiss Jena von seiner eigentlichen Zweckbestimmung, der Fertigung spezieller wissenschaftlicher Präzisionsgeräte, weg und degradierte den Betrieb zum Massen-Zulieferer von Automatisierungsmitteln für die DDR-Volkswirtschaft. Im Ergebnis dieses „Kurswechsels“ konnten bis zum Ende der sechziger Jahre beschlossene Pläne nicht mehr erfüllt werden, was zur Folge hatte, daß Carl Zeiss Jena zum ersten Mal in seiner Geschichte im August 1970 zahlungsunfähig war und nur durch einen Sonderkredit aus dem Staatshaushalt diese kritische Situation überwinden konnte.81

80

Beschluß des Ministerrats vom 28.8.1968 zur „Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena zum Zentrum der Forschung und Produktion für die Rationalisierung- und Automatisierungstechnik der DDR auf der Grundlage der Entwicklung und Produktion von Gerätesystemen der wissenschaftlichen Gerätebaus“, BACZ (ohne Signatur).

81

Geschäftsbericht für das Jahr 1970, BACZ (ohne Signatur).

652

Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie beider deutscher Staaten. Ein Beitrag zur Erklärung wirtschaftlicher Leistungsdifferenzen Zusammenfassender Vergleich der Krisenreaktionen:82 Die Reaktionen auf die Erdölkrisen deckten exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen und in gewisser Hinsicht auch der politischen Leistungsfähigkeit der beiden Systeme auf. Um den Anforderungen zu begegnen, die die Krisen auslösten, wählten die DDR-Chemie und die BASF zum Teil ähnliche, größerenteils aber differierende Lösungswege. Entwicklung der Rohölpreise auf dem Spotmarkt in US-$ 1970-1990

Quelle: Statistisches Bundesamt, Datenreport 1997.

Ähnlichkeiten waren vor allem in den fünf folgenden Punkten festzustellen: 1. Beide Seiten versuchten, die Ergiebigkeit des Rohstoffs Erdöl zu erhöhen, indem sie große Investitionen in Crackanlagen durchführten, mit deren Hilfe sie die Ausbeute an den gewünschten hellen Fraktionen steigern konnten. 2. Beide Seiten unternahmen Schritte; den Bezug von petrochemischen Vorprodukten näher an die Ölquellen (UdSSR bzw. arabische .Staaten) zu verlagern – aufgrund mangelnder Flexibilität in jenen Staaten mit nur eingeschränktem Erfolg. 3. Beide Seiten wurden aus politischen Gründen davon abgehalten, bei der Energieversorgung jene Lösung zu wählen, die sie für die technisch sinnvollste hielten; die BASF den Einsatz der Atomkraft, die DDR-Chemie den von Öl. 82

Schröter, Harm G., in: Bähr, Johannes / Petzina, Dietmar (Hrsg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studie zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990, Berlin 1996, S. 112, 135-137.

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4. Beide Seiten versuchten, den für sie zentralen Engpaß durch Kooperation mit anderen Partnern zu umgehen. Für die DDR ging es um eine Verbesserung der Arbeitsteilung im RGW. Damit sollte in erster Linie die Versorgung mit bestimmten Waren garantiert und zugleich die Produktionskosten durch Erhöhung der zu fahrenden Losgrößen gesenkt werden. Entscheidend aber war, die Verfügung über Waren zu erlangen. Deshalb suchte die DDR-Chemie ihre Kooperationspartner in der chemischen Industrie anderer RGW-Länder, also in Parallelorganisationen. Dagegen lag für die BASF der generelle Engpaß im Absatz. Auch sie versuchte, durch Kooperation mit Partnern z. B. aus der Autobranche Abhilfe zu schaffen. Aber die Kooperationspartner der BASF stellten keine konkurrierenden Unternehmen, sondern Abnehmer dar. Gemeinsam war, daß sowohl bei der BASF als auch in der DDR-Chemie diese Kooperationsansätze keine entscheidende Bedeutung erlangten. 5. Beide Seiten akzeptierten, daß in bestimmten wirtschaftlichen Bereichen Verluste anfielen. Unterschiedlich war aber die Toleranz. Die Verluste der BASF im Raffineriesektor glichen sich regelmäßig aus. Bereiche, deren Rentabilität auch langfristig in Frage stand, wurden geschlossen oder abgestoßen. Die DDR dagegen akzeptierte defizitäre Bereiche grundsätzlich dann, wenn sie aus stoffwirtschaftlichen Gründen keine Alternative sah. Den Gemeinsamkeiten in den Krisenreaktionen standen Differenzen gegenüber, die Leistungsunterschiede zwischen den beiden Parallelbranchen verursachten: 1. Die BASF handelte marktorientiert; die DDR-Chemie war in einem stoffwirtschaftlich geprägten Rahmen nicht absatz- sondern verfügungsorientiert. 2. Die BASF bezog sich bei ihren Entscheidungen nicht auf den bundesdeutschen, sondern auf den Weltmarkt. Ständig steigende Exportquoten und die Ausweitung der Direktinvestitionen bewiesen den Willen zur Expansion. Die DDR-Chemie arbeitete in erster Linie für den Binnenmarkt und erst in zweiter Linie für den RGW. Jeder Bezug zum Weltmarkt wurde in das Prokrustesbett staatlicher Devisenbeschaffung gepreßt. 3. Die strategische Zielvorgabe der BASF war, im Wettbewerb jeweils einen Know-how-Vorsprung zu halten. Dem stand in der DDR-Chemie kein systematischer Anreiz zum Wissenserwerb gegenüber. 4. Durch den Wettbewerb war die BASF zu einer permanenten Überprüfung ihrer Leistung gezwungen. Das führte zu einer ebenso ständigen Verbesserung von Technologie, Verfahren, Produktpalette usw. Dagegen blieben in der DDR-Chemie Anlagen, Verfahren, Produkte etc. jeweils über lange Zeit, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg, unverändert. Ebenso hielt die DDRFührung an den Zielen ihrer Fünfjahrpläne fest, obwohl sich deren Grundlage dramatisch verändert hatte. Sie mußte sich deshalb nach der ersten Krise grundsätzlich neu orientieren.

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5. Die Reaktionen der BASF erfolgten zeitlich früher und inhaltlich flexibler. Sie leitete durch ihre ständige Anpassung an den Markt vielfach schon vor den Krisen entsprechende Schritte ein. Die Entscheidungsträger der DDRChemie handelten mit einem Zeitverlust. Zugleich erfolgte die Kurskorrektur geradezu brutal. 6. Der BASF standen jeweils mehrere Optionen offen, von denen sie die günstigste auswählen konnte. Dagegen zeigen die Akten des Politbüros, daß für die DDR-Chemie eine Option aus politischen Gründen gewählt wurde, ohne sich die Tür für andere Möglichkeiten offenzuhalten, obwohl die entsprechenden Sachverständigen sich gegen eben diese Option ausgesprochen hatten. 7. Das schließlich Entscheidende war die Setzung verschiedener Ziele. Oberste Maxime der DDR war die Stabilität des politischen Systems, der ökonomische Vorschläge fachlich ausgewiesener Entscheidungsträger im Zweifelsfall untergeordnet wurden. Dies führte bei immer mehr Personen zu Indifferenz, Demotivation und sogar Groll. Infolgedessen wäre das Ergebnis in seiner Tendenz auch dann nicht sehr viel anders gewesen, wenn der Hauptakteur nicht „Wirtschaftsdiktator“ Mittag, sondern andere Personen gewesen wären. Dagegen orientierten sich die Akteure der BASF am langfristigen Gewinn des Unternehmens. Fachliche Leistung war auch das Ausweiskriterium für die Entscheidungsträger der BASF. Die Differenzen in den Entscheidungen der west- und ostdeutschen Chemie waren in erster Linie durch das jeweilige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche System gekennzeichnet, während Differenzen im Ausbildungs- und Kenntnisstand dahinter zurücktraten. Letztendlich waren es zwei Grundfaktoren, die die ökonomischen Leistungsdifferenzen im Laufe der Zeit zunehmend hervortreten ließen: 1. Während sich die Krisenreaktionen im Westen an der wirtschaftlichen Optimierung der Ergebnisse orientierten, war die DDR in erster Linie an einer politischen Optimierung interessiert. Die Ziele waren also verschieden. 2. Für die Bundesrepublik war eine „konsequente Ausdifferenzierung zwischen ökonomischen und sozio-politischen Teilsystemen“ kennzeichnend. Gerade der Mangel in diesem Bereich, nämlich die Verschmelzung des politischen und des ökonomischen Sektors bei gleichzeitigem Primat politischer Setzung, war das Grundproblem der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR, an dem sie schließlich ökonomisch scheiterte. Der Beitrag des Werkzeugmaschinenbaus zur flexiblen Fertigungsautomatisierung in Deutschland83 Noch in den Jahren 1986 und 1987 wurde bei allen Automatisierungsprojekten an der Verbesserung der technischen Verfügbarkeit und der Zuverlässigkeit der Systemtechnik einschließlich der angewandten Software gearbeitet. Viele Fertigungssysteme und einzelne Ausrüstungen wiesen eine Reihe von Funktionsfeh83 Specht, Dieter / Haak, René: Ebenda, S. 278 f.

655

lern auf, so daß die Fertigungsanlagen häufig ausfielen oder gar nicht erst in Betrieb genommen werden konnten. Für die Fertigung fortschrittlicher automatischer Werkzeugmaschinen benötigten die Betriebe vor allem elektrische und elektronische Schalt- und Steuerelemente, die Mitte der achtziger Jahre nicht immer und nicht in entsprechender Qualität zur Verfügung standen, so daß viele innovative Konstruktionen nicht verwirklicht werden konnten. Die Weiterentwicklung der Steuerungen war durch ungenügende Funktionssicherheit und Qualitätsprobleme bei den Halbleiterbauelementen behindert. Bei den entwickelten numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen handelte es sich im wesentlichen um den Nachvollzug internationaler Entwicklungen, wobei im Detail eigenständige Lösungen vorlagen. Trotz anfänglicher Erfolge zeigte sich in zunehmenden Maße seit Mitte der siebziger Jahre der technologische Rückstand numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen aus DDR-Produktion gegenüber bundesdeutschen Entwicklungen. Insbesondere die Wende in der Wirtschafts-, Forschungs- und Technologiepolitik seit Anfang der siebziger Jahre hat die technologische Weiterentwicklung des ostdeutschen Werkzeugmaschinenbaus nachhaltig beeinflußt. Erst im Herbst 1976 beschloß die Führung der SED die eigene Herstellung von CNC-Steuerungen, um an die technologische Entwicklung wieder anschließen zu können. Als in der DDR die Serienproduktion von CNC-Steuerungen im Jahre 1981 anlief, waren in der Bundesrepublik schon über 10.000 Steuerungen produziert worden. In der Bundesrepublik boten Anfang der achtziger Jahre rund 50 Firmen numerische Steuerungen an, darunter fast die Hälfte ausländische Hersteller. Im Gegensatz hierzu war die Herstellung von Steuerungen im VEB Numerik „Karl Marx“ konzentriert, der auf Zulieferungen des Kombinats Robotron {Dresden) angewiesen war. Engpässe bei der Herstellung von Mikrorechnern sowie Qualitätsmängel führten zwangsläufig zu Schwierigkeiten bei der Weiterentwicklung und Fertigung von CNC-Werkzeugmaschinen, da die Betriebe nicht in der Lage waren, auf andere Steuerungshersteller auszuweichen, um ihren Qualitäts- und Produktionszielen zu entsprechen. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Rechner und der numerischen Steuerungstechnologie, die die Möglichkeit boten, komplexe Fertigungsprozesse der Klein- und Mittelserienfertigung zu automatisieren, forcierte die politische Führung der DDR Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die Realisierung von flexiblen Fertigungssystemen. Die Entwicklung innovativer flexibler Fertigungssysteme wurde jedoch Mitte der siebziger Jahre abgebrochen. Erst Anfang der achtziger Jahre richtete das Politbüro wieder seine Aufmerksamkeit auf flexible Fertigungssysteme, wobei der technologische Rückstand gegenüber der Bundesrepublik, insbesondere im Bereich der Steuerungstechnologie, nicht mehr aufgeholt werden konnte. Ende der achtziger Jahre war ein erheblicher qualitativer Rückstand der ostdeutschen Steuerungstechnik .und damit der numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen eingetreten. Gegenüber den Marktführern der Steuerungstechnik Siemens und Fanuc betrug der Rückstand der DDR-Steuerungstechnik zwei Generationen. Insbesondere die Abkoppelung vom internationalen Wettbewerb, der die techno-

656

logische Entwicklung der bundesdeutschen Werkzeugmaschinenindustrie nachhaltig gefördert hat, scheint hier einen entsprechenden Entwicklungsdruck verhindert zu haben. Im Gegensatz zur Entwicklung in der DDR erhielten in der Bundesrepublik während der achtziger Jahre die flexiblen Fertigungssysteme im Verlauf zunehmender Konjunktur neuen Auftrieb und die automatisierte flexible Fertigungszelle bekam als Grundstein für integrierte Fertigungssysteme eine entscheidende Bedeutung. Die ersten standardisierten deutschen Fertigungszellen (FFZ) mit vollständig automatischer, rechnergeführter Werkstück- und Werkzeugversorgung, die die neuere Entwicklung der flexiblen Fertigungssysteme maßgeblich bestimmt haben, wurden anläßlich der EMO 1983 in Paris vorgeführt. Die Entwicklung der Werkzeugmaschine von der rein mechanischen Einzelmaschine zu einem rechnerintegrierten Fertigungssystem machte auch eine branchenübergreifende Zusammenarbeit in der Forschung und Entwicklung unumgänglich. Die nach wie vor mehrheitlich mittelständischen Betriebe in der Bundesrepublik kooperierten hier sehr eng mit der produktionstechnischen Wissenschaft und Forschung an Universitäten und Einrichtungen der angewandten Forschung. Zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren der Entwicklungs- und Durchsetzungsprozesse flexibler Fertigungssysteme in der Bundesrepublik zählten: Der – auch internationale – Austausch zwischen angewandter Forschung, Hochschulund Industrieforschung, ein expandierender Markt sowie schließlich eine hochwertige internationale Zulieferstruktur auf der Grundlage qualifizierter Fach- und Ingenieurarbeit.84 Die Beiträge des von der DFG geförderten Schwerpunktprogramms sind verdienstvoll, da sie die sehr frühe Rückständigkeit der Volkseigenen Betriebe im Vergleich zu den Unternehmen in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik aufzeigen. In der Einleitung behandelt Hans-Jürgen Wagener die „Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft“ aus der Sicht der Wachstumstheorien der Volkswirtschaft. In den Wachstumstheorien werden jedoch keine Ursachen der Rückständigkeit aufgedeckt. Auch die Beiträge bleiben auf der volkswirtschaftlichen Ebene, so z. B. Unger (S. 11-48), Rainer Karlsch konstatiert, daß der Abstand immer größer wurde und sieht die Ursachen in der „Unfähigkeit des planwirtschaftlichen Systems auf veränderte Weltmarktbedingungen rasch zu reagieren“ und im „fehlendem Wettbewerb“.85 Harm G. Schröter sieht die Ursachen im „Primat der Politik der Wirtschaft“.86 Die Bemerkung von Johannes Bähr, daß das „technologische Gefälle schon während der 1960er Jahre scherenförmig zunahm“, 87 ist richtig, aber das Gefälle setzte bereits 1948 mit dem ersten Halbjahreszentralplan ein. 84 Ende der Beiträge des Sammelbandes, der von Johannes Bähr und Dietmar Petzina herausgegeben wurde. 85 Karlsch, Rainer, In: Bähr, Johannes / Petzina, Dietmar (Hrsg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studie zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990, Berlin 1996, S. 105. 86 Schröter, Harm G.: Ebenda, S. 137. 87 Bähr, Johannes: Ebenda, S. 160.

657

Roland Kowalski sieht Ursachen in der „massiven Einmischung des Staates“.88 Die Wirtschaft im realen Sozialismus wurde durch politische Direktiven natural gesteuert. Für die politischen Direktiven existierten keine Kriterien. Die tiefergehenden Ursachen für die technische Rückständigkeit lagen daran, daß die Volkseigenen Betriebe – als Organe der Zentralplanwirtschaft – starre naturale Bilanzanteile zugeteilt erhielten und so eine neue Kombination der Produktionsfaktoren (=technischer Fortschritt) verhindert wurde. 4.1.1. Die eisenschaffende Industrie in der SBZ / DDR und das Beispiel von EKO Stahl (1951-1999) in der DDR (1951-1990) und Neuaufbau 1990-1999 Herbert Nicolaus und Lutz Schmidt haben die Etappen der Eisen- und Stahlindustrie der SBZ/DDR 1945 bis 1990 so skizziert: 1945: In der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands wird fast die gesamte Eisen- und Stahlindustrie demontiert und als Reparationsleistung in die UdSSR überführt. 1946: In der Maxhütte bei Unterwellenborn wird der erste von vier in der sowjetischen Besatzungszone nach verbliebenen Hochöfen angeblasen. 1947: Nach der Inbetriebnahme des ersten Walzgerüstes der Federnfabrik Oranienburg wird der Betrieb in Volkseigentum überführt. April bis Juni 1948: Unter der Losung „Aus Stahl wird Brot“ führen die Stahlwerker den ersten großen Wettbewerb in der SBZ. 1949: Nach der Demontage des Blechwalzwerkes nimmt in Burg eine neu gebaute Feinwalzstraße die Produktion auf. 1.1.1951: Der Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost (EKO) ist Schwerpunkt Nr. 1 des ersten Fünfjahrplanes der DDR. 7.5.1953: Walter Ulbricht verleiht dem EKO den Namen „Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin“ (EKS) und der EKO-Wohnstadt den Namen Stalinstadt. 13.11.1961: In der DDR werden die Stalinallee in Berlin, Stalinstadt und das Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin umbenannt. Aus Stalinstadt, Fürstenberg/Oder und Schönfließ wird Eisenhüttenstadt, aus dem EKS wieder das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO). 10.11.1980: DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker besucht Österreich. Dabei erhält die VOEST-Alpine AG den Auftrag zum Bau eines Stahlwerkes in Eisenhüttenstadt. 7.3.1984: Im EKO beginnt der Probebetrieb des Konverterstahlwerkes89. 88 Kowalski, Roland: Ebenda, S. 213. 89 EKO Stahl GmbH (Hrsg.): Einblicke 50 Jahre EKO Stahl, Eisenhüttenstadt 2000, S. 15, 42, 159 f., 160 f.

658

Quelle: EKO-Stahl, S. 49.

659

Der „Neue Tag“ am 8. Mai 1953: „Ruhig und raumgreifend ist der Schritt, mit dem er das neue Werktor hinter sich lässt, dessen Stirnseite in goldenen Buchstaben die Inschrift ‚Eisenhüttenkombinat J. W. Stalin‘ trägt. Seit heute steht diese Inschrift dort, seit dem 7. Mai 1953. Sieghaft grüßt hoch von der Spitze des Tores der fünfzackige Stern. Rote Sterne grüßen am herrlichsten Festtag der Namensgebung für Westeuropas modernstes Hüttenwerk auch von vier Hochöfen, die dichte weiße Wolken in den Himmel stoßen. […] Etwas langsamer, ruhiger schreitet der Mann in das weite Gelände des jungen, aber doch schon riesigen Werkes. Der feierliche Ernst seiner Gesichtszüge ist einem gütigen, väterlichen Aussehen gewichen. Zart spielt der Wind mit Silberfäden seines Haupthaares. Grünumgebene Frühlingsblumen heben ihre Köpfe höher, die Amseln im nahen Forst schlagen heller: Stalin schreitet durch das Kombinat“. Dem Aufbau der Eisen- und Stahlindustrie in der SBZ/DDR ging eine Direktive von Stalin voraus, die dem starken Eigen- und Autarkiewunsch der SEDFührung entsprach. Der Aufbau des Hüttenkombinates bei Fürsten orientierte sich am „sowjetischen Stahlmodell“ und avancierte zum Schwerpunkt Nr. 1 des ersten DDR-Fünfjahrplanes. Dieser sollte die ökonomischen Verluste, die Krieg, Demontage und Reparationen hinterlassen hatten, möglichst schnell ausgleichen und die ‚Rumpfwirtschaft‘ der DDR ‚in einen vollständigen lebensfähigen Wirtschaftskörper‘ verwandeln. Gleichzeitig folgte das Konzept des Aufbaus eines Industriekombinates ‚auf der grünen Wiese‘ den Idealen der klassischen Moderne. Auf ‚freiem Feld‘ sollte

660

ein Metallurgiekombinat errichtet werden, bestehend aus einem Hochofenbetrieb, kombiniert mit einem Stahlwerk, mehreren Walzstraßen und entsprechenden Nebenanlagen. Damit knüpfte man an das ‚stählerne Zeitalter‘ an, das seit Anfang des 20. Jahrhunderts riesige Eisen- und Stahlkomplexe auf allen Kontinenten hervorgebracht hatte. Prototyp dieser Industriegiganten war das Stahlwerk im amerikanischen Gary (US-Bundesstaat Indiana) am Michigansee. Das sozialistische Pendant entstand Anfang der 30er Jahre mit dem Hüttenkombinat im sowjetischen Magnitogorsk. Dieser Industriekomplex und die dazu gebaute Stadt am Fuße des Berges Magnitnaja verkörperten wie kein anderes Projekt der Stalinära die strategische Zielstellung vom Aufbau des Sozialismus in einem Land. Magnitogorsk wurde nach 1945 zum Industrialisierungsmodell für die Länder des sowjetischen Einflussbereiches. So kam es ab den späten 40er Jahren zur Errichtung riesiger Hüttenkomplexe, verbunden mit einer neuen Stadt, wie in Hunedoara (Rumänien), Ostrava-Kuncice (ČSR), Nowa Huta bei Krakow (Polen) und Sztálinváros (Ungarn). Mit dem EKO sollte auch in der DDR ein ‚deutsches Magnitogorsk‘ entstehen“.90 Aus dem Bericht einer Arbeitsgruppe des SED-Politbüros über die Entwicklung der Schwerindustrie der DDR von Anfang Juni 1953: „Die im Fünfjahrplan festgelegte überdurchschnittliche Entwicklung der Metallurgie und des Schwermaschinenbaus erforderte so außerordentlich hohe Investitionen, dass damit das ständige Wachstum des materiellen Wohlstandes der Arbeiter und des gesamten Volkes bedeutend erschwert wurde. Diese fehlerhafte Linie des Fünfjahrplanes wurde durch die Beschlüsse der zweiten Parteikonferenz über den beschleunigten Aufbau des Sozialismus verstärkt, umso mehr, als zusätzliche, im Plan nicht vorhergesehene Aufgaben große Aufwendungen an Material und Geld erforderten. Hinzu kommt, dass Planaufgaben der Jahre 1954 und 1955 auf das Jahr 1953 vorverlegt wurden. […] Die SED hat bei der Ausarbeitung der Perspektiven des Aufbaus ungenügend in Betracht gezogen, dass die Möglichkeiten eines umfassenden und gesicherten Warenaustausches im Rahmen des demokratischen Weltmarktes den Bezug von Erzeugnissen der schweren Industrie im Austausch gegen andere in der DDR herstellbarer Waren gestatten. Der Aufbau in der DDR erfolgt nicht isoliert. Die DDR kann einen großen Teil des Bedarfes an Erzeugnissen der schweren Industrie aus befreundeten Ländern beziehen, anstatt diese mit einem hohen Aufwand an Investitionen selbst zu produzieren. […] Das Zentralkomitee hält es für notwendig, den Fünfjahrplan zu ändern und die darin festgelegten Ziele für die schwere Industrie zugunsten der schnelleren Entwicklung der Konsumgüterindustrie herabzusetzen. Dazu ist es u. a. erforderlich, in der Metallurgie den Ausbau des EKS auf 6 Hochöfen zu beschränken; entsprechend ist das SiemensMartin- und Elektrostahlwerk nicht zu errichten. Der Ausbau der Walzwerke der DDR ist nur in Übereinstimmung mit der Entwicklung der Hüttenkapazitäten durchzuführen“.91 90

Ebd., S. 49. 91 Ebd., S. 93.

661

Koksverbrauch

1)

Jahr

in kg je t Roheisen DDR1) BRD

DDR in vH von BRD

1955 1956

1.540 1.530

933 938

165,1 163,1

1957 1958

1.490 1.400

941 896

158,3 156,3

1959 1960

1.350 1.300

839 826 2)

161,0 157,4

Nur Hochöfen 2) Einschl. Saarland, mit durchschnittlich etwas höherem Koksverbrauch als im übrigen Bundesgebiet. Jahresleistung je Produktionsarbeiter1) in Mengen in t DDR BRD

Erzeugnis

DDR in vH von BRD

1953

1957

1953

1957

1953

1957

Roheisen

141

228

1.025

1.497

13,8

15,2

Rohstahl in Blöcken

259

308

790

933

32,8

33,0

Walzstahl, warmgew.

114

130

253

371

45,1

35,0

1)

Für die DDR nur Produktionsgrundarbeiter, d. h. unmittelbar mit der Herstellung des Erzeugnisses beschäftigte Arbeiter. In der Bundesrepublik alle Arbeiter der entsprechenden Produktionsabteilungen. Leider stehen einigermaßen zuverlässige Angaben hierzu nur für die beiden angeführten Jahre zur Verfügung.

662

Die DDR-Metallurgie im internationalen Vergleich 1978/79 zeigt den Produktivitätsrückstand und als Folge davon hohe Kosten92 Die DDR-Metallurgie im internationalen Vergleich 1978/79

1. Ofengröße m3

827

Fortschrittl. intern. Stand (BRD) 960-3.595

2. Leistung t Roheisen je m3 Ofeninhalt in 24 h 3. Koksverbrauch kg Koks/t Roheisen

1,22

1,49-2,4

1.350-5.050 -

575

428-500

366-437

1. Konverter

10

76

78

2. Elektro

19

10

22

3. Siemens-Martin

69

10

0

4. Strangguss

10

1. Rohstahlproduktion t je Arbeiter 2. Materialverbrauch kg/t

1.090 1.305

3. Energieverbrauch Gigajoule/t

5,4

DDR Roheisenproduktion

Stahlerzeugungsverfahren (in Prozent)

Rohstahlerzeugung

Weltspitze (Japan)

39

46

1.890 1.258

-

1,4

-

1989 war der Produktivitätsrückstand der DDR-Metallurgie sehr hoch, die Folge waren hohe Kosten. Hinzu kamen erhebliche Qualitätsmängel in der Mehrzahl der Produkte93 Pro-Kopf-Produktion in der Stahlindustrie 1989 BRDDurchschnitt

EKO

Hochofenwerke Konverterstahlwerke

4.287 t 3.264 t

1.666 t 1.233 t

Kaltwalzwerke

1.594 t

865 t

Umsatz/Mitarbeiter Dillinger Saarstahl

359.761 DM/MA

Krupp Stahle EKO Stahl

290.020 DM/MA 159.761 DM/MA

Kosten für Materialeinsatz und -verarbeitung in der Roheisenproduktion Deutsche Stahlindustrie Koksverbrauch Sauerstoffpreis

92 EKO Stahl, S. 192. 93 Ebd., S. 245.

Peine-Salzgitter AG

440 kg/t

EKO 520 kg/t

131,81 DM/1000 m3

663

Für 100 DDR-Mark Kosten erhielten die volkseigenen Betriebe der Eisenund Stahlindustrie 33 DM, d. h. die Produktivität in diesem Bereich lag im Vergleich zur Bundesrepublik bei etwa einem Drittel. Produktionszahlen des EKO94 Jahr 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999

Beschäftigte 11.775 11.934 11.510 9.751 5.473 4.191 3.027 2.764 2.761 2.833 2.846 3.015

Roheisenproduktion t 2.203.965 2.173.922 1.714.930 882.553 698.638 1.043.102 1.071.249 1.485.644 1.672.146 1.736.839 1.861.886 1.943.567

Flachstahl kalt- und warmgewalzt t 2.115.518 2.224.870 1.706.924 1.004.836 1.072.475 986.480 973.048 1.036.938 1.018.000 1.147.484 1.250.413 1.271.823

Rohstahl t

Halbzeug t

1.744.358 1.850.912 1.670.116 995.678 774.724 1.170.662 1.243.778 1.719.305 1.940.733 2.032.559 2.164.414 2.250.525

1.682.597 1.800.988 1.624.855 961.317 737.398 1.129.704 1.211.745 1.659.101 1.866.294 1.937.131 2.050.158 2.119.277

Warmband t

293.000 900.000 900.000

Die Produktionszahlen des EKO zeigen die gesamte Problematik der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft auf. In knapp 10 Jahren wurde von 1990 bis 1999 die Zahl der Beschäftigten um 75 % abgebaut. 1999 produzierten 25 % der Beschäftigten so viel wie im Sozialismus 1988. Dies war die Folge der Substitution von Arbeit durch Kapital, d. h. durch den technischen Fortschritt, ein Prozess, der in Westdeutschland nach der Währungsreform am 20.6.1948 einsetzte. Herbert Nikolaus resümiert die Betriebs- und Unternehmensgeschichte95 von EKO so: „Die EKO-Betriebsgeschichte begann nach der deutschen Teilung in den Jahren des Kalten Krieges. Die Errichtung des Eisenhüttenkombinates Ost am Standort Fürstenberg/Oder war der Schwerpunkt Nr. 1 im ersten Fünfjahrplan der DDR. In den 70er und 80er Jahren entwickelte sich das EKO als Stammbetrieb des VEB Bandstahlkombinat ‚Hermann Matern‘ zum Zentrum der Veredelungsmetallurgie der DDR. Das Kaltwalzwerk, in den 60er Jahren mit sowjetischen und DDRAusrüstungen errichtet, wurde durch Veredlungsanlagen kontinuierlich erweitert. Daneben entstand in den 80er Jahren eines der modernsten Stahlwerke Europas. Beide Werke bildeten die ‚Trümpfe‘ von EKO Stahl. Auf dieser Grundlage konnte der Kombinatsbetrieb im Zeitraum 1990 bis 1994 – nach seiner Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, die EKO Stahl AG, und nach der Wiedervereinigung Deutschlands – als Unternehmen der Treuhandanstalt erfolgreich umstrukturiert,

94 Ebd., S. 375. 95 Ein Betrieb wird erst in der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung zur Unternehmung (E. Gutenberg). In der marktlosen SBZ/DDR Wirtschaft existierten nur Betriebe.

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saniert und am Ende an die belgische Gruppe Cockerill Sambre privatisiert werden. Unter Führung des neuen Eigentümers erfolgte von 1995 bis 1997 eine umfassende Modernisierung der EKO Stahl GmbH, die seit der Übernahme 1998 von Cockerill Sambre durch das französische Unternehmen USINOR fortgesetzt wird. Wichtige Ereignisse waren 1997 der Start des Hochofens 5A, die Vollendung des metallurgischen Zyklus durch eine moderne Warmbandstraße und 1999 die Inbetriebnahme der zweiten Verzinkungsanlage. Inzwischen zählt EKO zu den herausragenden Beispielen einer gelungenen europäischen Integration eines industriellen Kernes der ehemaligen DDR. Im Verbund von USINOR und Cockerill Sambre ergaben sich für EKO zudem neue Perspektiven. Das Unternehmen soll zur Entwicklungsplattform der Gruppe für die osteuropäischen Märkte werden. Die hierfür erforderlichen Markt- und Investitionsstrategien werden in Eisenhüttenstadt entwickelt, mit den Konzernzielen abgestimmt und eigenständig umgesetzt. 50 Jahre EKO Stahl lassen seine Erbauer mit Stolz nach vorn blicken. EKO hat sich auf den internationalen Stahlmärkten behauptet und leistet seinen Beitrag zur Entwicklung der Oder-Spree-Region. Eine neue Vision nimmt bereits Gestalt an. Der USINOR-Konzern wurde bis 2010 ein weltweit führender Hersteller von Flachstahl. EKO leistet hierfür mit hochwertigen oberflächenveredelten Erzeugnissen und leistungsfähigen Tochtergesellschaften seinen Beitrag, liefert mit hoher Termintreue innovative Produkte, flexibel angepasst an die Wünsche der Kunden. Die Menschen von EKO waren, sind und bleiben so die Akteure seiner Geschichte“.96 In der deutschen Wirtschaftsgeschichte hat es einen so schnellen und radikalen Neuaufbau der Industrie wie in den Jahren 1990/1991 nie gegeben. Die Beschäftigten tragen keine Verantwortung für die sehr geringe Produktivität der Eisen- und Stahlindustrie des SED-Staates. Sie arbeiteten im System der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft ebenso wie die Beschäftigten in der Eisen- und Stahlindustrie in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik und der EU. In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft war EKO Stahl ein Organ, dem Bilanzanteile von der Staatlichen Plankommission zugeteilt wurden. Der technische Fortschritt, d. h. Produktivitätserhöhungen waren in diesem System nur sehr begrenzt möglich. Der technische Fortschritt bedeutet, dass die Elementarfaktoren (E. Gutenberg) neu kombiniert werden müssen. In der Marktwirtschaft nach 1990 wurde EKO eine Unternehmung und mußte die Elementarfaktoren auf den Märkten einkaufen, kombinieren (= Produktion) und vermarkten. Der Volkseigene Betrieb war ein Organ in der Zentralplanwirtschaft und wurde von politischen Direktiven des SED-Politbüros über die Staatliche Plankommission gesteuert. In der Marktwirtschaft wurde aus dem Organ eine autonome Unternehmung, deren Produktion vom Absatz gesteuert wird. Die von Herbert Nikolaus und Lutz Schmidt publizierte Unternehmensgeschichte „Einblicke. 50 Jahre EKO“ gewährt tiefe Einblicke in diesen Teilbereich 96 Klappentext.

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der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Alle Beteiligten, die zu dem Kraftakt des Neuaufbaus von EKO Stahl ab 1990 beitrugen, können stolz darauf sein, dass EKO Stahl in der Marktwirtschaft wettbewerbsfähig wurde. EKO Stahl zeigt exemplarisch, zu welch großen Leistungen Unternehmer, Facharbeiter, kurz alle Unternehmensangehörigen in einer rechtsstaatlich freiheitlichen Demokratie fähig sind. 4.1.2. Die technische Ausrüstung der Werke der eisenschaffenden Industrie in der DDR 1960: Veraltet, geringe Produktivität, störanfällig „Auf dem Wege des unmittelbaren Preis- oder Kostenvergleiches zu präzisen Aussagen über die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Wirtschaftszweige in der SBZ zu gelangen, ist aus einer Reihe von Gründen so gut wie unmöglich; selbst dann, wenn die Zonenbehörden ausführlichere Angaben über die Kostenstruktur vorlegen würden, bei deren Berechnung werden nämlich schon die Einsatzmaterialien mit Preisen angesetzt, die nach den wirtschaftspolitischen Prinzipien einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischer Prägung festgelegt werden und die vielfach – vor allem bei den Grundstoffen – unter den Kosten liegen, in anderen Fällen aber auch durch differenzierte indirekte Steuerbelastung gegenüber den echten Selbstkosten unterschiedlich stark überhöht sind. So beträgt z. B. der staatlich fixierte Festpreis für Rohbraunkohle 3,51 DMOst ab Grube, während die Gewinnungskosten allein nach sowjetzonalen Angaben heute schon rund 5 DM-Ost/t ausmachen; der sowjetzonale Schrottpreis wird mit 27,50 bis 32,- DM-Ost/t genannt, gegenüber einem Schrottpreis von mehr als 120,- DM/t in den westlichen Staaten. Auch andere Faktoren müssen das Kostenbild fälschen; so sind z. B. die Anlagegüter meist unterbewertet und die Abschreibungssätze zu gering oder die Transporttarife sind bewusst niedrig gehalten. Ferner wurde bisher eine Reihe von betrieblichen Geldaufwendungen überhaupt nicht in die Selbstkostenberechnungen mit einbezogen. Dazu gehören u. a. Zuführungen zum Betriebsprämien-, Sozial- und Kulturfonds und sogar Bestandteile des Lohnes, wie der direkt aus dem Staatshaushalt finanzierte Lohnzuschlag nach Abschaffung der Lebensmittelkarten. Wenn man, wie es im folgenden versucht wird, zu Vorstellungen über den Leistungsstand der eisenschaffenden Industrie in der DDR, gemessen an dem Stand in der BRD, gelangen will, müssen daher die allgemeinen Betriebsverhältnisse näher untersucht werden. Was zunächst die Roheisenerzeugung betrifft, kann der Koksverbrauch – ein immerhin mit 20 bis 30 vH der Selbstkosten ins Gewicht fallender Kostenfaktor – in den Hochofenwerken Eisenhüttenstadt und Maxhütte mit Zahlen belegt werden. Im Durchschnitt der letzten Jahre war der Koksverbrauch der beiden mitteldeutschen Hochofenwerke je Tonne erzeugten Roheisens um 60 vH höher als in Westdeutschland. Die Gründe hierfür liegen u. a. in der Unzulänglichkeit der Aufbereitungs-, Sinter- und Mölleranlagen, zum Teil aber auch in der Qualität der verwendeten Erze; neben geringerwertigen Inlanderzen werden vorwiegend sowjetische Krivoi Rog-Erze mit durchschnittlich zwar 50 vH Fe-Gehalt, aber hohem

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Feinanteil eingesetzt. Auch die nicht immer gleichbleibende Sortenzusammensetzung des sowjetischen oder polnischen Kokses, der durch die langen Bahntransporte viel Abrieb enthält, spielt eine Rolle. Koksverbrauch

1)

Jahr

in kg je t Roheisen DDR1) BRD

DDR in vH von BRD

1955 1956

1.540 1.530

933 938

165,1 163,1

1957 1958

1.490 1.400

941 896

158,3 156,3

1959 1960

1.350 1.300

839 826 2)

161,0 157,4

Nur Hochöfen 2) Einschl. Saarland, mit durchschnittlich etwas höherem Koksverbrauch als im übrigen Bundesgebiet.

Noch erheblich höher liegt der Koksverbrauch im Niederschachtofenwerk Calbe, in dem heimische saure Erze mit weniger als 25 vH Fe verhüttet werden. Es handelt sich hier um ein Produktionsverfahren, das in der Bundesrepublik nicht angewendet wird und überhaupt nur unter Autarkieaspekten zu rechtfertigen ist. Obwohl hier dem Möller ein relativ hoher Schrottanteil zugesetzt wird, beträgt der Koksverbrauch rund 2000 kg/t gegenüber 1300 kg/t Roheisen in den Hochöfen. Damit werden Kostenersparnisse, die bei einem Einsatz von 50 bis 60 vH Braunkohlen-Hochtemperatur-Koks – und zwar nur grobstückiger Sorten, deren Binnenpreis knapp 10 vH unter dem von Hochofenkoks liegt – vom Preis her möglich wären, durch entsprechend höheren Verbrauch verhindert. Außer der Belastung durch den hohen Koksverbrauch fallen aber auch die außerordentlich hohen Lohnkosten der Hüttenwerke der Zone ins Gewicht: die Roheisenerzeugung je Produktionsarbeiter beträgt nur rund 15 vH des Ausbringens in der Bundesrepublik. Allein die Roheisenerzeugung der Zone ist also mit Kosten belastet, die jeden Vergleich mit westlichen Verhältnissen ausschließen. Auch in der Weiterverarbeitung der Erzeugung von Blockstahl und Walzerzeugnissen fallen außergewöhnlich hohe Lohnkosten an. Hier beträgt die Ausbringung je Produktionsarbeiter etwa ein Drittel der westdeutschen. Die sich hierin ausdrückende geringe Arbeitsproduktivität bedeutet, daß je Produkteinheit fast das Dreifache an Löhnen aufgewendet werden muß. Die mitteldeutschen Löhne liegen einschließlich einiger in Westdeutschland nicht zum Lohn gehörenden Bestandteile etwa 15 vH unter den entsprechenden Löhnen der Bundesrepublik (bei einem Umrechnungsverhältnis von 1:1). Bei Berücksichtigung dieses Umstandes beträgt der Lohnaufwand je Tonne Erzeugnis in der DDR immer noch mehr als das Zweieinhalbfache desjenigen im Westen. Die Anstrengungen der DDR in den letzten Jahren, den Leistungsabstand zur Bundesrepublik zu vermindern, sind nur wenig erfolgreich gewesen. Von 1957 bis

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Ende 1960 nahm die Erzeugung der eisenschaffenden Industrie in der Zone der Menge nach um rund 20 vH zu. In der gleichen Zeit erhöhte sich die Zahl der Produktionsarbeiter um 6 vH. In Westdeutschland stieg die Produktion im selben zeitraum um 40 vH und die Zahl der Arbeiter um 18 vH an. Die auch gegenüber dem Durchschnitt der gesamten mitteldeutschen Industrie außerordentlich ungünstige Arbeitsproduktivität der eisenschaffenden Industrie ist, wie die geringen Fortschritte der letzten Jahre zeigen, strukturbedingt und hängt u. a. mit Standort, Größe, Kombinationsgrad und Ausrüstung der diesem Industriezweig angehörenden Werke zusammen. Jahresleistung je Produktionsarbeiter1) in Mengen in t DDR BRD

Erzeugnis

DDR in vH von BRD

1953

1957

1953

1957

1953

1957

Roheisen

141

228

1.025

1.497

13,8

15,2

Rohstahl in Blöcken

259

308

790

933

32,8

33,0

Walzstahl, warmgew.

114

130

253

371

45,1

35,0

1)

Für die DDR nur Produktionsgrundarbeiter, d. h. unmittelbar mit der Herstellung des Erzeugnisses beschäftigte Arbeiter. In der Bundesrepublik alle Arbeiter der entsprechenden Produktionsabteilungen. Leider stehen einigermaßen zuverlässige Angaben hierzu nur für die beiden angeführten Jahre zur Verfügung.

Die eisenschaffende Industrie Mitteldeutschlands hatte vor dem Kriege nur lokales Gewicht; die natürlichen Voraussetzungen, ausreichende und qualitativ gute Eisenerze sowie Kokskohle, waren nicht erfüllt. Die Roheisenerzeugung in einem einzigen kleinen, veralteten Werk war bedeutungslos. Etwas günstiger lagen die Verhältnisse bei den Rohstahl- und Walzwerken. Eine umfangreiche eisenverarbeitende Industrie im Berliner und sächsischen Raum bot sich gleichermaßen als Rohstofflieferant (Schrott) wie auch als Verbraucher (Walzstahl) an. Die Werke, die in diesen Gebieten entstanden, waren in ihren Kapazitäten entsprechend angelegt und oft in ihrem Sortenprogramm weitgehend auf die Wünsche der Verbraucher spezialisiert, wie z. B. die Hennigsdorfer Feinblecherzeugung auf die Berliner Elektroindustrie. In diesem Rahmen war ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den westdeutschen Unternehmungen durchaus gegeben. Nach dem Kriege und nach Abschluß der Demontage von durchschnittlich 80 bis 85 vH der vorhandenen Kapazitäten wurde ab 1948 mit einem sich aus politisch-ideologischen Gründen immer mehr steigernden Wiederaufbau der eisenschaffenden Industrie begonnen, wofür (einschließlich des Eisenerzbergbaus) bis Ende 1960 etwa 4,2 Mrd. DM-Ost an staatlichen Investitionen aufgewendet wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte gegenüber der Vorkriegszeit die Erzeugung von

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Roheisen rund verzehnfacht, Rohstahl in Blöcken fast verdreifacht, Walzstahl, warm gewalzt fast verdreifacht werden. Kostensteigernd sowohl für den Investitionsfonds selbst als auch für die laufenden Produktionskosten wirkte sich bei den Stahl- und Walzwerken die Forderung der sowjetischen Besatzungsmacht aus, die neuen Anlagen auf den alten, teils zerstörten oder demontierten Produktionsstätten zu errichten. Die Beseitigung der gesprengten Fundamente und völlige Neuaufschließung des Geländes (Brandenburg) erforderten einen wesentlichen Anteil an den Investitionen ebenso wie die umfangreichen Planierungsarbeiten hügeligen Geländes für notwendige Werkserweiterungen (Freital). Bei erhalten gebliebenen Fundamenten und Bauten war die spätere Entwicklung weitgehend festgelegt, Kapazitätsvergrößerungen verursachten zusätzliche Kosten, Platzmangel verhinderte einen großzügigen Ausbau (Hennigsdorf). Eine weitere Folge des Aufbauzwanges am alten Platz sind vielfältige innerbetriebliche Schwierigkeiten, die besonders im Werktransport, in den Gießgruben und auf den Schrottplätzen einen zügigen Arbeitsablauf behindern, und die Produktionskosten erhöhen. Trotz der starken Betriebserweiterungen nach dem Kriege handelt es sich bei allen sowjetzonalen Unternehmungen nur um kleine bis mittlere Werke. Größte Einheiten sind das nach dem Kriege errichtete Eisenhüttenkombinat Ost in Eisenhüttenstadt/Oder (früher Stalinstadt) mit sechs mittleren Hochöfen und einer Jahreskapazität von zur Zeit rund 1,2 Mill. t Roheisen, sowie das Stahl- und Walzwerk Brandenburg mit elf SM-Öfen und einer Blockstahlleistung von rund 1,1 Mill. t jährlich. Die moderne Kombination aller vier Produktionsstufen – Kokerei, Hütte, Stahl-, Walzwerk – existiert in der Zone nicht. In der aus den 1870er Jahren stammenden Maxhütte in Unterwellenborn/Thür. sind nur drei Produktionsstufen – Hütte, Stahl- und Walzwerk – vereinigt. Auch der Ausbau von Eisenhüttenstadt ist nur als dreistufiges Kombinat mit Hütte, Stahl- und Walzwerk geplant. Die beiden neuen Roheisenwerke in Eisenhüttenstadt und Calbe sind reine Hütten. Von den dreizehn Stahl- und Walzwerken sind die sieben bedeutenderen gemischte Betriebe mit Stahl- und Walzwerk, die restlichen sechs reine Walzwerke. Dieser ungünstige Kombinationsgrad wird durch innerbetriebliche Disproportionalitäten zwischen den einzelnen Anlageteilen, zum Beispiel Stahlwerk – Blockstraße – Blockstraße – Fertigstraße, wesentlich verschärft. Die sich hieraus ergebenden Folgen sind nicht nur höhere Energiekosten, sondern auch ein umfangreicher Materialaustausch an Rohblöcken und Halbzeug zwischen den einzelnen Werken, der etwa 40 vH der Gesamterzeugung an diesen Produkten ausmacht und der seinerseits nicht nur zusätzliche Transportkosten verursacht, sondern alle Aufwendungen eines unterbrochenen Produktionsablaufes. Auch die Roheisenerzeugung in Eisenhüttenstadt ist mit hohen Transportkosten belastet, da sich die gesamte Erzversorgung aus Krivoi Rog und zum Teil auch die Koksversorgung auf dem Landwege abwickeln.

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Die technische Ausrüstung fast aller Werke ist nach wie vor unbefriedigend. Mit nur wenigen Ausnahmen sind die Anlagen veraltet und störanfällig. Die Zahl der nach 1945, und zwar erst in den letzten Jahren, aufgestellten modernen, mit einer Ausnahme kleineren Walzstraßen dürfte höchstens vier bis fünf betragen. Alle anderen Straßen stammen aus der Vorkriegszeit. Zum Teil handelt es sich um von den Sowjets demontierte und von der Zone zurückgekaufte Anlagen, zum Teil um Walzwerke, die früher Buntmetall verarbeitet haben und nach 1945 ganz oder vorwiegend auf Stahl umgestellt worden sind. Eine weitgehende Mechanisierung und Automation scheiterte bisher an der Begrenztheit der verfügbaren Investitionsmittel. Die in vielen Fällen fehlenden Hilfseinrichtungen beeinflussen nicht nur die Qualität der Erzeugnisse, sondern auch die Höhe des Ausstoßes ungünstig. Einer straffen Spezialisierung mit Übergang zur Großserienproduktion steht entgegen, daß von der für die DDR lebenswichtigen eisenverarbeitenden Industrie, insbesondere vom Maschinenbau, vielfältige Sorten- und Qualitätsanforderungen gestellt werden, die erforderlichen Mengen aber verhältnismäßig gering sind. Zwangsläufige Folgen sind kleine Losgrößen mit häufigeren Umstellungen im Walzprogramm und entsprechende Ausfallzeiten. Eine moderne eisenschaffende Industrie mit kapitalintensiven Anlagen und Großserienproduktion ist auf weiträumige Absatzgebiete angewiesen. Die Zone mit ihrem relativ kleinen Wirtschaftsgebiet, fehlenden natürlichen Grundlagen, aber umfangreichem Sortimentsanspruch bietet hierfür keine Voraussetzungen. Ihre kleinen Werke können nur dann leistungsfähiger werden, wenn eine durchgreifende Modernisierung und Komplettierung der Anlagen mit weitgehender Spezialisierung und Beschränkung auf nur wenige, möglichst hochwertige Qualitäten und Sortimente einherläuft. Allerdings wäre dann eine vernünftige Arbeitsteilung mit anderen Wirtschaftsgebieten unerläßlich, wie sie vor dem Kriege innerhalb Deutschlands bestanden hat, im Ostblock im Rahmen des COMECON seit vielen Jahren angestrebt wird, bisher aber noch nicht verwirklicht werden konnte“.97

97 DIW Wochenberichte 1962, S. 131 ff.: Zum Leistungsstand der eisenschaffenden Industrie Mitteldeutschlands.

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4.1.3. Systemimmanente Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft am Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989 Christian Heimann stützte sich bei seiner Dissertation auf umfangreiches Quellenmaterial aus der SBZ/DDR, das er mit betriebs- und volkswirtschaftlichen Methoden interpretierte. Die von Alfred Schüller, Marburg, betraute Analyse gehört zu den besten Monographien der Wirtschaftsgeschichte der SBZ/DDR. Die Erforschung der Ursachen des „Zusammenbruchs der DDR“ konzentrierte sich nach Kenntnis des Verfassers bisher auf die eher spektakulären Facetten: „In politischer und historischer Hinsicht auf die Rolle einzelner herausragender Personen und die Aufarbeitung der Diktatur, die in der DDR unter dem verbrämenden demokratischen Zentralismus bestand, in ökonomischer Hinsicht auf das Beziehungsgeflecht innerhalb der Führungsspitze der DDR und seine Auswirkungen auf die DDR-Wirtschaft, die Belastung der DDR-Volkswirtschaft durch die Aufwendungen für die Mikroelektronik, u. a. den Bereich der Kommerziellen Koordination. Obwohl diese spektakulären Faktoren zum Teil sehr relevant sind, gilt doch auch, daß der politische und ökonomische Zusammenbruch der DDR seine langjährige, alltägliche, für Nichtökonomen wohl eher unspektakuläre Seite hatte. Bei den Recherchen für die vorliegende Arbeit erwies sich, daß der Zusammenbruch aus der Sicht der ökonomischen Theorie und Praxis der DDR – und vermutlich auch anderer RGW-Länder – und allen euphorischen Veröffentlichungen zum Trotz schon seit langem vorgezeichnet war. In den Augen kundiger DDR- Wirtschaftswissenschaftler und Ministerialbürokraten zeichnete sich der partielle Zusammenbruch für einzelne Branchen spätestens seit Beginn der siebziger Jahre ab, seit Beginn der achtziger Jahre der totale Zusammenbruch für die gesamte Volkswirtschaft der DDR; es sei denn, es gelänge, grundlegende Reformen durchzuführen. Dies geschah nicht. Auch der ökonomischen Theorie des Westens waren die Ursachen und Mechanismen des Zusammenbruchs bekannt. Die svstemvergleichende Forschung hat auf diesem Gebiet Hervorragendes geleistet. Die Ergebnisse dieser Forschung wurden jedoch im Westen lange nicht deutlich genug wahrgenommen. Dies lag teilweise in der mangelnden empirischen Überprüfbarkeit, die aus der bewußt spärlichen Informationspolitik der DDR und der anderen RGW-Staaten resultierte. Zum Teil war die Zurückhaltung wohl auch darin begründet, daß es in Zeiten des Bemühens um friedliche Koexistenz von offizieller Seite nicht immer als opportun erachtet wurde, den Machthabern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein Spiegelbild ihrer politischen und ökonomischen Defizite vorzuhalten“.98

98 Heimann, Christian: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989, 1997, S. VII.

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Systembedingte Ursachen des Niedergangs der Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR von 1945 bis 1960: „Die Nachkriegsphase zwischen 1945 und 1960 war in der DDR in ökonomischer Hinsicht geprägt von den Notwendigkeiten und Sachzwängen des Wiederaufbaus, den Konsequenzen der Reparationspolitik der Sowjetunion, die diese z. T. in Erwiderung der ‚Politik der verbrannten Erde‘ der deutschen Truppen in der Sowjetunion betrieb, der Einführung der Zentralverwaltungswirtschaft und von der Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse durch Verstaatlichung wesentlicher Bereiche der Wirtschaft. Politisch prägende Faktoren der Nachkriegsgeschichte waren darüber hinaus der komplementär erfolgende Auf- und Ausbau eines diktatorischen Systems durch die SED-Führung mit Hilfe des sowjetischen Besatzungsregimes, dessen politische Auswirkungen und ökonomische Begleiterscheinungen viele Menschen zur Flucht in den Westen bewegten, und die Verschärfung der Systemgegensätze im Zeichen des aufziehenden Kalten Krieges. Aufgrund der politischen und ökonomischen Umstände war die DDR zum Wiederaufbau ihrer Wirtschaft ‚aus eigener Kraft‘ gezwungen. Aufgrund fehlender Finanz- und Kreditmittel erfolgte dieser Wiederaufbau über eine faktische Desinvestition jener Branchen, die infolge der deutschen Teilung – gemessen am verbliebenen Bevölkerungsanteil – überproportionale Kapazitäten aufwiesen. Herausragend unter diesen Branchen war vor allem die Textil- und Bekleidungsindustrie. Aufgrund dieser Entwicklungen lassen sich für die Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR zu Beginn der sechziger Jahre schwerwiegende negative Konsequenzen feststellen: - Bei den Verfahrens- und Produktinnovationen ist dieser Bereich bis auf wenige Ausnahmen weit hinter das Weltniveau, welches er noch vor dem II. Weltkrieg weitgehend bestimmt hatte, zurückgefallen. - Im Bereich der Rohstoffe hatte die Textilindustrie mit großen Problemen aufgrund sowohl in Menge als auch Qualität unzureichender Rohstofflieferungen des aufgezwungenen Hauptlieferanten Sowjetunion zu kämpfen - Im Bereich der Arbeitsmotivation hatte die Einführung sozialistischer Produktionsverhältnisse eine deutliche Gleichgültigkeit der Arbeitnehmer hinsichtlich der Qualität der von ihnen erzeugten Produkte erzeugt. - Bei den Grundmitteln (Ausrüstungen und Fertigungsstätten) mußten beide Industriezweige als Folge einer am Vorbild der Sowjetunion orientierten, weitgehend politisch motivierten Struktur der Investitionen eine weitgehende Auszehrung des Kapitalstocks zugunsten der geförderten Industriezweige hinnehmen. Bis zu einer gewissen, allerdings schwer zu bestimmenden Grenze gab es unter den obwaltenden politischen Bedingungen für die sowjetisch-dominierte DDR vermutlich keine Alternative zu den getroffenen strukturpolitischen Entscheidungen. Somit verbleibt allein eine hypothetische Frage, ob nicht die noch bestehenden ökonomischen Freiheitsgrade, die verbleibenden Kapazitäten, Investitionsmittel und Rohstofflieferungen hätten sinnvoller eingesetzt werden können, wenn nicht aufgrund der Einführung der Zentralverwaltungswirtschaft und der entspre-

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chenden Lenkungsmethoden auch systembedingte Defizite in die Wirtschaft implantiert worden wären. Die recherchierten Dokumente und Quellen beantworten diese Frage eindeutig und affirmativ, indem sie just diese, bereits in den fünfziger Jahren offensichtlich werdenden systembedingten Defizite und ihre Konsequenzen schonungslos benennen. Die Akten der verantwortlichen DDR-Institutionen bezüglich der Textil- und Bekleidungsindustrie offenbaren, daß diese Industriezweige aufgrund der geschilderten Sachzwänge als Restgrößen einer ‚reproduktionsorientierten Strukturpolitik‘ dienten, die sich auf die Überwindung der Disproportionen in der DDR konzentrierte. Des öfteren stellten sich die ergriffenen Maßnahmen aufgrund der Begleiterscheinungen der Zentralverwaltungswirtschaft aber auch als eine ‚Strukturpolitik durch Verkommenlassen‘ dar. In der Kritik der beiden Industriezweige selbst und in der Kritik der übergeordneten Gremien (ZK und SPK) schwingt überwiegend die Grundhaltung mit, daß ein besseres Wirtschaften und eine günstigere Gegenwartssituation möglich wären, wenn zumindest die Bedingungen des Wirtschaftens, die auf das System der Zentralverwaltungswirtschaft zurückzuführen sind, durch eine Reform eben dieses Systems hätten verbessert werden können. Entsprechende Reformversuche wurden in den sechziger Jahren durch die Programme des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) und des Ökonomischen Systems des Sozialismus (ÖSS) in wesentlichen Punkten durchgeführt. Aufgabe des folgenden Kapitels ist es folglich zu prüfen, ob und inwieweit sich für die DDR-Wirtschaft aus diesen Reformen des Systems bleibende Veränderungen herauskristallisierten, und ob und inwieweit diese Reformen den Niedergang der Textil- und Bekleidungsindustrie zu beeinflussen in der Lage waren“.99 Zusammenfassung der Ergebnisse und abschließender Würdigung. Gerhard Schürer (SPK): „Das reale Bild war eben katastrophal“.100 „Der erste Teil der Arbeit demonstriert die Systembedingtheit der Ursachen. Aus der Property-Rights-Struktur und der korrespondierenden Lenkungstechnik der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR ergaben sich unheilbare Brüche in der Wirtschaftsrechnung, die auch durch die ausgefeiltesten Korrekturmechanismen der wirtschaftlichen Rechnungsführung nicht behoben werden konnten. Die Brüche zogen weitere theoretische Defizite und praktische Mängel im Bereich der Innovationen, der Investitionen, der Struktur-, Währungs- und Außenhandelspolitik nach sich. Im Rückblick auf die Jahre nach 1989 und unter Berücksichtigung der für die Zwecke der Arbeit recherchierten Dokumente der verantwortlichen DDRInstitutionen haben sich diese Defizite und Mängel zu einem erheblichen Teil als ausschlaggebend auch für den politischen Zusammenbruch der DDR und des RGW insgesamt erwiesen.

99 Ebd., S. 168 f. 100 Hertle, Hans-Hermann: „Das reale Bild war eben katastrophal!“ Gespräch mit Gerhard Schürer, in: Deutschland-Archiv, 1992, S. 1032.

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Der zweite Teil der Arbeit belegt die Relevanz der Brüche und ihrer Konsequenzen am konkreten Beispiel der DDR-Textil- und Bekleidungsindustrie während des Bestehens der DDR. Anhand der bis zur Wende (1989/90) nicht zugänglichen Akten der für diese Industriezweige speziell und für die DDR-Wirtschaft allgemein verantwortlichen Institutionen wurden mehrere Hypothesen bestätigt, die in der Themen- und Zielformulierung implizit enthalten waren. In expliziter Ausformulierung lauten diese Hypothesen wie folgt: 1. Die Wende 1989 und die Vereinigung von DDR und BRD im marktwirtschaftlichen System bedeutete zumindest in den beiden untersuchten Industriezweigen – mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch in vielen anderen Industriezweigen der DDR – nur die Beschleunigung und den Vollzug einer bereits während des Bestehens der DDR langfristig vorprogrammierten Entwicklung. Der Niedergang der DDR-Textil- und Bekleidungsindustrie war bereits vor 1989 angelegt. Die Nachwende-Entwicklung war – gemessen z. B. an der Anzahl der Beschäftigten und der Kapazitäten – allenfalls für wenige Prozentpunkte des Verlusts industrieller Strukturen verantwortlich zu machen. 2. Aus der Auswertung der Akten der Ministerien für Leichtindustrie, Finanzen und Außenhandel, der Staatlichen Plankommission, des Politbüros des ZK der SED, der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik sowie entsprechender wirtschaftswissenschaftlicher Analysen und (in der DDR verfaßter, aber bislang nicht veröffentlichter) Dissertationen wurde folgender Sachverhalt deutlich: Bei allen genannten Ursachenkomplexen handelte es sich mehrheitlich um industriezweigund zeitübergreifend existierende Erscheinungen; sie waren systembedingt und systemimmanent. Neben diesen systembedingten Ursachen gab es zwar systemindifferente Ursachen, sie waren jedoch zweitrangig gegenüber den systemimmanenten. 3. Seinem Charakter als systembedingter Erscheinung entsprechend betraf der Niedergang generell und ohne Ausnahme die gesamte Volkswirtschaft der DDR. Dennoch gab es zwischen den einzelnen DDR-Industriezweigen Unterschiede in der konkreten Verlaufsform, also der Dynamik des Niedergangs, und seine Ursachen wurden in den einzelnen Perioden und Industriezweigen aufgrund der jeweils anderen Rahmenbedingungen mit unterschiedlicher Intensität sichtbar. 4. Den politischen und wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen war der Niedergang – wenn auch in unterschiedlicher Deutlichkeit – bekannt und bewußt. In den internen und zumeist geheimen Analysen wurden der Niedergang und die Symptome, zum Teil auch die systembedingten Ursachen sehr offen beschrieben. Im Gegensatz zur Beschreibung der Symptome und der Ursachen wurde eine offene Kritik des Systems an sich vermutlich durch die Furcht vor beruflichen und persönlichen Nachteilen verhindert, unterblieb aber wohl auch – in Anbetracht des Informationsmonopols des Staates bzw. seiner höchsten Repräsentanten plausibel – wegen des Unvermögens zur Erkenntnis der Systembedingtheit der Abwärtsentwicklung.

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Für die Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR ließen sich dabei im zweiten Teil der Arbeit die folgenden Schwerpunkte feststellen: Die DDR-Textil- und Bekleidungsindustrie ging unter ungünstigeren Bedingungen in die fünfziger Jahre als zum Beispiel die vor dem Krieg annähernd vergleichbare westdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. In der Nachkriegsperiode bis 1960 dominierten auf dem Gebiet der späteren DDR Probleme wie z. B. die Beseitigung der Kriegsschäden und Kriegsfolgeerscheinungen (Demontage, Reparationen, Teilung) und der daraus resultierenden ‚Disproportionen‘ der Wirtschaftsstruktur. Wegen der verminderten Bevölkerungszahl und wegen des weitgehenden Zusammenbruchs der innerdeutschen und internationalen Handelsbeziehungen der Vorkriegszeit ergaben sich aus diesen Disproportionen Produktionsüberkapazitäten in einigen und Unterversorgung in anderen Bereichen. Daneben zeichnete sich aber bereits in den fünfziger Jahren immer mehr ab, daß es letztlich systembedingte Ursachen waren, die den relativen und absoluten Niedergang bewirkten, so daß sich der Niveauabstand der Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR zu den entsprechenden Zweigen der BRD, zum ‚Weltstand‘ und damit zum internationalen Wettbewerb sukzessive vergrößerte. Systembedingt und industriezweigspezifisch war der Umstand, daß die Textilund Bekleidungsindustrie der DDR in diesem Jahrzehnt – und erkennbar noch bis Mitte der sechziger Jahre – im Rahmen der ‚reproduktionsorientierten‘ Strukturpolitik die Rolle ‚eines der hauptsächlichsten Akkumulationsträger‘ für den Staatshaushalt und die auf die Schwerindustrie und die Energieerzeugung orientierte Industriepolitik der DDR übernehmen mußte. Trotz hoher Kriegsschäden war in diesen Industriezweigen noch ein wertvoller Kapitalstock vorhanden, der zugunsten anderer Industriezweige ausgezehrt werden konnte. Zu den systembedingten, in diesem Zeitraum relevanten und industriezweigübergreifenden Ursachen gehörten vor allem die Probleme der Preisbildung als direkte Folge des Bruchs im Rechnungszusammenhang. Unter anderem waren es die Verzerrungen im Preissystem der DDR, die wirtschaftlich korrekt begründete und nachvollziehbare Investitionsentscheidungen vereitelten. Als von großer Relevanz erwiesen sich auch die hohen Investitionen und die Subventionen für die Grundmittelindustrie, die vermutlich strukturpolitisch sinnvollere Entscheidungen blockierten. Während im marktwirtschaftlich organisierten System der BRD die Entscheidungen über Investition oder Desinvestition von rechtlich autonomen Unternehmen auf der Basis (mehrheitlich) realistischer, weil unverzerrter Preise und Ertragsraten gefällt wurden, zeichnete in der DDR dafür die zentrale Planung verantwortlich. Ihr fehlten jedoch die Grundlagen für korrekte oder zumindest nachvollziehbare Entscheidungen; umsomehr war sie der Willkür politischer Entscheidungsträger ausgesetzt. Auch die Flucht von Millionen Menschen aus der SBZ bzw. DDR bis zum Mauerbau ist als systembedingter Faktor zu werten, dessen Auswirkungen – ‚drüben‘ Mangel an erfahrenen Arbeitskräften, ‚hüben‘ (Neu-)Aufbau fast kompletter

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Industriezweige mit Hilfe dieses wertvollen, ausgebildeten Humankapitals – bis in die Textil- und Bekleidungsbranche nachweisen lassen. Dennoch waren die industriezweigspezifischen Ursachen (Auszehrung, Arbeitskräftemangel, sukzessive Veralterung des Produktionsprofils) für die anderen Industriezweige nur Vorboten kommenden Übels. Stellt man sich die DDR – in einem Gedankenexperiment – nach Kriegsende ohne Schäden, ohne Reparationen, ohne Demontagen und ohne Disproportionen vor, so ist im Rückblick mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die gleichen systembedingten, aber industriezweigspezifischen Ursachen sich auch in den anderen Industriezweigen mit gleicher Vehemenz niedergeschlagen hätten. Auch unter solchen begünstigteren Umständen wäre – wenn auch vermutlich ein paar Jahre später – der Niedergang eingetreten. Wie sich anhand der Analysen des ZK und der SPK und der Industriezweigökonomiken der VVB belegen läßt, war die Zwangsläufigkeit des Niedergangs – nach einem katastrophalen Zwischenspurt mit dem abgebrochenen Siebenjahrplan – am Beginn der sechziger Jahre auch der Führung der DDR und den wirtschaftspolitisch verantwortlichen Institutionen des Landes und der Industriezweige klar. Befördert von entsprechenden Erkenntnissen und Diskussionen in der UdSSR preschte die DDR-Führung voran und machte die sechziger Jahre zu einem Jahrzehnt der Wirtschaftsreformen (NÖS und ÖSS). Das langfristige Ziel dieser Reformen war die Einführung einer sozialistischen Marktwirtschaft. Bereits auf halbem Wege jedoch mußten Führung und Nomenklatura der DDR erkennen, daß die Verteilung und Dezentralisierung ökonomischer und rechtlicher Kompetenzen einen weitgehenden Verlust der eigenen Macht und damit auch der Privilegien nach sich ziehen würden. Dies lag nicht in der Absicht der politischen Führung und wurde durch den Abbruch der Reformen vermieden. Für die Textil- und Bekleidungsindustrie wie auch die anderen Industriezeige der DDR brachten die sechziger Jahre ein Wiederaufleben des Außenhandels mit den kapitalistischen Ländern. Beflügelt durch die Erkenntnis, daß auch die sozialistischen Länder durch die Teilnahme am internationalen Handel komparative Vorteile für sich verbuchen könnten, wurde der Außenhandel offiziell verstärkt gefördert. Wiederum als systembedingte Ursache des Niedergangs ist indes festzustellen, daß die DDR durch die Teilnahme am internationalen Handel im besten Fall nur geringe Verluste erlitt und ‚der Außenhandel als Wachstumsfaktor abgebaut‘ wurde. Im schlimmsten Fall mußte die DDR eklatante Abflüsse volkswirtschaftlichen Vermögens hinnehmen oder übersah und verpaßte strukturpolitisch relevante Weichenstellungen. Über eine lange Zeit hinweg waren die Verluste und verpaßten Gelegenheiten der DDR- Führung, wenn überhaupt, dann nur intuitiv bewußt, denn durch die von der DDR-Zentralverwaltungswirtschaft betriebene Art und Weise des Außenhandels und der Währungspolitik waren wesentliche Bedingungen für eine erfolgreiche Teilnahme am internationalen Handel nicht erfüllt. Weder wurde ‚der inländische Aufwand im Inlandspreis richtig ausgewiesen, (noch wurden) die Valu-

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taerlöse bzw. -aufwendungen mit einem ökonomisch begründeten Umrechmngskoeffizienten umgerechnet; (daher waren) die Nutzeffektswerte bzw. -koeffizienten (u. a. die Rentabilitätskoeffizienten für Export bzw. Import)‘ nicht nur nicht aussagefähig, sondern für alle Beteiligten sogar in höchstem Maße verwirrend. Aufgrund dieser internationalen Komponente im Bruch des Rechnungszusammenhangs hatte die DDR daher ‚keine einfach und mit dem Planungsprozeß verbundene Meßlatte, die sichtbar macht, welcher Export tatsächlich für die Volkswirtschaft nützlich und welcher weniger nützlich ist. Eine volkswirtschaftlich begründete Strukturpolitik verlangt (jedoch), daß die Inlandspreise so genau wie möglich den volkswirtschaftlichen Aufwand widerspiegeln‘. Als Kompensation für eine fortbestehende Verweigerung des politischen und ökonomischen Mitspracherechts der Bevölkerung waren die sozialpolitischen Programme gedacht, die die neue Führung unter Honecker zu Beginn der siebziger Jahre initiierte. Spätestens im gleichen Zeitraum jedoch wurde die Führung – nachweisbar anhand entsprechender Analysen des ZK und der SPK – darüber informiert, daß das System der Zentralverwaltungswirtschaft ökonomisch zu scheitern drohte und daß die Wirtschaftskraft der DDR nicht ausreichte, die sozialpolitischen Maßnahmen und die weiterhin bestehenden Ineffizienzen zu finanzieren. Dennoch konnte (und wollte sich) die oberste DDR-Führung ein Scheitern nicht eingestehen. Von den Bürden der verbleibenden Alternativen – aus der Sicht der Staatlichen Plankommission ‚die Zwangslage‘, entweder Exporterfüllungen zu erreichen und ein weiteres Hinauslagern notwendiger Produktionsverbesserungen damit zu verbinden oder umgekehrt Verschlechterungen der Zahlungsbilanzen in Kauf nehmen zu müssen‘ – wurden der Textil- und Bekleidungsindustrie die schwersten aufgeladen. Die ihr bereits Ende der sechziger Jahre zugedachten und sichtbar werdenden industriezweigspezifischen Aufgabenstellungen wurden im Rahmen der ‚zahlungsbilanzorientierten Strukturpolitik‘ in den siebziger und achtziger Jahren perfektioniert: Zum einen dienten ihre Exporte als schnelle Liquiditätsspender für die fast chronisch defizitäre Zahlungsbilanz der DDR gegenüber dem ‚nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet‘, zum anderen hatte sie wesentliche Anteile der steigenden Anforderungen der Sowjetunion für deren Rohstofflieferungen zu erfüllen. Auf den westlichen Märkten zerstörten der ständige und ständig wachsende Bedarf nach der schnellen D-Mark und die sukzessive ausgeweiteten lmportablöseprogramme den Rest der Wettbewerbsfähigkeit, der der DDR-Textil- und Bekleidungsindustrie noch verblieben war. Hingegen dienten die in den siebziger Jahren in der Sowjetunion noch hocherwünschten Exportgüter der Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR-Regierung als Sedativum, das sie von den sich immer deutlicher abzeichnenden Folgen der ‚Textilpipeline‘ – der fortschreitenden Verlagerung von Kapazitäten der Textil-, der Bekleidungs- und der Chemiefaserindustrie aus den entwickelten Industrieländern in Entwicklungs- und Schwellenländer, vor allem nach Sudostasien, ablenkte. Während die westlichen Industrieländer und deren Textil- und Bekleidungsindustrien auf diese Herausforderung der Entwicklungsländer und auf die Explosion der Rohstoff- und Energiepreise mit mehr oder minder ausgefeilten Verlage-

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rungs- und Rationalisierungskonzepten reagierten, zeigten sich die Zentralverwaltungswirtschaften des RGW zu ähnlichen Reaktionen nicht mehr fähig. Wegen ihrer systembedingten und durch widersinnige Regelungen der wirtschaftlichen Rechnungsführung noch verschärften Innovationsschwäche konnten sie von innen heraus nicht das Produktions- und damit das Exportprofil bestehender Branchen nutzen. Gleichzeitig hatten sie in den vergangenen Jahrzehnten – und dies ist der tragische Aspekt der Geschichte der Textil- und Bekleidungsindustrie der DDR – den Kapitalstock der bestehenden Industriezweige verschwendet. Die unheilbaren Brüche im Rechnungszusammenhang förderten horrende Ineffizienzen und Fehlallokationen, die die aus diesen Zweigen entnommenen Mittel versickern ließen und die wirtschaftliche Entwicklung der DDR-Wirtschaft insgesamt zur Stagnation brachte. Verstärkt wurde die Innovationsschwäche – auch in der Textil- und Bekleidungsindustrie – noch durch fortschreitende Konzentration, Spezialisierung und Kombinatsbildung. Die DDR strukturierte (nicht nur) die Textil- und Bekleidungsindustrie zu Großbetrieben und Kombinaten um. Unter dem Dach der Kombinate wurden die zugeordneten volkseigenen Betriebe sukzessive weiter spezialisiert. Nicht überraschend mutierten diese Betriebe daraufhin mehr und mehr zu monopolistischen Anbietern und legten entsprechend träge Verhaltensweisen an den Tag. Bei den entsprechenden Branchen der BRD hingegen kam es zur Auslese der agilsten und innovativsten Unternehmen – in ihrer überwiegenden Mehrzahl private Kleinunternehmen oder Mittelständler. Die Auslese wurde gefördert durch den steten Abwehrkampf gegen die Konkurrenz der Entwicklungs- und Schwellenländer und die resultierenden – durch direkte oder indirekte Maßnahmen seitens des Staates in ihren Auswirkungen kaum abgemilderten – Strukturkrisen Seit Beginn der siebziger Jahre bis zum Ende der DDR wurde zwar versucht, den bestehenden Wirtschaftsmechanismus durch eine Vielzahl von gesetzlichen Maßnahmen und ‚kleinen Schritten‘ zu korrigieren und funktionsfähiger zu machen. Ähnlich wie in den sechziger Jahren wollte man die wirtschaftliche Dynamik stimulieren, um den relativen Stillstand bzw. die Niedergangsdynamik aufzuhalten. Dem speziellen Ziel, zum entwickelteren kapitalistischen System aufzuschließen, galten Reformmaßnahmen, die z. B. bei der Textil- und Bekleidungsindustrie den Preisrelationen des Weltmarkts mehr Geltung verschaffen sollten. Daneben gab es neue Regelungen, die ein schnelleres Eingehen auf die Modetendenzen fördern sollten, die aufgrund des immer intensiveren Gedankenaustauschs zwischen Ost und West entsprechende Begehrlichkeiten auch in der DDR geweckt hatten. Letztlich fruchteten aber selbst diese Maßnahmen nicht mehr. Der Abstand zum Westen wuchs weiter, unter anderem auch deshalb, weil die DDR und der RGW sich unfähig zeigten, der Entwicklung der im Westen avancierenden neuen Basistechnologien Entsprechendes entgegenzusetzen. Gegenüber der Wirtschaftsund Industriestruktur Westeuropas bzw. der BRD bedeuteten die Stagnation und die Orientierung auf wenig moderne Güter eine weitere Verlangsamung der Struk-

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turwandels; daher ‚entsprach die Wirtschaftsstruktur der DDR 1989 der der BRD Ende der 60er Jahre’. Aus den Akten und Analysen ist ersichtlich, daß die DDR in den achtziger Jahren eine strukturelle Grenze erreicht hatte: ‚Der spezifische Produktionsverbrauch (Produktionsverbrauch zu Nationaleinkommen) konnte seit 1980 zwar ständig gesenkt werden‘, aber ‚seit 1983 haben sich die Senkungsraten des spezifischen Produktionsverbrauchs in allen Bereichen [...] bedeutend verringert‘. Als Ursachen für den Rückgang der Senkungsraten bzw. der steigenden Raten des spezifischen Produktionsverbrauchs wurden die folgenden identifiziert: ‚1. Die Reserven, die ohne oder nur mit geringem Aufwand genutzt werden können, sind erschlossen. 2. Der Aufwand zur Überleitung von wissenschaftlich-technischen Ergebnissen in die Produktion steigt, insbesondere für die Anwendung entsprechender Technologien, weil neue Erzeugnisse oft auch neue Technologien und Verfahren erfordern. 3. Die Senkung des spezifischen Produktionsverbrauchs wird immer mehr nur von der Anwendung der Schlüsseltechnologien und der Erzeugnis- und Technologieerneuerung getragen. Die Veredlung und Substitution von Material durch moderne Technologien, Verfahren und Konstruktionen erfordern Vorleistungen an modernen Grundfonds‘. Als der Druck der Unzufriedenheit der desillusionierten Bevölkerung, der weitgehenden Entzug der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung seitens der UdSSR und die ‚Abstimmung mit den Füßen‘ im Herbst 1989 kulminierten, wurde Erich Honecker abgelöst. Im ‚Auftrag des (neuen) Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Kreuz‘, erstellten mehrere für die Wirtschaftspolitik der DDR Verantwortliche eine ‚Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen‘ und gaben darin ‚ein ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage der DDR‘ wider. In dieser Vorlage für das Politbüro wurde ‚die Entwicklung einer an Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft bei optimaler Ausgestaltung des demokratischen Zentralismus‘ vorgeschlagen und diskutiert. Unter anderem wollte man ‚ökonomische und Preis-Markt-Regelungen‘ stärker betonen und ‚im Planungssystem die umfangreiche Administration und Überzentralisierung beseitigen, die Rechte der Kombinate und Betriebe wesentlich erhöhen und kleine und mittlere Betriebe aus den Kombinaten ausgliedern, um eine reaktionsfähigere, mittlere Wirtschaftsebene aufzubauen‘. Selbst wenn der Reformvorschlag von den erkennbaren Widersprüchen101 frei gewesen wäre, die deutlich machen, daß die neue Staats- und Parteiführung trotz aller gegenlautenden Reformbekundungen die Macht dennoch nicht abgeben

101 Gemäß der Politbüro-Vorlage: „Analyse […]“ (SPK/56744) hätte „die Verwirklichung der dargelegten Maßnahmen eine straffe staatliche Leitung und Planung erfordert“. Dies schloß laut „Analyse“ (S. 20 f.) auch die skizzierten Dezentralisierungsmaßnahmen ein.

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wollte, hätte dieser Versuch rückblickend betrachtet vermutlich keine Chance mehr gehabt: In ideeller Hinsicht war der Verlust an Glaubwürdigkeit der für die Politik und die Wirtschaft Verantwortlichen in der Bevölkerung zu weit fortgeschritten. Der sukzessive ‚Kornaische‘ Desillusionierungsprozeß der Gesellschaft – im Prinzip alle Wirtschaftssubjekte unterhalb der politischen Führungsspitze – gegenüber dem wirtschaftlichen und politischen System, das sich als unfähig zu wirklichen Vervollkommungen geschweige denn zu tatsächlichen Reformen erwiesen hatte, war abgeschlossen. In materieller Hinsicht war die DDR – insbesondere die Textil- und Bekleidungsindustrie, aber auch die gesamte andere DDR-Industrie – ökonomisch derart ausgeblutet, Alter und Qualität ihres Kapitalstocks waren in weiten Teilen derart verschlissen, daß nach Ansicht der Staatlichen Plankommission in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ‚eine kritische Grenze überschritten war‘.102 Im sozialistischen Wirtschaftsgebiet, d. h. von den anderen Mitgliedsstaaten des RGW, konnte die DDR zu diesem Zeitpunkt bereits keine Hilfe mehr erwarten, denn diesen Staaten ging es ideell wie auch materiell vergleichbar schlecht oder sogar schlechter. Gegenüber dem ‚nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (war) die Verschuldung seit dem VIII. Parteitag (1971) auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt‘.103 Auch von dieser Seite war daher keine Unterstützung mehr zu mobilisieren.104 Gerhard Schürer, Staatliche Plankommission: „Das reale Bild war eben katastrophal“.105 Der Wiederaufbau in der SBZ / DDR nach 1945 erfolgte weitgehend mit der alten Technik. Die Nettoinvestitionen dienen der Erweiterung und/oder der Verbesserung des Produktionsapparates. Sie werden ‚weiterhin unterteilt in Erweiterungsinvestitionen (Zweck: Erweiterung des Produktionsapparates) und Rationalisierungsinvestitionen; letztere haben den Zweck, das gleiche Produktionsvolumen bei veränderten, kostengünstigeren Faktoreinsatz herstellen zu können‘.106 Die Effizienz der Investitionen wird erheblich reduziert, wenn bei der Nettoinvestition nicht die neueste Technik Berücksichtigung finden kann. ‚Im Textilmaschinenbau der DDR hat eine Reihe wichtiger Maschinen Kennziffern, die zum Teil erheblich unter denen der Fabrikate anderer Länder liegen. Alle Projekte für Textilbetriebe, 102 SZS/Box-Nr. 04220601: ÖFI der SPK, Abt. Effektivitätsplanung: „Zur Entwicklung der Investitionen und des Grundmittelbestandes und zu ihrem Einfluß auf die Leistungs- und Effektivitätsentwicklung im produzierenden Bereich der Volkswirtschaft im Zeitraum 1975-1987 (Entwurf)“, Berlin 1988, Anl. 2, S. 1 f. 103 SPK/56744: Politbüro-Vorlage: „Analyse …“ S. 4, Hervorhebung nicht im Original. 104 Heimann, Christian: Textil- und Bekleidungsindustrie, S. 347 ff. 105 Hertle, Hans-Hermann: „Gespräch mit Gerhard Schürer: „Es wäre besser gewesen, wir wären früher pleite gegangen“, in: Deutschland-Archiv, Heft 2, Berlin, S. 1031. 106 Kromphardt, Jürgen: Investitionen I: Volkswirtschaftliche, in: HdWW, 4. Bd., 1988, S. 247.

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die gegenwärtig (1959) ausgearbeitet werden, weisen daher eine viel zu geringe Steigerung der Arbeitsproduktivität und auch eine viel zu geringe Senkung der Selbstkosten aus. Für die Rekonstruktion des Werkes I der Baumwollspinnerei Erdmannsdorf z. B. sind im gegenwärtigen Projekt 83 Karden mit einer Leistung von 3,75 Kilogramm je Stunde und Maschineneinheit vorgesehen. Die durchschnittliche internationale Leistung von Karden beträgt aber 6 Kilogramm je Stunde. [...] Im Stahl- und Walzwerk Brandenburg wurde im Jahr 1956 eine Drahtstraße in Betrieb genommen, die eine Schichtleistung von 36 Arbeitskräften erfordert, Straßen, die die Möglichkeit der neuen Technik voll ausschöpfen, erfordern nur sechs bis acht Kräfte. In Finow wurde ein Warmbandwalzwerk in Betrieb genommen, das in seiner technischen Konzeption völlig überaltert ist.107 Um herauszufinden, was sich in der DDR (1949-1990) in der Textilindustrie Sachsens abspielte, wurde eine Diplomarbeit zum Thema ‚Die Wirtschaftsstruktur Sachsens am Beispiel der Textilindustrie (1840-2000)‘ übergeben.108 Die Anzahl der Beschäftigten der Textilindustrie Sachsens – gemessen an den Gesamtbeschäftigten der Textilindustrie in der DDR – betrug 1981 72,3 und 1989 71 5 Prozent. In der Bundesrepublik Deutschland, England und Frankreich ging die Bedeutung der Textilindustrie von 1950 bis 1989 zurück, während in europäischen Ländern mit sozialistischer Zentralplanung eine Strukturanpassung in der Textilindustrie unterblieb. In der DDR nahm die Bedeutung der Textilindustrie sogar noch zu. Die Textilindustrie der DDR ist ein Muster für extensives Wachstum, d. h. Wachstum ohne technischen Fortschritt und für das Verharren der DDRWirtschaft in alten Branchenstrukturen, die in der Bundesrepublik schon weitgehend an Bedeutung verloren hatten.

107 Grosse, Herman: Zu einigen Fragen des Nutzeffekts der Investitionen, in: Einheit 14/11, 1959, S. 1489. 108 Lorz, Korinna: Die Wirtschaftsstruktur Sachsens am Beispiel der Textilindustrie (1840-2000), Diplomarbeit, Universität Bamberg 2004.

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Die Indikatoren der Entwicklung der Europäischen Textilindustrie im Durchschnitt der Jahre 1950/59 bis 1980/89 (in 1.000 t)109

Die Textilindustrie der DDR hatte infolge der systembedingten Funktionsmängel der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft die alten Strukturen konserviert. Diese Mängel traten nach der politischen Wende 1989 offen zu Tage. Die verhinderte Strukturanpassung führte nach 1990 zu einem Modernisierungsschub, bei dem über 90 Prozent der Textilbeschäftigten von 1988 bis 1998 ihre Arbeitsplätze verloren. Die folgende Tabelle vergleicht die Beschäftigungsentwicklung der Textilindustrie in Ost- und Westdeutschland zwischen 1988 und 1998 Die Beschäftigungsentwicklung der Textilindustrie in Ost- und Westdeutschland zwischen 1988 und 1998 110

1988 1990 1991 1992 1993 1994 1998

Ostdeutschland 216.500 151.500 85.174 27.282 19.139 16.801 17.089

Westdeutschland 218.071 209.443 203.756 189.888 168.746 150.514 111.893

109 Lorz: Wirtschaftsstruktur Sachsens, S. 68. Quellen: Mitchell: European Historical Statistics, 451 ff.; United Nations: Statistical Yearbook 1949-1989; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1970-1985, Internationale Übersichten; Wolfram Fischer (Hrsg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6, Stuttgart 1987, S. 135. 110 Schneider, Jürgen: Aspekte der Finanzierung der deutschen Textilindustrie im 19. und 20. Jahrhundert, in: Murr, Karl Borromäus / Wüst, Wolfgang / Blessing, Werner K. / Fassl, Peter (Hrsg.): Die süddeutsche Textillandschaft. Geschichte und Erinnerung von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Augsburg 2010, S. 113.

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4.1.4. Netzwerke, Innovationen und Wirtschaftssysteme am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland (1945-1990) Zu dieser Thematik promovierte Eva Susanne Franke bei Rainer Klump an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Würzburg im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes. In der Einleitung führt Franke aus: „Nicht nur die westdeutsche Druckmaschinenindustrie konnte ihre Vorkriegserfolge rasch weiterführen, sondern auch die ostdeutsche Branche zeichnete sich zunächst durch eine hohe Innovationsdynamik und internationale Konkurrenzfähigkeit aus. Zudem waren die Hersteller in beiden Teilen Deutschlands in ausgeprägte Netzwerkstrukturen und -prozesse eingebunden. In der mittleren Frist hatten dann allerdings wirtschaftssystembedingte Einflüsse erhebliche Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Druckmaschinenindustrien in West- und Ostdeutschland. Während die westdeutschen Hersteller sich nach wie vor durch eine hohe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit auszeichneten, fiel die DDR-Branche ab den 1970er Jahren immer weiter hinter die Weltmarktentwicklung zurück. Im Rahmen einer Analyse über die Innovationsbereitschaft einzelner Hersteller im west- und ostdeutschen Netzwerk wurden für diese Arbeit insbesondere die Entwicklungen der folgenden Unternehmen systematisch aufgearbeitet und analysiert: Koenig & Bauer (Würzburg), MAN Roland Druckmaschinen AG (Augsburg/Offenbach), hervorgegangen 1979 aus der Fusion des MAN Druckmaschinenbaus mit der Roland Offsetmaschinenfabrik, VEB Planeta (Dresden) und VEB Plamag (Plauen im Vogtland).Die Untersuchung dieser Anbieter erlaubt mehrere interessante Vergleichsperspektiven. Im Hinblick auf die Angebotspalette erweist sich die Gegenüberstellung der Zeitungsmaschinenproduktion von Koenig & Bauer, MAN und Plamag einerseits sowie der Bogenmaschinen – deren Haupteinsatzgebiet der Buchdruck ist – von Roland, Koenig Bauer und Planeta andererseits als sinnvoller Anknüpfungspunkt. Des weiteren läßt sich die Sonderstellung des Vorzeigebetriebes VEB Planeta der eher systemtypischen Entwicklung des VEB Plamag gegenüberstellen. Dies ermöglicht wichtige Rückschlüsse über die Funktionsfähigkeit planwirtschaftlicher Netzwerkorganisationen. Ferner wurden stellenweise auch die Entwicklungen des heutigen Weltmarktführers Heidelberger Druckmaschinen AG, der Albert Frankenthal AG sowie des dritten großen DDR-Herstellers VEB Druckmaschinenwerke Leipzig in die einzelbetriebliche Analyse einbezogen. Damit sind die wichtigsten Druckmaschinenunternehmen der west- und ostdeutschen Branche berücksichtigt. Die Bedeutung der Netzwerkstrukturen für das Innovationsverhalten im ostund westdeutschen Druckmaschinenbau: Netzwerkverknüpfungen zu verwandten Branchen und nicht-betrieblichen Institutionen waren bereits in der frühen Entwicklungsphase der deutschen Druckmaschinenindustrie von Relevanz, wie insbesondere die Herausbildung der beiden regionalen Produktionsschwerpunkte im südwestdeutschen Raum und in Sachsen in räumlicher Nähe zu relevanten Anwender- und Zuliefererindustrien, die Gründung des Fachverbandes ‚Vereinigung Deutscher Schnellpressenfabriken‘ sowie die Beteiligung an der Fachmesse

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BUGRA demonstrieren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der darauffolgenden Teilung Deutschlands waren die Druckmaschinenhersteller in der Bundesrepublik und in der DDR dann gezwungen, ihre Netzwerkverbindungen unabhängig voneinander und unter ganz unterschiedlichen wirtschaftssystembedingten Einflüssen neu aufzubauen bzw. wieder zu aktivieren. Um den westdeutschen Druckmaschinenbau hat sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein sehr dichtes und anpassungsfähiges Netzwerk aus verwandten Industrien und nicht-betrieblichen Institutionen herausgebildet. Dabei haben die Druckmaschinenhersteller den (Wieder)Aufbau des Branchennetzes selber aktiv vorangetrieben und mitgestaltet. Der intensive Austausch mit wettbewerbsstarken nationalen Zulieferer- und Anwenderindustrien stellte vor allem in den 50er und 60er Jahren eine wichtige Voraussetzung für den raschen Wiederanschluß der westdeutschen Branche an den Weltmarkt dar. Im Zuge der mikroelektronischen Revolution gewannen dann internationale Vernetzungen auf horizontaler Ebene zunehmend an Bedeutung. Die flexiblen Netzwerkstrukturen erlaubten hier, daß die westdeutschen Hersteller auf ausländische Branchen zurückgreifen konnten, die in diesen Bereichen führend sind. Des weiteren haben das Knüpfen intensiver Forschungsverbindungen, die Etablierung der internationalen leitmesse DRUPA und die Wahrnehmung von branchenspezifischen Koordinierungsaufgaben durch die Fachgemeinschaft Druck und Papier im VDMA die hohe Innovationsdynamik und den internationalen Erfolg der westdeutschen Druckmaschinenindustrie nach 1945 wesentlich mitgetragen. Die dirigistischen Netzwerkorganisationen VVB und Kombinat Polygraph waren dagegen so konzipiert, daß eine systematische Kommunikation und Interaktion zwischen dem ostdeutschen Druckmaschinenbau und dessen verwandten Industrien nicht stattfinden konnte. Interindustrielle Verflechtungen zwischen den Entwicklungen benachbarter Branchen konnten unter den Bedingungen des planwirtschaftlichen Systems der DDR nicht wirksam genutzt werden – im Gegenteil, der technologische Rückstand der Zulieferer- und Anwenderindustrien behinderte die innovative Entwicklung der Druckmaschinenbetriebe. Zusätzlich wurde durch die Spezialisierung der Druckmaschinenhersteller auf bestimmte Produktgruppen der Wettbewerb zwischen den Anbietern ausgeschaltet, so daß auch von dieser Seite die notwendigen Innovationsanreize fehlten. Das Netzwerkkonzept ‚Internationales System Maschinen für Druck und Papier‘ zeigte dagegen, daß die Branche um die potentiellen Vorteile wußte, die aus den Verknüpfungen zu Konkurrenten und verwandten Industrien entstehen können. Immerhin konnten die ostdeutschen Druckmaschinenproduzenten jedoch auf ein dichtes Forschungsnetz zurückgreifen. Zwischen den Produktionsbetrieben und den branchenspezifischen Forschungseinrichtungen hat ein intensiver Austausch über Know-how und Technologien stattgefunden. Außerdem lieferte die Zusammenarbeit mit dem Außenhandelsbetrieb wichtige Impulse für die internationalen Erfolge der DDR-Branche in den 50er und 60er Jahren. Mit der vergleichenden Betrachtung der Entwicklungen des VEB Planeta und VEB Plamag konnte die Hypothese über die NichtFunktionsfähigkeit dirigistischer Netzwerkorganisationen unterstrichen werden. Flexible effektive Branchennetzwerke sind nicht nur durch inter- sondern gerade

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auch intraindustrielle Verflechtungen gekennzeichnet. Im Zusammenhang mit dem wirtschaftssystembedingten Umfeld und der fehlenden Konkurrenz zwischen den Druckmaschinenbetrieben bewirkten die starren, inflexiblen Netzwerkverbindungen, daß auch innerhalb der Branche keine positiven Synergieeffekte auftreten konnten. Der internationale Erfolg des Dresdner Vorzeigebetriebs konnte daher nicht zum Impulsgeber für die Entwicklung des Plauener Zeitungsmaschinenproduzenten werden. Vielmehr wurde die positive Entwicklung des Devisenbringers VEB Planeta auf Kosten des VEB Plamag und der anderen Druckmaschinenhersteller vorangetrieben. Das Innovationsverhalten der westdeutschen Druckmaschinenunternehmen im Zuge des Durchbruchs der Offsetdrucktechnik und der mikroelektronischen Revolution demonstriert, wie die Einbindung in flexible Netzwerkstrukturen in Verbindung mit einem funktionsfähigen Wettbewerb innerhalb der Branche die Anbieter dazu zwingen kann, alte Pfade zu verlassen und neue technologische Traditionen zu begründen. Nationale und internationale Verknüpfungen, sowohl kooperativer als auch kompetitiver Art, erweisen sich damit als wichtige Antriebskräfte für die Flexibilität und Innovationsbereitschaft der einzelbetrieblichen Ebene, zwei Merkmale, die insbesondere bei technologischen Umbrüchen von besonderer Relevanz sind. Das Beispiel der ostdeutschen Druckmaschinenbetriebe hingegen hat gezeigt, daß in der DDR zwar historisch gewachsene Traditionen erfolgreich weitergelebt und perfektioniert werden konnten, daß aber die Integration einer völlig neuen Technologie die Branche vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellte.111 Aufgrund der fehlenden Einbettung der Polygraph in das Marktgeschehen führte die Entwicklung der ostdeutschen Druckmaschinenbranche im Zuge der mikroelektronischen Revolution in eine Sackgasse. Für einen technologischen Pfadwechsel erwies sich das dirigistische Branchennetz – auch für den Sonderbetrieb VEB Planeta – als viel zu unflexibel, um auf die neuen Entwicklungen aus der Mikroelektronik angemessen reagieren zu können. Schlussbemerkungen: Den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bildeten die Wechselbeziehungen zwischen Netzwerkverknüpfungen, einzelbetrieblicher Innovationstätigkeit und der Konkurrenzfähigkeit einer Branche in unterschiedlichen Wirtschaftssystemen. Dieser Zusammenhang wurde am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland untersucht. Als Ausgangsbasis der theoretischen Analyse wurde das Clusterkonzept von Porter herangezogen, welches grundlegende Hypothesen über das Wechselspiel zwischen der Existenz eines innovativen Branchenclusters und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einer nationalen Branche enthält. Es zeigte sich allerdings, daß Porters Netzwerkkonzept im Hinblick auf die angestrebte Branchenanalyse durch komplementäre 111 Zum Zusammenspiel zwischen historisch akkumulierten Innovationspotentialen und politisch bedingten Diffusionsblockaden von neuem Wissen in der Entwicklung der DDR-Wirtschaft siehe Grabas, Margit: Der wechselvolle Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR – Zusammenspiel von akkumulierten Innovationspotentialen und institutionellen Diffusionsblockaden, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1995/2, S. 149-162.

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theoretische Überlegungen zweckmäßig zu präzisieren ist. Dazu wurden Erklärungsansätze aus der organisationstheoretischen Netzwerkökonomik und der Theorie externer Effekte herangezogen. Mit der wirtschaftssystemvergleichenden Netzwerkanalyse konnten darüber hinaus die besonderen Voraussetzungen wirksamer inter- und intraindustrieller Verflechtungen deutlich gemacht werden. Die ökonomische Diskussion um Netzwerke aus verwandten Industrien rückt die Mesoebene in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Netzwerkökonomik bewegt sich daher an der Schnittstelle zwischen den beiden wirtschaftswissenschaftlichen Teildisziplinen. ‚Volks- und betriebswirtschaftliche Forschung treffen sich […] aus ganz unterschiedlichen Überlegungen bei diesem Untersuchungsgegenstand, der in beiden Subdisziplinen bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde‘. Aufgrund der aktuellen Bedeutung von Netzwerken ist zu erwarten, daß sich die beiden ökonomischen Forschungsbereiche zukünftig weiter aufeinander zubewegen werden. Auch diese Arbeit verknüpft volks- und betriebswirtschaftliche Aspekte. Branchennetzwerke setzen sich aus vertikal und horizontal verwandten Industrien sowie nicht-betrieblichen Institutionen zusammen. Vertikal verwandte Branchen sind Zulieferer- und Anwenderindustrien, horizontal verwandte Industrien sind Hersteller von Komplementärgütern oder unvollkommenen Substituten. Es konnte gezeigt werden, daß Institutionen wie Messen, Forschungseinrichtungen oder Fach- und Regionalverbände für die Funktionsfähigkeit, Stabilität und Dynamik eines Netzwerks von besonderer Bedeutung sind, da sie netzwerkspezifisches Wissen bündeln, weiteleiten und vermehren. Eine systematische Analyse der besonderen Rolle solcher Institutionen fehlt bisher in der netzwerkökonomischen Literatur. In dieser Arbeit wurde anhand eines konkreten Fallbeispiels ein Ansatzpunkt für die Integration nichtbetrieblicher Institutionen in die Netzwerkanalyse geliefert, der in weiteren Forschungen zu präzisieren und zu generalisieren ist. Netzwerke konstituieren sich im Spannungsfeld zwischen Kooperation und Konkurrenz. Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Organisationsprinzipien bedingt eine hohe Flexibilität und Neuerungsbereitschaft der einzelnen Netzwerkunternehmen. Das kooperative Element in den Verknüpfungen bewirkt, daß Informationen und Innovationen innerhalb des Netzwerks rasch diffundieren können. Gleichzeitig sorgt der bestehende Konkurrenzdruck für permanente einzelbetriebliche Innovationsanreize. Insbesondere für die Absatzmärkte gilt, daß die Anbieter weiterhin einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt bleiben, damit einzelbetriebliche Innovationen in den anderen Unternehmen der Branche und schließlich auch innerhalb des gesamten Netzwerks Folge- und Verbesserungsinnovationen auslösen können. Die Ausführungen zur organisationstheoretischen Netzwerkökonomik haben darüber hinaus deutlich gemacht, daß aus der Sicht eines einzelnen Unternehmens bei dem Eingehen von Netzwerkverbindungen das Transaktionskostenargument (statische Effizienz) gegenüber unternehmens- und wettbewerbsstrategische Überlegungen (dynamische Effizienz) deutlich in den Hintergrund tritt, denn die zunehmende Globalisierung sowie verkürzte Produktund Technologiezyklen stellen hohe Anforderungen an die Flexibilität und Inno-

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vationsbereitschaft der Unternehmen, die sich langfristig ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen. Die Verknüpfungen innerhalb eines Branchennetzes basieren auf technologischen und pekuniären positiven Externalitäten. Während innovationsökonomische Netzwerkansätze die Internalisierung von Know-how Spillovers bzw. die Diffusion von netzwerkspezifischem Wissen in den Vordergrund stellen, hat Krugman erstmals die Bedeutung marktendogener Verflechtungen für die Funktionsweise eines Branchennetzes betont. Ein Erklärungsansatz, der simultan beide Formen von Externalitäten berücksichtigt, existiert bisher nicht. Die Arbeit hat aber gezeigt, daß eine integrierte Sichtweise grundsätzlich sinnvoll und möglich ist. Als ein zentrales Ergebnis der netzwerkökonomischen Analyse läßt sich festhalten: Durch Information, Kommunikation und Interaktion einerseits und einen ausreichend hohen Wettbewerbsdruck andererseits wird in einem flexiblen, dynamischen Netzwerk ein innovatives Milieu geschaffen, in dem die technologischen und marktlichen Interdependenzen zwischen den einzelnen Netzwerkmitgliedern Synergien bewirken und positive Rückkoppelungsprozesse auslösen. Durch räumliche Konzentration der Netzwerkmitglieder werden die positiven Effekte dieser Verflechtungen zusätzlich verstärkt. In der Literatur werden Branchennetzwerke fast ausschließlich vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher Ordnungssysteme diskutiert. Die Untersuchung hat gezeigt, daß aber auch staatlich gelenkte Branchenzusammenschlüsse als Netzwerke interpretiert werden können. Diese Erkenntnis ist nicht nur aus wirtschaftshistorischer, sondern auch aus netzwerkökonomischer Perspektive von Bedeutung. Durch eine wirtschaftssystemvergleichende Analyse konnten die netzwerkökonomischen Hypothesen präzisiert werden, indem herausgearbeitet wurde, welche speziellen Eigenschaften Netzwerkorganisationen erfüllen müssen, damit sie auf einzelbetrieblicher und Branchenebene positive Innovationsimpulse generieren. Mit der Anwendung der netzwerkökonomischen Überlegungen auf einen Wirtschaftssystemvergleich konnten zudem gleichzeitig Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen der Innovationsdynamik von Branchen und Unternehmen und Ordnungssystemen getroffen werden, die über die Hypothesen der vergleichenden Wirtschaftssystemtheorie sowie der traditionellen Innovations- und Markttheorien hinausgehen. Im Hinblick auf den theoretischen Ansatz dieser Untersuchung ist festzuhalten, daß es sich bei Netzwerken um einen sehr vielfältigen und komplexen Untersuchungsgegenstand handelt, der sich aus unterschiedlichsten theoretischen Perspektiven heraus analysieren läßt. Eine geschlossene ökonomische Netzwerktheorie kann es daher nicht geben und wäre auch nicht sinnvoll. Um zu gehaltvollen netzwerkökonomischen Aussagen zu kommen, ist es produktiver, in Abhängigkeit vom Erklärungsziel bestehende Theoriebereiche anzuwenden und gegebenenfalls auf empirischer Basis weiterzuentwickeln. Für die hier geführte Analyse über die Wechselwirkungen zwischen Netzwerkverbindungen, Innovations- und Organisationsökonomik sowie Erklärungsansätze aus der Agglomerations- und Standorttheorie als besonders fruchtbar.

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Die theoretischen Erkenntnisse konnten anschließend in einem konkreten empirischen Rahmen spezifiziert und differenziert werden. Bei diesem Übergang zu empirisch gehaltvollen Hypothesen erwies es sich allerdings als ein besonderes Problem, daß der stark historische Bezug die Fundierung der Hypothesen mit quantitativem Datenmaterial im Sinne einer evolutorischen Theorie erschwerte. Dennoch gelang es, robuste Aussagen über die vermuteten Zusammenhänge auch über einen Zeitraum von mehr als 150 Jahren zu formulieren. Der Druckmaschinenbau gehört zu einem der ältesten und erfolgreichsten Zweige der deutschen Industrie. Bereits in der frühen Branchenentwicklung des 19. Jahrhunderts waren netzwerkartige Verknüpfungen für den Druckmaschinenbau von Bedeutung, wie die Herausbildung der beiden Produktionsschwerpunkte im südwestdeutschen und sächsischen Raum sowie die Gründung eines Fachverbandes und die Veranstaltung einer Fachmesse in Leipzig belegen. Auf der Basis ihrer gemeinsamen Erfolgsgeschichte und gemeinsamer technologischer Traditionen habennach dem Zweiten Weltkrieg die Branchenanbieter in West- und Ostdeutschland dann unter völlig unterschiedlichen Ordnungsbedingungen versucht, an ihre traditionell starke Weltmarktstellung anzuknüpfen. Dabei zeigte sich, daß für die Nachkriegserfolge insbesondere der west-, aber auch der ostdeutschen Branchenanbieter die jeweiligen Netzwerkbeziehungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Aufbau und Entwicklung des westdeutschen Branchennetzes haben dokumentiert, daß die Druckmaschinenunternehmen insbesondere im F&E-Bereich eng mit ihren verwandten Branchen zusammenarbeiten. Netzwerkspezifisches Know-how kann daher rasch diffundieren. Gleichzeitig sind die einzelnen Druckmaschinenhersteller bis heute einem intensiven nationalen und internationalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt, was eine wichtige Voraussetzung für die unternehmerische Innovationsbereitschaft darstellt. Die Flexibilität des Branchennetzes hat sich vor allem darin bestätigt, daß seit den 70er Jahren die Druckmaschinenhersteller in der BRD zunehmend auf internationale Verflechtungen zurückgegriffen haben. Durch das dichte Forschungsnetz, die Veranstaltung der internationalen Leitmesse DRUPA in Düsseldorf und die Kooperation der Hersteller in der Fachgemeinschaft Druck und Papier im VDMA ist es der westdeutschen Druckmaschinenindustrie gelungen, ihre nationalen und internationalen Beziehungen zu verdichten und zu intensivieren. Die besondere Bedeutung, die diese institutionellen Netzwerke für den schnellen Nachkriegserfolg der westdeutschen Hersteller gehabt haben, belegt, daß nicht-betriebliche Institutionen in der netzwerkökonomischen Forschung stärker zu berücksichtigen sind. Das dirigistische Branchennetz um den ostdeutschen Druckmaschinenbau hingegen war so ausgestaltet, daß eine flexible und fruchtbare Interaktion zwischen der Druckmaschinenindustrie und ihren vor- und nachgelagerten Branchen nicht systematisch stattfinden konnte. Potentielle Synergieeffekte konnten kaum genutzt werden. Im Gegenteil, die technologische Rückständigkeit der meisten Zulieferer- und Anwenderindustrien behinderte eher die Entwicklung des ostdeutschen Druckmaschinenbaus. Diese Entwicklung war auch innerhalb der Branche zu beobachten: Der Erfolg des VEB Planeta konnte nur auf Kosten der anderen

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Druckmaschinenhersteller vorangetrieben werden. Andererseits konnte auch für das ostdeutsche Branchennetz die Bedeutung der nicht-betrieblichen Institutionen untermauert werden: Abgesehen von den günstigen historischen Ausgangsbedingungen kann der internationale Erfolg der ostdeutschen Druckmaschinenbetriebe in den 50er und 60er Jahren im wesentlichen auf das dichte Forschungsnetz um die Branche und die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Außenhandelsbetrieb zurückgeführt werden. Die Betrachtung einzelbetrieblicher Innovationsprozesse in West- und Ostdeutschland im Zuge technologischer Brüche hat verdeutlicht, wie in Verbindung mit einem funktionsfähigen Wettbewerb die Einbindung in effektive, flexible Netzwerkstrukturen die Anbieter zwingen kann, alte Pfade zu verlassen und neue technologische Traditionen zu begründen. Während des Technologieumschwungs der 60er Jahre konnten die ostdeutschen Hersteller auf traditionelle, noch aus der Vorkriegszeit stammende Technologieentwicklungen aufbauen. Aufgrund dieser besonderen historischen Bedingungen stellte die Nicht-Funktionsfähigkeit des dirigistischen Branchennetzes in diesem Fall kein Hindernis für die Generierung erfolgreicher Innovationen im Offsetbereich dar. Dagegen erwies sich in Verbindung mit den wirtschaftssystembedingten Einflüssen in den 70er Jahren das Branchennetz als viel zu inflexibel und ineffektiv, um neue Entwicklungen, die durch die mikroelektronische Revolution in den Druckmaschinenbau hineingetragen wurden, aufzugreifen und in den Druckmaschinenbau zu integrieren. Mit dieser Arbeit wurde versucht, einen theoretischen und empirischen Beitrag zur Weiterentwicklung der Netzwerkökonomik zu leisten. Die ausgeprägten nationalen und internationalen Netzwerkstrukturen und -prozesse, in denen der deutsche Druckmaschinenbau heute eingebunden ist, deuten darauf hin, daß die Branche auch zukünftig ihre Spitzenposition erfolgreich verteidigen wird. Auf der DRUPA 2000 wurden erneut wichtige innovative Akzente von den deutschen Herstellern gesetzt. Die neue Konkurrenz durch immer leistungsfähigere Laserund Farbtonerdrucker sowie Kopiergeräte zwingt die Druckmaschinenunternehmen zu hoher Innovationsbereitschaft und Flexibilität. Gleichzeitig ist mit dem Einstieg der Heidelberger Druckmaschinen AG in den Zeitungsmaschinenbau auch der Konkurrenzdruck innerhalb der deutschen Branche verstärkt. Gerade die aktuellen Entwicklungen im deutschen Druckmaschinenbau machen deutlich, daß unter den Bedingungen des zunehmenden globalen Wettbewerbsdrucks und dem raschen Wandel der Märkte und Technologien sowie den damit verbundenen industriellen Reorganisationsprozessen netzwerkökonomische Fragestellungen sowohl in der Volks- als auch in der Betriebswirtschaftslehre weiter an Bedeutung gewinnen werden“.112

112 Franke, Eva Susanne: Netzwerke, Innovationen und Wirtschaftssystem. Eine Untersuchung

am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland (1945-1990), Stuttgart 2000, S. 14 f, 211-216.

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4.1.5. Kleinwagen im Innovationsstau. Der Pkw-Bau in der DDR, 1955-90 Von Sönke Friedreich Trotz schwerer Kriegszerstörungen und massivem Rückbau von Produktionsstätten aufgrund der an die Sowjetunion zu leistenden Reparationen besaß die DDR keine ungünstigen Voraussetzungen für die Errichtung einer eigenständigen Fahrzeugindustrie, insbesondere im Pkw-Bau. Im mitteldeutschen Raum existierten durch die Autowerke von EMW in Eisenach sowie Horch und Audi bzw. der AutoUnion in Zwickau ausgebaute Produktionsstrukturen, auf denen die DDR-Planwirtschaft aufbauen konnte. Die wachsende Individualmotorisierung in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren hatte zudem gezeigt, dass potenziell eine wachsende Nachfrage nach Fahrzeugen im Inland zu erwarten war. Bei Gründung der DDR waren auf ihrem gesamten Territorium nur einige Zehntausend Pkw zugelassen, sodass ein unbezweifelbarer Aufholbedarf existierte.113 Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Fahrzeugproduktion wieder aufzubauen war und welchen Stellenwert sie in der Planwirtschaft besitzen sollte. Von den Vorkriegsmodellen zum neuen Kleinwagen: Pkw-Bau in den 1950er Jahren Die frühesten Schritte in der Wiederaufnahme der Produktion bestanden in der Herstellung von Lastkraftwagen im Horch-Werk Zwickau sowie der VorkriegsPkw-Typen DKW F 8 und F 9. Seit 1951 wurden jedoch Diskussionen im ZK der SED geführt, die darauf hinausliefen, durch einen politisch motivierten Beschluss die Fahrzeugproduktion und insbesondere die Pkw-Herstellung auf eine neue Grundlage zu stellen.114 Dies geschah vor dem Hintergrund der Entwicklung des „Duroplastes“ als Werkstoff für die Karosseriebeplankung, die 1953 abgeschlossen wurde. Mit dem so genannten „Kleinwagenbeschluss“ (Direktive 36/53 des Ministerrates der DDR) wurde die Verlegung der bisherigen F 9-Herstellung von Zwickau nach Eisenach und die Entwicklung eines neuen, ausschließlich in Zwickau zu bauenden Kleinwagens für die Breitenmotorisierung der DDR angeordnet. Die Produktion sollte 1955 mit einer jährlichen Stückzahl von 60.000 Pkw anlaufen.115 Die Entschließung, den Individualverkehr in der DDR zu fördern, resultierte vor allem aus dem direkten Vergleich mit Westdeutschland. 1953 betrug die PkwDichte in der Bundesrepublik ca. 25 Pkw auf 1.000 Einwohner, in der DDR lag die 113 Kirchberg, Peter: Plaste, Blech und Planwirtschaft. Die Geschichte des Automobilbaus in der DDR, Berlin 22001, S. 711, beziffert den Bestand auf 75.710 Pkw und 93.454 Lkw, die in der DDR-Statistik angegeben wurden. Inwieweit diese Ziffern zutreffend sind, muss offen bleiben. 114 Sonntag, Winfried: Geschichte des Zwickauer Automobilbaus, in: Sächsische Heimatblätter 46 (2000) 4/5, S. 234-260, hier S. 248. 115 Friedreich, Sönke: Autos bauen im Sozialismus. Arbeit und Organisationskultur in der Zwickauer Automobilindustrie nach 1945, Leipzig 2008, S. 47. Sonntag: Geschichte des Automobilbaus, S. 248.

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Ziffer lediglich bei etwas über 3 Pkw je 1.000 Einwohner.116 Der Beschluss sollte diesen Rückstand nach und nach egalisieren. Es dauerte indes mehrere Jahre, bis mit der seriellen Produktion begonnen werden konnte. Zunächst wurden drei PKWTypen gleichzeitig entwickelt, nämlich neben dem Kleinwagen-Prototyp „P 50“ (Audi-Werk) der „P 240“ (Horch-Werk) als Mittelklassewagen sowie der „Wartburg 311“ (Eisenach) als gehobener Kleinwagen. Die Verzögerung beim P 50 führten zu einer im Audi-Werk eigenmächtig vorangetriebenen Zwischenentwicklung des auf dem alten F 8 aufbauenden so genannten „P 70“, von dem zwischen 1955 und 1959 knapp 37.000 Stück hergestellt wurden.117 Die serienreife Entwicklung des P 70 diente indes dem Ministerium für Fahrzeugbau als Vorwand, um Investitionsmittel von der Entwicklung des P 50 abzuziehen. Erst durch Politbürobeschluss wurde schließlich die Entwicklung bis zur Serienreife ermöglicht. 1958 konnte mit der Serienfertigung des P 50, des ersten Fahrzeugs mit dem Beinamen „Trabant“, begonnen werden. Die Fertigung erfolgte in dem aus der Zusammenlegung der Horch- und Audi-Werke im gleichen Jahr entstandenen VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau.118 In Eisenach wurde im 1953 gegründeten VEB Automobilwerk Eisenach noch bis 1956 der F 9 produziert; im Herbst 1955 lief die Serienproduktion des Wartburg 311 an.119 Wie die ersten zehn Jahre des Pkw-Baus in der DDR zeigen, war eine deutliche quantitative Ausdehnung der Automobilindustrie und eine qualitative Entwicklung neuer Autotypen unter sozialistischen Vorzeichen nicht zu leisten. Die bis 1958 entwickelten Produkte stellten keine deutliche qualitative Verbesserung gegenüber der (nach 1945 kurzfristig wieder aufgenommenen) Vorkriegsproduktion von EMW, Audi und Horch dar. Die Produktionszahlen blieben weit hinter der Nachfrage zurück: in der ersten Hälfte der 1950er Jahre wurden weniger als 100.000 Pkw hergestellt.120 Die Gründe hierfür lagen nicht allein im Verlust von Zuliefernetzwerken aufgrund der deutschen Teilung, im hohen Zerstörungsgrad der Automobilindustrie oder in der Flucht von Teilen des industriellen Managements nach Westen. Ausschlaggebend war die politisch gewollte, dem sowjetischen Vorbild folgende Konzentration der Planwirtschaft auf die Schwerindustrie. Der private Autoverkehr wurde als eine zu vernachlässigende gesellschaftliche Größe betrachtet und ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Individualmotorisierung verneint. Durch diese Wahrnehmung von Personenkraftwagen als private Konsumgüter wurden Investitionsmittel für die Produktentwicklung und die Erweiterung bzw. Instandhaltung der Produktionsanlagen zurückgehalten, während den

116 Stand und Entwicklung der Motorisierung in der sowjetischen Besatzungszone, in: DIW-Wochenberichte 1955, S. 89-90, hier S. 89. Bis 1955 wuchs die Zahl auf immer noch niedrige 7 Fahrzeuge je 1.000 Einwohner. Kirchberg: Plaste, S. 719. 117 Sonntag, Geschichte des Automobilbaus, S. 248 f. 118 Friedreich: Autos bauen, S. 49. 119 Kirchberg: Plaste, S. 208. 120 Stand und Entwicklung der Motorisierung in der sowjetischen Besatzungszone, in: DIW-Wochenberichte 1955, S. 89-90, hier S. 89.

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Automobilwerken in Zwickau und Eisenach keine Gelegenheit gegeben wurde, Produktivitätssteigerungen und technische Innovationen umzusetzen. Strukturschwäche: Die Stagnation in der Pkw-Herstellung Wie die Geschichte des Automobilbaus zwischen 1958 und 1989 zeigt, änderte sich an dieser grundlegenden Problematik auch nach der Stabilisierung der DDR nichts. Der direkte Vergleich mit der Pkw-Herstellung in Westdeutschland macht dies deutlich: So war der Anteil des Pkw-Baus an der Industrieproduktion, gemessen an der Zahl der Beschäftigten wie an der Höhe der Investitionen, in der DDR deutlich geringer als in der Bundesrepublik.121 Während sich die Automobilproduktion in Westdeutschland rasch zum Motor des wirtschaftlichen Aufschwunges entwickelte, blieb eine entsprechende Expansion in der DDR aus. Und während in den westlichen Ländern eine große Vielfalt an Autoklassen und -typen entwickelt wurde, blieb es in der DDR bei den Standardmodellen Trabant und Wartburg. Was den Grad der Motorisierung anlangt, konnte die DDR zwar innerhalb des Ostblocks noch vor der Tschechoslowakei und Ungarn eine führende Rolle einnehmen, sie blieb gegenüber Westdeutschland jedoch weit zurück. 1989 kamen in der Bundesrepublik 491 Pkw auf 1.000 Einwohner, in der DDR nur 230 Pkw.122 Eine Konsequenz der wirtschaftspolitischen Randstellung der Automobilproduktion in der DDR war die mangelnde Innovationskraft. Diese betraf hauptsächlich das Produkt selbst. Schon im Januar 1959, d.h. neun Monate nach Beginn der Serienproduktion des Trabant, hieß es in einem Manuskript über die Entwicklung des Industriezweigs der VVB Automobilbau: „Das Fahrzeug ‚Trabant‘ entspricht in seiner Gesamtauslegung nicht mehr vollgültig dem derzeitigen Stand der Technik. In einigen wichtigen Einzelgruppen ist der internationale Stand bereits weiter fortgeschritten“.123 In den frühen 1960er Jahren wurden verschiedene technische Innovationen wie z. B. ein größerer Motor (1962) und eine leicht veränderte Karosserie (1964) entwickelt, ohne dass hierdurch eine neues Fahrzeug entstanden wäre.124 Mit dem im Jahr 1964 als „P 601“ bezeichneten Trabant hatte der Automobilbau in Zwickau jenes Produkt geschaffen, das bis zum Ende der DDR fast unverändert hergestellt wurde. Nunmehr wurde „jede Schraube, jeder anders ge-

121 Beschäftigte: 6,2 % (DDR) gegenüber 10,2 % (BRD); Investitionen: 3,9 % (DDR) gegenüber 11,2 % (BRD). Kowalski, Reinhold: Zur Leistungsfähigkeit der ehemaligen DDR-Automobilindustrie und zu Problemen ihrer Umgestaltung, in: Döhl, Volker / Reiß, Manfred (Hg.): Vernetzte Produktion. Automobilzulieferer zwischen Kontrolle und Autonomie, Frankfurt a. M., New York 1992, S. 247-276, hier S. 251. 122 Kowalski, Leistungsfähigkeit, S. 253. 123 Manuskript „Die Entwicklung des Industriezweiges Automobilbau in der Periode des 3. Fünfjahrplanes und die im Rahmen der Volkswirtschaft der DDR erforderlichen Maßnahmen zur Realisierung der Perspektive des Automobilbaus“ der VVB Automobilbau v. 30.1.1959, hier zit. nach: Friedreich: Autos bauen, S. 51. 124 Kirchberg: Plaste, S. 194 ff. Friedreich: Autos bauen, S. 63.

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formte Türgriff und jedes weiterentwickelte Serienteil als große Erneuerung dargestellt“125 und dadurch Produktinnovation vorgetäuscht: „Mit dem Trabant 601 und dem Wartburg 353 gelang dem Pkw-Bau der DDR letztmalig die Einführung einer neuen Modellgeneration“.126 Schon Ende der 1960er Jahre bestand eine „enorme Dimension des technologischen West-Ost-Gefälles“ im unterschiedlichen Entwicklungsstand im Automobilbau.127 Trabant P 601 (Foto: Christoph Neumann, Quelle: Wikipedia)

Die durch die starren planwirtschaftlichen Vorgaben, die fehlende marktwirtschaftliche Konkurrenz und die mangelnde Zuweisung von Investitionsmitteln erzeugte chronische Innovationsschwäche zeigte sich auch bezüglich der Produktionsmittel. Am Standort Zwickau wurden in den späten 1950er und in den 1960er Jahren mehrere neue Anlagen erbaut, wie beispielsweise mechanische Transportbänder im Karosserierohbau und Karosseriemontage (1958), eine automatische Lackiertaktstraße für Karosserielackierung (1960), eine Taktstraße im Getriebebau (1961), ein Ovalfließband im Karosserierohbau (1962) und eine Phosphatieranlage (1969).128 Seit den späten 1960er Jahren galten die Fertigungsanlagen dann aber als „komplett“ und wurden in den folgenden zwanzig Jahren auf Verschleiß gefahren, was häufige Produktionsunterbrechungen zur Folge hatte. Eine Erweiterung der Produktionsstätten hätte es erforderlich gemacht, neue Betriebsflächen zu erschließen, die aber vor Ort nicht vorhanden waren. Zwar gab es bereits seit den frühen 1970er Jahren Planungen für einen Werksneubau am Standort Mosel bei Zwickau, 125 Schiebert, Jürgen: Duroplast in Pastellfarben: Der Trabant, Berlin 1997, S. 41. 126 Bauer, Reinhold: PKW-Bau in der DDR. Zur Innovationsschwäche von Zentralverwaltungswirtschaften, Frankfurt a. M. 1999, S. 97. 127 Bähr, Johannes: Institutionenordnung und Wirtschaftsentwicklung, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 530-555, hier S. 546. 128 Friedreich: Autos bauen, S. 51.

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etwa 6,5 Kilometer nördlich der alten Horch- und Audi-Werke.129 Diese Planungen wurden in Zusammenhang eines Pkw-Programms entworfen, dessen Kern in einer Zusammenarbeit mit den Škoda-Werken in der Tschechoslowakei bestand und mit dessen Realisierung nicht nur ein neuer Pkw (Typ 760) entwickelt, sondern auch die Produktionsziffern deutlich gesteigert werden sollten.130 Aus den Plänen wurde jedoch nichts, sodass dieses Vorhaben im Jahr 1979 schließlich eingestellt wurde. Ein neuer Standort der Automobilproduktion hätte Erweiterungsinvestitionen in einer Größenordnung vorausgesetzt, die politisch nicht gewollt waren. So kam es lediglich zur Errichtung eines Gelenkwellenwerkes in Mosel, das im Zuge eines Kompensationsgeschäftes von Citroën erworben wurde.131 Ausschlaggebend für die mangelnde Innovationsfähigkeit der Automobilindustrie war neben der Zurückhaltung von entsprechenden Planzuweisungen durch politische Beschlüsse nicht zuletzt die Tatsache, dass die Akteure in den Betrieben an solchen Innovationen kein wirkliches Interesse mehr entwickelten. Eine Eigeninitiative der Betriebe war aufgrund der politischen Steuerung der Wirtschaft nicht vorgesehen. Aufriss „Pkw P 601 Trabant“ aus einem Katalog des IFA-Fahrzeugvertriebs, 1980er Jahre

129 Bauer, PKW-Bau in der DDR, S. 174 ff. 130 Kirchberg, Plaste, S. 344 ff. 131 Bauer, PKW-Bau in der DDR, S. 195 ff.

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Stückzahlfetischismus und Technologietransfer: Die 1970er und 1980er Jahre Seit den ausgehenden 1970er Jahren konzentrierte sich die PKW-Herstellung in der DDR fast ausschließlich auf die quantitative Ausdehnung der Produktion. Diese Vernachlässigung von Innovationen und technischem Fortschritt lässt sich auch als „Fetischisierung der Stückzahl“ beschreiben, deren Kern die ständige planmäßige Steigerung der Bruttoproduktion war.132 Tatsächlich stiegen die Produktionszahlen kontinuierlich an, wie folgende Tabelle zeigt:133 Jahr 1958 1963 1968 1973 1978 1983 1988

Pkw-Stückzahl 38.422 84.290 114.611 147.102 170.967 188.300 213.045

Obgleich durch schwankende Import- und Exportzahlen die Zahl der im Inland verkauften Pkw nicht den Produktionsziffern entsprach, wuchsen auch die Zahlen im Inlandsverbrauch deutlich an und erreichten in den frühen 1970er Jahren ihren Höchststand mit ca. 170.000 Stück p. a. Dieses Wachstum entsprach den politischen Vorstellungen und spiegelt die nach wie vor präsente „Tonnenideologie“ der sozialistischen Planwirtschaft, die seit den frühen 1970er Jahren zunehmend auf den Sektor des privaten Konsums übertragen wurde.134 Einen Höhepunkt dieser Bemühungen im Pkw-Bau stellt der so genannte „Stückzahlbeschluss“ von 1983 dar. Im Frühjahr dieses Jahres beriet das Politbüro der SED über die Produktionskennziffern der Pkw-Produktion und das immer akuter werdende Problem der mangelnden Versorgung der Bevölkerung. Das Resultat war ein Beschluss vom 14. Juni 1983, der eine Steigerung der jährlichen Trabantproduktion auf 175.000 Fahrzeuge im Jahr 1988 vorsah (1983 lag die Zahl bei 124.300 Fahrzeugen). Dieses Ziel konnte nur durch eine Kapazitätserweiterung der Produktionsanlagen erreicht werden, die insofern utopisch bleiben musste, als nicht einmal die notwendigen Mittel für Ersatzinvestitionen bereitgestellt wurden. So war für die 1974 im VEB Sachsenring installierte Bodenschweißanlage eine Laufzeit von sechs Jahren vorgesehen, tatsächlich lief die Anlage aber bis zum Ende der Trabantproduktion im April 1991.135 Im Jahr des Stückzahlbeschlusses 1983 warnte ein internes Arbeitspapier in Zwickau: „Das Durchschnittsalter der Produktionsanlagen TRABANT liegt gegenwärtig bei 17 Jahren, viele Anlagen in den Fließbandbereichen Karosserierohbau

132 Friedreich: Autos bauen, S. 104. 133 Bauer: PKW-Bau in der DDR, S. 317 f. 134 Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR, 1949-1990, Frankfurt a.M. 21996, S. 54 ff. 135 Kirchberg: Plaste, Blech und Planwirtschaft, S. 557.

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und Lackierung sind so alt wie die TRABANT-Produktion – 26 Jahre“.136 Als Ende 1989 im Zuge der friedlichen Revolution auch die Zustände in den Betrieben ungeschönt an die Öffentlichkeit kamen, bezifferte der Betriebsdirektor des VEB Sachsenring den Verschleißgrad der vorhandenen Anlagen mit 54 Prozent.137 Der Betrieb von vollständig abgeschriebenen Anlagen symbolisierte ebenso wie die fehlende Modellerneuerung das Ausbleiben jener „produktivitätssteigernden Neukombination von Produktionsmitteln und damit Innovation“,138 das den Pkw-Bau in der DDR schließlich an seine Grenzen brachte. Angesichts einer völligen Erschöpfung der Arbeitskräftekapazität, eines hohen Verschleißgrades der Produktionsanlagen, fehlender Investitionsmittel und eines über Jahre anhaltenden Innovationsstaus setzten sich die erheblichen Probleme der Automobilfertigung in den 1980er Jahren fort. Das seit dem Jahr 1984 verfolgte VW-Motoren-Projekt stellte denn auch lediglich eine technologisch wie wirtschaftlich zweifelhafte Maßnahme zur Lösung dieser Probleme dar. Kern dieses im Herbst 1984 vom Politbüro abgesegneten und vertraglich beschlossenen Vorhabens war die Lieferung eines bei Hannover befindlichen Motorenwerkes durch die Volkswagen AG an die DDR, die dieses Werk komplett in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) wiedererrichtete. Das Werk sollte ab 1988 jährlich 286.000 VW-Polo-Motoren herstellen, von denen 88.000 Stück an VW zu liefern waren und der Rest in die DDR-Pkw-Typen Trabant und Wartburg eingebaut werden sollte.139 Die Einpassung eines für einen gänzlich anderen Pkw entwickelten Motors in die bestehenden Trabant- und Wartburg-Karosserien stellte die Ingenieure vor erhebliche Probleme und stellte einen ineffizienten Technik-Transfer dar. Die DDR war verpflichtet, die für die Motorenproduktion benötigten Teile selbst herzustellen, was eine Berücksichtigung in der von der Staatlichen Plankommission festgelegten Bilanzordnung erforderte. Die zahlreichen Zulieferunternehmen mussten zeitintensive bürokratische Hürden überwinden und besaßen oftmals nicht die technischen Möglichkeiten zur Herstellung der erforderlichen Komponenten. Hinzu kam, dass die so hergestellten Teile wie auch die Komponenten ihrerseits von VW technisch überprüft und freigegeben werden mussten.140 Diese Abstimmungsprozesse hatten erhebliche Verzögerungen in den Produktionsabläufen zur Folge. Da die Karosserien nicht für die VW-Motoren geeignet waren, blieb diese „Innovation“ technisch fragwürdig. Als „Trabant 1.1“ wurde das alte Fahrzeug mit neuem Motor erst seit Mai 1990,

136 Papier „Anspannungsgrad der Trabantproduktion“ aus: „Der Arbeitsstand 2 vom 14.04.1983 – Steigerung der TRABANT-Produktion auf 128,5 T[ausend]Pkw im Jahr 1984 – und seine Begründung“, o. D. [14.4.1983], hier zit. nach: Friedreich: Autos bauen, S. 142. 137 Broschüre „Grundorientierungen des VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau zum Erneuerungsprozeß des Betriebes“ v. 11.12.1989, hier zit. nach: Ebd. 138 Bauer: PKW-Bau in der DDR, S. 309. 139 Bauer: PKW-Bau in der DDR, S. 292. Friedreich: Autos bauen, S. 86. Sonntag: Geschichte des Automobilbaus, S. 259. 140 Friedreich: Autos bauen, S. 89 f.

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also kurz vor dem Ende der DDR, serienmäßig hergestellt und erlebte eine Produktionszahl von nicht mehr als 36.000 Stück.141 Es stellte einen treffenden Schlusspunkt des DDR-Automobilbaus dar, dass der verzweifelte Versuch, mithilfe westdeutscher Technik das bestehende Modernisierungsdefizit zu beseitigen, genau zu dem Zeitpunkt sein Ziel erreicht hatte, an dem die DDR wirtschaftlich und politisch am Ende war. Zwölf Jahre Wartezeit: Breitenmotorisierung und Versorgungsengpässe Das Bemühen um eine Steigerung der Pkw-Produktion, wie es erstmals seit den frühen 1970er Jahren und verstärkt seit Anfang der 1980er Jahre politisch eingefordert wurde, resultierte aus der wachsenden Kluft zwischen dem Pkw-Angebot und der kontinuierlich wachsenden Nachfrage. Die Unterversorgung der Bevölkerung wurde gerade im Vergleich zu der raschen Individualmotorisierung in Westdeutschland seit den 1960er Jahren deutlich. Bereits im Juni 1972 konstatierte die Abteilung Maschinenbau und Metallurgie des ZK der SED: „Die Versorgung der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Bedarfsträger mit Pkw war und ist dadurch gekennzeichnet, daß trotz einer ständig steigenden Zuführung der Bedarf nicht gedeckt werden kann. [...] Demgegenüber hat sich die Anzahl der vorliegenden noch nicht belieferten Anmeldungen der Bevölkerung für Pkw von 730000 Stück im Jahre 1968 auf 1300000 Stück im Jahre 1971 entwickelt. [...] Die Anzahl der nicht belieferten Anmeldungen hat dadurch in den letzten Jahren jährlich um durchschnittlich 135000 Stück zugenommen. Die Wartezeiten dieser, vorwiegend von der Arbeiterklasse bestellten Fahrzeuge liegen (territorial unterschiedlich) zwischen 7 und 10 Jahren“.142 Jahr

Pkw-Bestellungen (in Mio.)

1970

1,13

1971

1,32

1972

1,48

1973

k. A.

1974

1,84

1975

2,19

1976

2,58

1977

3,03

141 Kirchberg: Plaste, S. 570. 142 Manuskript „Zu einigen Problemen der Entwicklung der Pkw-Produktion in der DDR“ der Abt. Maschinenbau und Metallurgie des ZK der SED v. 22.6.1972, hier zit. nach: Friedreich: Autos bauen, S. 72.

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Zahl der offenen Pkw-Bestellungen in der DDR 1970-77143 Bereits eine Studie der Ingenieur-Hochschule Zwickau über den Ersatzbedarf an Pkw aus dem Jahre 1971 war zu dem Schluss gekommen, dass allein zur Reproduktion des vorhandenen Pkw-Bestandes eine jährliche Fertigung von über 50.000 Pkw notwendig sei. Wie die in der gleichen Studie konstatierten „1.133.556 ungedeckten Pkw-Bestellungen der Bevölkerung der DDR“ angesichts ausbleibender Produktivitätsfortschritte jemals bedient werden sollten, blieb unbeantwortet.144 Im letzten DDR-Produktionsjahr 1988 wurden bei Sachsenring in Zwickau bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von 11.200 täglich etwa 580 Trabant hergestellt, eine Zahl die um die Hälfte niedriger war als in einem Autowerk in der Marktwirtschaft.145 Die genannten Zahlen verwiesen indes nur auf einen Teil der bestehenden Problematik. Da der Ersatzbedarf an Pkw nicht befriedigt wurde, überalterte der Fahrzeugbestand von Jahr zu Jahr immer stärker. Dies erhöhte automatisch den Bedarf an Ersatzteilen, der wiederum zum erheblichen Teil durch die Produzenten in Zwickau und Eisenach gedeckt werden musste. Allein zwischen 1969 und 1972 verdoppelte sich nach offiziellen Angaben der Bedarf an Ersatzteilen; für die nächsten Jahre wurde ein weiterer drastischer Anstieg vorausgesehen. Der Anteil der Ersatzteilproduktion an der Gesamtproduktion der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Automobilbau wurde für 1972 mit nicht weniger als 22 Prozent angegeben.146 Mitte der 1980er Jahre wurde von offizieller Seite geschätzt, dass die (erzwungene) Lebensdauer des Trabants im Durchschnitt etwa dreimal so hoch liege wie ursprünglich vorgesehen.147 Im Jahr der friedlichen Revolution 1989 betrug das Durchschnittsalter der Pkw in der DDR ca. 13,6 Jahre, wobei ein großer Teil dieser Fahrzeuge nur durch fachkundige „Bastelei“ der Besitzer fahrtüchtig erhalten wurde. Der wachsende Rückstau in den Anmeldungen zum Autokauf beim IFA-Vertrieb führte dazu, dass die durchschnittliche Wartezeit für einen Trabant am Ende der DDR bei etwa 12 bis 15 Jahren lagen, die Wartezeit für einen Wartburg noch etwas darüber. Selbst die bevorzugt belieferten Arbeiter des VEB Sachsenring hatten noch mit Wartezeiten von 5 bis 6 Jahren zu rechnen.148 Eine unvermeidliche Nebenwirkung der langen Wartezeiten bestand in einem drastischen Anstieg des

143 Angaben nach: Bauer: PKW-Bau in der DDR, S. 143. 144 Studie „Ermittlung des Ersatzbedarfes für den PKW-Bestand der DDR unter Berücksichtigung der optimalen Nutzungsdauer von PKW“ der IHS Zwickau im Auftrag des VEB Sachsenring, 1971, hier zit. nach: Friedreich: Autos bauen, S. 72 f. 145 Friedreich: Autos bauen, S. 469. Im VW-Werk Zwickau-Mosel liegt 2015 die Kapazität bei 1.350 Fahrzeugen täglich und 7.900 Mitarbeitern. 146 Manuskript „Zu einigen Problemen der Entwicklung der Pkw-Produktion in der DDR“ (wie FN 30). 147 Kirchberg: Plaste, S. 571. 148 Friedreich: Autos bauen, S. 115.

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Spekulationshandels mit Pkw. Im Frühjahr 1989 berichtete die Abteilung Maschinenbau und Metallurgie des ZK der SED, dass bereits die Anmeldungen für einen Pkw je nach Laufzeit mit Preisen zwischen 10.000 und 40.000 Mark schwarz gehandelt würden. Der „spekulative Wiederverkaufspreis“ eines Trabant, dessen Neupreis 12.000 Mark betrug, belaufe sich auf durchschnittlich 22.000 Mark, für einen Wartburg (Neupreis: 30.200 Mark) zahle man schwarz sogar bis zu 80.000 Mark.149 Auf diese Weise hielt der Marktmechanismus letztlich doch wieder Einzug in das Geschäft mit privaten Fahrzeugen. Wartburg 1.3 Limousine vor einem Barkas B 1000 (Quelle: Wikipedia)

Das Ende Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und der technologische Rückstand der Automobilindustrie wurden in dem Augenblick praxisrelevant, in dem die Mauer fiel und der Umbau des planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems begann. Auch wenn den meisten DDR-Bürgern zunächst die Mittel für einen umfangreicheren privaten Konsum fehlten, zählten private Pkw aus westdeutscher oder -europäischer Produktion oft zu den ersten Produkten, die (vor allem als Gebrauchtwagen) angeschafft wurden. Bereits an der Jahreswende 1989/90 zeichneten sich daher Absatzschwierigkeiten der Modelle Trabant und Wartburg ab. In Zwickau begann mit der Umwandlung des VEB Sachsenring in eine GmbH zum 1. Mai 1990 eine neue Ära, die zugleich mit der Produktionseinstellung des Trabant P 601 verbunden war, dessen letztes Exemplar am 27. Juni 1990 vom Band lief.150 Zu diesem Zeitpunkt gab 149 Schreiben / Hausmitteilung v. Blessing (Abt. Maschinenbau und Metallurgie) an G. Mittag v. 26.4.1989, hier zit. nach: Friedreich: Autos bauen, S. 72. 150 Friedreich: Autos bauen, S. 469.

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man sich seitens der Betriebsleitung jedoch noch der Illusion hin, den in der jüngst fertiggestellten Fertigungsstraße in Mosel zu produzierenden Trabant mit VWViertaktmotor (Typ P 1.1) als marktfähiges Produkt präsentieren zu können. Das unter DDR-Verhältnissen begehrte Auto war jedoch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht konkurrenzfähig, schon gar nicht, als mit der Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 die Kaufkraft der DDR-Bevölkerung deutlich stieg. Der mit hohem Aufwand betriebene Technologie-Import erwies sich somit als Improvisation, durch die die Pkw-Fertigung den internationalen Stand nicht erreichen konnte. Die Zukunft der ostdeutschen Pkw-Produktion lag demnach im Aufbau moderner Produktionsanlagen zur Herstellung eingeführter Pkw-Typen von VW in Zwickau und Opel in Eisenach. 4.1.6. Die Implantation des VW Motors in den DDR Automobilbau. Ein Beitrag zur Geschichte der Innovationskultur in der DDR Von Peter Kirchberg Bei den in der DDR hergestellten Personenkraftwagen und Kleintransportern dienten ausschließlich Zweitaktmotoren als Antriebsaggregate. Den Vorteilen dieser Motoren, wie einfache Konstruktion und geringer Fertigungsaufwand, standen die Nachteile, wie hohe Schadstoffemission und Kraftstoffverbrauch gegenüber. Letztgenannte Eigenschaften erklärten, weswegen solche Motoren bei international vergleichbaren Personenkraftwagen etwa seit 1960 nicht mehr eingesetzt worden sind.151 Der zu hohe Kraftstoffverbrauch war in der DDR zunächst angesichts geringer Motorisierungsgrade und ebenfalls recht hoher Verbrauchswerte bei den in der DDR verfügbaren Viertakt-Ottomotoren toleriert worden. Besonders nach der erheblichen Verteuerung der flüssigen Kraftstoffe auf dem internationalen Markt im Zusammenhang mit der Energiekrise in den 70er Jahren drängte der DDR Ministerrat auch aus volkswirtschaftlicher Not zur drastischen Verbrauchsreduzierung. Seinen Ausdruck fand dies im staatlichen Forschungsauftrag an die Industrie „Kraftstoffsparende Antriebssysteme im Kraftfahrzeugbau“ vom 12. April 1978.152 Sowohl im Motorenwerk Karl-Marx-Stadt (Zweitakt-Ottomotoren für Trabant) als auch beim Automobilwerk Eisenach (Dreizylinder-Zweitakt-Otto-Motoren für Wartburg und B 1000) sind daraufhin zahlreiche Versuche zur Verbrauchssenkung angestellt worden. In Eisenach betraf dies vor allem und in erster Linie Arbeiten an einem neuen Zylinderkopf mit Halbkugelbrennraum, an Einlass-Membranventilen, an einer elektronischen Batteriezündanlage sowie an einer querschnittserweiterten 151 Zu den Zusammenhängen des Vorganges mit der Entwicklung des DDR Automobilbaus vgl. weiterreichende Ausführungen in Kirchberg, Peter: Plaste, Blech und Planwirtschaft – Die Geschichte des Automobilbaus in der DDR. Berlin 3. Auflage 2005. 152 Dieses Staatsplanthema bezog den Bereich mehrerer Ministerien ein. Es umfasste 15 Einzelthemen, die u. a. einen leichten Elektroantrieb, Alternativkraftstoffe und einen Pkw-Dieselmotor betrafen. Die Auftragserteilung ging vom Ministerium für Wissenschaft und Technik aus an die Partner in der Industrie.

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Ansauganlage mit Gemischvorwärmung und Registervergaser. Diese und zahlreiche andere Versuche an den Zweitaktmotoren bestätigten im Prinzip nur deren grundsätzliche Mängel, die sich nicht bzw. nur unter erheblichem Aufwand verringern oder beseitigen ließen. Danach hatte der Motor aber seinen Hauptvorteil – die Einfachheit – eingebüßt und kostete so viel wie ein Viertakter. Unabhängig von den DDR-internen Aspekten von Kraftstoffverbrauch und Umweltschutz erzwangen die ECE-Regelungen153 zur Schadstoff- und Geräuschemission entsprechende Maßnahmen in der Kraftfahrzeugindustrie, um die Einhaltung der vorgegebenen Normen nicht zuletzt auch aus Exportrücksichten sichern zu können. Am Ende der 70er Jahre wurde diese Antriebssituation vor allem dadurch sehr prekär, daß sich die Generalvertreter der westlichen Exportländer immer häufiger weigerten, Fahrzeuge mit Zweitaktmotor überhaupt abzunehmen. Sie drohten außerdem damit, bestehende Verträge zu stornieren, wenn der Wartburg 353 nicht umgehend mit einem modernen Antriebsaggregat ausgerüstet würde. Gestützt wurde diese Position auch durch die sozialistischen Exportländer CSSR und Ungarn, die sich dieser Meinung anschlossen. Es waren also sehr viele Gründe, die für einen anderen Motor als Antriebsquelle im Personenkraftwagen- und Transportersegment der DDR sprachen. Zunächst ist versucht worden, auf vorhandene und vor allem beschaffbare Motoren auszuweichen. So sind in Eisenach Versuche mit dem rumänischen Dacia-Motor154 im Wartburg 353 unternommen worden. Das Ergebnis bestand – abgesehen von der technisch gelungenen Transplantation mit recht zufriedenstellenden Fahrleistungen – vor allem in der Erkenntnis, dass der Investitionsaufwand für Änderungen am Fahrzeug zwecks Einbau des anderen Motors recht beträchtlich war. Darüber hinaus waren die Dacia-Werke in Rumänien weder willens noch in der Lage, im erforderlichen Umfang Motoren zu liefern, so dass man in Eisenach nur einen Teil der Autos mit diesem Viertakter, den restlichen aber weiterhin mit den Zweitaktmotoren hätte ausrüsten müssen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen erhielt AWE die Erlaubnis von Direktverbindungen zu Renault, um dort Möglichkeiten einer Übernahme des Motors zu prüfen. Die Beratungen zum technischen Bereich verliefen außerordentlich positiv. Der französische Automobilhersteller sicherte Lieferbereitschaft zu und in Eisenach sind Getriebeanpassungen ebenso wie Rahmenänderungen am Wartburg bereits vorbereitet worden. Prototypen hatten wiederum sehr 153 Die „Economic Commission for Europe“ vereinte seit 1953 Wirtschaftsorganisationen der UNO in Europa. In den 70er Jahren wurden auch die europäischen RGW-Staaten mit ihren entsprechenden Verwaltungsorganen Mitglieder, darunter am 13.12.1972 die DDR. Innerhalb der ECE arbeitete eine Kommission Kraftfahrzeugbau einheitliche Sicherheits- und Umweltvorschriften aus, die für alle Mitgliedsländer verbindlich waren und die die Grundlage für die Erteilung einer Betriebserlaubnis der in diesen Ländern gebauten Kraftfahrzeuge bieten sollten. 154 1968 ist im rumänischen Piteschti der erste Pkw in einem neuen Werk vom Band gelaufen. Die

Fabrik war mit direkter Hilfe der französischen Renault-Werke entstanden und auch die dort in die Fahrzeuge eingebauten Motoren beruhten auf einer Renault-Lizenz. 1969, kurz nachdem die Fertigung des Typs Renault R12 in Frankreich angelaufen war, begann auch in Rumänien die Produktion des Dacia 1300. Und um diesen Motor ging es bei den Versuchen in Eisenach. Dünnebier / Kittler: Personenkraftwagen sozialistischer Länder. Berlin 1990, S. 113.

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gute Versuchsergebnisse auf der Straße gebracht. Es war vorgesehen, von Renault jährlich 10.000 Motoren zu beziehen, die in Eisenach ausschließlich in solche Fahrzeuge eingebaut werden sollten, welche in den Export gingen. Der unterschriftsreife Vertrag ist in letzter Minute zurückgezogen worden, weil die staatliche Plankommission sich weigerte, angesichts der zunehmenden Devisenschwäche in der DDR eine solche Belastung zu übernehmen. Damit waren in Eisenach Ende 1981 zunächst alle Versuche gescheitert, das Antriebsproblem in den Griff zu bekommen. In dieser Situation entschlossen sich Werksdirektion und die Gruppe Motorenkonstruktion in Eisenach zu einer kurzfristig realisierbaren eigenständigen Lösung zumindest des Antriebsproblems beim Wartburg. Man stellte sich die Aufgabe, auf der Basis des derzeit produzierten Zweitaktmotors 353/1 einen Dreizylinder-Viertaktmotor zu entwickeln. Als problematisch an dieser Aktion konnte lediglich das bis dahin unbekannte Verhalten eines schnelllaufenden Dreizylinder-Viertaktmotors ohne Massenausgleichswelle hinsichtlich des Schwingungs- und Gleichförmigkeitsverhaltens gelten. Hierfür gab es auch keine nutzbaren internationalen Erfahrungen. Um das Projekt vor dem schon zu Beginn zu erwartenden Todesurteil wegen zu hoher Investitionen zu bewahren, entschloss man sich dazu, für den neuen Motor weitestgehend alle Bauteile zu übernehmen, die bereits bisher beim Zweitaktmotor genutzt wurden. Berechnungen und Versuche ergaben, daß für die Dreizylinder-Viertakt-Variante 88 % der vorhandenen Grundmittel genutzt werden konnten. Bedeutendsten Anteil an den Investitionen bezogen sich auf den Zylinderkopf, für dessen Fertigung es im alten Werk Eisenach keinen Platz mehr gab. Die Produktion war daher für den Neubaustandort in Eisenach West vorgesehen. Das Zylindervolumen des Motors sollte durch Aufbohrung, jedoch bei gleichem Zylinderabstand, auf einen Inhalt von 1.200 cm³ gebracht werden. Erhalten ohne bzw. nur mit geringen Änderungen blieben das Kurbelgehäuse, die Kurbelwelle einschließlich der Pleuellager und die Ansauganlage. Entwicklungsschwerpunkte waren daher die Motorelektronik, die Herstellung der Ölpumpe durch AWE selbst und die Notwendigkeit, für den neu entwickelten Zahnriemen einen Importpartner aus der Sowjetunion zu gewinnen. Als kritisch am Projekt galt vor allem die Unmöglichkeit, aus dem gleichen Motor eine Dieselvariante zu entwickeln, da hierfür der Kurbeltrieb zu schwach war. Außerdem ließ sich mit diesem Motor nur eine Lösung für den Wartburg, nicht aber für den Trabant ableiten. Zweifel gab es auch an der Bereitstellung der erforderlichen Motorteile durch die Zulieferindustrie, wie sie für Ventile, Pumpen usw. unumgänglich war. Der Motor, mit dem eine Kraftstoffeinsparung von 2,3 l auf 100 km als wichtigster Effekt erzielt werden sollte, war in seiner Entwicklung so weit gediehen, daß seine Serieneinführung für Januar 1985 vorgesehen war. Der Generaldirektor des IFA-Kombinates Pkw hat diese Entwicklung bestätigt und gleichzeitig angeordnet, daß die Untersuchung über den Einbau von Fremdmotoren sofort eingestellt werden sollte. Im Rahmen des bereits erwähnten Staatsplanthemas über kraftstoffsparende Antriebssysteme erhielt das wissenschaftlich-technische Zentrum des IFA-Kombinates Pkw den Auftrag einer Studie zur Entwicklung eines Pkw-Dieselmotors. Vor-

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gegeben waren folgende Ziele: Dreizylindermotor, 1.100 cm³ Hubraum, Nennleistung 29 kW, Wirbelkammerbrennverfahren mit Stahl- bzw. Keramikeinsatz. Diese Studie ist am 02. Februar 1979 vor einem Expertenkreis aus Vertretern der Industrie, der Technischen Universität Dresden, der Ingenieurhochschule Zwickau und der Ministerien für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau sowie Wissenschaft und Technik verteidigt und bestätigt worden. Das Pflichtenheft für den Motor lag im Oktober 1982 vor und bereits Ende 1983 wurde ein Pkw Trabant mit dem Dreizylindermotor fahrbereit vorgestellt. Mit diesem Fahrzeug sind 25.000 Erprobungskilometer ohne Beanstandung bei einem Durchschnittsverbrauch von 4,6 l pro 100 km zurückgelegt worden. Das Motorendilemma in der DDR beschränkte sich keinesfalls nur auf die Automobilindustrie und es trug auch nicht nur technisch-wirtschaftliche Züge. Die Unzufriedenheit mit dem permanenten Mangel auf allen Gebieten, ganz besonders aber auch mit dem in der Fahrzeugbereitstellung für die Bevölkerung, der sich u. a. in vieljährigen Wartezeiten ausdrückte, gewann immer mehr politische Dimension. Damit war auch klar, daß es eben nicht nur um einen anderen, besseren Motor, sondern auch um eine vielfach höhere Stückzahl ging. Die Automobilindustrie hatte seit langer Zeit entsprechende Vorschläge unterbreitet, war damit aber auf den unüberwindbaren Widerstand des Politbüros gestoßen, dessen vielschichtige Ursachen hier nicht untersucht werden sollen und der sich jedenfalls nicht nur auf die Person Günter Mittag reduzieren läßt. Und obwohl die sich seit Anfang der 80er Jahre immer mehr zuspitzende Situation immer unaufschiebbarer eine Lösung forderte, gingen die Weisungen des Politbüros und der daran gebundenen Regierung nicht über die eingangs geschilderten Maßnahmen hinaus. Mit anderen Worten: Alle Versuche zur Lösung des Antriebsproblems erschöpften sich auf die Einzelthemen im Rahmen des Staatsplanthemas „Kraftstoffsparende Antriebe“. Zur Steigerung der Pkw-Produktion hatte das Politbüro per Beschluß 1983 eine Fertigungsverlagerung von Baugruppen in branchenfremde Betriebe angewiesen. Dies galt auf gleiche Weise für die Zuführung der erforderlichen Arbeitskräfte. Allen Beteiligten war klar, dass dies keinesfalls ausreichte, um die anstehenden Probleme befriedigend zu lösen. Der Anstoß zur Änderung und das Angebot eines Ausweges kamen von westlicher Seite. Die Schlüsselfigur für die nun beginnende, mit dem Kurzbegriff „VWMotor“ bekannt gewordene Entwicklung im Pkw-Motorenbau der DDR war Dr. Carl Horst Hahn, seit 1982 Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG. Hahn hatte unmittelbar nach seiner Inthronisation in Wolfsburg eine Einladung seines CDU-Parteifreundes Walter Kiep zu einer gemeinsamen Fahrt nach Berlin angenommen. Kiep war für die CDU-Ostkontakte zuständig und unterhielt in dieser Funktion zahlreiche Kontakte auch zu Wirtschaftskreisen der DDR. Auf dem Berlin-Programm der beiden stand ein Besuch bei dem stellvertretenden Außenhandelsminister der DDR, Gerhard Beil. Dem unterbreitete Hahn bei dieser Gelegenheit das Angebot einer gebrauchten, aber auf dem neuesten Stand befindlichen Fertigungsstraße für Vierzylindermotoren (Alpha-Motoren) in der Größe 1,1 bis 1,3 l Hubraum. Die Bezahlung könne mit auf dieser Anlage gefertigten Motoren an VW erfolgen. Demontage und Wiederaufbau in Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz würde VW-

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seitig erfolgen und die Gesamtanlage fertigungsbereit an die DDR übergeben. Die Kapazität der Straße: 430.000 Motoren pro Jahr bei dreischichtiger Auslastung. Beil hat dieses Angebot sofort an das Sekretariat für Wirtschaft beim Politbüro (Büro Mittag) weitergereicht und erhielt von dort am 21.06.1983 die Freigabe einer Verhandlungskonzeption durch das Sekretariat des Politbüros grünes Licht zur Verhandlung. Diese begannen am 05. Juli d. J. und sind seitens der Volkswagen AG unter Leitung von Volkhardt Köhler, dem Konzernverantwortlichen für alle OstKontakte sowie seitens der DDR unter Leitung des zuständigen Export-Import-Betriebes von Vertretern des Pkw-Kombinates unter Leitung seines Generaldirektors Dieter Voigt geführt worden. Sie dauerten bis zum 08. November und hatten im Wesentlichen folgende Ergebnisse: Gegenstand war die im Motorenwerk Karl-Marx-Stadt/Chemnitz zu errichtende Fertigungsstraße für Alpha-Motoren in Gestalt eines Rumpfmotors mit Kurbeltrieb (Kurbelwelle, Pleuel, Kolben) Zylinderkurbelgehäuse Zylinderkopf mit Ventilsteuerung Blechteile (Ölwanne, Zylinderkopfhaube, Zylinderkurbelgehäuse, Entlüftung). Während VW die von da bezogenen Motoren durch Kaufteile komplettierte, mussten diese für die in der DDR verbleibenden Motoren von der Inlands-Zulieferindustrie hergestellt und nach Karl-Marx-Stadt/Chemnitz geliefert werden. Da die Motoren den gleichen Standard haben mussten, bedeutete dies für die DDR-Zulieferindustrie zwangsweise die Lizenznahme dafür sowie unumgängliche Ergänzungsinvestitionen in diesem Zweig, die praktisch alle aus Importmitteln finanziert werden mußten. Dies betraf Know-how und Ausrüstungsimporte für die Herstellung von Ventilen und Ventilfedern, Gleitlagern, Rollenketten, Kolben-, Druckund Motorgehäuseguss, hydraulische Ventilstößel, Zahnriemen und Zahnriemenräder, Zylinderkopfdichtungen, Kommutatormotoren, spezielle Dichtungen und Filtereinsätze. Dafür war 1983 ein Aufwand an Valutamitteln in Höhe von 160 Mio. Verrechnungseinheiten (VE) geschätzt worden. Als Preis, der an VW zu zahlen war, ist letztendlich die Summe von Brutto 345 Mio. VE vereinbart worden. Darin enthalten waren auch die fälligen Steuerzahlungen an das DDR-Finanzministerium und eine Pauschallizenz155 für die Motorenfertigung. VW lieferte dafür die gebrauchte Fertigungsanlage sowie deren Ergänzung durch neueste Bearbeitungsmaschinen, die Überholung und gegebenenfalls entsprechenden Umbau der Anlage, Demontage und Wiederaufbau sowie Werkzeuge, Ersatz- und Verschleißteile. Für die volle Vertragssumme vermittelte

155 Die Pauschallizenz umfasste das Fertigungs- und Produkt-Know-how für Alpha-Rumpfmoto-

ren und für die Dieselvariante sowie einen Zeichnungssatz für den Ottomotor. Die Fertigung durfte innerhalb der DDR nicht an Dritte übertragen werden. Das Pkw-Kombinat durfte den Motor im RGW-Rahmen vertreiben und die Ersatzteilversorgung dafür sicherstellen. NSWExporte des Motors bedurften der schriftlichen Genehmigung durch VW.

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VW eine Kreditlinie bestehend aus einem Valuta-Bankkredit und einem weiteren Bankkredit mit einer Laufzeit von sieben Jahren. Darüber hinaus wurde vertraglich festgelegt, mit der Verlagerung der Anlage im Januar 1986 zu beginnen, im Dezember des gleichen Jahres den Probelauf zu absolvieren und die Übergabe vorzunehmen. Für April 1987 war der Beginn der Motorenfertigung vorgesehen und die ersten Rücklieferungen an VW-Motoren sollten im Juli 1988 in Wolfsburg eintreffen. Die Refinanzierung des Projektes sollte in Form der Kompensation über Rückkäufe von Rumpfmotoren durch die Volkswagen AG mit jährlich 100.000 Motoren erfolgen. Das hieß, daß der Motor „tupfengenau“ wie die VW-Motoren zu bauen waren und dies bedeutete zugleich, daß man vornherein auf DDR-typische Ausweichlösungen zur Einsparung von Importmaterial zu verzichten hatte. Nachdem am 06. März 1984 SED Politbüro und DDR Ministerrat den Kauf der Anlage und seine Finanzierung beschlossen, diesem Akt damit quasi Gesetzeskraft verliehen hatten, folgte am 09. Oktober des gleichen Jahres der Beschluß des SED Politbüros „zur Realisierung der Motorenkonzeption für die Pkw Trabant und Wartburg nach Vorlage einer erstmaligen Erfassung der Investitionen auf der Grundlage einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“. Elf Monate nach Abschluß der Kaufverhandlungen besaß man also einen volkswirtschaftlichen Überblick über den Umfang der erforderlichen Aufwendungen. In dieser Zeit war klar geworden, dass keineswegs der Bau der Montagehallen in Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz und deren Ausstattung den Löwenanteil beanspruchten, sondern dass der auf die Zulieferindustrie entfiel. Die Gesamtinvestition war auf 4,8 Milliarden Mark zuzüglich 835 Mio. Valutamark berechnet worden, was mehr als dem 20fachen des Kaufpreises und dem 5fachen des beim Kauf geschätzten Valutamarkbedarfs bedeutete. Mit diesem Beschluß verbunden war der Entwicklungsstop in Eisenach und Karl-MarxStadt/Chemnitz für alle dort in Arbeit befindlichen Dreizylinder-Otto- und -Dieselmotoren. Das gesamte Entwicklungspotential war nun der Aneignung des VW-Motors unterzuordnen. Diese neuen Alpha-Motoren sollten in drei Varianten hergestellt werden, die den in der DDR produzierten Fahrzeugtypen entsprachen: Für Wartburg, Barkas und Trabant.156 Die Konstruktionsabteilungen in den Fahrzeugwerken für Wartburg, Barkas und Trabant in Eisenach, Zwickau und Karl-Marx-Stadt/Chemnitz hatten ihre gesamte Kraft auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Damit diese besondere Zielorientierung eingehalten wurde, waren zur Vermeidung von naheliegenden konstruktiven Eigenwegen disziplinierende Politbürobeschlüsse ergangen, wonach grundsätzlich keine Änderungen an den Fahrzeugen mehr erlaubt waren und nur noch konstruktive Anpassungsarbeiten möglich sein sollten. Im Klartext hieß das, dass Eisenach den Längseinbau des Motors wie im Wartburg so auch beim 156 Die Typbezeichnung BM 860 (Barkas Motor 860) galt für den quer eingebauten 1.3 l-Motor

für den Pkw Wartburg. Die Codierung BM 820 (Barkas Motor 820) war für den ebenfalls quer eingebauten 1.05 l-Motor im Pkw Trabant vorgesehen, während die Typbezeichnung BM 880 (Barkas Motor 880) für den längs eingebauten 1.3 l-Motor im Kleintransporter B 1000-1 gelten sollte.

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VW-Motor beizubehalten hatte. Zur unumgänglichen Änderung für den Quereinbau war wiederum erst die Erlaubnis durch einen Politbürobeschluss einzuholen. Dies geschah auch prompt: Per 27. Januar 1987 entschied das höchste Parteigremium, den Quereinbau des Viertakt-Ottomotors von Volkswagen in den Wartburg zu genehmigen. Aber nicht nur die betrieblichen Konstruktionsbüros als Hauptträger der Fahrzeugentwicklung in den Werken wurden durch allerhöchste Weisung ausschließlich auf die Adaption des VW-Motors orientiert, sondern auch die zentrale Einrichtung für Forschung und Entwicklung des gesamten DDR Automobilbaus, das Wissenschaftlich-Technische Zentrum (WTZ). Während aber in den Betrieben durch die notwendigen Anpassungsarbeiten der Fahrzeuge an den Motor die Mitarbeiter maßgeblichen Anteil an der Bewältigung des Gesamtprojektes hatten, erwies sich das WTZ in seiner Aufgabenstellung und Struktur als nur bedingt für die VW-Adaption geeignet. Dieser hatte sich alles unterzuordnen – parallele oder anderen Zielstellungen dienende Forschungen und Entwicklungen durfte es nicht mehr geben. Zwar wäre das WTZ mit seinen Leistungsstärken zur Forschung und Entwicklung, für Rationalisierungsmittel- und Sondermaschinenbau sowie für Projektierungsarbeiten durchaus in der Lage gewesen, generelle Aufgaben im Zusammenhang mit dem Motorenprojekt zu übernehmen. Nur – solche Aufgaben gab es nicht. Die WTZrelevanten technischen und technologischen Probleme waren beim VW-Motor bereits gelöst. Für die Bewältigung und Beherrschung der komplizierten und äußerst umfangreichen, auf 10 Industrieministerien, 44 Kombinate und 180 Betriebe verteilten Aufgaben besaß das WTZ nicht die Kompetenz. Seine Mitarbeiter hingegen stellten mit ihren Erfahrungen und ihrem Fachwissen ein unverzichtbares Potential dar für die Bewältigung des Motorenprojektes. Die Konsequenz war klar und wurde rasch vollzogen: mit Wirkung vom 30. Juni 1984 wurde das WTZ aufgelöst, sein Direktor zum Stellvertreter des Generaldirektors des Pkw-Kombinates mit der ausschließlichen Aufgabe ernannt, das Management der Sonderaufgabe „Antriebsaggregat“ zu meistern. Damit war das Forschungs- und Entwicklungspotential des Automobilbaus der DDR als selbständige organisatorische Einheit praktisch zerschlagen. Dem Anlass nach wurde es geopfert zu Gunsten der Lösung brennender Tagesfragen. Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß seine Existenz vor allem gebunden war an den Sondermaschinenbau, der DDR-spezifische Mängel zu überbrücken hatte. Zumindest für den Pkw- und Transportermotorenbau fiel diese Aufgabe mit der engen Kopplung an VW und damit den verbundenen West-Importen zunächst weg. Außerdem gehörte es zu den notorischen Erfahrungen der fahrzeugtechnischen WTZLösungen, dass sie entweder gar nicht oder unter langen und unendlichen Qualen in die Fertigung übernommen werden konnten. Letztendlich erwies sich wie bereits in den 50er Jahren ein Entwicklungszentrum für die DDR Automobilindustrie zwar als durchaus nützlich, aber nicht als notwendig. Die aussichtsreichsten Kämpfe um den technischen Fortschritt mussten vor Ort geführt werden, dort versprachen sie noch am ehesten Erfolg. Besonders eindrucksvoll kann man das am Beispiel der DDR Zulieferer in den 80er Jahren verfolgen. Darauf soll hier am Beispiel des Motorenwerkes Nordhausen eingegangen werden.

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Vorausgeschickt werden muß, dass die Zulieferindustrie mit nur sehr wenig Ausnahmen über keinerlei eigenes Entwicklungspotential verfügte und auch im Selbstverständnis eher der verlängerten Werkbank der Finalisten entsprach. Letztere hatten u. a. dafür – fast genauso wie für die eigenen Betriebe – zu sorgen, dass die erforderlichen Investitionen für Bau und Ausrüstung sowie die Zuweisung der notwendigen Arbeitskräfte erfolgte. Sehr wenige Zulieferer boten den Endherstellern von sich aus selbst entwickelte neue Bauteile oder Baugruppen an. Besonders kompliziert wurde die Lage, wenn vom Fahrzeughersteller für ein neues Fahrzeug ein neu zu entwickelndes Bauteil gefordert wurde, wofür es noch keinen zuständigen Produzenten gab. Dann wurde durch die VVB Automobilbau und das zuständige Ministerium ein Verantwortlicher festgelegt, der für die Bereitstellung dieses Teiles verantwortlich gemacht wurde. Da die Zulieferer hierfür nun zwar die Bürde, aber nicht auch die dazu erforderlichen Voraussetzungen zugewiesen bekamen, wehrten sie sich gegen die neuen Teile wie der Teufel gegen das Weihwasser. Daraus erklärt sich in erster Linie die Neuerungsfeindlichkeit in der DDR Zuliefererindustrie für den Kraftfahrzeugbau. Hinzu kam, dass für bestimmte Teile und Baugruppen keinerlei Voraussetzungen im Hinblick auf notwendige Rohstoffe und Fertigungsanlagen bestanden. Dies betraf beispielsweise Tassenstößel und Dreistofflagerschalen. Neu an der Einführung des VW-Motors war vor allem, daß nun hierfür Valutamittel bereitgestellt wurden und die Neuerungsfeindlichkeit in der Zulieferindustrie dadurch überwunden werden konnte, dass man diesen Betrieben neue Anlagen aus West-Importen zusagen konnte. Das Motorenwerk in Nordhausen war im engeren Sinne kein Zulieferer, sondern das Zentrum des DDR Dieselmotorenbaus. Seit 1965 sind dort bis zur Wende 1989 weit über 1 Mio. Dieselmotoren mit einer installierten Leistung von 4,3 Mio. kW hergestellt worden. Die DDR verfügte im Nordhäuser Betrieb über hochmoderne Fertigungsanlagen mit besseren, produktiveren, sogar flexibleren Ausrüstungen – besonders bei Taktstraßen, Sondermaschinen, der Motorenmontage, den Prüfständen und beim Hochregallager – als im Lkw-Motorenwerk Mannheim der Mercedes-Benz AG. Dennoch geriet auch das Nordhäuser Werk in den Sog, der von der Übernahme des VW-Motors ausging. Am 28. März 1984 erhielt der Betrieb den Auftrag, die für die Realisierung des VW-Projektes erforderlichen Ein- und Auslassventile in der Größenordnung von je 2 Mio. Stück zu übernehmen. VW hatte in Salzgitter eine eigene Ventilproduktion unterhalten, war jedoch dort an der Herstellung des Auslassventils gescheitert. Diese bezog man für den Eigenbedarf von TRW Thompson. Der VW-seitige Versuch, dem DDR-Betrieb das Know-how von Thompson zugängig zu machen ist aus politischen Gründen gescheitert. Die USA-Behörden – dort lag der Stammsitz des Unternehmens – erteilten dafür keine Ausfuhrgenehmigung. Demzufolge wurde der Auftrag entsprechend international ausgeschrieben und schließlich von der Aschaffenburger Firma Modler 157 realisiert.

157 Plaste, Blech, a. a. O., Seite 660.

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Die Fertigung thermisch und mechanisch sehr hoch beanspruchter Pkw-Ventile erfordert eine Vielzahl brisanter Fertigungstechniken und Maschinen, wie beispielsweise parametergesteuerte Reibschweißmaschinen für bestimmte Ventilstähle, Elektrostauchen und -schmieden, mehrfache Warmbehandlung im verketteten Fertigungsfluß, viele Genauschleifoperationen, die hundertprozentige Biegeumlaufprüfung sowie eine vollständig automatisierte Fertigmaßkontrolle. Arbeitstäglich waren in Nordhausen 8.000 Ein- und 8.000 Auslassventile als Gutteile herzustellen, was einer Taktzeit von 7,5 Sekunden entsprach. Nach Beginn des Probelaufs wurden von der VW-Inspektion die ersten beiden Labormuster nicht bestätigt, woraufhin zusätzliche Fertigungseinrichtungen installiert werden mussten. Im August 1988 ist bei der dritten Labormusterprüfung für die Ventilfertigung in Nordhausen von der VW-Inspektion ein Zertifikat über 95 von 100 möglichen Punkten erteilt worden. Das war bei weitem das beste Ergebnis von über 20 überprüften DDR-Betrieben durch diese Inspektion. Insofern war das Beispiel Nordhausen DDR-untypisch, weil hier in der Gefolge des hochentwickelten Motorenbaus und der entsprechenden modernen Fertigung ein außerordentlich leistungsstarkes Forschungs- und Versuchspotential bestand, das sich mit diesen Problemen nicht nur auseinandersetzen, sondern auch Lösungen dafür erarbeiten konnte. Wie im hier geschilderten Beispiel sind alle Baumuster, alle Lieferanten und alle Erstmuster durch die entsprechenden VW-Institutionen geprüft und abgenommen oder zurückgewiesen worden.158 Ein hier nicht zu erörternder, aber hochinteressanter Vorgang war die volkswirtschaftliche Integration des VW-Motors in die DDR Automobilindustrie. Das zunächst vom Kaufpreis her keineswegs zu den großen Importanschaffungen gehörende Projekt krempelte innerhalb sehr kurzer Zeit nicht nur den Industriezweig um, sondern durchzog wellenförmig große Teile der Verarbeitungsindustrie in der DDR. Gerade die explodierende Höhe der erforderlichen Nachfolgeinvestitionen und schließlich der Gesamtkosten auf über sieben Milliarden Mark zeigt deutlich, wie weit man hier hinter dem „Weltstand“ her war. Aufschlussreich war auch die Art und Weise, in der die zentralistische Planwirtschaft ein solches „intersektionäres“ Vorhaben bewältigte. Führungsstäbe mit weitreichenden Vollmachten, deren 158 Die Lieferung der Rumpfmotoren setzte die Freigabe der Motoren und ihrer Einzelteile durch die Volkswagen AG voraus. Das dabei angewandte Verfahren entsprach den üblichen Prozeduren und beruhte auf den Empfehlungen des Verbandes der Automobilindustrie. Die Baumustergenehmigung umfasste Labor- und Funktionsprüfungen. Dazu waren 25 Rumpfmotoren anzuliefern, die bis in alle Einzelheiten auf mögliche Abweichungen hin untersucht wurden. Im Ergebnis der Funktionsprüfung erfolgte die Baumustergenehmigung durch die Abteilung Technische Entwicklung der VW AG. Der Außendienst des Unternehmens führte gleichzeitig eine Lieferantenbewertung durch, die dem Nachweis zu dienen hatte, dass der Lieferbetrieb mit seinen Qualitätssicherungssystemen in der Lage war, stabil und fehlerfrei mustergerechte Teile zu liefern. Diese Bewertung wurde durch die Inspektion des IFA-Kombinates Pkw gemeinsam mit dem Außendienst der Volkswagen AG durchgeführt, wobei Letzterer das Entscheidungsrecht besaß. Die Bestätigung der Qualitätsfähigkeit war unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung der Erstmusterprüfung an den Lieferteilen des betreffenden Betriebes. Diese Erstmusterfreigabe erfolgte ebenfalls ausschließlich durch die Qualitätssicherung der Volkswagen AG.

708

auf Weisung und Gehorchen aufgebaute Funktion sowie der weitgehende Verzicht auf wirtschaftliche bzw. technische Selbstregulierung kennzeichnen dieses ad hoc aufgebaute System. Zuoberst stand der Führungsstab des ZK der SED (Parteistab), der auf diese Weise sinnfällig die führende Rolle der Partei unter Beweis zu stellen hatte. Ihm untergeordnet arbeiteten die Führungsstäbe des Ministeriums für Allgemeinen Landwirtschaftsmaschinen- und Fahrzeugbau (MALF) mit dem Führungsstab „Fahrzeugbau“ und einer stabsmäßig geführten interministeriellen Arbeitsgruppe, darunter wiederum der Stab des Generaldirektors des IFA-Kombinat Pkw. Darunter waren der Stab der Betriebsdirektoren aller beteiligten Kombinatsbetriebe sowie der Stab der Generaldirektoren aller Zulieferbetriebe angesiedelt. Als Finalhersteller für den Rumpfmotor war der VEB Barkas-Werke KarlMarx-Stadt / Chemnitz und für den Zylinderkopf der VEB Automobilwerk Eisenach festgelegt worden. Am 31. August 1988 ist – nach wiederholten, vertraglich mit VW abgesicherten – Terminverschiebungen die Produktionsanlage für AlphaMotoren in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz durch den Vorstandsvorsitzenden von VW, Dr. Carl Hahn, übergeben worden. Zur Leipziger Herbstmesse im gleichen Jahr stellte AWE den Wartburg 1.3 mit dem neuen modernen Triebwerk vor. Am 21. Mai 1990 begann in Zwickau die Serienfertigung des Trabant mit dem analog entstandenen 1.1 l-Motor. Immerhin war aber offenkundig: Es blieben die alten Fahrzeuge, deren Herzstück nun allerdings von einem modernen Motor bestimmt worden ist. Insofern läßt sich schon bestätigen, daß es offensichtlich mit dem Transfer der Volkswagentechnologie innerhalb von vier Jahren gelungen war, der DDR Automobilindustrie den Anschluss an das internationale Niveau im Motorenbau zu vermitteln. Unübersehbar und wiederum DDR-typisch blieb jedoch, daß sich dieser Neuerungsprozess ausschließlich auf den Motor und eben nicht auf das gesamte Fahrzeug erstreckte. Auf jeden Fall musste dieser „Importlösung“ eines hausgemachten DDR Problems aber bezahlt werden mit dem Verlust des eigenständigen Entwicklungspotenzials, für das es nunmehr auf absehbare Zeit keine Möglichkeit mehr gab, finanzielle Mittel, Arbeitskräfte oder gar strukturelle Selbständigkeit zu binden und zu bewahren. In konsequenter Fortführung dieser zu DDR Zeiten begonnenen Restriktion hat nach der Wende Opel in Eisenach darauf verzichtet, dort die Kapazitäten für Entwicklung, Konstruktion und Versuch weiter vorzuhalten. In Zwickau wäre ein ähnliches Schicksal unausweichlich gewesen, wenn das Konstruktionsbüro bei der Konkursmasse des VEB Sachsenring verblieben wäre. In bemerkenswerter Weitsicht wurde aber diese Einrichtung ausgegründet und 1992 als Fahrzeugentwicklung Sachsen (FES) GmbH neu etabliert. Begann man mit ca. 120 Mitarbeitern des vormaligen Trabant Konstruktionsbüros, so wurden daraus bis 2003 ca. 600 Arbeitsfelder des Unternehmens sind Entwicklung und Konstruktion, Versuchsbau, Versuch und Prüffeld, technische Dokumentation und Qualitätssicherung. Unter den Auftraggebern findet sich nahezu die gesamte deutsche Automobilindustrie.

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5. Das Scheitern der sozialistischen Zentralplanwirtschaft an der Basisinnovation Informationstechnik 5.1. Die Basisinnovation Informationstechnik in marktwirtschaftlichen Ländern „Wer diese Basisinnovation mit ihren Anwendungen nicht beherrscht, hat in den Hochtechnologiemärkten des 20. Und 21. Jahrhunderts keine Chance“.159 Nikolai D. Kondratieff (1892-1938) begründete die Theorie der langen Wellen. „Bei seinen Konjunkturforschungen zwischen 1919 und 1921 fand er heraus, daß es außer kurzen, bis zu drei Jahre langen und mittleren, bis zu elf Jahre dauernden Zyklen auch lange Konjunkturwellen mit einer Durchschnittslänge von 4060 Jahren gibt. 1926 veröffentlichte er – zu dieser Zeit war er Direktor des Moskauer Instituts für Konjunkturforschung – seine Erkenntnisse im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“.160 In diesem Artikel zeigte er auf, daß die wirtschaftliche Entwicklung in den Industrieländern seit Ende des 18. Jahrhunderts durch drei große Auf- und Abschwungwellen bestimmt wurde. Obwohl Kondratieff ein Kommunist der ersten Stunde war, wurde ihm sein Engagement für die Erhaltung marktwirtschaftlicher Strukturen in der russischen Landwirtschaft zum Verhängnis. Während der stalinistischen Diktatur wurde er 1930 wegen angeblicher antikommunistischer Agitationen verhaftet, am 17.3.1938 zum Tode verurteilt und erschossen“.161 Kondratieff hatte ein Fundamentalwerk „Basisgrundlagen der wirtschaftlichen Dynamik und Statik“ geplant.162 Weitere Forschungen zeigten, „daß der Kondratieffzyklus kein rein ökonomisches, sondern ein soziales Phänomen ist. Heute gilt die Theorie der langen Wellen als die einzige wissenschaftliche Theorie, mit der der Strukturwandel ganzheitlich thematisiert werden kann“.163 Mit der neueren Theorie der langen Wellen seit den 1970er und 1980er Jahren lag ein Konzept vor, das sowohl ein genaueres Verständnis der marktwirtschaftlichen Entwicklung als auch die Analyse, Prognose und Gestaltung des gesamt159 Nefiodow, Leo A.: Der sechste Kondratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information, 2. Aufl., Sankt Augustin 1997, S. 16. 160 Kondratieff, Nikolai D.: Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 56, 1926, S. 573-609. 161 Nefiodow, der sechste Kondratieff, S. 192: „Joseph A. Schumpeter hat die Kondratieffschen Erkenntnisse aufgegriffen und in seinem Buch Konjunkturzyklen weitergeführt. Er prägte auch den Begriff Kondratieffzyklus“. Viele andere Forscher, unter ihnen die Nobelpreisträger Simon Kuznets und Jan Tinbergen, haben die wissenschaftlichen Grundlagen verbreitet. In den 1970er und 1980er Jahren waren die Arbeiten der Science Policy Research Unit (SPRU) an der Universität Sussex (GB) und am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg, Österreich, richtungsweisend. 162 Kondratieff, N. D.: Osnovnje Prnizipy Ekonomitscheskoi Dinamiki i Statiki, in: Kondratieff, N. D.: Isbrannye Sotschinenija, Moskau 2003. 163 Nefiodow, Leo A.: Der sechste Kondratieff, S. 192.

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gesellschaftlichen Wandels ermöglichte. […] Eine der besonderen Stärken der Theorie der langen Wellen besteht darin, daß sie einen ganzheitlichen Zugang zu den Problemen der Zeit ermöglicht. Im Grunde ist sie die einzige wissenschaftliche Theorie, mit der die Wechselwirkungen zwischen der technologischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung überzeugend erklärt werden können. Die Möglichkeit, den Strukturwandel ganzheitlich thematisieren zu können, ist gerade heute ein wichtiges Anliegen in Wirtschaft und Politik. Wir erkennen immer deutlicher, daß die Gesellschaft etwas Ganzheitliches ist und daß viele ihrer Probleme unlösbar bleiben, wenn sie nur innerhalb der Grenzen der Spezialdisziplinen behandelt werden“.164 Die Informationstechnik ist jene Technik, die es ermöglicht, Informationen zu erfassen, zu speichern, zu übermitteln, zu bearbeiten und zu präsentieren, kurz: mit Informationen umzugehen. Die Mikroelektronik ist genau genommen als ein Teil der Computertechnologie anzusehen. Nur Länder mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung schafften den Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft.165

164 Ebd., S. 2. 165 Ebd., S. 24.

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Industriegesellschaft

Informationsgesellschaft

(Erster bis Vierter Kondratieff)

(ab Fünften Kondratieff)

Voraussetzung: Produktiver Umgang mit Energie; herausragende Stellung der „Hardware“ (Rohstoffe, technische Geräte, Stoffumwandlungsprozesse, Maschinen und Anlagen).

Voraussetzung: Produktiver Umgang mit Information; herausragende Stellung der „Software“ (Wissen, Wahrnehmungen, Strategien, Programme, Empfindungen, Ideen, Werte, Glaubensvorstellungen).

1

Herausragende Stellung von Fabrik, Güterversorgung und –transport. Nachfrage vorrangig auf materiellen Konsum ausgerichtet.

Herausragende Stellung der Informationsbetriebe, Informationstechnik und Kommunikationsnetze. Nachfrage verlagert sich auf informationelle Produkte und Dienste (Beratung, Unterhaltung).

2

Investitionen vorrangig in Maschinen, Anlagen und Bauten (Hardware-Kapital).

Investitionen vorrangig in informationstechnische Systeme und Anwendungen, Infrastruktur sowie Aus- und Weiterbildung (SoftwareKapital).

3

Zentrale, hierarchische Führungsstrukturen und Denkmuster. Entscheidung vorwiegend durch Weisung. Ausgebautes Kontrollwesen.

Abflachung von Hierarchien und autoritärem Denken. Dezentralisierte und demokratisierte Entscheidungsfindung (Mehrheitsentscheidung, Kompromiß und Konsens).

4

Beschränkte Informierung und Beteiligung der Beschäftigten. Eingeengter Informationshorizont (vorwiegend vertikaler Informationsfluß), Machtbetonter Umgang mit Informationen.

Intensiver Informationsaustausch auf allen Ebenen innerhalb und zwischen Institutionen. Ausbau des Informationsmanagements.

5

Arbeitsteilung und Spezialisierung (Taylorismus). Sequentielle Arbeitserledigung.

Arbeitsintegration (Mischarbeitsplätze, Gruppenarbeit und Interdisziplinarität).

6

Mehrzahl der Beschäftigten sind Arbeiter. Handwerkliche Fähigkeiten und Muskelkraft gefragt.

Mehrzahl der Beschäftigten sind Kopfarbeiter („Brainware“). Gefragt sind theoretische und praktische Kenntnisse sowie soziale Kompetenz.

7

Bedarf an billigen, gehorsamen und austauschbaren Arbeitskräften. Mitarbeiter ist Befehlsempfänger.

Bedarf an engagierten, gut informierten, loyalen, selbständigen und kreativen Mitarbeitern.

11

Herausragende Bedeutung der Produktivität von Einzelpersonen (Führungskräfte, hochqualifizierte Spezialisten) und Maschinen.

Herausragende Bedeutung der Kreativität, Flexibilität und Produktivität von Gruppen.

Der typische Betrieb in der Industriewirtschaft war hierarchisch organisiert. Der Strukturwandel hin zu Informationsberufen wurde durch große Fortschritte in der Arbeitsorganisation beschleunigt. „Neue IT-gestützte Führungs- und Organisationskonzepte wie Just-in-Time, Total Quality Management, Gruppenarbeit, Profitcentern, Lean Management, Business Reengineering, Workflow Systeme schaffen die Voraussetzung, um unproduktive oder überflüssige Arbeitsabläufe, Leerlauf, Warte- und Liegezeiten zu erkennen und zu beseitigen. Die neuen Prinzipien erfolgreicher Organisation heißen Enthierarchisierung, Dezentralisierung, Kooperation, Kommunikation, Ausrichtung auf Kundenbedürfnisse. Dank ihrer guten Ausbildung und ihrer Erfahrung sind viele Mitarbeiter auf ihrem Arbeitsgebiet kompetenter als ihre Vorgesetzten, das fachliche Weisungsrecht wie auch die

712

Kontrolle der Ergebnisse verlieren teilweise ihren Sinn. Immer mehr Unternehmen ziehen daraus die Konsequenzen und verringern die Zahl ihrer Hierarchiestufen (Porsche, Mercedes-Benz und IBM Deutschland beispielsweise haben zwei Führungsebenen ersatzlos gestrichen). In der Informationswirtschaft ändern sich die Anforderungen an die Berufswelt radikal. Der größte Teil der Arbeit findet nicht mehr in Produktionshallen statt, sondern in Büros, Konferenzräumen, Heimarbeitsplätzen, auf Messen und Tagungen, unterwegs im Flugzeug, in der Bahn, im Hotel oder im Auto. Nicht die Herstellung materieller Waren, sondern die Erzeugung, Aufbewahrung, Verarbeitung, Übermittlung, der Austausch, Verkauf und die Vernichtung von Informationen sowie der Aufbau der zugehörigen Kommunikationsinfrastruktur wird zum größten Arbeitsmarkt. Der Kopf- bzw. Informationsarbeiter wird zum größten Einzelberuf“.166 Die Entwicklung der Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland

Quelle: Dr. Werner Dostal (IAB), Nürnberg, und eigene Berechnungen.

„Durch den Abbau der Hierarchiestufen kommt es zu flacheren Organisationen, wodurch die Verantwortung von oben nach unten verlagert wird. Das Ziel dabei ist, die Begabung möglichst vieler Mitarbeiter für das Unternehmen freizusetzen. Neben den vertikalen Informationsströmen kann nun ein intensiver horizontaler Informationsaustausch über Organisationsgrenzen hinweg stattfinden. Eine direkte Konsequenz dieser Veränderungen ist, daß Arbeit und Verantwortung zunehmend an Teams delegiert werden und die Angehörigen eines Teams zu intensiven Interaktionen zwingt. Kommunikation und Kooperation werden in der Informationsgesellschaft zu strategischen Waffen. Für die Mitarbeiter ergeben sich daraus Mitwirkungsmöglichkeiten verschiedener Reichweite (Anhörung, Abstimmung, Mitbestimmung). 166 Ebd., S. 26.

713

Jegliches Aufbäumen gegen diesen Trend ist zwecklos. Für eine Kommunikation und Kooperation sowohl innerhalb des Betriebes wie auch zu Kunden, Lieferanten und externen Partnern stehen immer mehr und immer bessere Mittel zur Verfügung: elektronische Postdienste, Faxgeräte, Videokonferenzsysteme, Satellitennetze, Local, Metropolitan und Wide Area Networks, ISDN, Datenautobahnen wie das Internet usw. Auch kleine Unternehmen erhalten über weltweit eingeführte Netze die Chance, mit vertretbarem Aufwand auf dem Weltmarkt anzubieten“.167 Unterschiedliche betriebliche Informationsflüsse und Organisationsgrundsätze

Die Struktur der Basisinnovationen:168 Technologisch betrachtet bestanden Basisinnovationen bisher aus drei Komponenten: 1. Einem Kern, der von einer Maschine, einem Werkstoff oder einer Technologie gebildet wurde. Der technologische Kern ist die praktische Anwendung eines allgemeingültigen Naturgesetzes. Die Dampfmaschine z. B. als Kern des ersten Kondratieffzyklus hat die Gesetze der Thermodynamik verwirklicht; das Elektrodynamo-Prinzip war und ist die Grundlage der gesamten 167 Ebd., S. 26-28. 168 Ebd., S. 208 f.

714

Elektrotechnik. Die Chemie im dritten Kondratieff basiert auf den Erkenntnissen des Aufbaus der Materie, wie sie die Quantentheorie vermittelt hat, und der digitale Computer als Kern des fünften Kondratieff verwirklicht ein Gesetz, für das es noch keinen Namen gibt, das im folgenden als das RussellWhitehead-Gesetz bezeichnet werden soll. 2. Aus einem Bündel neuer Technologien, die aus dem Kern hervorgingen. Neu im fünften Kondratieff waren z. B. die Mikroelektronik, die Softwaretechnologie und verschiedene Speicher- und Gerätetechnologien (Magnetplattenspeicher, Halbleiterspeicher, Tintenstrahldrucker, Laserdrucker usw.). 3. Aus einem Bündel älterer Technologien, die durch den Kern und den neuen Technologien beeinflußt und so transformiert wurden, daß sie gemeinsam mit ihnen ein eng gekoppeltes Technologiesystem bilden. So wurde z. B. die analoge Nachrichtentechnik durch die Übernahme der digitalen Computertechnik in Informationstechnik verwandelt. Die neuen Technologien, die aus dem Kern hervorgehen, haben eine doppelte Wirkung: Sie führen einerseits zur Entstehung eines großen neuen Marktes, andererseits werden sie in älteren Branchen angewandt und induzierten dort zahlreiche Innovationen. Technologischer Kern, neue und modernisierte ältere Technologien bilden die Basisinnovation. Die gegenseitige Befruchtung und die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen den Gliedern der Basisinnovation und dem gesellschaftlichen Umfeld führen zur Entwicklung zahlreicher neuer Produkte, neuer Dienstleistungen, neuer oder verbesserter Produktionsverfahren sowie zu weitreichenden organisatorischen, sozialen und mentalen Veränderungen. Die Bedeutung einer Basisinnovation erschöpft sich somit nicht darin, einen großen neuen Markt zu schaffen. Das Gewicht dieses neuen Marktes und das Gewicht der von der Basisinnovation ausgehenden Modernisierungsimpulse bewirken eine weitgehende Reorganisation der Gesellschaft, und dieser gesamte Prozeß – von der Entstehung des technologischen Kerns bis zur Reorganisation der Gesellschaft – stellt den Kondratieffzyklus dar.

715

Neuerungen, die durch die Anwendung der Informationstechnik in älteren Branchen entstanden sind 169

Definition eines Kondratieffzyklus am Beispiel des fünften Kondratieff Die Struktur von Basisinnovationen

Im oberen Teil der Abbildung befindet sich ein bisher nur kurz erwähntes Kästchen („Naturgesetz), das zwar nicht zum Kondratieffzyklus gehört, aber die Voraussetzung seiner Entstehung ist. Was ist damit im fünften Kondratieff gemeint? Schon im letzten Jahrhundert gab es in der Mathematik eine intensive Diskussion über die Frage, ob man nicht Mathematik auf Logik zurückführen könne. Hierzu haben Gottlob Frege, George Boole und andere Mathematiker wichtige Vorarbeiten geleistet. Anfang dieses Jahrhunderts haben zwei englische Mathematiker und Philosophen, Bertrand Russell und Alfred Whitehead, in ihrem Buch Principia Mathematica bewiesen, daß die gesamte Mathematik in der Tat auf Logik zurückgeführt werden kann – nämlich auf drei logische Grundoperationen: logisches UND, logisches ODER und Negation. Das heißt: Die gesamte Welt der Mathematik und alles, was sich mit Mathematik beschreiben läßt, kann durch Reduktion auf diese drei Operationen zurückgeführt werden. Inzwischen wurde erkannt, daß sich mit diesen drei Grundoperationen nicht nur die gesamte Mathematik, sondern alles abbilden läßt, was formal beschreibbar in der Welt ist. Einem Mathematiker ist inzwischen das Kunststück gelungen, diese drei Operatoren zu einem einzigen zusammenzufassen, dem sogenannten Shefferschen 169 Ebd. S. 209 f.

716

Strich. Das heißt: Die gesamte Welt, die sich formal beschreiben läßt, kann mit einem Netz abgebildet werden, das aus einer einzigen logischen Operation besteht! Da sagen manche Leute, wir würden in einer undurchschaubaren Welt leben […] Der digitale Computer ist die technische Verwirklichung des Russell-Whitehead-Gesetz. Auf seiner untersten Ebene besteht er aus einem riesigen Netz von UND-, ODER und Negation-Schaltungen. Daß der Computer inzwischen in nahezu alle Bereiche des Lebens eingedrungen ist, ist darauf zurückzuführen, daß das Russell-Whitehead-Gesetz eine so umfassende Gültigkeit besitzt. Je größer die Leistung eines Computers, um so größere Bereiche der mit Sprachen beschreibbaren Welt lassen sich mit ihm bearbeiten. Und weil der Kondratieffzyklus die gesellschaftliche Verwirklichung eines allgemeingültigen Naturgesetzes ist, ist er eine ganzheitliche Erscheinung, die sich – einmal angestoßen – mit Notwendigkeit entfaltet. Auch Kriege und Katastrophen können ihn nur vorübergehend unterbrechen, aber nicht aufhalten. Von materiellen zu immateriellen Innovationen 170 Im fünften Kondratieff spielt die Hardware in Form der modernen Informationstechnik noch eine zentrale Rolle, aber bei der Anwendung dieser Technologie rückt erstmals eine immaterielle Größe – Informationen – in den Mittelpunkt. Dieser Trend – Reorganisation der Gesellschaft hin zur kreativen und produktiven Verwertung von Informationen – wird sich weiter verstärken, so daß der Umgang mit immateriellen Gütern auch im 21. Jahrhundert richtungsweisend für den Strukturwandel sein wird. Das heißt zugleich, daß der Kern zukünftiger Basisinnovationen nicht – wie bisher – eine Maschine, ein energetisches Prinzip oder eine Hardware-Technologie sein muß. Schon in der dritten Phase des fünften Kondratieff konnte man feststellen, daß sich der Schwerpunkt des Innovationsgeschehens von Hardware zu Software zu den Inhalten verlagert hat. Dieser Trend wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Daher kann man davon ausgehen, daß der Kern zukünftiger Basisinnovationen zumindest teilweise aus immateriellen Innovationen bestehen wird. Die Basisinnovation des sechsten Kondratieff dürfte aus einer Kombination von physischen und psychischen Neuerungen bestehen.

170 Ebd., S. 212 f.

717

Das Technologienetz des fünften Kondratieff

Der Kern der Basisinnovation Informationstechnik ist die Computertechnologie. Das Technologienetz der Informationstechnik

718

Die Grundstruktur eines informationsverarbeitenden Systems:171 Der Computer ist der Kern der modernen Informationstechnik. Mit seinen Ein- und Ausgabegeräten, seiner Speicher- und Verarbeitungskapazität sowie seiner Kommunikationsfähigkeit über beliebige Entfernungen hinweg besitzt er die Struktur eines universellen informationsverarbeitenden Systems. Mit dieser Struktur sind nicht nur Universalrechner, Büro- und Personal Computer aufgebaut, sondern auch digitale Telefonvermittlungsanlagen, Roboter, digitale TV-Geräte, digitale Oszilloskopen und Tomographen. Trotz ihrer unterschiedlichen Bezeichnungen, ihres unterschiedlichen Aussehens und der unterschiedlichen Einsatzgebiete bilden sie ein einheitliches Technologiesystem. Deshalb ist es gerechtfertigt, die Branchen, zu denen sie gehören, zur informationstechnischen Industrie zusammenzufassen. „Das Zurückbleiben in der Beherrschung einer Basisinnovation hat nicht nur zur Folge, daß die großen Märkte, die von ihr direkt geschaffen werden, verloren gehen. Das Zurückbleiben wirkt sich auf die gesamte Kompetenz und die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft aus. Länder, die z. B. die Stahlherstellung im 19. Jahrhundert nicht beherrschten, hatten auch in den damals aufkommenden Märkten des Maschinen-, Schiff-, Eisenbahn- und Automobilbaus keine Chancen. Entsprechendes gilt seit den 1970er Jahren für die Informationstechnik: Wer diese Basisinnovation mit ihren Anwendungen nicht beherrscht, hat in den Hochtechnologiemärkten des 20. und 21. Jahrhunderts keine Chance“.172 Anwendungsbreite der Informationstechnik Stand: Ende der 1980er Jahre

Dienstleistungsgewerbe: Chip-Card, elektronik Banking, automatische Geldausgabe, neue Finanz- und Versicherungsdienste, elektronische Börse, Elektronischer Streckenwärter für Bahn und Straße. Büro: Telefax, Personal-Computer, Textverarbeitungssysteme, Farbkopierer, Videokonferenz, schnelle Datenübertragung (Graphiken), multimediale Endgeräte, ISDN, elektronische Post, Bildplatte und Ablage. Verteidigung: Nachrichtensysteme, ferngelenkte Waffen, extrem schnelle Datenverarbeitung, stör- und abhörsichere Kommunikationsgeräte. Entwicklung und Konstruktion: CAD zur Rationalisierung, Computer-Simula-tion von Vorgängen (anstelle von Experimenten am Versuchsmuster), automatische Meßtechniken im Labor- und Kontrolle. Produktion: Automatisierung von Fertigung, Transport, Lagerung bei gleichzeitiger Erhöhung der Flexibilität durch Sensoren und Aktoren. Programmgesteuerte EDV-Unterstützung (CAM, CIM), LAN und schnelle Datenübertragung zwischen

171 Ebd., S. 212. 172 Ebd., S. 16 f.

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Konstruktion und Fertigung zum raschen Transfer von Änderungen in Entwicklung und Produktion. Medizin: Mustererkennung (Bildschirmauswertung), Datenspeicherung durch Bildbank, Expertensysteme zur Diagnoseunterstützung. Sensoren und Steuerungen für künstliche Gelenke, Seh- und Hörhilfen durch Umwandlung in mechanische Reize, Herzschrittmacher. Kraftfahrzeug: Funkleitwegsteuerung (Satellit, Compact Disc), Abstandswarngerät, Antiblockiersysteme (ABS), Airbagsteuerung, Auto-Notrufe, Warn- und Meldesysteme (Ölstand, Reifendruck), Energieringleitung und Datenbussystem für Verbrauchssteuerung, Regelsysteme für Gemischaufbereitung, Abgasrückführung, Heizung, Fahrgeschwindigkeit, zellulares Autotelefonsystem, Diagnoseeinrichtung für Wartung. Haushalt, Unterhaltung, Bildung: Optische Speicherplatte und Abspielgerät, Homecomputer mit anwendungsgerechter Software, Spielautomaten, Heimkamera mit Halbleiter-Bildwandler, Elektronische Post, digitaler Fernseher, Bildschirmspeicherung, HDTV-Geräte, elektronische Informations- und Steuerungs-systeme (über bestehendes Energieverteilungsnetz oder drahtlos), Fernbedienung elektrischer Verbraucher (Licht, Rundfunk), Instruktions- und Trainingsprogramme auf Kassetten, Temexdienste, Kabel-TV-Netze, Informationsdienste für jedermann. Sicherung im Haus: betriebssichere Einbruchs-, Feuer- und Überfallmeldeanlagen ohne zusätzliche Leitungsverlegung, Grundstücksüberwachung (Infrarot, Radar, Kamera). Energieersparnis im Haus: Elektronische Regelsysteme (Heizung, Lüftung), Wärmemengenmessung, Verbraucherüberwachung, -Regelung (Kühlschrank, Heizung), Näherungsschalter, Gebäudeleittechnik. Zunehmende Anwendung in Land-. Forst- und Fischwirtschaft und in den Geisteswissenschaften (Psychologie, Kunstgeschichte, Fremdsprachenphilologie), in Literatur, Musik, Kunst und Politik.

720

5.2. Zum Stand der Informationstechnik in der DDR 1986 im Vergleich zur Bundesrepublik. Die Mitarbeiter des „ökonomischen Forschungsinstitut“ der Staatlichen Plankommission (SPK) Kusch, Montag, Specht und Wetzker haben den Stand der Informationstechnik in der DDR173 mit dem in der Bundesrepublik 1986 verglichen. „Der vorwiegend extensive Investitionseinsatz (= extensives Wachstum) in der DDR und der auf Intensivierung, Modernisierung und Aufwandssenkung orientierte Investitionseinsatz in der BRD wird auch durch die unterschiedliche materiell-technische Struktur der Investitionen belegt. Der Anteil der Ausrüstungen ist in der BRD wesentlich höher als in der DDR. Ausrüstungsanteil an den Investitionen (in Prozent)

DDR BRD

1980 60 74

1985 63 78

1988 71 76

Wesentlich höher ist auch der Anteil der elektrotechnisch-elektronischen Erzeugnisse an den Ausrüstungen. Er betrug in der DDR im Jahre 1987 ca. 18 %, in der BRD waren es 1986 bereits 37 %, davon waren 31 % Erzeugnisse der Büround Datenverarbeitungstechnik. Der modernisierte Kapitalstock der BRD weist unter diesen Bedingungen eine weitaus günstigere Zusammensetzung auf als der Ausrüstungsbestand der DDR. Betrug der Bestand an numerisch und computer-numerisch gesteuerten Maschinen in der metallverarbeitenden Industrie der DDR je 100.000 Beschäftigte 300 Stück, so waren es in der BRD 2.600. 1986 besaß die DDR 526 elektronische Datenverarbeitungsanlagen mit einem Operationsspeicher von mindestens 256 Kbyte, die BRD aber 19.600. Je 100.000 Beschäftigte waren das in der DDR 6 und in der BRD 78 Anlagen. Diese Gegenüberstellung berücksichtigt noch nicht das unterschiedliche Leistungsvermögen der in beiden Ländern eingesetzten Großrechner, das ein deutliches Plus bei den in der BRD eingesetzten Anlagen hinsichtlich Rechengeschwindigkeit, Speicherkapazität und Zugriffsmöglichkeiten ausweist. Vergleich der Leistungsfähigkeit der EDV-Anlagen (1986) DDR

BRD

Operationen je Sekunde Hauptspeicherkapazität

0,4 Millionen 4 Mega Byte

5.50 Mio. 500 Mega Byte

Kanäle

5

bis 96

173 Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme, Dresden 2000.

721

Der Bestand an Personal- bzw. Arbeitsplatzcomputern betrug 1986 in der DDR 35.000 Stück, in der BRD 875.000. Das waren in der DDR je 100.000 Berufstätige 393, in der BRD 3.472 Stück. Auch hier kennzeichnet der rein quantitative Vergleich nicht die Unterschiede im Leistungsvermögen, sondern auch der verfügbaren peripheren Geräte. Das gilt analog für den Bestand an Industrierobotern. 1986 betrug er in der DDR 4.518, in der BRD über 21.400 und in Japan über 90.000. Das waren je 100.000 Berufstätige in der DDR 133 Stück, in der BRD 145 und in Japan 602. Ihre ökonomische Effizienz wird wesentlich durch ihre Verbindung mit NC- und CNCWerkzeugmaschinen in flexiblen automatisierten Fertigungssystemen bestimmt und ist wegen des höheren Bestandes solcher Maschinen in der BRD auch höher als in der DDR. Schließlich blieb auch der Ausstattungsgrad der DDR mit CAD / CAM-Systemen weit hinter internationalem Niveau zurück. Verfügte die DDR 1986 über 14 Einheiten je 100.000 Berufstätige, waren es ein Jahr früher in der BRD schon 111 und in den USA 215“.174 5.3. Die Ursachen für den verhinderten Fortschritt in der Informationstechnik in den Volkseigenen Betrieben (VEB) Der Fachausdruck „Technischer Fortschritt“ umfaßt auch die „Informationstechnik“, d. h., die Informationstechnik ist ein Teil des technischen Fortschritts. Die Beweisführung für den verhinderten technischen Fortschritt erfolgt in zwei Schritten. Vorab muß die Makroebene, die volkswirtschaftliche Ebene verlassen werden, um die Beweisführung auf betrieblicher Ebene durchzuführen. Die bisherigen Vergleiche zwischen Unternehmern in der Bundesrepublik und Volkseigenen Betrieben in der DDR blieben auf der Systemebene, und deshalb konnten die Ursachen für die Unterschiede beim technischen Fortschritt und der Produktivität, die zwischen Unternehmern in der Marktwirtschaft und Volkseigenen Betrieben bestanden, nicht eindeutig genug herausgearbeitet werden. Zunächst wird die betriebliche Planung in der Marktwirtschaft behandelt, dann werden die Begriffe „Invention“, „Innovation“, „Forschung und Entwicklung“ und „Produktlebenszyklus“ definiert und ihre Bedeutung für die Unternehmungen der Marktwirtschaft aufgezeigt. Die autonome Unternehmung in der Marktwirtschaft (E. Gutenberg) ist das Referenzmodell für den Volkseigenen Betrieb, der ein Organ, ein Exekutivorgan der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft war.

174 Kusch, Günter / Montag, Rolf / Specht, Günter / Wetzker, Konrad: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 58-60.

722

5.3.1. Betriebswirtschaftliche Planung und Produktlebenszyklen als Basis der Unternehmensplanung in der Marktwirtschaft Betriebswirtschaftliche Planung. Begriff:175 „(1) Der Planungsbegriff hat sich mit fortschreitender Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre gewandelt. In der Frühzeit der betriebswirtschaftlichen Forschung ist dieser Begriff überwiegend von der Methode her definiert und als Teil des Rechnungswesens, nämlich als Inbegriff aller betrieblichen Vorschaurechnungen gefaßt worden. (Aufstellung von Umsatz- und Kostenbudgets, Finanzbedarfsrechnungen, Aufstellung von Zukunftsbilanzen und dgl.) Erst später findet sich der Planungsbegriff vom spezifischen Zweck her definiert, wie es der praktischen Problemstellung entspricht. Unter diesem Aspekt trifft man in der Literatur zwei Versionen an: a) Einmal wird unter Planung ein zweckbezogener Denkprozeß, und zwar die Ausarbeitung von realisierbaren Handlungsalternativen sowie das Durchdenken alternativer künftiger Unternehmensabläufe verstanden. In diesem Sinne gefaßt, bildet die Planung einen Teil derjenigen Arbeiten und Überlegungen, welche zur Fundierung und Vorbereitung von Entscheidungen durchgeführt werden. Dieser Begriff hat sich indes als zu eng erwiesen und findet in der Praxis wie in der Betriebswirtschaftslehre nur vereinzelt Anwendung. b) Zum andern wird unter Planung – dieser Begriff hat sich in Praxis und Wissenschaft durchgesetzt und wird heute überwiegend gebraucht – eine bestimmte Methode der Willensentscheidung verstanden. Grundlegend ist der Gedanke, daß der Grad der Erreichung der Unternehmensziele nicht allein durch die von der Unternehmensleitung festgelegten Unternehmensvariablen, sondern auch durch solche Größen bestimmt wird, welche die Unternehmensleitung nicht beeinflussen kann. Gemeint sind die einzelwirtschaftlichen Daten: die Höhe des Volkseinkommens, die Einkommensstruktur, der Grad der Bereitschaft der Nachfrager, Präferenzen zu erteilen, das Konkurrenzverhalten, die gesetzlichen Vorschriften und dgl. mehr. Nun ändert sich in aller Regel die Beschaffenheit dieser Daten im Zeitablauf fortgesetzt, so daß sich die Umweltentwicklung als eine Folge von spezifischen Datenkonstellationen interpretieren läßt. Demzufolge muß die Unternehmensleitung zur Durchsetzung ihrer Ziele fortgesetzt Umdispositionen treffen. Dieser Prozeß fortgesetzter Anpassungen macht den Ablauf eines jeden Unternehmens aus. Je nach der Beziehung zwischen dem Zeitpunkt der Entscheidung und dem Zeitpunkt des Beginns einer Gesamthandlung (Unternehmung) bzw. dem Zeitpunkt des Eintritts jener Datenkonstellation, auf welche die Entscheidung abstellt, werden zwei Entscheidungsmethoden unterschieden: Die Planung und die Improvisation. 175 Koch, Helmut: Planung, betriebswirtschaftliche, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 3002 ff.

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Als Planung wird eine Entscheidung dann bezeichnet, wenn diese (nebst dem zugehörigen Entscheidungsinformationsprozeß) zeitlich vor Eintritt jener Datenkonstellation oder jener Periode getroffen wird, auf die sie bezogen ist. Unter Improvisation wird jene Entscheidung verstanden, die erst nach Eintritt jener Datenkonstellation bzw. Periode getroffen wird, auf welche sie abzielt. Typische Fälle, in denen improvisiert wird, sind unvorhergesehene Ereignisse (Unglücksfälle, Maschinenausfälle, Absatzkrisen und dgl. mehr), die eine sofortige Entscheidung erforderlich machen. Die Begriffe Planung und Improvisation setzen voraus, daß der Aktor die Entwicklung der Umweltbedingungen faktisch als eine Folge von spezifischen Datenkonstellationen bzw. als eine Folge von Handlungsperioden auffaßt. Diese Voraussetzung wird in der Wirtschaftspraxis in zunehmendem Maße erfüllt. (2) Die Planung weist gegenüber der Improvisation folgende Vorteile auf: a) Sie ermöglicht eine gründlichere und umfassendere Entscheidungs-vorbereitung mit systematischer Abstimmung der verschiedenen Unternehmensbereiche und -variablen. b) Sie gewährt wegen des größeren zeitlichen Abstandes von der zu prognostizierenden Bezugssituation bzw. Planungsperiode größere Handlungsfreiheit. Je frühzeitiger die Entscheidung für eine zukünftige Situation, desto größer ist die Menge der realisierbaren Handlungsalternativen. Je größer aber der Entscheidungsspielraum, um so konsistenter und profilierter läßt sich das Unternehmen gestalten. c) Die Planung erlaubt bei Eintritt jener Situation, auf die es das Unternehmen auszurichten gilt, sofortige Anpassung. Gewinnchancen können daher rascher wahrgenommen werden als bei improvisatorischen Entscheidungen. Für die Improvisation sprechen dagegen folgende Punkte: a) Sie zeichnet sich durch größere Wirklichkeitsnähe aus, weil die Feststellung einer bereits eingetretenen Situation informativer ist als die Prognose. Die Improvisation kann daher treffsicherer und adaptiver sein. b) Sie ist mangels systematischer Entscheidungsvorbereitungen weniger aufwendig als die Planung. Wägt man Planung und Improvisation gegeneinander ab, und überlegt man, wann die eine und wann die andere Entscheidungsmethode vornehmlich zum Zuge gelangt, so ist generell festzustellen: Die Planung kommt für die grundlegenden, auf längere Sicht zu treffenden Entscheidungen in Betracht, weil diese von langer Hand vorbereitet werden müssen. Demgegenüber findet die Improvisation vornehmlich auf weniger bedeutsame Detailentscheidungen Anwendung. (3) Während unter der Planung im allgemeinen einfach eine bestimmte Entscheidungsmethode verstanden wird, besagt der Begriff „Unternehmensplanung“, daß ein Unternehmen als ganzes unter gegenseitiger Abstimmung aller Bereiche und Variablen den Gegenstand der Planung bildet. Wird eine solche integrierte Unternehmensplanung betrieben, so wird der Improvisation nur eine ergänzende Rolle

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zugewiesen: Sie kommt nur für solche Detailentscheidungen in Betracht, bei denen sich eine Planung nicht lohnt. Obendrein wird sie bei Eintritt einer unerwarteten Situation vorgenommen, die in der Planung nicht in Rechnung gestellt worden ist. In der Bundesrepublik setzt sich das Konzept der integrierten Unternehmensplanung seit Mitte der sechziger Jahre immer mehr durch. Vornehmlich findet es derzeit bei divisionalisierten Großunternehmen Anwendung. In der Tat ist hier die integrierte Unternehmensplanung für die oberste Leitung das einzige Instrument, das Unternehmen als ganzes in den Griff zu bekommen sowie Sicherung der langfristigen Konkurrenzfähigkeit und Wachstum zugleich zu erreichen. Aufbau der Unternehmensplanung: (1) Unternehmensplanung muß insbesondere drei Grunderfordernissen genügen: a) Langfristigkeit: Die Unternehmensplanung muß auf sehr weite Sicht ausgelegt werden. Denn die Entwicklung und Einführung neuer Produkte, der Aufbau der Absatzorganisation, die Schaffung des good-will und andere Maßnahmen erfordern eine mehr oder minder lange Zeitspanne. Darüber hinaus muß in der Regel eine relativ kontinuierliche Produktive gehalten werden, um die Umstellungsverluste in den Grenzen des Tragbaren zu halten. Schließlich müssen die betrieblichen Infrastrukturanlagen über eine relativ lange Zeit genutzt werden, sollen die Jahresabschreibungen eine tragbare Höhe nicht überschreiten. b) Integrität: Die Unternehmensplanung hat sämtliche wichtigen Unternehmensvariablen zu erfassen. Zugleich sind diese Variablen in gegenseitiger Abstimmung aufeinander festzulegen. Dieses Erfordernis ist in der Interdependenz zwischen den Unternehmensvariablen begründet. c) Adaptivität (Angepaßtheit): Die Unternehmensplanung muß an den erwarteten zukünftigen Entwicklungen der Datenkonstellation exakt ausgerichtet sein. In der Praxis ist es in aller Regel nicht möglich, sämtlichen drei Grundanforderungen zugleich in vollkommener Weise Rechnung zu tragen. So kann eine auf lange Sicht getroffene Planung wegen der Prognoseschwierigkeiten nicht zugleich vollkommen adaptiv sein. In der Literatur sind Versuche unternommen worden, eine vollkommene Integrität der Unternehmensplanung mit Hilfe eines mehrperiodigen Totalmodells der Linearen Programmierung zu erreichen – in diesen Totalmodellen werden die Variablen der laufenden Produktion, die Investitionen und das Finanzierungsprogramm simultan festgelegt. Aber eine solche zeitliche und sachliche Simultanplanung ist nicht praktikabel. Denn die mehrperiodischen Totalmodelle sind einerseits für die Planung der laufenden Produktion zu langfristig und nicht hinreichend adaptiv, können andererseits jedoch für die strategische Planung nicht langfristig genug angelegt sein. Soll eine Unternehmensplanung praktikabel sein, so muß jedem der drei Grunderfordernisse in einem gewissen Mindest-Umfang Rechnung getragen werden. Dies ist in der Praxis allein in der Weise möglich, daß die Unternehmensplanung

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zeitlich und organisatorisch in ein hierarchisch geordnetes System von Teilplanungen aufgespalten wird. (2) In zeitlicher Hinsicht wird die Unternehmensplanung in Umrißplanungen auf weitere Sicht und in Detailplanungen auf kürzere Sicht strukturiert. Dabei bildet jeweils die Umrißplanung die Grundlage für die Detailplanungen. Umgekehrt wird die längerfristige Umrißplanung fortgesetzt nach Maßgabe der kürzerfristigen Detailplanungen kontrolliert und korrigiert. Ein zeitlich voll ausgebautes System der Unternehmensplanung umfaßt folgende Phasen: a) Die (langfristige) Grundsatzplanung, das ist die Festlegung der Unternehmenskonzeption bis auf weiteres. b) Die Maßnahmenplanungen: Die strategische Planung. Ihren Gegenstand bildet das strategische Programm, bestehend aus Einzelstrategien, in denen jeweils eine Produktlinie und / oder der personelle bzw. geographische Absatzmarkt des Produktes festgelegt wird (Produktpolitik und Produktplanung). Es gilt hier also, eine bestimmte Kombination von Produkten und Märkten nebst den hiermit verbundenen Bereitstellungsmaßnahmen (Finanzierung, Personalbereitstellung und dgl.) zu planen. Die strategische Planung ist auf weiteste Sicht ausgelegt. Für die ersten 8 bis 10 Jahre wird der Unternehmensablauf exakter (periodenweise) geplant. Die operative Planung. Ihren Gegenstand bilden die Operationen, das sind die einzelnen Teilphasen einer Strategie (Produktentwicklung, Investition und Personalbereitstellung, laufende Produktion, Desinvestition), definiert im Jahresmaßstab. Es gilt, die Durchführung dieser Teilphasen festzulegen (z. B.: Aufnahme der Entwicklung einer Produktgruppe C, Erweiterung der Produktionskapazität bei Produkt B, Aufbau einer Absatzorganisation in Großbritannien bei der Produktgruppe A usw.). Der Planungszeitabschnitt beträgt meist 4 bis 6 Jahre. Die taktische (kurzfristige) Planung. Ihr Gegenstand ist primär die laufende Produktion (Leistungsmengen, Bestände in Absatz, Fertigung und Beschaffung) nebst zugehöriger Bereitstellung der Ressourcen (Personal, Finanzen). Für Investitionen sowie für Forschung und Entwicklung werden nur zeitliche Aufteilungen festgelegt. Der Rechnungszeitabschnitt beträgt in der Regel ein Jahr. (3) Was die leitungsorganisatorische Strukturierung der Unternehmensplanung betrifft, so werden die verschiedenen Planungsphasen auf die oberste Unternehmensleitung, auf die Leitungen der Unternehmensbereiche (Geschäftsbereiche, Werksleitungen, Produktspartenleitungen und dgl.) sowie auf die mittleren und unteren Instanzen aufgeteilt. Für die langfristige Grundsatzplanung ist stets uneingeschränkt und ausschließlich die oberste Unternehmensleitung (bei der AG: Vorstand und Präsidium des Aufsichtsrats) zuständig. Für die Maßnahmenplanung sind unterschiedliche organisatorische Regelungen denkbar bzw. vorgeschlagen worden: die zentralistische, die de- zentralistische und die hierarchisch gespaltene Maßnahmenplanung.

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a) Zentralistisch ist die Maßnahmenplanung dann, wenn sie ganz der obersten Unternehmensleitung vorbehalten ist. Diese erhält die hierfür erforderlichen Detailinformationen von den Unterinstanzen. Den Leitungen der Geschäftsbereiche, Produktsparten und dgl. sind lediglich improvisatorische Entscheidungen zu überlassen. Bei größeren Unternehmen ist diese organisatorische Regelung abwegig. Denn sie führt zu mangelnder Anpassungsfähigkeit, zur Lähmung von Initiative und Einsatzbereitschaft der leitenden Mitarbeiter und zu überhöhter Belastung der Unternehmensleitung mit Detailentscheidungen. b) Die dezentralistische Maßnahmenplanung wird primär von den Unternehmensbereichen vorgenommen – die oberste Unternehmensleitung behält sich lediglich die (periphere) Koordinierung der Teilplanungen der Unternehmensbereiche vor“.176 Produktlebenszyklus als Basis der Unternehmensplanung in der Marktwirtschaft. „Innovation als Gestaltung von und Anpassung an soziotechnische Entwicklungen: Die Unternehmung verknüpft zur Erstellung ihres Leistungsprozesses sozialmenschliche mit technologischen Elementen. Dieses soziotechnische System Unternehmung ist eingebettet in ein wirtschaftliches System und dieses wiederum in ein gesellschaftliches System. Die Unternehmung ist letztlich nur Subsystem eines übergeordneten soziotechnischen Systems, das sich aus der Perspektive der Unternehmung in seinem zeitlichen Verlauf in zwei Dimensionen zugleich verändert (Systemtheorie). Es sind zum einen Veränderungen der Umweltbedingungen, die sich aus gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und dem Wandel im Verhalten von Abnehmern, Konkurrenten und staatlicher Gewalt ergeben. Zum anderen die Veränderung des Wissensstandes durch die Schaffung neuer Erkenntnisse in Forschung und Entwicklung. Um sich diesen Veränderungen anzupassen oder gar gestaltend dabei mitzuwirken, sind für die Unternehmung Innovationen (= Neuerungen) notwendig. Im Unterschied zur Invention, die lediglich die Erfindung bzw. Entdeckung neuer Problemlösungspotentiale beschreibt, impliziert die Innovation auch neue Verwendungen und Anwendungen von Problemlösungspotentialen. Daraus wird deutlich, daß mit Innovation eigentlich das Ergebnis zweier Prozesse beschrieben wird. Auf der einen Seite steht der potentielle Wandel der Verfügbarkeit bzw. des Angebots von Problemlösungen durch neue Ideen, Erfindungen und Entdeckungen, auf der anderen Seite die Nachfrage nach Problemlösungen, die ebenfalls veränderlich ist. Werden beide Seiten zur Deckung gebracht, also eine Anwendung bzw. Verwendung erreicht bzw. durchgesetzt, wobei auf mindestens einer Seite etwas ‚Neues‘ auftritt, so spricht man von Innovation.

176 Koch, Helmut: Planung, betriebswirtschaftliche, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl. Stuttgart 1984, Sp. 3002-3006.

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Richtungen der Innovationsforschung: Die Vielfalt des Wandels und die damit verbundenen Neuerungen führen dazu, daß das Phänomen ‚Innovation‘ nicht nur in der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch in den anderen Bereichen der Gesellschaftswissenschaften, wie Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaften, Sozialpsychologie und Kulturanthropologie, Beachtung findet. Je nach Aufgabenstellung und Forschungsinteresse werden deshalb in der Literatur verschiedene Teilaspekte der Innovation hervorgehoben oder isoliert als ‚Innovation‘ bezeichnet. Das Spektrum reicht dabei von Betrachtungen, die den Schöpfungsprozeß von neuen Informationen, z. B. in Form von Produkten, naturwissenschaftlich-technischen Verfahren und Strukturierungsvorschlägen für die Organisation soziotechnischer Systeme, in den Vordergrund stellen, über die einseitige Analyse des Durchsetzungsprozesses von Neuerungen, wobei deren Entstehung vernachlässigt wird, bis hin zu Thesen, die Innovationen monokausal durch die Nachfrage, also den Anwender, erklären und die Betonung auf den Diffusionsprozeß legen. Denken und Handeln müssen als integrierende Bestandteile eines Informationsgewinnungsprozesses zur Schaffung neuer Problemlösungspotentiale betrachtet werden. Insbesondere gilt dies auch für den Durchsetzungs- bzw. Diffusionsprozeß von Innovationen, d. h. die Lösung des Transferproblems. Deshalb bilden Denken und Handeln auch integrale Bestandteile einer allgemeinen Theorie der technischen Entwicklung, die als Prototyp einer allgemeinen Theorie innovatorischer Prozesse betrachtet werden kann“.177 Innovation wird von Schumpeter zu „the doing of new things or the doing of things that are already being done in a new way“.178 Nach Klaus Brockhoff sollen „Forschung und Entwicklung als systematische Gewinnung subjektiv neuen naturwissenschaftlich-technischen Wissens zur Optimierung der unternehmerischen Zielvariablen verstanden werden. Die systematische Wissensgewinnung erfordert den Einsatz von Faktoren, für die Auszahlungen zu leisten sind. Auf Grund der Auszahlungen werden später Einzahlungen erwartet. Auszahlungen und Einzahlungen bilden die Grundlage der Projektbewertung und der Programmplanung bei monetär gemessenen Unternehmenszielen. Die häufig unterschiedenen Typen von Forschung, z. B. Grundlagenforschung und angewandte Forschung, und die Entwicklung unterscheiden sich voneinander wesentlich durch den unterschiedlichen Sicherheitsgrad, mit dem die Beziehung der Auszahlungen zum erwünschten neuen Wissen und dieses wiederum zu den Einzahlungen ausgestattet ist. Im Sinne der Kategorien von Knight kommen hierfür subjektive und objektive Unsicherheit (Ungewißheit und Unsicherheit) in Betracht“.179 177 Pfeiffer, W. / Staudt, E.: Innovation, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 1943 ff. 178 Schumpeter, J.: The Creative Response in Economic History, in: Journal of Economic History, 1947, S. 149-159. 179 Brockhoff, Klaus: Forschung und Entwicklung, Planung und Organisation von, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., 1984, Sp. 1531

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Eine Brauchbarkeit des Produktlebenszyklus-Konzeptes für die langfristige Produktplanung ist in Wissenschaft und Praxis unbestritten.180 Werner Pfeiffer und Peter Bischof zeigen, daß ein Weg zur Operationalisierung über eine integrierte Betrachtung der Produktion und Diffusion, d. h. des Entstehungszyklus und des Marktzyklus, eines Produktes führt. Die Untersuchung konzentriert sich dann auf die Ermittlung des Marktzyklus, dessen Daten einen wichtigen Informationsinput der Produkt- bzw. Projektbewertung im Rahmen der langfristigen Produktplanung abgeben. Es wird gezeigt, daß die Versuche, den Marktzyklusverlauf von Produkten, die erst in der Zukunft realisiert werden, auf der Basis „typischer“ Marktzyklen antizipativ zu ermitteln, sich als äußerst problematisch erweisen. Die Verfasser schlagen deshalb vor, den möglichen Marktzyklusverlauf jeder Produktalternative in einem spezifischen Planungsprozeß zu konstruieren. Dazu muß nach den allgemeinen Bedingungen und Faktoren gesucht werden, die den Marktzyklus bestimmen, d. h. ihn erklären. Ein solches System erklärender Faktoren des Marktzyklusverlaufs haben die Verfasser für Produkte des Investitionsgüterbereichs erstellt. Es wird in einem ersten Ansatz an Hand einzelner Planungsschritte gezeigt, wie dieses System erklärender Faktoren für eine Voraussage des Marktzyklusverlaufs innerhalb der Einführungsphase und des Markteinführungszeitpunktes von Investitionsgütern nutzbar gemacht werden kann. Produktplanung als zentrale Aufgabe im Prozeß langfristiger unternehmerischer Planung: Im Zentrum einer langfristigen Unternehmensplanung steht die Planung der Produkte bzw. des Produktprogramms.181 Die Notwendigkeit der Planung neuer182 Produkte und Verfahren für ein langfristiges Überleben des Unternehmens ergibt sich aus dem permanenten Wandel bzw. den Veränderungen der Umwelt. Diese Veränderungen entziehen schrittweise oder abrupt den gegenwärtigen Produkten bzw. den Produktionsprogrammen und den angewandten Produktionsverfahren die Lebensbasis und damit auch der Unternehmung. Die Zentren dieser Veränderungen liegen zum einen im gesellschaftlichen Bereich, der sog. sozialen Umwelt, und im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, der sog. naturwissenschaftlich-technischen Umwelt.

180 Pfeiffer, Werner / Bischof, Peter: Produktlebenszyklus als Basis der Unternehmensplanung, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 44. Jg., 1974, S. 635 ff. 181 Gutenberg, E.: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2, Der Absatz, 12. Aufl., Berlin 1970. 182 Der Neuheitscharakter eines Produktes kann nur aus der Perspektive des jeweiligen Beobachters, des Produktherstellers und / oder -abnehmers und seiner spezifischen Situation beurteilt werden, vgl. dazu Pfeiffer. W. / Staudt, E.: Innovation, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., hrsg. v. Grochla, E. und Wittmann, W., Stuttgart 1984, Sp. 1943 ff.

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Die Entwicklung der Baugröße elektronischer Steuerelemente 183

Impulse aus der wissenschaftlich-technischen Umwelt führten z. B. zu zunehmender Miniaturisierung elektronischer Steuerelemente, d. h. dem Übergang von der Elektronenröhre zum Transistor und dem Ersatz der gedruckten Schaltung durch integrierte Halbleiterkreise. Dadurch wird mechanischen Rechengeräten die Lebensbasis entzogen. Elektronische Rechengeräte haben den Vorteil, kleiner, schneller, geräuschlos und billiger zu sein. Jene Firmen, die sich auf mechanische Rechner spezialisiert hatten, wurden gezwungen, im Rahmen ihrer Produktplanung auf „Elektronik“ umzustellen. Dies führte nicht nur zu erheblichen Konsequenzen für die Produktplanung selbst, sondern auch zu erheblichen strukturellen Umstellungen in fast allen betrieblichen Funktionsbereichen, insbesondere dem Fertigungsbereich. „An Stelle von Hunderten von Feinmechanikern, Maschinenarbeitern und Werkzeugmachern benötigt die elektronische Fertigung fast nur angelernte, meist weibliche Arbeitskräfte. Die hochwertige, teure Werkzeugmaschinenausstattung ist überflüssig geworden. Dafür müssen teure elektronisch arbeitende Prüfautomaten entwickelt und beschafft werden […]“.184 Ein weiteres Beispiel, und zwar für sozial-gesellschaftliche Entwicklungen, die Produkten die Lebensgrundlage entziehen können, ist mit dem Modewandel auf dem Damenstrumpfmarkt von Strümpfen mit Naht zu den nahtlosen Strümpfen gegeben. Mit dem Modewechsel war in diesem Fall ein grundlegender Wechsel der Herstellungsverfahren verbunden: Strümpfe mit Naht wurden auf sog. Cotton-Maschinen im Wirkverfahren, nahtlose Strümpfe im Strickverfahren hergestellt. Durch diesen Modewechsel wurden etwa 40.000, zum Teil neuwertige, Cotton-Maschinen

183 Gasser, Chr.: Die industrielle Unternehmung vor den Aufgaben der Zukunft, in: Industri-

elle Organisation 39, 1970, Nr. 5, S. 191 ff., insbes. Abb. 4, S. 193. 184 Hämmerling, F.: Innovation – ein Problem für die Industrie, in: Deutsche Gesellschaft für Betriebswirtschaft (Hrsg.): Innovation, Berlin 1973, S. 130-147, insbes. S. 140.

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binnen kurzer Zeit so gut wie unbrauchbar. Die Konsequenzen sowohl für die Abnehmer als auch die Hersteller von Cotton-Maschinen sind offensichtlich.185 Diese Beispiele verdeutlichen, wie stark das Denken in begrenzten Zeiträumen der Existenz von Produkten, d. h. das Denken in Produktlebenszyklen, in den Mittelpunkt der Planung bzw. Analyse rücken sollte.186 Integriertes Produktlebenszyklus-Konzept als Planungsbasis und sein Zusammenhang mit dem Prozeß der langfristigen Produktplanung Um praktische Fragen der langfristigen Produktplanung anzugehen, genügt es nicht nur, die zeitlichen Aspekte auf dem Markt zu betrachten. Eine Optimierung von Einnahmen bzw. Erträgen kann nur erfolgen unter Berücksichtigung sowohl der Entstehungszeit und der Verteilung der in diesem Zeitraum entstehenden Kosten als auch der Verwertungszeit am Markt und der Verteilung der Erlöse und der laufend anfallenden Produktions- und Absatzkosten über diesen Zeitraum. Es zeigt sich somit die Notwendigkeit einer integrierten Betrachtungsweise. Integriertes Produktlebenszyklus-Konzept

Integrierte Betrachtung von Lebenszyklus und Prozeß der langfristigen Produktplanung Unter dem Aspekt der zeitlich aufeinanderfolgenden bzw. sich überlappenden Aktivitäten einer langfristigen Produktplanung können folgende drei Teilprozesse

185 Pfeiffer, W.: Absatzpolitik bei Investitionsgütern der Einzelfertigung, Stuttgart 1965, S. 53 ff. 186 Der Begriff Lebenszyklus wird als der Zeitraum definiert, der sowohl die Zeitdauer der Produktentstehung als auch die Dauer der Verwertung am Markt umfaßt. Damit wird von der relativ engen Sicht der Marketingliteratur abgegangen, deren Perspektive meist einseitig auf die Verwertungszeit am Markt ohne Berücksichtigung des Entstehungszusammenhangs gerichtet ist.

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bzw. Aktivitäten unterschieden werden, denen jeweils Phasen zugeordnet werden können187 (1) Alternativensuchprozeß, d. h. Gewinnung alternativer Ideen für neue Produkte. (2) Alternativenbewertungs- und Auswahlprozeß (3) Realisierungsprozeß als Prozeß der Produktion und Diffusion von ausgewählten Produkten Zu (1) Alternativensuchprozeß: Der Suchprozeß nach alternativen Ideen für neue Produkte kann durch gegebene Zielsetzungen, d. h. gegebene Probleme oder Bedarfe (Sachziele)188, induziert werden. Gesucht werden in diesem Fall Ideen für Produkte, die gegebene Probleme lösen bzw. Bedarfe decken können. Dieser Suchbzw. Informationsgewinnungsprozeß kann an Hand eines Relevanzbaumes strukturiert werden.189 Andererseits können alternative Ideen für neue Produkte im Unternehmen vorliegen, d. h. das Ergebnis autonomer Forschung sein; man sucht nach der Vermarktbarkeit bzw. möglichen Bedarfen dieser Alternativen. Die Struktur dieses Suchprozesses entspricht der des Inversen Relevanzbaumes.190 5.3.2. Die Ursachen für den verhinderten technischen Fortschritt in den Volkseigenen Betrieben: Die VEB als Exekutiv-Organe der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft Der Unternehmer kauft in der Marktwirtschaft die Elementarfaktoren (1) Arbeitsleistungen (objektbezogene Arbeitsleistung), (2) Betriebsmittel (Arbeitsmittel, produzierte Produktionsmittel) und (3) Werkstoffe, Rohstoffe, Halb- und Fertigerzeugnisse und kombiniert sie für die Produktion. Er ist autonom und kann das produzieren, was für ihn am rentabelsten ist. In den Volkseigenen Betrieben müssen die Elementarfaktoren ebenfalls kombiniert werden. Die sog. „Betriebspläne“ zeigen die naturalen Mengen, die der Volkseigene Betrieb benötigt, um die geplanten Produkte herstellen zu können. Da man die verschiedenen Elementarfaktoren natural nicht addieren kann, werden sie mit konstanten Preisen bewertet. Als Metapher: Zirkusflöhe und Elefanten lassen 187 Einteilung von Booz, Allen & Hamilton, von der die meisten Phaseneinteilungen abgeleitet wurden: Exploration – Screening – Business, Analysis – Development – Testing–- Commercialisation. Booz, Allen & Hamilton: Management of New Products, New York 1964, S. 10 ff. 188 Sachziele der Unternehmung beschreiben nach Kosiol „Art, Menge und Zeitpunkt der im Markt abzusetzenden Leistungen“. Kosiol, E.: Typologische Gegenüberstellung von standardisierender (technisch orientierter) und prognostizierender (ökonomisch ausgerichteter) Plankostenrechnung als Instrument moderner Unternehmensführung. in: Kosiol. E. (Hrsg.): Plankostenrechnung als Instrument moderner Unternehmensführung, Berlin 1956, S. 57. 189 Staudt, E.: Struktur und Methoden technologischer Voraussagen. Beitrag zu einer allgemeinen Planungstheorie, Göttingen 1974, S. 39 ff. 190 Ebd., S. 43 ff.

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sich natural nicht addieren. Da ein ausgebildeter Zirkusfloh etwa 1.000 Euro und ein Elefant ca. 14.000 Euro kostet, lassen sie sich addieren und haben zusammen einen Marktwert von 15.000 Euro. In der sozialistischen marktlosen Naturalwirtschaft müßte man 14 Zirkusflöhe gegen einen Elefanten tauschen und findet vielleicht durch Ringtausch einen Tauschpartner. Der Generaldirektor des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena erläuterte in einem Gespräch am 22.9.1993 die Aufstellung eines Betriebsplanes. Der Plan entstand durch Abstimmung zwischen dem Kombinat, der staatlichen Plankommission und den Ministerien.191 Der Betriebsplan wurde als Fünfjahrplan und als Jahresplan erarbeitet.192 Innerhalb des Betriebsplanes nahm der Produktplan eine besondere Stellung ein. Im Ergebnis der Bilanzierung entstehen betriebliche Bilanzen, in denen Aufkommen und Bedarf bzw. Aufkommen und Verteilung gegenübergestellt werden.193 Der Produktionsplan ist der „Teil des Betriebsplanes, welcher die Produktion und die materiellen Leistungen in Natural- und Wertkennziffern sowie ihre Qualität und ihre Herstellungs- bzw. Ausstoßtermine ausdrückt“.194 In der Verordnung über die „Aufgaben, Recht und Pflichten der volkseigenen Betriebe, Kombinate und Vereinigung Volkseigener Betriebe“ (VVB) von 1973 heißt es unter §15 Wissenschaft und Technik: „(1) Der volkseigene Betrieb ist verpflichtet, ein hohes wissenschaftlich-technisches Niveau seiner Erzeugnisse, der Technologien und der Produktionsorganisation sowie den dafür notwendigen wissenschaftlich-technischen Vorlauf im Interesse einer hohen Effektivität entsprechend den volkswirtschaftlichen Erfordernissen und den begründeten Anforderungen der Abnehmer planmäßig zu sichern. In der wissenschaftlich-technischen Arbeit sind die Erfordernisse des Umweltschutzes zu berücksichtigen. (2) Der volkseigene Betrieb sichert eine hohe Effektivität der wissenschaftlichtechnischen Arbeit bei der Ausarbeitung und Anwendung fertigungsgerechter Konstruktionen, wissenschaftlich begründeter Technologien sowie eine hohe technologische Disziplin, technische Sicherheit, Ordnung und Kontrolle bis zum Arbeitsplatz. Der Betrieb hat Entwürfe für DDR- und Fachbereichsstandards auszuarbeiten, die Übereinstimmung von Standards der DDR mit denen der UdSSR zu fördern und an der Ausarbeitung von Standards und RGW-Empfehlungen zur Standardisierung aktiv mitzuwirken. Er hat bestätigte DDR- und Fachbereichsstandards planmäßig einzuführen und durchzusetzen. Der Direktor des volkseigenen Betriebes ist für die Ausarbeitung und Einhaltung von Werkstandards verantwortlich. 191 Man mußte ein König der Improvisation sein. Gespräch mit Dr. Wolfgang Biermann, Berlin, 22.9.1993, in: Pirker, Theo et. al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 218 f. 192 Klinger, Günther: Kommentar zur Verordnung über die Aufgaben, Rechte und Pflichten der volkseigenen Betriebe, Kombinate und VVB, Berlin (-Ost) 1975, S. 55. Im Autorenkollektiv befindet sich auch Wolfgang Biermann. Drobnik, Ulrich: Volkseigene Betriebe (DDR), in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Aufl., Stuttgart 1960, S. 6030-6035. 193 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 333-336. 194 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 794.

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(3) Der Direktor des volkseigenen Betriebes ist für die Erfüllung der Forschungs- und Entwicklungsaufgaben entsprechend den Zielstellungen des Planes Wissenschaft und Technik verantwortlich. Hierbei sind die Erfahrungen der Sowjetunion zu verwerten und die besten Erfahrungen anderer volkseigener Betriebe und Kombinate zu nutzen. Er ist verpflichtet, die schnelle Überleitung wissenschaftlich-technischer Ergebnisse in die Produktion mit hohem ökonomischem Effekt zu sichern. Bei der Überleitung wissenschaftlich-technischer Ergebnisse sind notwendige Erprobungen der Erzeugnisse und Technologien zu sichern sowie die Zuverlässigkeit nachzuweisen. Die Verantwortung der an der Überleitung der wissenschaftlich-technischen Ergebnisse beteiligten Kollektive ist bis zur abgeschlossenen Einführung der Erzeugnisse, Technologien und Rationalisierungslösungen in die Produktion, einschließlich der Betreuung der Produktion während der Anlaufzeit, festzulegen. (4) Der Direktor des volkseigenen Betriebes hat den Forschungs- und Entwicklungskollektiven, die auf der Grundlage des Planes Wissenschaft und Technik konkretisierten Aufgaben und ökonomischen Zielstellungen, einschließlich ausgewählter Effektivitätskennziffern und -kriterien, kontrollfähig und abrechenbar vorzugeben. (5) Der Direktor des volkseigenen Betriebes ist dafür verantwortlich, daß die Aufgaben der Neuerer- und Rationalisatorenbewegung auf die Erfüllung der betrieblichen Pläne, insbesondere des Planes Wissenschaft und Technik, gerichtet und zielstrebig verwirklicht werden. Er fördert die Bewegung „Messe der Meister von morgen“.195 Für die Planung von Wissenschaft und Technik sollte die Fünfjahrplanung die Hauptform sein.196 Die Volkseigenen Betriebe besaßen keine Autonomie, sie waren Exekutivorgane des Gesamtzentralplanes. Als Organe erhielten sie die Elementarfaktoren (= Bilanzanteile, Produktionsfaktoren) natural zugeteilt. Die Elementarfaktorenzuteilung wurde starr in Gesetzesform gegossen. Die Plandisziplin aller Organe war das oberste Gesetz. Durch die starre Zuteilung der Elementarfaktoren besaß der Volkseigene Betrieb keinen Handlungsspielraum für den technischen Fortschritt, der eine Neukombination der Elementarfaktoren ist. Auch wenn alles Wissen in Forschung und Entwicklung vorhanden war, konnte dies in den Volkseigenen Betrieben nicht umgesetzt werden. Der technische Fortschritt konnte nur gegen den Zentralplan durchgesetzt werden. Dies hatte jedoch Rückwirkungen auf das Bilanzsystem als „tragendes Gerüst“ des sozialistischen Zentralplanes. Das Bilanzsystem war immer „praktisch nicht beherrschbar“, d. h., alle Projekte, die außerhalb des Zentralplanes durchgeboxt wurden, vergrößerten die schon hohe Instabilität des Gesamtsystems. Die DDR stand durch Ulbricht, der außerhalb des Planes viele Projekte durchgeboxt hatte, 1970 am Rande eines Zusammenbruchs. 195 Klinger, Günther: Kommentar, S. 74. 196 Ebd., S. 13.

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Die hier vorgeführte Beweiskette wird empirisch von zwei Zeitzeugen mit hoher Kompetenz bestätigt: Dr. Günther Wyschofsky und Dr. Wolfgang Biermann. Dr. Günther Wyschofsky: „Das schlimmste Übel war, wenn einer außerhalb dieses Planes eine große Erfindung machte. Das war dann nicht zu verdauen. Plan war Plan. Wenn da zwischen dem Plan von einem Jahr zum anderen irgendetwas Interessantes erfunden wurde: Leute konnten sich die Hacken ablaufen, die konnten Patente anmelden. Das konnte nicht mehr in den Plan eingebunden werden [...]. Dieses sozialistische Planungssystem generell kann nicht gehen, und in solchen Innovativzweigen wie in der Chemie, erst recht nicht“.197 Dr. Wolfgang Biermann: „Man mußte ein König der Improvisation sein“. „Unter DDR Bedingungen mußte man ein König der Improvisation sein, man mußte vieles beherrschen, was hier in der Wirtschaft überhaupt nicht bekannt ist ... Ich habe in meinem Kombinat eine Forschungskapazität von 13.000 Mitarbeitern gehabt. 13.000 Wissenschaftler, Forscher, Konstrukteure und Erzeugnisentwickler. Ich hatte ja insgesamt 70.000 Beschäftige! Das Potential an Hoch- und Fachschulkadern betrug 18.700 Mitarbeiter in allen Betrieben zusammen. Wenn ich sage 70.000 Beschäftige, bezieht sich das auf alle Betriebe; wir hatten den Standort Jena und daneben Riesenkapazitäten in Dresden, im Rathenower Raum, im KarlMarx-Städter Raum und in Leipzig“.198

197 Es gab keine Macht gegen die Macht. Gespräch mit Dr. Günther Wyschofsky, Berlin 1993, in: Pirker, Theo et. al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 189, 202. G. Wyschofsky, geb. 8. Mai 1929 in Bischofswerda, Oberlausitz. Studium der Chemie an der Technischen Hochschule in Dresden und nach dem Vordiplom an der Universität Leipzig; zugleich Laborleiter in der Industrie. 1953 Diplom-Chemiker und Betriebsleiter in Leipzig. Von dort als Mitarbeiter für das Zentralkomitee der SED angeworben. Im Zentralkomitee zunächst Instrukteur und dann Leiter der Abteilung für Grundstoffindustrie. 1962 Wechsel in die staatliche Plankommission. 1963 Kandidat, 1964 Mitglied des Zentralkomitees der SED. 1966 Minister für Chemische Industrie bis zum Rücktritt der Regierung Stoph im November 1989. Zugleich Vorsitzender der Kommission für Chemische Industrie im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. 198 Man mußte ein König der Improvisation sein. Gespräch mit Dr. Wolfgang Biermann, Berlin, 22.9. 1993, in: Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 213, 215. W. Biermann, Generaldirektor des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena. Geboren am 29. November 1927 in Leipzig in einem sozialdemokratischen Elternhaus. Vater Buchdrucker, Mutter Stenotypistin, für kurze Zeit Soldat, 1944 Mitglied der NSDAP; nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Lehre als Maschinenschlosser in Leipzig, anschließend Besuch der dortigen Maschinenbauschule, Abschluß als Maschinenbauingenieur, 1951 Konstrukteur und Assistent des Technischen Direktors im Lausitzer Kohlerevier (BFG Lauchhammer), anschließend Technischer Direktor von VEB Nobas in Nordhausen; 1964 Werkdirektor des Werkzeugmaschinenkombinats „7. Oktober“ in Berlin, seit 1976 Generaldirektor von Carl Zeiss Jena. Mitglied der SED seit 1956, seit 1967 Kandidat und seit 1976 Mitglied des ZK der SED. Wolfgang Biermann trat im Dezember 1989 von seinem Posten als Generaldirektor zurück und arbeitete danach als Unternehmensberater in Berlin.

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Am 27. Oktober 1989 führte der Leiter der Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Generalleutnant Alfred Kleine auf einer Arbeitsberatung der Hauptabteilung zur Forschung und Entwicklung (FuE) der DDR aus: „Die in den letzten Jahren erreichten Ergebnisse bei der Entwicklung und Anwendung der Schlüsseltechnologien, mit denen das internationale Spitzenniveau mitbestimmt wurde, sind damit bei nahezu gleichbleibendem Forschungs- und Entwicklungspotential, vor allem durch die Konzentration der Kräfte erreicht worden. Mit 32 Hochschulkadern für die Forschung und Entwicklung, bezogen auf 10.000 Einwohner, besitzt die DDR einen vergleichbaren Anteil zu den USA (32), Japan (33) und die BRD (21), die absolute Höhe beträgt jedoch nur 5 % der Hochschulkader der o. g. kapitalistischen Industrieländer. Vergleichsweise setzte die BRD 1986 ca. 140.000 Hochschulkader direkt für die Forschung und Entwicklung ein, die DDR knapp 53.000. Dabei ist zu beachten, daß die DDR über ein Produktionsprofil verfügt, das in seiner Vielfalt dem vieler größerer Industrieländer nicht wesentlich nachsteht. Im Unterschied zu diesen Ländern, für die eine breite internationale Arbeitsteilung in Forschung und Produktion charakteristisch ist, muß die DDR mit rund 1,8 % des F/E-Potentials der hochentwickelten Industrieländer eine unserem breiten Produktionsprofil entsprechende Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung entsprechend den Erfordernissen der Erneuerung bewältigen. Der rationale Einsatz des F/E-Potentials macht sich deshalb für die DDR im besonderen Maße erforderlich. Hinzu kommt die Zersplitterung im Einsatz des F/E-Potentials, namentlich bei Aufgaben außerhalb des Staatsplanes. Wissenschaft und Technik, die sich in der Anzahl von mehr als 30.000 Themen ausdrückt, muß im Interesse eines höheren Niveaus und Tempos zügiger überwunden werden. Auch sind die Leistungsunterschiede des Forschungspotentials der einzelnen Kombinate und Bereiche noch zu groß. Hervorragenden Ergebnissen und großer Leistungsdichte steht noch zu viel Mittelmaß gegenüber. Die Leistungen des Forschungspotentials werden in nicht wenigen Forschungseinrichtungen von einem zu kleinen Kreis der Hoch- und Fachschulkader in der Forschung und Entwicklung getragen. Der Anteil der F/E-Kader, die patentwürdige Leistungen erbringen, an der Gesamtzahl der Hoch- und Fachschulkader in Forschung und Entwicklung schwankt seit Jahren um 18 % und liegt unter dem Niveau anderer entwickelter Industriestaaten. Noch zu gering ist der Anteil grundlegender schöpferischer Leistungen mit einem volkswirtschaftlich ins Gewicht fallenden ökonomischen Nutzungspotential. Eine Kernfrage ist deshalb die Erhöhung der Leistungsdichte des F/E-Potentials. Dazu ist auch hier eine konsequente Anwendung des Leistungsprinzips durch wirksame persönliche, materielle, aber auch moralische Stimulierung eine entscheidende Aufgabe. So werden z. B. die Möglichkeiten moralischer Stimulierung hoher schöpferischer Leistungen durch ihre Anerkennung für den Erwerb akademischer Grade (Prof., Dr. Ing., Dipl.-Ing.) noch ungenügend genutzt (die seit 1982 gesetzlich geregelte Möglichkeit der Verleihung des Doktorgrades für patentierte Leistungen ist bisher nur in sechs Fällen angewendet worden).

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Eine wesentliche Rolle spielt bei der Erhöhung der Leistungsfähigkeit in diesem Bereich der Einsatz der notwendigen, d. h. auch der modernsten Forschungstechnik, denn die im Einsatz befindlichen Geräte entsprechen nicht überall dem erforderlichen Niveau (mehr als 60 % dieser Gerate sind älter als fünf Jahre und gewährleisten in vielen Fällen nicht mehr die heute erforderlichen Toleranzen bzw. Prüfgenauigkeiten). Obgleich ich zu dem eben angeschnittenen Problem der vergegenständlichten Arbeit bereits gesprochen habe, wollte ich das hier erwähnen, weil wir festgestellt haben, daß die ungenügende Modernisierung / Ausstattung der Institute, wissenschaftlichen Einrichtungen und Forschungsbereiche der Industrie mit hochleistungsfähiger Forschungs-, Informations- und Kommunikationstechnik, verbunden mit der Beeinträchtigung der Forschungsvorhaben durch bürokratische Handlungen sowie fehlende materielle, vor allem auch moralische Stimulierung, neben anderen Erscheinungen zu den motivbildenden Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem nicht sozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR gehören“.199 Die Aussagen des MfS werden von ehemaligen DDR-Ökonomen vom ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Planungskommission bestätigt. „Die extremsten Auswüchse gab es ohne Zweifel auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik. Wollte man der Statistik glauben, entsprach danach der größte Teil der Forschungs- und Entwicklungsergebnisse, vor allem der Staatsplanaufgaben, dem wissenschaftlich-technischen Höchststand. Ähnlich positive Resultate wurden in der Qualitätsentwicklung vermeldet Die Anerkennung auf den äußeren Märkten ergab da ein ganz anderes Bild. Sinkende Raten der Exportrentabilität zeugten von immer größerem Rückstand gegenüber dem internationalen Niveau. Im Inland aber ergab sich ein Zwangslauf: einmal erreichte Anteile von Spitzenleistungen und höchsten Gütezeichen durften nicht zurückgehen. Der Plan setzte ständig höhere Ziele, denen die Realität nicht entsprach. Der bequemste Weg war, die eigenen Maßstäbe herabzusetzen oder schlichtweg die Ergebnisse zu fälschen. Die Vorgänge auf diesem Gebiet haben viele Parallelen. So wie hier drifteten die Erfolgsmeldungen und die von den Menschen im Alltag erlebte Realität immer mehr auseinander. Es liegt in der Anlage des Systems begründet, daß eben diese Menschen zu Opfern und Tätern zugleich wurden“.200 Der Rückstand der DDR bei den Schlüsseltechnologien lag nicht so sehr in der Forschung und Entwicklung, sondern in der Anwendung, da die Volkseigenen Betriebe keine Autonomie besaßen und nur ausführende Organe der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft waren.

199 Bastian, Uwe: Auf zum letzten Gefecht [...] Dokumentation über Vorbereitungen des MfS auf den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, 2. erweiterte Fassung, Berlin 1994, S. 28-30. 200 Kusch, Günther / Montag, Rolf / Specht, Günter / Wetzker, Konrad: Schlußbilanz – DDR – Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 99.

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IX. Ohne ökonomische Aussagekraft: Preise, Löhne, Kosten, Gewinne und Investitionen 1. Das Modell Sowjetunion in der Preispolitik der SBZ / DDR. „Der Sowjetstaat benutzt die Planung der Preise als ein Instrument der sozialistischen Industrialisierung des Landes“1 Von Gerhard Thimm Im Vorwort zu der Studie von Gerhard Thimm „Die Preis- und Kostenstruktur in der Industrieproduktion der Sowjetzone“ (Berlin 1956) schrieb Karl C. Thalheim: „Auch in der Preispolitik sind ebenso wie in der gesamten Wirtschaftsordnung die in der Sowjetunion selbst entwickelten und angewendeten Prinzipien auf das sowjetische Besatzungsgebiet Deutschlands übertragen worden. Es gibt hier keine marktmäßige Preisbildung mehr, wie sie – wenn auch mit einigen Korrekturen – in Westdeutschland besteht, sondern die gesamte Preisbildung erfolgt autoritär durch den Staat. Diese Grundprinzipien sind zwar bekannt und auch in der vorhandenen Literatur erörtert, bisher aber noch niemals in einer solchen Breite und Tiefe dargestellt worden wie in der vorliegenden Untersuchung. Diese zeichnet sich außerdem aber auch dadurch aus, daß mit einer außerordentlich mühsamen Kleinarbeit für eine ganze Reihe von wichtigen Wirtschaftszweigen die tatsächlichen Preisverhältnisse ermittelt worden sind. Die Angleichung an das sowjetische Vorbild zeigt sich besonders auch darin, daß die Preise für Grundstoffe und im allgemeinen auch für Produktionsmittel sehr niedrig gehalten werden, während die Preise für Konsumgüter mit wenigen Ausnahmen eine weit über dem Stand der Bundesrepublik liegende Höhe erreichen. Die Feststellung dieses Tatbestandes ist insbesondere auch im Hinblick auf die wirtschaftspolitischen Aufgaben, die sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands durch den wirtschaftlichen Zusammenschluß seiner bisher getrennten Teile ergeben werden, von größter Bedeutung. Selbstverständlich kann es in einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet auch nur ein einheitliches Preissystem und ein einheitliches Preisniveau geben, und für eine gesamtdeutsche Wirtschaft der Zukunft kann die völlig willkürliche autoritäre Preisregelung, wie sie gegenwärtig im sowjetisch besetzten Mitteldeutschland betrieben wird, nicht in Frage kommen. In der heutigen Sowjetzone wird daher mit erheblichen Veränderungen der Preisrelationen gerechnet werden müssen, die die Kostenstruktur der Betriebe stark beeinflussen werden“.2 Das Prinzip der Kaufkraftabschöpfung bei den Konsumgütern durch überhöhte Preise blieb ebenso wie das der Niedrigbewertung bei den Grundstoffen und Produktionsmitteln in den Schlussbilanzen der volkseige1

Die Studie von Thimm, Gerhard: Die Preis- und Kostenstruktur in der Industrieproduktion der Sowjetzone. Teil I: Die Preisstruktur der SBZ im Vergleich zur Bundesrepublik, Berlin 1956, umfasst 394 Seiten. Sie wird hier wortwörtlich und stark verkürzt wiedergegeben.

2

Ebd., S. II f.

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nen Betriebe bis zum 30.6.1990 bestehen. Erst in den Eröffnungsbilanzen in DM zum 01.07.1990 wurde nach Inventur eine radikale Neubewertung vorgenommen. 1.1. Das Planpreissystem sowjetischen Typs als Mittel zur Loslösung des Preises von Kosten und Bedarf In krassem Gegensatz zu der Preisbildung der Marktwirtschaft steht trotz mancher scheinbarer Ähnlichkeiten das völlig anders geartete staatliche Preisbildungssystem der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die in diesem System entwickelten Methoden zur Ersetzung des marktwirtschaftlichen Preisbildungsmechanismus darzustellen und zu analysieren. In der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs nimmt der Wirtschaftsplan die Stelle des alles beherrschenden Regulators der gesamten Wirtschaft ein. Er legt nicht nur die zu produzierenden Güter und ihre Menge, sondern auch deren Preise fest. Die selbsttätig preisbildende Wirkung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage ist vollständig ausgeschaltet. Der Preisbildungsmechanismus wird durch den zentralen Wirtschaftsplan ersetzt, der auf der Grundlage statistisch fundierter, volkswirtschaftlicher Bilanzierung aufgestellt sein soll. Die marktmäßig auf der Grundlage der Konkurrenz sich bildenden Preise werden durch willkürliche, durch staatliche Maßnahmen und Ziele bedingte Planpreise verdrängt und ersetzt, die vom Staat gesetzlich festgelegt sind und unveränderlich zumindest für eine Planperiode Gültigkeit besitzen. Praktisch ist „unter den sowjetischen Bedingungen der Preis der konkretisierte Plan“.3 Aufgrund des zugänglichen politökonomischen Schrifttums und des sonstigen Materials gewinnt man aber den Eindruck, daß die theoretischen Vorstellungen über das Planpreissystem und seine praktische Handhabung in der SBZ / DDR (ja sogar auch in der der SBZ / DDR Preisbildung als Muster dienenden Preisplanung der SU) noch reichlich unklar sind. Es sind insbesondere in der sowjetzonalen Literatur sehr unterschiedliche Auffassungen über die Möglichkeiten des Aufbaus und der Anwendung des Preiswesens festzustellen, auf Grund deren man zu der Annahme neigen muß, daß eine exakt fundierte theoretische Methodik der Planpreisbildung noch keineswegs entwickelt worden ist. Es handelt sich mehr um Versuche einer Preisplanung, deren Zweckmäßigkeit dann laufend an Hand der Ergebnisse in der Wirtschaftspraxis geprüft und korrigiert werden soll. Auf jeden Fall ist das östliche Preissystem in seinen Hintergründen und in seinen Einzelheiten noch äußerst unklar und demzufolge sehr schwer zu durchschauen, aber gewisse grundlegende Wesenszüge lassen sich herausstellen.

3

Bogoljepow: Zur Frage der Absatzpreise in der Schwerindustrie, zitiert nach: Bartels: Wirtschaftsrechnungstheorie und sowjetische Wirtschaftsrechnung, in: Finanzarchiv, Bd. 10, 1944, H. 2, S. 334.

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„Im Preisproblem“, so stellte das ZK der KPdSU bereits im Jahre 1927 fest, „kreuzen sich alle wesentlichen wirtschaftlichen und infolgedessen auch politischen Probleme des sowjetischen Staates“.4 Die völlig andersartigen Gedanken der politischen Ökonomie des Sozialismus werden bei den Ausführungen des sowjetischen Politökonom Maisenberg deutlich: „Eine der charakteristischen Besonderheiten der sozialistischen Wirtschaft ist die unmittelbare, planmäßige Festsetzung der Preise durch den Sowjetstaat. Der Hauptteil der Waren, die in der sozialistischen Gesellschaft produziert werden, konzentriert sich in den Händen des Staates und wird von ihm nach planmäßig festgesetzten Preisen in den organisierten Warenumlauf geleitet. Der Preis der Ware stellt den Geldausdruck der zu ihrer Produktion aufgewandten, gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die Geldform des Warenwertes, dar. Die planmäßige Festsetzung staatlicher Preise auf der Grundlage des Aufwandes an gesellschaftlich notwendiger Arbeit bedeutet dabei keine automatische Übereinstimmung von Preis und Wert jeder einzelnen Ware. Die Geldform des Preises läßt an sich schon die Möglichkeit offen, daß Preis und Wert der einzelnen Ware nicht zusammenfallen. Durch die Festsetzung des Warenpreises ordnet der Sowjetstaat den Mechanismus der Preisbildung seinen wirtschaftspolitischen Interessen, der Festigung des Sozialismus unter. Die staatliche Preisplanung bedeutet nach wie vor die größtmögliche Ausnutzung der Preisbildung zum Zwecke der Mobilisierung der Geldakkumulation für die Erfordernisse des sozialistischen Aufbaus. Alles das macht seinerseits eine planmäßige, staatliche Preisfestsetzung für die einzelnen Waren unter Abweichung von ihrem Wert erforderlich. Dabei muß schließlich das Preisvolumen für die durch die gesellschaftliche Arbeit in einer bestimmten Zeit geschaffenen Waren mit der Gesamtsumme des Wertes dieser Waren zusammenfallen“.5 Auch die sowjetischen Politökonomen S. Atlas6 und Wosnessenskij7 haben ähnliche Definitionen für den Preis. Ostrowitjanow zeigt die Bedeutung und die Ziele bei der Preisbildung auf: „Die Planung der Preise in den Händen der Sowjetregierung ist einer der wichtigsten ökonomischen Hebel der sozialistischen Produktion und Verteilung. Der Sowjetstaat benützt die Planung der Preise als ein Instrument der sozialistischen Industrialisierung (Hervorhebung von J. S.) des Landes, der Einführung einer erstklassigen Technik sowohl in den staatlichen Industrien als auch in den Kolchosen durch Festlegung niedrigerer Preise für Arbeitsgeräte und Produktionsmittel über-

4

Borgmeier: Über Preispolitik und Preisplanung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der MartinLuther-Universität, Halle 1952/53, Heft 7, S. 369 f.

5

Maisenberg: Die vereinheitlichten staatlichen Einzelhandelspreise, in: Sowjetwissenschaft 3/1948, Berlin (-Ost), S. 46 f.

6

Atlas, S.: Zur Theorie des Sowjetstaates, in: Sowjetwissenschaft, Heft 5/6, Berlin (-Ost) 1953, S. 676.

7

Wosnessenskij, zitiert bei: Ostrowitjanow: Die sozialistische Planung und das Wertgesetz, in: Sowjetwissenschaft 2/1948, Berlin, S. 36; Thimm, S. 11.

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haupt“.8 Hier wird deutlich, daß die Preise nichts mit den Kosten zu tun haben, sondern als ökonomischer Hebel für den Aufbau der Schwerindustrie in der SBZ/DDR benutzt werden, wie beim Fünf-jahresplan in der Sowjetunion 1928 – 1932/33. Die SED-Nomenklatur hatte ein Monopol bei der Planung der Preise, der Produktion und Verteilung. In der Präambel des Beschlusses über „Grundsätze der Preispolitik“, der vom Ministerrat der DDR am 14.02.1953 gefaßt wurde, heißt es: „Die Preispolitik ist eine der Formen der bewußten Anwendung des Wertgesetzes zur Erfüllung der Aufgaben des Fünfjahresplanes. Es erweist sich als notwendig, von der bisherigen, nicht mehr den Anforderungen der gegenwärtig erreichten Stufe der Planung genügenden Praxis der Preisbildung zu einer höheren Form der Preispolitik überzugehen, die auf der volkswirtschaftlichen Bilanz beruht, und die planmäßige Verteilung des Volkseinkommens gewährleistet“.9 Alle Preise werden von der staatlichen zentralen Planungsbehörde festgesetzt, und ebenso wird der Umfang der Produktion planmäßig bestimmt. Infolgedessen wird trotz freier Konsumwahl die Produktion in ihrer Höhe nicht mehr über den Preis von der Konsumentennachfrage gelenkt und bestimmt, wie es in der Marktwirtschaft weitestgehend der Fall ist. Bei der sozialistischen Preisplanung müssen grundsätzlich zwei Aufgabenbereiche unterschieden werden, „die zwar gewisse verschiedenartige Überlegungen notwendig werden lassen, zwischen denen aber trotzdem ein sehr enger Zusammenhang besteht. Es handelt sich einerseits um die Planung der industriellen Herstellerabgabepreise von Produktionsmitteln und Verbrauchsgütern und andererseits um die Planung der Verbraucherpreise. „Während bei der Planung der industriellen Herstellerpreise primär Überlegungen über Selbstkosten und Gewinn angestellt werden müssen, bzw. zumindest von den Selbstkosten ausgegangen werden muß, sind bei der Planung der Verbraucherpreise primär Überlegungen über Kauf- und Warenfonds vorzunehmen“.10 Am Beispiel der administrativen Planung der Verbraucherpreise für Industrieprodukte läßt sich die Methodik des östlichen Preisplaners demonstrieren, die ihn bei der Preisfindung leitet und mit deren Hilfe er den Automatismus des freien Marktes infolge des Fehlens des ordnenden Konkurrenzprinzips ersetzen will. Er hat als Grundlage für die Preisplanung einerseits in Form der Gesamtausbringung der Konsumgüter usw. einen bestimmten Teil des Sozialproduktes, der für den Verbrauch der Bevölkerung bestimmt ist, andererseits eine bestimmte Kaufkraft, die der Summe der Geldeinnahmen der Bevölkerung entspricht. Die Preisplanung hat nun die Aufgabe, zu gewährleisten, daß sich innerhalb einer Planperiode die Summe aller Warenpreise mit dem Kauffonds der Bevölkerung deckt. Ist der Wa8 9

Ostrowitjanow: Die sozialistische Planung und das Wertgesetz, in: Sowjetwissenschaft, 2/1948, Berlin (-Ost), S. 36/37.

Gesetzblatt der DDR 1953, Nr. 22, S. 313. 10 Schubert: Über einige Probleme der Planung der Einzelhandelspreise, in: Wirtschaftswissenschaft, Berlin (-Ost), Nr. 2/53, S. 149.

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renfonds kleiner als der Kauffonds, so ergibt sich ein Kaufkraftüberhang; die Bevölkerung kann sich für ihr Geld nicht die entsprechenden Waren kaufen. Ist umgekehrt der Kauffonds kleiner als der Warenfonds, so ist ein Teil der Waren nicht absetzbar. Aufgabe der Preisplaner ist es daher, die Übereinstimmung zwischen Kauf- und Warenfonds sicherzustellen. In der volkswirtschaftlichen Bilanz werden die Geldeinnahmen und Geldausgaben der Bevölkerung erfaßt. „Durch die Preisplanung oder durch die Planpreisbildung soll eine zweckmäßige Abschöpfung der Kaufkraft erreicht und dadurch das Auftreten einer größeren Diskrepanz zwischen Waren- und Kauffonds verhindert werden. Über den Planpreis ist eine Befriedigung der wirklichen und individuellen Bedürfnisse der Bevölkerung bzw. die Feststellung des kaufkräftigen Bedarfs unmöglich gemacht worden. Die Preisbildung wird in der Zentralplanwirtschaft sowjetischen Typs „planmäßig in den Dienst der Sicherstellung der für den planmäßigen Ausbau der Wirtschaft erforderlichen Kapitalbeschaffung gestellt“.11 Dies zeigen die Ausführungen von Ostrowitjanow: „Der Sowjetstaat bewirkt im Rahmen der in der Volkswirtschaft geschaffenen Gesamtsumme des Wertes unter Zuhilfenahme der Umsatzsteuer im großen Maßstab die Neuverteilung eines Teils des Wertes des Mehrproduktes im Interesse der sozialistischen Akkumulation“.12 Die Preisplanung kann daher als wesentlicher Teil der staatlichen Finanz- und Haushaltsplanung angesehen werden. Es „ist eine neue Grundform der Finanzwirtschaft des Staates entstanden: Der Staat produziert selbst das Nationalprodukt, aus welchem er die Mittel bereitstellt, deren er zur Durchführung seiner öffentlichen Tätigkeit bedarf. Das ist die Grundform der Finanzwirtschaft, wie sie in der Sowjetunion besteht“13 und uns auch in den anderen östlichen Zentralverwaltungswirtschaften und in der SBZ entgegentritt. Thimm schildert die Gesamtsituation in den Ländern der Volksdemokratien in denen die privaten Produktionsmittel vom Staat konfisziert und als „volkseigen“ bezeichnet werden. Hauptfaktor hinsichtlich der gesamten Einkommensbildung wurde somit die staatliche Wirtschaftstätigkeit in den staatlichen bzw. „volkseigenen“ Betrieben. Es wurde Aufgabe des Staates, für die Akkumulation von Kapital zur Erneuerung und Erweiterung der Produktion zu sorgen und die geldlichen Akkumulationen auf die einzelnen Wirtschaftszweige nach den Planzielen der Volkswirtschaftspläne aufzuteilen. So bildete sich in der östlichen Planwirtschaft ein eng verflochtenes System wechselseitiger Planbeziehungen zwischen Volkswirtschaft und Finanzwirtschaft über den Staatshaushalt und die Preispolitik heraus.

11 Ursprünglich erfolgte diese Mittelbeschaffung in den ersten Jahren der sowjetischen Planwirtschaft einfach durch die Festsetzung von Zuschlägen oder einer Art von Gewinnaufschlägen auf die bisherigen Warenpreise. 12 Ostrowitjanow: Die sozialistische Planung und das Wertgesetz, in: Sowjetwissenschaft, Nr. 2, Berlin (-Ost) 1948, S. 37. 13 Schneider: Die Etappen der sowjetischen Finanzwirtschaft, in: Finanzarchiv, Bd. XII, H. 2, 1950, S. 245 f.

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Gleich wie die einzelnen Produktionen werden auch mittels der Preisplanung die Geldakkumulationen der Wirtschaft durch den Gesamtwirtschaftsplan festgelegt. Über den Hebel des Preises stehen dem Staat die notwendigen Einwirkungsmöglichkeiten zur Verfügung, um zu versuchen, sowohl das erforderliche Gleichgewicht zwischen Geld und Warenmenge zu erreichen, als auch die notwendigen geldlichen Akkumulationen sicherzustellen. Man „sieht die geldlichen Akkumulationen als die Differenz zwischen Verkaufspreisen und den Selbstkosten der umgesetzten Waren an. Der Preis der Waren bestimmt deshalb das Ausmaß der geldlichen Akkumulationen, die im Finanzsystem angesammelt werden“. (Hervorhebung von J. S.) Die Akkumulation – bestehend aus Gewinn und differenzierter Umsatzsteuer14 – ist der Wert des Mehrproduktes oder der Bruttogewinn, der sich aus dem Unterschied zwischen Produktionskosten und festgesetztem Verkaufspreis bzw. Planpreis ergibt. Der Bruttogewinn der staatlichen oder volkseigenen Unternehmungen entsteht aber nur sehr bedingt durch die Tätigkeit des einzelnen Betriebes, da sämtliche Preise durch den Staat festgesetzt und reguliert werden. Er ist auch kein Maßstab für die Wirtschaftlichkeit des Betriebes, da auch die Selbstkosten geplant sind. Die Gesamtakkumulation bzw. der Bruttogewinn selbst, die Differenz zwischen den geplanten Preisen und den geplanten Selbstkosten, ist demnach im Rahmen volkswirtschaftlicher Bilanzierungen ebenfalls planmäßig bestimmt, und zwar vorwiegend mittels der differenzierten Umsatzsteuer.15

14 Es soll hier die Bezeichnung Umsatzsteuer, die in der sowjetischen und sonstigen östlichen Literatur angewandt wird, beibehalten werden, obwohl in der sowjetzonalen Literatur des Jahres 1953 und 1954 z. T. die Bezeichnung „differenzierte Warenabgabe“ bzw. „differenzierte Produktionsabgabe“ verwendet wurde. In der SBZ / DDR hat sich die Bezeichnung Produktionsabgabe durchgesetzt. In dem Beschluß über die Grundsätze der Preispolitik ist ebenfalls die Rede von einer „differenzierten, an das Produkt gebundenen Produktionsabgabe“. Siehe außerdem die Verordnung über die Produktionsabgabe in der volkseigenen Wirtschaft vom 06.01.1955 GBL. I, Nr. 8 vom 28.01.155, S. 37 ff. Im Folgenden ist die Bezeichnung Umsatzsteuer für den Bereich der SBZ mit Produktionsabgabe gleichzustellen. Produktionsabgabe – ehem. selbstständige Abgabe auf das in den Betrieben der volkseigenen Industrie und der volkseigenen Land- und Forstwirtschaft der DDR beim Absatz der Produkte realisierten Realeinkommen, 1972 in die produktgebundene Abgabe einbezogen. Die Produktabgabe erfaßt die Differenz zwischen dem (höheren) Industrieabgabepreis und dem (niedrigeren) Betriebspreis. Die Produktionsabgabe wurde 1954/57 für die volkseigene Wirtschaft eingeführt und hatte hier die Körperschaftssteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer und Verbrauchsabgaben abgelöst sowie in bestimmtem Umfang auch Teile der Nettogewinnabführung in sich aufgenommen. N verschiedenen anderen sozialistischen Ländern entspricht der Produktionsabgabe die differenzierte Umsatzsteuer. Die Produktionsabgabe wurde primär nach preispolitischen Erfordernissen festgelegt. In: Ökonomisches Lexikon H – P, 3. Aufl., 1979, S. 781. 15 Förster: Die Rolle der Finanzwirtschaft im sowjetischen Wirtschaftssystem, Berichte des Osteuropa-Instituts, Heft 19, Berlin 1955, S. 18 und S. 20 f.

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„Die Abführung der Geldakkumulation an den Staat erfolgt in der Form einer differenzierten, an das Produkt gebundenen Produktionsabgabe16 und in der Form der Gewinnabführung“.17 Damit war die DDR dem Modell Sowjetunion genau gefolgt. Die höchsten Akkumulationen plant die Planwirtschaft in den Preisen der Konsumgüterindustrie, insbesondere der Genußmittelindustrie und den Industriezweigen der Massenbedarfsartikel, während in den Preisen der Grundstoff- und Produktionsmittelindustrie die geplanten Akkumulationen von wesentlich geringerer Bedeutung sind. Demzufolge sind die Sätze der differenzierten Umsatzsteuer bei Konsumgütern weitaus am höchsten, während in der Grundstoffindustrie usw., bei den Produktionsgütern entweder gar keine oder nur niedrige Sätze der differenzierten Umsatzsteuer zu Kontrollzwecken erhoben werden.18 „Wo soll das Schwergewicht bei der Beschaffung der Mittel für die gesellschaftliche Akkumulation liegen? Es ist offensichtlich, daß es nicht in der Produktion von Produktionsmitteln liegen kann, denn das hieße, das Ausmaß und das Tempo der Produktion von Produktionsmittel verringern. – Die Festpreise für Produktionsmittel werden also in der Regel keine differenzierte Produktionsabgabe enthalten, d. h. Bruttogewinn und Nettogewinn werden weitestgehend identisch sein“.19 Das Primat der Produktion von Produktionsmitteln war eine Forderung (Gesetz) von Stalin: „Es ist offensichtlich, daß wir, wollten wir in die Fußstapfen dieser Genossen treten, uns von dem Primat der Produktion von Produktionsmitteln lossagen müßten zugunsten der Produktion von Konsumtionsmitteln. Was aber bedeutet, sich von dem Primat der Produktion von Produktionsmitteln lossagen? Das bedeutet, unserer Volkswirtschaft die Möglichkeit des ununterbrochenen Wachstums zu nehmen, denn es ist unmöglich, das ununterbrochene Wachstum der Volkswirtschaft zu gewährleisten, ohne zugleich das Primat der Produktion von Produktionsmitteln zu gewährleisten“.20 Thimm geht auch auf die Frage ein, warum die Produktionsabgabe zum wichtigsten Instrument der Abschöpfung der geplanten Gesamtgewinne bzw. der geplanten Akkumulation gemacht wurde. Der Staat sah sich in allen Zentralverwal16 Rzesnitzek, F.: Zur Neuregelung des Abgabensystems in der DDR, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Nr. 1, 1953, S. 8. Anscheinend soll die Bezeichnung Umsatzsteuer vermieden werden, da sich mit diesem Wort stark der Begriffsinhalt der im westlichen System üblichen Umsatzsteuer verbindet und die differenzierte Umsatzsteuer mit dieser ja nichts weiter als nur den Namen gemeinsam hat. 17 Gesetzblatt der DDR 1953, Nr. 22, S. 314. 18 In der Grundstoffindustrie und der Maschinenindustrie der SU z.B. beträgt die differenzierte Umsatzsteuer, soweit nicht überhaupt Steuerbefreiungen festgelegt sind, 3 %-10 %, dagegen in der Verbrauchsgüterindustrie 50 %-80 %. Schmidt, Johann: Wirtschaftliche Rechnungsführung und Besteuerung. Diskussionsbeiträge zu Wirtschaftsfragen, Heft 6, Berlin (-Ost) 1953, S. 134. 19 Schmidt: Zu einigen Fragen der Preispolitik, in: Einheit, 1953, S. 463. 20 Stalin, J.: Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin (-Ost) 1952, S. 24.

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tungswirtschaften sowjetischen Typs folgenden Tatsachen gegenüber: der Notwendigkeit der Konsumlenkung, dem Vorhandensein von überschüssiger Kaufkraft und einem hohen Finanzbedarf des Staates. Es mußte daher die zweckmäßige Methode zur Konsumlenkung, zur Kaufkraftabschöpfung und zur Deckung des Finanzbedarfes gefunden werden. In der differenzierten Umsatzsteuer glaubte man in vollem Umfang die geeignetste Form zur Erreichung der genannten Ziele gefunden zu haben. Planpreise, Planselbstkosten und Planrentabilität als Anreiz- und Kontrollmittel für die Entwicklung der Wirtschaft und Wirtschaftlichkeit: Der Rentabilitätsbegriff erhält in dem östlichen System der Planpreise und Planselbstkosten aber einen ganz anderen Sinn und Inhalt. Er verliert seine Allgemeingültigkeit als bestimmender Faktor im Wirtschaftsleben. Rentabilität im östlichen Sinne ist nunmehr vom speziellen Planwirtschaftssystem und dessen Zielsetzungen her zu verstehen. Die gesellschaftliche Rentabilität als Ergebnis der betrieblichen Tätigkeit wird natürlich geplant. Sie wird mit Hilfe der Planpreise und Planselbstkosten eine bestimmbare und lenkbare Größe entsprechend den Planzielen. Sie ist in der Planwirtschaft keine absolut bestimmende Größe mehr für die Produktionsausrichtung. Die Planung der Rentabilität macht sie zu einem Kontrollmittel über den Grad der Planerfüllung (Kostenplan), sie erlangt Kontrollfunktionen. „Die Rentabilität in der volkseigenen Wirtschaft drückt den Grad der Planerfüllung aus. Die Rentabilität ist eine der wichtigsten Kennziffern der Planung und Plankontrolle“.21 Hierbei ist es im Planwirtschaftssystem grundsätzlich ohne Bedeutung, ob ein Betrieb absolut rentabel oder im Interesse des Gesamtplanes unrentabel arbeitet. Die Rentabilität wurde damit zum Mittel der Kosten- und Zentralplanerfüllungskontrolle.22 Zusammenfassende und kritische Wertung des Planpreissystems: In der marktlosen sozialistischen Zentralplanwirtschaft kommt es häufig zu wirtschaftlichen Fehlleistungen oder Fehlproduktionen. „Denn die zentrale und planmäßige Vorausbestimmung und Festlegung des wirklichen Bedarfs bei Konsumtionsfreiheit als Grundlage für die bedarfsgerechte Produktionsplanung und für die richtige Planpreisbildung ist ein unmöglich zu erreichendes Ziel. Ebenso werden die Nutzenschätzungen der Verbraucher bei zahllosen Waren auseinandergehen. Außerdem ist die Nachfragelastizität je nach Einkommenshöhe sehr unterschiedlich. Zu dieser Frage mußte selbst der Leiter der Staatlichen Plankommission der DDR, Heinrich Rau, folgendes erklären: „Eine der Schwächen der Planung unserer Produktion und damit Ursache für viele Schwierigkeiten in unserer Wirtschaft

21 Thamm, Johannes / Lange, Herbert / Knauthe, Erhart: Der Betriebsplan des volkseigenen Industriebetriebes, Berlin (-Ost) 1952, S. 212 f. 22 Bartels, E.: Wirtschaftsrechnungstheorie und sowjetische Wirtschaftsrechnung, in: Finanzarchiv, Bd. 10, H.2, 1944, S. 346 f.

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besteht darin, daß sie in ungenügendem Maße vom tatsächlichen Bedarf an Waren ausgeht“.23 Die festgelegten Planpreise können die genannten Tatbestände für die Bedarfsermittlung unmöglich im voraus exakt berücksichtigen, geschweige denn durch Planung festlegen. Die Gleichgewichtsfunktion des Preises ist durch die Planpreise nur in Ausnahmefällen erfüllbar: „Der zuvor fixierte Preis multipliziert mit der Menge der hergestellten Produkte kann nur zufällig mit derjenigen Geldsumme übereinstimmen, welche der Konsument für die Befriedigung dieses Bedürfnisses bei der gegebenen Einkommensverteilung und dem gegebenen Verhältnis der übrigen Preise anzuwenden gewillt ist“.24 In der Marktwirtschaft gibt der Marktpreis als Objektivierung der kaufkräftigen Nachfrage zwingende Richtlinien für die Produktion. Diese Preisfunktion soll in der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs der Produktionsplan übernehmen, der aber in starkem Umfange ohne Kenntnis und ohne Zusammenhang mit den wirklichen Bedürfnissen der Bevölkerung aufgestellt wird. 1.2. Die Preispolitik in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft als Instrument zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Ziele Mit dem SMAD Befehl Nr. 9 vom 21.06.1945 wurde zunächst grundsätzlich bestimmt: „daß der Verkauf der Waren und Einrichtungen an die Besatzungstruppen, an Betriebe und Bevölkerung nach Preisen zu erfolgen hat, wie sie im Jahre 1944 in Deutschland gültig waren.“ Preiserhöhungsanträge wurden insbesondere von den Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) gestellt. Reparationen wurden dagegen auf der Preisbasis von 1944 abgerechnet. Diesen Zielen – Schaffung preislich günstiger Voraussetzungen für Reparationen, Stärkung der SAG-Betriebe und Schaffung der Grundlagen für eine Planwirtschaft – diente im wesentlichen die Preispolitik der SBZ / DDR in ihrer praktischen Durchführung bis zum Inkrafttreten des ersten Gesamtwirtschaftsplanes der SBZ / DDR für das zweite Halbjahr 1948 und des Zweijahresplanes 1949/50. Mit Inkrafttreten des Zweijahresplanes 1949/50 trat auch die Preispolitik der SBZ / DDR in eine neue Etappe. Es begann der Aufbau eines Planpreissystems in dem von Jahr zu Jahr gewichtiger werdenden volkseigenen Sektor der Industrie. Die Preispolitik wurde immer stärker in den Dienst der Ziele der Wirtschaftsplanung gestellt. Die Entstehung der planmäßigen Preise liegt in dem durch den Staat erfolgenden Versuch einer planmäßigen Ausbalancierung der vorhandenen Warenwerte mit der ihr gegenüberstehenden Kaufkraft der Bevölkerung. Als Mittel dieser Bilanzierung bedient sich die Preispolitik der SBZ / DDR sowohl der HO-

23 Rau, H.: Die neuen Wirtschaftsaufgaben, S. 10, zitiert bei Mann: Die Bedeutung der unterschiedlichen Kostenstruktur der Betriebe bei der Festsetzung von Planpreisen, in: Deutsche Finanzwirtschaft, 1952, Heft 5, S. 259. 24 Bostedt, H.: Preisbildung und Preispolitik in Sowjetrußland, München 1931, S. 130.

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Akzisen als auch der Haushaltsaufschläge wie der Verbrauchsabgaben, deren Erträge an den Staatshaushalt abzuführen sind. Die Handelsorganisation (HO) wurde 1948 als Verstaatlichung des Schwarzmarktes gegründet. Die Preise des Schwarzmarktes und die der HO stimmten anfänglich überein. Die in der HO käuflichen sogenannten freien Waren gehörten in starkem Umfang ebenfalls zu den Mangelwaren der rationierten Grundversorgung, d.h. der Zwangsbewirtschaftung mit Lebensmittel- und Verbraucherkarten. Bis April 1953 waren rationiert und kartenpflichtig: Fett, Fleisch, Fisch, Milch, Eier, Zucker, Kohlen, Kartoffeln, Schuhe, Textilien bis auf Zellwollwaren. Die HO-Akzisen sind eine Abart der Haushaltsaufschläge beim freien Verkauf der noch der Rationierung unterliegenden Waren. Für diese Waren existierten zwei Preisebenen, HO-Preise und Lebensmittelkartenpreise. „Mit einer völlig anderen Zweckbestimmung und Aufgabenstellung entstanden die Haushaltsaufschläge als aus den Bedingungen unserer Wirtschaftsplanung hervorgegangene Größen. Sie waren die variablen Preisbestandteile, die bereits die Anfänge unserer Volkswirtschaftlichen Bilanzierung und planmäßigen Preisgestaltung zur Verwirklichung unserer wirtschaftspolitischen Zielsetzung erforderten“. Das bedeutendste preispolitische Lenkungsmittel war zum damaligen Zeitpunkt die Verbrauchsabgabe. „Die Verbrauchsabgabe ist ein Instrument der Planung. Sie dient in erster Linie dazu, Übereinstimmung zwischen Warenfonds und Kauffonds herbeizuführen“. Das anfängliche Verfahren zur Erhebung der Verbrauchsabgaben wurde mit Wirkung vom 01.01.1954 geändert. Zu diesem Zeitpunkt trat eine Anordnung der Regierung der DDR vom 14.02.1953 „über die Erhebung von Verbrauchsabgaben in der Produktionsstufe“ in Kraft. Damit werden mit wenigen Ausnahmen die auf den Waren ruhenden Verbrauchsabgaben, die bis dahin überwiegend im Großhandel und auch im Einzelhandel (HO und Konsum) abgeführt wurden, von den Produktionsbetrieben erhoben. Die wesentlichste Veränderung ist, daß der staatliche Großhandel (HO und Konsum) in Zukunft zu einem um die Verbrauchsabgaben erhöhten Preis einkaufen, während sich bei den Produktionsbetrieben der Abgabepreis um die Verbrauchsabgaben erhöht. Maßgeblich für die Preispolitik und deren Handhabung im Bereich der DDR ist der Beschluß des Ministerrates „Über die Grundsätze der Preispolitik“ vom 14.02.1953. Einleitend wird in dem Beschluß erklärt „Die II. Parteikonferenz der SED stellt die Aufgabe, den Sozialismus in der DDR planmäßig aufzubauen“. Die Grundsätze der Preispolitik kann man als eine Art Preisgrundgesetz der Zentralverwaltungswirtschaft in der DDR bezeichnen. Die Gedankengänge dieses Beschlusses bringen das offizielle und endgültige Einmünden der sowjetzonalen Preispolitik in die preispolitische Generallinie der SU und aller anderen Volksdemokratien eindeutig zum Ausdruck. Die wesentlichen Thesen dieses Beschlusses lauten:25 25 Gesetzblatt der DDR Nr. 22 vom 21.2.1953, S. 313 ff.

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„Ein wichtiges Instrument zur Förderung dieser planmäßigen Entwicklung ist die Preispolitik. Die Preispolitik ist eine der Formen der bewußten Anwendung des Wertgesetzes zur Erfüllung der Aufgaben des Fünfjahresplanes. Es erweist sich als notwendig, von der bisherigen, nicht mehr den Anforderungen der gegenwärtig erreichten Stufe der Planung genügenden Praxis der Preisbildung zu einer höheren Form der Preispolitik überzugehen, die auf der volkswirtschaftlichen Bilanzierung beruht und die planmäßige Verteilung des Volkseinkommens gewährleistet“. „Auf der Grundlage der ununterbrochenen Steigerung der Arbeitsproduktivität und Senkung der Selbstkosten im Bereich der Produktion ist eine Politik der systematischen Senkung der Preise möglich und notwendig“. „Im Bereich der Konsumtion ist durch die Preispolitik eine Übereinstimmung zwischen Kauf- und Warenfonds zu gewährleisten mit dem Ziel, der Senkung der Preise, der Erhöhung des Wohlstandes der Werktätigen zu dienen und die Festigung unserer Währung zu sichern“. „Die in den Preisen der einzelnen Waren bei den Betrieben zu realisierende durchschnittliche Geldakkumulation (Bruttogewinn) ist planmäßig festzulegen. Die Geldakkumulation verbleibt zum Teil den Betrieben und wird zum anderen Teil an den Staat für gesamtgesellschaftliche Zwecke abgeführt“. „Die Abführung der Geldakkumulation an den Staat erfolgt in der volkseigenen Wirtschaft in der Form einer differenzierten, an das Produkt gebundenen Produktionsabgabe und in der Form der Gewinnabführung“. „Die Neuordnung der Preise in den Hauptproduktionsstufen ist in drei Etappen vorzunehmen: a) Grundstoffindustrie, Land- und Forstwirtschaft b) Weiterverarbeitende Industrie c) Fertigwarenindustrie“ „Von der staatlichen Plankommission sind zur Verbesserung der Planung und Kontrolle der Produktion und Verteilung die erforderlichen und inhaltlich aufeinander abgestimmten Waren- und Finanzbilanzen aufzustellen, um die ständige Übereinstimmung zwischen einander entsprechenden Waren- und Kauffonds herzustellen“. „Während des Planjahres dürfen Preise in der Regel nicht geändert werden. Das trifft nicht zu für geplante Preissenkungen für Konsumgüter“.26 Aus den wichtigsten Thesen des Regierungsbeschlusses ist mit aller Deutlichkeit zu ersehen, daß die Preispolitik restlos in den Dienst der wirtschaftspolitischen Zielsetzung des Aufbaues einer vollständigen sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft nach sowjetischem Vorbild gestellt wird. Die zitierten Grundsätze bilden für die nächste Zukunft die Richtschnur der DDR preispolitischen Praxis. So wurde die Produktionsabgabe mit Wirkung vom 01.01.1955 in der volkseigenen Industrie der DDR eingeführt. Einzelheiten über die Höhe der Produktionsabgabe in den einzelnen Wirtschaftszweigen und -stufen sind nicht bekanntge26 Gesetzblatt der DDR Nr. 22 vom 21.02.1953, S. 313 ff.

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geben. Als Regel ist aber anzusehen, daß auf Erzeugnisse der Grundstoff- und Produktionsmittelindustrie keine oder nur eine geringe Produktionsabgabe erhoben wird. Vorwiegend und in beträchtlicher Höhe wird dagegen die Produktionsabgabe in der Konsumgüterindustrie in Ansatz gebracht. Je Produkt sollten zwei Preise administrativ festgesetzt werden: (I) der Betriebspreis und (II) der Industrieabgabepreis, der den Betriebspreis und die Produktionsabgabe enthält, also der Verkaufspreis des Betriebes. Beim Industrieabgabepreis sollten die Betriebsmittelpreise möglichst niedrig sein (Produktionsabgabe = 0). „Bei der Ausarbeitung der Industrieabgabepreise für Konsumgüter ist ein anderer Weg einzuschlagen. In den Industrieabgabepreisen für Konsumgüter wird der wesentliche Teil der Geldakkumulation (Reineinkommen des Staates) realisiert. Durch die niedrigen Preise bei Produktionsmitteln konzentriert sich die Geldakkumulation auf die letzte Stufe der Konsumgüterproduktion vor Übergang in den Handel. Der Industrieabgabepreis ist bestimmend für den Einzelhandelspreis, da er die Produktionsabgabe enthält, so daß sich der Einzelhandelspreis aus Industrieabgabepreis plus Handelsspanne ergibt“.27 Zusammenfassende und kritische Wertung des Planpreissystems: Die preispolitische Praxis der DDR zur Zeit (1956) und auch in absehbarer Zeit stellt kein einheitliches Ganzes dar. Stoppreise des Jahres 1944 stehen neben vielen in den Jahren 1948 bis 1952 angehobenen bzw. neu gebildeten Preisen und neben den völlig nach den neuartigen Gesichtspunkten der Planpreisbildung aufgebauten neuen Preisregelung für Kohle, Eisen und Stahl sowie NE-Metalle. Die maßgeblichen Preise für viele Rohstoffe und Grundstoffe usw. sind in dem augenblicklichen Preissystem noch vielfach sehr stark unterschiedlich in ihren Grundlagen aufgebaut und entsprechen in keiner Weise dem theoretisch angestrebten Planpreissystem.

27 Lorenz: Methodische Fragen bei der Ausarbeitung einheitlicher Festpreise, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Nr. 16/1955, S. 674 f. Siehe hierzu auch die Preisanordnung Nr. 430 vom 18.8.1955 über die Änderung der Preiskalkulation in der volkseigenen Wirtschaft bei Einführung der Produktionsabgabe, insbesondere §2 und §3.

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Tarife für Arbeiten der MTS 1954

Art der Arbeit

Tarif I

Tarif II

Tarif III

Tarif IV

Landwirtsch. Produktionsgenossenschaft

Wirtschaften bis 10 ha landwirtsch. Nutzfläche Preis pro ha in DM

Wirtschaften 10 bis 20 ha landwirtsch. Nutzfläche Preis pro ha in DM

Wirtschaften über 20 ha landwirtsch. Nutzfläche Preis pro ha in DM

15,--

18,--

23,--

58,50

27,--

34,--

46,--

104,--

7,--

9,--

11,--

22,--

8,--

9,50

18,--

40,--

12,--

14,50

22,--

50,--

7,-5,--

9,-6,50

11,-10,--

22,-22,--

12,-12,-+ 4,--

15,-16,-+ 5,--

19,-20,-+ 7,--

40,-40,-+ 12,--

16,--

20,--

33,--

75,--

22,50 8,-15,-6,50 6,50

28,-12,-25,-8,-8,--

46,-25,-35,-14,-14,--

85,50 50,-65,-30,-30,--

2,20

3,20

3,70

7,70

Preis pro ha in DM Pflügen auf Böden mit Ackerwertzahlen bis 33 10 – 20 cm Untergrundlockerung mit Bodenmeissel Scheibeneggen Stoppelsturz m. Schälpflug, Scheibenegge oder Kultivator Stoppelsturz m. Schälpflug und Wühlschar Kultivieren Drillen Getreidemähen Mähdreschen pro t ausgedr. Getreide Kartoffelroden (Schleudern) Kartoffelroden m. Vorratsroder Rübenroden Kartoffellegen Kartoffelhäufeln Kartoffelhacken Dreschen auf gemeinsamem Dreschplatz Dreschkasten bis 1.000 kg je Std.

Beispiele für die Anwendung der Preispolitik als Mittel zur Vernichtung der Privatbetriebe: An zwei speziellen Beispielen aus den Jahren 1953/54 mag gezeigt werden, in welcher Art die Preispolitik der DDR in den Dienst der allgemein politischen und wirtschaftspolitischen Zielsetzung des sowjetzonalen Staates – der Differenzierung nach „sozialökonomischen Formation“ zum Zwecke der Vernichtung der privaten Betriebe – gestellt wird: Auf Grund einer vom 22.3.1954 datierenden Anordnung über Jahresarbeitsverträge der Maschinen-Traktoren-Stationen wurden in einer Bekanntmachung

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vom 22.03.1954 die Tarife für Arbeiten der MTS im Jahre 1954 veröffentlicht. Es sind vier Tarifgruppen vorgesehen. Der niedrigste Tarif I gilt ausschließlich für Arbeiten der MTS bei landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, während der Tarif IV, der für bäuerliche Wirtschaften über 20 ha gilt, ein Vielfaches des Tarifes I ausmacht. Viele Bauern sind gezwungen, die Dienste der MTS in gewissen Fällen in Anspruch zu nehmen, da sie ungenügend mit Maschinen ausgestattet sind und weder von der Neuproduktion an Landmaschinen und Geräten noch von der Ersatzproduktion irgendwelche Lieferungen erhalten. Die gesamte Neuproduktion wird nur an MTS bzw. an volkseigene Güter zugeteilt. Die vorstehende Aufstellung der festgesetzten Vergütungssätze für die Dienstleistungen der MTS ist somit ein klarer Ausdruck des von der DDR gegen die „kapitalistischen Elemente auf dem Lande“ – die „Großbauern“ und selbstständigen Mittelbauern – geführten Klassenkämpfe auf dem Lande. Mit Anordnung vom 22.01.1955 wurden die Tarife der Gruppe III und IV gesenkt, lagen aber noch immer wesentlich über den Sätzen der begünstigten Tarifgruppen der Produktionsgenossenschaften und Kleinbauern. Ziel aller dieser preispolitischen Maßnahmen ist und bleibt die langsame Vernichtung der letzten Reste der privaten Wirtschaft. Die Preisbildung im Außenhandel: Im Rahmen der Zentralverwaltungswirtschaft der SBZ / DDR und des dadurch bedingten Außenhandelsmonopols muß die Preisbildung bei Außenhandelsgeschäften innerhalb der SBZ / DDR vollkommen losgelöst von dem Preisniveau und den Preistendenzen auf dem Weltmarkt sein. Ohne diese Trennung der SBZ / DDR-Wirtschaft von den Preiseinflüssen der Außenmärkte wäre eine Planung mit festen Inlandspreisen, die während eines bestimmten Planungszeitraumes unveränderlich bleiben, nicht durchführbar. Bei Importen hat der Empfänger innerhalb der SBZ / DDR generell die für vergleichbare Waren maßgeblichen DDR-Preise zu zahlen. Mit Hilfe eines langwierigen und bürokratischen Verfahrens werden unter Beachtung der angeführten Gesichtspunkte die Importpreisfestsetzungen in der SBZ / DDR durchgeführt, um dadurch die Abschirmung der Zentralverwaltungswirtschaft der SBZ vom Weltmarkt und seinen Preiseinflüssen zu sichern. Bei Exportgeschäften wird gleichfalls das Preisniveau der SBZ / DDR restlos getrennt von den Währungspreisen, die für Exportwaren erzielt werden können. In Auswirkung des praktisch bestehenden Außenhandelsmonopols erhält der inländische Herstellungsbetrieb der Exportwaren auf jeden Fall nur den genehmigten Herstellerabgabepreis – in der Regel den Planpreis –, den er bei Verkäufern im Gebiet der SBZ / DDR selbst auch erzielen würde. Irgendein Unterschied zwischen Inlands- und Auslandsgeschäften besteht preislich für den Produktionsbetrieb nicht. Der ausländische Käufer der SBZ / DDR-Exportwaren zahlt den jeweils vereinbarten Währungspreis. Unberücksichtigt bleibt hierbei ebenfalls, ob sich auf Grund des erzielten Währungspreises gegenüber dem geltenden Inlandspreis negative oder positive Differenzen ergeben.

751

Durch die scharfe Trennung des inländischen Preisniveaus der SBZ / DDR von dem der Auslandsmärkte gewinnt einerseits bei Importen das Verhältnis der inländischen Planpreise zu den in ausländischer Währung gezahlten Preisen bzw. andererseits bei Exporten das Verhältnis der SBZ / DDR-Planpreise zu den in ausländischer Währung erzielten Erlösen innerhalb der Außenhandelsplanung der SBZ / DDR beträchtlich an Gewicht. Diese Form der binnenwirtschaftlichen preislichen Verrechnung der Außenhandelsgeschäfte im Rahmen des staatlichen Außenhandelsmonopols macht die Einschaltung eines Preisausgleichsfonds – des aus dem Staatshaushalt gespeisten sog. Differenzkontos – erforderlich, durch welches die positiven oder negativen Unterschiede zwischen Inlands- und Auslandspreisniveau bei Importen und Exporten aufgefangen und völlig von der sowjetzonalen Planwirtschaft ferngehalten werden. Die Funktion des Preisausgleichsfonds ist unmittelbar mit dem SBZ / DDR-Außenhandelsmonopol verknüpft. „Über das Differenzkonto soll der Preisunterschied, der zwischen dem Devisengegenwert eines importierten Erzeugnisses, also dem Weltmarktpreis, und seinem DDR-Preis besteht, ausgeglichen werden“.28 Der Ausgleich der Preisdifferenzen zwischen Binnenmarkt und Außenmarkt wird demnach durch die Einschaltung des Staatshaushalts in die Außenhandelsberechnung erreicht. Die Summe der erforderlichen Preisausgleichszahlungen, die durch das Verhältnis der SBZ / DDR-Preise zu den Weltmarktpreisen bestimmt wird und die in den letzten Jahren (1953/55)über zwei Milliarden DDR-Mark betragen hat, wird im Rahmen der Außenhandelsplanung gleichfalls eingeplant und nimmt innerhalb der Finanzplanung des Außenhandels eine entscheidende Stellung ein.29 1.3. Die Preispolitik im Rahmen der sowjetischen Wirtschaftspolitik „Eine reine Zentralverwaltungswirtschaft muß eine Bewertung aller wirtschaftlichen Güter durchführen, damit sie Produktion und Verteilung planen kann. Es gibt aber in einer solchen Wirtschaftsordnung weder Märkte noch Preise. In einer Verkehrswirtschaft dagegen können Preise, die sich auf Märkten bilden, nicht fehlen. Denn sie erst bewirken die Zusammenfassung und die Abstimmung der vielen einzelnen Wirtschaftspläne, aus deren Zusammenwirken sich das Ganze einer Verkehrswirtschaft bildet. 28 Cron, G.: Preisbildung bei importierten Erzeugnissen, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Nr. 15, 1954, S. 818 f. 29 In der sowjetzonalen Fachpresse sind erhebliche Diskussionen über Wesen und Bedeutung des Preisausgleichsfonds im Außenhandel geführt worden. Strobel: Einige Bemerkungen zu den Fragen des Preisausgleichs und der Subventionen im Außenhandel, in: „Der Außenhandel“, Nr. 9/1954, S. 200 ff. Rudolph: Die Behandlung der Subventionen und der Außenhandelspreisdifferenzen in der Bilanz des Volkseinkommens, in: Statistische Praxis, Heft 8/1955, S. 121 ff. Buhls: Zu den Fragen des Preisausgleichs und der Subventionen im Außenhandel, AH Nr. 17/1954, S. 381. Fraas: Subventionen oder Preisstützung, AH Nr. 23/1954, S. 519 f. Cron, G.: Preisbildung bei importierten Erzeugnissen, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Nr.15, 1954, 818 f.

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Die sowjetrussische Preispolitik arbeitet mit den Methoden der Erzeugerfestpreise und mit der Umsatzsteuer. Damit sind auch ihre Ansatzpunkte gekennzeichnet, nämlich die Erzeuger einerseits und der Einzelhandel andererseits. Die Voraussetzung dafür, daß die geplante Beeinflussung der Märkte mit dem Ziel der Anpassung der Nachfrage an das ‚planmäßige‘ Angebot durch die indirekten Mittel der Preispolitik erfolgen konnte, ist die Starrheit der Nachfrage oder des Angebots. Beides ist in der Sowjetunion gegeben, oder es kann erzwungen werden. Die unmittelbare Folge dieser Preispolitik ist eine starke Loslösung der Erzeugerpreise von den Verbraucherpreisen. Der Zweck dieser Maßnahme ist die indirekte Verbrauchs- und Einkommenslenkung. – In den festgesetzten Verbraucherpreisen werden sich die Unterschiede der Nachfrageelastizitäten allmählich niederschlagen. Denn der Staat muß die Verbrauchsgütermärkte möglichst entlasten, ohne jedoch den drängenden Bedarf befriedigen zu können, weil die Produktions- und Rüstungsindustrien den Vorrang in der Versorgung mit Produktionsmitteln haben. Daher muß die Kaufkraft entsprechend abgeschöpft werden. Das kann durch Maximierung der Umsatzsteuererträge geschehen oder aber, wenn die Nachfrage völlig starr ist, durch Steigerung der Umsatzsteuern bis zum ‚Erträglichen‘. Tatsächlich ist ja die Veränderung der Verbraucherpreise für Nahrungsmittel (besonders starre Nachfrage) sowohl gegenüber 1913 als auch gegenüber den zugehörigen Erzeugerpreisen viel stärker als in den beiden anderen Gruppen. Dagegen sind mit der Preispolitik unmittelbar keine produktionsfördernden Absichten verbunden. Denn sicherlich kann man solche Ziele nicht über preispolitisch erwirkte Realeinkommenssenkungen – wie in der Landwirtschaft – erreichen. Vielmehr ist die Steigerung der russischen Agrarerzeugung je Kopf, mit der man nach 1934 sicher rechnen muß, durch direkte Maßnahmen – Technisierung und Kollektivierung – bewirkt worden. Gegenüber solchen Methoden hat die sowjetische Politik der Hochhaltung des Preisniveaus und der Abschöpfung der Kaufkraft durch Umsatzsteuern verschiedene Vorteile. Umsatzsteuern sind in einer Wirtschaft, in der die Einzelhandelsgeschäfte ohnehin beaufsichtigt werden müssen, zweifellos einfacher zu erheben als Einkommensteuern. Außerdem ist es in einer zentralgelenkten Wirtschaft wahrscheinlich geschickter, Umsatzsteuern zu erheben und auf diese Weise die Reallöhne zu beeinflussen als etwa Nominallohnsenkungen vornehmen zu müssen. Vor allem bieten aber Umsatzsteuern einen Vorteil, den keine der Möglichkeiten direkter Einkommenbestimmung hat: Sie erlauben die Beeinflussung der Nachfrage auf jedem einzelnen Markt für sich genommen. Dies letzte ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darauf ankommt, in einer im wesentlichen zentralgelenkten Wirtschaft die Vorgänge auf den bestehenden einzelnen Märkten im Rahmen des Gesamtplanes indirekt zu steuern. Das kann durch Änderung der Umsatzsteuern in einfacher Weise geschehen. Allerdings kann es dazu notwendig sein, das Gefüge der Verbraucherpreise in kurzer Zeit erheblich zu verändern“.30

30 Lenschow, Gerhard: Methoden und Wirkungen der Preispolitik in der Sowjetunion 1913 bis 1937, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 61. Bd., Januar 1945, S. 117, 126 f.

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Index der HO-Preise 1949-1951 Basiszeitraum 1938 = 100 Nahrungsmittel, Genußmittel, Bekleidung, Hausrat

Index der HO-Preise 1949-1951 (in Prozent) vom Ausgang 1938 = 100 % Nahrungsmittel, Genußmittel, Bekleidung, Hausrat

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1.4. Das HO-Preissystem und die Preise für industrielle Verbrauchsgüter im Einzelhandel: „Die Unterstützung des Aufbaus unserer Schwerindustrie ohne das Akziseaufkommen der HO ist nicht mehr denkbar“ Ein häufig behandeltes Charakteristikum der SBZ / DDR-Wirtschaft ist das HO-Preissystem. Das in ihm zunächst zum Ausdruck kommende System der zwei Preisebenen oder anders ausgedrückt, das doppelte Preisniveau, belastete in größtem Ausmaße und belastete die Lebenshaltung der SBZ / DDR-Bevölkerung. Das HO-Preissystem und die unterschiedliche Belastung der verschiedenen Einkommens-gruppen: Die Preise für rationierte Waren des täglichen Bedarfs wurden auf Basis Stopppreis bzw. angenäherten Kostenpreisen festgelegt. Dagegen wurden mit Gründung der HO im Jahre 1948 für die in der HO käuflichen sogenannten freien Waren, die in starkem Umfange ebenfalls zu den Mangelwaren der rationierten Grundversorgung gehörten, etwa die überhöhten Preise des Schwarzen Marktes als HO-Verkaufspreis festgesetzt. Daneben gelangten auch von Anbeginn der HO dort Waren, die nicht bewirtschaftet waren, zum Verkauf. Diese waren aber nur in der HO zu überhöhten Preisen erhältlich. Die unterschiedlichen Preisebenen für gleiche Erzeugnisse, je nachdem ob es sich um freie HO-Ware oder um rationierte Ware handelt, sind mit der teilweisen Aufhebung der Rationierung in starkem Ausmaß in Wegfall kommen. Sie bestehen im wesentlichen nur noch für einige wichtige Grundnahrungsmittel (Fleisch, Fett und Zucker) sowie für Hausbrandbriketts. Die im Jahre 1951 begonnene Freigabe bewirtschafteter Industrieerzeugnisse brachte überwiegend preissteigernde Tendenzen zur Auswirkung, da für die aus der Rationierung herausgenommenen Waren das neue einheitliche Preisniveau in der Regel nicht etwa auf Basis der bisherigen Normalpreise, sondern auf Basis gesenkter HO-Preise geschaffen wurde. Diese stellten aber noch immer ein Mehrfaches der früheren Normalpreise dar und liegen auch jetzt trotz mehrerer Preissenkungsaktionen bis 1954 vielfach noch immer wesentlich über entsprechenden westdeutschen Preisen. Insbesondere traf und trifft dies für Textilien und Schuhe sowie viele Haushaltsartikel zu. Durch die Art der Preisvereinheitlichung nach Aufhebung der Rationierung für Schuhe, Textilien und weitere Güter des lebensnotwendigen Bedarfes wurde zwangsläufig eine wesentliche Verbreiterung der Bevölkerungsschicht erreicht, die den Kauf dieser Waren nunmehr zu überhöhten Preisen vornehmen muß. Hiervon wurden insbesondere die unteren Einkommensschichten betroffen und belastet, die die in Frage stehenden Waren bisher nur oder überwiegend zu normalen Bewirtschaftungspreisen bezogen. Die im Laufe der Zeit eingetretene reichhaltigere Warenbereitstellung wurde für diese Bevölkerungsgruppen überkompensiert durch die Erhöhung der bisherigen Bewirtschaftungspreise auf Basis gesenkter HO-Preise und durch die in diesen Preisen zum Ausdruck kommende unsoziale Verbrauchsbesteuerung, die gerade die minderbemittelte Bevölkerung besonders stark trifft. Eine weitere Benachteiligung der Normalverbraucher bei der Handhabung der „Preissenkungen“ ist die Tatsache, daß sich die Preisherabset-

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zung vielfach auf Warengruppen beziehen, die für die Verbraucher völlig uninteressant sind. Es handelt sich dabei um Waren des gehobenen Bedarfes (z. B. Fotoapparate, Faltboote, hochwertige Textilien, Teppiche usw.), für die fast ausschließlich besonders privilegierte Verbrauchergruppen als Käufer in Betracht kommen. Dagegen kam für die höheren Einkommensgruppen, die bisher schon ständig ihren zusätzlichen Lebensbedarf zu HO-Preisen decken konnten, durch die Preissenkungen eine Verbilligung der Lebenshaltung zur Auswirkung. Die Preise für die in der HO erhältlichen Waren setzen sich aus dem normalen preisrechtlich genehmigten Herstellerabgabepreis, den genehmigten Handelsspannen und der HO-Akzise bzw. jetzt der Produktions- oder Verbrauchsabgabe, die in ihrer Höhe differenziert auf jede Ware gelegt wird, zusammen. In der östlichen Fachsprache wird der Herstellerabgabepreis abgekürzt mit HAP bezeichnet und der Verbraucherpreis oder HO-Preis mit HOP. Daneben wird für die Preisbildung in der HO noch ein weiterer Teilpreis unterschieden, der sogenannte handelsübliche Preis oder HÜP, der aus dem Herstellerabgabepreis plus Handelsspanne besteht. Er deckt sich also mit dem normalen nicht mit Akzise beauflagten Endverbraucherpreis. Der HAP ist für die Mehrzahl der Waren im wesentlichen seit etwa 1950 konstant geblieben. Der HOP dagegen zeigt im Zuge der seit 1948 durchgeführten 16 Preissenkungsaktionen eine ständig fallende Tendenz. Die HO hat auf Grund eines Erlasses des Ministeriums der Finanzen aus dem Jahre 1950 bei gewerblichen Gebrauchsgütern Anspruch auf die Groß- und Einzelhandelsspanne, wie sie nach der Preisverordnung 244 geregelt ist. Die Großhandelsspanne beträgt danach 15 % und die Einzelhandelsspanne 20 % was zusammen, auf den Grundpreis und den Großhandelsabgabepreis berechnet, insgesamt 38% auf den Herstellerabgabepreis als HO-Handelsspanne ergibt. Bei Nahrungsmitteln beträgt die HO-Handelsspanne 18 %. Es ist nichts bekannt, was vermuten läßt, daß die genannten Handelsspannenregelungen derzeit grundsätzlich nicht mehr zutreffend sind. Grundlage der überhöhten Preise ist die Akzise bzw. die Verbrauchsabgabe; d. h. eine gewaltige Verbrauchsbesteuerung ist der Schlüsselpunkt des HO-Preiswesens. Hierdurch sollen eine systematische Kaufkraftabschöpfung, eine gewisse Verbrauchslenkung und gleichzeitig höchstmögliche Erträge für den Staatshaushalt erreicht werden. Je nach dem gewünschten Erfolg werden die Preise von Fall zu Fall manipuliert. Zwei Äußerungen zur Frage der HO-Preisbildung sind besonders treffend und charakteristisch: „Die erste Bedingung ist, daß die Politik der Kaufkraftabschöpfung unbeirrt fortgesetzt wird, d.h. daß die Politik der Preisbildung der HO nicht nur vom Gesichtspunkt einer Verbilligung der Lebenshaltung, sondern daß man die Preispolitik der HO im wesentlichen von dem Gesichtspunkt aus sieht, die noch vorhandene überflüssige Kaufkraft, die ja nichts anderes ist als Geld, dem nicht genügend Waren gegenüberstehen, abzuschöpfen“.31

31 Selbmann: Arbeitsproduktivität und Arbeitsnormen, in: Einheit 1949, Heft 10, S. 891.

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„Die Unterstützung des Aufbaues unserer Schwerindustrie ohne das Akziseaufkommen der HO ist nicht mehr denkbar“.32 Bei Preissenkungen der HO-Waren wurde oft eine Differenzierung vorgenommen, aus der zu ersehen war, daß die Preissenkung ausgesprochen im Dienst der Verbrauchslenkung steht. Es sollte häufig der Absatz qualitativ minderwertiger Waren gefördert oder auch die Verarbeitung einheimischer Rohstoffe begünstigt werden. So wurden beispielsweise die Preise gewisser Zellwollgewebe prozentual wesentlich stärker gesenkt als die für Baumwollgewebe, während die Preise der in ihrer Qualität besseren und nur völlig unzureichend vorhandenen Woll- und wollhaltigen Waren überhaupt keine Änderung erfuhren. Trotz der durchgeführten Preissenkungen zu Lasten der weit überhöhten Verbraucherbesteuerung ist aber das Aufkommen an HO-Akzisen infolge der verbreiterten Produktionsbasis und der darauf beruhenden Vergrößerung des Warenangebots und auf Grund der Tatsache, daß nach teilweiser Aufhebung der Rationierung immer größere Bevölkerungskreise in der HO Waren des normalen Lebensbedarfs zu überhöhten Preisen beziehen mußten, bis 1955 von Jahr zu Jahr gestiegen. Entwicklung der HO-Umsätze und des Akziseanteils

1949

Umsatz in Millionen Mark der DDR 2.615

Akzise in Millionen Mark der DDR 1.730

Akziseanteil am Umsatz in % 66

1950

4.520

2.625

58

1951

7.045

2.954

42

1952

8.700

4.060

47

1953

10.685

3.730

36

1954

11.860

3.870 (?)

33 (?)

1955 (Plan)

13.415

Jahr

-

-

Seit 1954 wird die HO-Akzise bzw. die an ihre Stelle getretene Produktionsoder Verbrauchsabgabe nicht mehr direkt bei der HO in der Handelsstufe erhoben, sondern bereits beim Produktionsbetrieb, der sie auf den Werksabgabepreis aufschlägt. Die Verbrauchsabgabe, die jeweils nach irgendwelchen gerade maßgeblichen Gesichtspunkten von der Preisplanung – in ihrer Höhe differenziert – auf alle Waren festgelegt wird, übernimmt damit an Stelle der Akzise die Aufgabe der überhöhten und gerade die minderbemittelten Bevölkerungskreise stärker belastenden unsozialen Verbrauchsbesteuerung in der SBZ / DDR. Das HO-Preissystem der vom Staat jeweils mittels der Akzise festgesetzten überhöhten Verbraucherpreise, das zunächst nur für einen Teilausschnitt des Einzelhandels maßgeblich war, ist im Laufe der Zeit und insbesondere nach Aufhebung der Rationierung für industrielle Fertigerzeugnisse mit Schaffung der einheitlichen Verbraucherpreise generell für die Festlegung der Einzelhandelspreise 32 Domdey: HO-Lebensmittel, in: Die Wirtschaft, 12.12.1949.

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bei Industriewaren bestimmend geworden. Das allgemeine Preisniveau der DDR für Industriewaren der Konsumgütersphäre wird dadurch wesentlich über einen durch die tatsächliche Preis- und Kostenentwicklung in der DDR-Industrie bestimmten und sachlich gerechtfertigten normalen Preisniveau gehalten. Zunächst soll aber eine Betrachtung der tatsächlichen HO-Preisverhältnisse in ihrer Entwicklung seit 1948 und in ihrem derzeitigen Stand vorgenommen werden. Beispiele für die HO-Preissenkungen von 1948 bis 1954 (Verbraucherpreise jeweils am Jahresende) Warenart

1948

Senkung in % gegenüber jeweiligem Anfangspreis

Herrenanzug – Zellwolle

380,--

73 %

Herrensporthemd – Zellwolle

100,--

82 %

Frauenkleid – Kunstseide

-

68 %

Schlüpfer – Kunstseide

-

63 %

36,--

91 %

Kleiderstoff – Naturseide 90 cm breit m

-

66 %

Bettwäsche, Leinen 80 cm breit m

-

54 %

Teppich Haargarn

-

64 %

Lederschuhe für Herren mit Gummisohle (Schweinsleder)

-

83 %

mit Ledersohle (Rindbox)

-

10 %

Lederschuhe für Damen mit Gummisohle (Schweinsleder)

-

84 %

mit Ledersohle (Rindbox)

-

20 %

Kinderschuhe – Volleder

-

54 %

Fahrrad/Herren „Möwe“

800,--

71 %

Herrenarmbanduhr

275,--

70 %

Glühlampe 40 Watt

20,--

95 %

20,--Briketts 50 kg

16,--

53 %

Damenstrümpfe – Kunstseide, I. Wahl

758

Gesamtindex der HO-Preise 1949-1951 Basiszeitraum 1938 = 100

Senkung der HO-Preise gegenüber dem jeweils vorhergehenden Zeitpunkt (in Prozent)

759

An vorstehenden Tabellen ist abzulesen, mit welch unvorstellbar hohen Preisen die HO ihre Tätigkeit aufnahm, wie aber die Tatsache, daß die Preise der in der HO zum Verkauf gelangenden Waren im Verhältnis zu den Durchschnittsverdiensten viel zu hoch festgelegt waren, bereits im ersten Jahre des Bestehens der HO zu beträchtlichen Preissenkungen unter Verzicht auf erhebliche Akzisebeträge zwang. Es ist nicht exakt festzustellen, aber auch kaum anzunehmen, daß bereits 1948/49 eine so starke Produktionsausweitung stattgefunden hat, die derartige Preissenkungen ermöglichte; denn erst seit etwa 1950 setzte eine gewisse Ausdehnung der Produktion von Konsumgütern ein, die dann in bestimmtem Umfange weitere Preissenkungen zur Durchführung gelangen ließ. Bedeutsam ist nach der Tabelle über die Preisentwicklung seit 1948 die Feststellung, daß im Gegensatz zu allen anderen genannten Waren Schuhe mit Ledersohle seit 1950 nur um 10 % bzw. 20 % im Preis gesenkt wurden. Dies weist darauf hin, daß Lederschuhe für die breite Masse der Verbraucher mangels entsprechender Rohstoffe nur völlig unzureichend produziert werden können und gerade über den Preis die zur Verfügung stehende Planmenge und die durch die geplanten Preise gesteuerte Nachfrage zum Ausgleich gebracht werden sollen. Die nachfolgende Tabelle zeigt an einigen wenigen Beispielen die großen Preisdifferenzen, die zwischen HO-Waren und rationierten Waren bestanden haben. Dazu werden außerdem die Preisunterschiede bei beiden Warenarten zu den Preisen entsprechender westdeutscher Waren durch Gegenüberstellung hervorgehoben. Beispielhafte Gegenüberstellung von HO-Preisen, Zuteilungspreisen und BRD-Preisen (Stand Dezember 1952)

Ware

Oberhemd Baumw.popeline Unterhose Zellwolle Damenwäschegarnitur 2-tlg. Herrenlederschuhe mit Ledersohle Damenlederschuhe mit Ledersohle Briketts

Preis HOPreis

Zuteilungspreis

BRDPreis

HO-Preis in % des BRDPreises

HO-Preis in % des Zuteilungspreises

Zuteilungs-preis in % des BRDPreises

42,--

19,--

11,50

365 %

221 %

165 %

12,--

6,60

3,70

316 %

158 %

174 %

16,-94,-105,--

8,-25,-28,--

5,80

276 %

138 %

26,--

404 %

200 % 376 % 375 %

98,--

26,50

7,50

1,92

108 %

370 % 2,75

272 %

391 %

- 70 %

760

Die Zuteilungspreise für Textil- und Lederwaren datieren aus der letzten Zeit ihrer Rationierung. Im Durchschnitt machen die aufgeführten HO-Preise 283 % des Zuteilungspreises bzw. 340 % des Westpreises aus. Auch der damalige Zuteilungspreis betrug noch immer – abgesehen von sicherlich zusätzlich anzusetzenden Qualitätskoeffizienten – 147 % des Westpreises. Diese Werte auf Grund der wenigen Beispiele aus 1952 sind für Textil- und Lederwaren durchaus als repräsentativ in ihrer Tendenz anzusprechen. Des weiteren sei an einigen Tabellen beispielhaft das Ausmaß der HO-Akzise und ihrer Veränderungen in den letzten Jahren dargestellt. Es wird für verschiedene Waren der preisrechtlich genehmigte Herstellerabgabepreis und der HO- oder Verbraucherpreis gegenübergestellt. Die Differenz zwischen diesen Preisen in absolutem Wert setzt sich aus HO-Handelsspanne und Akzise zusammen. Dazu wird die Differenz in Prozentsätzen – bezogen auf den Herstellerabgabepreis – ausgewiesen. Die Höhe der Akzise allein ist nicht exakt zu ermitteln, da die in den Verbraucherpreisen enthaltenen Handelsspannen nicht einwandfrei bekannt bzw. feststellbar sind. Unter der Annahme, daß die Gesamthandelsspanne der HO bei zahlreichen industriellen Erzeugnissen im für sie günstigsten Falle 38 % auf den Herstellerabgabepreis ausmacht, dürften die in den Tabellen genannten Prozentsätze der Differenz zwischen Herstellerabgabepreis und HO-Verbraucherpreis doch eindrucksvolle Aussagekraft über die Höhe der im Verbraucherpreis in Ansatz gebrachte Akzisebeträge gewinnen. Die ungefähre Höhe der Akzise lässt sich danach leicht ablesen. Der nach Abzug von 38 % verbleibende Prozentsatz stellt in etwa die reine Akzisebeauflagung des Herstellerabgabepreises dar. Die nachstehenden Zusammenstellungen lassen die große Belastung der industriellen Verbrauchsgüter im Jahre 1951 mit Akzise deutlich werden, zeigen aber auch in den entsprechenden Zusammenstellungen für 1953 und 1954 den erheblichen Rückgang der Akzisebeauflagung. Ware Wolle Wollgemisch Zellwolle W Baumwolle Zellwolle B Seide Kunstseide

Differenz zwischen Herstellerabgabepreis und HO-Preis in % 199 – 335 % 150 – 152 % 75 – 80 % 176 – 220 % 67 – 79 % 149 – 278 % 132 – 199 %

Zu beachten ist hier die verschiedene Höhe der Akzise bei den einzelnen Stoffarten. Waren, die aus knappen oder aus Importstoffen wie Wolle, Baumwolle, Naturseide hergestellt werden, sind am stärksten mit Akzise beauflagt worden. Dagegen sind die Erzeugnisse aus Zellwolle, bei denen das Warenaufkommen am günstigsten ist, und deren Absatz man demzufolge zu fördern sucht, weitaus am geringsten mit Akzise belastet. Es ist eine regelrechte Abstufung der Akzisebelastung nach dem Grad der Rohstoffversorgung und nach der auf Grund der Rohstofflage zur Verfügung stehenden geplanten Warenmengen festzustellen. Mit dieser

761

Abstufung ist der Zweck verbunden, den Absatz bestimmter Waren anzuregen bzw. bei anderen den Absatz in bestimmten Grenzen zu halten. Die im Preis enthaltene Akzise wird hier als Mittel der geplanten Verbrauchslenkung benutzt. Die durchschnittliche Differenz in % als Ausdruck der Akzisebeauflagung bei den einzelnen Stoffarten beträgt in der Reihenfolge ihrer Knappheit oder der Dringlichkeit der Nachfrage nach den aus den verschiedenen Stoffarten herstellbaren Textilerzeugnissen bei: Zellwolle B Zellwolle W Wollgemisch (mit Zellwolle) Kunstseide Baumwolle Seide Wolle

76 % 76 % 151 % 155 % 207 % 209 % 229 %

Bei sonstigen Industriewaren ist gleichfalls eine Akzisebelastung bedeutenden Umfanges festzustellen. Die HO-Akzise bei sonstigen Industriewaren Stand 1951

Ware

Nähmaschinen Textim Fußmaschine, auf Holzgestelle versenkbar Autos, Motorräder DKW, Type F8, 5-fach bereift BMW, 350 ccm DKW, RT, 125 cm Fahrräder u. Bereifung Herrenfahrräder Möwe, Modell 184 Fahrradbereifung Mantel Schlauch Schreibmaschinen Reiseschreibmaschinen Olympia Plana B Büromaschinen Rheinmetall Standard S1

Herstellerabgabepreis HAP

HO-Preis HOP

Differenz zwischen HAP und HOP in DM in % von HAP

251,53

620,--

368,47

146 %

6.640,-1.800,-1.050,--

18.000,-5.000,-2.500,--

11.360,-3.200,-1.450,--

171 % 178 % 138 %

140,--

255,--

115,--

82 %

6,90 2,15

29,-7,--

22,10 4,85

320 % 226 %

215,--

750,--

535,--

249 %

394,--

1.600,--

1.206,--

306 %

762

Im Gefolge des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 kam es mit dem Neuen Kurs zu Preissenkungen33 im September / Oktober 1953 bei Textilien und sonstigen Waren. Vergleichen wir die Differenzen zwischen Herstellerabgabepreis (HAP) und HO-Preis – auf Basis HAP in % ausgewiesen –, so zeigen sich 1954 gegenüber 1951 bei zahlreichen Erzeugnissen im Durchschnitt erhebliche Rückgänge: bei Textilien aus Zellwolle bei Textilien aus Kunstseide bei Textilien aus Baumwolle bei Schreibmaschinen bei Fahrrädern

von 76 % von 155 % von 20 % von 283 % von 95 %

auf 38 % auf 121 % auf 154 % auf 75 % auf 81 %

Im wesentlichen handelt es sich aber bei den industriellen Erzeugnissen, die 1954 nochmals im Preise beträchtlich herabgesetzt wurden, um solche des gehobenen Bedarfs, die für weite Verbraucherkreise nur verhältnismäßig wenig interessant sind. Einige Ausnahmen (z.B. Arbeits- und Kinderkleidung, Glühlampen) verändern diesen Sachverhalt grundsätzlich nur wenig. Bei den HO-Durchschnittspreisen und ihrer Zusammensetzung lassen sich die aus Gründen der Verbrauchslenkung planmäßig vorgenommenen Abstufungen in der Höhe der Akzisesätze ablesen: Gerade Artikel des lebensnotwendigen Textilbedarfs sind sehr hoch mit Akzise beauflagt, soweit die Erzeugnisse aus knappen Importrohstoffen wie Wolle und Baumwolle hergestellt sind. Die Preise für Textilien aus Zellwolle dagegen enthalten überhaupt keine Akzise mehr. Ebenso sind die Preise von einfachen Seifen und Waschpulver sowie von Baustoffen akzisefrei. Das HO-Preissystem wird generell auf den Einzelhandel der DDR übertragen: Generell ist zu der vorstehenden Zusammenstellung folgendes zu sagen: Die erkennbaren durchschnittlichen Relationen zwischen Herstellerabgabepreis, Verbraucherpreis und Akzise sind nicht nur auf die HO beschränkt, sondern sie sind generell im Einzelhandel anzutreffen, da in der Regel bei den erfaßten Industriewaren ein Unterschied zwischen HO-Preisen und den sonstigen Einzelhandelspreisen nicht mehr besteht. Die Bildung der allgemein gültigen Einzelhandelspreise für diese Güter wird nach den gleichen Gesichtspunkten vorgenommen wie die der HO-Preise. Es handelt sich bei sämtlichen aufgeführten Erzeugnissen um nicht mehr der Rationierung unterliegende Waren. Demzufolge besteht für sie ein doppeltes Preisniveau nicht mehr, sondern es haben für diese Erzeugnisse allgemein nur die vereinheitlichten Einzelhandelspreise Geltung. Die Bezeichnung „Akzise“, die in der Zusammenstellung aus November 1953 noch verwendet wurde, ist sachlich jetzt nicht mehr zutreffend. Seit 01.01.1954 werden die Aufschläge als „Verbrauchsabgabe“ bzw. seit 01.01.1955 als „differenzierte Produktionsabgabe“ erhoben. Außerdem wurde die Erhebung der Verbrauchsabgabe bzw. der Produktionsabgabe vom Handel in die Produktionsstufe 33 Elstner: Umfassende Preissenkung im Neuen Kurs, in: Deutsche Finanzwissenschaft, 1953, Nr. 22, S. 1179.

763

verlagert. Die Änderung der Technik der Erhebung bringt aber keine grundlegende Umstellung hinsichtlich der Höhe der Abgaben. Die Sätze der Verbrauchsabgabe bzw. der jetzt maßgeblichen Produktionsabgabe werden nur unwesentliche Abweichungen gegenüber den Akzisesätzen aufweisen, da die Verbraucherpreise bis auf geringfügige Ausnahmen seit der Preissenkung Oktober 1953 in der Regel unverändert geblieben sind und auch grundlegende Änderungen der Herstellerabgabepreise für Verbrauchsgüter unbekannt geblieben sind. Im Anschluß an die vorhergehende Tabelle ist noch eine Zusammenstellung von Interesse, die für die gesamten sonstigen – in der ersten Tabelle nicht direkt aufgeführten – Erzeugnisse der einzelnen Industriezweige zusammenfassend die Preiszusammensetzung, basierend auf dem Herstellerabgabepreis in Prozent, angibt. Zusammensetzung der Preise für verschiedene Warengruppen Werte in % vom Herstellerabgabepreis = 100 % Stand Beginn 1954 Großhandels- und Einzelhandelsspanne

+ Akzise

Verbraucherpreis in % vom Herstellerabgabepreis

Sonstige Textilien St.

138 %

48,5 %

186,5 %

Sonstiger Maschinenbau St.

138 %

14 %

152 %

Sonst. Erz. Elektro-techn. St.

138 %

15,5 %

153,5 %

Sonst. Feinmechan. Optik St.

138 %

24 %

162 %

Sonst. Erzeugn. Chemie St.

152 %

11,5 %

163,5 %

Keramik insges. St.

152 %

30 %

155 %

Glas insges. St.

152 %

Sonst. Erzeugn. d. Holzbearb.

138 %

1,6 % 20 %

153,6 % 140 %

Gerade an dieser Tabelle wird erneut deutlich, daß die Akzise weitaus am höchsten bei Gütern des allgemeinen lebensnotwendigen Bedarfs wie bei Textilien ist. Auch von dieser Seite her zeigt sich also, daß die DDR Preisbildung und Preispolitik mittels der Akzise bzw. der jetzigen Produktionsabgabe eine rigorose Nachfragebeschränkung und eine ausgesprochen unsoziale Methode der Verbrauchslenkung durchführt, indem die Belastung der Verbraucherpreise mit Akzise bzw. Produktionsabgabe die kleinen Einkommensbezieher unvergleichlich viel stärker und härter trifft, als die gehobenen Einkommensgruppen. Die Verbandsabgabepreise für Wirtschaftswerkzeuge, Kleineisenwaren, Waschmaschinen, Kühlschränke, Heißwasserbereiter, Öfen, Herde, Nähmaschinen, Kinderwagen, Haushalts- und Wirtschaftsgeräte, Kraftfahrzeuge, Motor- und Fahrräder, Elektrische Haus- und Heizgeräte, Fotoapparate, Uhren, Schreibmaschinen, Galanterie- und Sattlerwaren aus Leder, Schmuck- Bijouteriewaren, Musikinstrumente, Turn- und Sportgeräte, Papierwaren, Artikel für Schul- und Bürobedarf sind an der unterschiedlichen Höhe der Verbrauchsabgabensätze je nach Art der einzelnen Erzeugnisse und der zu ihrer Herstellung benötigten Rohstoffe

764

die nach dem Planpreissystem über den Preis beabsichtigten Wirkungen für eine rigorose Nachfragebeschränkung und für eine unsoziale Verbrauchslenkung erkennbar. Besonders ins Auge fallend sind die hohen Prozentsätze bei zahlreichen Haushalts- und Wirtschaftsgeräten des täglichen Bedarfs der Bevölkerung, während Erzeugnisse des gehobenen Bedarfs bei weitem nicht so hoch mit Verbrauchsabgaben beauflagt sind. Die DDR-Preise für Damen-, Herren- und Kinderkonfektion, Stoffen und Schuhen sind wesentlich höher als die BRD-Preise. Auch die Preise für elektrische Haushaltsgeräte, Glühbirnen, Kühlschränke, Nähmaschinen, radio- und Fernsehapparate, Fotoapparate, Uhren, Schreibmaschinen, Fahrräder, Motorfahrzeuge, Lederwaren, Feldstecher, Fotofilme, Möbel, Boote und Musikinstrumente der DDR „liegen überwiegend beträchtlich über den entsprechenden Preisen der BRD“. Die Gegenüberstellung der herstellerabgabepreise bzw. der Einkaufspreise des Großhandels in der BRD und in der DDR für den erfaßten beschränkten Ausschnitt der industriellen Fertigerzeugnisse des Konsumgüterbereichs läßt erkennen, daß bis auf wenige Ausnahmen die herstellerabgabepreise der DDR ebenfalls beträchtlich über denen der BRD liegen. Zusammenfassung der Ergebnisse: Eine erhebliche Zersplitterung des Preisgefüges der DDR: Die durchgeführten vergleichenden Gegenüberstellungen von Preisen der Bundesrepublik und der DDR für industrielle Erzeugnisse geben bis auf wenige Ausnahmen den Stand von Mitte 1955 wieder. Als Ergebnis der Untersuchung und der durchgeführten Preisvergleichsrechnung ist folgendes festzuhalten: Auf dem Gebiet der Roh- und Grundstoffpreise gibt es noch keine geschlossene Einheitlichkeit im Aufbau der festgesetzten Preise. Trotz Vorliegens des „Beschlusses des Ministerrats der DDR über die Grundsätze der Preispolitik“ seit Februar 1953 ist eine Vielfalt der Preisfestsetzungsmethoden festzustellen und es besteht demzufolge noch immer nach Art der Preisfestsetzungen eine erhebliche Zersplitterung des Preisgefüges der DDR. Es gibt – um die wichtigsten zu nennen - Stopppreise 1944 bzw. solche, die nach den Richtlinien aus dem Jahre 1944 gebildet sind, - Neu festgesetzte Preise sowie auch - Neuartige nach Plangesichtspunkten festgelegte „Kalkulationspreise“ Für einige wesentliche Roh- und Grundstoffe wie Buntmetalle, Steinkohle und Koks sowie Eisen und Stahl sind allerdings bereits bis Mitte 1955 neue Preisregelungen nach den „Grundsätzen der Preispolitik“ erlassen worden und in Kraft. Bei den neuen Preisregelungen für Roh- und Grundstoffe versucht man vor allem, die Preise auf Grund der gewogenen durchschnittlichen Planselbstkosten des jeweiligen Industriezweiges etwa auf „Kostenbasis“ zu bringen. Die Neuordnung des Preisgefüges auf „Kostenbasis“ bedeutet aber in der praktischen Wirklichkeit, die stark subventionierten Preise soweit zu erhöhen, daß eine Planrentabilität in gewissem Umfang erreicht wird. Im Rahmen des Gesamtpreisniveaus werden

765

aber im Gegensatz zu den Preisen für industrielle Verbrauchsgüter auch bei den neuen Preisregelungen die Preise für Roh- und Grundstoffe im wesentlichen nicht mittels der Produktionsabgabe überhöht festgesetzt, sondern verhältnismäßig niedrig gehalten. (1) Nach dem Stand von Juni / Juli 1955 liegen die Preise der DDR für industrielle Roh- und Grundstoffe sowie für Halbwaren im wesentlichen unter den entsprechenden Preisen der Bundesrepublik. (2) Bei den wenigen industriellen Fertigerzeugnissen des Investitions- und Produktionsgüterbereiches, die auf Grund erfaßbarer Unterlagen in den Vergleich mit einbezogen werden konnten, ist eine einheitliche Linie in der Preisbildung bisher noch nicht festzustellen. (3) Im Gegensatz zu den Preisen für Roh- und Grundstoffe sowie für industrielle Halbwaren bewegen sich dagegen in der DDR die Verbraucherpreise für industrielle Konsumgüter im Verhältnis zu etwa gleichartigen westdeutschen Erzeugnissen fast ausschließlich beträchtlich über entsprechenden Preisen der BRD. Bei einem Vergleich der Warenqualitäten dürfte in der Mehrzahl der Fälle ein noch wesentlich günstigeres Wertverhältnis für die BRD festzustellen sein. Die Einzelhandelspreise der DDR sind beträchtlich überhöht. Sie enthalten eine Produktionsabgabe, die als Aufschlag auf die Herstellerabgabepreise in Ansatz gebracht wird und die häufig gerade bei den lebensnotwendigen industriellen Verbrauchsgütern besonders hoch ist. Es ist eindeutig zu erkennen, welche Anteile der Sowjetzonenstaat über die Produktionsabgabe aus den überhöhten Verbraucherpreisen für sich abschöpft. Mittels der so gebildeten Einzelhandelspreise versucht man, den individuellen Konsum in die jeweils gewünschte Richtung zu lenken und dadurch entsprechend der zur Verfügung stehenden geplanten Warenmenge die Übereinstimmung von Warenfonds und Kauffonds zu erreichen. In der praktischen Wirklichkeit ergibt diese Form der Preisbildung eine rigorose Nachfragebeschränkung und eine ausgesprochen unsoziale Methode der Verbrauchslenkung, die die kleinen Einkommensbezieher unvergleichlich viel stärker und härter betroffen werden als gehobene Einkommensgruppen. Die Schaffung einheitlicher Preisgrundlagen für Roh- und Grundstoffe sowie für Investitions- und Produktionsgüter sollte auf der „Anwendung der ökonomischen Gesetze“ erfolgen. Da diese Gesetze ebenso wie die „gesellschaftlich notwendigen Kosten“ nie entdeckt wurden, blieb es bei den Preisverzerrungen. Zu entnehmen ist dies unter anderem auch der starken Kritik, die der stellvertretende Ministerpräsident Ulbricht im Oktober 1955 auf der 25. Tagung des Zentralkomitees der SED an der bisherigen preispolitischen Arbeit der DDR übte. „Das Gebiet, auf dem wir bezüglich der Anwendung der ökonomischen Gesetze am meisten zurück sind, ist die Preispolitik. Bekanntlich haben wir seit Februar 1953 einen Beschluß des Ministerrats über die Grundsätze der Preispolitik, in dem unter anderem festgelegt ist, daß je Produkt und Qualität einheitliche Festpreise zu bilden sind. Dieser äußerst wichtige Beschluß steht heute noch auf dem

766

Papier. Bei uns sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die kalkulierten Betriebskosten, d.h. individuelle Kosten des Betriebes Grundlage der Preispolitik, nicht aber die gesellschaftlich notwendigen Kosten des gesamten Industriezweiges“.34 Außerdem wurden in dem Gesetzblatt der DDR bereits seit Ende Oktober 1955 zahlreiche Preisanordnungen veröffentlicht, die mit Wirkung ab 1.1.1956 neue grundlegende Preisregelungen für verschiedene industrielle Warengruppen der vorstehend genannten Güterbereiche bringen (z.B. für Baustoffe, Zellwolle, Guß- und Schmiedestücke, Stahlkonstruktionen, Elektromotoren usw.). Damit entwickelt sich das Gesamtpreissystem der SBZ / DDR immer stärker in Richtung auf die Verwirklichung der nach sowjetischem Vorbild vom Ministerrat der DDR aufgestellten Grundsätze der Preispolitik“.35/36 1.5. Die bevorzugte Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln (Schwerindustrie) geschieht auf Kosten der elementarsten Bedürfnisse der Bevölkerung „Das sowjetische Industrialisierungsmodell war auf die Errichtung einer autarken Wirtschaft ausgerichtet. Es resultierte aus den Erfahrungen, die Rußland in den zwanziger und dreißiger Jahren beim Aufbau einer Großindustrie in einem Agrarland gesammelt hatte. Das Konzept sah die Errichtung einer Industrie mit einer kompletten Zweigstruktur vor. Die entscheidende Bedeutung unter den Zweigen wurde den Herstellern von Produktionsmitteln, darunter der Schwerindustrie beigemessen. Die Produktionsmittelherstellung war schneller voranzutreiben als die Konsumgüterfertigung“.37 Das Modell der Sowjetunion in der Preispolitik wird von Michael S. Voslensky beschrieben.38 „Die Diskrepanz zwischen der Produktion von Konsumgütern für die Sowjetbürger und dem Ausstoß der Schwerindustrie ist in der UdSSR enorm. Die sowjetische Statistik verwendet nämlich bei der Gruppe A die niedrigeren Lieferantenpreise der Betriebe, die die Gestehungskosten nur um ein Geringes übersteigen und von den Staatsbetrieben gegenseitig für die Bilanzen in Rechnung gestellt werden. Bei der Gruppe B verwendet die Statistik hingegen die hohen Einzelhandelspreise mit den Aufschlägen, die in manchen Fällen (z.B. bei den Personen-

34 Neues Deutschland vom 30.10.1955, S. 5. 35 Fortschritt in der Preispolitik, in: die Wirtschaft Nr. 51 vom 22.12.1955, S. 1; Neuregelungen von Preisen für Produktionsbetriebe, in: Neues Deutschland vom 16.12.1955. 36 Die Zusammenfassung der Studie von Thimm endet hier. 37 Ludwig, Udo: Wandel der Arbeitsplatzstruktur in der ehemaligen DDR bis zur Vereinigung, in: Merk, Hans Günter (Hrsg.): Wirtschaftsstruktur und Arbeitsplätze im Wandel der Zeit, Wiesbaden 1994, S. 117. 38 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, 3. Aufl., Wien u. a. 1980.

767

kraftwagen) die Gestehungskosten um 800 – 900 % übersteigen“.39 Dieses Modell wurde 1948 – 1954 auf die SBZ / DDR übertragen. In der Sowjetunion wurden bei der Produktion zwei Gruppen unterschieden. Gruppe A: Produktion von Produktionsgütern; Gruppe B: Produktion von Konsumgütern. Stalin behauptete, daß man zuerst die Gruppe A voll ausbauen müsse, um die Erzeugung von Waren für das Volk sicherzustellen. „Die Gruppe A wurde seit 1927 in beschleunigtem Tempo ausgebaut. Verfolgen wir von Fünfjahresplan zu Fünfjahresplan, wie reibungslos das Prinzip der bevorzugten Entwicklung der Schwerindustrie (vor allem der Rüstungsindustrie) auf Kosten der Konsumgütererzeugnisse funktioniert“40 Voslensky griff bei seiner Analyse auf sowjetische Quellen zurück.41 Die Gruppe A, die Produktion von Produktionsgütern, wurde von 1927 bis 1980 in allen zehn Plänen in beschleunigtem Tempo ausgebaut. Dies war nicht immer der Fall in Rußland. „Die Industrie des vorrevolutionären Rußlands war vorrangig auf die Konsumgüterindustrie orientiert; ihr Anteil betrug 1913 64,9 % der gesamten Industrieproduktion, etwa die Hälfte entfielen auf die Textil- und Nahrungsmittelindustrie; nur 6,8 % betrug der Anteil des Maschinenbaus“.42 Der Ausbau der Produktion von Produktionsgütern 1927 bis 1980 43

1. Fünfjahrplan 1928-32 2. Fünfjahrplan 1933-37 3. Fünfjahresplan 1943 - 1945

Gruppe A Produktion von Produktionsgütern Von 39,5 auf 53,4 %

Gruppe B Produktion von Konsumgütern Keine Planerfüllung

Steigerung

Keine Planerfüllung

Bedeutende Erhöhung Kein Plan

Kein Plan

4. Fünfjahrplan 1946-50

+ 70 % gegenüber 1940

Vorkriegsstand nicht erreicht

5. Fünfjahrplan 1951-55

Übergewicht von 70,5 %

Blieb hinter Plan zurück

6. Fünfjahrplan 1956-60

Wachstum 70 %

Wachstum 60 %

Bevorzugt beim Wachstum

Plan wurde nicht erfüllt

8. Fünfjahrplan 1966-70

+ 74 %

+ 26 %

9. Fünfjahrplan 1971-75

+ 43 %

+ 37 %

Doppelt so hoch wie Konsumindustrie

+ 30 %

7. Siebenjahrplan 1959-65

10. Fünfjahrplan 1976-80

39 Ebd., S. 271. 40 Ebd., S. 267. 41 Berchin, i. B.: Geschichte der UdSSR 1917 – 1970, Berlin (-Ost) 1971. 42 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1976, S. 214. 43 Voslensky, S. 267-271.

768

Aus der Analyse der Fakten resümiert Voslensky: „Nachdem wir die zehn Fünfjahrpläne kennen gelernt haben, kommen wir zu einem nicht uninteressanten Schluß: Der Kurs in Richtung einer bevorzugten Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln bedeutet nicht nur, daß der Anteil und das Wachstumstempo der Gruppe A von der Nomenklatura systematisch auf Kosten der Gruppe B, d. h. auf Kosten der konsumierenden Bevölkerung, geplant wird. Dieser Kurs bedeutet auch, daß sich die Nomenklatura bemüht, bei den so unproportionierten Plänen die Gruppe A regelmäßig über die gesteckten Ziele hinaus zu erfüllen und die Gruppe B regelmäßig nicht zu erfüllen, wobei auf diese Weise die tatsächliche Produktion von Konsumgütern auf ein schon völlig jämmerliches Minimum heruntergedrückt wird. Und das seit einem halben Jahrhundert! Das also ist die „bevorzugte Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln“. Hinter diesem scheinheiligen Euphemismus verbirgt sich ein Kurs, der ausschließlich an den Klasseninteressen der Nomenklatura orientiert ist und das Ziel verfolgt, ihre Macht und Herrschaft zu befestigen, auf Kosten der elementarsten Bedürfnisse der von ihr regierten Bevölkerung. Auf dem XXV. Parteitag verkündete Brežnev, daß es „nicht gelang, die Planziffer in der Konsumgüter- und Lebensmittelindustrie zu erreichen“. Er kam zu dem Schluß: „Bisher haben wir noch nicht gelernt, neben der Sicherung des schnellen Ausbautempos der Schwerindustrie auch die Wachstumsrate bei der Gruppe B und den Dienstleistungsbetrieben voranzutreiben. Die Verantwortung dafür tragen viele“. Das ist wahr – es sind viele: Die Nomenklaturaklasse. In einem Zeitraum von mehr als 60 Jahren ihrer Herrschaft und von mehr als 50 Jahren Planwirtschaft hat sie nicht gelernt, dem arbeitenden Volk die notwendigen Gebrauchsgüter zu geben. Aber auch jetzt hat diese Klasse, die ins Pensionsalter eingetreten ist, nicht die Absicht, die Lage radikal zu verändern“.44 Die natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft nach dem Modell Sowjetunion wurde seit dem 28. April 1945 (Schließung der Banken) eingeführt. Sowjetische Zentralplan-Experten erstellten den ersten Zweijahresplan 1948/49 und den ersten Fünfjahresplan 1951-55. In der DDR und in allen Volksdemokratien wurde nach dem gleichen Muster vorgegangen: Vorrang der Produktion von Produktionsgütern, d.h. der Schwerindustrie, die die Grundlage für die Rüstungswirtschaft bildete. Der Aufbau der Schwerindustrie in der DDR geschah auf Kosten der elementarsten Bedürfnisse von breiten Schichten der Bevölkerung, die nicht zur herrschenden SED-Nomenklatura gehörten. Willy Rumpf am 29. Oktober 194945: Die Erhöhung der Preise der Zwangsbewirtschaftung für Lebensmittel, Haushaltswaren u.a. um durchschnittlich 25 % kommt dem Aufbau der Schwerindustrie zugute.46 44 Ebd., S. 271 f. 45 Willy Rumpf (1903-1982) trat 1925 der KPD bei, war 1933/38 im Zuchthaus, KZ Sachsenhausen, 1948/49 Leiter der Hauptverwaltung Finanzen der DWK, 1949-55 Staatssekretär im Ministerium für Finanzen, 1963-82 Mitglied des ZK der SED, 1955-66 Finanzminister 46 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): SBZ von 1945-1954, Bonn 1956.

769

Der Zusammenhang zwischen Akzise47 und Investitionen in der DDR um 1953

Vor dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sollten 60 % der Investitionen in die Schwerindustrie gehen

Finanzministerium

Bank / Kontrolle

Investition Ausgaben

Akzise 48,5 %

Akzise Staatshaushalt

Verbraucherpreis =

Einnahmen Groß- und Einzelhandelsspanne = 38 % Herstellerabgabepreis = 100 %

Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 wurden die Investitionen in der Schwerindustrie willkürlich gekürzt, so daß 48 % in die Schwerindustrie und 52 % in die Konsumgüterindustrie gingen.48

47 Akzise: In der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus unter speziellen wirtschaftspolitischen Aspekten umgestaltete bzw. neu eingeführte Art von Verbrauchsabgaben, insbesondere im Zusammenhang mit dem vorübergehend notwendigen doppelten Preisniveau für Konsumgüter. In: Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost), 1978, S. 73. Das doppelte Preisniveau waren einerseits die Lebensmittelkarten und andererseits die weit darüber liegenden HO-Preise. 48 Schenk, Fritz: Im Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow, Köln 1962, S. 226-229.

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1.6. Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL). Die fehlgeschlagene „Industriepreisreform“ in den Jahren 1964-1967 Das Zentralkomitee der „Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (KPdSU) konstatierte 1927 „Im Preisproblem kreuzen sich alle wesentlichen wirtschaftlichen und infolgedessen auch politischen Probleme des sowjetischen Staates“.49 Diese Feststellung gilt auch für die SBZ / DDR. Als Industriepreisreform wird die umfassende Veränderung der Industriepreise in den Jahren 1964 bis 1967 bezeichnet. Nach E. Schierz hatte sie die Aufgabe „ein den Bedingungen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung entsprechendes Preissystem zu schaffen. Sie war eine wesentliche Voraussetzung, um die ökonomischen Hebel zusammenzuführen und das Preissystem zu einem festen Bestandteil des ökonomischen Systems des Sozialismus zu machen. Bei der Industriepreisreform wurde von folgenden Grundsätzen ausgegangen: - Die Preise wurden auf der Grundlage der gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwendungen des Jahres 1967 und unter Berücksichtigung ökonomisch begründeter Relationen gebildet. Damit wurden die durch das lange Festhalten an den alten Preisen entstandenen Divergenzen zwischen Aufwand und Preis weitgehend beseitigt. In den Preisen wurde die planmäßige Aufwandsentwicklung berücksichtigt und damit ein zu schnelles Veralten der Preise verhindert. – Um den gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand in allen Stufen real im Preis widerzuspiegeln, wurden die staatlichen Stützungen und Subventionen vor allem in der Grundstoffindustrie weitgehend beseitigt. Damit wurde ein starker Anreiz gegeben, auf der Grundlage realer Nutzeffektsberechungen durch sorgfältige Arbeit Rohstoffe und Material einzusparen. - Das Reineinkommen für die Industriezweige wurde so fixiert, daß die Aufwendungen für die erweiterte Reproduktion und den Zuwachs an Umlaufmitteln in diesen Zweigen gedeckt werden konnten“.50 Im politökonomischen Jargon des Sozialismus sind Kosten „in Geld bewerteter Verbrauch von Produktionsmitteln (vergegenständlichte Arbeit) und Lohn plus Prämien (lebendige Arbeit) sowie sonstigen Geldausgaben zur Vorbereitung, Herstellung und Realisierung von Gütern (Erzeugnisse und Leistungen). 51 Der Kostenbegriff hat seine Grundlage in der Marxschen Arbeitswertlehre (=Werttheorie). Der „Arbeitswert“ einer Ware zerfällt in drei Elemente: (1) Abschreibungen vom Wert der verbrauchten Produktionsmittel. In der marktlosen sozialistischen Zentralplanwirtschaft wurde der Wert der Produktionsmittel willkürlich festgelegt.

49 KPdSU, Beschlüsse und Resolutionen, Moskau 1954. 50 Ambrée, Kurt et al. (Hrsg.): Lexikon der Wirtschaft – Preise, Berlin (-Ost) 1972, S. 103. 51 Ebd., S. 116: „Die Kosten für die Produktionsmittel werden in der sozialistischen Sprache ‚vergegenständlichte Arbeit‘ genannt und ergeben mit den Löhnen plus Prämien (lebendige Arbeit) die gesellschaftliche Gesamtarbeit.“

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(2) Materialkosten: Kosten von Arbeitsgegenständen die selbst bereits Produkt menschlicher Arbeit sind: „weiterverarbeitete Rohstoffe. Material ist Produkt vorangegangener Produktionsstufen. Dabei ist es gleichgültig, wie viele Produktionsstufen das Material bereits durchlaufen hat. Auf einer niedrigeren Verarbeitungsstufe wird es als Rohmaterial bezeichnet. Im Produktionsprozeß wird der Wert des Materials einschließlich der technologisch bedingten Verluste auf das neue Produkt übertragen. In seiner Bewertung zu Preisen geht das Material als Materialkosten der jeweiligen Verarbeitungsstufe in die Preiskalkulation ein.52 Auch die Materialkosten wurden willkürlich festgelegt. (3) Lohnkosten „Der Anteil des Lohns am geschaffenen Neuwert wird auf volkswirtschaftlicher Ebene planmäßig festgelegt und drückt sich in der Lohnpolitik des sozialistischen Staates aus. Im Preis kann an Lohnkosten deshalb nur realisiert werden, was den gesetzlichen Bestimmungen der Lohnpolitik des Staates entspricht und in den Tariflöhnen festgelegt ist. Die Kalkulation des Lohnes hat grundsätzlich auf der Basis von technisch begründeten Arbeitsnormen (TAN) zu erfolgen“. Die TAN war eine „naturwissenschaftlichtechnisch und ökonomisch begründete Kennzahl des Aufwandes an lebendiger Arbeit für ein exakt abgegrenzten und beschriebenen Arbeitsauftrag eines oder einer Gruppe (Brigade) von Werktätigen“.53 Da das Quantum an „lebendiger Arbeit“ nie wissenschaftlich gemessen werden konnte, wurden die willkürlichen realen Löhne in der SBZ / DDR als Teil des gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwands ausgegeben. Hier handelte es sich um sozialistischen Etikettenschwindel per exellence. Mit den SMAD-Befehlen 9/45 (21.07.1945), 63/46 und 337/46 wurde in der SBZ der Preisstop auf der Basis von 1944 fortgeführt. Die erste umfassende Preisreform begann in der DDR 1953. Richtungsweisend für die erste Preisreform war der Beschluß über die Grundsätze der Preispolitik vom 14.02.1953.54 Damit sollten die Verzerrungen, die von 1944 bis 1953 aufgetreten waren zumindest etwas gemildert werden. Die zweite Preisreform von 1964 bis 1967 war umfassender. Die Darstellung über die Industriepreisreform zeigt das grundsätzliche Vorgehen. Auf der Basis der Preise von 1953 wurden der laufende Aufwand, d. h. Abschreibungen, Materialkosten und Lohnkosten, auf den tatsächlichen Aufwand angehoben, so daß die Selbstkosten mehr den inzwischen höheren Aufwendungen entsprachen.

52 Ebd., S.133. 53 Ebd., S. 28. 54 Ebd., S.103.

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Grundlagen des fondsbezogenen Industriepreises

Die Darstellung über die gesellschaftlich notwendige Arbeit als Preisbildungsfaktor zeigt den Funktionszusammenhang. Haupteinnahmequelle des sozialistischen Staatshaushalts waren die Abführungen aus der sozialistischen Wirtschaft insbesondere dem in den volkseigenen Betrieben und Kombinaten erwirtschafteten Reineinkommen55, das der Geldausdruck des Werts des Mehrprodukts ist.56 Die Aufgaben und Verantwortlichkeit der Staats- und Wirtschaftsorgane und der Betriebe bei der Preisbildung sind im Beschluß des Ministerrates über Maßnahmen auf dem Gebiet der Leitung und Planung der Entwicklung der Industriepreise und im Beschluß über die Bestätigung der Verbraucherpreise für Konsumgüter nach staatlichen Nomenklaturen und zur Erhöhung der Verantwortung des Amtes für Preise vom 17.11.1971 (GBl. II, S.669ff.) und in den zu ihrer Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften festgelegt. Sie dienen der Durchsetzung der von der Partei- und Staatsführung festgelegten Grundsätze der Preispolitik“.57 Die umfassende „Industriepreisreform“ in den Jahren 1964 bis 1967 zeigen das große Ausmaß der Preisverzerrungen.58 Die Rohstoffpreisexplosion nach 1973/74 auf den Rohstoffweltmärkten vergrößerte die Verzerrungen noch mehr.

55 Ebd., S. 234 f. 56 Ebd., S. 218. 57 Ebd., S. 22. 58 Schierz, E.: Industriepreisreform, in: Ambrée, Kurt et al.: Lexikon der Wirtschaft – Preise, S. 104.

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Die Industriepreisreform in den Jahren 1964 bis 196759 Etappen / Termine der Industriepreisreform

Erfaßte Erzeugnisgruppen (Auswahl)

Anzahl der betroffenen Betriebe

Erfaßtes Produktionsvolumen

Etappe 1. April 1964 (und 1.7.)

Kohle, Energie, Kali und Salze, Erze, Nichteisenmetalle, Roheisen, Stahlund Werkserzeugnisse, Grundchemikalien einschl. Der dazugehörigen Güterverkehrstarife

250

35 Mrd. M

Etappe 1. Januar 1965

Rohholz, Schnittholz, Furniere, Pappe und Papier, Häute, Felle, Leder, Baustoffe, Wasser, Chemieerzeugnisse sowie Güterverkehrstarife für diese Waren

3.000

15 Mrd. M

Etappe 1. Januar 1967

Maschinenbau, Elektrotechnik, Elektronik, Finalprodukte der chemischen Industrie, Erzeugnisse der Leicht- und Lebensmittelindustrie, Bauleistungen (bei Konsumgütern wurden nur die Betriebspreise geregelt)

15.000

100 Mrd. M

Abschließende Bemerkungen: Die Industriepreisreform in den Jahren 1964 bis 1967 muß im Rahmen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leistung gesehen werden. Eine bunte Vielfalt von Zielen sollte mit der Preisreform erreicht werden: (1) Ein schnelles Veralten der Preise sollte verhindert werden. (2) Abbau von staatlichen Stützungen und Subventionen vor allem in der Grundstoffindustrie. (3) Einsparung von Rohstoffen und Material. (4) Stimulierung der Produktion von Erzeugnissen mit wissenschaftlich-technischem Höchststand. (5) Steigerung der Arbeitsproduktivität. (6) Senkung der Selbstkosten. (7) Erhöhung der Qualität. (8) Sozialistische Rationalisierung. (9) Einführung neuer Erzeugnisse und (10) Erhöhung des Gewinns.60 Die Ziele zeigen an, wo die Funktionsstörungen der marktlosen sozialistischen Zentralplanwirtschaft waren. Keines der Ziele auf der großen Wunschliste wurde erreicht und konnten in der sozialistischen Wirtschaft auch nie erreicht werden. Ein Gewinn kann nur in einer marktwirtschaftlichen Ordnung im Wirtschaftsprozeß entstehen. Der „Plangewinn ist der im Zentralplan festgesetzte Gewinn,61 d. h. er ist eine errechnete nackte Zahl ohne jegliche Aussagekraft. Seit Juni 1963 sollte das „Neuökonomische System der Planung und Leistung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) den Volkseigenen Betrieben mehr Kompetenzen,

59 Ebd. 60 Ebd., S. 103 f. 61 Ebd., S. 150.

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mehr Eigenständigkeit und Verantwortung bringen.62 „Das Grundprinzip der Zentralplanung war der demokratische Zentralismus“.63 Das NÖSPL widersprach dem demokratischen Zentralismus, dem Machtmonopol der SED. Das NÖSPL war mit dem System nicht kompatibel. Mit der Industriepreisreform hätte man auch die Subventionen für die Konsumgüter angehen müssen. „Die Einzelverkaufspreise für Konsumgüter wurden durch die Industriepreisreform nicht verändert. Die Industriepreisreform hatte deshalb keine Auswirkungen auf den Lebensstandard der Bevölkerung“.64 Unter Preispolitik verstand die Politische Ökonomie des Sozialismus die „Gesamtheit der Prinzipien nach denen die Preise durch den sozialistischen Staat zu planen, zu bilden, zu bestätigen und zu kontrollieren sind. […] Deshalb bekräftigte der VIII. Parteitag der SED ‚Auf Grund der großen Bedeutung, die die Kostenund Preisentwicklung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß hat, bleibt die Preisgestaltung fest in der Hand des Staates,65 d.h. Preise, Kosten, Löhne, Gewinne etc. sind politisch bestimmt. Die politische Begründung ist willkürlich und ökonomisch nicht begründbar. Dies gilt auch für die sogenannte „Industriepreisreform“ in den Jahren 1964 bis 1967. Es blieb beim sozialistischen Preischaos bis zum 01.07.1990. 1.7. Vom nationalsozialistischen Preiskosmos (1936/44) zum sozialistischen Preischaos in der SBZ / DDR (1945-1990) „Den entscheidenden Schritt zur vollständigen Ausschaltung des Preismechanismus in der gewerblichen Wirtschaft stellte die Preisstoppverordnung vom 26.11.1936 dar. Da die bis dahin ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung des Preisniveaus nicht mehr ausreichend erschienen, verbot sie grundsätzlich jede Preiserhöhung über den Stand vom 17.10.1936 hinaus, des Tages der Verkündung des zweiten Vierjahresplanes. […] Insgesamt war der Preismechanismus vor 1936 noch nicht vollständig ausgeschaltet und der Preisstopp von 1936 unterbrach die millionenfachen Austauschbeziehungen nicht abrupt, so dass es nicht umgehend zu massiven Missverhältnissen im Preisgefüge kam. Schließlich basierten die Preise zum Zeitpunkt des Einfrierens zum Teil noch auf realen Knappheiten“.66 Bis zur Währungsreform in den Westzonen am 21. Juni 1948 blieb das Preisgefüge, der Preiskosmos, die Relation der Preise untereinander jedoch in etwa erhalten. Erst mit der Einführung der Marktwirtschaft im Gefolge der Währungsreform entstand ein neuer Preiskosmos. Die DM-Eröffnungsbilanzen der Unternehmen 62 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 178 ff. 63 Ambrée, S. 152. 64 Schierz, in: Ambrée, S. 104. 65 Ebd., S. 188. 66 Diehl, Markus Albert: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung, Stuttgart 2005, S. 69, 76.

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1948/49 bringen die neuen Knappheitsrelationen zum Ausdruck. Auch beim Übergang von der Reichsmark zur Rentenmark im Gefolge der Hyperinflation 1923 wurde der Preiskosmos, das Preisgefüge nicht zerstört, sondern beibehalten. Die Reste des nationalsozialistischen Preiskosmos, die 1944 noch vorhanden waren, wurden durch SMAD-Befehl übernommen. Die Übernahme des Modells Sowjetunion in der Preispolitik der SBZ / DDR in den Jahren 1945 bis 1954 führte zum Preischaos, zum Durcheinander von Preisen. Dies zeigte sich daran, daß zwischen den Schlußbilanzen in Mark der DDR zum 30.06.1990 und den Eröffnungsbilanzen in DM zum 01.07.1990 kein Zusammenhang bestand. Mit den Eröffnungsbilanzen in DM entstand wieder ein Preiskosmos, der die Knappheitsrelationen zum Ausdruck brachte.

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2. Willkürliche Löhne 2.1. Lohnstruktur und Lohndifferenzierung in der DDR67 „In der Sowjetunion erkannte schon Lenin die schädlichen Folgen der anfänglich propagierten ‚Gleichmacherei’ auf die Einsatzbereitschaft. Deshalb forderte er, zukünftig den Grundsatz der ‚persönlichen Interessiertheit’ zu berücksichtigen. Im Jahre 1931 verkündete Stalin, daß die Entlohnung im Sozialismus nun nicht mehr nach den Bedürfnissen, sondern den Leistungen entsprechend erfolgen solle. Damit war der Versuch, den als Triebkraft bekannten Eigennutzen auszuschalten, mißglückt und der Übergang zu den bislang als ‚typisch kapitalistisch’ abgelehnten Lohnformen vollzogen. Die Lohnpolitik der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland nach 1945 richtete sich unter Verwendung der in der Sowjetunion gemachten Erfahrungen von Anbeginn auf die Schaffung eines Anreizsystems zur Produktivitätserhöhung, Wirtschaftlichkeitssteigerung und Verbesserung der Qualifikation“.68 Der Lohn als Preis für den Faktor Arbeit bildete sich in der DDR nicht über Märkte.69 In der DDR wurden die für die Werktätigen und die Betriebe rechtlich verbindlichen normativen Regelungen über Rechte und Pflichten in Bezug auf den Arbeitslohn, die Arbeitszeit, den Erholungsurlaub u. a. im „Rahmenkollektivvertrag“ (RKV) für bestimmte Wirtschaftszweige oder Personengruppen festgelegt.70 Die Rahmenkollektivverträge wurden auf der einen Seite von Staatsorganen, denen vom Staatssekretariat für Arbeit und Löhne eine Vollmacht erteilt wurde, und auf der anderen Seite von den Zentralvorständen der Gewerkschaften geschlossen. Diese Institutionen beider Seiten unterlagen der „führenden Rolle der SED“, so daß sich keine Tarifparteien mit gegensätzlichen Interessen – analog zu Marktteil-

67 Ewers, Klaus: Der Konflikt um Lohn und Leistung in den volkseigenen Betrieben der SBZ/ DDR. Ein historisch-soziologischer Beitrag zur innerbetrieblichen Lohngestaltung von 1945/46 bis zu den langfristigen Folgewirkungen des 17. Juni 1953, Bielefeld (Diss. Masch.) 1985. 68 Heuer, Helmut: Lohnformen (DDR), in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Bd. III, Stuttgart 1960, Sp. 3836. Starck, Alex: Leitungslohn und Arbeitsproduktivität, 1949. Ljapin, A. P.: Die Verteilung entsprechend der Leistung, in „Bibliothek der Aktivisten“, Heft 1 (hrsg. vom Bundesvorstand des FDGB), 195. Thalmann, Hans: Wesen und Grundlagen des Leistungslohnes in der volkseigenen Wirtschaft, in „Die Arbeit“, Jg. 6, 1952, S. 256-263 und 320239. Matthes, Harry: Das Leistungsprinzip als Grundlage der Entlohnung in der volkseigenen Wirtschaft, 1954. Manewitsch, J. L.: Der Arbeitslohn und seine Formen in der sowjetischen Industrie, 1954. 69 Artikel Arbeitsmarkt, in: Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost), S. 153. Artikel Arbeitskraft und Lohn, in: Lexikon der Wirtschaft. Volkswirtschaftsplanung, Berlin (-Ost) 1980, S. 39 f., 374 f. Mertens, Dieter / Kühl, Jürgen: Arbeitsmarkt, in: HdWW, 1. Bd., 1988, S. 279-292. 70 Autorenkollektiv: Lexikon der Wirtschaft. Arbeit, Bildung, Soziales, „Rahmenkollektivvertrag“, Berlin (-Ost) 1982, S. 762 f.

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nehmern – gegenüberstanden. Es fehlten Märkte und jeglicher Wettbewerb, so daß auch die Löhne willkürlich waren. Unter der sozialistischen Zielsetzung einer „leistungsorientierten Lohnpolitik“ wurden Lohngruppen in Ausrichtung auf die Qualifikation und Anforderung der Beschäftigten gebildet. In dieser Ausgestaltung umfaßte die Arbeitsvergütung neben dem Grundlohn Mehrleistungslöhne wie Überstunden-, Schicht-, Erschwerniszulagen und Prämien. Bei leistungsabhängigen Prämien muß die Meßgröße von den Beschäftigten beeinflußbar und das Berechnungsverfahren verständlich sein. Als Hemmnisse für die angestrebte Wirksamkeit sind grundsätzlich die Fremdeinwirkungen der Mangelwirtschaft und die für die Beschäftigten schwer verständlichen Prämiensysteme anzuführen. Dies gilt beispielsweise für Prämien in Abhängigkeit von der Steigerung von Exporten in das nichtsozialistische und sozialistische Wirtschaftsgebiet sowie Erhöhung der Exportrentabilität. Die Gestaltung des Arbeitsentgelts sollte eine leistungssteigernde Wirkung auslösen. Dies läßt sich nur erreichen, wenn der Arbeitende – bei allem Subjektivismus – seine Entlohnung als angemessen, als „gerecht“ empfindet. „Das wird dann der Fall sein, wenn der Arbeitende das Empfinden hat, daß das ihm vergütete Entgelt der von ihm vollzogenen Arbeitsleistung entspricht. Das heißt aber, jedes Arbeitsentgelt muß in einem angemessenen und vernünftig erscheinenden Verhältnis zu den für gleichartige oder höher- oder geringwertige Leistungen gezahlten Entgelten stehen“.71 In diese Wertung werden von den Beschäftigten auch die Steuerabzüge einbezogen. Das Tarifsystem der DDR zeigte unter vorstehendem Aspekt folgende Ausgestaltung:72 In der Industrie und Bauwirtschaft verdiente 1988 ein Ingenieur oder Betriebswirt mit Hochschulausbildung monatlich im Durchschnitt brutto 107,- Mark mehr als ein Meister (Gehaltsabstand = +8 %). Der Meister wiederum bezog im Durchschnitt pro Monat 260,- Mark brutto mehr als ein Produktionsarbeiter (Lohnabstand = +23 %).73 Durch die Steuertarife bei der Lohn- und Gehaltsbesteuerung nach Steuerklassen wurden bei diesen geringen Brutto-Einkommensunterschieden die Abstände zwischen den Nettoeinkommen der einzelnen Beschäftigtengruppen weiter nivelliert. So betrug 1988 in der Industrie und Bauwirtschaft der Nettolohnabstand selbst von leitenden „Hoch- und Fachschulkadern“

71 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, 1958, S. 33. 72 Vollmer, Uwe: Vollbeschäftigungspolitik, Arbeitsplatzplanung und Entlohnung der abhängig Beschäftigten in der DDR-Wirtschaft, in: Kuhrt, Eberhard et al. (Hrsg.): Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts- und Umweltpolitik, 1999, S. 323 ff. 73 Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, S. 45. Durchschnittlicher monatlicher Bruttolohn im Wirtschaftsbereich Industrie und Bauwesen der DDR 1988: Produkt ionsarbeiter = 1.100,- M.; Meister = 1.370,- M.; Hoch- und Fachschulabsolventen = 1.477,- M. Winkler, Gunnar (Hrsg.): Sozialreport DDR 1990. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR, Stuttgart 1990, S. 115.

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gegenüber dem Durchschnitts-Nettolohn, den die Produktionsarbeiter verdienten, nur noch 15 %. Auch die nach Abschluß des Planjahres aus dem Betriebsprämienfonds gezahlte „Jahresendprämie“ wurde in der Regel gleichmäßig „nach der Zahl der Köpfe“ der Belegschaft verteilt. Dieses „13. Monatsgehalt“ hatte somit eher den Charakter einer sozialen Zuwendung als einer Leistungsprämie. Der mangelnden Arbeitsdisziplin, die u. a. zur unzureichenden Nutzung der Arbeitszeit in den Betrieben führte, konnte weder disziplinarisch noch durch das Prämiensystem entgegengewirkt werden, da das verfassungsmäßige „Recht auf Arbeit“ und der darauf beruhende Kündigungsschutz Sanktionen der Betriebsleitung gegen Arbeiter und Angestellte kaum zuließ.74 Das Prämiensystem mit seinem systemnotwendigen Soll-Ist-Ver-gleich belohnte nicht Leistung, sondern die Erfüllung vorgegebener Normen. Auch die betriebliche Strategie der „weichen Pläne“ führte häufig dazu, daß das Prämiensystem keine Motivation auslöste und sich zu einem „System kollektiver Verantwortungslosigkeit“ entwickelte.75 In einem Gespräch am 2. Mai 1994 in Berlin führte Prof. Dr. Helmut Koziolek dazu aus: „Die Jahresendprämie in den Betrieben war als Stimulus gedacht für effiziente betriebswirtschaftliche Ergebnisse. Das heißt, bei guten Ergebnissen sollte quasi ein 13. Monatsgehalt gezahlt werden. Als die ersten Belegschaften von Betrieben sich beschwerten, daß sie trotz ‚angestrengter’ Arbeit die Prämie nicht erhalten haben, wurde sie fast ausnahmslos eingeführt, womit auch dies nicht mehr als Triebkraft wirken konnte“.76 Durch die Nivellierung im Lohnsystem kam es z. B. nicht selten dazu, daß ein Produktionsarbeiter im Schichtdienst am Monatsende real einen höheren Lohn hatte als sein ihm vorgesetzter Meister. Deutlich im oberen Einkommensbereich lagen neben dem höheren Leitungspersonal aus Partei, Staat und Wirtschaft, einzelnen Künstlern, Ärzten und Selbstständigen auch viele Mitarbeiter der Volkspolizei, NVA und MfS. Ein MfS-General z. B. „verdiente“ zum Ende der DDR ca. 4.000 bis 6.500 Mark monatlich.77 Ab 1985 erhielten die Abteilungsleiter im zentralen Parteiapparat 4.500 Mark; auf Bezirksebene 3.800 bis 4.000 Mark.

74 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 500. Krakat, Klaus: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90), in: Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, S. 137-172 (143 f.). 75 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 500. 76 Gespräch mit Prof. Dr. Helmut Koziolek, Berlin, 2. Mai 1994. Die DDR war eine Hauswirtschaft. In: Pirker, Theo et al.: Der Plan, S. 271. 77 Gieseke, Jan: Die Hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Teillieferung IV.1, in: Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden. MfSHandbuch, hrsg. von Henke, Klaus-Dietmar et al., Berlin 1995, S. 61 f.

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Das durchschnittliche monatliche Arbeitseinkommen der vollbeschäftigten Arbeiter und Angestellten in volkseigenen Betrieben der Industrie lag in 1989 bei 1.324 Mark.78 Im März 1990 nahmen die westdeutschen Gewerkschaften eine „Generalinventur“ in Bezug auf die Löhne und Gehälter im Osten Deutschlands vor. „Ich will das an den von der IG Chemie zu betreuenden Branchen, also Chemie, Kautschuk, Raffinerien, Porzellan, papiererzeugende Industrie und Glas verdeutlichen: Im Durchschnitt lagen die Löhne bei etwa 35 % der Westlöhne“.79 2.2. Von den nationalsozialistischen Leistungslöhnen zur Nivellierung der Einkommen bei der Verbindung der Löhne mit der sozialistischen Zentralplanerfüllung ab 1948 „Ist es Zufall, daß mit dem Beginn der Umgestaltung in der DDR im Oktober 1989 auch sofort über Verteilungsprobleme diskutiert wurde? Das Leistungsprinzip im Sinne der Verteilung nach der Arbeitsleistung wird anerkannt. Ebenso eine Verteilung nach gesellschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten. Gegenstand der Kritik waren aber sofort die hundert- und tausendfachen Verletzungen der Verteilung nach der Arbeitsleistung durch eine willkürliche Partei-, Staats- und Wirtschaftsführung. Und der Zorn des Volkes richtete und richtet sich gegen Verteilungsformen, die zum Beispiel den Rentnern Almosen zumuten, deren Höhe nicht einmal einen Ausgleich für die Teuerungsrate sichert, während umgekehrt die Verantwortlichen für die reale Verteilung ungehindert und zu Spottpreisen oder kostenlos Zugang zur Warenwelt der ganzen Erde hatte. In dieser Situation wird es dringend nötig, den Inhalt der Verteilungsprinzipien neu zu bestimmen. Neubestimmung muß vor allem heißen: Den stalinistischen Ballast entschieden, vollständig und gründlich abzuwerfen, weil sonst eine Erneuerung unmöglich ist. Dazu ist eine sorgfältige Kritik der Vergangenheit notwendig. Diese Kritik muß einerseits prinzipiell sein und bisherige Grundsätze und Formeln erfassen. Sie muß andererseits auch konkret sein. Und hier setzen die Schwierigkeiten ein. Die tiefgehende umfassende und allgemeine Krise des sozialistischen Systems in der DDR ist nicht nur eine Krise in Gesellschaft, Ökonomie und Politik, in Wissenschaft und Kultur, in Bewußtsein, Moral und Ethik. Es ist auch eine Krise der Zahlen und Statistik. Entstellungen und Fälschungen haben eine Statistik entstehen lassen, die exakte Aussagen nicht mehr erlaubt. Wer mit verfälschten Kosten rechnet, kann keine richtigen Preise ermitteln. Falsche Preise ‚begründen‘ die Notwendigkeit von Subventionen. Man weiß nicht mehr, wo und welche Subventionen in welcher Höhe gerechtfertigt sind und an welcher Stelle

78 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, hrsg. vom Statistischen Amt der DDR, Berlin 1990. 79 Rappe, Hermann: Die Privatisierung aus Sicht der Gewerkschaften, in: Breuel, Birgit / Burda, Michael C. (Hrsg.): Die Treuhandanstalt 1990 bis 1994. Eine kritische Würdigung, Berlin 2005, S. 155.

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und in welchem Umfang ‚Subventionen‘ nur das Ergebnis von Manipulationen sind. Mit den falschen Inlandspreisen werden Außenwirtschaftserlöse verglichen und Raten errechnet. Daraus wurden dann Gewinne ermittelt usw. Und auf solchen Grundlagen sollten leistungsabhängige Löhne ermittelt und Bezüge des Lohns zu volkswirtschaftliche, betrieblichen, kollektiven und individuellen Leistungen hergestellt werden. Zu den prinzipiellen Aspekten der Kritik: Bei der Einführung leistungsabhängiger Löhne in der zweiten Hälfte der 40er Jahre wurde zunächst durchaus an Bewährtes aus der Zeit des Kapitalismus angeknüpft. Es gab direkte Bezüge zwischen Lohn und individueller Leistung, ausgedrückt in Gebrauchswerteinheiten, die in der Zeit erzeugt wurden. Aber das dauerte nicht lange. Mit der Durchsetzung der Planung wurde die Verbindung des Lohnes mit der Planerfüllung, vor allem in Form von Normerfüllungen, die der Planerfüllung untergeordnet waren, eingeführt. Falsche Pläne, falsche Normen, falsche Löhne – diese Kette baute sich systematisch auf und führte zum Betrug an allen, am einzelnen, ab Betrieb, an der Gemeinschaft. In dem Maße, wie später die Normerfüllung an Gewicht verlor und die Planerfüllung direkt zur Lohn- und Prämienrechnung genutzt wurde, nahm die Konfusion zu. Die ursprüngliche Form der Tariflöhne, in die so viele Aspekte einer sinnvollen Lohnbemessung eingegangen waren, verlor mit der Erfindung immer neuer Leistungslöhne, leistungsabhängiger Lohnteile usw. immer mehr an Bedeutung. Das setzte Anfang der 50er Jahre ein und verlief ziemlich kontinuierlich. Als sich Anfang der 70er Jahre der Zustand als unhaltbar erwiesen hatte, beschloß der VIII: Parteitag der SED, das Tarifsystem neu zu gestalten. Aber ein halbes Jahr später war der Beschluß schon zu den Akten gelegt. Aus welchen Gründen das auch immer geschah, eine Chance, Ordnung in das Lohnsystem zu bringen, war damit unwiderruflich dahin. Die stattdessen folgende Einführung von Grundlöhnen war kein Ersatz für die Lösung des Tarifproblems, im Gegenteil, die Konfusion wuchs weiter, weil sich diese Grundlöhne jetzt aus den alten Tariflöhnen und aus Teilen der bisherigen Leistungslöhne zusammensetzten. Damit wurden die alten Fehler von vornherein in das neue System übernommen. Die auf diesen Grundlagen aufbauenden sogenannten leistungsorientierten Lohn- und Gehaltssysteme ließen in den Folgejahren bis in die Gegenwart hinein das Konfuse zum Absurden werden. Die nicht mehr exakt mögliche Leistungsabrechnung wurde zur Grundlage der Lohnermittlung, und davon wurden dann positive Wirkungen auf die Leistungen erhofft. Da die Tariflöhne als Mittel der Lohngestaltung zur Belanglosigkeit verurteilt waren, gab es auch keine normalen Lohnerhöhungen mehr. Daß Lohnerhöhungen im umfassendsten Sinne des Wortes stimulierende Wirkung haben, indem sie Beziehungen zwischen den Einkommen des einzelnen und den Ergebnissen der Volkswirtschaft oder eines Wirtschafts- oder Industriezweigs herstellen, wurde völlig negiert. Statt dessen wurden Lohnerhöhungen immer in Formen leistungsabhängiger Löhne gezwängt, und die Ziele, die erreicht werden sollten, wurden immer vielfältiger. War es ursprünglich die individuelle Leistung, die berücksichtigt werden sollte, so wurden bald die betrieblichen Arbeitsergebnisse, die Leis-

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tungen für die Volkswirtschaft, die konkreten Arbeitsergebnisse und die Planerfüllung, die Quantität und die Qualität der Erzeugnisse und anderes berücksichtigt. Schon frühzeitig sollten Betriebstreue und auch gleich das Gegenteil, die sinnvolle Fluktuation, gesteuert werden. Die Liste der beabsichtigten Lösungen von Gesellschaftsproblemen, die mit Hilfe des Lohnes gelöst oder gefördert werden sollten, ließe sich beliebig verlängern. Alles sollten die Löhne bewirken. Wo aber alles erreicht werden soll, wird nichts mehr erreicht, und der Sinn von Lohnund Gehaltsgestaltung ging völlig verloren. Die Vielfalt der Zielstellungen bezüglich Strukturveränderungen, Lenkung von Arbeitskräfteströmen usw. führte auch zu nivellierenden Tendenzen, die vom Lohnsystem ausgingen. Die Nivellierung der Einkommen ist sicher eines der verhängnisvollsten Momente in der Lohnentwicklung der DDR und der anderen sozialistischen Länder. Bisher genannte Entwicklungstendenzen im Lohngefüge haben zusammen mit unzureichender Lohnentwicklung im Ergebnis der Stagnation der Wirtschaft der sozialistischen Länder die Verteilung nach der Leistung sehr weitgehend außer Kraft gesetzt, teilweise sogar eine Verteilung herbeigeführt, bei der der Lohn im umgekehrten Verhältnis zur Leistung steht. Die Relation im Einkommen von ungelernten Arbeitern, Facharbeitern und Meistern wurde schon oft erwähnt. Aber das ist nicht alles. Man könnte im gewissen Sinne sogar sagen: Je wichtiger Intelligenz und Verantwortung für die Arbeit, desto niedriger die Entlohnung. Diese Aussage gilt nicht nur relativ, sondern teilweise sogar absolut. Wo dabei Impulse für die Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Revolution herkommen sollen, vermag ich nicht zu sagen. In diesem Zusammenhang ein besonderes Moment: Löhne und Gehälter wurden immer auch genutzt, besonders unzufriedene Berufsgruppen ruhigzustellen. Wenn vor 1961 Mediziner oder Techniker besonders geneigt waren, die DDR zu verlassen, wurden ‚Lohnmaßnahmen‘ durchgeführt. Später, nachdem man das nicht mehr nötig hatte, konnte man anders verfahren. Die Einkommen wurden nahezu eingefroren. Spitzte sich die Unzufriedenheit in Großbetrieben eines Industriezweigs so zu, daß Streik drohte, mußten Lohnerhöhungen helfen, echte Probleme unter den Teppich zu kehren. Das Resultat: Differenzierungen, die nicht unbedingt in Beziehung zur Arbeitsleistung standen, sondern weitere Verletzung des sozialistischen Verteilungsprinzips mit sich brachten. Wenn einerseits konstatiert werden kann, daß mit dem Lohn alles erreicht werden sollte, so muß man gleichzeitig aber vermerken, daß die Lohnwirkungen auch durch außerökonomischen Zwang zur Arbeit außer Kraft gesetzt wurden. Administrative Unterbindung von Arbeitsplatzwechsel, staatliche Verbote für Betriebe, Arbeiter aufzunehmen, und ähnliche Maßnahmen gehören dazu. Eine seltsame Abneigung der Verantwortlichen für die Lohnpolitik gab es immer gegen kollektive Lohnformen, die mit dem primitiven Hinweis, keine Gleichmacherei zuzulassen, abgetan wurden. Damit trat ein seltsamer Zustand ein: Während mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt die Kollektivität in Produktion und Arbeit immer mehr zunahm, wurden alte Verteilungsverhältnisse deformiert, eine Erscheinung, die insgesamt für den Stalinismus charakteristisch ist.

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Ein letzter Aspekt der Kritik: Bei der Verteilung nach der Leistung geht es letztlich darum, daß das Maß der Konsumtion durch die Leistung an Arbeit und in der Produktion bestimmt wird. Der Lohn tritt dabei nur als die der Warenproduktion entsprechende Geldform zur Vermittlung dieser Beziehung auf. Aber diese Vermittlerrolle kann der Lohn nur spielen, wenn die Ergebnisse der Produktion auch in den Konsumtionsfonds eingehen. Das gilt gebrauchswert- und wertmäßig. Wenn Produkte nicht in den Konsumtionsfonds eingehen, sondern zum Beispiel nur exportiert oder gar im Export verschleudert werden, dann wird der Lohn kein Äquivalent für Waren sein. Und auf dieser Grundlage bewegen sich die Preise, wird die Inflation unvermeidbar. Diese kurzen Bemerkungen zu bisherigen Verstößen gegen das Leistungsprinzip lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Es ist das Verständnis und die Wirkung eines Verteilungsmodus unter den Bedingungen des Stalinismus. Dieses System ist nicht reformierbar. Das Leistungsprinzip muß neu gestaltet werden, ohne die Folgen des verfehlten Gefüges auf die bitter betrogenen Werktätigen abzuwälzen. Fortsetzung der Inflation oder Abwertung der Spareinlagen sind dabei nicht diskutabel. Die entscheidende Ursache für die Mißverhältnisse bei der Verteilung zwischen Produktion und Konsumtion bestehen nicht darin – wie zu viele heute noch glauben –, daß der Lohn in der DDR sich zu schnell entwickelt hätte. Im Gegenteil, für ein Land, das seine Führer lange Zeit und immer wieder zu den zehn führenden Industriestaaten der Welt gezählt haben, war die Lohnentwicklung mehr als bescheiden. Mehr noch, in den letzten Jahren und für manche Berufsgruppen, unter anderem für die hochqualifizierte Intelligenz, war die Einkommenssteigerung nicht einmal mehr ein Ausgleich für die Teuerungsrate. Die entsprechende Ursache für das Mißverhältnis besteht vielmehr in der nicht ausreichenden Warenbereitstellung, die ihrerseits ihre Ursache nicht in Unterproduktion, sondern in den Verlusten hat, die durch ein administrativ-bürokratisches Partei- und Staatssystem entstanden. Die Verluste ergaben sich auch aus Außenwirtschaftsverlusten infolge wissenschaftlich-technischer Rückständigkeit und veralteter Wirtschaftsstrukturen, deren Rückständigkeit laufend größer wurde“.80 2.3. Leistungsorientierte Lohnpolitik: „Nirgendwo hinterließ die zentrale Kommandowirtschaft ein solches Chaos, wie bei den Lohnfragen“ Die DDR-Ökonomen Günter Kusch, Rolf Montag, Günter Specht und Konrad Wetzker vom früheren ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Planungskommission sehen im „sozialistischen Gerechtigkeitsanspruch“ eine der Hauptursachen für den Zusammenbruch des Gesellschaftssystems in der DDR: „Zentralistische Planwirtschaft ist ihrem Wesen nach Naturalwirtschaft. Der sozialistische Anspruch, der direkten Bedürfnisbefriedigung höchste Priorität einzu-

80 Seidl, Helmut: Zur Umgestaltung in den Verteilungsverhältnissen, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 5, 1990, S. 734-739.

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räumen, sie nicht dem ‚Profitstreben des Kapitals‘ unterzuordnen und von den spontanen Wirkungen des Geldes zu befreien, bedingte die bewußte Mißachtung des Wertgesetzes, insbesondere in der Preisbildung sowie die Einschränkung der allgemeinen Äquivalenz des Geldes. Die Gesellschaft war objektiver Kriterien für die Verteilung der Güter und Produktionsfaktoren beraubt. Die Einheit materieller und finanzieller Prozesse wurde zerstört. Unzulässige Geldschöpfungen und inflationäre Prozesse wurden unausweichlich, wenn die Führung in sozialem ‚Beglückungsdrang‘ mehr verteilt als erwirtschaftet wurde. Ungleichgewichte von Angebot und Nachfrage, permanenter Mangel an Gütern und Leistungen, wachsender Geldüberhang bei der Bevölkerung und in der Wirtschaft gehörten zu unausbleiblichen Begleiterscheinungen. Sie bildeten den Nährboden für Spekulation, Amtsmißbrauch und Korruption. Sozialistischer Gerechtigkeitsanspruch war – das hat die Praxis in allen Ländern des ‚real existierenden Sozialismus‘ bewiesen – in erster Linie Anspruch an die Verteilung und nicht an die Leistung. Das System tendierte objektiv zur Gleichmacherei, es bestrafte die Fleißigen und belohnte die Faulen, es schätzte die kreative Arbeit gering und überbewertete Sozialansprüche. Die Arbeitsmoral verfiel und machte einem ausgeprägten Anspruchsdenken und Schmarotzertum Platz. Was selbst nicht geleistet wurde, sollte von anderen erarbeitet werden. […] Zum Komplex der Versuche, systemimmanente Mängel zu überwinden, gehört die leistungsorientierte Lohnpolitik. Die Lohnpolitik zählt wohl in allen Industrieländern zu den wichtigsten und zugleich sensibelsten wirtschaftlichen Fragen. Natürlich widmete auch die SED-Führung dieser wichtigen Frage entsprechende Aufmerksamkeit und wurde nicht müde, das sozialistische Leistungsprinzip ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung‘ als das humanste Prinzip der Entlohnung zu propagieren. Aber auf wohl keinem anderen Gebiet war die Kluft zwischen theoretischem Anspruch und Realität so groß wie auf diesem. Nirgendwo hinterließ die zentrale Kommandowirtschaft ein solches Chaos, wie bei den Lohnfragen. In den Kombinaten konnte man skurrile Dinge erleben, Transportarbeiter, die ein paar hundert Mark mehr verdienten als hochqualifizierte Entwicklungsingenieure, Meister, die weniger Lohn als die ihnen unterstellten Arbeiter erhielten, aber auch Generaldirektoren, die nicht mit ihrem Minister getauscht hätten, allein des Verdienstes wegen. Aber nicht nur innerhalb eines Kombinates bestanden solche Diskrepanzen. Noch ausgeprägter waren sie zwischen den Branchen der Industrie, faktisch in der gesamten Volkswirtschaft. Wurde die Unzufriedenheit einer Berufsgruppe zu groß oder nahm die Frustration für die Volkswirtschaft katastrophale Folgen an, wurden mit mehr oder weniger großem Propagandaaufwand Lohnregelungen verkündet und vorgenommen. Das Ergebnis bestand jedesmal darin, eine Ungerechtigkeit zu beseitigen und neue zu schaffen. Die Verwirklichung des ‚sozialistischen Leistungsprinzips‘ hat der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR in ihrer ganzen Geschichte immer erhebliche Probleme bereitete und ist niemals gelungen, weil sich die systemimmanenten Mängel nicht überwinden ließen.

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Zum ersten betrifft das die Aufteilung der Konsumtion in individuelle und gesellschaftliche Formen. Die Gestaltung des ‚entwickelten Sozialismus‘ war, wie oben quantitativ nachgewiesen, begleitet von dem Anspruch an die Ausweitung der Formen der gesellschaftlichen Konsumtion. Auf diesem Weg ist die Konformität mit den gesellschaftspolitischen Zielen der Führungspartei viel eher durchsetzbar, ist die Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen viel leichter zu kanalisieren, kann ‚sozialistische Lebensweise‘ viel besser oktroyiert werden als über die individuelle Konsumtion, für die die Menschen eigene Vorstellungen über ihre Bedürfnisse und die Rang- und Reihenfolge ihrer Befriedigung entwickeln. Der Vorrang muß notwendigerweise zur Beschneidung der Mittel führen, die von der Gesellschaft als Entgelt für die Bezahlung der individuellen Arbeitsleistung ausgegeben werden können. Im Zeitraum zwischen 1971 und 1988 stiegen die Bruttolöhne in der DDR auf 162 %, demgegenüber in der BRD auf 293 %. In der gleichen Zeit kletterten die Zuwendungen des Staatshaushaltes für die Bevölkerung – ohne Subventionen für stabile Preise des Grundbedarfs, Tarife und Dienstleistungen – in der DDR auf 344 %. In der BRD stiegen in diesem Zeitraum die Ausgaben des Bundes und der Länder für das Sozialbudget ebenfalls beträchtlich, auf rd. 285 %, die Ausgaben der privaten Haushalte für soziale Absicherung dagegen auf über 430 %. Bei allen Unterschieden des Inhalts der Sozialausgaben wird in diesen Entwicklungen jedoch prinzipiell deutlich, daß in der BRD die Leistung anteilig besser bezahlt und dafür der Bürger selbst stärker an der Finanzierung sozialer Leistungen beteiligt wurde: Welcher Weg leistungsfördernder wirkte, ist letztlich durch die wirtschaftlichen Ergebnisse belegt worden. Zum zweiten gehörte zu den obersten Maximen des Sozialismus der Anspruch auf Vollbeschäftigung. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die den volkseigenen Betrieben und Einrichtungen mit den Plänen zugestandenen Lohnfonds garantierten die Vollbeschäftigung in absoluter Weise. Kein verantwortlicher Leiter in Wirtschaft und Staat, im Bildungswesen oder in der Kultur war veranlaßt, irgend jemandem zu kündigen, weil es die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens oder ein verminderter Stellenplan erfordert hätte. Letzteres drohte allenfalls von Zeit zu Zeit in Verwaltungsbereichen, deren Hang zur ständigen Vergrößerung, oft genug zu korrigieren versucht, sich am Ende doch immer als stärker erwies. Dagegen herrschte überall Arbeitskräftemangel, obwohl der Anteil der Berufs- bzw. Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung mit über 50 % in internationalen Vergleichen einen sehr hohen Wert darstellte. Daß sich der aus der Steigerung der wirtschaftlichen Leistungen mögliche Einkommenszuwachs in der DDR auf eine anteilig größere Beschäftigtenanzahl verteilte und deshalb für den Einzelnen geringer ausfallen mußte, war dabei noch das kleinste Übel. Die garantierte Vollbeschäftigung – so erstrebenswert für den Einzelnen wie als erhaltenswertes gesellschaftliches Ideal – brachte mit den in der DDR praktizierten Methoden nicht unwesentliche Nachteile mit sich. Ganz allgemein mußte der Leistungsdruck geringer sein als in einer Gesellschaft mit einem ständigen Arbeitslosenpotential. Durch die SED-Führung wurde vor einem sol-

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chen alternativen Zustand oft genug im Interesse der Systemerhaltung gewarnt. Aber die Moral und gerade die Moral der Arbeit läßt sich schlecht predigen. Das Sozialismusverständnis setzte auf die Überzeugung und Erziehung der Menschen zur Arbeit, den Hinweis von Karl Marx gründlich mißachtend, daß es nicht das Bewußtsein ist, das das Sein bestimmt, sondern umgekehrt das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein hervorbringt. Die Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuches und anderer Sozialgesetze trugen dazu bei, die Arbeiter und Angestellten gegenüber den jeweiligen Leitern überwiegend ins Recht zu setzen. Unter den Bedingungen zunehmender Störungen im Produktionsprozeß, verursacht durch volkswirtschaftliche Disproportionen, fand die Auseinandersetzung über mangelnde Arbeitsdisziplin und -ergebnisse immer weniger statt. Das Verhältnis von Leistung und Lohn wurde dabei in den letzten Jahren immer mehr zuungunsten der Leistung verschoben. Diese Tatsache steht mit dem dritten systembedingten Nachteil in engem Zusammenhang. Unter sozialistischen Produktionsverhältnissen prallen die Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmer und Unternehmern, die einen an hohem Lohn, die anderen an hohem Gewinn interessiert, nicht konträr aufeinander. Der Interessengegensatz trägt sich aus zwischen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die nur verteilen kann, was erwirtschaftet wird, und den einzelnen Gliedern der Gesellschaft. Was unter Bedingungen privaten Eigentums bis in jeden Betrieb hineinreicht, den Unternehmer bei unzureichender Wirtschaftlichkeit zuallererst zur Begrenzung des flexibelsten Kostenfaktors – Lohn – zwingt, stellt sich in der Zentralverwaltungswirtschaft nur als gesellschaftliches Gesamtproblem dar. Tarifauseinandersetzungen oder gar eine Tarifautonomie der Gewerkschaften gab es de facto nicht. Wieviel an Löhnen und Gehältern gezahlt werden durfte, bestimmte einzig und allein die Zentrale mit dem Plan. Die Zuteilung des Lohnfonds erfolgte dabei wie die aller Ressourcen in Anpassung an die bestehenden Strukturen. Ausgehend vom Primat der Sicherung der Vollbeschäftigung war die Anzahl vorhandener Arbeitskräfte die bestimmende Ausgangsgröße. Trotz aller Nachweise und Abstimmungen mit den Territorien erwies sich die Planung ‚toter Seelen‘ als ein ständiges Problem der zentralen Bilanzierung. Auf diese Weise sicherten sich die Kombinate eine Lohnfondshöhe, mit der nicht nur die Bezahlung aller verfügbaren Arbeitskräfte gesichert war, sondern mit dem auch Überstunden-, Sonn- und Feiertagszuschläge abgegolten und der Durchschnittslohn – die zweite wichtige Grundlage für die künftige Lohnfondsplanung – erhöht werden konnte. Die Nutzung des Planes als Instrument der Verteilung der Löhne ließ alle Fragen der Tarifgestaltung, die ein stärkeres Mitspracherecht der Gewerkschaften mit sich gebracht hätte, in den Hintergrund treten. Tarife, die als Rudiment des Kapitalismus galten, wurden über Jahrzehnte nicht geändert. Ein Anfang der 70er Jahre von einem FDGB-Kongreß angeregtes Tarifprojekt wurde nach rund 2-jähriger Vorarbeit ganz einfach wieder vergessen.

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Planmäßige Lohnerhöhungen konnten unter diesen Bedingungen nur über ‚weiche Normen‘, die eine hohe Übererfüllung und damit die Ausschöpfung des zugeteilten Lohnes ermöglichten, realisiert werden. Damit waren negative Wirkungen in zweierlei Hinsicht verbunden. Zum einen minderten solche Normen natürlich den Leistungsdruck. Zum anderen löste die geringe Besteuerung des Mehrleistungslohnes mit nur 5 % den Protest aller Angestellten, die davon nicht partizipierten, aus. Dieses Problem hatte mit dem Ansteigen der Durchschnittslöhne an Gewicht zugenommen. Tarife und Steuertabellen stammten aus den 40er Jahren, in denen die Löhne weitaus niedriger und die zu zahlenden Steuern im Durchschnitt kaum mehr als 5 % ausmachten. Mit dem Anwachsen der Löhne stieg die Steuerprogression steil an. Selbst mittlere Angestellte hatten bald die oberste Steuergrenze für unselbständige Tätigkeit von 20 % erreicht. Demgegenüber war der größte Teil der Bruttolöhne der Arbeiter nur mit 5 % besteuert. In zwei Etappen, zunähst Anfang der 60er Jahre, dann noch einmal mit Beginn der Einführung der sogenannten Grundlöhne ab 1976, war eine de factoAnhebung der Tariflöhne in der Weise vorgenommen worden, daß bisherige Normüberfüllungen als Festbetrag mit einer 5 %igen Besteuerung in den Grundlohn eingingen. Diese bildeten die neue Basis für die Zahlung des Lohnes bei einer Normerfüllung von 100 %. Damit war der Nachteil der ‚weichen Norm‘ beseitigt, die Diskrepanz in der Besteuerung zwischen Arbeitern und Angestellten blieb. Die Wirkung der unterschiedlichen Besteuerung zeigt ein Vergleich der Brutto- und Nettolöhne von Angestelltengruppen mit den Arbeitern. Vergleich der monatlich durchschnittlichen Brutto- und Nettolöhne in der Industrie (1988) – in Mark – Bruttolöhne Arbeiter Meister Hoch- und Fachschulkader Techn.-ökon. Fachkräfte ohne Hoch-/ Fachschulabschluß

1.014 1.312

Abweichung von Arbeitern + 298

Nettolöhne 899 1.017

Abweichung von Arbeitern + 118

1.467

+ 453

1.137

+ 238

893

./. 121

688

./. 121

Quelle: Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 109.

In einer Reihe von Betrieben, Kombinaten und ganzen Zweigen lagen die durchschnittlichen Nettogehälter der Meister sogar unter den Verdiensten der Arbeiter, z. B. im Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau gegenüber Facharbeitern der Lohngruppe 8 um monatlich 63 Mark und im Schwermaschinen- und Anlagenbau um 50 Mark. Die Zentrale stand diesen Verhältnissen nach mehr als einem Jahrzehnt sogenannter ‚leistungsorientierter Lohnpolitik‘ im Grunde genommen ohnmächtig gegenüber. Die Tendenz zur weichen Norm blieb, mußte blei-

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ben, weil die Zentralverwaltungswirtschaft ein Korrelativ von Leistung und Lohn nicht zulassen wollte. Die ‚leistungsorientierte Lohnpolitik‘ wurde vielmehr über eine jährliche Auswahl von sogenannten Grundlohnbetrieben vollzogen, die zusätzlich zum planmäßigen Anstieg der Löhne, gegen eine Verpflichtung zur Überbietung der geplanten Arbeitsproduktivität, weitere Mittel zugeteilt bekamen. Das selektive Vorgehen, quer durch alle Branchen und Territorien, war notwendig, weil die jährlich zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausgereicht hätten, um mit einem einzigen Schnitt einen realen Tarifrahmen einzuführen. Vor allem aber wurde die Einführung der Grundlöhne mit einem großen Aufwand agitatorischer und arbeitsökonomischer Unterweisung der auserwählten Betriebe verbunden, was ebenfalls in der Breite nicht möglich war. Den Betrieben sollte geholfen werden, wirklich leistungsfördernde Lohnformen anzuwenden. Was unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen als äußerer Zwang wirkt, sollte vor Ort mit der Erfahrung der Besten erreicht werden. Wo bis an die Tore des Betriebes das leistungsunabhängige Zuteilungssystem galt, sollten statt dessen nun innerhalb der Betriebe harte Leistungsmaßstäbe gelten. Das ganze Umfeld tendierte jedoch zur Gleichmacherei. Als nach der Einführung der Produktivlöhne für Arbeiter damit begonnen wurde, für Meister, Hochund Fachschulkader sowie technisch-ökonomische Fachkräfte – später auch für die leitenden Direktoren – leistungsbezogene Gehaltsbestandteile einzuführen, die zuvor oft genug gefordert worden waren, zeigten sich die verantwortlichen Leiter kaum bereit, sie tatsächlich leistungsorientiert anzuwenden. Die Mittel wurden überwiegend wie immer verwendet, als allgemeine Lohnerhöhung. Das Verschenken nach dem ‚Gießkannenprinzip‘ setzte sich fort. Der Lohn, das potentiell wichtigste Mittel zur Verwirklichung des Leistungsprinzips, verlor jede stimulierende Wirkung, mehr noch, er verwandelte sich zunehmend zum Gegenstand berechtigter und ständiger Unzufriedenheit, erfüllte letztlich nur noch sozialpolitische Funktionen. Damit war ein weiterer Versuch der SED-Führung gescheitert, systemimmanente Mängel zu überwinden“.81 3. Gewinn: „Dann sollte es der Gewinn sein, nach dem kapitalistischen Modell! Ich habe immer gelacht. Der wird ja gar nicht gemessen, der wird nur als Zahl eingetragen. Das ist das Betrugssystem!“ In dem Gespräch mit Theo Pirker am 2.9.1993 traf der Minister für Chemische Industrie Dr. Günther Wyschofsky den Nagel auf den Kopf. „Pirker: Innerhalb des Plankonzepts stellt sich ja die Frage der Rechenhaftigkeit. Welches Instrument der Rechenhaftigkeit wurde angewendet? Bei Stalin war es einfach, da war es die Tonnage.

81 Kusch, Günter / Montag, Rolf / Specht, Günter / Wetzker, Konrad: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 89 f., 105 ff.

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Wyschofsky: Bei uns auch – lange Zeit. Pirker: Aber was ist danach gekommen? Wyschofsky: Dann sollte es der Gewinn sein, nach dem kapitalistischen Modell! Ich habe immer gelacht. Der wird ja gar nicht gemessen, der wird nur als Zahl eingetragen. Das ist das Betrugssystem. Lepsius: Was Kosten sind und was infolgedessen Gewinne sind, das sind ja Konstruktionen, die nicht immer richtig sind. Das Wichtige ist nur, daß es eine kontinuierliche Rechenbasis gibt, die nicht manipulierbar ist. Das Markt-PreisSystem hatte auch für die DDR-Wirtschaft einen Realitätsbezug, und zwar über den Handel mit dem nicht sozialistischen Wirtschaftsgebiet. Spielte das eine Rolle? Wyschofsky: Wir haben teilweise auch nur Warentauschgeschäfte gemacht. Innerhalb des Planes habe ich zu einem Koeffizienten X für Millionen Ware nach Moskau geliefert und bekam die Gegenware Stahl auch zu einem solch günstigen Koeffizienten. Dann hat mich das nicht interessiert. Aber es war kein echter Ausdruck. Sobald ich dieselbe Ware nach der Schweiz lieferte, brach alles zusammen, weil die Rechnung eben nicht stimmte. Dies heißt, daß die DDR mit allen sozialistischen Ländern einen Naturaltausch betrieb. Wenn in der DDR in westliche Marktwirtschaften exportiert wurde, zeigte sich, was DDR-Produkte wert waren“.82 In der Politischen Ökonomie des Sozialismus wird der Gewinn definiert: 1. „Der Gewinn ergibt sich als Differenz zwischen den Erlösen aus realisierter Warenproduktion zu gesetzlich festgelegten Preisen und den Gesamtselbstkosten der Kombinate und Betriebe“.83 2. „Gewinn – in den sozialistischen Betrieben und Kombinaten des produzierenden Bereiches Differenz zwischen den Erlösen der abgesetzten waren und Leistungen und den zu ihrer Herstellung aufgewandten Selbstkosten. […] Entstehung, Umfang und Verwendung des Gewinns werden grundsätzlich geplant – (Gewinnplanung).84 3. „Der Gewinn ist Gegenstand des Planes. Er wird vom sozialistischen Staat planmäßig gestaltet und zur Realisierung der Erfordernisse der ökonomischen Gesetze ausgenutzt“.85 4. „Gewinn – Ergebnis wirtschaftlicher Tätigkeit der sozialistischen Betriebe als positive Differenz zwischen den Erlösen und den ihnen entsprechenden Kos82 Gespräch mit Dr. Günther Wyschofsky, Berlin 02.09.1993. In: Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 202 f. 83 Richter, Horst: Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Lehrbuch für das Marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. Berlin (-Ost) 1988, S. 753. 84 Steeger, Horst: Lexikon der Wirtschaft. Volkswirtschaftsplanung, Berlin (-Ost) 1980, S. 244. 85 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1972, S. 86.

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ten. […] Der Gewinnzuwachs ist der Steigerungsbetrag für einen Planungsund Abrechnungszeitraum. Er wird sowohl für den geplanten Gewinn (Plangewinn) als auch für den effektiven Gewinn ausgewiesen. Der Planung des Gewinns sind Normative zugrunde zu legen. Es ist zu unterscheiden zwischen Normativen der Gewinnbildung und der Gewinnverwendung. Ein bedeutendes Normativ der Gewinnbildung ist die Fondsrentabilität (Rentabilität) als Verhältnis zwischen der Gewinnsumme und den produktiven Fonds. Sie ist eine entscheidende Kennziffer für die planmäßige Bildung der Preise“.86 In der Politischen Ökonomie des Sozialismus haben die Ausdrücke wie „Gewinn“, „Erlöse“, „Selbstkosten“ usw. einen vollkommen anderen Inhalt als in der Fachsprache der marktwirtschaftlichen Wirtschaftswissenschaften. Sie sind alle ohne ökonomische Aussagekraft und haben ausschließlich Bedeutung in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Der Minister für Chemische Industrie Dr. Günther Wyschofsky hat den Unterschied im Inhalt von gleichen Wörtern auf den Punkt gebracht und dabei klarer gesehen als die Schriftsteller der Politischen Ökonomie des Sozialismus. 4. Investitionen: Weder vorher noch nachher konnte bei Investitionen festgestellt werden, ob sie ökonomisch sinnvoll waren Investitionen in einer Marktwirtschaft: Als Investition soll jede „Verwendung von Produktionsfaktoren zur Erhaltung, Vergrößerung oder Verbesserung des Produktionsapparates außerhalb der privaten Haushaltungen [...]“87 verstanden werden. Nach Ausgliederung der zur Erhaltung des Produktionsapparates erforderlichen Investitionen aus den Bruttoinvestitionen verbleiben die Nettoinvestitionen. Diese Nettoinvestitionen umfassen den Einsatz von Produktionsfaktoren mit dem Ziel einer zukünftig besseren Güterversorgung. Die Nettoinvestitionen lassen sich in reine Erneuerungsinvestitionen zur Durchsetzung von Ergebnissen des technischen Fortschritts, in Erweiterungsinvestitionen bestehender Produktionskapazitäten und Rationalisierungsinvestitionen unterteilen, mit dem Zweck, „das gleiche Produktionsvolumen bei verändertem kostengünstigerem Faktoreinsatzverhältnis [...]“88 herzustellen. Bei Nettoinvestitionen gleich Null hat die unveränderte Größe des Produktionsapparates eine stationäre Wirtschaft zur Folge. Positive bzw. negative Nettoinvestitionen führen entsprechend den Veränderungen des Produktionsapparates zu einer wachsenden oder schrumpfenden Volkswirtschaft. In den marktwirtschaftlichen Systemen entscheiden die Unternehmer über die Durchführung der Investitionen. Unter der Zielsetzung einer Gewinnerwirtschaftung sind für die Investitionsentscheidungen die Ertragserwartungen als Saldo aus

86 Ambrée, Kurt: Lexikon der Wirtschaft. Preise. Berlin (-Ost) 1972, S. 86. 87

Meinhold, Helmut: „Investitionen“, in: HdSW, 5. Bd., 1956, S. 334.

88

Kromphardt, Jürgen: „Investitionen, volkswirtschaftliche“, in: HdSW, 4. Bd., Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1978, S. 247.

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den erwarteten Ausgaben und Einnahmen maßgebend. Durch die in die Zukunft reichenden Wirkungen sind die Investitionen mit Risiken der Unsicherheit verbunden. Chancen und Risiken liegen bei den einzelnen Wirtschaftssubjekten, eingetretene Verluste sind von diesen zu tragen. Die Investitionen als Verwendung von wirtschaftlichen, d. h. knappen Gütern zur Erhaltung, Erweiterung oder Verbesserung des Produktionsapparates bedeuten in der gegenwärtigen Periode einen Verzicht auf den Verbrauch von Gütern in der Erwartung eines möglichen höheren Verbrauchs in zukünftigen Perioden. Die Investitionen sind mit einem Konsumverzicht verbunden. Nach Walter Eucken89 wird die Verwendung der wirtschaftlichen Güter „zurückversetzt“ durch Zuführung in andere Produktionsprozesse als Produktionsmittel. Diese „Rückversetzung“ als Investition bedeutet den Einsatz von Kapital. Eugen Schmalenbach90 versteht als Kapital „einen Vorrat von Gütern, die brauchbar und nur in beschränkter Menge verfügbar und vorrätig sein müssen“. „Das Kapital entsteht erst dadurch, daß wir die Güter vorrätig machen, d. h. daß wir sie nicht verbrauchen, sondern sparen“.91 Schmalenbach weist weiter darauf hin, daß die Erstellung eines Gutes und die Bildung von Kapital zwei verschiedene Dinge sind. 92 Das Kapital als mögliche Verfügbarkeit über wirtschaftliche Güter bildet eine Voraussetzung für die Durchführung von Investitionen und stellt damit einen Einsatzfaktor, ein wirtschaftliches Gut dar. In marktwirtschaftlichen Systemen wird die Bildung und Überlassung von Kapital durch Angebot und Nachfrage auf dessen Märkte bestimmt. Als „Preis“ für die Kapitalnutzung entsteht ein Zins, dessen Höhe über die Märkte zu einem Ausgleich von Angebot und Nachfrage führt. Über die Märkte wird das Kapital zu den Investitionen geleitet, die den höchsten Erfolg und damit ökonomischen Nutzen versprechen.93 Da die Ertragserwartungen der Investitionen durch die Einnahmen aus den künftig produzierten Leistungen beeinflußt werden, bestimmen letztlich die Bedürfnisse der Konsumenten die Investitionsentscheidungen. Investition ist der Einsatz von Kapital, der zur Ausweitung der Anlagen (Kapazität) und der sonstigen Sachgüterbestände führt. Aufgabe der Investitionsrechnung ist ein Rechenverfahren, das feststellt, ob ein Investitionsobjekt wirtschaftlich arbeiten wird und vergleicht, welches von mehreren Investitionsobjekten das wirtschaftlichere ist, also eine Wirtschaftlichkeitsrechnung. Gegenstand solcher Rechnungen sind Ausgaben und Einnahmen bzw. Kosten und Erlöse, die in Verbindung mit dem Investitionsobjekt entstehen. Die wertmäßigen und zeitlichen Differenzen zwischen Ausgaben und Einnahmen

89

Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen, Zürich, 3. Aufl. 1960, S. 86.

90

Schmalenbach, Eugen: Exakte Kapitallenkung, in: Betriebswirtschaftliche Beiträge, hrsg. von Eugen Schmalenbach, Köln 1948, S. 21-27.

91

Ebd., S. 21.

92

Ebd., S. 21.

93

Ebd., S. 23.

791

einerseits und Kosten und Erlösen andererseits werden durch die kalkulatorischen Zinsen ausgeglichen (Ausgleichsfunktion der kalkulatorischen Zinsen). Methoden der Investitionsrechnung sind die Kapitalwertmethode, die interne Zinsfußmethode und die Annuitätsmethode.94 „Jeder Investition gehen Überlegungen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Rechtfertigung voraus. Sie beziehen sich auf die Erfassung und Vorhersage sowohl der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung (Marktforschung) als auch der Absatzmöglichkeiten des Produktes und der Konkurrenzverhältnisse (Marktanalyse). Die Ergebnisse finden ihren Niederschlag in einem langfristigen Absatzplan und in dem auf diesem aufbauenden Produktionsplan auf lange Sicht“.95 Eugen Schmalenbach setzt den Jahresgewinn mit der Wirtschaftlichkeit nicht einfach gleich, sondern kommt aus der Entwicklung der Gewinne verschiedener Perioden zu Rückschlüssen auf die Wirtschaftlichkeit. Fehlinvestitionen96 minderten oder vernichteten die Rentabilität, d. h. sie traten offen auf und müssen vom Unternehmer verantwortet und wirtschaftlich getragen werden. Willkürliche Investitionen in der sozialistischen Zentralplanwirtschaft: In der politisch natural gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft wird der Wirtschaftsprozeß nicht mehr durch die Konsumenten, sondern durch die zentrale Planungsinstanz gelenkt. Nach Walter Eucken „sind die Konsumenten entthront“.97 Damit ist auch die Einwirkung der Konsumenten auf die Investitionen ausgeschaltet. Bei der Definition von Investitionen im Sozialismus zeigt sich, daß die Definition keinen Realitätsbezug hat: „Im Sozialismus werden die Investitionen planmäßig nach den Erfordernissen der ökonomischen Gesetze besonders für die intensiv erweiterte Reproduktion der Volkswirtschaft eingesetzt. Sie sind die Grundlage für die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen. Sie müssen zu einer planmäßigen und proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft unter Berücksichtigung der internationalen sozialistischen Gesellschaft einen optimalen Nutzen bringen“.98 „Planmäßig“ heißt nach dem Zentralplan, die ökonomischen Gesetze sind ein Phantasieprodukt, die „Bedürfnisse“ der Menschen konnten nie festgestellt werden und auch nicht wissenschaftlich aggregiert werden, die „proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft“ war ein Wunschdenken ebenso wie der „optimale Nutzen“, der nie festgestellt werden konnte.

94

Heinen, Edmund: Investitionsplanung, industrielle, in: Seischab, Hans / Schwantag, Karl (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Aufl., Bd. II, Stuttgart 1958, Sp. 2878.

95

Castan, Edgar: Wirtschaftlichkeit und Wirtschaftlichkeitsrechnung, in: Seischab, Hans / Schwantag, Karl (Hrsg.): a. a. o., Bd. IV, 1962, Sp. 6372.

96

Fehlinvestition, die auf irrtümlicher Einschätzung der Marktlage (falsche Dispositionen und Erwartungen der Unternehmer) beruhende Finanzierung von Anlagen (Gebäuden, Maschinen, Einrichtungen) mit Eigen- oder Fremdkapital.

97

Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 87.

98

Investitionen, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 6, Leipzig 1973, S. 646.

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Die Investitionsziele wurden in der DDR durch die Fünfjahrplan-Direktiven von der SED-Führung unter ideologischen und politischen Zielsetzungen bestimmt und aus Prestigegründen Schwerpunktinvestitionen festgelegt. Regeln für die politischen Investitionsentscheidungen existierten nicht und es konnte im nach hinein nie festgestellt werden, ob eine Investition wirtschaftlich war. Die politisch als Gesamtgrößen festgelegten Investitionen mußten zur Durchführung auf die Volkseigenen Betriebe heruntergebrochen und eine Entscheidung zu den alternativ gegebenen Investitionsmöglichkeiten geschaffen werden. Die SED-Führung besaß selbst ein Investitionsmonopol. Die Höhe der Investitionen wurde für jeden Wirtschaftszweig durch die Staatliche Plankommission festgelegt. So wurden z. B. etwa 95 Prozent aller Entscheidungen auf dem Gebiet der Investitionen zentral bestimmt oder beeinflußt.99 Die SED-Führung und die marxistischen Politökonomen der DDR behaupteten jahrelang, daß der „zentrale Planungsträger“ eine höhere Rationalität besitze als alle individuellen, dezentral planenden Unternehmer in einer Marktwirtschaft. Eine solche Behauptung ist absurd.100 Der „zentrale Planungsträger“ besitzt keine Kriterien darüber, wie viel in welchem Bereich investiert werden soll.101 Zur Kapitallenkung schreibt Eugen Schmalenbach: „Wenn die Kapitallenkung exakt betrieben und Aussicht auf Erfolg haben soll, kann sie nicht mit bürokratischer, sondern muß mit pretialer Organisation betrieben werden. Das heißt, daß man die Kapitalinvestierungen mit Hilfe des Zinses102 lenken muß. Und das wiederum heißt, daß der Zinsfuß eine Höhe erhält, die wir in der Lehre von der Betriebsorganisation als ‚optimale Geltungszahl’ bezeichnen. Nach diesen Regeln muß der Zinsfuß so hoch sein, daß bei als gegeben betrachteter Kapitalmenge nur diejenigen zum Zuge kommen, deren Investitionsvorhaben den höchsten Wirtschaftserfolg haben, und daß alle Investitionsvorhaben, die unter dieser Zahl liegen, abgewiesen werden. [...] Wenn man diese pretiale Methode anwendet, so ist es nicht mehr Sache der zentralen Kapitallenkungsstelle, die einzelnen Investitionsvorhaben zu prüfen, sondern es ist Sache der Investierenden oder Kapitalverwender selbst, es zu tun. [...] Hierin, in der Verlagerung der Kapitaldisposition und der mit ihr verbundenen Kalkulationen beruht

99

Henschel, Gerda: Zur kritischen Analyse der Entwicklung des Planungssystems in der DDR, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, S. 677.

100 Schneider, Jürgen: Von der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft zur sozialistischen Zent-

ralplanung in der SBZ/DDR, S. 56. 101 Schmalenbach, Eugen: Exakte Kapitallenkung, in: Betriebswirtschaftliche Beiträge, 1948,

S. 21-27. 102 „Wir verstehen hier unter Zins sowohl den Wert als auch den Preis einer Kapitalnutzung“.

Schmalenbach, Eugen: Kapital, Kredit und Zins in betriebswirtschaftlicher Beleuchtung, 2. Aufl. Köln und Opladen 1949, S. 46. Schmalenbach spricht hier vom „Wert“ der kapitalen Nutzung, da er auch den Kapitaleinsatz innerhalb des Betriebes behandelt („optimale Geltungszahl“) und hier kein Preis vorausgegangen ist, „es fehlen in diesem Falle die Parteien überhaupt. Hier spielt der Zins seine Hauptrolle als Kalkulationswert und als Wert für die Erfolgsrechnung“. Ebd., S. 46.

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der wesentliche Unterschied zwischen zentraler bürokratischer und pretialer Organisation“. [...]103 „Der Zins kommt schließlich vor in der zentral gelenkten Wirtschaft, in der alles Kapital im Eigentum des Staates ist und daher kein Kapitalverkehr stattfinden kann. Ebenso wie im einzelnen Betriebe handelt es sich hier um einen Verrechnungspreis, der die Aufgabe hat, die Leiter der staatlichen Betriebe zu einer wirtschaftlichen Kapitalverwendung anzuhalten. Sie sollen bei ihren Investitionen die Kapitalnutzung richtig kalkulieren, damit auf diese Weise nicht zu viel aber auch nicht zu wenig Kapital festgelegt wird.104 [...] Aber auch, wenn die zentrale Wirtschaftslenkung in einem solchen Lande alle Kapitalpositionen in ihrer Hand behält, wird sie doch selbst genötigt sein, für die Kapitalnutzung einen Wert anzusetzen, um überhaupt rechnen zu können“.105 „Ein Preis, der seine gemeinwirtschaftliche Aufgabe erfüllen soll, d. h. ein Preis, der in denkbar hohem Grade auf Verbrauch und Erzeugung zum Besten der Gesamtwirtschaft wirken soll, muß den Bedingungen der optimalen Geltungszahl entsprechen, d. h. den Bedingungen, die ich im Band I meiner ‚Pretialen Wirtschaftslenkung’ entwickelt habe“.106 „Wenn man das Kapital als gegebene, von der Zinsfußhöhe unabhängige Masse betrachtet, was sie zwar in der Wirklichkeit nicht ist, was aber einmal unterstellt werden möge, so richtet sich die optimale Geltungszahl für den Zins nach dem Grenznutzen“.107 In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft bleibt das „Rechnen“ der zentralen Planungsbehörde zur Festlegung eines ökonomisch optimalen Kapitaleinsatzes ohne Effekt. Hierfür ist maßgebend, dass die Produktionsgüterpreise willkürlich zentral festgelegt werden, so dass keine Knappheitspreise der Produktionsmittel als Maßstab für einen rationalen Einsatz vorhanden sind.108 Dies gilt in gleicher Weise für den Preis der kapitalen Nutzung, den Zins, da keine Kapitalmärkte vorhanden sind. „Der Kapitalmarkt ist der Ort der Wanderung des Kapitals zu seiner rationalsten Verwendung schlechthin“.109

103 Schmalenbach, Eugen: Exakte Kapitallenkung, in: Betriebswirtschaftliche Beiträge, S. 23 f. 104 Schmalenbach, Eugen: Kapital, Kredit und Zins in betriebswirtschaftlicher Beleuchtung,

S. 47. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 47. „Speziell für den Preis der Kapitalnutzung, den Zins, hat eine Unterschreitung

der optimalen Geltungszahl zur Folge, daß Kapital verbraucht wird für Zwecke, für die es nicht gebraucht werden sollte mit der Folge, daß würdigere Kapitalanlagen unterbleiben müssen. Eine Überschreitung der optimalen Geltungszahl bedeutet, daß ohne Not Kapitalanlagen unterbleiben, die nicht hätten unterbleiben dürfen“. Ebd., S. 47 f. 107 Ebd., S. 48. 108 Raupach, Hans: Die Kapitaldisposition in sozialistischen Volkswirtschaften, in: Kapitaldispo-

sition und Wirtschaftsordnung. Professoren-Kolloquien der Adolf-Weber-Stiftung, Berlin 1970, S. 7-21 (S. 14). 109 Ebd., S. 18.

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Ein Kapitalmarkt erscheint im Sozialismus undenkbar, da dieser einen „Kapitalismus mit Kapitalisten“ installieren würde.110 Dies würde als weitere Bedingung das Institut des Privateigentums voraussetzen. „Die Überlegenheit des kapitalistischen Systems der Investitionsfinanzierung bleibt so lange bestehen, wie im Sozialismus nicht ein vollwertiger Ersatz für den Kapitalmarkt geschaffen werden kann“.111 Durch das totalitäre System der DDR wurde der Bevölkerung der Konsumverzicht aufgezwungen. Erst bei einer Gefährdung der SED-Herrschaft – wie zum Beispiel am 17. Juni 1953 – erfolgte ein gegenteiliges Umsteuern der Investitionspolitik mit Schwerpunkten auf dem Konsumsektor und dem Wohnungsbau. Entgegen dem propagierten „Gesetz der planmäßigen, proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft“ – eine Behauptung von sozialistischen Politökonomen112 – sind in den jeweiligen Investitionsbereichen versteckte Zyklen entstanden.113 Zwei Beispiele sollen die Willkür114 von Investitionsentscheidungen in der DDR illustrieren. Günter Mittag (1926-1994), der von 1976 bis 1989 Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED war, entschied im SED-Politbüro über die „Verteilung der Investitionen“.115 Er, der von seinem Untergebenen Carl-Heinz Janson der „Totengräber der DDR“ genannt wurde, hatte die meisten willkürlichen Investitionen in der DDR-Wirtschaft zu verantworten, versuchte aber nach seinem Rücktritt im Herbst 1989, sich hinter der „anonymen und kollektiven Verantwortungslosigkeit des Apparates“116 zu verstecken, wie seine Aussagen über willkürliche Investitionen belegen: „Moderne Technologien bedeuten auch Investitionen. Da ging der Streit los. Schon in der Staatlichen Plankommission wurde aus diesen Gründen dagegengehalten. Man ging lieber nach dem Gießkannenprinzip vor. Jeder sollte etwas bekommen, obwohl selbst dabei manche fast leer ausgingen, weil die Mittel nicht hin und her reichten. Subjektive Einschätzungen, unterschiedliches Durchset-

110 Diskussion der Professoren-Kolloquien, S. 46. 111 Ebd., S. 21. 112 Meyers Lexikon, Stichwort Naturgesetze, S. 814. Buhr, Manfred, /Kosing, Alfred (Hrsg.):

Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, 6. Aufl., Berlin (-Ost) 1982, S. 139 ff., 230 f., 346-352. 113 Knauff, Rudolf: Die Investitionspolitik der DDR, S. 340 f. 114 Willkür: Handeln nach freiem Ermessen. Zum Begriff willkürlich: auf Zufall beruhend, nicht

nach einem System erfolgend. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 32, Deutsches Wörterbuch O-Z, Mannheim 1981, S. 2884. Zur Willkür der Investitionsentscheidungen der SEDFührung Janson, Carl-Heinz: Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, insb. S. 68 ff. 115 Kusch, Günter / Montag, Rolf / Specht, Günter / Wetzker, Konrad: Schlußbilanz – DDR,

S. 61. 116 Janson, Carl-Heinz: Totengräber, S. 143.

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zungsvermögen verantwortlicher Minister, aber auch manche Freundschaften oder Nichtfreundschaften spielten ebenfalls eine Rolle bei der Verteilung der immer zu knappen Investitionsmittel“.117 Mittag war der direkte Vorgesetzte von Carl-Heinz Janson, der Abteilungsleiter der ZK war. Janson schildert, wie die Entscheidungen fielen: „Die zentrale Kommandowirtschaft war ein System, in dem einer oder wenige entschieden, was Millionen zu tun und zu lassen hatten. Günter Mittag traf alle wesentlichen Entscheidungen oder führte sie herbei. Er konnte sich dabei eines funktionierenden Apparats bedienen. Auf allen Ebenen saßen Leiter, Experten, Mitarbeiter und sorgten dafür, daß die Entscheidungen diszipliniert durchgeführt wurden. Die Menschen im Apparat hatten sogar einen gewissen Spielraum und konnten dadurch das System am Laufen halten. Manche Beschwerde von unten wurde positiv beschieden. Im Zweifelsfall galt aber immer, was von oben kam. … Die Kommandowirtschaft ging aus vom Glauben der Führung an die Allmacht und unbedingte Richtigkeit der zentralen Beschlüsse. Für einen Mitarbeiter des ZK galt als oberste Norm, alle Beschlüsse der Parteiführung und alle Weisungen der Vorgesetzten bedingungslos auszuführen. In seinem Selbstverständnis sagte sich jeder, daß diese unbeschränkte Disziplin den Beschlüssen des Parteitags und des Zentralkomitees gelte, also gewählten kollektiven Organen. In Wirklichkeit kamen diese Beschlüsse willkürlich zustande. Die Mitarbeiter wurden auf den Generalsekretär eingeschworen, das heißt auf die persönliche Macht“.118 Gerhard Schürer schildert ein exemplarisches Beispiel für Fehlinvestitionen im Fahrzeugbau der DDR. „Als Günter Mittag 1984 in der Bundesrepublik eine gebrauchte Fertigungsstraße des VW Alpha-Motors für 360 Millionen DM geordert hatte und ohne einen Beschluß über ein Gesamtkonzept der Pkw-Produktion mit der ausdrücklichen Zustimmung Erich Honeckers den Vertrag schnell abschloß, war die größte Fehlentscheidung in der Geschichte der DDR auf wirtschaftlichem Gebiet getroffen worden, denn es handelte sich hierbei um eine Transferstraße nur für den Rumpfmotor, d. h. für alle weiteren Teile, in der zu Recht von VW geforderten Qualität, einschließlich des Motorengusses, mußten wir die Kapazitäten schaffen und darüber hinaus große Veränderungen an der Konstruktion des Trabants und des Wartburgs vornehmen, damit der VW-Motor eingebaut werden konnte. Insgesamt waren mehr als 7 Milliarden Mark Investitionen erforderlich und man hatte dennoch keine weltmarktfähigen Fahrzeuge, wobei der Trabant mit dem leistungsstarken neuen Motor übermotorisiert war. Auf

117 Mittag, Günter: Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin, Weimar 1991,

S. 119. Kritisch zu Günter Mittag Wolf, Herbert: Hatte die DDR je eine Chance?, Hamburg 1991. Janson, Carl-Heinz: Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, S. 65 ff. 118 Janson, Carl-Heinz: Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, Düs-

seldorf 1991, S. 14, 138, 180.

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jeden Fall wäre zu diesem Motor eine neue Karosse erforderlich geworden, die weitere Milliarden Mark an Investitionen erfordert hätte“.119 Bemerkenswert ist auch die Entdeckung von Peter von der Lippe, 120 daß die Parteispitze in Absprache mit dem Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Arno Donda, statistische Daten nachträglich fälschte und ganz bewußt veränderte Daten an internationale Organisationen weitergegeben hat. Zumindest im Falle von Daten über den Außenhandel der DDR ist dies mit Archivunterlagen belegbar. Mit zunehmender Verschärfung der Widersprüche wurden die Eingriffe der Parteiführung immer ungenierter. Die Daten für den NSW-Außenhandel der ersten drei Quartale 1987 ergaben zum Beispiel ein Exportdefizit in Höhe von 579 Mio. VM (Valutamark)121. Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik schlug Korrekturen vor, die zu einem Aktivsaldo von +521 Mio. VM führten. Dies wurde dann aber von Günter Mittag nicht akzeptiert. Er wollte, daß +910 Mio. VM gemeldet werden und Statistiker haben sich die Arbeit leicht gemacht, indem sie einfach die Zahl für die Importe durchgestrichen und eine um 389 (910–521=389) kleinere Zahl darüber geschrieben hatten.122 Der güterwirtschaftlich gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft fehlte jegliches Kriterium, um eine Übereinstimmung von Bedarf und Produktion zu erreichen, so daß Investitionen willkürlich erfolgten. Die Folge davon waren permanente Fehlinvestitionen u. a. in den Industriezweigen Mikroelektronik 123 und Fahrzeugbau. Es fehlte jeder Antrieb, um die gebotenen technischen Möglichkeiten zu nutzen. Dies hatte eine erhebliche Leistungs- und Produktivitätsschwäche sowie eine geringe technische Modernisierung zur Folge.124 Der „Trabant“ war eine Baureihe des Herstellers VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau DDR. Der anfänglich als sparsam und robust geltende, später auf Grund fehlender Innovationen jedoch hoffnungslos veraltete Trabant steht beispielhaft für den Zerfall

119 Schürer, Gerhard: Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt/Oder 1996,

S. 84. 120 Lippe, Peter, von der: Die gesamtwirtschaftlichen Leistungen der DDR-Wirtschaft in den of-

fiziellen Darstellungen. Die amtliche Statistik der DDR als Instrument der Agitation und Propaganda der SED, unv. Expertise im Auftrag der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages, Textteil und Anhang, Bonn 1999. 121 VM eine Valutamark = 1 DM-West. 122 Anlage 1 „Vorschlag zur Übergabe von Außenhandelsangaben an den RGW und UNO-

Organe für den Zeitraum vom 1.1.-30.9.1987“ vom 16.10.1987 und Anlage 2: Schreiben an Honecker vom 4.5.77 bzgl. „abgestimmten Entscheidungsvorschlag“ zur Veröffentlichung von Angaben der Statistik über den Außenhandel der DDR. 123 Zur Mikroelektronik Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der

DDR - Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, in: Am Ende des realen Sozialismus (2), S. 10 f. 124 Schneider, Jürgen/ Schwarzer, Oskar / Kluge, Ulrich: Markt gegen Plan, in: 50 Jahre

Deutschland. Ereignisse und Entwicklungen, S. 33 f.

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der DDR-Wirtschaft und war Inbegriff planwirtschaftlicher Rückständigkeit.125 Dennoch galt der Besitz des Trabants bis zur Wende als Statussymbol mit Wartezeiten der Besteller von 10 bis 12 Jahren. Zwischen 1957 und 1991 wurden insgesamt 3.051.385 Fahrzeuge der „Trabant“-Baureihe – fast ohne technische Innovationen – produziert. Die Rahmenbedingungen der von Honecker verkündeten „Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik“ ab 1971 wurden immer schwieriger, so daß auch der Zielkonflikt zwischen einer expansiven Sozialpolitik und wirtschaftlicher Leistungskraft nicht zu überwinden war, auch wenn die SED-Führung dies immer glaubte oder hoffte, mit dem Instrumentarium der Planwirtschaft bewältigen zu können.126 Es gelang nicht, vielmehr wurde die Situation in den achtziger Jahren immer krisenhafter (Konsum, Versorgung, abnehmende Investitionen, aufwendige Sozialmaßnahmen, hohe Subventionen bei schwächer werdender wirtschaftlicher Leistungskraft) und führte 1989 zum Zusammenbruch der DDR. Zu dem rapiden Verschleiß des Kapitalstocks127 kam in den Jahren von 1970 bis 1986/87 ein Absinken der „Akkumulationsquote“ der Volkswirtschaft der DDR von 29,0 v. H. auf 21,3 bzw. 21,7 v. H. Zugleich halbierte sich sogar im gleichen Zeitraum die „Nettoinvestitionsquote“ für „produktive Investitionen“ in den produzierenden Bereichen (1970 = 16,1 v. H.; 1985 = 8,1 v. H.; 1986 = 8,7 v. H.; 1987 = 9,9 v. H. siehe nachfolgende Tabelle).128

125 Trabant: Typenbezeichnung für die vom VEB Sachsenring Automobilwerk Zwickau gebau-

ten viersitzigen Kleinwagen mit Frontantrieb in den Ausführungen Limousine (Trabant Standard T.S., Trabant de luxe) und Kombiwagen (Trabant universal). Der Motor aller Modelle des Typs 601, ein luftgekühlter Zweizylinder-Zweitakt-Ottomotor mit 594,5 cm3 Hubraum und einer Leistung von 26 DIN-PS (19,3 kW) bei ≈ 4100 Umdrehungen je min, verleiht dem mit 4 synchronisierten Vorwärtsgängen und 1 Rückwärtsgang ausgerüsteten Fahrzeug eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 110 km/h. Das selbsttragende Karosseriegerippe aus Stahlblech ist mit korrosionsfreien Duroplastteilen beplankt. Der Trabant wird auch mit HycomatKupplungsautomat gefertigt. 126 So in den Beratungen im Mai 1989 bei Honecker zum Entwurf des Volkswirtschaftsplanes

und Staatshaushalt 1990. Bouvier, Beatrix: Die DDR - ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002, S. 89 f. 127 Zur Abnutzung des Kapitalstocks und dem rapiden Verschleiß der Produktionsanlagen in den

achtziger Jahren Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: Festschrift für Ilse Spittmann-Rühle, Rückblicke auf die DDR, Köln 1995, S. 120-131. Die Autorin Haendcke-Hoppe-Arndt beantwortet die Frage „Wer wußte was in der Wirtschaftspolitik?: „Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger, die Politbüromitglieder, wußten Bescheid. Aber die Bereitschaft zur Wahrnehmung oder gar zum Handeln entwickelte sich in der Parteispitze umgekehrt proportional zur Eskalation der ökonomischen Probleme“. Ebd., S. 130. 128 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, S. 57 f.

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Erreichte Akkumulationsquote und Investitionsquote in der Volkswirtschaft der DDR 1970 bis 1989

Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 14, 15, 101, 103 und 106 und Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, in: Am Ende des realen Sozialismus (2), Opladen 1996, S. 11.

Die Nettoinvestitionen werden aus den Bruttoinvestitionen durch Ausgliederung der Erhaltungsinvestitionen ermittelt. Da die Erhaltungsinvestitionen im Regelfall durch Modernisierungen u. ä. auch Verbesserungen des Altzustandes umfassen, deren Anteil sich bei den Einzelinvestitionen nur schwer ermitteln läßt, werden zur Ermittlung der Nettoinvestitionen die Gesamtinvestitionen um die Abschreibungen vermindert. Da in der volkseigenen Wirtschaft im Vergleich zu den marktwirtschaftlichen Systemen niedrige Abschreibungssätze angesetzt werden, ist die aufgrund der DDR-Daten abgeleitete Nettoinvestitionsquote überhöht.

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X. Das sozialistische Außenhandels- und Valutamonopol. Ein Außenhandel ohne Wirtschaftsrechnung 1. Das sozialistische Außenwirtschaftsmonopol Das staatliche Monopol auf dem Gebiet der Außenwirtschaft1 umfaßt das - Außenhandelsmonopol - Valutamonopol und das - Außenhandelstransportmonopol. Das staatliche sozialistische Außenhandelsmonopol wurde von Lenin theoretisch begründet und durch Dekret vom 22.4.1918 eingeführt.2 Dieses Modell der Sowjetunion wurde übernommen und als sozialistisches Außenwirtschaftsmonopol in der Verfassung der DDR vom 6.4.1968 (Art. 9, Ziffer V, GBl. I, S. 199) staatsrechtlich verankert. Das Außenhandelsmonopol soll die sozialistische Wirtschaft „[…] vor den schädlichen Einflüssen der krisenhaften, labilen Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes sowie vor Manipulationen imperialistischer Kreise schützen […]“.3 „Hier muß daher die Einheit von Politik, Ökonomie und Ideologie besonders stark werden. […] Die zentrale staatliche Planung und Leitung der Außenwirtschaft ist das Kernstück des sozialistischen Außenwirtschaftsmonopols“.4 Danach besteht dessen Wesen darin, „daß der sozialistische Staat selbst mit den dazu geschaffenen Organen oder von ihm beauftragten Einrichtungen, Organisationen usw. den Handel mit ausländischen Partnern und Staaten betreibt und abwickelt“.5 Aufgrund des Außenhandelsmonopols6 liegt die Durchführung des gesamten Außenhandels beim Ministerium für Außenhandel (MAH) als oberstes Organ. Mit

1

Autorenkollektiv, Brendel, Gerhard / Schrader, Horst (Hrsg.): Lexikon des Außenhandels, Berlin 1987, S. 33, 136 und 187.

2

Boettcher, Erik: Außenhandelsmonopole, in: HdSW, 1. Bd., Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1956, S. 478.

3

Autorenkollektiv, Brendel, Gerhard / Schrader, Horst (Hrsg.): Lexikon des Außenhandels, S. 33.

4

Außenwirtschaftsmonopol, sozialistisches, in: Hans Borchert (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaft, Industrie, Berlin (-Ost) 1970, S. 116.

5

Ebd., S. 117.

6

Für Kontrollen auf dem Gebiet der Außenwirtschaft wurde zur Einhaltung des sozialistischen Außenhandelsmonopols die „Staatliche Außenwirtschaftsinspektion“ eingerichtet. (GBl. II, 1970, S. 419 ff.) Der Bereich Kommerzielle Koordinierung, mit dem Ziel der Devisenerwirtschaftung unter Alexander Schalck-Golodkowski, lief außerhalb dieser staatlichen Kontrolle und wurde weitgehend vom Ministerium für Staatssicherheit gesteuert.

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Hilfe des Export- und Importplanes bestimmt und kontrolliert der Staat unmittelbar „was in welchem Umfang aus- bzw. eingeführt wird“.7 Unter Kontrolle und Anleitung des zuständigen Außenhandelsbetriebes (AHB) sowie Genehmigung durch den Minister für Außenhandel kann Kombinaten oder Betrieben die Befugnis zur Durchführung von Eigengeschäften im Außenhandel erteilt werden. Diese Sonderfälle umfassen Ersatzteillieferungen sowie Montage- und Garantieleistungen. Grundlage bildet eine Eigengeschäftsvereinbarung (Export) zwischen dem AHB und Kombinat bzw. Betrieb. Zahlungen der ausländischen Partner erfolgen ausschließlich an den AHB. Nach dem Valutamonopol8 werden alle Valutabeziehungen des Landes vom sozialistischen Staat geleitet und geplant einschließlich Organisation und Kontrolle der Durchführung. Es bestehen folgende Merkmale: -

alle Valutamittel werden beim Staat konzentriert der Staat bestimmt die Leitungsorgane der Valutabeziehungen die internationalen Valutabeziehungen werden aufgrund staatlicher Pläne und Bilanzen durchgeführt der internationale Zahlungsverkehr wird durch die Staatsbank bzw. von ihr beauftragten Banken abgewickelt der Staat erläßt Regelungen zu der Aus- und Einfuhr von Währungen.

Am 19. Dezember 1973 wurde das Devisengesetz mit fünf Durchführungsbestimmungen und Regelungen über den Erwerb, Besitz und Umlauf von Devisenwerten u. a. erlassen.9 Zu den Devisenwerten gehören u. a. auch Vermögensrechte, Grundstücke und bewegliche Sachen von Deviseninländern im Devisenausland. Für das Außenhandelstransportmonopol ist das Ministerium für Verkehrswesen (MfV) zuständig. Ausführende Einheiten sind im wesentlichen das VE Kombinat Deutrans, das Kombinat Seeverkehr, die Deutsche Reichsbahn und die Interflug GmbH. Die staatliche Außenwirtschaftsinspektion kontrolliert als Organ des MAH die plangerechte Erfüllung der Ex- und Importaufgaben.10 Durch das sozialistische Außenhandelsmonopol wird die Außenwirtschaft von der Binnenwirtschaft abgekoppelt. Alleiniger Träger der Außenwirtschaft ist der Staat. In den Kombinaten und Betrieben existieren keine Außenwirtschaftsbeziehungen, es fehlen die hiermit verbundenen Kontakte und Netzwerke einschließlich direkter Informationen über Märkte, Konkurrenten usw.

7

Autorenkollektiv, Brendel, Gerhard / Schrader, Horst (Hrsg.): Lexikon des Außenhandels, S. 33.

8

Ebd., S. 187.

9

GBl. I, 1973, S. 579-590. 10 Autorenkollektiv, Brendel, Gerhard / Schrader, Horst (Hrsg.): Lexikon des Außenhandels, S. 37 f.

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Bereits vor der nationalsozialistischen Herrschaft (1933-1945) erfolgte eine Abkopplung der Außenwirtschaft von der Binnenwirtschaft durch Einführung der Devisenbewirtschaftung im Juli 1931.11 Der freie Devisenverkehr wurde beendet und eine zentrale Erfassung und Zuteilung aller Devisen eingeführt,12 um Devisenabflüsse und eine Kapitalflucht nach der Weltwirtschaftskrise zu verhindern. Mit dem Neuen Plan vom 23.9.193413 wurde verschärfend ein Zuteilungsverfahren für jedes einzelne Einfuhrgeschäft eingeführt.14 Es durfte nur noch importiert werden, was die staatlichen Überwachungsstellen zur Sicherstellung der Einfuhr von rüstungsrelevanten Gütern in Ausrichtung auf die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung für nötig hielten.15 Der Außenhandel wurde jedoch nicht durch staatliche Institutionen, sondern über Lenkungsmaßnahmen der Devisenzwangswirtschaft in den Unternehmen realisiert. Eine marktwirtschaftliche Steuerung des Außenhandels in Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Konsumenten war auch in diesem Wirtschaftssystem beseitigt. Nach Walter Eucken ist die „zentrale Außenhandelslenkung im Rahmen der Devisenzwangswirtschaft schlechthin außerstande, einen sinnvollen Außenhandel durchzuführen“.16 Fritz W. Meyer hat in einer Rede vom September 1948 in Marburg die Situation so gekennzeichnet: „Woher sollten die Leiter der Devisenbewirtschaftung z. B. wissen, ob und inwieweit die Einfuhr von Leder wichtiger ist als von Phosphaten oder von Raffinadekupfer? Alle Kalorienrechnungen oder sonstige technische Kriterien, Dringlichkeitsstufen, die in der Praxis der zentralen Außenhandelslenkung verwendet werden, sind plumpe Behelfe, die in keiner Hinsicht eine richtige Wirtschaftsrechnung ersetzen können. Das Verfahren unserer Landeswirtschaftsämter für solche Anträge auf Rohstoffeinfuhren zu Veredelungszwecken befürwortend weiterzuleiten, bei denen der Reexport mindestens den dreifachen Devisenerlös erbringt, ist bezeichnend für die rührende Hilflosigkeit, in der man dem Problem einer volkswirtschaftlich richtigen Lenkung des Außenhandels gegenübersteht. […] Aus der theoretischen Überlegung geht hervor, daß die Außenhandelslenkung im Rahmen der Devisenbewirtschaftung nicht imstande ist, den Außenhandelsverkehr auf sein volkswirtschaftliches Optimum

11 Diehl, Markus Albert: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933-1945, Stuttgart 2005, S. 43 f. 12 Ebd., S. 39. 13 Reichsgesetzblatt - RGBl. I 1934, S. 816-866 und entsprechende spätere Verordnungen der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung. Benning, Bernhard: „Der Neue Plan“ und die Neuordnung der deutschen Außenwirtschaft, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 2/1935, Jena 1935, S. 35-62. 14 Diehl, Markus Albert: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, S. 34. 15 Ebd., S. 44. 16 Eucken, Walter: Deutschland vor und nach der Währungsreform, S. 354.

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einzusteuern. Sie weiß weder im einzelnen noch im ganzen mit Sicherheit zu sagen, ob der Nutzenentgang durch Ausfuhr dem Nutzenzugang durch Einfuhr entspricht. Es ist also ein Außenhandel im Dunkeln, der da getrieben wird “.17 Walter Eucken fährt fort: „Absolute Export- und Importziffern besagen sehr wenig. Wenn etwa Holz in großen Mengen exportiert wird, so ist unter Umständen der Nutzenentgang durch den Export wesentlich größer als der Nutzenzugang durch Güter, die dafür eingeführt werden. Eine sinnvolle Wirtschaftsrechnung auch im Außenhandelsverkehr ist notwendig, um eine Anpassung des deutschen Wirtschaftsprozesses an die Wirtschaftsprozesse anderer Länder zu ermöglichen. Wie aber kann dies geschehen? – Nur dadurch, daß der Wechselkurs wieder ein Gleichgewichtskurs wird. Dadurch also, daß von der Devisenbewirtschaftung grundsätzlich Abstand genommen wird. Erst dann wird die Auslese der exportierten und importierten Waren, wird also der Ausgleich der Zahlungsbilanz in ökonomisch zweckmäßiger Weise vor sich gehen“.18 Das Machtmonopol auf der „wichtigen Kommandohöhe der sozialistischen Außenwirtschaft“ nutzte der SED nichts, da sie für die Ein- und Ausfuhren keine ökonomischen Kriterien besaß. Dies soll an einem Beispiel aufgezeigt werden. Die sogenannte „Kaffeekrise“ verärgerte die Bevölkerung der DDR. „Honeckers Krönung“: „Um Devisen zu sparen, beschloß das Politbüro im Sommer 1977, die Kaffee-Einfuhren zu verringern. Daraufhin nahm das Ministerium für Handel und Versorgung die meistgekaufte Kaffee-Sorte ‚Kosta’ unangekündigt aus den Regalen und ersetzte sie durch einen in Silberfolie verpackten ‚Kaffee-Mix’. Dieser Ersatzkaffee, den der Volksmund bald ‚HoMo’ – Honeckers Mokka – taufte, war zwar geringfügig billiger als der Bohnenkaffee, dafür aber auch nur zur Hälfte aus Kaffeebohnen gewonnen. Die andere Hälfte bestand laut der Werbung des Herstellers VEB Kaffee Halle aus ‚fein abgestimmten Kaffeesurrogaten’. Angesichts des üblen Geschmacks dieser Ersatzstoffe, die der Spiegel mit den Worten ‚muffig-erdig, wirklich gemein’ beschrieb, wird der große Unmut verständlich, den der Schwindel in der Bevölkerung erregte. In einem Betrieb in Karl-Marx-Stadt legten die Beschäftigten wegen der Kaffeepreis-Politik sogar spontan die Arbeit nieder. Etwa 50 Arbeiter wurden von den Betriebskampfgruppen und dem Staatssicherheitsdienst festgenommen und aus dem Werk abtransportiert“.19 Im Dezember 1977 kaufte die SED-Führung vom Volkswagenkonzern 10.000 VW-Golf, „obwohl sie sich bislang gegen Auto-Importe aus dem Westen gesträubt hatte. Die meisten DDR-Bürger reagierten auf den Handel mit Verständnislosigkeit und Ärger. Sogar viele SED-Mitglieder äußerten offen Kritik. ‚Ist ein solcher Einkauf angesichts der wachsenden außenwirtschaftlichen Belastungen vertretbar?’ fragten die Genossen. Andere kritisierten: ‚Diese Valutabeträge hätten

17 Ebd., S. 354 f. 18 Ebd., S. 355. 19 Geppert, Dominik: Störmanöver. Das „Manifest der Opposition“ und die Schließung des OstBerliner „Spiegel“-Büros im Januar 1978, Berlin 1996, S. 27.

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wir lieber für volkswirtschaftlich nützlichere Erzeugnisse oder Geräte verwenden sollen.’ Die Parteimitglieder an der Humboldt-Universität wollten wissen, warum man Westautos kaufe und nicht Fachbücher, ‚die uns helfen würden bei der Mitbestimmung des Weltniveaus’. Viele erinnerten sich an die Versuche der Partei, beim Kaffee-Import Devisen einzusparen, und fragten, wieso gleichzeitig für die Volkswagen Devisen ausgegeben werde. Im sächsischen Klingenthal fand die SED-Kreisleitung eine Postkarte in ihrem Briefkasten, auf der zu lesen war: ‚an sed-kl (auch kreml genannt) – teure genossen – arbeiter und bauern waren fleiszig – jetzt geht’s auf die 30 – die kleinen leute laufen sich den wolf – die großen fahren mit dem golf – kein odol im laden, aber paraden – es lebe unser arbeiter- und bauernstaat – oder – der untergang ist uns gewisz – denkt mal richtig nach’. Unterzeichnet war die Karte mit ‚gruppe alter ehrlicher genossen, keine materialisten’“.20 Der Konsument spielt im sozialistischen Außenwirtschaftsmonopol der DDR keine Rolle – der Konsument ist entthront. Im Außenhandel mit den westlichen Ländern traf die DDR auf marktwirtschaftliche Verhältnisse. Aus der Exportfähigkeit ihrer Produkte und den dafür erzielbaren Devisenerlösen in Relation zu dem hierfür erforderlichen Betriebsaufwand als Exportrentabilität läßt sich eine Aussage über die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft ableiten. Die nach Abzug der Handelsspanne von den Außenhandelsbetrieben an die Exportbetriebe zu vergütenden Devisenerlöse werden mit den von der Staatsbank veröffentlichten Devisenkursen umgerechnet und fließen als sog. Valutamark (VM) in das betriebliche Rechnungswesen ein. „Für die Planung und Abrechnung des Außenhandels war ab 1959 die Valutamark eingeführt worden, die praktisch einer DM-West entsprach“.21 Von 1971 bis 1989/90 blieb die DDR beim offiziellen Kurs 1 Mark = 1 DM. „Gleichzeitig wurde jedoch festgelegt, daß zur einheitlichen Bewertung und richtigen Stimulierung der Sozialistischen Wirtschaftsgebiete – und Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiete – Exporte anstelle des bis dahin geltenden Stützungssystems ein in der wirtschaftlichen Rechnungsführung der Kombinate wirkender Kursbestandteil ‚Richtungskoeffizient’ eingeführt wird“.22 Der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Krakat hat für einige ausgewählte Industriekombinate nach dem Stand 1989 den jeweiligen Betriebsaufwand für eine VM ermittelt.23 Aus der Relation von Devisenerlös (DM= „VM“) zu dem jeweiligen 20 Ebd., S. 28. 21 Schalck, Alexander / König, Herta: Zur Entwicklung des Kurses der Mark der DDR zu kapitalistischen Währungen seit 1949. Geheime Verschlußsache (GVS b 5 – 1374/88), Berlin 1988, abgedruckt bei Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ / DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999, S. 316. 22 Ebd., S. 317. 23 Krakat, Klaus: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90), in: Eberhardt Kuhrt et al. (Hrsg.), Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Opladen 1996, S. 151.

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inländischen Aufwand zu Betriebspreisen in DDR-Mark wird die sog. „Devisenertragskennziffer“ abgeleitet. Diese Kennziffer drückt aus, in welcher Relation der Betriebsaufwand durch den Devisenerlös gedeckt ist. Die von Krakat ermittelten Daten zeigen nachstehende Ergebnisse: Betriebsaufwand in Mark der DDR für 1 „VM“=1 DM Erlös aus NSW Export und Devisenertragskennziffer

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Krakat, Klaus: Probleme der DDRIndustrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90), S. 151.

In der Ergebnisrechnung von Betrieben mit Außenwirtschaftsleistungen wird das sog. „Einheitliche Betriebsergebnis“ (EBE) ausgewiesen, das sich aus dem Ergebnis Inland und Ergebnis Export zusammensetzt. Bei einem Ansatz der reinen Devisenerlöse würden sich bei sämtlichen in der vorstehenden Übersicht aufgeführten Kombinaten jeweils negative Exportergebnisse ergeben und zu mangelndem Interesse an Exportleistungen führen.24

24 Zur Stimulierung der Exporterlöse wurden u. a. zusätzliche Zuführungen zum Prämienfonds für die Mitarbeiter in den Betrieben gewährt. Als Zuführungskriterien galt die Verbesserung der Exportrentabilität gegenüber dem Plan, die Steigerung der Exporte insbesondere in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet. Bei Nichterfüllung der Planvorgaben wurden Abzüge vorgenommen. Die Zuführungssätze für Exporterlöse im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet waren prozentual gestaffelt und wurden gegenüber dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet verdoppelt.

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Dagegen steht der Zwang zur Erzielung möglichst ausreichender Devisenerlöse zur Bezahlung von Importen und Bedienung von Krediten in ausländischer Währung. Zum Ausgleich wurde der sog. Richtungskoeffizient (RiKo) eingeführt, der auf den von der Staatsbank veröffentlichten Devisenkurs aufgeschlagen wird. Die daraus resultierenden Mehrerlöse werden aus dem Staatshaushalt finanziert. Bei den Importen entfaltet der RiKo die gewünschte gegenläufige Entwicklung einer Importvermeidung. In dem Zeitraum 1970-1988 zeigen der RiKo und die daraus abgeleitete Devisenertragskennziffer als Durchschnittsgröße nachstehende Entwicklung: Exportaufwand in Mark der DDR für 1 DM 1970-1988

1970 1975 1980 1985 1987 1988

Aufwand in Mark der DDR 1,80 2,20 2,50 2,60 4,00 4,40

Index 41 50 57 59 90 100

Devisenertragskennziffer* 0.537 0,519 0,454 0,338 0,255 0,246

Index 100 97 85 63 47 46

* Devisenertragskennziffer = erwirtschafteter Valutamarkerlös pro Mark der DDR. Quelle: Heimann, Christian: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDRWirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie, 1997, S. 361.

Der RiKo läßt sich als eine Art bereinigter Devisenkurs einstufen, der sich in dem dargestellten Zeitraum um ca. 250 % verschlechterte. Mußte die DDR im Jahre 1970 für eine DM (=Valutamark) Waren für 1,80 Mark der DDR exportieren, so stieg dieser Einsatz im Jahre 1988 auf 4,40 Mark der DDR. „Besonders die erheblichen Defizite in der Arbeitsproduktivität mußten Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Industrie haben. Lange Zeit hindurch konnte die Westexportrentabilität der DDR nicht exakt ermittelt werden, weil die ihr zugrunde liegenden Relationen zwischen Valuta-Mark (VM) und Mark der DDR (M) bis etwa Ende des Jahres 1989 eines der bestgehüteten Geheimnisse der DDR-Partei- und Wirtschaftsführung waren. Das dann bekanntgewordene Verhältnis von 1 VM = 4,40 M (1989) demonstrierte den permanenten inneren Wertverfall der DDR-Mark während der achtziger Jahre. Dieser wurde schließlich mit dem Einblick in die Kombinatsdaten (Betriebsergebnisse) der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik bestätigt“.25 „Was beim Export an Inlandswert bereits verloren ging, wirkte beim Import ein zweites Mal als Quelle ökonomischer Verluste“. Die nachstehende Graphik zeigt, daß von 1948 bis 1990 der Aufwand in Mark der DDR immer größer wurde, um bei Export in westliche Länder 1 DM zu erlö-

25 Krakat, Klaus: Probleme der DDR-Industrie, S. 149.

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sen („Außenwert“). Die Produktivität der DDR-Wirtschaft sank permanent im Vergleich zu der der Bundesrepublik Deutschland. Nur beim Handel mit westlichen Marktwirtschaften zeigte sich, was die DDR-Mark wirklich wert war. Die güterwirtschaftlich gelenkte sozialistische Zentralplanwirtschaft der DDR in der Dauerkrise von 1948 bis 1990 im Spiegel des Außenwerts der Mark der DDR

Die „Produktivität ist das Verhältnis zwischen Produktionsergebnis und Faktoreinsatz“.26 Auch in der natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft werden die drei elementaren Faktoren (1) Arbeitsleistungen (objektbezogene Arbeitsleistung), (2) Betriebsmittel (Arbeitsmittel) und (3) Werkstoffe (Roh-, Halbund Fertigerzeugnisse) zur betrieblichen Leistungserstellung kombiniert.27 „Betriebsmittel“ (2) sind die „produzierten Betriebsmittel“, sofern sie nicht zu den Werkstoffen gehören.28 Volkswirtschaftlich sind die „produzierten Betriebsmittel“ der Kapitalstock, d. h. die Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Sachkapital. Den Einbau der Basisinnovation Mikroelektronik verpaßte die DDR-Wirtschaft vollkommen,29 wie die Beispiele des Druckmaschinenbaus,30 der Textil-31

26 Klaus Rose, Produktivität, in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 613. 27 Erich Gutenberg, Betriebswirtschaftslehre (II), System, in: HdSW, 2. Bd., 1959, S. 120-143. Ders., Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, 1951, S. 6 f. 28 Erich Gutenberg, Grundlagen, S. 5. 29 Barkleit, Gerhard: Mikrochips als „Wunderwaffe“ – Hochtechnologie in der Zentralplanwirtschaft der DDR, in: Dresdener Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Heft 25, 1998, S. 71-87.

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und der Büromaschinenindustrie32 zeigen. Die chemische Industrie der DDR war hoffnungslos veraltet. Als Folge davon brachen die westlichen Märkte ein und der Devisenerlös der DDR-Mark sank kontinuierlich.33 Im September 1977 hatte das Ökonomische Forschungsinstitut (ÖFI) der Staatlichen Plankommission festgestellt, daß der Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland größer geworden war. „Die Spitzenpositionen im technischen Niveau unserer Erzeugnisse, die in den fünfziger und sechziger Jahren bei einer Reihe von Exportwaren bestanden, wurden in den weiteren Jahren nicht gehalten. So sind z. B. bei einer Reihe von Sortimenten, bei foto-chemischen Erzeugnissen, Foto-phono-Erzeugnissen, Maschinen für die polygraphische Industrie, medizinischen und labortechnischen Erzeugnissen, feinmechanischen und optischen Geräten, Maschinen für die Textil- und Konfektionsindustrie, Hebezeugen, Werkzeugen, Tagebauausrüstungen, Transformatoren, Büromaschinen, um nur einige zu nennen, erhebliche technische und qualitative Rückstände zugelassen worden. Auch bei Sortimenten aus der Pharmazie, Laborglas, Bleikristall, Damenuntertrikotagen, Tuchen, Strumpfwaren, Musikinstrumenten, Schmuckwaren und Kunstblumen, Hüten u. a. waren gute Exportbedingungen vorhanden, da Dessins und Muster sowie Verarbeitung Spitzenqualitäten auf dem internationalen Markt waren. Zum Teil konnte damals die Nachfrage sowohl aus dem sozialistischen Wirtschaftsgebiet als auch aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet bei einer Reihe von Erzeugnissen nicht abgedeckt werden und die erzielten Preise waren in nicht wenigen Fällen Spitzenpreise. Dazu zeigt sich weiter, daß jetzt die Fertigungszeiten und Technologien ebenfalls veraltet sind und nur in wenigen Fällen dem Weltstand entsprechen. Die ausgewiesene Effektivität ist dadurch besonders bei den letztgenannten Erzeugnissen unzureichend und volkswirtschaftlich kaum vertretbar. Beispiele (für Produktlinien mit einem hohen Rückstand gegenüber der Weltspitze) - Büromaschinen und Buchungsmaschinen (Rückstand 4-6 Jahre) - Nachrichtentechnik 8-15 Jahre

30 Franke, Eva Susanne: Netzwerke, Innovationen und Wirtschaftssystem. Eine Untersuchung am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland (1945-1990), Stuttgart 2000. 31 Heimann, Christian: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989, Frankfurt a. M. 1997. 32 Judt, Matthias: Der Innovationsprozeß Automatisierte Informationsverarbeitung in der DDR von Anfang der fünfziger bis Anfang der siebziger Jahre, Diss. Humboldt-Universität, 2 Bde., Berlin 1989, passim. 33 Schröter, Harm G.: Handlungspfadverengung bis zur „Selbstzerstörung“? Oder: Warum die chemische Industrie der DDR im Vergleich zu der der Bundesrepublik zwischen 1965 und 1990 so hoffnungslos veraltete, in: Bauer, Lothar / Petzina, Dietmar (Hrsg.), Deutsch-Deutsche Wirtschaft 1945 bis 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich, 1999, S. 304-325.

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Optische Messgeräte, Feinmessgeräte, Mikroskope 5-10 Jahre Elektrische Haushaltsgeräte 4-5 Jahre 1960 war jede zweite auf dem westeuropäischen Markt angebotene Spiegelreflexkamera aus DDR-Produktion, während es 1975 nur jede achte ist, elektronische Steuerung (wurde eingeführt) 10 Jahre nach Japan. In der Elektronik baut die DDR die dritte Generation, während die kapitalistischen Industrieländer die sechste Generation bauen“.34

„Eine Anlage, in der BRD für eine Million DM erworben, mußte vom Käufer in der DDR mit 4,4 Millionen Mark – 1985 wären es noch 2,5 Millionen gewesen – zuzüglich Handelskosten bezahlt und dann selbstredend auch abgeschrieben werden. Der circulus vitiosus liegt auf der Hand, die Ineffizienz im Verkauf wird zum Ausgangspunkt erneuter Verlustwirtschaft“.35 Bei den Exporten von Agrarprodukten in das westliche Ausland fiel die Devisenertragskennziffer in den letzten Jahren der DDR noch stärker als der gesamtwirtschaftliche Durchschnitt.36 Die stetige Verschlechterung der Leistungsfähigkeit der DDR – die u. a. in der Entwicklung des Riko und den terms of trade37 zum Ausdruck kommt – führte zu steigenden Valutaverbindlichkeiten gegenüber dem westlichen Ausland mit entsprechenden Belastungen für Zinsen und Kreditkosten. In einer Analyse von Ernst Höfner (Minister für Finanzen der DDR) und Horst Kaminsky (Präsident der Staatsbank der DDR)38 wird die Entwicklung der Verschuldung gegenüber dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet und die steigende Belastung für deren Rückzahlung dargestellt:39

34 Heimann, Christian, Textilindustrie, S. 286. 35 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 24. 36 Weber, Adolf: Ursachen und Folgen abnehmender Effizienz in der DDR-Landwirtschaft, in: Kuhrt, Eberhard et al. (Hrsg.), Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, 1999, S. 234 ff., spez. S. 263. Die DDR Landwirtschaft hatte eine eindeutig geringere Effizienz, d. h. Arbeitsproduktivität. 37 Die terms of trade werden – vereinfachend dargestellt – durch die Verhältniszahl von Exportgüterpreisniveau und Importgüterpreisniveau ermittelt. 38 Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999, S. 323-331. 39 Ebd., S. 328.

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Der Einfluß außenwirtschaftlicher Faktoren aus dem Geldumlauf der DDR Valutaverbindlichkeiten (nach Saldierung mit Valutaforderungen)

1970 1980 1987

Mrd. Valutamark (1 VM= 1 DM) 2,2 25,3 34,7

erforderlicher Aufwand für Rückzahlung

Index

Mrd. Mark

Index

100 1.150 1.577

4,3 60,5 138,9

100 1.407 3.230

Quelle: Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999, S.328; mit eigener Ergänzung der Indexspalten.

Die Autoren führen weiter aus, daß im Zeitraum 1981-1987 für Zinsen und Kreditkosten 35,6 Mrd. Valutamark (1 VM= 1 DM) aufgewendet werden mußten, denen ein Exportüberschuß von lediglich 16 Mrd. Valutamark (1 VM= 1 DM) gegenüberstand. Im Jahr 1987 mußten für Zinsen und Kreditkosten rd. 5 Mrd. Valutamark (1 VM= 1 DM) aufgewendet werden, was eine Exportleistung von 20 Mrd. Mark erforderte. Diese Größenordnung beträgt rd. 40 % des Jahresexports in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet und überschreitet „[…] den jährlichen Zuwachs an produziertem Nationaleinkommen beträchtlich“.40 Es mußten neue Kredite aufgenommen werden, die Spirale ständig steigender Belastungen drehte sich immer weiter. Die negative Entwicklung der Devisenertragskennziffer dokumentiert den rasanten Leistungsverfall der DDR-Wirtschaft und rückläufige Exportmöglichkeiten auf den westlichen Märkten. Der dadurch verursachte Devisenmangel und die steigende Auslandsverschuldung schränkten die Importmöglichkeiten für dringend benötigte moderne Industrieausrüstungen und damit für eine Innovation auf Weltmarktniveau ein. Rückläufige Produktqualitäten ließen eine Konkurrenzsituation gegenüber Schwellenländern entstehen. Der steigende Devisenbedarf für Energie und Rohstoffe erhöhte die Kluft zwischen Exporten und Importen. Aufgrund des Devisenmangels begannen im Energiebereich nach der Ölkrise 1973/74 und 1979/81 Autarkiebestrebungen durch den Ausbau substituierender Eigenerzeugung. Die damit verbundenen Kostensteigerungen führten zwangsläufig zu Einschränkungen in den übrigen Wirtschaftbereichen. Die Elektroenergiegewinnung basierte schließlich zu 80% auf der Braunkohle mit einem geringen Brennwert. Durch die einseitige Ausrichtung von Anlagenimporten auf politische Prestigeprojekte (z. B. Mikroelektronik) ohne ökonomischen Nutzen wurden die knappen Mittel durch Fehlinvestitionen absorbiert. Eine weitere Einschränkung bedeutet die starke wirtschaftliche Verflechtung mit der UdSSR und dem „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW).

40 Ebd., S. 328.

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2. Naturaltausch im „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) Beim sozialistischen Außenhandel der DDR muß man zwei Bereiche unterscheiden. Dies wird eindeutig durch die Aussagen von Herbert Krolikowski am 30. März 1983 belegt. „Der Exportplan gegenüber der Sowjetunion ist immer noch nicht zu 100 % ausspezifiziert. Es fehlen noch Erzeugnisse in Höhe von 1,3 Mrd. Mark (VGM). Dieser Zustand entlarvt, daß von Anfang an die Politik der Sicherung des vollständigen Warenangebotes gegenüber der Sowjetunion gar nicht durchgeführt wurde, sondern die wichtigste Aufgabe der Bilanzierung des NSW-Exports war. In diesem Fakt bestätigt sich ferner, daß beabsichtigt ist, Waren, die im NSW nicht absetzbar sind, der Sowjetunion anzubieten und zu verkaufen, um den Exportplan in die Sowjetunion zu erfüllen. Die gleiche Methode wird gegenüber den anderen sozialistischen Bruderländern angewandt“.41 Unter Führung der Sowjetunion war im Januar 1949 der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gegründet worden. Dem RGW gehörten an: die UdSSR, Bulgarien, CSSR, DDR (seit 1950), Kuba (seit 1972), Mongolei (seit 1962), Polen, Rumänien und Ungarn. Ziel war eine „Vertiefung der sozialistischen internationalen Arbeitsteilung und eine sozialistische Integration“.42 Als reine Binnenwährung „[…] bleibt der Umlauf von Geldzeichen sozialistischer Staaten auf die jeweiligen Länder beschränkt“.43 Alle sozialistischen Währungen waren auch untereinander nicht konvertierbar. Der transferable Rubel als kollektive Währung der RGW-Staaten war in Wirklichkeit nicht konvertibel im Bereich der RGW-Staaten. Er besaß keine Geldfunktionen. Volkmar Muthesius schrieb dazu: „In einer Volkswirtschaft, die nicht einmal im eigenen inneren Güterverkehr freie Dispositionen, freie Preisbildung und freien Wettbewerb der Produzenten und der Güter kennt, kann es kein ‚richtiges’ Geld, keine Währung im eigentlichen Sinn geben“.44 Der Handel innerhalb des RGW war bilateral. Der Bilateralismus45 geht auf die Weltwirtschaftskrise (1929-1933) mit der Folge von Devisenzwangswirtschaft zurück. Die Sowjetunion war der Garant für die Macht der SED-Nomenklatura in der SBZ/DDR. Es war daher konsequent, daß die Wirtschaft der SBZ/DDR über den RGW als Partner in die Wirtschaft der Sowjetunion eingebunden wurde. Die Wirtschaft von Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin stellte bis 1945 hochwertige, d. h. hoch veredelte Waren für den deutschen Export her. Die

41 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro, Bd. 2, Berlin 1992, S. 65. 42 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1974, S. 347. 43 Joswig, Heinz: Finanzsystem und Währung, in: Das Finanzsystem der DDR, Berlin 1962, S. 641. 44 Muthesius, Volkmar: Rubel-Märchen, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, Frankfurt (Main), 1971, H. 17, S. 2. 45 Pütz, Theodor: Bilateralismus, in: HdSW, 2. Bd., Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1959, S. 268 f.

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Die europäische Außenhandelsverflechtung 1938 (in Mio. US-Dollar) Der Eiserne Vorhang und die europäische Außenhandelsverflechtung 1947

(in Mio. US-Dollar)

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Einbindung in die Wirtschaft der Sowjetunion zerstörte diese arbeitsteiligen Wirtschaftsstrukturen und führte dazu, daß die SBZ/DDR-Wirtschaft von Anfang an wegen ideologischer Barrieren nicht mehr Produkte für den Export in westliche Länder herstellen wollte. Der Westhandel sollte nur eine „Feuerwehrfunktion“ haben. Als Folge des Eisernen Vorhanges und die Trennung in zwei Lager zeigt die europäische Außenhandelsverflechtung bereits 1947 gegenüber 1938 eine fundamentale Richtungsänderung. Die Warenströme der Westzonen der Bundesrepublik Deutschland fließen seit 1947 insbesondere nach Westeuropa und in die USA und die der SBZ/DDR in die UdSSR und die osteuropäischen sozialistischen Staaten. „In der SBZ war der Außenhandel nach Kriegsende im Mai 1945 praktisch zum Erliegen gekommen. Die Gesamteinfuhr betrug 1946 30,268 Mio. RM. Davon kamen zwei Drittel aus Staaten des späteren RGW. Die Gesamtausfuhr wurde mit 276,454 Mio. RM, davon 237,541 Mio. RM Reparationssachlieferungen, bilanziert. 85 % des gesamten Ausfuhrhandels ging in die Sowjetunion, über 99 % in das Gebiet des späteren RGW. 1947 wurde für 55,388 Mio. RM importiert, wobei sich die Länderstruktur nicht wesentlich änderte. Bei der ‚zivilen’ Ausfuhr von 143,426 Mio. RM dominierte 1947 die Schweiz als Bestimmungsland mit 61,44 Mio. RM mit weitem Abstand. Auf die Tschechoslowakei und Polen entfielen knapp 15 %. Alle anderen aufgeführten Staaten lagen im Westen. Kalidüngersalze und Textilien dominierten in der Warenstruktur. Die Lieferkontrakte zwischen den späteren RGW-Staaten wurden alle in Dollar mit Revolvingkrediten fakturiert. Aus diesen Daten wird deutlich, daß im Außenhandel bereits sehr früh Realitäten der deutschen Teilung geschaffen worden sind“.46 Es soll nochmals auf die grundlegenden Unterschiede des Außenhandels in marktwirtschaftlichen Ländern mit Konvertibilität der Währung wie die Bundesrepublik Deutschland und sozialistischen Ländern mit staatlichem Außenhandelsund Valutamonopol herausgearbeitet werden. Adam Smith konstatierte 1776: „Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen des Produzenten eigentlich nur soweit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das Wohl des Konsumenten zu fördern. Diese Maxime leuchtet ohne weiteres ein, so daß es töricht wäre, sie noch beweisen zu wollen. … Augenscheinlich wird aber das Interesse des einheimischen Konsumenten dem des Produzenten geopfert, wenn die Einfuhr aller ausländischen Erzeugnisse eingeschränkt wird, die in Konkurrenz mit den eigenen treten können“. Ludwig Mises schloß sich 1932 Smith an: „Der Herr der Produktion ist der Konsument. … Denn nicht um der Produktion willen wird produziert, sondern für den Konsum. … Alle Wirtschaft muß Konsumentenwirtschaft

46 Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1978, S. 558. Mises, Ludwig: Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, 2. Aufl., Jena 1932, S. 412 f.

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sein“. Beim Außenhandel kaufen Inländer Güter und Dienstleistungen von Ausländern, gleichzeitig werden Güter und Dienstleistungen von Inländern an Ausländer verkauft. Welches sind die Bestimmungsgründe der Warenstruktur der Exporte eines Landes einer- und seiner Importe andererseits? In marktwirtschaftlichen Ländern bewertet der Konsument seinen Nutzen und erwirbt mit seiner Kaufkraft Güter. Wenn diese Güter aus dem Ausland kommen, dann sendet der Konsument Signale an den Importeur dieser Güter. Letzten Endes steuert der Konsument so den Außenhandel über seine Kaufkraftentscheidungen. Eine Steuerung des Außenhandels durch den Konsumenten war im Außenhandel der DDR ausgeschlossen. Das sozialistische Außenhandelsmonopol der DDR war die „konkrete Form der Machtausübung der Arbeiterklasse auf dem Gebiet des Außenhandels, die durch die einheitliche straffe Leitung, Planung und Organisation des Außenhandels durch den sozialistischen Staat charakterisiert ist“.47 Sozialistische Bürokraten bestimmten, was ein- und ausgeführt wurde. Die Konsumenten steuerten nicht die Produktion und nicht den Außenhandel in der DDR. Der Konflikt zwischen den Nutzenschätzungen der Konsumenten und den sozialistischen Bürokraten wurde am Beispiel des Bohnenkaffeesurrogats „Honeckers Krönung“ und dem Import von 10.000 VW Golf 1977 aufgezeigt. Die Konsumenten in der DDR wollten echten Bohnenkaffee, den auch Honecker selbst bevorzugte. Bohnenkaffeeersatz war schon 1963 fast gänzlich vom täglichen Speisezettel der Konsumenten der Bundesrepublik verschwunden. 1937 verbrauchte ein 4-Personen-Arbeiterhaushalt 3,216 kg Bohnenkaffee. Dieser Verbrauch wurde in der Bundesrepublik Deutschland 1954 erreicht, während der Bohnenkaffeeverbrauch der DDR 1971 ungefähr so hoch war wie der 1953 in der Bundesrepublik. Kaffeeverbrauch in der DDR und der Bundesrepublik 1950-1971 Kaffee Prokopfverbrauch (geröstet) in der DDR kg

1950 1951 1952 1953 1954 1955 1960 1965 1970 1971

----------0,3 1,1 1,8 2,2 2,3

Verbrauch von Bohnenkaffee jährlich 4-Personenhaushalt Bundesrepublik in kg

1,09 1,15 1,31 2,12 3,02 3,72 6,2 7,1 (1963)

Quellen: Wildt, Michael: Am Beginn der ‚Konsumgesellschaft‘. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg, 1994. Ebd., S. 381. Kaffee, in: Meyers Neues Lexikon, Bd. 7, Leipzig 1973, S. 225.

47 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 224.

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3. Sowjetunion, DDR und RGW in der Ära Gorbatschow 1985-1991 – Die SU subventioniert Honeckers „Sozialpolitik“ allein 1988 mit 3,3 bis 4 Milliarden US $ 48 Von Leonid I. Zedilin Vorbemerkung: Der vorliegende Bericht untersucht den Schlußabschnitt der Mitarbeit der UdSSR im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), vor allem unter dem Blickwinkel der Beziehungen zur DDR. Als Faktenmaterial wurden nicht nur „offene“ Daten herangezogen, sondern auch Erkenntnisse, die aus Begegnungen und Diskussionen mit Wissenschaftlern und Praktikern aus der UdSSR und der DDR gewonnen wurden. Ergebnisse 1. Um die Mitte der achtziger Jahre erreichte der RGW einen kritischen Punkt in seiner Geschichte: Alle Triebkräfte waren erschöpft, und in der Sowjetunion hatten Entwicklungen eingesetzt, die auf eine Liberalisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens zusteuerten. Der Fortbestand des Wirtschaftsblocks der sozialistischen Länder war allein durch den eingefahrenen Mechanismus der Zusammenarbeit bestimmt. Aber keine der Prognosen, die zu Beginn des letzten Fünfjahresplans des RGW in der UdSSR erstellt worden waren, hatten die radikalen Veränderungen vorausgesehen, die sich an seinem Ende im System der Beziehungen ergeben sollten. 2. Die DDR, seit 1961 der wichtigste Handelspartner der UdSSR nicht nur im RGW, sondern unter allen Ländern der Welt, war der Hauptimporteur sowjetischer Rohstoffe und zugleich Großlieferant von Ausrüstungen in die UdSSR. Sie war der größte Teilnehmer an den wesentlichen gemeinsamen Investitionsprojekten auf dem Territorium der UdSSR. Das Ausmaß einer derartigen gegenseitigen Anbindung läßt sich nicht mit ökonomischer Zweckmäßigkeit erklären. 3. Rohstofflieferungen im Tausch gegen nicht konkurrenzfähige Fertigprodukte bildeten die hauptsächliche Form der Anbindung der europäischen RGWLänder an die UdSSR. Dieses Muster bedeutete, daß die kleinen RGWLänder einseitige wirtschaftliche Vorteile erlangten, was von ihnen als Lohn für Loyalität gegenüber dem politischen Kurs der UdSSR aufgefaßt wurde. Der höchste Preis wurde an die DDR gezahlt, mit ihm sollte die Stabilität des „Vorpostens des Sozialismus“ in Europa und seine Nichtanfälligkeit in den Beziehungen zur „kapitalistischen BRD“ gesichert werden. 4. Die einseitigen wirtschaftlichen Vorteile im Warenaustausch mit der UdSSR haben letztlich keinem der kleinen RGW-Länder genutzt, auch nicht der DDR. Ihre Kehrseite waren Ressourcenvergeudung, erhöhte Materialintensi48 In: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 34-1995. Zedilin arbeitete 1995 am Kölner Bundesinstitut und sonst im Zentrum für russisch-deutsche Studien am Institut für internationale ökonomische und politische Studien in Moskau.

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tät, sinkende Konkurrenzfähigkeit der Produkte auf den Außenmärkten und Zerstörung der Umwelt. Die Probleme, die sich in der Zusammenarbeit mit der UdSSR mit den RGWLändern angehäuft hatten, waren bis in die Mitte der achtziger Jahre so gut wie nie Gegenstand des Dialogs mit der DDR. Umso schmerzhafter und akuter kamen sie zur Sprache, als sie sich schon zu unauflösbaren Widersprüchen ausgewachsen hatten. Als eines der größten Probleme im RGW galten über Jahrzehnte hinweg die Künstlichkeit der Preise und das Nichtfunktionieren des Transfer-Rubel. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war die Situation mit den Verrechnungen für die sowjetische Seite untragbar geworden. Die Preise für Fertigprodukte aus der DDR waren bei Lieferungen in die UdSSR in ihrer absoluten Mehrheit um ein Vielfaches höher als beim Export entsprechender oder ähnlicher Produkte in den Westen oder sogar in Entwicklungsländer. Auf diese Weise subventionierte die UdSSR die Wirtschaft der DDR jährlich mit einer Summe in Größenordnungen um 3,3 – 4 Mrd. Dollar. Der Import überschüssiger Rohstoffmengen aus der UdSSR ermöglichte es der DDR, diese halbverarbeitet weiterzuexportieren und dadurch nicht nur die wirtschaftliche und soziale Situation im Lande stabil zu halten, sondern auch ein relatives Gleichgewicht im außenwirtschaftlichen Bereich zu bewahren. Die DDR wurde im Laufe der achtziger Jahre zu einem der größten NettoExporteure von Erdölprodukten in Europa. Die Hoffnungen der DDR, sich auf der Basis einschlägiger multilateraler und bilateraler Programme und Abkommen in das hochentwickelte wissenschaftlich-technische Potential der UdSSR einzuklinken, erfüllten sich nicht. Ebenso wie auch die anderen RGW-Länder, erhielt die DDR keinen Zugang zu den neuesten Technologien der UdSSR, da sich der sowjetische militär-industrielle Komplex an der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit im Rahmen des RGW nicht ernsthaft beteiligte. Gegen Ende der achtziger Jahre kam es zu den traditionellen Problemen der Wirtschaftsbeziehungen UdSSR – DDR noch ein neues hinzu: die Unmöglichkeit, die Befehlswirtschaft der DDR und das freier werdende, sich immer stärker auf betriebswirtschaftliche Rechnung stützende Wirtschaftssystem der UdSSR aneinanderzukoppeln. Auf der 43., der 44. und der 45. Tagung des RGW wurde aktiv nach Lösungen im Sinne eines „dritten Weges“ gesucht: Vereinigung der traditionellen Basis der Zusammenarbeit in Form von Plankoordination mit neuen Formen der Kooperation auf der Ebene der primären Glieder des Produktionsprozesses. Dabei traten, was das Verständnis der neuen Verbindungsformen und der Wege zu ihrer Verwirklichung betraf, prinzipielle Unterschiede zwischen der UdSSR und der DDR zutage. Die Entscheidung, die wechselseitigen Verrechnungen künftig in frei konvertierbarer Währung und zu laufenden Weltmarktpreisen durchzuführen, besie-

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gelte das Schicksal des RGW endgültig. Die entschiedene Haltung der sowjetischen Seite in dieser Frage gründete sich auf Vorstellungen und Berechnungen, die vor allem in der Staatlichen Plankommission (Gosplan) und im Außenhandelsministerium der UdSSR angestellt worden waren. 12. Obwohl die besten Voraussetzungen für einen sofortigen Übergang zu Verrechnungen in „harter“ Währung für den Handel UdSSR – DDR gegeben waren, wurde für das gesamte Jahr 1990 die bisherige Praxis der Bezahlung in Transfer-Rubel beibehalten. Innerhalb eines Jahres nahm für die UdSSR der Negativsaldo im Handel um 3 Mrd. Transfer-Rubel zu. 13. Gegenüber der DDR wurde zur Umrechnung des für die UdSSR passiven Saldos ein nicht gestützter und ungerechtfertigter Kurs zugrunde gelegt, der um 40 Prozent höher lag, als beispielsweise der Kurs, der in Verrechnungen mit der Tschechoslowakei verwendet wurde. 14. Das Maßnahmebündel der deutschen Bundesregierung zur Aufrechterhaltung des Osthandels der neuen Bundesländer hat der UdSSR – und Rußland als deren Rechtsnachfolgerin – keinen Nutzen gebracht. Aussichten für eine Gesundung der Wirtschaftsbeziehungen der neuen Bundesländer mit Rußland bestehen dann, wenn sie „entstaatlicht“ und vom systembedingten Erbe der „brüderlichen Verbindungen“ befreit werden. Einführung: In diesem Bericht soll versucht werden, die letzten Jahre der Arbeit des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe vor allem am Beispiel der Entwicklung der Beziehungen UdSSR – DDR zu analysieren. Daneben soll auch die Frage untersucht werden, inwieweit wirtschaftliche Überlegungen das Treffen (bzw. Unterlassen) der jeweiligen politischen Entscheidungen der Sowjetführung beeinflußt haben, die auf die eine oder andere Weise zur Wiedervereinigung Deutschlands beitrugen. Für die Arbeit sind sowohl die üblichen Quellen („offene“ Publikationen, amtliche Statistik und veröffentlichte Dokumente) herangezogen worden als auch Materialien, die in dem Zeitraum, auf den sie sich beziehen, mit dem Stempel „Nur für den Dienstgebrauch“ und „Geheim“ versehen waren. Außerdem wurden einige Erkenntnisse aus Äußerungen von Amtspersonen und Wissenschaftlern in den UdSSR und der DDR gewonnen, sowie aus vertraulichen Informationen, die diese dem Verfasser, der von 1982 bis 1991 die Sektion DDR im Institut für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (IEMSS) leitete, bei Begegnungen und Gesprächen gaben. UdSSR und RGW: Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit politischer Determinante – Der RGW zu Beginn der Perestroika in der UdSSR: ein verlässliches Potential mit Aussicht auf Stabilität. Als Michail Gorbatschow 1985 an die Macht kam, ahnte er wohl kaum, daß er zum Totengräber des sozialistischen Weltsystems und der sozialistischen Wirtschaftsintegration werden sollte.

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Indessen läßt sich heute definitiv sagen, daß es gerade Gorbatschows Reformen waren, die die zentrifugalen Tendenzen im Ostblock auslösten und schließlich dessen Ende beschleunigten. In der Mitte der achtziger Jahre war der RGW augenscheinlich nicht mehr der Monolith, der er Mitte der siebziger Jahre gewesen war, aber es kündigte auch noch nichts das Ende an, das dann gegen Ende des Jahrzehnts schon fast unausweichlich schien. Jedenfalls war zu diesem Zeitpunkt die Zweckmäßigkeit der Existenz des RGW als Wirtschaftsorganisation noch nicht in Frage gestellt worden. An die „abweichende Meinung“ Rumäniens hatte man sich schon gewöhnt, und die Reformen in Ungarn unter Kádár stellten keine Bedrohung für das System als Ganzes dar. Anders ging es eben nicht. Das Fundament für die Zusammenarbeit im RGW war bekanntlich in der Nachkriegszeit gelegt worden, als die Mitglieder des Blocks, damals „Länder der Volksdemokratie“ genannt, nicht nur die politischen Strukturen des Stalinismus, sondern auch dessen wirtschaftliche „Experimente“ wie etwa den Versuch der Industrialisierung und Kollektivierung kopierten. Das geschah in erster Linie wegen des autarken politischen und wirtschaftlichen Status der UdSSR als Führungsmacht des „sozialistischen Lagers“ und somit als Supermacht. In den Blockländern entstanden ähnliche Wirtschaftsmechanismen und geschlossene volkswirtschaftliche Komplexe, die möglichst wenig von der Weltwirtschaft abhängig sein sollten. Einen Anstoß zur Autarkie und zum Kopieren der Strukturen der Sowjetwirtschaft gab auch die entstandene „internationale sozialistische Arbeitsteilung“, deren hauptsächlicher Vorzug in der Unabhängigkeit von den konjunkturellen Schwankungen des Weltmarktes gesehen wurde, was durch Koordination der volkswirtschaftlichen Pläne gewährleistet werden sollte. Natürlich konnte der Zusammenbruch eines integrativen Blocks, in dem mehr als die Hälfte des wirtschaftlichen Potentials auf die UdSSR entfiel, nur auf tektonische Verschiebungen innerhalb der dominierenden Vormacht zurückgehen. Die in der Mitte der achtziger Jahre gemachten Prognosen zur Entwicklung der Zusammenarbeit der UdSSR mit den RGW-Ländern stützten sich hauptsächlich auf die Hochrechnung der zu diesem Zeitpunkt angelegten Tendenzen sowie auf die Ergebnisse der Vorbereitungsarbeit zur Koordinierung der Pläne. Den meisten Analytikern schienen die Aussichten schon damals nicht rosig zu sein, was aber nicht am politischen Klimasturz in der UdSSR und den „Bruderländern“ lag (der entstandene Status-quo wurde in solchen Prognosen in der Regel als Konstante gesetzt), sondern hauptsächlich an den zunehmenden binnenwirtschaftlichen Schwierigkeiten, vor allem in der Sowjetunion selbst, und an der Verschlechterung der Weltkonjunktur. Was die äußeren Faktoren betrifft, so war die größte Quelle der Besorgnis bei der Einschätzung der Ergebnisse der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und den RGW-Ländern gegen Ende des Fünfjahresplans die radikal veränderte Situation auf den internationalen Rohstoff- und besonders Energiemärkten, wo Anfang 1986 die Preise (vor allem die für Erdöl) beträchtlich gesunken waren, was die Handelsbedingungen für die UdSSR ernsthaft zu verschlechtern drohte. Es wurden Berechnungen angestellt, laut denen im Handel mit den

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europäischen RGW-Ländern die Senkung des Preises für ein Barrel Erdöl um einen (Transfer-)Rubel den entsprechenden Erlös um 500 Mio. Rubel mindern würde.49 Vorausgesagt wurde dabei nicht ein Rückgang des physischen Volumens der Brennstoff- und Rohstofflieferungen in die RGW-Länder (nach der Koordinierung der Pläne war es, wie die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigten, gar nicht einfach, sie zu korrigieren), sondern vielmehr ein Übergewicht des Imports gegenüber dem Export und damit das Entstehen eines erheblichen negativen Handelsbilanzsaldos für die UdSSR. Insgesamt dachte zu der Zeit niemand, daß der Konsens im gemeinsamen sozialistischen Haus durch eine solche Entwicklung gestört werden könnte. Eher würde die Sowjetunion, wie schon früher, auch diesmal wieder ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen hintenanstellen. Weder die schwerwiegenden strukturellen Verschiebungen noch die Veränderungen in der Rangfolge der Wirtschaftspartner, unter denen die DDR zu Recht den ersten Platz einnahm, wurden damals vorausgesehen. – Die DDR als wichtigster Partner: Aufgrund der Koordination der Pläne für den Zeitraum 1986-1990 behielt die DDR die Position als wichtigster Partner der UdSSR im Bereich des Außenhandels. 1988 betrug ihr Anteil am gesamten Außenhandelsumsatz der UdSSR über 10 Prozent und im Handel mit den RGWLändern ca. 19 Prozent.50 Ihren ersten Platz hielt die DDR praktisch seit 1961, als der Warenaustausch der Sowjetunion mit China rapide zurückging. Die UdSSR ihrerseits nahm immer die erste Stelle in den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der DDR ein (1988 entfielen auf die UdSSR 37 Prozent des Außenhandelsumsatzes der DDR). Für den Fünfjahresplan 1986-1990 war folgender Zuwachs der gegenseitigen Lieferungen geplant: Warenaustausch zwischen der UdSSR und der DDR 51 (Mrd. Rubel in Preisen von 1985)

Export insgesamt Maschinen und Ausrüstungen Brenn- und Rohstoffe, Chemieprodukte Industrielle Konsumgüter

Export der UdSSR 1985 1990 Steigerung % / Jahr 7,4 8,7 3,3

Export der DDR 1990 Steigerung % / Jahr 7,4 9,1 4,2

1985

0,9

1,9

16,1

5,2

5,6

1,5

5,8 0

6,0 0

0,6 0

0,9 1,1

1,1 1,6

4,1 7,8

49 Prognose des Instituts für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems. 50 Berechnet nach Angaben des statistischen Jahrbuchs „Vnešneėkonomičeskie svjazi SSSR v 1988 g.“, Moskau: Finansy. 51 Angaben von Gosplan der UdSSR.

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Wie schon in den vorausgegangenen Jahren, sollte die DDR der größte Teilnehmer an so gut wie allen bedeutenden gemeinsamen Investitionsprojekten auf dem Territorium der UdSSR sein. Sie sollte sich an der Erschließung des Gaskondensatvorkommens Jamburg, an der Ausrüstung des Erzaufbereitungskombinats Kriwoj Rog, an der Erdölindustrie in der Kaspischen Senke, an der Ausrüstung einer ganzen Reihe von Objekten des agrar-industriellen Komplexes, der Nahrungsmittel- und Leichtindustrie sowie an der Vollendung des Baus der Eisenbahn-Fährverbindung Mukran-Klaipeda beteiligen. Daß die UdSSR der bedeutendste Förderer von Roh- und Brennstoffen auf der Welt war, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Weniger bekannt ist hingegen, daß der größte ausländische Abnehmer sowjetischer Roh- und Brennstoffe ein Land mit einer Bevölkerung von 17 Millionen Menschen und einer Fläche von 108.000 km war. 1988 nahm die DDR unter allen Handelspartnern der UdSSR, gemessen am Importvolumen von Erdöl, Walzgut, Röhren und Papier, die erste Stelle ein, bei der Einfuhr von Mineralien, Roheisen, Schnittholz und Baumwolle stand sie an zweiter Stelle und bei der Einfuhr von Gas an dritter. 52 Der Anteil der Lieferungen aus der UdSSR bei der Verarbeitung der jeweiligen Rohstoffe in der DDR betrug für Erdöl und Baumwolle fast 90 Prozent, für Eisenerz, Walzgut und Eisenmetalle 70-80 Prozent, für Steinkohle und Buntmetalle 60-80 Prozent. Außerdem war die DDR einer der Hauptabnehmer für einige relativ konkurrenzfähige Produkte der sowjetischen Technik. Aus sowjetischen Lieferungen wurde im wesentlichen der Bedarf der DDR an Traktoren, Bulldozern, Baggern, LKW und Luftfahrttechnik bestritten.53 Über 40 Prozent der Elektroenergie der DDR wurde mit sowjetischen Ausrüstungen erzeugt. Die DDR ihrerseits war für die UdSSR der Hauptlieferant von maschinentechnischen Erzeugnissen und von Massenkonsumgütern. Auf die ersteren entfielen 1988 im Export der DDR in die UdSSR ca. 67 Prozent, auf die letzteren 15 Prozent des gesamten Lieferwerts. Bis dahin war die DDR zum Hauptlieferanten der UdSSR bei einer ganzen Reihe von Erzeugnissen geworden: Ausrüstungen zur Metallverarbeitung, Kabel, Ausrüstungen für erdölverarbeitende Industrie und die Druckindustrie, Pumpen, landwirtschaftliche Maschinen (aus der DDR kamen über 40 Prozent des gesamten sowjetischen Imports von landwirtschaftlicher Technik), Schiffe, Personenzugwaggons, Unkrautvernichtungsmittel, Ober- und Untertrikotage und sogar Möbel. Die koordinierten Volkswirtschaftspläne beider Länder sahen vor, daß bei der Ergänzung des sowjetischen Personenzugwaggonparks über 35 Prozent durch den Import von Waggons aus DDR-Produktion bestritten werden sollten und daß Fischereischiffe aus der DDR den sowjetischen Bestand um 40 Prozent ergänzen sollten. Aus der DDR sollte die Sowjetunion bis zu 66 Prozent der importierten Bagger und Kräne, bis zu 60 Prozent der Metallbearbeitungsmaschinen und bis zu 40 Prozent der Schmiede- und Preßausrüstungen erhalten. 52 Berechnet nach Angaben der Außenhandelsstatistik der UdSSR. 53 Angaben laut: Statistisches Jahrbuch der DDR.

820

Allein schon diese heute nur schwer vorstellbaren Ausmaße der wirtschaftlichen Aneinanderbindung beider Länder hätten, wie es scheint, der Sowjetführung Anlaß bieten müssen, zumindest über zwei Fragen nachzudenken: 1. Warum mußte die wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgerechnet mit der DDR solche Höhen erreichen? 2. Liegen dem, soweit die sowjetische Seite betroffen ist, vorwiegend wirtschaftliche Interessen zugrunde? Natürlich machte eine ehrliche Antwort auf die zweite Frage die erste gegenstandslos. – Cui prodest?:54 Einer der führenden Wissenschaftler des Instituts für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems (IEMSS), der einstige Hauptspezialist für Effektivitätsprobleme des Außenhandels, Professor Schastitko, sagte über die Beziehungen im Rahmen des RGW einmal gewissermaßen im Scherz, die kleinen Länder verhielten sich gegenüber der Sowjetunion nach dem Motto: Wenn Gewalt unvermeidlich wird – entspannen und das Leben genießen! Er war der Ansicht, daß es für die UdSSR politisch und wirtschaftlich vorteilhafter sei, im Handel Verluste zu erleiden als Panzer rollen zu lassen. Die These ist, wie sich gezeigt hat, richtig, wenn die Möglichkeiten einer Veränderung des Status-quo in der Sowjetunion selbst völlig ausgeschlossen ist. Aber selbst bei einem unveränderten politischen Regime in der UdSSR hätte das alteingefahrene System der Beziehungen zu den RGW-Ländern nicht mehr überdauern können, und sei es nur wegen der in den letzten Jahren steil gesunkenen Effektivität bei der Förderung von Rohstoffen und wegen des Rückgangs der absoluten Fördermengen. Wenn man die Bruderländer weiter „über Wasser“ halten wollte, dann mußte das unter diesen Bedingungen unvermeidlich zu schwersten sozial-ökonomischen Erschütterungen im Lande selbst führen, und darüber konnte die Sowjetführung nicht mehr hinwegsehen. Aber hatten die kleinen RGW-Länder von der Verlängerung der in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit verfestigten Tendenzen einen Vorteil? Was die eigentlich prosowjetischen Regime betraf, so bedeutete dies zweifellos eine Verlängerung ihrer Existenz. Für die DDR etwa hätte ein Abbau der spezifischen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR die unvermeidliche Einschränkung ihrer starken Sozialpolitik bedeutet, und im Zusammenhang damit

54 Cui prodest?: Der Philosoph und Dramatiker Lucius Annaeus Seneca (4-65) verwendete den Ausdruck in seiner Tragödie Medea: „Cui prodest scelus, is fecit“ – „Wem das Verbrechen nützt, der hat es begangen“. Lenin publizierte in der „Prawda“ Nr. 84, 11. April 1913 einen Artikel „Wem nützt es?“: Es gibt einen lateinischen Ausspruch „cui prodest“ – „wem nützt es?“ Wenn man nicht sofort erkennen kann, welche politischen oder sozialen Gruppen, Kräfte oder Größen bestimmte Vorschläge, Maßnahmen usw. vertreten, sollte man stets die Frage stellen: „Wem nützt es?“ … Nein, in der Politik ist es nicht so wichtig, wer unmittelbar bestimmte Anschauungen vertritt. Wichtig ist, wem diese Anschauungen, diese Vorschläge, diese Maßnahmen nützen. … Sie (Armstrong in England, Krupp in Deutschland, Creusot in Frankreich, Cockerill in Belgien u. a.), sie sind es, denen die Entfachung des Chauvinismus, das Geschwätz über „Patriotismus“ (Kanonenpatriotismus), über die Verteidigung der Kultur (mit Mitteln zur Vernichtung der Kultur) und so weiter nützt! In: Lenin, Vladimir I., Werke, Bd. 19, 1962, S. 34 f.

821

wären auch Probleme für die sozialistischen Länder entstanden. Hätte die DDR auch nur noch ein Jahr als selbständiger Staat weiterexistiert, dann wäre diese These in der Praxis voll bestätigt worden. Aber letztlich hat von der Zusammenarbeit mit der UdSSR nach dem entstandenen Muster eigentlich keines der RGW-Länder wirtschaftlich profitiert. Mit der einseitigen Bindung an die Sowjetunion, von der sie Großaufträge für ihre verarbeitende Industrie erhielten, erwiesen sich die kleinen Länder einen Bärendienst. In ihrer großen Masse waren die für die Sowjetunion bestimmten Produkte für keinen anderen Partner auf dem Weltmarkt zu gebrauchen, selbst bei erheblich geringeren Liefermengen nicht. Der Import von Rohstoffen, die viel kostengünstiger waren als das, was man aus anderen Ländern hätte einführen können, hatte auf die Wirtschaft der kleinen RGW-Länder eine Wirkung wie ein starkes Betäubungsmittel: man gewöhnte sich daran, und als man keine mehr erhielt, hatte das einen sehr schmerzhaften Kollaps zur Folge (der eigentlich ein Kollaps der entstandenen Struktur des Produktionsapparats war). Infolge der politisierten Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zur UdSSR entstanden in den europäischen RGW-Ländern einseitig ausgerichtete und, was die Hauptsache ist, außerordentlich material- und energieintensive volkswirtschaftliche Komplexe. Die billigen Rohstoffpreise führten dazu, daß sich sowohl die Produktion als auch in den privaten Haushalten eine Mentalität der Verschwendung verfestigte, was für kleine Länder mit sehr begrenzten Reserven an Bodenschätzen ein Luxus war, den sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Und schließlich trug, besonders in den letzten Jahren, das Eingebundensein in die „internationale sozialistische Arbeitsteilung“ in allen Ländern direkt oder indirekt zu einer rapiden Verschlechterung der ökologischen Situation bei. Somit konnte die gegenseitige Vorteilhaftigkeit der sozialistischen Wirtschaftsintegration nur mit Hilfe hochintellektueller theoretischer Konstruktionen postuliert und bewiesen werden, während sie in der Praxis nur in Ausnahmefällen Bestätigung fand. Der Grund dafür war vor allem der, daß die Proportionen des Naturaltausches, zumal wenn dieser aufgrund politischer Erwägungen stattfindet, praktisch nicht mit den Proportionen des Tausches auf Wertbasis, wie er auf den Weltmärkten stattfindet, gemein hat. Hervorhebung Jürgen Schneider. Unter der Last der Probleme Das Problem der Preisbildung und des Transfer-Rubel: Die Preisbildung ist immer die Achillesferse der Wirtschaftssysteme von Staaten mit einer Zentralverwaltungswirtschaft gewesen. Was den RGW als Wirtschaftsorganisation dieser Staaten angeht, so hatten die Preise, mit denen die Staaten untereinander „handelten“ zwar eine gewissen Bindung an die Weltmarktpreise, aber ihnen lag bei den meisten Produkten keine reale Kostenbasis zugrunde. Bezeichnend dabei ist, daß praktisch alle Teilnehmerländer mit den Preisen auf dem „RGW-Markt“ unzufrieden waren. Auch der Übergang auf eine sogenannte „gleitende Basis“, bei der die Preise im RGW für das nächste Jahr auf der Basis der durchschnittlichen Welt-

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marktpreise im vergangenen Fünfjahreszeitraum festgelegt wurden, beseitigte das Problem nicht, ja es milderte es noch nicht einmal. Die Künstlichkeit der Preise wirkte sich unmittelbar auf das Verhältnis zum Transfer-Rubel, der Quasi-Währung der RGW-Länder, aus. Seinem Wesen nach eine reine Verrechnungseinheit, hatte der Transfer-Rubel tatsächlich keinerlei andere Funktion. Die sorgsam gehütete Unabhängigkeit des RGW-Handels von den Preisschwankungen des Weltmarkts entpuppte sich in der Realität als Orientierung auf die Produktionskosten der Monopolunternehmen, besonders bei Fertigprodukten. Der Tausch nach Plan, d. h. seine Regelung durch die Abstimmung verbindlicher Pläne, führte in der Praxis zu einem Bruch zwischen Angebot und Nachfrage. Mangel wurde zu einem der Hauptmerkmale im gegenseitigen Handel. Der RGWMarkt wurde praktisch bei allen Waren zum Markt des Verkäufers, der dem Käufer seine Bedingungen diktierte, und das bedeutete in fast allen Fällen, daß die Situation, wie sie auf dem Weltmarkt herrscht, auf den Kopf gestellt war. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde die Situation mit den Verrechnungen zu verzerrten Preisen in künstlicher Währung für die sowjetische Seite, die bis dahin versucht hatte, diesem Problem auszuweichen, untragbar. Vermutlich war es gerade die Änderung des allgemeinen Kurses gegenüber den RGW-Partnern, die den seinerzeitigen Ministerpräsidenten der UdSSR Ryshkow auf der 45. RGW-Tagung zu der Erklärung veranlaßte, der Transfer-Rubel könne „nicht als vollwertiges Zahlungsmittel gelten“, und es würden „verglichen mit dem Dollar, diskriminierende Wechselkurse des Transfer-Rubel zu den nationalen Währungen festgesetzt“.55 Für die sowjetische Wirtschaft war der Transfer-Rubel allerdings immer geringfügig billiger als der Devisen-Rubel, denn um das eine wie das andere zu erhalten, mußten gewaltige Mengen an Rohstoffen und Halbfabrikaten geliefert werden. Die sowjetischen Wirtschaftler, die im Transfer-Rubel eine Währung keineswegs erster Güte sahen, waren nicht selten bereit, den RGW-Partnern vielfach überhöhte Preise zu zahlen, etwa für Erzeugnisse des Maschinenbaus, denn sie hatten keine Vorstellung von den tatsächlichen Kostenproportionen und ebensowenig vom wahren Wert der gekauften Maschinen. Besonders stark verzerrt waren die Tauschproportionen im Warenaustausch zwischen der UdSSR und der DDR, der nach dem Schema „Rohstoffe gegen Fertigwaren“ ablief. Offiziell gestattete es die in der DDR veröffentlichte Statistik nicht, die Preise für den Verkauf von Waren an den Westen und an den Osten miteinander zu vergleichen, denn sie führte traditionsgemäß keine Angaben über das wertmäßige und physische Volumen der Lieferungen. Diese Angaben über die DDR mußten für die Aufnahme in das geheime Handbuch des RGW gemacht werden, und auf der Basis von dessen Angaben ist die folgende Tabelle zusammengestellt.

55 Pravda, 10.01.1990.

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Durchschnittspreis einzelner Importgüter aus der DDR in der UdSSR (Angaben für 1988) Preis TransferRubel

Umgerechnet auf Lieferungen aus der UdSSR Erdöl (Tonnen)

PKW (Stück)

Metallbearbeitungsmaschine

117,8

961

44

Kugelmühle

504,5

4.115

189

Pumpe

3,3

27

1,2

Industriearmatur

2,5

20

1

Rechenmaschine für Buchführung

5,6

46

2

Mähdrescher

23,7

193

9

Mähmaschine

16,1

127

6

Personenzugwaggon

196,7

1.604

74

Speisewagen

567,7

4.638

213

Quelle: Vnešneėkonomičeskie svjazi SSSR v 1988 g.“, Moskau: „Finansy i statistika“, 1989, S. 127-135.

824

Durchschnittlicher Preis einzelner Güter beim Export aus der DDR Preis beim Export Ware

in die UdSSR

Mehrfachpreis der UdSSR gegenüber in westliche marktwestlichen marktwirtschaftliche Länwirtschaftlichen Länder dern

Metallbearbeitungsmaschinen (1.000 Rubel/Stück)

112

7

Dieselmotoren (stationär und Schiffs-) (1.000 Rubel/Stück

63

7

Portalkräne (1.000 Rubel/Stück)

632

111

Kranwagen (1.000 Rubel/Stück)

50

-

Bagger (1.000 Rubel/Stück)

75

45

1,7 ‫״‬

Mähdrescher (1.000 Rubel/Stück)

48

10

4,8 ‫״‬

Personenzugwaggons (1.000 Rubel/Stück) LKW (1.000 Rubel/Stück)

205 9,5

16 fache 9

‫״‬

5,7 ‫״‬ -

-

-

1,8

5,3 ‫״‬

Soda, kaustisch (Rubel/Tonne)

177

49

3,6 ‫״‬

Soda, kalziniert (Rubel/Tonne)

74

70

1,1 ‫״‬

Harz, polychloriert (Rubel/Tonne)

532

348

1,5 ‫״‬

Polyäthylen (Rubel/Tonne)

573

371

1,5 ‫״‬

Farben und Lacke (Rubel/Tonne)

867

224

3,9 ‫״‬

Kunstfasern (Rubel/Tonne)

1.667

586

2,8 ‫״‬

Fleisch und Fleischprodukte (Rubel/Tonne)

780

555

1,4 ‫״‬

Tierische Speisefette (Rubel/Tonne)

623

425

1,4 ‫״‬

Baumwollstoffe (Rubel/m2

1,2

0,6

2,0 ‫״‬

Teppiche

5,0

1,7

2,9 ‫״‬

Lederschuhe (Rubel/Paar)

3,5

3,4

1,03 ‫״‬

Nähmaschinen (Haushalts-) (Rubel/Stück)

137

Quelle: Vnešnjaja torgovlja stran SĖV v 1987 g., Bd. 2.

36

3,8 ‫״‬

825

Nicht alle angeführten Zahlen können als so repräsentativ gelten, daß sich mit ihrer Hilfe auf die Preisunterschiede beim Verkauf bestimmter Fertigprodukte durch die DDR an den Westen und in die UdSSR schließen ließe. Nur einige der Positionen bestehen aus gleichartigen Waren (Soda, Polyäthylen, Nähmaschinen), so daß ihre Preise vergleichbar sind. Aber auch ein Vergleich der durchschnittlichen Preise für einzelne Erzeugnisse des Maschinenbaus (Werkzeugmaschinen, Kräne u. a.) sagt vieles aus: zum ersten, daß die DDR in den Westen in der Regel weit weniger komplizierte und somit billigere Techniken verkaufte (z. B. Metallbearbeitungsmaschinen) und zum zweiten, daß die DDR beim Verkauf ihrer Erzeugnisse gegen frei konvertierbare Währung oft genötigt war, zum Mittel des Dumping zu greifen. Daneben vermitteln die angestellten Berechnungen – bei aller Bedingtheit – eine Vorstellung vom allgemeinen Stand der Dinge Ende der achtziger Jahre: Bei allen Produkten waren die Preise, die die DDR beim Export in die UdSSR verlangte, höher als beim Export in den Westen und bei den meisten Waren auch höher als beim Export in Entwicklungsländer. Hätten allerdings innerhalb des RGW die international üblichen Handelsnormen geholten, dann hätten die Preise beim Export in die UdSSR in der Regel niedriger sein müssen, denn die UdSSR war fast immer Käufer großer Warenmengen. Wenn man den Umfang der in Transfer-Rubel angegebenen Exportlieferungen der DDR in die UdSSR in „harter“ Währung schätzen will, dann kann man auch eine andere Methode anwenden, und zwar mit Hilfe eines Vergleichs dessen, was die DDR aufwenden mußte, um einen Transfer-Rubel und eine DM zu erwirtschaften. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre betrug der Wechselkurs des Transfer-Rubel in der DDR 4,67 Mark. Die meisten Industriebetriebe und Kombinate der DDR, die ihre Produkte in die UdSSR lieferten, erwirtschafteten den TransferRubel jedoch billiger. Der Außenhandelspreis in Mark der DDR, d. h. der unter diesen Bedingungen erzielte Gewinn des Unternehmens, übertraf die Aufwendungen bei weitem. So berichten z. B. die Leiter des Kombinats „Umformtechnik Erfurt“ (Herstellung von Schmiede- und Preßausrüstungen), daß zu Beginn der achtziger Jahre beim Export in die UdSSR 3,6 bis 3,8 Mark der DDR aufgewendet werden mußten, um einen Transfer-Rubel zu erhalten. Aber selbst wenn man davon ausgeht, daß der Erlös aus dem UdSSR-Export nur die Produktionskosten und sonstigen Aufwendungen deckte – d. h. daß die Effektivität des Exports nur 100 Prozent betrug und ein Transfer-Rubel 4,67 Mark der DDR wert war – dann wurden 1988 nach interner Schätzung Waren im Wert von 32,8 Mrd. Mark der DDR (7,2 Transfer-Rubel mal 4,67) aus der DDR in die UdSSR geliefert. Aber wie hoch wäre der binnenwirtschaftliche Preis gewesen, wenn die DDR nicht in Transfer-Rubel, sondern beispielsweise in DM hätte zahlen müssen? Gegen Ende der Existenz der DDR, als auch dort Transparenz zur Lebensnorm geworden war, wurde u. a. bekannt, wie teuer das Land der Erwerb harter Währung zu stehen kam. Zwei bekannte Wirtschaftswissenschaftler, die Professoren Christa Luft und Eugen Faude, haben z. B. errechnet, daß, um eine Million DM zu erwirt-

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schaften, Exportwaren im Wert von durchschnittlich 4,4 Mio. Mark der DDR produziert und verkauft werden mußten.56 Das bedeutet, daß für Importe aus der UdSSR im Wert von 13,5 bis 15 Mrd. DM (4,5-5 Mrd. Transfer-Rubel) bei Zahlung in harter Währung nach einer internen Schätzung nicht 32,8 Mrd., sondern 59 bis 66 Mrd. Mark der DDR hätten aufgewendet werden müssen, d. h. die doppelte Summe. Die Differenz beträgt 26 bis 33 Mrd. Mark der DDR oder, wieder umgerechnet zum genannten realen Kurs, 3,3 bis 4 Mrd. US-Dollar. Etwa diese Summe hätte die DDR allein 1988 zusätzlich für Warenlieferungen aus der UdSSR bezahlen müssen, wenn die Verrechnung in harter Währung erfolgt wäre und die Waren zu aktuellen Weltmarktpreisen verkauft worden wären. Nach den Berechnungen ungarischer Wirtschaftswissenschaftler hätte Ungarn einen Passivsaldo von 1 bis 1,5 Mrd. Dollar gehabt.57 Auf diese zwei Länder wären in diesem Falle ca. 5 Mrd. Dollar entfallen, und auf alle sechs osteuropäischen RGW-Länder ungefähr 13 bis 15 Mrd. Dollar. Diese Summe könnte man einerseits als massive Unterstützung für die Wirtschaften dieser Länder ansehen, andererseits aber auch als entgangenen Vorteil für die Wirtschaft der Sowjetunion bzw. als den wirtschaftlichen Preis für den Erhalt des politischen Blocks. Leider hat, wie die nachfolgenden Ereignisse zeigten, die Regierung der UdSSR und danach auch die Rußlands bei den Verhandlungen mit den RGWLändern über die Frage der Umrechnung des Handels- und Zahlungsbilanzsaldos derartige Berechnungen offensichtlich nicht herangezogen. Infolge dieser mangelnden Vorbereitung schied Rußland, das die Verpflichtungen der UdSSR übernommen hatte, mit einer gewaltigen zusätzlichen Verschuldung gegenüber praktisch allen ehemaligen sozialistischen Ländern Europas aus der RGW aus. Wie es aber scheint, kann die Frage nicht als abgeschlossen gelten, besonders, soweit es um die Gesamtverschuldung Rußlands gegenüber dem vereinigten Deutschland geht. Darauf soll noch an anderer Stelle eingegangen werden. – Die strukturelle Barriere und die Quasi-Kooperation: Der Warenkorb im Handel UdSSR – DDR war ein klassisches Beispiel für die schon erwähnte „strukturelle Barriere“. Es muß betont werden, daß diese Barriere nur für den Handelsaustausch zwischen der Sowjetunion und den europäischen Ländern kennzeichnend war. Die kleinen europäischen RGW-Länder waren bemüht, sich im Handel untereinander an das Tauschmuster: „weiche“ gegen „weiche“ und „harte“ gegen „harte“ Waren zu halten. Als „weich“ im Gegensatz zu „hart“ wurden solche Waren bezeichnet, die gegen frei konvertierbare, d. h. „harte“ Währung unverkäuflich waren. Dagegen zeigte der Handel der UdSSR war der Anteil von Maschinen und Ausrüstungen um ein erhebliches Maß höher, und im Import war der Anteil an Fertigprodukten unbedeutend. Im Export der UdSSR in die

56 Neues Deutschland, 17.11.1989. 57 Izvestija, 09.01.1990.

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DDR betrug der Anteil unverarbeiteter Rohstoffe bis zu 80 Prozent, während der Anteil an Maschinen seit Mitte der siebziger Jahre nicht über 17 Prozent stieg.58 Die Struktur des Warenaustausches zwischen der UdSSR und der DDR verdient auch heute noch Beachtung, denn ihre Analyse gestattet es weitgehend, das Phänomen DDR zu erklären und vor allem den Ruf, den sich der sozialistische deutsche Staat als Betreiber einer starken Sozialpolitik und als solider Außenhandelspartner erworben hatte, richtig einzuordnen. Wie schon erwähnt, war die DDR der größte ausländische Abnehmer sowjetischer Rohstoffe. Besonders beeindruckend war das Ausmaß der Erdöllieferungen. Insgesamt importierte die DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gleichbleibend 22 bis 23 Mio. Tonnen Rohöl pro Jahr. Davon entfielen auf Importe aus der UdSSR etwas über 19 Mio. Tonnen. Von dieser Menge wies die offizielle Statistik der DDR nur 17,1 Mio. Tonnen aus, d. h. nur die Menge, die aufgrund langfristiger Vereinbarungen und Plankoordinierung ins Land kam. In der offiziellen sowjetischen Statistik kamen zu der genannten Menge noch 2 Mio. Tonnen hinzu, die von der DDR nur im Tausch gegen „harte“ Waren (z. B. Lebensmittel) geliefert wurden. Insgesamt erhielt die DDR aus der UdSSR über 1,2 Tonnen Erdöl pro Kopf der Bevölkerung (zum Vergleich: In der UdSSR entfielen nach Abzug der Lieferungen für den Auslandsmarkt 1,5 Tonnen auf einen Einwohner). Zweifellos war der Bedarf an Energieträgern, den ein so umfassender und diversifizierter Wirtschaftskomplex wir die DDR-Wirtschaft hatte, höher als bei den anderen europäischen RGW-Ländern. Bedenkt man aber erstens die Leistungen der DDR auf dem Gebiet der Rohstoff- und besonders der Energieträgerwirtschaft, die unter allen RGW-Ländern am deutlichsten sichtbar waren, zweitens die seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre allenthalben durchgeführte Ersetzung von Erdöl und Steinkohle in der Energetik durch die heimische Braunkohle und drittens den steilen Anstieg des Exports von Erdölprodukten aus der DDR in westliche Länder seit Beginn der achtziger Jahre, dann kann man nur zu der einen Schlußfolgerung kommen: Die DDR importierte aus der UdSSR weit mehr Erdöl als zur Deckung des Inlandsbedarfs notwendig war. Die vorliegenden Zahlenangaben zur Energiebilanz der DDR lassen darauf schließen, daß der Eigenbedarf des Landes nur 11 Mio. Tonnen Erdöl betrug, während der Export von Erdölprodukten der DDR in den Westen im Zeitraum 1980-1987 um das Zweieinhalbfache auf 6 Mio. Tonnen zunahm. Außer Erdölprodukten exportierte die DDR in den Westen hauptsächlich Halbfabrikate und Fertigwaren, die auf der Basis billiger sowjetischer Rohstoffe hergestellt waren, insbesondere Textilien, Kunstfasern und andere chemische Produkte, Möbel sowie metallurgische Produkte. Auf diese Weise wurde mit Hilfe erhöhter billiger Rohstoffimporte aus der UdSSR nicht nur das binnenwirtschaftliche Gleichgewicht und damit wiederum

58 Hier und im weiteren Verlauf dieses Abschnitts werden Zahlen verwendet, die auf der Basis der offenen statistischen Jahrbücher „Vnešneėkonomičeskie svjazi SSSR“ (Moskau: „Finansy“) sowie der zur Zeit der Existenz des RGW geheimen statistischen Nachschlagewerke „Vnešnjaja torgovlja stran SĖV“ für die jeweiligen Zeiträume errechnet wurden.

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während mindestens der letzten 20 Jahre der Existenz der DDR ein erhöhter Lebensstandard der Bevölkerung erhalten, sondern es wurde auch ein mehr oder weniger befriedigender Saldo der Handels- und Zahlungsbilanz in den Wirtschaftsbeziehungen der DDR mit dem Westen sichergestellt. Was den Tausch von maschinentechnischen Produkten betrifft, so fand er nicht nur auf der Basis der Koordination der Fünfjahrespläne statt, sondern auch auf der Basis sogenannter Abkommen über Spezialisierung und Kooperation, die zwischen den Branchenministerien geschlossen wurden. Im Grunde regelten diese Abkommen nur die entstandenen Warenströme, aber es stand keine ausreichend seriöse brancheninterne Arbeitsteilung dahinter. Ein kooperativer Austausch von Baugruppen und Komponenten für die gemeinsame Produktion fehlte praktisch. Statt dessen fand eine Spezialisierung zwischen den Branchen statt, bei der Rohstoffe (z. B. Erze und Kohle) aus der UdSSR in die DDR geliefert wurden, wo aus ihnen materialintensive Produkte (z. B. Schiffe und Eisenbahnwaggons) hergestellt wurden, die sodann in die UdSSR geliefert wurden. Besonders intensiv waren dabei in den letzten Jahren Lieferungen von Ersatzteilen für veraltende Techniken. Infolge dieser Spezialisierung war die UdSSR der einzige ausländische Abnehmer vieler metallintensiver Techniken aus DDR-Produktion, wie z. B. Hebeund Transportvorrichtungen, Schiffe, Eisenbahnwaggons, die meisten agrartechnischen Geräte u. a. m. Man kann sagen, daß die Industrie der DDR – wie auch die der anderen Lieferländer von Maschinen – durch die Aufträge der sowjetischen Ministerien und Behörden faktisch desorientiert wurde, denn durch eindeutig zu niedrig angesetzte Anforderungen an die Qualität und den technischen Standard präjudizierten sie in vielerlei Hinsicht deren Rückständigkeit. 59 Es gibt Fälle von Beispielen dafür, wie DDR-Unternehmen, die mehr als die Hälfte ihrer Maschinenbauprodukte (entsprechend langfristigen Abkommen) ohne besondere Probleme in die UdSSR schickten, die größten Schwierigkeiten hatten, einzelne Einheiten dieser Produkte in Länder des Westens zu verkaufen, und das auch nur in Spezialausfertigungen und zu Dumpingpreisen. – Rückständigkeit im wissenschaftlich-technischen Bereich: Während die Probleme der „strukturellen Barriere“ und der Nichtäquivalenz des Austausches widerstrebend anerkannt wurden und von der DDR-Seite auf allen Ebenen, von den obersten Etagen der Macht bis hin zu wissenschaftlichen Mitarbeitern diskutiert wurden, so beunruhigte das Problem der wissenschaftlich-technischen Rückständigkeit die DDR beinahe noch mehr als die sowjetische Seite. Natürlich konnte der Fortbestand des niedrigen technischen Standards der im Rahmen langfristiger Abkommen aus der DDR gelieferten Produkte auch die sowjetische Bürokratie, der die entsprechenden Bereiche der Zusammenarbeit oblagen, nicht gleichgültig lassen. So hieß es in einem nicht offenen Papier des sowjetischen Staatskomitees für Wissenschaft und Technik, daß 40 Prozent der in die UdSSR gelie59 So bestellte etwa die sowjetische Seite Personenzugwaggons aus der DDR, ohne daß im Laufe von 32 Jahren an deren Konstruktion irgendwelche Veränderungen vorgenommen wurden.

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ferten Ausrüstungen in ihren technischen Merkmalen hinter denjenigen zurückstehen, die auf den Märkten der kapitalistischen Länder abgesetzt werden (nach unserer Einschätzung lag der Anteil rückständiger Technik erheblich höher). Allerdings waren die in der DDR gekauften Maschinen hauptsächlich für diejenigen Bereiche der sowjetischen Wirtschaft bestimmt, deren technischer Zustand nicht Gegenstand vorrangiger Sorge der hohen Beamten war. Der Verteidigungskomplex wurde bekanntlich mit westlicher Technik und Technologie ausgerüstet, zudem galten in diesem Bereich in den Beziehungen zur DDR und den anderen RGW-Ländern besondere Abkommen. In der DDR hingegen richtete man bekanntlich besonderes Augenmerk darauf, den wissenschaftlich-technischen Stand aller Fertigerzeugnisse an die internationalen Standards heranzubringen. Zu diesem Zweck wurde eine „Wunderwaffe“, sogenannte „Verpflichtungshefte“ eingerichtet. Ein wichtiger Stellenwert für die Überwindung des technologischen Rückstands gegenüber dem Westen wurde in der DDR auch der Zusammenarbeit mit der UdSSR zugewiesen. Auf diesem Gebiet waren in den achtziger Jahren zwei grundlegende Dokumente in Kraft: das Komplexprogramm für wissenschaftlich-technischen Fortschritt, an dessen Verwirklichung alle RGW-Länder sowie Jugoslawien teilnehmen sollten, und das 1984 am Vorabend der 35-Jahrfeier der DDR in Berlin unterzeichnete bilaterale Programm für Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR in Wissenschaft, Technik und Produktion bis zum Jahre 2000. Hinsichtlich des Komplexprogramms nahm die DDR eine zurückhaltende Position ein und erklärte sich nur in denjenigen konkreten Richtungen, die ihren nationalen Programmen zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik entsprachen, zur Durchführung bereit. Die hauptsächlichen Hoffnungen, im technologischen Bereich einen Durchbruch zu erreichen, richteten sich auf die bilaterale Zusammenarbeit mit der UdSSR. Es muß gesagt werden, daß die Beamten der Planungsbehörden und Ministerien beider Länder nicht wenig taten, um das Programm mit einer Laufzeit bis zum Jahre 2000 ordnungsgemäß auszuführen. Entsprechend diesem Programm wurden 33 Programme auf Branchenebene ausgearbeitet, u. a. in den Bereichen Elektrotechnik, Optik, Gerätebau, Werkzeugmaschinenbau, Leichtindustrie sowie weiteren Bereichen. Zur Realisierung dieser Programme schlossen beide Seiten 170 Abkommen auf Regierungs- und Ministerialebene. Aber alle diese Anstrengungen brachten keinerlei wesentliche Resultate. Der Grund dafür war nicht allein der, daß die DDR zehn Jahre vor dem Auslaufen der Abkommen zu existieren aufhörte. Diese Art der Zusammenarbeit konnte die Hoffnungen der DDR-Seite von Anbeginn nicht erfüllen, weil die Unternehmen und Forschungseinrichtungen des militär-industriellen Komplexes der UdSSR sich an der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit im Rahmen des RGW, und auch mit der DDR, nicht spürbar beteiligten und beteiligen durften. – Nicht kompatible Wirtschaftsmechanismen: Die genannten Probleme des RGW waren keineswegs chronischer Natur, aber sie traten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre offen zutage und, was noch wichtiger ist, sie verschärften sich, und zwar aus zwei Gründen: Der erste war die fast völlige Erschöpfung der Mög-

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lichkeiten für eine extensive Entwicklung der Wirtschaften der Länder selbst sowie für ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit, und der zweite war der Beginn der Perestroika in der Sowjetunion. Zu den alten Problemen in den Beziehungen der UdSSR zu den einzelnen RGW-Ländern kam nun ein weiteres hinzu: zunächst die Unmöglichkeit, die Wirtschaftssysteme „aneinanderzukoppeln“ und danach ihre völlige Unvereinbarkeit. Zu den Ländern, die den Weg der Wirtschaftsreform nicht beschritten, so daß die Probleme der integrativen Verbindungen den Charakter von Widersprüchen annahmen, gehörte neben Rumänien und Kuba auch die DDR. Der Gerechtigkeit halber ist anzumerken, daß die im Zuge der Liberalisierung des sowjetischen Wirtschaftssystems sich verschärfenden Unterschiede in den Lösungsansätzen für die Wirtschaftsprobleme sich im Laufe von zumindest vier Jahren bis 1990, praktisch nicht auf den Umfang der Wirtschaftsbeziehungen UdSSR – DDR ausgewirkt haben: Der gegenseitige Handel und andere Formen der Verbindungen fanden unverändert im Rahmen der langfristigen Abkommen und der Koordination der Fünfjahrespläne statt. Im politischen Bereich jedoch trug die Unmöglichkeit einer Verbindung der Wirtschaftslenkungssysteme zur Abkühlung der zuvor vertrauensvollen „brüderlichen“ Beziehungen bei. Die in der DDR weilenden sowjetischen Delegationen verschiedener Ebenen – von Partei- und Regierungsdelegationen bis zu den sogenannten Lektorengruppen – propagierten nicht nur mit gleichförmiger Einfalt das betriebswirtschaftliche Rechnungswesen, die Selbstverwaltung und andere sowjetische Neuerungen, sondern sie teilten auch ihre Überlegungen zu deren Einführungen in der DDR mit. Während diese Ratschläge und Wünsche bei den einfachen Bürgern auf Verständnis stießen, fühlte sich die DDR-Führung nur in ihrer völligen Ablehnung von Wirtschaftsreformen bestärkt. Hervorhebung Jürgen Schneider. Nicht zufällig wurde in dieser Periode in der DDR der Slogan „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ zurückgezogen, und die offizielle Propaganda unterstrich verstärkt die Vorzüge eines „Sozialismus in den Farben der DDR“. Allerdings nahm in der DDR die Unzufriedenheit mit der Liberalisierung des Wirtschaftslebens in der UdSSR nicht den Charakter einer offen propagierten Linie an: In der Presse gab es keine kritischen Veröffentlichungen zu den Wirtschaftsreformen in der UdSSR. Aber in Gesprächen machten die Vertreter der Institutionen, in denen die binnen- und außenwirtschaftliche Strategie der DDR erarbeitet wurde – etwa des Instituts für sozialistische Wirtschaft beim ZK der SED, des Forschungsinstituts des Ministeriums für Außenhandel und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften der DDR – keinen Hehl aus ihrer Verärgerung über die Entwicklung der politischen wie auch der wirtschaftlichen Situation in der sich erneuernden UdSSR. So betonte der Direktor des Forschungsinstituts des Ministeriums für Außenhandel der DDR in einem Gespräch mit dem Verfasser dieses Berichts im April 1987, die Sowjetführer sollten bei der Durchführung ihrer Reform auch an ihre Partner bei der sozialistischen Integration denken. „Wenn die Länder“, sagte Professor Bauer, „nun schon so eng im RGW miteinander verbunden sind, dann können und dürfen sie nicht, ohne aufeinander Rücksicht zu nehmen, ihren inneren Wirtschaftsmechanismus ändern. Das kann dazu führen, daß sich

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die Wirtschaftseinheiten – die sozialistischen Unternehmen – auf andere Märkte umorientieren mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die RGW-Partner“. Die noch offeneren Gespräche vor allem mit Wissenschaftlern der Akademien und Universitäten (Wirtschaftsinstitut der Akademie der Wissenschaften der DDR, Wirtschaftshochschule Bruno Leuschner) ließen die folgenden objektiven Gründe erkennen, die das Festhalten der DDR an dem eingefahrenen zentralisierten Wirtschaftssystem und die Ablehnung der „Perestroika“ in der Wirtschaft erklären: - Die DDR hatte die, wie man es sah, gescheiterte Erfahrung mit dem Funktionieren des „neuen ökonomischen Systems“ in den sechziger Jahren, als „ernsthafte Widersprüche zwischen den allgemeinen wirtschaftlichen Zielen der Parteiführung und den Resultaten der dezentralisierten Entscheidungen auf der Ebene der Wirtschaftseinheiten aufgetreten waren“. - In der DDR hatte sich eine negative Bewertung der Erfahrungen mit Wirtschaftsreformen, wie sie etwa in Ungarn und Polen durchgeführt worden waren, festgesetzt. In der DDR meinte man, daß die radikalen Veränderungen dort nicht zur Wiederherstellung des innen- und außenpolitischen Gleichgewichts geführt hätten, sondern die ohnehin schwierige Situation nur verschärft hätten. Diese Bewertung erstreckte sich auch auf die Wirtschaftsreform in der UdSSR, wo die Ausweitung der Selbständigkeit der Unternehmen mit einem Produktionsrückgang, einem wirtschaftlichen Ungleichgewicht und einem Absinken der Disziplin einherging. - Das System der Kombinate, das einen gewissen „preußischen“ Akzent hat, entspricht in vieler Hinsicht den Besonderheiten der DDR-Mentalität. In seiner ersten Etappe trug es zur Verbesserung der Organisationsstruktur der Produktion, zur Verbesserung der Disziplin und zum Einsparen von Ressourcen bei. - Schließlich hatte die Führung allen Grund zu der Befürchtung, daß sich die Wirtschaftsreform zu einer Reform des politischen Systems auswachsen würde, was eine Wiederholung der tschechoslowakischen Praxis von 1968 bedeuten würde. Man muß, so scheint uns, der DDR-Führung Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie hatte offenbar von Anbeginn Zweifel an der „Reformierbarkeit“ des sozialistischen Wirtschaftsmechanismus, an der Möglichkeit, einen „marktwirtschaftlichen Sozialismus“ aufzubauen, sie wollte sich nicht auf „Experimentieren“ einlassen und hat sich insofern als weitsichtiger und konsequenter als die Sowjetführung erwiesen. Dennoch mußte die DDR-Führung einer Reformierung des Mechanismus der Zusammenarbeit im Rahmen des RGW zustimmen, wiederum ausschließlich unter dem Druck des großen Bruders, der in der sozialistischen Wirtschaftsintegration dominierte.

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Auf der Suche nach dem „dritten Weg“ – Die 43. und die 44. RGW-Tagung und ihre Beschlüsse: Die Wirtschaftsreform in der UdSSR zur Zeit der Perestroika, die im Grunde der Versuch war, eine sozialistische Marktwirtschaft zu schaffen, eröffnete den liberal (und früher sogar dissidentisch) gesinnten sowjetischen Ökonomen Möglichkeiten, ihre Konzeptionen zu verwirklichen. Insbesondere fanden ihre Ideen zur Umgestaltung des Außenwirtschaftsmechanismus schon 1986 ihren Niederschlag in richtungweisenden Dokumenten, als zwei Verordnungen des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR – „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Steuerung der Außenwirtschaftsverbindungen“ und „Über Maßnahmen zur Verbesserung der Steuerung der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern“ 60 erschienen, die am Beginn der Suche nach einem „dritten Weg“ in der Zusammenarbeit mit den RGW-Ländern standen. In der ersteren wurde den sowjetischen Unternehmen das Recht zuerkannt, „direkte Beziehungen zu Unternehmen und Organisationen der anderen RGW-Länder herzustellen und Fragen der Kooperation in der Produktion und im wissenschaftlich-technischen Bereich selbständig zu entscheiden, einschließlich des Rechts, Wirtschaftsverträge und Geschäftsverträge über Produktlieferungen und Dienstleistungen zu unterzeichnen“. Das zweite Dokument rief dazu auf, „das System der Zusammenarbeit mit diesen Ländern in der Weise prinzipiell umzugestalten, daß die vorwiegend auf Handel beruhenden Verbindungen in eine tiefgreifende Spezialisierung und Kooperation in der Produktion übergehen“. Und wenn auch in dem zitierten Dokument die Priorität der Plankoordinierung anerkannt wurde, so wurde es doch für notwendig erachtet, das Schwergewicht auf „die umfassende aktive Einführung neuer progressiver Formen des Zusammenwirkens zwischen Vereinigungen, Unternehmen und Organisationen der UdSSR und der sozialistischen Länder und auf die Schaffung der notwendigen wirtschaftlichen und organisatorischen Bedingungen für ihre Tätigkeit auf der Basis voller betriebswirtschaftlicher Rechnung und des gegenseitigen Vorteils“ zu legen. Somit wurde in dem Dokument zum ersten Mal die These von der Verschiebung des Schwerpunkts in der integrierten Zusammenarbeit von der zwischenstaatlichen Ebene auf die Ebene der unmittelbaren Partnerunternehmen und -organisationen festgeschrieben. In dem Jahr seit dem Erscheinen der beiden Verordnungen bis zur Einberufung der 43. (außerordentlichen) Tagung des RGW änderte sich in der Praxis der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der UdSSR mit den Bruderländern so gut wie nichts. Die liberalen Ideen behaupteten sich aber noch weiter, und sie hatten auch schon von der Sowjetführung Besitz ergriffen, die zur RGW-Tagung mit der festen Entschlossenheit fuhr, die Wirtschaftsinteressen der UdSSR zu verteidigen und zu diesem Zweck den Mechanismus der Integrationszusammenarbeit zu modernisieren. Der Leiter der sowjetischen Delegation N. I. Ryshkow trug der

60 Unveröffentlichte Materialien des Ministerrats der UdSSR.

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43. Tagung einen „scharfen“ Bericht vor, dessen kritischer Teil in den offiziellen Veröffentlichungen der sowjetischen Presse ausgelassen wurde.61 Zum ersten Mal in der Geschichte des RGW war es die sowjetische Delegation, die als Initiator „revolutionierender“ Veränderungen auftrat. Sie schlug im einzelnen vor: - ein neues Konzept für die internationale sozialistische Arbeitsteilung zu erarbeiten; - die an der Zusammenarbeit beteiligten Unternehmen mit dem selbständigen Abschluß von Geschäftsverträgen und mit der Festsetzung vertraglich vereinbarter Preise zu Betrauen; - die Schaffung eines „vereinigten RGW-Marktes“ in Angriff zu nehmen (gemeint war die Öffnung des Zugangs der RGW-Partner zu den inneren Großhandelsmärkten der Länder). Im Abschlusskommuniqué der Tagung fand der Großteil dieser und anderer edler Wünsche keinen Platz. Auf Druck vor allem der Vertreter Rumäniens und der DDR geriet der Inhalt des abgestimmten Dokuments zur leeren Hülse: Die ganze Reform war auf den Wunsch nach „weiterer Vervollkommnung“ reduziert worden. Die 44. RGW-Tagung im Sommer 1989 trat de facto ebenfalls auf der Stelle. Wieder deklarierte man das Streben nach „neuen Formen und Methoden der Außenwirtschaftsverwindungen der Länder der sozialistischen Gemeinschaft“, und wieder begrüßte man „die Entwicklung der Zusammenarbeit auf der Ebene der Unternehmen, Vereinigungen und Organisationen, die direkte Kontakte in der Produktion und im wissenschaftlich-technischen Bereich auf Vertragsbasis entsprechend der nationalen Gesetzgebung hergestellt haben, sowie die Schaffung gemeinsamer Unternehmen durch die interessierten Länder“. Aber im Kommuniqué der Tagung fiel die Betonung des „schrittweisen“ und „etappenweisen“ Charakters der Veränderungen auf, worin sich offensichtlich vor allem die Position wieder derselben Länder – der DDR und Rumäniens – ausdrückte, die im Grunde keinerlei Veränderungen wünschten. Während der gesamten zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde in der DDR jedoch unermüdlich die These wiederholt, daß sich die Zusammenarbeit mit der UdSSR erfolgreich auf neuer Grundlage entwickele, wobei neue progressive Formen und Methoden zur Anwendung kämen. Auf diese Scheinbewegung auf dem Weg fortschreitender Integration soll hier etwas näher eingegangen werden. – Neue Formen der Zusammenarbeit: Ende der achtziger Jahre breitete sich auf der sowjetischen Seite, die schon mit dem entstandenen Modell der vor allem auf zwischenstaatliches Zusammenwirken orientierten RGW-Integration unzufrieden war, auch Ernüchterung über die neuen Formen der Zusammenarbeit aus,

61 Die Einzelheiten zur 43. RGW-Tagung werden auf der Basis eines Berichts des Mitglieds der sowjetischen Delegation, des stv. Direktors des Instituts für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems, Prof. W. M. Schastitko, dargestellt.

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auf die in den genannten Verordnungen große Hoffnungen gelegt und die auf den letzten beiden RGW-Tagungen gebilligt worden waren. Dabei ging es vor allem um die sogenannten direkten Verbindungen zwischen Unternehmen und Organisationen der Mitgliedsländer und um die Gründung und das Funktionieren gemeinsamer Unternehmen. In einem 1989 vom IEMSS angefertigten kritischen Bericht 62 hieß es, daß im Laufe der letzten zwei Jahre zwischen Unternehmen und Vereinigungen der UdSSR und der RGW-Länder zwar über 1.600 Abkommen über direkte Verbindungen abgeschlossen worden seien, daß aber mit wenigen Ausnahmen die Ziele, deretwegen diese Arbeit gemacht worden sei – vor allem die Steigerung der Produktivität – nicht erreicht worden seien. Viele Abkommen konnten nicht verwirklicht werden. So waren etwa zwischen Unternehmen der UdSSR und Polens direkte Verbindungen von 250 Unternehmenspaaren vorgesehen, tatsächlich wurden aber nur zwischen einigen Dutzend Partnern Abkommen geschlossen; mit der Tschechoslowakei wurden von 230 vorgesehenen Abkommen weniger als 30 geschlossen. Dabei zeitigte die Kooperation auf der unteren Ebene praktisch keinerlei positive Auswirkung auf die gewachsene Struktur des Austausches. In dem Bericht hieß es, daß auf den gegenseitigen Austausch im Rahmen direkter Verbindungen nur insgesamt 0,2 Prozent des Warenaustausches der UdSSR mit den RGW-Ländern entfielen. Viele Verträge sahen lediglich Erfahrungsaustausch und Praktikantenaufenthalte vor, seltener die Rationalisierung und Modernisierung der Produktion oder den Austausch überschüssiger Produkte und materieller Ressourcen. Die Abkommen, deren Ziel die Entwicklung der wissenschaftlich-produktiven Zusammenarbeit war, beschränkten sich zumeist auf Zusammenarbeit „im Labor“, ohne daß sich die Ergebnisse auf die Produktion und gegenseitige Lieferungen ausgewirkt hätten. Noch schlimmer stand es um die gemeinsamen Unternehmen. Davon waren Mitte 1989 unter sowjetischer Beteiligung gerade mal fünf gegründet worden, obwohl noch weitere fünfzig vorgesehen waren. Die Erfahrungen mit ihrem Funktionieren ließen dieselben Probleme erkennen, die für alle neuen Formen der Zusammenarbeit auf der Ebene der Wirtschaftsorganisationen charakteristisch waren. Hauptursache für das Scheitern der „neuen Formen“ lag offensichtlich darin, daß die vorwiegend administrativen Methoden der Leitung der Zusammenarbeit erhalten blieben: Die Gründung gemeinsamer Unternehmen und die Herstellung direkter Verbindungen geschah fast ausschließlich unter Druck „von oben“. Hätte eine Zusammenarbeit, welche die sich schon abzeichnenden betriebswirtschaftlichen Interessen nicht nur ignorierte, sondern sogar im Widerspruch zu ihnen stand, überhaupt funktionieren können? Die meisten sowjetischen Teilnehmer hatten es mit Abkommen zu tun, in denen die festgesetzten Preise für die Produkte des Partners weit über den inländischen Industriepreisen lagen (in einigen Fällen

62 Materialien des IEMSS zu den hauptsächlichen Problemen und zu den Richtungen der Verbesserung der Integrationszusammenarbeit der RGW-Länder, 1989, für den Dienstgebrauch.

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betrug der Unterschied bis zu 200 Prozent, wie z. B. bei einigen Bauteilen für sowjetisch-bulgarische Präzisionsmaschinen für Metallbearbeitung). Die UdSSR und die DDR unterzeichneten im November 1986 Regierungsabkommen über die Einrichtung von Spezialistenkollektiven beider Länder und über direkte Verbindungen zwischen Vereinigungen, Unternehmen und Organisationen der UdSSR und Kombinaten, Unternehmen und Organisationen der DDR in der Produktion und im wissenschaftlich-technischen Bereich. Das erste sah die Schaffung von 18 gemeinsamen Kollektiven vor, das zweite die Zusammenarbeit von 160 Unternehmen und Kombinaten mit Partnern im jeweils anderen Land. Die Wirksamkeit dieser Abkommen war genau so wie bei den Abkommen mit anderen RGW-Ländern. Die meisten gemeinsamen Kollektive und direkten partnerschaftlichen Verbindungen existierten nur auf dem Papier. Ein gewisser Unterschied lag jedoch in der Spezifik der offiziellen Haltung der DDR zu den „neuen“ Formen der Zusammenarbeit begründet. In der DDR wurde zu keiner Zeit die Aufgabe gestellt, den Schwerpunkt der Integration von der „Makro-“ auf die „Mikro-Ebene“ zu verschieben, sondern es wurde im Gegenteil immer die entscheidende Bedeutung der Plankoordination als Hauptinstrument der Zusammenarbeit betont. So schrieb Staatssekretär Peter Grabley von der Staatlichen Plankommission in der DDR in einem Artikel für die sowjetische Zeitschrift Planovoe chozjajstvo (Planwirtschaft): „Bewährt hat sich in der Vergangenheit die Koordination der Pläne unter strenger Leitung der zentralen Planorgane der RGWLänder, bei aktiver Beteiligung der Ministerien, Kombinate und Außenhandelsunternehmen mit dem Ziel eines rechtzeitigen Abschlusses verlässlicher Abkommen über stabile Verbindungen im Bereich von Wissenschaft und Technik, Produktion und Warenaustausch für die nächsten fünf Jahre, wodurch, vor allem mit Hilfe von auf konkrete Erzeugnisse ausgerichteten Abkommen über gegenseitig Lieferungen und Dienstleistungen, die Grundlagen für die Ausarbeitung der nationalen Pläne geschaffen werden“.63 Hierin äußerten sich auch das Festhalten an den Prinzipien der Kommandowirtschaft und das Bestreben, die Traditionen des Warenaustausches um jeden Preis zu erhalten. Die vorrangige Aufgabe dieses halbamtlichen DDR-Organs bestand jedoch darin, die neuen Strömungen zwar nicht abzulehnen, sie aber faktisch zu ignorieren und nicht zuzulassen, daß sie sich zersetzend auf den bisherigen Mechanismus der integrativen Verbindungen auswirkten. Daher wurde in offiziellen Publikationen zu den direkten Verbindungen und anderen neuen Formen immer betont, daß sie nicht nur funktionieren, sondern daß sie erfolgreich funktionieren, so wie sie sollen. Wichtig war dabei, eine extensive Auslegung der direkten Verbindungen zu postulieren. Neigte man in der UdSSR zu der Meinung, daß direkte Verbindungen vor allem und hauptsächlich der Herstellung unmittelbarer kooperativer Produktionsbeziehungen dienen sollten, so wurde in der DDR die Formenvielfalt der direkten Verbindungen betont, wobei die Bedeutung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet

63 Planovoe chozjajstvo, Nr. 11/1987, S. 89.

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der Spezialisierung und Kooperation nicht besonders herausgestellt wurde. In einem Bericht für die 10. Tagung von Wirtschaftsexperten der UdSSR und der DDR (Taschkent, April 1985) sagte der stellvertretende Direktor des Instituts für sozialistische Wirtschaft, Professor Kunz: „Heute der einen oder anderen Form der direkten Verbindungen den Vorzug zu geben bedeutet, die weit verzweigten Möglichkeiten einer effektiven Zusammenarbeit zwischen den Wirtschaftseinheiten einzuengen und auf die potentiellen Möglichkeiten direkter Verbindungen zur allseitigen Intensivierung des Reproduktionsprozesses zu verzichten“. Das heißt also, daß unter direkten Verbindungen alle Kontakte zwischen Produktionskollektiven verstanden werden, einschließlich Erfahrungsaustausch, Vergleich unterschiedlicher Parameter gleichartiger Erzeugnisse, Freundschaftstreffen u. ä. Wie aus Äußerungen hervorging, die bei Gesprächen mit Vertretern der DDRWirtschaftswissenschaft fielen, war diese offizielle Position weitgehend gewissermaßen zwangsläufig. Die Herstellung einer kooperativen Partnerschaft von Produktionseinheiten war immer ein komplizierter und langwieriger Prozeß, der zudem im Laufe seiner Entwicklung auf etliche Hindernisse objektiver und subjektiver Art traf (etwa unterschiedliche Rechte und Pflichten der Partner, Probleme der Preisbildung für spezialisierte Produkte usw.). Außerdem konnten diese Verbindungen nur unter Vorbehalt als direkt bezeichnet werden, da sie nur im Rahmen von Plankoordinierung zustande kommen konnten, und die ist in der Regel mit vielen langen und schwierigen Abstimmungen zahlreicher Einzelfragen verbunden. Eines der Hauptsächlichen Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung kooperativer Beziehungen – und insbesondere direkter Verbindungen – von Partnern aus der DDR und der Sowjetunion sahen die Wirtschaftswissenschaftler der DDR in der unzureichenden Qualität und im niedrigen technischen Standard der gegenseitig gelieferten Produkte (hierbei dachten sie vor allem an maschinentechnische Erzeugnisse aus der UdSSR). Alle diese Gründe trugen dazu bei, daß die Zusammenarbeit zwischen Partnern aus der UdSSR und der DDR im Bereich der gesamten Kette „gemeinsame Forschungen – Produktion – Austausch spezialisierter Produkte“ auf Einzelbeispiele beschränkt blieb und daß gegenseitige Lieferungen von Baugruppen und Werkstücken im Rahmen der Zusammenarbeit nur eine unbedeutende Größe ausmachten. In der DDR, wo man unter direkten Verbindungen normale partnerschaftliche Beziehungen von Produktionseinheiten der zusammenarbeitenden Länder verstand, wurde betont, daß solche direkten Verbindungen schon seit langer Zeit bestünden, ihrer Herstellung und Vervollkommnung stünden keine Hindernisse in Form objektiv bedingter Unterschiede in den Mechanismen des Zusammenwirkens der Industrien und des Außenhandels unserer Länder im Wege, und der Stand der Dinge bei der Entwicklung direkter Verbindungen könne als vollkommen zufriedenstellend gelten. Dabei trat die DDR für eine Aktivierung der direkten Verbindungen vor allem im Bereich von Wissenschaft und Technik ein, da dies weitere Möglichkeiten für eine Teilhabe am wissenschaftlich-technischen Potential der UdSSR bot. Es ist anzumerken, daß die Haltung der DDR zu einer Spezialisierung im Rahmen des RGW, die tiefer geht als auf eine Zusammenarbeit zwischen den

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Branchen, schon lange vor dem Aufkommen der „neuen Formen“ formuliert wurde. Diese Haltung wurde von Erich Honecker bestätigt, der auf der Beratung des ZK der SED mit den ersten Sekretären der Kreisleitungen am 17. Februar 1978 erklärte: Einfach ‚wegzuspezialisieren’, um freie Kapazitäten zu gewinnen, mag manchen Betrieb für den Moment entlasten, aber auf lange Sicht führt es oft zu Problemen. Immer geht es um die Effektivität der ganzen Volkswirtschaft … Noch einmal sei auf die Festlegungen verwiesen, wonach niemand das Recht hat, die Produktion von Erzeugnissen der DDR einzustellen, solange die zu importierenden Produkte in unserem Lande nicht erprobt, kommerzielle Verträge über ihren Import abgeschlossen und die planmäßige Belieferung gewährleistet sind. Der Ausbau der Spezialisierung und Kooperation auf der Grundlage des gegenseitigen Vorteils muß vor allem darauf gerichtet sein, in den Zweigen der metallverarbeitenden Industrie die Produktion hocheffektiver Finalerzeugnisse, einschließlich kompletter Anlagen, für die allseitige Stärkung unserer Exportkraft zu entwickeln. Gerade die Erzeugnisse und kompletten Anlagen dieser Zweige bilden eine wichtige Voraussetzung für die Sicherung unserer Rohstoffimporte aus der UdSSR und den anderen RGW-Ländern. Zugleich sind sie für den Export der DDR in die nichtsozialistischen Länder von größtem Gewicht.64

Auf dieser Grundlage ließ sich technologische Zusammenarbeit mit Partnern aus den RGW-Ländern nur vereinbaren, wenn sie unmittelbar zur Erweiterung des Exports von Fertigerzeugnissen, vor allem für die Bezahlung der Rohstoffimporte aus der UdSSR, beitrug. Die Herstellung und Entwicklung direkter Verbindungen zwecks Produktion bestimmter Erzeugnisse auf Kooperationsbasis setzte eine Intensivierung des gegenseitigen Austausches von Baugruppen und Werkstücken und verstärkte technologische Anbindung an die RGW-Partner voraus und stand insofern offensichtlich im Widerspruch zu dem in der DDR geltenden Konzept der Spezialisierung und Kooperation im Rahmen des RGW. Die diesem Konzept zugrunde gelegten und von den DDR-Kombinaten herausgegebenen Planziffern waren lediglich auf solche unmittelbaren Kontakte mit Partnern aus der UdSSR angelegt, die bei minimalem Umfang des gegenseitigen Austausches von Kooperationsprodukten maximal zur Ausweitung des Exports dieser Produkte beitrugen. Anfang der neunziger Jahre wurde der sowjetischen Seite endgültig klar, daß, wenn man im Rahmen der starren Ausgewogenheit aller Lieferungen blieb und für Verrechnungen den Transfer-Rubel benutzte, die Änderung der überkommenen Praxis der Zusammenarbeit mit der DDR und den anderen RGW-Ländern nicht möglich war, was auch immer an neuen Formen und Methoden der Zusammenarbeit vorgeschlagen werden mochte. – Übergang zur Verrechnung in frei konvertierbarer Währung: Der Entschluß, in den Beziehungen zu den RGW-Ländern zu Verrechnungen in frei konvertierbarer Währung überzugehen, „reifte“ in der Sowjetunion gegen Ende des

64 Neues Deutschland, 18./19.02.1978.

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Fünfjahresplans 1986-1990. Dabei wurde dieser Entschluß aber weder in wissenschaftlichen Kreisen vorbereitet noch ging von diesen die entsprechende Initiative aus. Im IEMSS, der hauptsächlichen Forschungsinstitution, die sich mit Problemen des RGW befaßte, wurden zu der Zeit andere Varianten zur Verbesserung des Verrechnungssystems geprüft. In den erwähnten „Materialien zu den hauptsächlichen Problemen und zu den Richtungen der Verbesserung der Integrationszusammenarbeit der RGW-Länder“, die vom IEMSS für die „Direktivorgane“ erarbeitet wurden, wurden auf dem Gebiet der Währungs- und Kreditbeziehungen im einzelnen folgende Maßnahmen vorgeschlagen: 1. Erhalt des Anwendungsbereichs des Transfer-Rubel für Verrechnungen bei Lieferungen von Brennstoffen, Rohstoffen, Energie und Nahrungsmitteln. 2. Festsetzung eines ökonomisch fundierten Kurses des Transfer-Rubel gegenüber dem Dollar auf der Basis der Wechselkurse der nationalen Währungen der RGW-Länder (analog zur Berechnung des ECU-Kurses zum Dollar). 3. Erweiterung des Anwendungsbereichs der nationalen Währungen in gegenseitigen Verrechnungen zwischen den interessierten Ländern. 4. Kürzung der Zahl der Warenkontingente in Naturalform in den Fünfjahresabkommen und den Jahresprotokollen über Warenaustausch und Erhöhung des Anteils der nach Wert berechneten Kontingente. 5. Zulassung von Mitbewerbern aus den RGW-Ländern zum Großhandelsbinnenmarkt der UdSSR bei Gestattung der Verrechnung in deren nationaler Währung. 6. Einführung der inneren Konvertibilität des sowjetischen Rubel (nach dem Beispiel Polens und Bulgariens). 7. Auf lange Sicht Umwandlung des Transfer-Rubel in eine Reservewährung der RGW-Länder, allmähliche Herbeiführung einer Währungsunion des RGW. Hauptziel aller dieser Vorschläge war der Erhalt des RGW als Wirtschaftsunion. Dabei waren die meisten Spezialisten des IEMSS der Ansicht, daß die Einführung harter Währung in die gegenseitigen Verrechnungen und die Zugrundelegung von Weltmarktpreisen für die osteuropäische Integration eher schädigend als rettend wirken würde. Man glaubte, diese Maßnahmen würden nur zusätzliche Probleme schaffen, u. a.: -

das Problem der Deckung eines unausgeglichenen Saldos bei Devisenmangel in allen RGW-Ländern;

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Rückgang des bilateralen Warenumsatzes auf das Niveau des schwächsten Partners;

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aufkommendes Absatzproblem für Waren auf Außenmärkten (außerhalb des RGW), d. h. für Waren, die aus dem RGW-Markt hinausgedrängt werden;

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-

Verschärfung des Problems der Verrechnungen zwischen Unternehmen mit direkten Verbindungen.65

Nach unserer Ansicht werden aber alle diese Mängel durch einen Vorteil wettgemacht, der beim Übergang auf harte Devisen und laufende Weltmarktpreise in den Verrechnungen mit den RGW-Ländern entstehen würde: In den Handelsbeziehungen mit diesen Ländern würden sich auf diese Weise reale wertmäßige Proportionen herausbilden, und das wiederum würde ausschließen, daß bei der Integration politische Motive über die wirtschaftlichen dominieren. Natürlich würde das die Gefahr eines Zerfalls des RGW als Organisation in sich bergen, was ja letztlich auch geschah. Aber an sich sagte der Zerfall des RGW nur darüber etwas aus, was letzten Endes der Preis für eine solche Quasi-Wirtschaftsunion ist. Aber wie auch immer, auf der 45. RGW-Tagung im Januar 1990 war es gerade die sowjetische Delegation, die den Vorschlag machte, bei den Verrechnungen im gegenseitigen Handel auf frei konvertierbare Währung zu Weltmarktpreisen überzugehen. Paradox erschien dabei, daß sich die UdSSR aktiver als die meisten anderen Mitgliedsländer für den Erhalt des RGW als Wirtschaftsblock – wenn auch mit modifizierten Funktionen – einsetzte. Dieser Widerspruch erklärt sich nach unserer Ansicht daraus, daß die Positionen der sowjetischen Seite damals von den Ansichten (und Kalkulationen) der Vertreter von Gosplan und vom Außenhandelsministerium der UdSSR bestimmt wurden. So sollte nach den Angaben von Gosplan der Übergang auf das neue Verrechnungssystem dem Staatshaushalt weitere Mittel zuführen. Von den Zukunftsperspektiven des RGW hatte man in diesen Behörden nur ein äußerst nebelhaftes Bild, jedenfalls wurde sein Auseinanderbrechen in nächster Zukunft nicht vorausgesehen. Offen gegen die Einführung der neuen Regeln war auf der 45. Tagung nur eine Delegation: die kubanische.66 Die Vertreter der anderen Länder stimmten dem Vorschlag der UdSSR zu und sprachen sich wenn schon nicht für die Auflösung des RGW (wie es die tschechoslowakische Delegation tat), so doch für seine grundlegende Erneuerung aus. Die Position der DDR, deren Delegation von Prof. Christa Luft geleitet wurde, war zwar schon nicht mehr so konservativ wie früher, zeichnete sich aber auch nicht gerade durch Radikalismus aus. In ihrer Rede legte Frau Luft größeres Gewicht auf Probleme technokratischer Art (die Aussichten für die Durchführung des Komplexprogramms für wissenschaftlich-technischen Fortschritt, die Erhöhung des wissenschaftlichen Aufwands) als auf Fragen einer Veränderung des Charakters der Zusammenarbeit. Sie war der Ansicht, der Übergang zum marktwirtschaftlichen Modell sei notwendig, müsse aber vorsichtig ausgeführt werden. Auf einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Tagung erklärte Frau Luft, man solle lieber nicht daran denken, wie man den RGW zerstört, sondern daran, wie man die Menschen ernährt und ihnen Arbeit sichert. 65 SĖV: segodnja i zavtra. Itogi zasedanija kruglogo stola IĖMSS, Moskau, Februar 1990. 66 Einzelheiten über die 45. RGW-Tagung werden auf der Basis eines Berichts dargestellt, den das Mitglied der sowjetischen Delegation Professor W. M. Schastitko im IĖMSS gab.

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Schließlich wurde auf der 45. Tagung der Beschluß gefaßt, ab 1991 zur Verrechnung in harter Währung zu aktuellen Weltmarktpreisen überzugehen, und zwar „asynchron“, d. h. nicht gleichzeitig mit allen Ländern, sondern je nach deren wirtschaftlicher Lage. Bestimmte Umstände gestatteten nicht nur, sondern verlangten vernünftigerweise den Übergang zum Handelsaustausch unter Marktbedingungen schon ab Mitte 1990, zumindest jedenfalls mit einem RGW-Land: der DDR. Aber bekanntlich kamen die Beamten der UdSSR den Wünschen der deutschen Seite entgegen, und die alte Verrechnungsweise wurde bis Ende 1990 beibehalten. Nach der Vereinigung – Die Vereinigung Deutschlands und die Wirtschaftsinteressen der UdSSR: Es fehlt heute (1995) nicht an ernsthaften und tiefgehenden Untersuchungen der Frage nach der Rolle der Sowjetunion und der persönlichen Rolle Michail Gorbatschows bei der Vereinigung Deutschlands. Allgemein bekannt ist, daß die Sowjetführung zunächst eine Perestroika in der DDR und keine Vereinigung wollte, und ebenso, daß sich der Prozeß dermaßen dynamisch und unvorhersagbar entwickelte (für die sowjetische Seite kam der Ausgang der ersten freien Wahlen in der DDR überraschend, man hatte mit einem Sieg der Sozialdemokraten gerechnet),67 daß man die konkreten politischen Entscheidungen im Eilverfahren an diesen Prozeß anpassen mußte. Hatte die sowjetische Seite auch die politischen Folgen der Vereinigung durchkalkuliert, so doch nur in ganz groben Zügen. Und was die wirtschaftlichen Überlegungen betrifft, so existierten sie, wenn überhaupt, nur auf der allerhöchsten gesamtwirtschaftlichen Ebene. Letztlich wurden, wie aus den praktischen Schritten der sowjetischen Seite hervorging, die wirtschaftlichen Interessen lediglich als Ergänzung zu den politischen Interessen angesehen, zudem war sowjetischerseits keine detaillierte Berechnung solcher Vereinigungsfolgen wie z. B. das Schicksal des Saldos in den Handelsbeziehungen UdSSR – DDR der letzten Jahre und der Abzug von 20 Divisionen aus Ostdeutschland angestellt worden. Man kann Dr. Gerhard Wettig nur zustimmen, der meint, daß sich die Logik der „Ökonomisierung“ der Beziehungen zu den RGW-Partnern in gewisser Weise auf die Position der UdSSR bezüglich des Schicksals der DDR ausgewirkt habe.68 Wie jedoch Spezialisten der Staatlichen Plankommission der UdSSR, die sich immer mit der DDR befaßt hatten, im März 1990 zugaben, traf sie der Vereinigungsprozeß völlig überraschend.

67 Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990, den ersten freien Wahlen im Gebiet der DDR seit 1933, gewann die CDU 40,8 %, die SPD 21,9 %, das Bündnis 90 2,9 %, der Bund Freier Demokraten 5,3 % und die PDS (= Ex-SED) 16,3 %. 68 Wettig, Gerhard: Die sowjetische Rolle beim Umsturz in der DDR und Einleitung des deutschen Einigungsprozesses, in: Beiheft 3 der Historischen Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Stuttgart 1992.

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In den in Moskau sofort nach den DDR-Wahlen aufkommenden Diskussionen, die zumeist hinter verschlossenen Türen stattfanden – in Form verschiedener „runder Tische“ und Besprechungen, zu denen nur ein enger Kreis von Spezialisten hinzugezogen wurde – wurde der „wirtschaftliche Faktor“ sowohl von den Gegnern als auch den Befürwortern der schon unvermeidlich gewordenen Vereinigung Deutschlands als Argument ins Feld geführt. Die ersteren, zu denen ein bedeutender, wenn nicht gar der größte Teil der Mitarbeiter des Außenministeriums zu zählen ist, waren der Meinung, daß die wirtschaftlichen Konsequenzen einer „Einverleibung“ der DDR für die UdSSR unter negativem Vorzeichen stehen würden. Zu den möglichen direkten und indirekten Verlusten zählten sie insbesondere: - eine Verkomplizierung der rechtlichen Grundlagen der Handelsbedingungen in den Beziehungen zu Ostdeutschland, da dort ein neues Wirtschaftsrecht eingeführt werden mußte; - ein steiles Absinken des gegenseitigen Warenaustausches; - die Einstellung der technischen Hilfe durch beide Seiten; - eine Verschärfung des Solvenzproblems der UdSSR. Die Vertreter der Wissenschaft erkannten zwar den Rückgang des Handelsvolumens und anderer Richtungen der Zusammenarbeit als real und unvermeidlich an, meinten aber gleichzeitig, daß dies nur zur Gesundung der Beziehungen beitragen werde und es letztlich ermöglichen werde, sich vom Ballast ineffektiver Warenströme zu befreien. Die Spezialisten aus den Forschungsinstituten riefen dazu auf, bei den Verrechnungen mit der DDR auf harte Währung überzugehen, was ein steiles Absinken der Rohstoffexporte aus der UdSSR und die Reinigung des Imports von nicht konkurrenzfähigen Produkten ostdeutscher Betriebe zur Folge haben würde. Wie die nachfolgende Entwicklung zeigte, setzte sich in der UdSSR die quasipragmatische Linie von Gosplan und den anderen obersten sowjetischen Wirtschaftsbehörden durch. Wie schon erwähnt, waren die Beamten, die die Hauptrichtungen der außenwirtschaftlichen Verbindungen der Sowjetunion festlegten, auf eine Wende der Ereignisse in der DDR nicht vorbereitet. Und ihr erster Antrieb, der letztlich die nachfolgende Wirtschaftspolitik der UdSSR gegenüber den östlichen Bundesländern bestimmte, war das Bestreben, so viel wie möglich von dem bisherigen Mechanismus und der Struktur der Verbindungen zu erhalten. Natürlich ging es hier um den Erhalt sogenannter „gesunder Richtungen“. Aber die Wahl der Prioritäten konnten die obersten Wirtschaftsbehörden der UdSSR nur von der Position des sowjetischen Technokratismus aus treffen, während den Berechnungen der wirtschaftlichen Effektivität unter Berücksichtigung der realen Weltmarktpreise und der realen Interessen der Akteure auf den Märkten nur zweitrangige Bedeutung beigemessen wurde. Die Vertreter von Gosplan hielten es z. B. im Interesse einer „ungestörten Sicherstellung des Funktionierens des sowjetischen Volkswirtschaftskomplexes“ für erforderlich, die Lieferung solcher Pro-

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dukte aus Ostdeutschland aufrechtzuerhalten, für die sich ein „ständiger Bedarf“ sowjetischer Auftraggeber ergeben hatte. Dazu gehörten: -

polygraphische Ausrüstungen; Ausrüstungen für Leichtindustrie (insbesondere automatische Rundstrickmaschinen); Gußautomaten; Chemische Ausrüstungen; Personen- und Kühlwaggons; Chemische Produkte; Dünnes Stahlblech u. v. m.

Um die Warenströme konstant zu halten, wurde vorgeschlagen, die Praxis zwischenstaatlicher Vereinbarungen fortzusetzen und sogar das bisherige Verfahren der Plankoordinierung möglichst unangetastet zu lassen. Zur Durchsetzung dieser behördlichen Konzeptionen trugen, wie es scheint, vor allem die folgenden Kalkulationen (genauer: Fehlkalkulationen) und Überlegungen bei: Erstens wurde vorgeschlagen, daß der Export und der Import nach wie vor hauptsächlich von den Zentralverwaltungsorganen durchgeführt werden sollte; zweitens war nicht die Möglichkeit vorgesehen, die Prinzipien der inneren Preisbildung zu verändern, somit galt auch auf lange Sicht der Mangel an staatlich beschafften Maschinen, Ausrüstungen und Chemieprodukten als unausweichlich; drittens rechnete man damit, daß die DDR-Unternehmen unter dem Druck der Konkurrenz genötigt sein würden, ihre Preise erheblich zu senken; und schließlich spielte viertens der Umstand eine nicht geringe Rolle, daß die sowjetische Seite Anfang 1990 gegenüber der DDR einen soliden positiven Zahlungsbilanz-Saldo von etwa 2 Mrd. Transfer-Rubel angesammelt hatte. Die Folgen dieser behördlichen Politik, das alte Modell der Wirtschaftsverbindungen zu konservieren, sprechen für sich: Die Sowjetunion der PerestroikaPeriode war nicht nur nicht in der Lage, einen auch nur einigermaßen bedeutenden wirtschaftlichen Vorteil aus der Vereinigung Deutschlands zu ziehen, sondern sie erlitt sogar erhebliche Verluste, da sie in die Zange einer katastrophal erhöhten Verschuldung geriet. – Die Schlussphase der Wirtschaftsbeziehungen UdSSR – DDR: So wie in der UdSSR war man auch in der DDR der Modrow-Periode der Meinung, daß es weder möglich noch zweckmäßig sei, die gewachsenen Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion auf einen Schlag zu ändern und daß die bestehenden gegenseitigen Abhängigkeiten für eine Übergangszeit ihre Bedeutung behalten müßten. Von entscheidender Bedeutung war offensichtlich der Erhalt der Absatzmöglichkeiten für fertige Produkte in der UdSSR. In diesem Sinne bedeutete der Verlust oder Erhalt des sowjetischen Marktes ein „Ja“ bzw. „Nein“ zur Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Der Import von Rohstoffen aus der UdSSR verlor dabei seine Bedeutung als wichtiger Faktor für das Fortbestehen des volkswirtschaftlichen Komplexes.

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Wirtschaftsspezialisten der DDR, und zwar Wissenschaftler ebenso wie Manager, verhehlten nicht ihr Interesse daran, daß die Sowjetunion in der Übergangsperiode die DDR-Unternehmen mit ihren Aufträgen unterstützen und es so ermöglichen sollte, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen Folgen des Anschlusses an die Bundesrepublik abzumildern. Dabei ging man, wie aus Äußerungen in Gesprächen und Diskussionen hervorging, davon aus, daß der sowjetische Markt, verglichen mit anderen, auf absehbare Zukunft weiterhin wenig anspruchsvoll sein werde und daß die sowjetischen Verbraucher „selbst über Socken aus der DDR froh sein“ werden. Man glaubte, daß die sowjetische Industrie mit Ausnahme weniger Betriebe bis auf weiteres nicht in der Lage sein werde, moderne westliche Technologien aufzunehmen und daß der technische Standard der DDR-Produkte den Ansprüchen der sowjetischen Verbraucher vollauf genügen werde. Außerdem hätten sich die sowjetischen Unternehmen an bestimmte Techniken aus der DDR angepaßt, und eine Umorientierung würde mit einem zu hohen Kostenaufwand verbunden sein. Dagegen wurden die Exportmöglichkeiten der UdSSR nicht hoch eingeschätzt. Und da der Bedarf der DDR an importierten Rohstoffen sinken mußte (so entfiel etwa die Notwendigkeit, sowjetische Rohstoffe in Form von primär verarbeiteten Produkten zu reexportieren, um harte Währung zu gewinnen), war mit einem raschen Anstieg des Handelsbilanzsaldos zugunsten Ostdeutschlands zu rechnen. Vor allem aber gründete sich das Kalkül der DDR-Spezialisten auf die Annahme, daß es der Sowjetunion in nächster Zeit nicht gelingen werde, zur Marktwirtschaft überzugehen und dementsprechend die Prinzipien ihrer Außenwirtschaftspolitik zu ändern. Auch in der Bundesrepublik wußte man die Bedeutung eines Erhalts der traditionellen Wirtschaftsverbindungen mit der UdSSR zu schätzen, wenn auch bezweifelt wurde, daß sie sich für eine längere zeit aufrechterhalten ließen. Daß man am Erhalt der ostdeutschen Unternehmen interessiert war, stand im Hinblick nicht nur auf die wirtschaftlichen, sondern auch auf die sozialen und politischen Folgen außer Zweifel.69 Denn diese Verbindungen wurden als eine Art „Brücke nach Osten“ angesehen, deren Bedeutung auf längere Sicht noch zunehmen konnte. Fand diese von DDR-Spezialisten geäußerte „marktfeindliche“ Idee, die der direkten Subventionierung der für die UdSSR produzierenden Kombinate dienen sollte, auch in der Bundesrepublik keine Unterstützung, so reichten doch, wie sich herausstellen sollte, die getroffenen Maßnahmen aus, um das Konzept der Exportexpansion der ostdeutschen Industrie zu verwirklichen. Dazu wurden bekanntermaßen folgende Hebel angesetzt: -

Die Bundesrepublik proklamierte das Prinzip des „Vertrauensschutzes“, durch das die Erfüllung der von der DDR-Seite übernommenen Verpflichtungen gegenüber ausländischen Partnern gewährleistet wurde;

69 Vogel, H.: Die Vereinigung Deutschlands und die Wirtschaftsinteressen der Sowjetunion, in: Europa-Archiv Nr. 13/14, 1990.

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-

es wurde ein System der staatlichen Bürgschaft für Exportkredite durch die Hermes AG eingeführt; die durch Warenlieferungen in die UdSSR und andere RGW-Länder erlösten Transfer-Rubel wurden zu einem für die ostdeutschen Unternehmen äußerst vorteilhaften Kurs in DM umgerechnet. Außerdem blieb die zentrale Regelung der gegenseitigen Lieferungen von Gütern aus den sogenannten Indikativlisten faktisch erhalten. Diese umfaßten etwa die Hälfte der Anfang 1990 bestehenden Warenströme und beinhalteten hauptsächlich Rohstoffe und Energieträger im Export der UdSSR und Erzeugnisse des Maschinenbaus, der chemischen Industrie und Konsumgüter im Export Ostdeutschlands70 (die Indikativlisten waren auf Initiative der Staatlichen Plankommission der UdSSR eingeführt worden und waren ein Musterbeispiel für voluntaristischtechnokratisches Vorgehen, denn die Priorität der Güter wurde anhand von früheren Vorstellungen bestimmt; die Effektivität dieser Maßnahme für die sowjetische Volkswirtschaft war höchst zweifelhaft).

Da es der sowjetischen Seite an einer durchdachten und klaren Konzeption zur Entwicklung der Außenwirtschaftsverbindungen in der Übergangsperiode fehlte, kam es 1990-1991 zu einem steilen Anstieg der Auslandsverschuldung, vor allem gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch in den Beziehungen zu den anderen RGW-Ländern sah die Situation nicht viel besser aus.

70 Veröffentlichungen in Ost-Markt Hefte, Nr. 15 und 16, 1991.

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Außenhandel der UdSSR mit den europäischen RGW-Ländern 1989-1990 (Mio. Rubel)

1989

1990

1991

Bulgarien

Export Import Saldo

6.170,5 7.307,1 - 1.136,6

7.492 9.907 - 2.415,8

2.243,9 3.741,5 - 1.497,6

Ungarn

Export Import Saldo

4.187,7 4.813,3 - 625,6

6.927,0 7.125,8 - 198,8

3.092,1 2.312,0 + 720,1

Polen

Export Import Saldo

6.298,0 7.109,3 - 811,3

7.908,3 12.763,7 - 4.855,4

4.036,8 3.473,2 + 563,6

Rumänien

Export Import Saldo

2.344,1 2.431,2 - 87,1

4.731,0 1.784,2 + 2.964,8

1.718,3 1.571,1 + 147,2

Tschechoslowakei

Export Import Saldo

6.384,6 6.817,3 - 432,7

8.803,6 10.031,0 - 1.227,4

5.081,6 4.197,8 + 883,9

DDR

Export Import Saldo

7.193,2 7.024,4 + 168,8

4.291,4 7.212,9 - 2.921,5

… … …

Quellen: Vnešneėkonomičeskie svjazi SSSR v 1989 g., Moskau: Finansy 1990; Vnešneėkonomičeskie svjazi v 1991 g., Moskau: Finansovyj inžiniring 1991. Für die DDR 1990 wurden Angaben der Handelsvertretung der UdSSR in Berlin verwendet.

Als 1990 zur Verrechnung in harter Währung übergegangen wurde, war es für alle Mitgliedsländer offenbar vorrangig, für einen positiven Saldo im Handel mit ihrem hauptsächlichen Partner, der UdSSR, zu sorgen. Dieses Ziel erreichten mit Ausnahme Rumäniens alle osteuropäischen Länder, wobei die besten Resultate von Polen und der DDR erzielt wurden. In der UdSSR stellte man sich eine Aufgabe anderer Art: Hier ging es darum, die Transfer-Rubel zu benutzen, um ein größtmögliches Volumen an gekauften Gütern zu sichern. Der Saldo im Handel mit den einzelnen Ländern wurde, wie man sieht, nicht streng kontrolliert. Außerdem wurden die möglichen Varianten einer Konvertierung des angesammelten Saldos in ein Dollar-Äquivalent nicht durchgerechnet. Sie die bilateralen Verhandlungen zum Problem der Saldo-Umrechnung zeigten, war die Position der sowjetischen Seite erheblich schwächer als die der kleinen RGW-Länder. Die sowjetischen Beamten konnten (oder wollten) in den Verhandlungen nicht das Argument der Nichtäquivalenz im Warenaustausch nach der Formel „Rohstoffe gegen Fertigprodukte“ anführen, die die Basis dafür bildete, daß die kleinen RGW-Länder – vor allem durch Lieferungen nicht weltmarktfähi-

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ger Produkte – einen positiven Saldo erzielten. Der für die UdSSR negative Saldo im Handel mit Ungarn wurde zum Kurs 1 TR = 0,92 US-Dollar umgerechnet, mit der Tschechoslowakei dagegen zum Kurs 1 TR = 1 US-Dollar. Noch stärkeres Befremden muß aber der Umrechnungskurs des TransferRubel in DM hervorrufen, der bekanntlich 1 TR = 2,32 DM betrug, d. h. im Handel der UdSSR mit der DDR wurde der Transfer-Rubel um ca. 1,4 mal höher bewertet als etwa im Handel mit der Tschechoslowakei. Grundlage für dieses Umtauschverhältnis war die Argumentation der deutschen Seite, daß die ostdeutsche Mark im Verhältnis 2 Mark der DDR = 1 DM umgetauscht werde71 (fraglich bleibt nur, was das mit dem Außenhandel der DDR zu tun hatte). Als fundierter könnte ein Kurs von 1 Rubel = 1 DM gelten, wenn man die innere Bewertung des Rubel und der DM Ende der achtziger Jahre in der DDR zugrundelegt. Obwohl Moskau versuchte, das Problem der Umrechnung und der Verschuldung insgesamt mit der Lösung anderer Probleme zu verknüpfen, u. a. mit der Frage der Übergabe der von der UdSSR in den ostdeutschen Ländern genutzten Gelände und Gebäude und der Finanzierung des Abzugs der sowjetischen Truppen, blieben die Versuche, einen Kompromiß zu erzielen, ergebnislos. Die UdSSR war so zum Schuldner der DDR geworden, und die Schuld betrug 15 Mrd. Mark (nach anderen Berechnungen 17,1 Mrd. Mark). Unter den sowjetischen Beamten, die sich zu der Zeit mit der Außenwirtschaftspolitik befaßten, war die Überzeugung verbreitet, daß der Grund für das Scheitern des sowjetischen Außenhandels in der, wie sie meinten, übermäßigen Liberalisierung lag: die Unternehmen, die Zugang zum Auslandsmarkt hätten, würden mit allen Mitteln ihren Appetit stillen, ohne sich um die Folgen für das Land zu kümmern. Die Fakten besagen jedoch etwas anderes. 1990 besaß der Staat noch genügend Hebel, um den Außenwirtschaftsbereich zu steuern, und die Käufe, die den steilen Anstieg des Negativsaldos bewirkten, wurden hauptsächlich von staatlichen Organen getätigt. Gerade sie waren es, die es nicht vermocht hatten, dem starken behördlichen Druck unter dem Motto der „Sicherung der Lebensfähigkeit der Volkswirtschaft“ zu widerstehen. In einer Zentralverwaltungswirtschaft fügen sich, wie die Praxis mehrfach gezeigt hat, die behördlichen Interessen nur selten mit den Interessen der Wirtschaft eines Landes insgesamt zusammen, in der Regel stehen sie, wie die gesamte Geschichte der Mitarbeit der UdSSR im RGW bestätigt, im Gegensatz zu ihnen. Die Schlussphase der Existenz dieser Organisation bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Bestätigt wird das auch durch den Handel der UdSSR mit den neuen Bundesländern nach 1990. Obwohl die Produkte der ostdeutschen Unternehmen nach ihren Parametern noch nicht mit den entsprechenden westlichen Produkten gleichgezogen hatten, wurden sie nach den bisherigen erhöhten Kriterien bewertet, jetzt aber in harter Währung. In ihrer Mehrzahl wurden sie nach dem zentralen Ankauf so wie früher an die Verbraucher in der UdSSR „verkauft“, wobei ein be-

71 Handelsblatt, 14.06.1991.

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sonders stark erniedrigter Wechselkurs zugrunde gelegt wurde, d. h. für den Verbraucher waren diese Produkte um ein Vielfaches billiger als für den Staat. Mangels ausreichender Zahlen ist es gegenwärtig (1995) nicht möglich, die Effektivität der in den letzten Jahren in der DDR gekauften Technik in der Volkswirtschaft der UdSSR zu untersuchen. Hier soll nur ein Beispiel genannt werden, das aber sehr bezeichnend ist, und zwar schon allein deshalb, weil solche Käufe bis heute getätigt werden. Die Rede ist von Personenzugwaggons aus Amensdorf. 1991 sollten entsprechend einer Vereinbarung 1.022 in der DDR hergestellte Personenzugwaggons im Gesamtwert von 1 Mrd. Mark in die UdSSR geliefert werden.72 Die obersten Beamten des Ministerrats der UdSSR und erst recht des Verkehrsministeriums bestanden darauf, daß dieser Import von vorrangiger Bedeutung war. Nur wurden dabei einige Tatsachen nicht beachtet wie etwa die, daß die in der UdSSR schon vorhandenen Waggons äußerst ineffektiv genutzt wurden. so stand ungefähr die Hälfte von ihnen wegen Reparaturbedürftigkeit still. Zudem konnte sich ein 1 Mio. Mark teurer Eisenbahnwaggon, wenn man die zu der Zeit geltenden Eisenbahntarife zugrunde legt, erst nach 500 Jahren ununterbrochenen Einsatzes amortisieren. In Moskau aber fanden sich sehr starke Befürworter eines Weiterimports aus Ostdeutschland. Mehr noch: Sie haben ihren Einfluß bis heute behalten. 1994 wurde während des Besuchs des russischen Präsidenten in Bonn eine Vereinbarung über den Kauf von Abteilwaggons auf Kredit in Höhe von insgesamt 500 Mio. DM unterzeichnet. Die Fragwürdigkeit dieses Geschäfts wird im Licht der folgenden Umstände noch verstärkt: -

der Kredit wurde bei einem bestehenden großen Haushaltsdefizit aufgenommen, wodurch Rußland seine Verschuldung gegenüber der Bundesrepublik noch weiter erhöht;

-

in Twer in Rußland ist in den vergangenen Jahren ein Werk für den Bau von Abteilwaggons umgerüstet worden, und der Kauf solcher Waggons in Ostdeutschland gefährdet den Erhalt von 1.500 Arbeitsplätzen in dem russischen Betrieb;

-

der russische Waggon besitzt im Unterschied zum ostdeutschen bislang keine Klimaanlage, ansonsten steht er ihm in nichts nach, nur ist der Preis des russischen Waggons mehr als viermal niedriger als der seines deutschen Gegenstücks, und zum Zeitpunkt der Auszahlung der Kredite kann der Preis für die Waggons aus Ostdeutschland, in Rubel ausgedrückt, viel schneller steigen als der Preis für einen Waggon aus Twer.73

Dieses jüngste Waggongeschäft ist, wie wir meinen, ein Überbleibsel des alten Modells der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der UdSSR und der DDR als Teilnehmer einer Branchenspezialisierung innerhalb des RGW, und dabei ist Ruß-

72 Bericht des Vorstands der Deutschen Waggonbau AG vom 29.10.1990 (in russischer Sprache). 73 Finansovye izvestija, Nr. 43, 27.9.1994, Beilage zur Zeitung Izvestija.

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land wieder in der Rolle eines staatlichen „Händlers“ aufgetreten, und zwar eines solchen, der zum Schaden seines Haushalts „handelt“. Dieses Modell hat, wie es scheint, auch in der Schlussphase der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der UdSSR und den neuen Bundesländern keine wesentlichen Veränderungen erfahren: Wenn der Komplex der von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen, vor allem das Finanzierungssystem durch „Hermes“Bürgschaften, dazu bestimmt war, zum Erhalt der ostdeutschen Unternehmen und zur Aufrechterhaltung des Osthandels beizutragen, so wurde, wenn man von den Wirtschaftsinteressen der ehemaligen UdSSR ausgeht, die zweite Hälfte der Aufgabe nicht erfüllt. Die Fortführung des Kaufs des im wesentlichen gleichen Warensortiments aus Ostdeutschland auf Kredit kann man kaum als Handel oder gegenseitig vorteilhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit bezeichnen, auch wenn sowjetische Beamte und einflußreiche Lobbyisten, die an dieser Praxis beteiligt waren, vermutlich am entgegengesetzten Standpunkt festhalten. Für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Rußland und Ostdeutschland bestehen sicherlich gute Aussichten. Dazu bedarf es nach unserer Ansicht ihrer „Entstaatlichung“, d. h. des Übergangs auf die Ebene unmittelbarer Geschäftskontakte zwischen den Unternehmen. Dabei soll aber die staatliche Beteiligung an der Sicherung der Stabilität der Verbindungen nicht verschwinden, besser wäre es, wenn sie neue Funktionen erhielte, und zwar sollten beide Seiten „Rahmenbedingungen“ zur Entwicklung des Handels und aller möglichen Formen der Kooperation schaffen, und sie sollten die größten und bedeutendsten Projekte wie die Erschließung von Rohstoffvorkommen in Rußland und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Konversion unterstützen. Zweckmäßig wäre auch die Schaffung eines besonderen deutsch-russischen Fonds zur Förderung der Zusammenarbeit kleiner und mittlerer Firmen beider Länder. Aus diesem Fonds könnten kommerzielle Risiken in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen abgesichert werden. Aber die Tradition der „brüderlichen“ Beziehungen UdSSR – DDR sollte man Vergangenheit sein lassen.

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4. Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel: Die DDR Ende 1989 am Rande der Zahlungsunfähigkeit Von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt74 Charakterisierung: Der Innerdeutsche Handel (IDH) umfaßte den Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen der früheren Bundesrepublik Deutschland und Berlin (-West) mit der DDR und Berlin (-Ost). Entstanden war er aus dem ursprünglich als Interzonenhandel bezeichneten Warenaustausch zwischen den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands und der Sowjetischen Besatzungszone nach dem 2. Weltkrieg. Mit seiner über 40jährigen Geschichte ist der Interzonenhandel (IDH) aus deutschlandpolitischer Rückschau der traditionsreichste, älteste und stabilste Teil des gesamten innerdeutschen Beziehungsgeflechts gewesen. Über lange Jahre war er der einzig vertraglich geregelte Bereich im Rahmen dieser Beziehungen. Wegen seines Ursprungs und seiner Rechtsgrundlagen war der IDH ein Unikum ohne Parallele. Diese Einzigartigkeit kommt einerseits in der Kombination von binnen- und außenwirtschaftlichen Elementen und andererseits in den spezifischen administrativen, steuerlichen und zahlungstechnischen Regelungen zum Ausdruck. Gerade die „Konstruktion sui generis“ hat den IDH im Inund Ausland zum Gegenstand von vielfachen, kontroversen, sachlichen und unsachlichen Diskussionen und auch von Legendenbildung gemacht. Im Ausland wurde dieser Sonderstatus häufig als antiquiertes Gebilde angesehen, das aufrechterhalten wird, um besonders enge Wirtschaftsbeziehungen zu unterhalten. Das stimmte weder historisch noch sachlich.75 Historische Tatsache ist, daß im Potsdamer Abkommen vom August 1945 von den Siegermächten folgendes Grundprinzip aufgestellt wurde: „During the period of occupation Germany shall be treated as a single economic unit. To this end common policies shall be established …76 Aufgrund der Vorbehaltsklauseln über die polnische Westgrenze und die Stadt Königsberg mit anliegendem Gebiet wurde der östliche Teil des Deutschen Reiches in den später entstehenden Interzonenhandel nicht einbezogen. Historischer Rückblick: Der im Potsdamer Abkommen vorgesehenen gemeinsamen Politik der Siegermächte, die Deutschland als einheitliches Wirtschaftsgebiet aufrechterhalten sollte, galt mehrfach der Versuch, eine gemeinsame Basis zu finden. So etwa auf der Pariser Außenministerkonferenz vom 25. April bis zum 16. Mai 1946. Auf dieser Konferenz wurde der ordnungspolitische Gegensatz zwischen den marktwirtschaftlich orientierten USA und der zentralplanwirtschaft74 Entnommen aus: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band V/2, 1995, S. 1543-1571. 75 Groß, Karl Heinz: „Der innerdeutsche Handel aus internationaler Sicht“, in: DeutschlandArchiv Heft 10/1986, S. 1075. 76 Protokoll der Potsdamer Konferenz August 1945, in: US Department of State, Documents on Germany 1944-1985 (Washington DC, Department of State, 1985, S. 58).

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lich organisierten Sowjetunion offenbar. Die USA regten damals an, die vier Besatzungszonen unter marktwirtschaftlicher Regie zusammenzuführen, die UdSSR schlug dagegen die Legalisierung und Ausweitung des bis dato illegalen Tauschhandels77 zwischen den Zonen vor. Großbritannien sympathisierte dabei mit dem amerikanischen, Frankreich hingegen mit dem sowjetischen Konzept.78 Dieses Konzept des streng überwachten Tauschhandels setzte sich durch. Die ersten internationalen Abkommen sind unter den Namen Dyson- und Britengeschäft (Britische Zone/SBZ), Länderratgeschäfte (US-Zone/SBZ) und Sofrageschäft (Französische Zone/SBZ) bekannt geworden. Außerhalb dieser Geschäfte blühte der Schwarzhandel.79 Die USA versuchten dagegen mit Großbritannien ihre Konzeption durch den Zusammenschluß der amerikanischen und der britischen Zone im Dezember 1946 zur Bizone voranzutreiben. Nach dem Memorandum vom 2. Dezember 1946 sollte dies der erste Schritt zur Herstellung der ökonomischen Einheit Deutschland sein.80 Am 17. und 18. Januar 1947 wurde in Minden das erste umfassende Abkommen zwischen der Bizone und der sowjetischen Besatzungszone abgeschlossen (Mindener Abkommen). Erstmalig waren deutsche Stellen nach dem Krieg unterschriftsberechtigt. Unterzeichner war der Verwaltungsrat für Wirtschaft in Minden und die Deutsche Verwaltung für Interzonen- und Außenhandel der SBZ.81 Der Interzonenhandel war „geboren“. Bereits 1948 kam mit dem Ausbruch der Berliner Blockade als Reaktion des Westens der Interzonenhandel fast völlig zum Erliegen. Das Ende 1947 in Berlin abgeschlossene neue Warenabkommen kam dadurch nicht zum Tragen. Die Verhandlungen, die dann im April 1949 zur Beendigung der InterzonenhandelsBlockade führten, hatten im sogenannten Yessup-Malik-Abkommen – benannt nach den beiden Unterhändlern Jacob Malik und Philip Yessup – ein Junktim zwischen freiem Zugang nach Berlin (-West) und dem unbehinderten Interzonenhandel geschaffen. Das Berliner Abkommen von 1951: Auf der Außenministerkonferenz vom Juni 1949 wurde den Wirtschaftsbehörden der Ostzone und der Westzonen empfohlen, den Handel zwischen den Zonen zu erleichtern und Handels- und Wirtschaftsabkommen anzuwenden. Einem geregelten Warenverkehr standen aber in-

77 Das erste Tauschgeschäft kam im Dezember 1945 mit Schlachtrindern und Salzheringen aus Bayern gegen Kartoffeln aus Sachsen zustande. 78 Groß, Karl Heinz, a. a. O., Anm. 2. 79 Federau, Fritz: „Der Interzonenhandel Deutschlands von 1946 bis Mitte 1953“, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, hrsg. vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DfW), Heft 4/1953, S. 385 ff. und Lambrecht, Horst: Die Entwicklung des Interzonenhandels von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. DIW-Sonderheft 72/1965, S. 9 ff. 80 Groß, Karl Heinz, a. a. O., Anm. 2. 81 Rösch, Franz / Homann, Fritz: “Thirty years of Berlin Agreement – Thirty years of InnerGerman Trade. Economic and Political Dimensions”, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 137, Heft 3, September 1981, S. 528.

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zwischen die beiden separaten Währungsreformen entgegen, die aufgrund der fehlenden Konvertibilität der Ostmark einen spezifischen Verrechnungsmodus erforderten. Auf Anweisung der westlichen Alliierten sollten westdeutsche Stellen ein neues Interzonenhandelsabkommen aushandeln. Dieses Abkommen wurde am 8. Oktober zwischen dem Verwaltungsamt für Wirtschaft der im Mai 1949 gegründeten Bundesrepublik und der Deutschen Wirtschaftskommission der SBZ in Frankfurt am Main abgeschlossen.82 Letztere war de jure einen Tag zuvor am 7. Oktober am Gründungstag der DDR in der DDR-Regierung aufgegangen. Das Frankfurter Abkommen enthielt bereits die Grundprinzipien des dann in der Fassung vom 16. August 1960 bis zur Wiedervereinigung geltenden Berliner Abkommens vom 20. September 1951.83 Politisches – deutschlandpolitisches Herzstück des Berliner Abkommens war sein Geltungsbereich. Dieser erstreckte sich nicht auf politische Einheiten, sondern auf die Währungsgebiete der DM (-West) und der DM (Ost). Mit dieser Währungsgebietsklausel waren Berlin (-West) und Berlin (-Ost) automatisch einbezogen. Im Gegensatz zu allen später geschlossenen innerdeutschen Abkommen wurden damit Statusfragen mit Eleganz umgangen. Die volle Einbeziehung von Berlin (-West) manifestierte sich im Abkommen einmal durch die Bestimmung, daß ein angemessener Teil des Handels auf Berlin (-West) entfallen soll. In der Regel waren das ¼ – 1/3 der bundesdeutschen Bezüge. Zum anderen wurden die Interessen von Berlin (-West), vormals auch Frankfurt am Main, von der „Treuhandstelle für Industrie und Handel“, bis 1982 „Treuhandstelle für den Interzonenhandel(TSI), mit Sitz in Berlin (-West), wahrgenommen. Die Treuhandstelle war bis 1953 als Institution des Deutschen Industrieund Handelstages (DIHT) tätig, weil der Verkehr zwischen Obersten Behörden der Bundesrepublik und der DDR durch Kabinettsbeschluß von 1949 untersagt war. Seit 1953 war die TSI staatliche Stelle und unterstand dem Bundeswirtschaftsministerium. Ihr Leiter besaß doppelte Verhandlungsvollmacht sowohl von der Bundesregierung als auch vom Berliner Senat.84 Die Treuhandstelle war offizielles Verhandlungsorgan der Bundesregierung – nicht nur für Handelsfragen – mit der DDR und wichtigste Kontaktstelle vor der Errichtung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR im Jahre 1974. Ihre Funktionen änderten sich danach kaum, denn die Ständige Vertretung besaß keinerlei handelspolitische Kompetenzen. Weitere Regelungen des Abkommens85 waren:

82 Rösch, Franz / Homann, Fritz, a. a. O., Nr. 8, S. 529. 83 Abkommenstext mit sämtlichen Änderungen in: Innerdeutscher Handel: Loseblattsammlung Deutscher Wirtschaftsdienst. 84 Kleindienst, Willi: „Abwicklung und Praxis der Handelsbeziehungen zur DDR“, in: Böttcher, Erik (Hrsg.): Wirtschaftsbeziehungen mit dem Osten, Stuttgart 1971, S. 66. 85 Rechtsgrundlage für den Wirtschaftsverkehr mit der DDR waren die 1946 erlassenen alliierten Devisenbewirtschaftungsgesetze Militärregierungsgesetz (MRG) 53, in Berlin die Ver-

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Die strikte Bilateralität des Handels, Zahlungen für Waren und Dienstleistungen wurden ausschließlich auf dem Verrechnungswege von der Deutschen Bundesbank und der Staatsbank der DDR abgewickelt. Die Rechenbasis bildete die Verrechnungseinheit (VE). Dabei wurde in der Regel das Preisgefüge der Bundesrepublik zugrunde gelegt – der Wert einer VE entsprach also einer DM. - Damit das Verrechnungsabkommen funktionieren konnte, wurde zum permanenten Saldenausgleich ein wechselseitiger Überziehungskredit, ein sogenannter Swing, vereinbart. Die spätere Dynamisierung dieses Swings und die weitgehend einseitige Ausnutzung durch die DDR gab dem Swing ab Ende der 60er Jahre eine politische Dimension. - Die Behörden beider Seiten genehmigten nach ihren jeweiligen Bestimmungen Bezug und Lieferungen durch Erteilung von Zahlungsgenehmigungen und Bezugsgenehmigungen oder Warenbegleitscheinen. - Genehmigungen konnten versagt werden, wenn Preisvereinbarungen den Interessen einer der beiden Seiten widersprachen. - Grundsätzlich konnten nur Waren deutschen Ursprungs geliefert oder bezogen werden. - Kompensationsgeschäfte (d. h. reine Tauschgeschäfte auf der Basis eines einzigen Vertrages) waren grundsätzlich nicht erlaubt.86 - Das Abkommen konnte drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres zur Jahreswende gekündigt werden. Im Berliner Abkommen war damit die Vorgabe des Potsdamer Abkommens, Deutschland als wirtschaftliche Einheit anzusehen, festgeschrieben. Der deutschdeutsche Handel konnte entgegen der offiziellen DDR-Lesart kein Außenhandel sein. Zölle sowie Abschöpfungen im Rahmen der EG gab es daher nicht. Dieses auf den fein gestrickten Regelungen des Besatzungsrechtes basierende Abkommen schien, oberflächlich betrachtet, im Laufe der Jahrzehnte unschön und antiquiert, die Geschichte und die Praxis der deutsch-deutschen Beziehungen hatte aber immer wieder bewiesen, daß das Berliner Abkommen das „genialste“ deutsch- deutsche Abkommen war. Der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsmi-

ordnung 500. Diese blieben nach Aufhebung des Besatzungsregimes von 1954 weiter in Kraft. Durch das Außenwirtschaftsgesetz von 1961 wurden sie für den Außenhandel außer Kraft gesetzt, aber nicht für den innerdeutschen Handel. Hierzu ausführlich Ollig, Gerhard: „Rechtliche Grundlagen des innerdeutschen Handels“, in: Ehlermann, C. D. / Kupper, S. / Lambrecht, H. / Ollig, G.: Handelspartner DDR Innerdeutsche Wirtschaftsbeziehungen, Baden-Baden 1975, S. 147-201. 86 Eine besondere Rolle spielten die sogenannten Gegengeschäfte. Für die Lieferungen von harten Waren wurden z. B. weiche Waren als Gegenleistung vereinbart. Im Gegensatz zum Kompensationsgeschäft lagen diesem Geschäft aber zwei Verträge zu Grunde.

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nisterium, v. Würzen, hat es einmal als „Musterbeispiel für partiellen Interessenausgleich unter besonders schwierigen Bedingungen“ charakterisiert.87 Die sorgfältige Hütung dieses Abkommens gegen immer wiederkehrende „Modernisierungsbestrebungen“ – insbesondere auf Drängen der DDR aber auch aus Unkenntnis von westdeutscher Seite – bewahrte die uneingeschränkte Stellung von Berlin (-West) im IDH bis zum Schluß. Nach dem Honecker-Besuch von 1987 gerieten Gespräche zur Bildung einer gemischten Wirtschaftskommission zur weiteren Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen schnell in eine Sackgasse, weil die bisher unangefochtene Position von Berlin (-West) als Verhandlungsort in Gefahr geriet. Die internationale Absicherung: Der Sonderstatus des IDH fand erstmals beim Beitritt der alten Bundesrepublik zum GATT im Jahre 1951 internationale Anerkennung durch die Festlegung im Protokoll von Torquay vom 21. Juni 1951. Bei der Gründung der EWG im Jahre 1957 galt es erneut, den Sonderstatus des IDH als „Option“ auf die Wiedervereinigung zu bewahren und mit der „Option“ auf die westeuropäische Integration zu vereinbaren.88 Das gelang mit dem „Protokoll über den Innerdeutschen Handel und die damit zusammenhängenden Fragen“. Dieses Protokoll wurde als Anhang dem EWG-Vertrag vom 25. März 1957 beigefügt. In Ziffer 1 heißt es: „Da der Handel zwischen den Deutschen innerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und den deutschen Gebieten außerhalb dieses Geltungsbereiches Bestandteil des innerdeutschen Handels ist, erfordert die Anwendung dieses Vertrages in Deutschland keinerlei Änderung des bestehenden Systems dieses Handels“.

Um Nachteile für die übrigen Mitgliedsstaaten zu vermeiden, enthielt das Zusatzprotokoll in Ziffer 2 die Auflage der gegenseitigen Unterrichtung der Mitgliedstaaten über Abkommen, die mit dem anderen Teil Deutschlands abgeschlossen werden. Die EWG-Vertragspartei hatte zusätzlich geeignete Vorkehrungen zu treffen, „um Schädigungen innerhalb der Volkswirtschaft der anderen Mitgliedstaaten zu vermeiden“. Ziffer 3 des Zusatzprotokolls enthielt eine Schutzklausel, die jedem Mitgliedsstaat Abwehrmaßnahmen zugestand, wenn ihm durch den Handel anderer Mitgliedsstaaten mit der DDR Schwierigkeiten entstünden. Die Bundesrepublik achtete ihrerseits darauf, daß den EG-Partnern aus dem IDH kein Schaden entstand. Grundsätzlich wurden nur Waren deutschen Ursprungs gehandelt. Der Handel mit Waren aus Drittländern war nur mit produktbezogenen Sondervereinbarungen möglich, so etwa die bundesdeutschen Rohöllieferungen. Die Waren des IDH waren „frei verkehrsfähig“, d. h. konnten in Drittländer reexportiert werden. Tatsächlich war das Reexportvolumen außerordentlich niedrig und lag unter

87 Haendcke-Hoppe, Maria: „30 Jahre Berliner Abkommen zum innerdeutschen Handel“ (Tagungsbericht) in: Deutschland-Archiv Heft 1/1982, S. 76. 88 Groß, Karl Heinz, a. a. O., Anm. 2, S. 1077.

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1 v. H. der Bezüge aus der DDR. Der sich immer an diesem Thema entflammenden Kritik der EG-Partner war damit der Boden entzogen. Unbeschadet der Tatsache, daß der IDH kein Außenhandel war, wurden die Embargorichtlinien des Außenwirtschaftsrechts, z. B. Cocom, in das Recht des IDH übernommen und damit der IDH wie der übrige Osthandel behandelt. Die politische Dimension: Der IDH hatte für die beiden Staaten in Deutschland unterschiedliches Gewicht. Für die alte Bundesrepublik dominierte von Beginn an über die Jahrzehnte die politische Dimension. Die DDR-Führung verneinte hingegen offiziell politische Interessen, bewies aber in der Vergangenheit durch ihr Handeln das Gegenteil. Am massivsten umschrieb der frühere Bundeskanzler Erhard am 15.1.1965 in Berlin die politische Dimension.89 „Wir waren und sind stets bestrebt, diesen spezifischen Warenaustausch zu pflegen. Für uns ist das, wie ich deutlich sagen möchte, kein Geschäft …, denn es geht uns wesentlich darum, die Verbindung mit den Menschen drüben lebendig zu halten“. Neben dieser Brückenfunktion zu den Menschen standen weitere Funktionen - als Instrument des Kalten Krieges - zur Sicherung der freien Zugangswege nach Berlin (-West) - als die Klammerfunktion für das geteilte Land. Die beiden letztgenannten bestimmten in den 70er und 80er Jahren die politischen Interessen am IDH. Als politisches Druckmittel im Rahmen des Kalten Krieges erwies sich der IDH als untauglich. Die Bundesregierung wollte legitimerweise in der Phase des Kalten Krieges jegliche stabilisierende Wirkung ausschalten. Entsprechend trug sie die Embargopolitik mit und drängte die westlichen Partner zu einer restriktiven Politik gegenüber der DDR. Ludwig Erhard dazu: „Je mehr aber die Sowjetzone von anderen Ländern Kredite eingeräumt erhält und mit Lieferung von Produktionsmitteln rechnen kann, um so freier wird sie sich von uns fühlen. Ich glaube nicht, daß eine solche Entwicklung – womöglich noch verstärkt – dem Ziele der Wiedervereinigung dient“.90

Die Kündigung des Berliner Abkommens seitens der Bundesregierung im Jahre 1960 als Reaktion auf die Einführung von Passierscheinen für Bundesbürger und die erneute Überlegung zur Kündigung 1961 als Reaktion auf den Mauerbau bewirkten seitens der DDR-Führung die offene Drohung, die Zugangswege nach Berlin (-West) zu behindern.91 Tatsächlich war die Kündigung seitens der Bundesregierung außerordentlich riskant. Bundeswirtschaftsminister Erhard und der gesamtdeutsche Minister Lemmer waren gegen die Kündigung. Sie hatten an der entscheidenden Kabinettssitzung nicht teilgenommen.92

89 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 8 vom 15.1.1965, S. 60. 90 Ebenda. 91 Neues Deutschland vom 16.10.1960 und vom 16.08.1961. 92 Kupper, Siegfried: Der innerdeutsche Handel, Köln 1972, S. 22 ff.

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Aufgrund des oben erwähnten besatzungsrechtlichen Ursprungs des Berliner Abkommens hatte die Bundesregierung die DDR „aus dem einzigen Vertrag, der die DDR-Kontrollorgane zwingen konnte, korrekt deklarierte Waren anstandslos passieren zu lassen“,93 entlassen. Da das Berliner Abkommen auch die Verrechnung zwischen der Reichsbahn und der Bundesbahn regelte, waren hier Komplikationen abzusehen. In langwierigen Verhandlungen wurde dann zum 1. Januar die bereits vor der Kündigung ausgehandelte Neufassung des Berliner Abkommens vom 16. August 1960 in Kraft gesetzt. Die DDR hatte ihrerseits gezeigt, daß sie trotz bisherigen Leugnens des Junktims Berlinverkehr/IDH, dies anerkannte und als politisches Instrument einsetzte. Auch in der Folgezeit wurde die Bedrohung der Transitwege „je nach Bedarf als probates Mittel“ seitens der DDR eingesetzt.94 Das Junktim, IDH/freie Zugangswege nach Berlin, hatte nach dem Abschluß des Viermächteabkommens vom 3. September 1971 und dessen Folgeverträgen zwar an unmittelbarem Gewicht verloren, da aber durch dieses Abkommen die „Vereinbarungen und Beschlüsse der Vier Mächte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit … nicht berührt werden“,95 bestanden die früher entstandenen Zusammenhänge weiter. Die staatliche Anerkennung der DDR im Rahmen des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1972 veränderte die Sicht der Bundesrepublik – „die DDR ist kein Ausland“ – nicht. Im Zusatzprotokoll wurde ausdrücklich vereinbart, daß „der Handel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ auf der Grundlage der bestehenden Abkommen abgewickelt wird. Damit wurde das vom Grundgedanken der wirtschaftlichen Einheit ausgehende Berliner Abkommen von 1951 in den Grundlagenvertrag mit einbezogen. Da der Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR die Sonderstellung des IDH nicht angetastet hatte wie auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes96 zum Grundlagenvertrag festgeschrieben wurde, bestätigte der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft, nach vorangegangener kontroverser Diskussion, im März 1973 die unveränderte Gültigkeit des Zusatzprotokolls über den IDH zu den Römischen Verträgen von 1957. Entgegen der bis dato in der DDR geübten Praxis erkannte auch Erich Honecker für die DDR im Zusammenhang mit dem Abschluß des Grundlagenvertra-

93 Ebenda, S. 31. 94 Walter Ulbricht anläßlich des Chruschtschow-Besuches in Berlin (-Ost), Neues Deutschland vom 03.07.1963 oder „Dichtung und Wahrheit über den Außenhandel zwischen der DDR und der BRD“, Neues Deutschland vom 07.06.1970. 95 Präambel des Viermächteabkommens. 96 Vom 31. Juli 1973, vgl.: Zehn Jahre Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1980, S. 237.

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ges den besonderen Charakter des IDH mit den Worten an: „… eine der wenigen Besonderheiten …, die in den Beziehungen bestehen“.97 Noch einmal im Jahre 1980 erinnerte die DDR-Führung an das Junktim. Außenminister Oskar Fischer drohte auf angebliche NATO-Beschlüsse, im Zusammenhang mit der Erhöhung des Zwangsumtausches „die sogenannten besonderen Beziehungen der DDR zur EWG zu beenden“, mit der Gefährdung von Grundlagenvertrag und Transitabkommen.98 Die ökonomische Dimension: Dominierte für die frühere Bundesrepublik von Beginn an – unbeschadet einzelwirtschaftlicher Interessen – die politische Dimension, so war der Interzonenhandel/IDH für die SBZ/DDR von Beginn an von entscheidender ökonomischer Bedeutung. Bis 1936 war das Gebiet der beiden deutschen Teilstaaten Bestandteil einer eng verflochtenen, arbeitsteiligen, industriell hochentwickelten Volkswirtschaft, in der die Struktur- und Standortpolitik allerdings im letzten Jahrzehnt bis 1945 kriegswirtschaftlichen Zielen weitestgehend untergeordnet war.99 Zwei Zahlen demonstrieren das Ausmaß des Zusammenbruchs der gesamtdeutschen Volkswirtschaft. Im Jahre 1936 betrug der Wirtschaftsaustausch zwischen den Gebieten der späteren Bundesrepublik und DDR einschließlich Berlin den Wert von 8,6 Mrd. RM.100 Im Jahre 1946 belief sich dagegen das Volumen des Interzonenhandels auf 176 Mio. RM, nominal waren das nur noch 2 v. H. des Wertes von 1936. Für die damalige sowjetische Besatzungszone war dabei die Ausgangsposition für eine separierte Wirtschaft aus mehreren Gründen noch ungünstiger als für die Westzonen. 1. Der mitteldeutsche Raum war mit seiner hochspezialisierten Industrie wegen der knappen Energie- und Rohstoffbasis erheblich stärker auf „äußere“ Absatz- und Bezugsmärkte angewiesen als der westdeutsche Raum. Nach Berechnung der UN Europa Kommission101 gingen 1936 etwa 40 v. H. der mitteldeutschen Eigenproduktion in andere deutsche Gebiete, 55 v. H. des Eigenverbrauchs wurden aus anderen deutschen Gebieten bezogen.102 2. Die mitteldeutsche Wirtschaft war viel empfindlicher von Demontagen und Reparationszahlungen an die UdSSR betroffen als das zwar stärker zerbombte, dafür aber schnell von der Marshallplanhilfe profitierende westdeutsche Wirtschaftspotential. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß die west-

97 Interview mit dem amerikanischen Journalisten Sulzberger, in: Neues Deutschland vom 25.11.1972. 98 13. Plenum des ZK der SED, in: Neues Deutschland vom 13./14.12.1980. 99 Gleitze, Bruno: Ostdeutsche Wirtschaft, Berlin 1956, S. 5. 100 Ebenda, S. 7 (einschließlich Saargebiet). 101 UN Economic Bulletin for Europe III 1949, Vol. 1, Nr. 3, zitiert nach Bruno Gleitze: Die Industrie der Sowjetzone unter dem gescheiterten Siebenjahrplan. Berlin 1964, S. 4. 102 Berlin je 64 v. H.

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deutsche Seite die Alleinlast der „Wiedergutmachung“ sowie die Hauptlast der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen trug. 3. Die Herauslösung aus dem nationalen Wirtschaftsverbund führte in Mitteldeutschland zu noch schwerwiegenderen Strukturveränderungen als in Westdeutschland.103 Zum einen war die SBZ/DDR nunmehr von ihren wichtigsten vormals einheimischen Rohstoff- und Energiequellen getrennt, so z. B. von der westdeutschen und oberschlesischen Steinkohle. Die Umrüstung der Steinkohlekraftwerke auf den einzigen eigenen Energieträger Braunkohle war durch Demontage von 40 v. H. der Bergbaukapazitäten unverhältnismäßig erschwert und vor allem nicht ausreichend. Zum anderen wurden nunmehr trotz ungünstiger Standortbedingungen Produktionszweige ausgebaut, in denen vormals Abhängigkeit von westdeutschen Bezügen bestand. Einen Schwerpunkt bildete z. B. die Stahl- und Walzwerkindustrie oder der Schiffbau. 4. Ein weiteres gravierendes Moment waren die „strukturverändernden Faktoren“, die durch Einbindung der DDR in den östlichen Wirtschaftsblock auftraten. Mit Ausnahme der CSSR standen alle neuen Handelspartner, mit denen rd. ¾ des Außenhandels ab 1949 abgewickelt wurden, auf einem erheblich niedrigeren Entwicklungsniveau als die früheren ausländischen Bezieher Mitteldeutschlands. Die DDR mußte ihre Produktionspalette nunmehr auf die neuen Partner ausrichten, was zur Vernachlässigung des vormals klassischen Produktionspotentials wie z. B. der chemischen Industrie, der Textil- und der Zellstoff- und Papierindustrie führte. Ihre Liefermöglichkeiten in die Bundesrepublik wurden allein dadurch außerordentlich beschnitten. Aus den unter 1. und 2. geschilderten Ursachen resultiert die Tatsache, daß der IDH für die DDR ein erheblich größeres volkswirtschaftliches Gewicht gewinnen sollte als für die Bundesrepublik. Die Bundesrepublik war der zweitgrößte Handelspartner der DDR nach der UdSSR (vgl. nachstehende Tabelle). Nach offiziellen DDR-Angaben vor der Wende betrug der Anteil des IDH am DDRAußenhandel durchschnittlich 7-8 v. H. am Außenhandelsumsatz. Diese Angabe war falsch, sie suggerierte – politisch erwünscht – eine wesentlich geringere Verflechtung mit der Bundesrepublik Deutschland, als sie tatsächlich bestand. In der Bundesrepublik wurde dieser niedrige Anteil häufig unkommentiert übernommen. Im Hinblick auf die EG-Partner bestand ein Interesse, die Verflechtung nicht allzu groß erscheinen zu lassen. Nach dem Mauerfall erschienen dann revidierte Zahlen, aus denen sich für die Jahre 1985-1989 ein Anteil von durchschnittlich 20 v. H. am DDR-Außenhandel berechnen ließ.104 Diese Zahl 103 Über das Ausmaß der Strukturveränderungen Leptin, Gert: Veränderungen in der Branchenund Regionalstruktur der deutschen Industrie zwischen 1936 und 1962. Berichte des Osteuropainstituts an der Freien Universität Berlin, 1965, Heft 68. 104 Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 277/278. Eine halbwegs exakte Anteilsberechnung wird nicht möglich sein, da wegen der fehlenden Konvertibilität nur sehr komplizierte Umrechnungsverfahren möglich sind. In der Vergangenheit wurde auf den zu niedrigen Ausweis in der DDR-Statistik immer wieder hingewiesen. Rösch, Franz und Homann, Fritz, a. a. O.:

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dürfte der Realität erheblich näher kommen. Setzt man dagegen den IDH einmal in Relation zum bundesdeutschen Außenhandelsumsatz, so lag der Anteil bis 1989 jeweils unter 2 v. H. Regionalstruktur des DDR-Außenhandels 1951-1989 Anteile am Umsatz in v. H.

Jahr105

Insgesamt

1951/55 1956/60 1961/65 1966/70 1971/75 1976/80 1981/85 1985107 1986 1987 1988 1989

100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100

Sozialistische darunter Länder UdSSR 75 74 76 73 69 69 66 47 (66) 49 (67) 48 (69) 47 (69) 45

43 43 46 41 36 35 38 29 (39) 28 (39) 25 (39) 25 (37) 23

Westliche Industrieländer106 23 22 19 22 27 26 29 44 (29) 43 (29) 46 (27) 49 (28) 51

Entwicklungsländer 2 4 4 4 4 5 5 8 (5) 7 (4) 6 (4) 5 (3) 5

Der seitens der DDR grundsätzlich geleugnete Sondercharakter des IDH dokumentiert sich allein schon in der Tatsache, daß die DDR als einziges RGWLand durch den IDH einen gespaltenen Westhandel hatte. Denn für mehr als 40 v. H.108 der Bezüge aus dem Westen brauchte nicht mit harten Devisen bezahlt werden, sondern sie wurden mit den eigenen Lieferungen verrechnet. Vor allem

Anm. 8, S. 548. Die Verfasserin bemühte sich seit 1978 anhand der eklatanten Unstimmigkeiten in der DDR-Außenhandelsstatistik um die Berechnung realistischer Werte. Hierzu: Die DDR-Außenhandelsstatistik und ihr Informationswert. FS-Analysen der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Heft 3-1978 sowie FS-Analysen Heft 71982, S. 72 ff. ebenfalls Cornelsen, Doris / Lambrecht, Horst / Melzer Manfred und Schwartau, Cord: Die Bedeutung des Innerdeutschen Handels für die Wirtschaft der DDR. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Sonderheft 138/1983, S. 10 ff. 105 1951-1985 Fünfjahresdurchschnitte. 106 Einschließlich IDH. 107 Im Statistischen Jahrbuch der DDR 1990 wurde eine Neubewertung der Außenhandelsumsätze ab 1985 vorgenommen. Ursache war der rapide Verfall der Mark der DDR aufgrund der ständig sinkenden Wettbewerbsfähigkeit. Die Anteile nach den alten Zahlen bis 1988 in Klammern. Quellen: Statistische Jahrbücher der DDR, Anteile berechnet. 108 Hier war eine exaktere Qualifizierung als beim Anteil am Gesamtaußenhandel möglich, da eine Reihe von Vergleichsstatistiken zur Verfügung stand, so vor allem auch durch die Zahlen der Deutschen Außenhandelsbank (DABA). Nach den Statistischen Jahrbüchern der DDR lag dieser Anteil lediglich bei 25-30 v. H. Nach den revidierten Zahlen ergab sich ein Anteil von 41-45 v. H.

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durch diese Tatsache hatte der IDH, insbesondere Anfang der 80er Jahre, angesichts der katastrophalen Devisenlage erheblich stabilisierende Wirkungen auf die Wirtschaft der DDR. Unbeschadet der DDR-Betrachtungsweise des IDH als „normaler“ Außenhandel,109 wurde in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Sorge um die Abschaffung des Sonderstatus artikuliert. Sowohl im Hinblick auf die geplanten vertraglichen Regelungen zwischen EG und RGW als auch im Hinblick auf Europa 1992 mußte auch auf DDR-Seite der Sonderstatus aus handfestem ökonomischen Interesse verteidigt werden.110 Obwohl eingangs auf die geringe globale ökonomische Bedeutung des IDH für die alte Bundesrepublik Deutschland hingewiesen wurde, war die einzelwirtschaftliche Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn ein hoher Prozentsatz (1978: 80 v. H.) der am IDH beteiligten Firmen waren Klein- und Mittelbetriebe. Aber auch Großunternehmen – wie der Hamburger Hafen – waren vom IDH abhängig. In den 80er Jahren beteiligten sich 6000-7000 Unternehmen am Handel mit der DDR.111 Die Entwicklung des IDH: Bis Ende der 60er Jahre schlugen sich in der Entwicklung des IDH politische Ereignisse sichtbar nieder. So war der schwierige Übergang vom Frankfurter Abkommen von 1949 zum Berliner Abkommen bereits durch einen erheblichen Einbruch gekennzeichnet. Wegen Behinderungen des Berlin-Verkehrs wurde das Berliner Abkommen auf Wunsch der Westmächte bereits im November 1951 suspendiert. Aufgrund der Verhandlungsschwierigkeiten hatten sich die Verhandlungspartner bereits vor Ablauf des Frankfurter Abkommens auf einen Vorgriff auf das Berliner Abkommen zur faktischen Überbrückung des vertragslosen Zustandes geeinigt, das im Mai 1952 mit Aufstellung der neuen Warenlisten endete. Erst ab Mai 1952 konnte dann der Interzonenhandel im Rahmen des Berliner Abkommens vom September

109 Analog zu den Wandlungen der politischen Einstellung der DDR-Führung haben sich die Terminologie und die Zuordnung im Laufe der Zeit geändert. Der Terminus IDH war die ursprüngliche DDR-Bezeichnung für den Interzonenhandel. Bis 1960 erschien er unter dieser Bezeichnung, getrennt vom Außenhandel, im Statistischen Jahrbuch der DDR. Das zuständige Ministerium hieß bis 1965 „für Außenhandel und Innerdeutschen Handel (MAI)“. Ab 1963 erfolgte dann der Ausweis als Handel mit „Westdeutschland und Westberlin“, 1970 erschien erstmals „BRD“ in der Liste der Außenhandelspartner. Durch die alphabetische Einordnung war damit auch die optische Trennung vom „Außenhandelspartner Westberlin“ vollzogen. 110 Nitz, Jürgen: Wirtschaftsbeziehungen DDR-BRD. Bestimmungsfaktoren, Tendenzen, Probleme und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage „Das Parlament“ B 10/1989, S. 6 ff. 111 Schlemper, Annemarie: Die Bedeutung des IDH. Göttingen 1978, S. 221 ff. sowie Homann, Fritz: „Zur Zukunft des Innerdeutschen Handels“, in: Deutschland-Archiv Nr. 10/1986, S. 1089. Zu den Beschäftigungseffekten des IDH: „Beschäftigungsaspekte des innerdeutschen Handels in der Bundesrepublik Deutschland“, in: DIW-Wochenbericht 31/1990, S. 435-439.

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1951 auf der Basis der ausgehandelten Warenlisten (126 Mio. VE) tatsächlich aufgenommen werden. Bis 1960 war dann ein zwar kontinuierliches, aber bescheidenes Wachstum zu verzeichnen.112 Ein sichtbarer Einbruch erfolgte dann aufgrund der Abkommenskündigung 1960 und des Mauerbaus 1961. Abgesehen von den oben dargestellten politischen Drohungen reagierte die DDR ökonomisch mit der sogenannten Aktion „Störfreimachung“, die den Versuch darstellte, die Abhängigkeit von westdeutschen Lieferungen zu beseitigen.113 Im Rahmen der „Aktion Störfreimachung“ wurde der Anteil des Handels mit den östlichen Partnern noch einmal ausgeweitet, das eigentliche Ziel, von westlichen – insbesondere westdeutschen Lieferungen – unabhängig zu werden, konnte nicht erreicht werden.

112 Rösch, Franz und Homann, Fritz: a. a. O., Anm. 8, S. 530-532. Die Autoren weisen darauf hin, daß bis 1955 vorher abgewickelte private Kompensationsgeschäfte in das Berliner Abkommen aufgenommen wurden, so daß die echten Handelsausweitungen noch geringer waren als der statistische Ausweis. 113 Leuschner, Bruno, in: Neues Deutschland vom 22.01.1960 und Rede von Albert Norden, in: ND vom 19.07.1961.

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Entwicklung des Warenverkehrs 1949-1989 114 in Mrd. DM/VE

Jahr

Umsatz

DDRLieferungen

DDRBezüge

1949115 1950 1955 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1975 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

0,43 0,80 1,15 2,08 1,81 1,76 1,88 2,18 2,47 2,96 2,74 2,86 2,93 4,41 7,26 10,87 11,63 13,02 13,83 14,15 15,54 14,29 14,05 14,02 15,30

0,22 0,39 0,56 0,96 0,87 0,85 0,86 1,15 1,21 1,34 1,26 1,44 1,66 2,41 3,92 5,29 5,58 6,38 6,95 6,41 7,90 7,45 7,40 7,23 8,10

0,21 0,41 0,59 1,12 0,94 0,91 1.02 1,03 1,26 1,62 1,48 1,42 2,27 2,00 3,34 5,58 6,05 6,64 6,88 7,74 7,64 6,84 6,65 6,79 7,20

1990

29,59

21,32

8,27

114 Einschließlich Berlin (-West) und Berlin (-Ost). 115 Ab 12.05.1949. Quellen: Für 1949 und 1950 Fritz Federau: a. a. O., Anm. 6. Ab 1955: Statistisches Bundesamt Fachserie F/Reihe 6, später Fachserie 6/Reihe 6. Statistische Erhebungen für den IDH wurden beim Statistischen Bundesamt und beim Bundesministerium für Wirtschaft gemacht. Beide Erhebungen weichen aus methodischen Gründen voneinander ab.

862

Bereits 1962 hatten Verhandlungen über einen von Ost-Berlin gewünschten langfristigen Kredit über 10 Jahre stattgefunden. Da Ost-Berlin die Forderung nach Passierscheinen als Gegenleistung ablehnte, machte 1963 die Bundesregierung den Gegenvorschlag, den Swing auf 400 Mio. DM (bis dato 200 Mio. DM) jährlich zu erhöhen, wenn der freie innerstädtische Verkehr in Berlin wiederhergestellt würde.116 Diesen Vorschlag lehnte Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED am 15. Januar 1963 mit den Worten ab: „Selbstverständlich kann die Regierung der DDR auf ein solches unsittliches Geschäft nicht eingehen“.117 Erstmals kräftige Impulse erhielt der IDH dann im Zuge der beginnenden Entspannungspolitik durch Förderungsmaßnahmen der großen Koalition. Der damalige Bundeskanzler Kiesinger führte in seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 aus: „Die Bundesregierung ist um eine Ausweitung des innerdeutschen Handels, der kein Außenhandel ist, bemüht. Sie wird dabei auch eine Erweiterung von Kreditmöglichkeiten anstreben und gewisse organisatorische Maßnahmen zur Verstärkung der innerdeutschen Kontakte ins Auge fassen“.118

Zu den bereits eingeleiteten praktischen Maßnahmen gehörten vor allem: 1. Die Gründung der GEFI (Gesellschaft zur Finanzierung von Industrieanlagen) zur günstigen Refinanzierung für westliche Lieferfirmen. 2. Die Aufhebung der sogenannten Widerrufsklausel. Nach der Neufassung des Berliner Abkommens waren Investitionsgüterlieferungen nur unter dem Vorbehalt des jederzeitigen (allerdings nie angewandten) Widerrufs möglich. 3. Die stärkere Entlastung der DDR-Lieferungen als die der Bezüge der DDR von der Mehrwertsteuer. 4. Die Dynamisierung des Swings auf 25 v. H. der Vorjahresbezüge. 5. Die weitere Liberalisierung im Warenbereich. Für etwa 1/3 der Meldenummern wurden die Kontingente auf der Bezugsseite aufgehoben. 6. Endgültiger Verzicht auf den jährlichen Saldenausgleich. Der durch die Förderungsmaßnahmen zunächst ausgelöste Aufwärtstrend im IDH schwächte sich aber bald wieder ab. Denn nach der diplomatischen Anerkennung durch die westlichen Industrieländer Anfang der 70er Jahre bemühte sich die DDR um die sogenannte Diversifizierung, d. h. die Umlenkung von Handelsströmen vom IDH in den übrigen Westhandel. Damit sollten erneut die Abhängigkeiten vom IDH vermindert werden. Der IDH wuchs dann auch trotz der Förde116 Kupper, Siegfried, a. a. O., Anm. 19, S. 39. 117 In: Sozialistische Demokratie vom 18.01.1963. Noch ein weiter Weg sollte zurückgelegt werden, bis nach dem Sturz Honeckers in einer Politbürovorlage der Staatlichen Plankommission vom 31. Oktober 1989 als Gegenleistung für einen mit der alten Bundesrepublik auszuhandelnden Kredit von 2-3 Mrd. DM „die heute existierende Grenze zwischen beiden deutschen Staaten noch in diesem Jahrhundert überflüssig gemacht werden“ sollte. Wortlaut abgedruckt in: Deutschland-Archiv, Heft 10/1992, S. 1112-1120. 118 Bulletin vom 14.12.1966, S. 1270.

863

rungsmaßnahmen in den 70er Jahren langsamer als der Handel mit dem westlichen Ausland. Honeckers Außenwirtschaftsstrategie sah für die erste Hälfte der 70er Jahre ein weitgehend kreditfinanziertes Wachstum technologieintensiver Westimporte (nicht aus der Bundesrepublik) zur Modernisierung der eigenen Wirtschaft vor. Die aufgelaufene Verschuldung sollte dann in der zweiten Hälfte der 70er Jahre getilgt werden. Tatsächlich war mit dieser Strategie bereits eine wesentliche Grundlage für den unaufhaltsamen ökonomischen Niedergang Ende der 80er Jahre gelegt worden. 1980 betrug die statistisch ausgewiesene Nettoverschuldung der DDR 10 Mrd. US $,119 im IDH betrug sie dagegen lediglich 4 Mrd. DM (VE) (das entsprach einem Wert von 2 Mrd. US $). Diese wesentlich günstigere Verschuldungssituation gegenüber der Bundesrepublik erlaubte es der DDR, den IDH in der Ende 1981 über sie hereinbrechenden Zahlungsbilanzkrise als Stabilisierungsfaktor einzusetzen. Damals war durch die Zahlungsunfähigkeit Polens und Rumäniens eine Vertrauenskrise auf dem internationalen Bankensektor ausgebrochen, in deren Sog auch die DDR geriet. Sie erhielt weder neue noch Anschlußkredite. Dieser dramatischen Außenwirtschaftskrise begegnete sie mit einer rigorosen Drosselung ihrer Westimporte. Die Bezüge aus der Bundesrepublik wurden dagegen ausgeweitet. Wahrscheinlich konnte so ein Kollaps der DDR-Wirtschaft vermieden werden. Bestandteil des damaligen Krisenmanagements war die Ablösung der Importe aus dem westlichen Ausland, darunter lebenswichtiger Ersatzteilimporte, um jeden Preis. Die Lücken wurden teilweise über den IDH gestopft. Außerdem konnte die DDR zusätzlich gekaufte Ware aus dem IDH gegen Devisen weiterverkaufen.120 Das Krisenmanagement allein hätte allerdings nicht zur Stabilisierung der Zahlungsbilanz ausgereicht. Die erneute Öffnung der internationalen Kreditmärkte wurde erst mit den beiden spektakulären ungebundenen Finanzkrediten in Höhe von je 1 Mrd. DM 1983 und 1984, von Franz Josef Strauß initiiert und von der Bundesregierung verbürgt, erreicht. Spektakulär war dieser Schritt deshalb, weil das eiserne Prinzip, Kredite entweder in VE, die die DDR nur zum Einkauf in der Bundesrepublik benutzen konnte, oder aber zweckgebundene DM-Kredite auszureichen, wie etwa für den Autobahnbau Berlin-Hannover, durchbrochen wurde. Die beiden ungebundenen Finanzkredite kamen dem IDH in keiner Weise zugute. Er wurde auch zunächst auf den Banken deponiert, um die Devisenguthaben

119 Nach der Statistik der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (BIZ); HaendckeHoppe, Maria: „Erfolge und Mißerfolge der Außenwirtschaft“, in: Die Wirtschaftspolitik der Ära Honecker – ökonomische und soziale Auswirkungen. FS-Analysen der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Heft 1/1989, S. 51-67. 120 Groß, Karl Heinz: „Die innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen“, in: Die Wirtschaft der DDR am Ende der Fünfjahrplanperiode, PS-Analysen, Heft 5/1985, S. 27-48.

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scheinbar zu erhöhen. Diese Kredite haben die Wirtschaft und damit das Regime der DDR stabilisiert. Angesichts des politischen Umfeldes der Vor-Gorbatschow Ära war die Entscheidung der Bundesregierung richtig.121 Andernfalls hätten Umschuldungsverfahren wie etwa in Rumänien damals zu gravierenden Einbußen beim Lebensstandard der DDR-Bürger geführt. Ende 1985 erreichte der IDH mit 16,7 Mrd. DM seinen absoluten Höchststand. Seit 1985 schrumpfte er und konnte trotz beginnenden Lieferbooms Ende 1989 nicht einmal den Stand von 1985 erreichen. Die Warenstruktur: Die strikte Bilateralität machte den IDH bei praktisch unbegrenzter Lieferfähigkeit der Bundesrepublik abhängig von der Lieferfähigkeit der DDR. Diese war zum einen quantitativ begrenzt durch die hohe Intrablockverflechtung (bis zu 75 v. H. des gesamten Außenhandelsumsatzes) und dem damit verbundenen hohen Lieferanteil an Fertigwaren. Zum anderen durch die eingangs dargestellten Strukturveränderungen der Produktion, die insbesondere auf den Bedarf der UdSSR ausgerichtet waren. Hinzu kamen die politisch begründeten Abgrenzungsbestrebungen der DDR, die bis zur Wende praktiziert wurden. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre begann der IDH trotz günstigeren politischen Umfeldes zu schrumpfen. Ursache war die immer unerfreulicher werdende Warenstruktur. Der IDH entsprach nicht dem Handel zwischen zwei hochentwickelten Industrieländern, sondern eher demjenigen zwischen Entwicklungsländern. Nicht Fertigerzeugnisse, sondern Grundstoffe und Vorprodukte für die Produktionsgüterindustrie dominierten den Handel. Der Wertanteil am Gesamtumsatz belief sich vor allem in den 80er Jahren auf 55 v. H. (vgl. nachstehende Tabelle) und mehr.122 Etwa 10 v. H. der Bezüge aus der DDR bestanden aus Agrarprodukten, die insbesondere der Versorgung von Berlin (-West) dienten. Der Bezugsanteil aus der DDR bei Konsumgütern in Höhe von rd. 25 v. H. war ein Ergebnis bundesdeutscher liberaler Bezugspolitik. Mit 10-16 v. H. war dagegen der Anteil der Investitionsgüterbezüge seit Jahrzehnten auf einem besonders niedrigen Stand. Auf der Lieferseite bewegten sich die Investitionsgüter mit einem Anteil von weniger als 20 v. H. in der ersten Hälfte der 80er Jahre auf einem erstaunlich niedrigen Niveau.

121 Einzelheiten zu den Krediten Volze, Armin: „Innerdeutsche Transfers“, in: Materialien der Enquete-Kommission, siehe Anmerkung 1, hier: Bd. VI 3, S. 2761-2797. 122 Cornelsen, Doris u. a., a. a. O., Anm. 31.

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Warenstruktur im Innerdeutschen Handel 1956-1989 123 Waren bzw. Warengruppen

Lieferungen in die DDR Erzeugnisse der Grundstoff- u. Produktionsgüterindustrie124 darunter Eisen und Stahl Chemische Erzeugnisse Erzeugnisse der Investitionsgüterindustrien darunter Maschinenbauerzeugnisse Erzeugnisse der Verbrauchsgüterindustrien Erzeugnisse der Landwirtschaft sowie der Nahrungsund Genußmittelindustrien alle Waren Bezüge aus der DDR Erzeugnisse der Grundstoff- u. Produktionsgüterindustrien48 darunter Mineralölerzeugnisse Chemische Erzeugnisse Erzeugnisse der Investitionsgüterindustrien darunter Maschinenbauerzeugnisse Erzeugnisse der Verbrauchsgüterindustrien darunter Textilien Erzeugnisse der Landwirtschaft sowie der Nahrungsund Genußmittelindustrien alle Waren125

1956 –60

1961 –65

1966 –70

1971 –75

1976 –80

1981 –85

1986

1987

1988

53

57

52

54

52

58

49

45

44

45

28 13

30 17

16 21

13 23

10 20

12 21

12 18

12 18

12 18

12 17

22

17

23

24

28

19

28

36

37

38

12

11

16

17

20

12

17

24

23

24

8

7

8

10

8

9

12

9

19

8

17 100

19 100

17 100

12 100

12 100

14 100

11 100

9 8 100 100

8 100

58

51

31

38

47

56

48

48

50

52

18 9

14 8

3 8

10 10

20 11

24 13

13 13

14 12

11 14

11 14

10

11

14

11

11

11

14

15

14

15

8

6

5

4

3

3

4

4

4

4

19

22

29

31

27

23

27

27

25

23

11

10

10

11

9

7

8

8

7

6

13 100

16 100

26 100

20 100

14 100

10 100

10 100

10 10 100 100

1989

9 100

Quellen: Statistisches Bundesamt Fachserie 6, Reihe 6, Warenverkehr mit der Deutschen Demokratischen Republik, Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, 1987, S. 793 f.; Lambrecht, Horst, in: C.-D. Ehlermann u. a., a. a. O., Anm. 12, S. 103 und 116, sowie eigene Berechnungen.

123 1956-1985 Fünfjahresdurchschnitte. Lieferungen an die DDR Anteil in v. H. 124 Einschließlich Bergbauerzeugnisse. 125 Differenz zu 100 durch Rundungen entstanden.

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Diese Tatsache widerlegt die gängige Behauptung, daß die DDR sich in hohem Maße mit Technologie aus der Bundesrepublik eindeckte. Diese Güter kaufte die DDR in viel größerem Umfang bei den übrigen westlichen Handelspartnern. Sie nahm dabei auch Preisnachteile in Kauf. Erst ab 1987 wurden hier Anteile über 30 v. H. erzielt. Der rapide sinkenden Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Produkte – bedingt durch die Investitionsverzichte Anfang der 80er Jahre – konnte die DDR kurzfristig mit einem „Exportnotprogramm“ an Mineralölerzeugnissen begegnen. Damit konnte der Ölpreisboom auf dem Weltmarkt genutzt werden, für den Eigenverbrauch wurde dagegen das durch die gleitende Preisanpassung im RGW billigere Erdöl aus der UdSSR bezogen, das nicht mit Hartdevisen bezahlt werden mußte. Im IDH, aber auch im Westhandel, wurden somit bis zu 30 v. H. der Erlöse aus Mineralölerzeugnisexporten gewonnen. Damit konnte bis Ende 1985 das rasche Ansteigen der Nettoverschuldung noch einmal gebremst werden. Dieses waghalsige Exportprogramm brach mit dem Verfall des Erdölpreises auf dem Weltmarkt Anfang 1986 in sich zusammen. Allein im IDH betrug die Erdöleinbuße für die DDR 1986 bei Mineralölerzeugnissen und Rohöllieferungen 1,2 Mrd. DM. Weder im IDH noch im übrigen Westhandel gelang es, die Verluste durch andere wettbewerbsfähige Erzeugnisse zu kompensieren. Das Gegenteil war der Fall. Im Rahmen des Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland im September 1987 stand die Strukturschwäche der Bezüge aus der DDR im Vordergrund, die damals vorgesehenen Verbesserungen über engere betriebliche Zusammenarbeit u. a. m. konnten bis Ende 1989 keine Veränderungen mehr herbeiführen. Unter den gegebenen Bedingungen war die Wachstumsgrenze erreicht. Schon seit den 70er Jahren war eine ständige Verschlechterung der Preisrelationen für DDR-Produkte zu verzeichnen. So vor allem auch bei Erzeugnissen der chemischen Industrie, dem zweitwichtigsten Industriezweig neben dem Maschinenbau. Der Swing und andere Finanzierungsarten: Angesichts der streng bilateralen Konstruktion des Warenverkehrs war für den Kontenausgleich im Abrechnungsverkehr der Einbau eines gewissen Kreditspielraumes notwendig, d. h. die Banken räumten sich gegenseitig eine zinslose Überziehungslinie ein, den sogenannten Swing. Ohne diesen Kreditspielraum wäre bei Leistungsverzug einer Seite sofort eine Drosselung auch der Leistungen der anderen Seite notwendig gewesen.126

126 Für die Verrechnung führten beide Zentralbanken mehrere Verrechnungskonten und zwar (Unterkonto 1/2) für die Warenlieferungen, Unterkonto 3 für die Dienstleistungen und ab 1958 das Sonderkonto S, das der DDR den schnellen Bezug von Waren gegen bar in DM ermöglichte. Hierzu ausführlich Buck, Hansjörg: „Der innerdeutsche Handel, Bedeutung, Rechtsgrundlagen, Geschichte, Organisation, Entwicklung, Probleme und politisch-ökonomischer Nutzen“, in: Innerdeutsche Rechtsbeziehungen, Heidelberg 1988, S. 277 ff.

867

Der Swing im IDH Höhe, Inanspruchnahme und Finanzierungsanteil des Swings 1970-1988 Jahr

1970 1975 1976 1980 1981 1982 1982 1984 1985 1986 1987 1988

Vereinbarter Swing Mio. VE 380/440 790 850 850 850 850 770 690 600 850 850 850

Durchschnittl. Inanspruchnahme127 in v. H. 95 90 92 88 80 68 71 31 29 22 47 31

Relation Swing/ Bezüge in v. H. 12 18 18 14 12 9 8 3 2 2 5 4

Kumulierter Aktivsaldo128 Mrd. VE 1,4 2,4 2,6 3,9 3,7 2,8 4,1 3,1 3,6 4,0 4,3 3,9

Swingfinanzierungsanteil129 in v. H. 30 30 30 19 19 15 13 7 5 5 9 7

Entwicklung der Dienstleistungen 130 in Mio. DM (VE) Jahr131 1956/60 1961/65 1966/70 1971/75 1976/80 1981/85 1986 1987 1988 1989

Umsatz in die DDR 95 118 268 586 1010 1884 2057 1940 2034 2161

Lieferungen aus der DDR 78 94 183 389 684 1191 1197 1114 1060 1117

Bezüge132 17 24 85 197 326 693 860 826 974 1044

127 In Anspruch genommener Swing zu den Warenbezügen der DDR. 128 Aktivsaldo der Bundesrepublik Deutschland aus Warenverkehr, Dienstleistungen und Barzahlungskonto (Sonderkonto S) per 31. Dezember. 129 Verhältnis von in Anspruch genommenem Swing zum kumulierten Aktivsaldo. Quellen: Pressemitteilungen des Bundesministeriums für Wirtschaft sowie Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, S. 791. 130 Konto 3 des Berliner Abkommens. 131 Fünfjahresdurchschnitte. 132 Einschließlich Postausgleichszahlungen. Quelle: Pressemitteilungen des Bundesministeriums für Wirtschaft 1956/60, 1961/65. Lambrecht, Horst, in: C. D. Ehlermann u. a., a. a. O., Anm. 12, S. 130.

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Dieser ursprünglich rein technische Charakter des Swings, dessen Sockelbetrag ab 1959 auf 200 Mio. DM (VE) festgesetzt wurde, erhielt durch die 1967 vorgenommene Dynamisierung eine politische Dimension. Zunächst betrug er 25 v. H. der Bezüge aus der DDR. Ab 1976 galten die in Abständen von fünf Jahren getroffenen Swingabmachungen. Bis 1990 wurde er auf jährlich 850 Mio. VE vereinbart. Da den Swing fast ausschließlich die DDR in Anspruch nahm, war er über Jahrzehnte ein Förderinstrument des IDH. Seit 1984 verlor er allerdings zunehmend an Bedeutung. Während in den 70er Jahren der Ausnutzungsgrad des Swings bis zu 95 v. H. betrug und z. B. 1975 noch 18 v. H. der Bezüge aus der Bundesrepublik Deutschland mittels des Swings finanziert wurden, sank die Auslastung ab Mitte der 80er Jahre ständig. Lag die Inanspruchnahme in den 70er Jahren noch zwischen 88 und 94 v. H., so sackte sie in den 80er Jahren – mit Ausnahme von 1987 – auf 30 v. H. und weniger ab (siehe obige Tabelle). Insbesondere nach 1985 war dieser niedrige Ausnutzungsgrad ein groteskes Beispiel der Abgrenzung. Trotz rapide wachsender Devisenprobleme zog die DDR-Führung weitere Kreditaufnahmen bei ausländischen Banken der stärkeren Inanspruchnahme des Swings vor. Diese Politik wurde nach dem Mauerfall umgehend geändert und der Swing voll in Anspruch genommen.133 Neben dem begrenzten Finanzierungsinstrument „Swing“ gab es die bereits erwähnten zur Zeit der großen Koalition Ende der 60er Jahre geschaffenen Finanzierungsmöglichkeiten durch die Gesellschaft zur Finanzierung von Industrieanlagen mbH (GEFI). Seit 1975 wurde die Gewährung gebundener Finanzkredite in DM ermöglicht.134 Dadurch konnten Anlagengeschäfte größeren Umfangs – insbesondere in den Jahren 1979-1981 – kontrahiert werden. Die Rückzahlung erfolgte häufig aus der Produktion der neuen anlagen. Zu den größten gehörten das Chemiewerk Buna II in Schkopau. Eine Sonderform des Handels war die sogenannte Gestattungsproduktion. Auf der Basis lizenzähnlicher Verträge produzierte die DDR bundesdeutsche Markenartikel, dazu wurden häufig Rezepte, Roh- und Vorprodukte sowie Maschinen geliefert. Bezahlt wurde mit Waren aus dieser Produktion. Es existierten etwa ein Dutzend Verträge der hauptsächlich im Nahrungs- und Genußmittelsektor angesiedelten Gestattungsproduktion. Eine der wenigen Ausnahmen bildete die Herstellung von Salamanderschuhen. Der Umfang der Kreditvergaben an die DDR schlug sich gegenüber der Bundesrepublik jährlich im sogenannten kumulierten Passivsaldo nieder. Er war der jährliche Ausweis der bestehenden Verschuldung der DDR in DM (VE). Ende 1988 betrug er 3,9 Mrd. DM (VE). Er setzte sich aus dem Ausnutzungsgrad des

133 Luft, Christa, Zwischen Wende und Ende, Berlin 1991, S. 85. 134 Zu Umfang und Techniken der Kreditvergabe Cornelsen, Doris, u. a., a. a. O., Anm. 31, S. 133 ff.

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Swings, den kurz- und längerfristigen DM (VE)-Krediten und den Einschüssen in bar aus dem Sonderkonto S zusammen. Die Dienstleistungen: Bestandteil des IDH war neben dem Warenverkehr der Dienstleistungsverkehr. Schwerpunkt bei den Einnahmen der Bundesrepublik bildeten die Frachten und Nebenkosten mit über 50 v. H. In den 80er Jahren kamen als zweitwichtigste Größe die Zinseinnahmen hinzu. Auf der DDR Seite standen Frachten und Provisionen135 an erster Stelle. Einen Sonderfall bildeten die Zahlungen aus Berlin (-West) für Abfall und die Postpauschale. Diese war nicht Bestandteil der Dienstleistungsvereinbarungen des Berliner Abkommens, sie wurde aber im Rahmen des IDH in DM (VE) abgerechnet. Die Postpauschale war eine Ausgleichszahlung für die Mehrleistungen der DDR-Post für das erhöhte Paketaufkommen von West nach Ost. Bis 1977 betrug sie jährlich 30 Mio. DM (VE), bis 1982 jeweils 85 Mio. DM (VE) und bis 1990 200 Mio. DM (VE). Der Anteil der Dienstleistungen (incl. Postpauschale) am Warenverkehr stieg überproportional an. 1965 lag er bei 6 v. H., in den 80er Jahren bei 12-15 v. H. Im Gegensatz zum reinen Warenverkehr, wo die DDR auch in den 80er Jahren einen aktiven Saldo erzielte, erhöhte sich der Passivsaldo bei den Dienstleistungen für die DDR beträchtlich (siehe obige Tabelle). Die Vorteilsdiskussion: Über Jahrzehnte war der am meisten mit Emotionen beladene „Dauerbrenner“ in der Diskussion über den IDH im In- und Ausland die Frage nach den Vorteilen für die DDR. Insbesondere gegenüber den EG-Partnern gab es seitens der Bundesrepublik häufig Erklärungsdruck. Fest steht, daß der DDR aus dem Sonderstatus des IDH erhebliche ökonomische Vorteile erwuchsen, die kein anderes RGW-Land hatte. Denn es konnten Güter bezogen werden, die weder aus eigener Produktion noch aus dem Intrablockhandel verfügbar waren. Im Gegensatz zu allen anderen RGW-Ländern hatte die DDR den Vorteil, diese Güter nicht mit harten Devisen, sondern mit eigenen, z. T. weichen Waren zu bezahlen. Ebenfalls fest steht, daß alle Bundesregierungen seit der großen Koalition von 1966 Förderungsmaßnahmen des IDH aus den oben dargestellten politischen Motiven befürworteten, die letztlich aus der ungelösten deutschen Frage resultierten. Außerordentlich problematisch war es allerdings, die Vorteile der DDR zu quantifizieren. Die häufigen Versuche dazu in der Vergangenheit hatten immer nur spekulativen Modellcharakter. Als Aufhänger der Diskussion galt und gilt bis heute die landläufige, aber falsche Behauptung, daß die DDR die größten Vorteile aus ihrer „stummen EG-Mitgliedschaft“ hatte. Diesen Status hatte die DDR nicht! 135 Sämtliche Liefergeschäfte im IDH mußten über DDR-Vertretergesellschaften (KoKo Firmen) laufen, die Provisionen in Höhe bis zu 15 v. H. kassierten. Diese „Geldschneiderei“ wurde seitens der DDR nach der Wende abgeschafft. Die KoKo Firmen sind nach 1990 in den Besitz der Treuhand übergegangen. Die nach der Wende nicht mehr gezahlten Provisionen sollten skandalöserweise als „Außenstände“ ausgerechnet der Firmen des ehemaligen „SchalckImperiums“ bei den damaligen westdeutschen Lieferanten nachträglich eingetrieben werden.

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Denn es bestanden ja die Zollschranken aller übrigen EG-Länder – mit Ausnahme der Bundesrepublik – gegenüber dem Drittland DDR. Die Diskussion entzündete sich dabei an der Zoll- und Abschöpfungsfreiheit136 sowie den Mehrwertsteuervergünstigungen für DDR-Waren. Offen blieb dabei aber, in welchem Verhältnis diese Präferenzen auch für die Wirtschaft der Bundesrepublik zu Buche schlugen.137 Durch das EG-Hochpreisniveau bei Agrarprodukten waren die Lieferungen der DDR durch Abschöpfungsfreiheit zwar bevorzugt, ihr Anteil am IDH machte allerdings lediglich 10 v. H. aus. Da aber die Erstattung für Agrarlieferungen der Bundesrepublik in die DDR ebenfalls wegfiel, waren diese Lieferungen schlechter gestellt, d. h. sie waren teurer als die Ausfuhren der übrigen EG-Länder in die DDR. Korrekt quantifizieren ließen sich dagegen die Vorteile aus dem einseitig von der DDR in Anspruch genommenen Swing. Dabei wurde allerdings häufig im Inund Ausland die falsche Rechnung aufgemacht, daß der Swing in seiner gesamten Höhe jährlich zinslos gewährt wurde. Tatsächlich bestand der Vorteil lediglich in der Zinsersparnis für den Ausnutzungsgrad des Swings. Dieser lag aber – wie bereits geschildert – ab 1984 durchschnittlich mit knapp 250 Mio. VE erheblich unter dem vereinbarten Rahmen. Außerdem war er ein Dauerkredit, der bei Inanspruchnahme erschöpft war. Tatsache war auch, daß sämtliche Vorteilsberechnungen von der maximalen, aber falschen Prämisse ausgingen, daß auch bei Beseitigung des Sonderstatus der IDH auf dem bisherigen Volumen und der Struktur verharren würde. Wesentlich wahrscheinlicher wäre aber nach Wegfall des Sonderstatus eine erhebliche Verringerung des IDH gewesen.138 Spekulationen über die Auswirkungen des EG-Binnenmarktes ab 1992 auf den IDH wurden durch die Wiedervereinigung überflüssig.

136 Den Auftakt zu den Vorteilsberechnungen bildete die ausdrücklich als hypothetisch – unter Beibehaltung der bisherigen Warenströme nach Beendigung des Sonderstatus - charakterisierte Quantifizierung von Konrad Merkel am 20. Januar 1970 im Fernsehmagazin Kontraste. Allein für die Agrarlieferungen bezifferte Merkel die zu erwartenden Verluste für die DDR 1988 auf 150 Mio. DM (VE). Laut DPA vom 02.04.1970 lagen bis zu diesem Zeitpunkt allein 50 Anfragen der Holländer bei der Kommission der EG zu diesem Themenkomplex vor. Biskup, Reinhold: Deutschlands offene Handelsgrenze. Die DDR als Nutznießer der EWG Protokolle über den innerdeutschen Handel, Berlin-Frankfurt am Main-Wien 1976. Zu der Problematik einer Quantifizierung auch DIW-Wochenbericht 21-22/1975, S. 170 ff. 137 Kupper, Siegfried / Lambrecht, Horst: „Die Vorteile aus dem innerdeutschen Handel“, in: Deutschland-Archiv, Heft 11/1977, S. 1204 ff. Rezension des Buches von Reinhold Biskup. 138 Aufgrund dieser falschen Prämissen bezifferte Paul Marer 1985 die Vorteile auf jährlich 500 Mio. US $. „Economic Policies and Systems in Eastern Europe and Jugoslavia. Commonalities and Differences”, in: US-Congress, Joint Economic Committee, East European Economies, Slow Growth in the 1980’s. Washington DC 1986. Gernot Schneider bewertete die Vorteile aus Zoll- und Abschöpfungsfreiheit 1989 auf 1 Mrd. DM. „Die DDR eine lebensfähige und erstrebenswerte Alternative zur Bundesrepublik Deutschland?”, in: DDR heute, Nr. 25, 1989, S. 17.

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Neben den unbestreitbaren, aber nicht quantifizierbaren Vorteilen aus dem IDH waren die finanziellen Vorteile (Transferzahlungen in freien Devisen, nicht in VE) aus den Folgeverträgen zum Viermächteabkommen über Berlin unstrittig und eindeutig quantifizierbar. Sie waren von größtem ökonomischen Gewicht für die DDR-Wirtschaft. Für die alte Bundesrepublik erwuchsen daraus heute meist vergessene deutschlandpolitische Gewinne.139 Das Ende des IDH: Mit Inkrafttreten des Staatsvertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 01.07.1990 begann die letzte Phase der über 40jährigen Geschichte des IDH. Artikel 12 sah dazu vor: (1) „Das zwischen den Vertragsparteien vereinbarte Berliner Abkommen vom 20. September 1951 wird im Hinblick auf die Währungs- und Wirtschaftsunion angepaßt. Der dort geregelte Verrechnungsverkehr wird beendet und der Abschlußsaldo des Swing wird ausgeglichen. Bestehende Verpflichtungen werden in Deutscher Mark abgewickelt. (2) Die Vertragsparteien stellen sicher, daß Waren, die nicht Ursprungswaren der Bundesrepublik Deutschland oder der Deutschen Demokratischen Republik sind, über die innerdeutsche Grenze in einem zollamtlich überwachten Verfahren befördert werden. (3) Die Vertragsparteien sind bestrebt, so bald wie möglich die Voraussetzungen für einen vollständigen Wegfall der Kontrollen an der innerdeutschen Grenze zu schaffen“. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 ging das Berliner Abkommen unter.140 Das Unikum Innerdeutscher Handel wurde zum reinen Binnenhandel innerhalb der Grenzen eines Landes. Bedrückend dabei ist aber die Tatsache, daß der Warenverkehr nun zur in früheren Jahren häufig warnend beschworenen Einbahnstraße geworden ist. Die Bezüge aus den neuen Bundesländern sind nicht nur wegen des wirtschaftlichen Niedergangs der alten DDR bis Ende 1992 um 40 v. H. gegenüber 1989 gewachsen. Die Lieferungen aus den alten Bundesländern boomen dagegen und haben sich im gleichen Zeitraum verachtfacht. Die eingangs erwähnten erheblichen industriellen Strukturveränderungen im alten einstmals hochspezialisierten mitteldeutschen Raum, der Aufbau neuer in 139 Volze, Armin, über die Transferzahlungen. Ebenso Volze, Armin: „Zu den Besonderheiten der innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen im Ost-West-Verhältnis“, in: Deutsche Studien, Vierteljahreshefte XXI Jg., Heft 83, S. 9 ff. Volze wies damals zu Recht auf die erhebliche politische Last, die der DDR-Führung im Gegensatz zu derjenigen aus dem IDH erwuchs, hin. So etwa die stärkere Verbindung zwischen Berlin und Bund durch das Transitabkommen oder die Anwesenheit von Millionen Besuchern aus dem Bundesgebiet und Berlin (-West). 140 Nicht unterging der innerdeutsche Warenverkehr in der Statistik. Nach Art. 8 des Einigungsvertrages (Anlage I Kapitel XVIII) werden mit Befristung bis zum 31.12.1995 die Lieferungen und Bezüge zwischen dem alten Bundesgebiet und dem Beitrittsgebiet weiter direkt an das Statistische Bundesamt gemeldet.

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Westdeutschland vorhandener Produktionsstrukturen sowie die Vernachlässigung der vormals klassischen Industrien und die Ausrichtung der Produktion auf den Bedarf wesentlich niedrigerer entwickelter Handelspartner, insbesondere den Massenbedarf der ehemaligen Sowjetunion, hat in über 40 Jahren zwei separierte Volkswirtschaften hervorgebracht, deren Reintegration und arbeitsteilige Verflechtung nicht nur durch die gravierenden gegenwärtigen Strukturveränderungen und Standortvernichtungen im Osten, sondern auch durch entsprechende tiefgreifende Wandlungen im Westen vollzogen werden kann. Mit der Aufrechterhaltung der Klammer IDH wurde über Jahrzehnte zumindest die Minimalvoraussetzung eines Neuanfangs bewahrt. In der Geschichte der Teilung Deutschlands gehört in der alten Bundesrepublik der Interzonenhandel/IDH vor allem aus ökonomischer Sicht zu den am besten aufgearbeiteten Kapiteln. In der vorliegenden Expertise ist versucht worden, alle relevanten Autoren einzubeziehen. Insbesondere ist die über Jahrzehnte kontinuierliche Berichterstattung in den Wochenberichten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und in anderen Publikationen des DIW vornehmlich aus der Feder von Dr. Horst Lambrecht zu nennen. Von besonderem Interesse wäre allerdings die Geschichte des IDH aus der Sicht der unmittelbar Beteiligten auf westdeutscher Seite. Die hohe Sensibilität der Verhandlungen gebot in der Vergangenheit Zurückhaltung. Jetzt sollte allerdings der sehr mühevolle und steinige Weg, der über die Jahrzehnte zurückgelegt werden mußte, von Insidern festgehalten werden. Bisher liegen lediglich die sehr frühen Berichte der beiden ersten Chefunterhändler auf DDR-Seite Josef Orlopp141 und Erich Freund142 vor. Nachtrag Gegenstand der vorliegenden Expertise ist die Geschichte und die Bedeutung des IDH in seiner ökonomischen und vor allem seiner politischen - deutschlandpolitischen Dimension. Verstöße und Umgehungen hat es dabei in der über 40jährigen Vergangenheit auf beiden Seiten gegeben. Letztere nahmen in den 80er Jahren durch Abschlüsse zwischen bundesdeutschen Tochterfirmen im Ausland und DDR-Außenhandelsbetrieben ein bedenkliches Ausmaß an.143 Erst im Rahmen des Schalck-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages wurde das Ausmaß der Verletzungen der Rechtsgrundlagen des Berliner Abkommens ebenso öffentlich wie die vielfachen Verstöße gegen die auch für den IDH geltenden Embargobestimmungen des Außenwirtschaftsgesetzes.

141 Orlopp, Josef: Eine Nation handelt über Zonengrenzen. Streifzug durch die Geschichte des innerdeutschen Handels, Berlin (-Ost) 1952. 142 Freund, Erich: Keine Handelsgrenze durch Deutschland, Berlin (-Ost) 1956. 143 Haendcke-Hoppe, Maria: „Außenwirtschaft und Außenwirtschaftsreform“, in: Glasnost und Perestrojka auch in der DDR? Hrsg.: Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Berlin 1988, S. 67.

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Die Geschichte des IDH muß deshalb nicht umgeschrieben werden. Wohl aber sollten die Warenströme, die dem IDH verlorengegangen sind, ebenso wie die Embargoverstöße wissenschaftlich untersucht werden. Das Bild der früheren Bundesregierungen als Hüterin des Berliner Abkommens ist bedauerlicherweise getrübt. Zusammenfassung 1. Der Interzonenhandel/Innerdeutsche Handel (IDH) war der älteste, gewichtigste und, wenn auch nicht ohne Rückschläge, stabilste Bestandteil des gesamten innerdeutschen Beziehungsgeflechtes. Durch das Berliner Abkommen von 1951 war der IDH über viele Jahre der einzige vertraglich geregelte Bereich zwischen beiden Staaten in Deutschland. 2. Der Geltungsbereich des Berliner Abkommens erstreckte sich auf Währungsgebiete und nicht auf politische Einheiten. Die Statusfragen um Berlin (-West) waren damit im Gegensatz zu allen späteren Vereinbarungen umgangen. Das Abkommen galt als „Musterbeispiel für partiellen Interessenausgleich unter besonders schwierigen Bedingungen“. Die sorgfältige Hütung dieses Abkommens gegen alle „Modernisierungsexperimente“ bewahrte damit die materielle Rechtseinheit zwischen Berlin (-West) und der damaligen Bundesrepublik Deutschland bis zum Schluß. 3. Wegen seines Ursprungs und seiner Rechtsgrundlagen war der IDH ein Unikum ohne Parallele. Er war weder reiner Binnen- noch reiner Außenhandel. Sein Sonderstatus verkörperte das Grundprinzip der Siegermächte im Potsdamer Abkommen, Deutschland während der Besatzungszeit als wirtschaftliche Einheit zu behandeln. Dieser Sonderstatus blieb bis zum de jure Ende der Besatzungszeit am 2. Oktober 1990 bestehen. Für die alte Bundesrepublik galt der IDH deshalb nicht als Außenhandel. 4. Dieser Sonderstatus des IDH – den die DDR sich lange bemühte zu leugnen – wurde international abgesichert, sowohl 1951 im GATT durch das Protokoll von Torquay als auch im Zusatzprotokoll der Römischen Verträge bei der Gründung der EWG 1957. Die DDR hatte dadurch nicht, wie häufig aber falsch behauptet wird, den Status eines Quasi-EG-Mitgliedes, denn die Zollschranken bestanden mit Ausnahme der Bundesrepublik zu den übrigen EGLändern weiter. 5. Der IDH hatte für die beiden deutschen Teilstaaten unterschiedliches Gewicht. Für die alte Bundesrepublik Deutschland standen die politischen Motive im Vordergrund. Dazu gehörte bis zum Schluß die Klammerfunktion zwischen beiden deutschen Teilstaaten sowie die Sicherung des freien Zugangs nach Berlin, die durch das im sogenannten Yessup-Malik-Abkommen von 1949 geschaffene Junktim „freier Zugang nach Berlin und unbehinderter Interzonenhandel“ begründet war. Der IDH war damit das „Standbein der Deutschlandpolitik“. 6. Für die SBZ/DDR hatte der IDH massive ökonomische Bedeutung aufgrund der erheblich stärkeren Abhängigkeit von „äußeren“ Absatz- und Bezugs-

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7.

8.

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10.

märkten. Die Bundesrepublik war mit einem Anteil von durchschnittlich etwa 15 v. H. und mehr größter Handelspartner nach der UdSSR, umgekehrt betrug der Anteil des IDH, gemessen am bundesdeutschen Außenhandel, weniger als 2 v. H. Da der IDH streng bilateral auf der Basis von Verrechnungseinheiten DM (VE) abgewickelt wurde, hatte die DDR als einziges RGW-Land einen gespaltenen Westhandel. Für etwa 40 v. H. ihres Westhandels, nämlich den IDH, brauchte sie keine Hartdevisen einzusetzen, sondern „bezahlte“ mit Waren. Die Entwicklung des IDH verlief schwankend und wurde von politischen Ereignissen beeinflußt. Ende der 60er Jahre erhielt er kräftige Impulse durch Förderungsmaßnahmen der Bundesregierung (Dynamisierung des Swings, Mehrwertsteuerregelung u. ä. mehr). Nach der diplomatischen Anerkennung durch den Westen in der ersten Hälfte der 70er Jahre bemühte sich die DDR, ihren Westhandel zu Lasten des IDH schneller auszuweiten. Die dadurch entstandene prekäre Hartdevisenverschuldung führte aber zu Beginn der 80er Jahre zu einer schweren Zahlungsbilanzkrise. Durch die wesentlich günstigere Verschuldungssituation im IDH konnte dieser als wichtiger Stabilisierungsfaktor der DDR-Wirtschaft eingesetzt werden. Trotz günstigerer politischer Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre schrumpfte der IDH. Die Warenstruktur des IDH entsprach dem hohen industriellen Niveau der beiden deutschen Staaten nicht. Der Anteil der Grundstoffe und Produktionsgüter dominierte. Die hohen Lieferverpflichtungen im Rahmen des RGW (80 v. H. und mehr aller Exporterzeugnisse im Maschinenbau) und die dadurch veränderte Produktions- und Qualitätsstruktur hatten das Lieferpotential der DDR von Beginn an eingeschränkt. Ab Anfang der 80er Jahre trat ein rascher Verfall der Wettbewerbsfähigkeit der Erzeugnisse ein, der kurzfristig durch die Lieferung von Mineralölerzeugnissen in großem Stil im IDH und im übrigen Westhandel teilweise ausgeglichen wurde. Der Zusammenbruch des Rohölpreises auf dem Weltmarkt Anfang 1986 machte das völlige Unvermögen der DDR-Wirtschaft deutlich, die deformierte Struktur der Warenlieferungen im IDH, aber auch im übrigen Westhandel qualitativ noch aus eigener Kraft zu verändern. Der DDR erwuchsen aus der Sonderstellung des IDH ökonomische Vorteile, die kein anderer RGW-Staat hatte. Diese Vorteile aus dem IDH waren aber schwer zu quantifizieren. Tatsache ist, daß der IDH häufig zur Stabilisierung der DDR-Wirtschaft und damit auch zu ökonomischen Erleichterungen für die DDR-Bürger beitrug. So etwa während der empfindlichen Zahlungsbilanzkrise Anfang der 80er Jahre. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 ging das Berliner Abkommen unter. Das Unikum Innerdeutscher Handel wurde zum freien Binnenhandel innerhalb der Grenzen eines Landes.

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5. Export von mehr als 300.000 Uniformen 1984/85 für die ägyptische Armee und der Handel der DDR 1988 mit westlichen Industrieund Entwicklungsländern Der Export der Armeeuniformen zeigt beispielhaft sozialistisches Staatsdumping.144 Knöpfe auf Halde: Gegen den Protest der eigenen Experten lieferten DDRAußenhändler massenhaft Uniformen nach Ägypten. – „Die DDR und Ägypten“, so verkündete das SED-Zentralblatt „Neues Deutschland“ („ND“) stolz, „werden ihre Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Leichtindustrie ausbauen. Entsprechende Gespräche führte der Staatssekretär im Ministerium für Leichtindustrie der DDR, Claus Kühnel, während seines Aufenthalts in Kairo“. Als die Manager der ostdeutschen Textilindustrie am 21. April 1984 die „ND“-Meldung lasen, ahnten sie nicht, was das für sie bedeuten sollte. Sechs Wochen später erfuhren sie es. Kurzfristig wurden per Fernschreiben alle Generaldirektoren und Leiter der Volkseigenen Betriebe (VEB) für Garn- und Stoffherstellung sowie Oberbekleidung und Konfektion zum 4. Juni nach Ost-Berlin zitiert. Auf der Konferenz teilten die Minister für Außenhandel und Leichtindustrie lapidar mit, die Textilproduzenten hätten etwas außer Plan zu schneidern – mehr als 300 000 Uniformen für die ägyptische Armee. Das Tuch-Geschäft habe absoluten Vorrang vor der übrigen Produktion und müsse bis zum Jahresende abgewickelt sein. Die Konditionen verblüfften selbst erfahrene VEB-Chefs, die sonst nicht pingelig sind, wenn auf devisenträchtigen Märkten notfalls auch mit Dumpingpreisen Kasse gemacht werden soll – koste es, was es wolle. Um die Mitbewerber aus 40 Ländern auszustechen, unterboten die Außenhändler der DDR-Staatsfirma Textilcommerz nicht nur die Konkurrenz. Sie nahmen in den Vertrag auch ein paar Klauseln auf, mit deren Hilfe sie sogar ihre hartnäckigsten Verfolger, die noch billigeren Südkoreaner, abhängten. So verpflichteten sich die Leute von Textilcommerz, auf jedes Rechtsmittel zu verzichten, falls es bei der Abwicklung des Geschäfts zu Unstimmigkeiten kommen sollte – „ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des DDR-Außenhandels“ (ein Ost-Berliner Wirtschaftsjurist). Die ostdeutschen Staatshändler akzeptierten auch eine weitere Bedingung: Die DDR mußte 15 Prozent des Auftragsvolumens auf ein eigens eingerichtetes Schweizer Nummernkonto zahlen. Von dem Konto durften sich die Ägypter nach Gusto bedienen, sobald sie irgendwelche Beanstandungen an der gelieferten Ware hatten. Da der Rechtsweg ausgeschlossen war, genügte für Reklamationen ein Einschreibebrief. Die DDR verpflichtete sich, das Konto nach Abhebungen stets wieder aufzufüllen – ein Devisenquell für durstige ägyptische Militärs.

144 Fehl, Ulrich: Preisdifferenzierung (Preisdiskriminierung), in: HdWW, 6. Bd., 1988, S. 169 f.

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Für die taten die Ost-Berliner noch mehr: Als Beigabe versprach Textilcommerz, die Uniformen für die Generalität des Staatspräsidenten Hosni Mubarak kostenlos zu fertigen – Säbel inklusive. „Absoluter Irrsinn, das mach ich nicht mit“, empörte sich Herbert Kempf, damals stellvertretender Generaldirektor und inzwischen Chef des VEB Kombinats Oberbekleidung Berlin, als er von diesen vertraglichen Verpflichtungen der staatlichen Außenhandelsplaner erfuhr. „Ökonomisch“, so kommentierte auch ein leitender Angestellter von Textilcommerz das Uniformgeschäft, „ist der Handel völlig sinnlos. Das ist ein Geschenk und kein Vertrag“. Wieviel das Geschenk wert ist, darüber gibt es inzwischen Zahlen. In den beteiligten Konfektionsbetrieben etwa lag die „Devisenrentabilität“ des Uniformgeschäfts bei 0,08 DM, in der Stoffproduktion bei 0,15 DM. Im Kapitalistendeutsch: Je aufgewendeter Valutamark (die entspricht einem fiktiven und schwankenden Umrechnungskurs von DDR-Mark auf Devisen) machten die ostdeutschen Hersteller 85 bzw. 92 Pfennig Verlust. Dazu kommen andere Kosten: Weil die betroffenen Firmen wegen der dringlichen Schneiderei-Exporte an den Nil mit ihren übrigen Lieferungen in Verzug gerieten, mußten sie zum Teil saftige Vertragsstrafen zahlen und obendrein schon verplante Deviseneinnahmen abschreiben. Einer der beteiligten Betriebe büßte wegen der Ägypter in fünf Monaten 1,2 Millionen Valutamark ein. Doch selbst vorsorgliche Proteste der sozialistischen Manager nutzten nichts. Als sich die Textilfabrikanten am 4. Juni 1984 in Ost-Berlin versammelten, war der Vertrag bereits unterzeichnet. „Wir werden uns hüten“, so ein Mitarbeiter von Textilcommerz, „dagegen zu opponieren. Die Weisung kommt von ganz oben“. Sie ist Beispiel dafür, was die DDR-Führung bei ihren Mühen um bessere Beziehungen zu Ländern der Dritten Welt vor allem erreicht: Sie bringt die real existierende sozialistische Wirtschaft daheim durcheinander. Die ostdeutschen Kleidermacher haben bereits 1981 mit arabischen Militärs schlechte Erfahrungen gemacht. Damals fragten die Libyer in Ost-Berlin an, unter welchen Bedingungen die DDR Uniformen für die Soldaten des Obersten Muammar el-Gaddafi anfertigen würde. Ermutigt durch den Gang der Verhandlungen, begannen die DDR-Betriebe schon vor Vertragsabschluß zu produzieren. Doch in letzter Minute überlegten es sich Gaddafis Unterhändler anders. Das Geschäft platzte, die Uniformen landeten auf dem Müll. Um nicht wieder reinzufallen, bekamen die DDR-Außenhändler vor dem Ägyptengeschäft Nachhilfe vom Ost-Berliner Verteidigungsministerium über den rechten psychologischen Umgang mit nahöstlichen Generalen. So wurde zur reibungslosen Abwicklung des Ägyptengeschäfts vorsorglich ein „Zentraler Sonderstab“ gebildet, der die Herstellung – von der Stoffproduktion bis zur Konfektion – überwachen sollte. Zum Stabschef ernannte Leichtindustrie-Minister Werner Buschmann den Ost-Berliner Oberbekleidungs-Manager Kempf: Der Genosse hatte am heftigsten gegen den Handel opponiert. Bereits zwei Tage nach der Berliner Sitzung mußten die Betriebe detaillierte Pläne zur Produktionsumstellung vorlegen, die Fertigung aller anderen Erzeugnisse wurde eingestellt. Zwei Wochen später arbeiteten die Faden- und Tuchfabriken in der Umgebung von Bautzen, Zittau und Greiz voll für die Neuausstat-

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tung der ägyptischen Armee. Um die Uniformen fristgerecht liefern zu können, fuhren viele Betriebe an den Wochenenden Sonderschichten. Da weder die DDR noch die Ägypter Interesse hatten, das Geschäft publik werden zu lassen, versuchte das Ministerium für Leichtindustrie, den Kreis der Mitwisser so klein wie möglich zu halten. Weisungen an die Betriebe gingen nicht, wie sonst üblich, über Fernschreiber, sondern nur mündlich. Vor Ort kümmerte sich die Staatssicherheit um die Überwachung der Produktion – auch das ein selbst in der DDR unüblicher Vorgang. Pannen gab es trotz Stasi und Planungsstab. Um wenigstens ein paar Kosten zu sparen, hatten die Hersteller Order, möglichst Zutaten heimischer Produktion zu verwenden. Nur die Uniformknöpfe mußten aus der Bundesrepublik importiert werden. Die aber gleich zweimal. Der erste Posten eloxierter Knöpfe, ein billiges Sonderangebot, veränderte nach wenigen Wochen sein Aussehen: die Eloxierung wurde stumpf. Als die Ägypter den Mangel rügten, war es schon zu spät: Eine Million Knöpfe waren bereits gekauft (und liegen in der DDR noch immer auf Halde). Teuer kam die DDR auch ihr Versprechen zu stehen, die ägyptischen Generale kostenlos auszustaffieren. Die erste in den DDR-Betrieben gefertigte Garnitur war nicht zu verwenden, da die aus Ägypten übermittelten Konfektionsgrößen in fast allen Fällen nicht den realen Maßen der Generale entsprachen. Daraufhin schickte Textilcommerz eine eigene Maßschneider-Brigade nach Kairo, um die Herren vor Ort zu vermessen und einzukleiden. Härter noch trafen die Folgen der Uniformproduktion die Hersteller: Ein Teil des Maschinenparks mußte, da die Anlagen der außergewöhnlichen Belastung nicht standgehalten hatten, generalüberholt oder erneuert werden. Rundum zufrieden mit dem Geschäft waren dagegen die Ägypter. Sie lobten nicht nur intern die Qualität der gelieferten Ware. Außenminister Ismat Abd elMagid bescheinigte seinem DDR-Kollegen Oskar Fischer bei dessen KairoVisite im letzten Januar auch öffentlich, es bestünden alle Voraussetzungen, die Beziehungen zum beiderseitigen Nutzen weiter auszubauen“.145

Das VEB Kombinat Baumwolle, Bekleidungswerk Falkensee, erlöste 1988 bei Export in den Westen für 1 DDR-Mark 0,346 DM. Da die Kosten in der marktlosen DDR-Wirtschaft beim Westexport keine Rolle spielten, mußte die DDR alle Mitkonkurrenten auf den Westmärkten preislich unterbieten.

145 SPIEGEL 1/1986, S. 43-46.

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6. Sozialistisches Mega-Dumping: Die 190 größten Volkseigenen Kombinate erlösten 1988 für 1 DDR-Mark 0,309 DM. Der Devisenerlös zeigt die Arbeitsproduktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Kombinate E. Schreiber, H. Hendzlik und K. Schmolinsky gaben im Juli 1990 in Berlin eine Broschüre zum Thema „Stand, Entwicklung und Perspektiven des Außenhandels DDR – EG“ heraus. Grundlage aller Berechnungen waren Angaben und Abrechnungen des „Statistischen Amtes der DDR“.146 Die „Staatliche Zentralverwaltung für Statistik“ der DDR war 1990 in „Statistisches Amt der DDR“ umbenannt worden. Die Verfasser der Broschüre kamen aus dem „Ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Plankommission“ und gehörten im Juli dem „Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung e. V.“, Berlin, an. Sie analysierten 1.597 Volkseigene Kombinate/Betriebe, davon 37 Betriebe im Bereich der chemischen Industrie, 33 im Bereich der Elektrotechnik/Elektronik und 30 Bereiche der Leichtindustrie. Von den 194 betrachteten wichtigen Exportbetrieben hatten 10 eine Exportquote in westliche Länder von über 30 % und gleichzeitig einen Devisenertrag von über 0,3; 5 Betriebe davon einen Devisenertrag über 0,35. Der Export dieser volkseigenen Betriebe in die westlichen Industrieländer und Entwicklungsländer mußte höher als 10 Mio. DDR Mark sein. Die Devisenertragskennziffer (DE) berechnet sich so: Devisenertragskennziffer (DE) =

Devisenerlös inländischer Aufwand zu Betriebspreisen

Beispiel: Das VEB Kombinat Robotron exportierte in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer Produkte für 11 Mio. DDR Mark und erhielt dafür 0,97 Mio DM. Devisenertragskennziffer =

0,97 Mio DM 11 Mio DDR Mark

= 0,088

Für eine DDR Mark erhielt die DDR beim Export von Robotron Produkten 0,088 DM. Bei den folgenden Tabellen ist das Exportvolumen in Mio. DDR Mark, die Spalte DE ist ersetzt durch DM für 1 DDR Mark und die letzte Spalte errechnet sich durch die Multiplikation des Exportvolumens in Mio. DDR Mark mal der Devisenertragskennziffer (DE), d. h. DM für eine DDR Mark.147

146 Schreiber, E. / Hendzlik, H. / Schmolinsky, K.: Stand, Entwicklung und Perspektiven des Außenhandels DDR – EG, Berlin Juli 1990, S. 5. Im Juni 1990 bemerkte der Präsident des Statistischen Amtes der DDR, Prof. Dr. Donda: „Völlig neugestaltet sind die Abschnitte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Umweltschutz, Preisstatistik und Außenhandel“. In: Statistisches Amt der DDR (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der DDR, 35. Jg., Berlin (-Ost) 1990, Redaktionsschluss: Juni 1990, Vorwort. 147 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 231, Außenhandelsrentabilität.

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Warenstruktur des Exports der DDR 1988 in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer 148

Die DDR exportierte in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer im Jahr 1988 vor allem:

1: Metallurgische Erzeugnisse (einschl. Erze) 2: Erzeugnisse des Maschinen- und Fahrzeugbaus, der Elektrotechnik und Elektronik, des Gerätebaus sowie Anlagen 3: Erzeugnisse der Chemischen Industrie 4: Erzeugnisse der Leicht- und Textilindustrie 5: Erzeugnisse der Lebensmittel- und Genußmittelindustrie 6: Erzeugnisse der Land- und Forstwirtschaft 7: Sonstige Erzeugnisse

Export 1988 Mio DM 1.857,18

% 10,30

1988: 1985 - 27,6

3.603,47

19,98

- 28,2

3.253,90 3.142,15

18,04 17,42

- 53,1 - 20,3

999,47 585,68 4.593,33 18.035,18

5,54 3,25 25,47

- 14,9 - 15,9 - 19,1 - 30,7

Die vier Erzeugnishauptgruppen (2, 3, 4, 1) machten 1988 etwa zwei Drittel der Exporte in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer aus. Gegenüber 1985 ging der Export in diese Länder um 30,7 % zurück.

148 Schreiber, E. / Hendzlik, H. / Schmolinsky, K., a. a. O., S. 26.

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„Im untersuchten Zeitraum 1985 bis 1988 hat sich der Export aller Erzeugnishauptgruppen rückläufig entwickelt. Der DDR ist es demnach in den letzten fünf Jahren nicht gelungen, einmal erarbeitete Marktanteile zu behaupten bzw. auszubauen. Eine deutlich abnehmende Exporttätigkeit zeigt sich bei den Erzeugnissen der Chemischen Industrie (- 53,1 Prozent) und Erzeugnissen des Maschinen- und Fahrzeugbaus, der Elektrotechnik und Elektronik, des Gerätebaus sowie Anlagen (- 28,2 Prozent) und bei den Erzeugnissen der Leicht- und Textilindustrie (- 20,3 Prozent). Die Ursache dieser den gesamten Export umfassenden Entwicklung liegt in einer immer weiter sinkenden Konkurrenzfähigkeit von DDR-Erzeugnissen unter Marktbedingungen. Vor allem in der metallverarbeitenden Industrie wirkte sich das ungenügende Volumen an effektiv absatzfähigen Erzeugnissen, mangelnde Marktbearbeitung und unzureichende Serviceleistungen negativ auf die Exporte in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer aus. Es ist offensichtlich, daß die damalige ökonomische Strategie der SED nicht zur qualitativen Verbesserung der Exportstruktur beitrug“.149 Der Außenhandel der DDR mit der EG entsprach 1988 etwa dem Außenhandelsumsatz der Bundesrepublik Deutschland mit Dänemark. Die Bundesrepublik exportierte 1988 in die EG Waren im Wert von 517,2 Mrd. DM, die DDR in die EG im selben Jahr für 19,6 Mrd. DM, d. h. 3,79 %. 1936 hatte das Gebiet der SBZ/DDR an den gesamten deutschen Industrieexporten einen Anteil von 22,5 %. Der fiktive Vergleich von 1936 mit 1988 zeigt die extrem gesunkene Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Exporte in den Westen. Warenstruktur des Exports der DDR in die Bundesrepublik Deutschland 1988 150

149 Ebd., S. 27. 150 Ebd., S. 42.

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Die Bundesrepublik Deutschland führte 1988 aus der DDR ein: 1: Metallurgische Erzeugnisse (einschl. Erze) 2: Erzeugnisse des Maschinen- und Fahrzeugbaus, der Elektrotechnik und Elektronik, des Gerätebaus, Anlagen: 3: Erzeugnisse der Chemischen Industrie: 4: Erzeugnisse der Leicht- und Textilindustrie: 5: Erzeugnisse der Lebensmittel- und Genußmittelindustrie: 6: Erzeugnisse der Land- und Forstwirtschaft: 7: Sonstige Erzeugnisse:

9%

15 % 18 % 28 % 4% 6% 20 %

„Während Metallurgische Erzeugnisse (1) und Erzeugnisse des Maschinenund Fahrzeugbaus, der Elektrotechnik, Elektronik, des Gerätebaus sowie Anlagen (2) Exporterhöhungen 1985 bis 1988 um 27,7 Prozent und 5,9 Prozent ausweisen, verringerten sich die Exporte der übrigen Erzeugnishauptgruppen im gleichen Zeitraum. Besonders betroffen waren die chemischen Erzeugnisse (3) und die Erzeugnisse der Lebensmittel- und Genußmittelindustrie (5)“.151 In der gesamten DDR-Wirtschaft existierte nur ein einziger Betrieb, der für das Exportvolumen in Höhe von 51,0 Mio DDR Mark 62,73 Mio DM beim Export in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer erzielte. Es war dies die Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen.152

Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen

Exportvolumen Mio DDR Mark

DM für 1 DDR Mark

Exportquote

DMErlös

51,0

1,230

80,7

62,73

Beim Export der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meißen in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer erhielt die DDR für 1 DDR Mark 1,230 DM an Devisen.

151 Ebd., S. 43. 152 Meißner Porzellan: erstes europäisches Porzellan, das von J. F. Böttger nach gemeinsamer Forschung mit E. W. von Tschirnhaus im Dienst des sächsischen Hofs 1709 erfunden wurde. Erzeugnis der 1710 durch August II. in Dresden gegründeten Manufaktur, die wenig später nach Meißen verlegt wurde, so wie zunächst in der Albrechtsburg, seit 1863 in eigener Werkanlage produziert. Form und Dekor ahmten in der ersten Zeit chinesische Vorbilder nach oder wurden von Silber- und Zinngefäßen übernommen. Die Entwicklung eines eigenen malerischen Dekors verdankt das Meißner Porzellan der Tätigkeit J. G. Höroldts an der Manufaktur von 1719 an, die künstlerische Durchformung aller Gefäße und die volle Entfaltung der Porzellanplastik der J. J. Kändlers seit 1731. Hauptsächlich auf den Leistungen dieser Epoche beruht der Weltruhm des Meißner Porzellans. Als Marke führt die Meißner Manufaktur seit 1725 die gekreuzten Schwerter in blauer Unterglasurmalerei, in den verschiedenen Zeiten in leichten Abwandlungen. Das Meißner Porzellan, bei hoher Produktionssteigerung und großer künstlerischer Qualität, wird heute (1974) in etwa 70 Länder exportiert.

882

Die zehn besten volkseigenen Kombinate/Betriebe, die 1988 in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer exportierten 153 Exportvolumen Mio DDR Mark 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Blechblasinstrumente Markneukirchen Kombinat Nagema Verpackungsmittelbau Dresden Piano-Union Leipzig Glasschmuck Lauscha Kunstblume Sebnitz Bekleidungswerk Falkensee Plauener Spitze Plauen Strumpfwaren Turmalin Planeta Radebeul Perfekta Bautzen Zusammen

DM für 1 DDR Mark

Exportquote

DMErlös

13,0

0,741

48,2

9,63

19,6

0,498

24,4

9,76

31,4 11,9 16,2 16,1 32,0 11,7 110,7 14,1 276,7

0,349 0,348 0,346 0,346 0,335 0,333 0,323 0,320 0,363

54,3 43,2 37,5 41,2 41,2 40,6 41,4 45,7

10,96 4,14 5,61 5,57 10,70 3,90 35,76 4,51 100,54

Exporte der 15 größten volkseigenen Kombinate/Betriebe 1988 in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer 154 Kombinat/Betrieb 1. Leuna-Werke Stammbetrieb 2. Petrolchemisches Kombinat Schwedt Stammbetrieb 3. EKO Eisenhüttenstadt 4. Kalikombinat Sondershausen 5. Chemische Werke Buna 6. Stahl- u. Walzwerk Brandenburg 7. Stahl- u. Walzwerk Henningsdorf 8. Automobilwerke Ludwigsfelde 9. Walzwerk Ilsenburg 10. Maxhütte Unterwellenborn 11. Chem. Kombinat Bitterfeld, Stammbetrieb 12. Stahl- und Walzwerk Riesa 13. Synthesewerk Schwarzheide 14. Planeta Radebeuel 15. Agrochemie Piesteritz Stammbetrieb Zusammen

Exportvolumen Mio DDR Mark

DM für 1 DDR Mark

Exportquote

473,6

0,474

20,9

224,49

460,7 378,4 375,3 272,4

0,461 0,378 0,340 0,283

25,6 17,9 27,8 13,9

212,38 143,00 127,60 77,09

206,2

0,206

23,5

42,48

188,6

0,196

31,5

37,00

162,0 149,1 147,9

0,408 0,233 0,194

15,1 41,3 32,1

66,10 34,74 28,70

127,7 121,7 119,7 110,7

0,269 0,224 0,277 0,323

10,2 20,7 19,2 41,4

34,35 27,30 33,16 35,76

105,8 3.399,8

0,216 0,337

18,5

22,86 1.147,01

153 Zusammengestellt nach Schreiber, E., et al.: Anlage 2, S. 1-8. 154 Ebd.

DMErlös

883

1.

2.

3.

4. 5.

Leuna-Werke „Walter Ulbricht“, VEB: größter Industriebetrieb der DDR, Sitz Leuna; etwa 31.000 Beschäftigte (1971). Der ehemalige Betrieb des IG-Farben-Konzerns hatte größte Bedeutung für die nationalsozialistische Kriegführung durch seine Produktion von Treibstoffen, Stickstofferzeugnissen usw.; er wurde im 2. Weltkrieg zu 80 % zerstört. Nach 1945 in Volkseigentum übergeführt, nahmen die Leuna-Werke eine hervorragende Entwicklung (u. a. Aufbau von Leuna II, arbeitet auf petrolchemischer Basis, Erdölleitung von Schwedt). Zum Produktionssortiment der LeunaWerke zählen etwa 400 Verkaufsprodukte (Dieselkraftstoff, Fahrbenzin, Stickstoffprodukte, Düngemittel, Phenole, Plaste usw.).155 Petrolchemisches Kombinat Schwedt, VEB: größter Betrieb der Mineralölverarbeitung in der DDR mit Sitz in Schwedt an der Oder; Zweigwerke in Böhlen, Espenhain, Rositz, Zeitz, Lützkendorf u. a.; 27.000 Beschäftigte (1972). Hauptprodukte: Flüssiggase, Kraftstoffe, Heizöle, Schmierstoffe, Bitumen, Stickstoffdünger, Faserrohstoffe, Paraffine und Wachse. Hauptrohstoff ist sowjetisches Erdöl, das durch die Erdölleitung „Freundschaft“ in die DDR gelangt. Eisenhüttenkombinat Ost, Abk. EKO: auf Beschluß des III. Parteitages der SED erbautes Eisenhüttenkombinat in Eisenhüttenstadt, seit 1.1.1969 Stammwerk und Sitz der Kombinatsleitung des VEB Bandstahlkombinat; über 8.000 Beschäftigte (1970). Das EKO besitzt eine Erzaufbereitung mit Sinteranlage, 6 Hochöfen, ein Kraftwerk und ein 1968 errichtetes Kaltwalzwerk. Es verhüttet Erze aus der UdSSR unter Verwendung von Koks aus Polen und der UdSSR zu Roheisen und produziert kaltgewalzte Bleche und Bänder aus Warmband, das aus der UdSSR importiert wird.156 Sondershausen VEB: Kalikombinat mit Forschungsinstitut und Kaliwerk „Glückauf“. Schkopau VEB Chemische Werke Buna: 18.000 Beschäftigte; Kalziumkarbid, Synthesekautschuk, Plaste, Lösungsmittel u. a.

155 Karlsch, Rainer / Stokes, Raymond: Die Chemie muß stimmen. 1990-2000, Leipzig 2000, S. 21-24: „Enteignungen, Reparationen und Rekonstruktion 1945 bis 1958: Die Werke in Leuna und Böhlen boten nach Ende der Kampfhandlungen ein trostloses Bild. Alles schien zerstört und ein Wiederaufbau kaum noch möglich zu sein. Doch selbst im Fall der schwer bombardierten Mineralölwerke befanden sich unter den Trümmern noch mehr intakte oder nur leicht beschädigte Anlagen, als auf den ersten Blick zu vermuten war. … In der SBZ wurden ab Sommer 1946 alle großen Werke der IG Farbenindustrie in sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) überführt und sowjetischen Industrieministerien unterstellt. Damit sicherte sich die Sowjetunion den Zugriff auf einen großen Teil der Chemieproduktion der SBZ. … Die Großsynthesen von Stickstoff und Benzin des Leuna-Werkes wurden 1946 auf weniger als ein Drittel des Standes von 1944 eingeschränkt, die Methanol- und Isobutylproduktion nahezu vollständig und die Waschrohstoffproduktion ganz eingestellt. Das Gewicht aller abgebauten Anlagen belief sich auf etwa 135.000 Tonnen! Damit hatten die sowjetischen Demontagen das Werk stärker geschädigt als monatelange Luftangriffe! Nach Ende der Demontage lag die Produktivität des Werkes gerade einmal bei 30 Prozent des Vorkriegsstandes. Die Kosten pro Tonne Endprodukt stiegen fast auf das Zweieinhalbfache. … Im Mai 1952 bzw. zum 1. Januar 1954 wurden die für die Volkswirtschaft wichtigen Großbetriebe der chemischen Industrie von der Sowjetunion an die DDR übertragen“. 156 EKO Stahl GmbH (Hg.): Einblicke. 50 Jahre EKO Stahl, Eisenhüttenstadt 2000.

884

6.

7. 8. 9. 10. 11.

12.

13. 14. 15.

Brandenburg: Stahl- und Walzwerk im Ortsteil Kirchmöser; größter Stahl- und Walzbandproduzent der DDR. Am 20.7.1950 lieferte der VEB Stahl- und Walzwerk Brandenburg den ersten Stahl. Henningsdorf: VEB Qualitäts- und Edelstahlkombinat; Stammsitz Stahl- und Walzwerk „Wilhelm Florin“. Ludwigsfelde: VEB IFA Automobilwerke. Seit 1965 Produktion von 5-t-LKW mit ca. 50 verschiedenen Aufbauvarianten. Ilsenburg (Harz): Walzwerk. Unterwellenborn VEB Maxhütte: 12 km lange Stickstoffleitung zum Chemiefaserkombinat „Wilhelm Pieck“ in Rudolstadt-Schwarza.157 Bitterfeld: Kreisstadt im Bezirk Halle, im Norden der braunkohlenreichen Leipziger Tieflandsbucht. Bedeutender Industriestandort des Ballungsgebietes Halle-Leipzig inmitten des Bitterfelder Braunkohlenreviers: VEB Chemiekombinat Bitterfeld, VEB Braunkohlenkombinat, VEB Rohrwerke, VEB Baustoffkombinat. Riesa: Stahl- und Walzwerke, 2 Siemens-Martin-Stahlwerke, Stabwalzwerk, 2 Rohrwalzwerke. Durch Volksentscheid 1946 gingen die Mitteldeutschen Stahlwerke GmbH aus dem Besitz F. Flick in Volkseigentum über. Daraus entwickelte sich der VEB Rohrkombinat Stahl- und Walzwerk Riesa. Schwarzheide: Synthesewerk, Herbizidfabrik seit 1966. Radebeuel: VEB Planeta, Druckmaschinenbau. Piesteritz: Düngemittelkombinat, Stickstoffwerk.

157 Krampe, J.: Die Betriebsgeschichte der Maxhütte Unterwellenborn im Zeitraum von Juli 1946 bis zum Sommer 1948 (Diplomarbeit), Jena 1982, S. 44 ff.

885

Exporte der 15 schlechtesten volkseigenen Kombinate/Betriebe 1988 in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer 158

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Volkseigene Kombinate/Betriebe VEB Kombinat Robotron Radeberg Kombinat Rundfunk u. Fernsehen, Fernseh G.F.E. Staßfurt Jenapharm Jena Warnowerft Warnemünde Fotochemische Werke Berlin Pentacon Dresden Filmfabrik Wolfen Düngemittelwerk Rostock Büromaschinenwerk Sömmerda Uhrenwerke Ruhla Buchungsmaschinen K-M-Stadt Kombinat Schiffbau M. Thesen-Werft Wismar Reifenwerk Fürstenwalde Kombinat Elektrische Bauelemente Elektronik Gera Optima Büromaschinen Erfurt Zusammen

Exportvolumen Mio DDR Mark

DM für 1 DDR Mark

Exportquote

DMErlös

11,0

0,088

27,3

0,97

13,3 21,3 11,7

0,116 0,119 0,129

7,3 49,2 10,0

1,54 2,53 1,51

13,3 26,8 18,2 83,7

0,130 0,136 0,150 0,151

26,3 47,5 7,2 42,0

1,73 3,64 2,73 12,64

12,0 23,1

0,152 0,152

6,5 25,4

1,82 3,51

13,0

0,153

8,9

1,99

31,7 18,9

0,154 0,158

23,2 11,6

4,9 3,0

14,5

0,160

13,7

2,32

23,0 335,5

0,162 0,144

34,8

3,73 48,57

Die hier zusammengestellten 15 Volkseigenen Kombinate (Betriebe) erhielten 1988 für den Export in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer für eine DDR Mark zwischen 0,088 DM (VEB Kombinat Robotron) und 0,162 DM (Optima Büromaschinen Erfurt). Für Exporte in Höhe von 335,5 Mio. DDR Mark erhielt die DDR 48,57 Mio. DM Devisen, d. h. für eine DDR Mark 0,139 DM. Die DDR importierte aus der Bundesrepublik Deutschland 1988 hauptsächlich folgende drei Warengruppen: Erzeugnisse des Maschinen- und Fahrzeugbaus Elektrotechnik, Elektronik, des Gerätebaus, sowie Anlagen

2 = 31 %

Chemische Erzeugnisse

3 = 22 %

Erzeugnisse der Leicht- und Textilindustrie

4 = 13 %

158 Zusammengestellt nach: Schreiber, E. / Hendzlik, H. / Schmolinsky, K.: Stand, Entwicklung und Perspektiven des Außenhandels DDR – EG, Berlin, Juli 1990, Anlage 2, S. 1-8.

886

Warenstruktur der Importe der DDR aus der Bundesrepublik Deutschland 1988 159

Exporte 1988 von volkseigenen Kombinaten / Betrieben in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer

10 beste volkseigene Kombinate/Betriebe 15 größte volkseigene Kombinate/Betriebe 15 schlechtbeste volkseigene Kombinate/Betriebe Alle 190 volkseigenen Kombinate/Betriebe

Exportvolumen Mio DDR Mark

DM für 1 DDR Mark

DM-Erlös in Mio

276,70

0,363

100,54

3.399,80

0,337

1.147,01

335,50

0,144

48,57

7.240,40

0,309

2.235,38

Die DDR mußte bei den Exporten 1988 von 190 volkseigenen Kombinaten/ Betrieben 7.240,40 Mio. DDR Mark aufwenden und erhielt dafür 2.235,38 an Devisen. Um eine DM durch Außenhandel zu erlösen, mußten durchschnittlich Produkte für 3,2 DDR Mark in den westlichen Marktwirtschaften verkauft werden.

159 Ebd., S. 42 f.

887

Die Gesamtexporte der DDR in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer betrugen 1988 18.035,18 Mark der DDR. Mit den Exporten 1988 von 190 volkseigenen Kombinaten/Betrieben wurden etwa 40 % der Westexporte analysiert. Eine vollständige Analyse des Außenhandels der DDR liegt von den Berkeley Ökonomen George A. Akerlof, Andrew K. Rose, Janet L. Yellen und Helga Hessenius vor. Das Berkeley-Team um Nobelpreisträger George Akerlof (2001) hat eine innovative wirtschaftswissenschaftliche Leistung vollbracht, die höchste Anerkennung verdient. Prof. Dr. Michael C. Burda160 hat die Leistung des BerkeleyTeams so vorgestellt: Geheimtipp: Richtungskoeffizient. „Es gab gleich am Anfang Stimmen, die auf die schwierige Lage des Ostens hingewiesen haben. Als Ökonom kann ich nur den größten Respekt vor einer Untersuchung aufbringen, die sich mit der Währungsunion befasst hat, bereits 1990 im Gange war und im April 1991 in der Fachzeitschrift ‚Brookings Papers on Economic Activity’ veröffentlicht wurde. Die Berkeley-Ökonomen George Akerlof (Nobelpreisträger 2001), Andrew Rose, Janet Yellen und Helga Hessenius waren in der Lage, kurz nach dem Fall der Mauer Unterlagen des DDR-Planungsministeriums zu bekommen, die ausführlich angaben, wie viel Wert in Ostmark verkauft werden musste, um eine Deutsche Mark (West) zu erwirtschaften. Diese Richtungskoeffizienten waren ja nichts anderes als Schattenpreise für DDR-Güter, die sich zu gnadenlosen Weltmarktbedingungen verkaufen ließen, denn sie basierten auf freiwilligen Tauschbeziehungen, wenn auch nicht mit DDR-Mark. Es war bekannt, dass DDR-Erzeugnisse rund um den Globus verkauft wurden: SKET-Maschinen, Radeberger Bier, Meißner Porzellan, Feinoptik aus Jena. Offenbar unterhielt die DDR einen regen Handel mit nichtsozialistischen Ländern, der zum Ende des Regimes etwa 18 % des BIP ausmachte. Hätte man es anders machen können? Und wenn ja, zu welchem Preis? Waren die ostdeutschen Betriebe wettbewerbsfähig? Die Richtungskoeffizienten waren der Geheimtipp, wenn man die wahre Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft erfahren wollte. Aus ihnen konnte man genau ablesen, wie die Termsof-Trade zwischen Ost- und Westprodukten beschaffen waren. Mit diesen Daten hätte man auch das Problem umgehen können, dass ostdeutsche Konsumenten bis Ende 1989 keine richtige Möglichkeit hatten, mit den Füßen zu stimmen und Westprodukte zu kaufen. Alle Preis- und Kaufkraftparitätsvergleiche auf Basis von EVP (aus dem DDR-Sprachgebrauch: ‚Einzelhandelsverkaufspreis’) waren aus vielen Gründen nicht tauglich – geschweige von den Schlangen, die häufig den Erhalt hochwertiger Güter erschwerten. Akerlof et al. zeigen, dass der durch-

160 Prof. Michael C. Burda, geb. 1959 in New Orleans, ist seit August 1993 Professor am Institut für Wirtschaftstheorie der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Uni-versität zu Berlin. Er vertritt in der Forschung und Lehre die Fächer Makro- und Arbeitsmarktökonomie. Die Existenz des Richtungskoeffizienten war bekannt, nur die Höhe bis 1990 Staatsgeheimnis.

888

schnittliche, gewichtete Koeffizient etwa 3,73 betrug. Das heißt: Um eine westdeutsche Mark durch Außenhandel einzutreiben, mussten ostdeutsche Erzeugnisse für 3,73 Ostmark verkauft werden. Der wahre – also ökonomisch gerechtfertigte – Umtauschkurs dürfte also bei etwa 3,7 gelegen haben. Akerlof, Rose, Yellen und Hessenius belegen des weiteren, dass die Streuung der Richtungskoeffizienten erheblich war. Es wäre daher zu einfach, ganze Sektoren als untauglich abzustempeln. Ein schönes Beispiel kommt aus dem Bereich Elektronik: Während im Carl Zeiss Kombinat in Jena – Teile davon sichtbar als Jenoptik AG – mit einem respektablen Richtungskoeffizienten von 3,66 gearbeitet wurde, musste das Kombinat Mikroelektronik 7,17 Ostmark für jede westdeutsche Mark anbieten. Selbst innerhalb des relativ erfolgreichen Zeiss-Riesenkombinats gab es gravierende Unterschiede: Zeiss-Feinoptik hatte einen Koeffizienten von 2,73. Die berühmten Fotoapparate der Marke ‚Praktika’, die in der PentaconFabrik hergestellt wurden, ließen sich dagegen nur zu einem Dumping-Preis von 7,04 verkaufen. Es wäre ein Umtauschkurs von 7:1 nötig gewesen, um eine ‚Praktika’ zu den damaligen Bedingungen weiter herstellen zu können. Zu den alten Kostenstrukturen zu wirtschaften hätte für einige Kombinate möglich sein können, wenn die Produktionskosten – davon sind gesamtwirtschaftlich zwei Drittel Arbeitskosten – tatsächlich auf dem Niveau von 1989 geblieben wären. Sie sind aber bekanntlich in die Höhe geschossen. Die Bürger der DDR mussten nach der Wende zu Weltpreisen einkaufen und Löhne zahlen, die sich an den Opportunitätskosten der neuen Zeit orientierten. Daher ist es keine Überraschung, dass unmittelbar nach der Währungsunion die Produktion von PentaconFotoapparaten stillgelegt werden musste, da die Firma zu Weltpreisen Wertminderung statt Wertschöpfung betrieben hatte. Allerdings war bei einem Umtauschkurs von 1:1 eine rentable Produktion bei fast allen Unternehmen unmöglich. Lediglich die Staatliche Porzellanmanufaktur in Meißen schaffte einen Richtungskoeffizienten unter 1:1. Akerlof et al. haben versucht, mit Rücksicht auf die Input-Output-Tabelle der DDR von 1987 festzustellen, welche Kombinate überhaupt die variablen Kosten abzudecken vermochten. Die Antwort war pessimistisch: 10-20 %. Selbstredend haben die Autoren in ihrer Studie die Fähigkeit unterschätzt, die Arbeitsproduktivität kurzfristig durch die massive Entlassung von unproduktiven Mitarbeitern zu steigern. Ferner haben sie übersehen, dass die erwähnten Neuinvestitionen und die damit verknüpften neuen Produktionsverfahren die ostdeutsche Produktivität auf 75 % und höher hätten steigern können“.161

161 Burda, Michael C.: Ein Reformschub für ganz Deutschland – die Treuhandprivatisierung aus nationalökonomischer Sicht, in: Birgit Breuel, Michael C Burda, (Hrsg.), Ohne historisches Vorbild. Die Treuhandanstalt 1990 bis 1994. Eine kritische Würdigung, Berlin 2005, S. 180182.

889

Kosten in Mark der DDR für 1 DM Erlös beim Export in westliche Industrieländer und Entwicklungsländer 1989 1)

890

Die einzelnen Exportbereiche entstammen der Betriebssystematik,162 eine verbindliche Systematik für die Planung und Bilanzierung der Volkswirtschaft sowie für Rechnungsführung und Statistik, in der jeder Betrieb und jede Einrichtung unabhängig von der Unterstellung unter ein Staats- oder wirtschaftsleitendes Organ Gruppen zugeordnet wird. Zuordnungsprinzip ist der Schwerpunkt der Produktion oder der Hauptzweck der Einrichtung. So wird z. B. der Bau von Maschinen und Ausrüstungen der chemischen Industrie in der Betriebssystematik dem Sektor Maschinen- und Fahrzeugbau zugeordnet, während er im Schlüssel der staats- und wirtschaftsleitenden Organe entsprechend der verwaltungsmäßigen Unterstellung als VVB Chemieanlagen zum Ministerium für chemische Industrie gehört. Die Betriebssystematik ist fünfstellig. Die erste Stelle gliedert die Volkswirtschaft in neun Wirtschaftsbereiche, z. B. Industrie, Bauwirtschaft, Land- und Forstwirtschaft usw. Einige Wirtschaftsbereiche sind in Wirtschaftssektoren unterteilt (Zweisteller). Sie werden in der Industrie auch als Industriebereiche bezeichnet, z. B. Energie- und Brennstoffindustrie, Chemische Industrie usw. Die dritte und vierte Stelle der Betriebssystematik ist die verbindliche Festlegung der Wirtschaftszweige, z. B. Anorganische Grundchemie, Organische Grundchemie, phar-mazeutische Industrie usw. Die kleinsten Einheiten der Betriebssystematik sind die Wirtschaftsgruppen (fünfte Stelle). Die genannten Begriffe sind Gruppierungen der Volkswirtschaft nach dem Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.163 Chemische Industrie (Chemicals): Der Bereich umfaßt entsprechend der Betriebssystematik die Industriezweige Kali- und Steinsalzindustrie, Erdöl-, Erdgasund Kohlewertstoffindustrie, Anorganische und organische Grundchemie, Pharmazeutische Industrie, Plastindustrie, Gummi- und Asbestindustrie, Chemiefaserindustrie und Industrie chemischer und chemisch-technischer Spezialerzeugnisse.164 Energiebetriebe (Energy): Zweig der Energie- und Brennstoffindustrie zur Gewinnung und Versorgung der Volkswirtschaft mit Elektro- und Wärmeenergie sowie künstlichem Gas. Er umfaßt entsprechend der für die Planung und Abrechnung in der DDR gültigen Betriebssystematik alle juristisch selbständigen Kraftwerke und Energieversorgungsbetriebe. Nicht in diesem Industriezweig erfaßt sind Industriebetriebe, die Energie nur als Nebenprodukt erzeugen.165 Lebensmittelindustrie (Food): Ab 1968 mit folgenden Industriezweigen: Fischindustrie, Fleischindustrie, Milch und eiverarbeitende Industrie, Mühlen-, Nährmittel- und Backwarenindustrie, Pflanzenöl- und -fettindustrie, Zucker- und Stärkeindustrie, Süßwaren-, Kaffee-, Tee- und Kakaowarenindustrie, Obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Gärungs- und Getränkeindustrie, Tabakwarenin162 „Systematik der Volkswirtschaftszweige der DDR“, herausgegeben vom Statistischen Amt der ehem. DDR, Ausgabe 1985. 163 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 341. 164 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 413. 165 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 536.

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dustrie, Gewürz- und übrige Lebensmittelindustrie und Futtermittelindustrie. Die Lebensmittelindustrie wird auch als Nahrungs- und Genußmittelindustrie bezeichnet.166 Leichtindustrie (Light industry): Zusammenfassende Bezeichnung für Industriezweige, die diverse nichtmetallische Rohstoffe verarbeiten. In der DDR zählen zur Leichtindustrie die Zweige bzw. Bereiche Holzverarbeitende Industrie, Zellstoff- und Papierindustrie, Polygraphische Industrie, Kulturwarenindustrie, Textilindustrie, Konfektionsindustrie, Leder-, Schuh- und Rauchwarenindustrie sowie Glas- und feinkeramische Industrie. Im Vergleich zu den anderen Industriebereichen werden in der Leichtindustrie die meisten Konsumgüter erzeugt.167 Maschinen- und Fahrzeugbau (Machinery and transportation equipment): Ab 1968 entsprechend der Betriebssystematik Industriebereich, der folgende Industriezweige umfaßt: Energiemaschinenbau, Bau von Bergbauausrüstungen, Metallurgieausrüstungsbau, Chemieausrüstungsbau, Bau-, Baustoff- und Keramikmaschinenbau, Bau von luft- und kältetechnischen Ausrüstungen, Werkzeugmaschinenbau, Werkzeug- und Vorrichtungsbau, Plast- und Elastverarbeitungsmaschinenbau, Bau von technologischen Spezialausrüstungen, Holzbearbeitungsmaschinenbau, Papierindustriemaschinenbau, Polygraphiemaschinenbau, Textil-, Konfektions- und Lederverarbeitungsmaschinenbau, Lebensmittel- und Verpackungsmaschinenbau, Schienenfahrzeugbau, Straßenfahrzeug- und Traktorenbau, Schiffbau, Landmaschinenbau, Fördermittel- und Hebezeugbau, Verbrennungskraftmaschinen-, Pumpen- und Verdichterbau, Bauteile- und Maschinenelementeindustrie, Bau von Metallkonstruktionen, Gießereien und Schmieden, Metallwarenindustrie.168 Metallurgie (Metallurgy): Umfaßt die Industriezweige Schwarzmetallurgie und NE-Metallurgie. Schwarzmetallurgie – ab 1968 in der DDR entsprechend der Betriebssystematik Zweig im Bereich Metallurgie, der alle Eisenhüttenkombinate, Stahl- und Walzwerke sowie Ziehereien und Betriebe zur Herstellung von Elektro-Ferrolegierungen umfaßt. NE-Metallurgie – ab Planjahr 1968 in der DDR entsprechend der Betriebssystematik Industriezweig im Bereich Metallurgie, der alle NE-Metall-Erzbergbaubetriebe, NE-Metall-Gewinnungsbetriebe und NE-MetallHalbzeugwerke (ohne Gießereien und Schmieden) umfaßt.169 Elektronische Industrie (Electronics): Ab 1968 in der DDR entsprechend der Betriebssystematik Zweig des Industriebereichs Elektrotechnik/Elektronik/Gerätebau, der alle Betriebe zur Herstellung elektronischer Erzeugnisse umfaßt. Als Erzeugnisse der Elektronischen Industrie im Sinne der volkswirtschaftlichen Planung und Abrechnung gelten: Erzeugnisse der Drahtnachrichtentechnik (Vermittlungseinrichtungen und Endapparate für Telefonie und Telegrafie, Übertragungs166 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 366. 167 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 375. 168 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 486. 169 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 518 f.; ebd., Q-Z, S. 145; ebd., S. 588.

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einrichtungen für Telefonie, Telegrafie, Daten- sowie Rundfunk- und Fernsehsendungen, Wechselsprech- und Gegensprechgeräte), Erzeugnisse der Funktechnik (Richtfunkgeräte einschließlich Zusatzgeräte, Sender, Empfänger und Studioeinrichtungen für Rundfunk und Fernsehen, Antennen und Antennenverstärker, Funkortungsgeräte und hydroakustische Geräte), Erzeugnisse der Elektroakustik und Geräte für Bild- und Tonaufzeichnungen (Plattenspieler, Magnettongeräte, Mikrophone, Lautsprecher und Lautsprecheranordnungen, sonstige elektroakustische Verstärker und Geräte), Rundfunk- und Fernsehempfänger, elektrische Lichtquellen (Glühlampen, Elektrolumineszenz-Lichtquellen), Elektronenröhren (Empfänger-, Sende- und Modulatorröhren, gasgefüllte Röhren und Gasentladungsröhren, Höchstfrequenzröhren, Röntgenröhren und Hochspannungsglühventile, fotoelektrische Bauelemente usw.), passive Bauelemente (Widerstände, Kondensatoren, Kontakt-, induktive und piezolektrische Bauelemente, Anschlußelemente, Leiterplatten usw.) und Halbleiter-Bauelemente (Dioden, Transistoren, Thyristoren und symmetrische Steuerelemente, polykristalline Gleichrichter, Halbleiter-Thermoelemente und Fotoelemente usw.).170 Wenn man versucht, den Außenhandel der DDR in die westlichen Industrieländer und Entwicklungsländer einzuordnen, muß man auf die Tausch- oder Handelsverhältnisse eingehen, die ganz allgemein das Verhältnis der Preise, die jemand entrichten muß, zu jenen ausdrücken, die man ihm für seine Waren bezahlt. „In der güterwirtschaftlichen Außenwirtschaftstheorie versucht man, Ursache, Richtung und Umfang des internationalen Handels zu erklären. Hierin einbezogen sind Aussagen darüber, in welchem Verhältnis die international gehandelten Güter am Weltmarkt getauscht werden. Dieses reale Austauschverhältnis bezeichnet man als ‚Terms of Trade’ (ToT); es gibt an, welche Mengen an Importgütern ein Land im Austausch gegen eine Einheit seiner Exportgüter erhalten kann“.171 „Die Entwicklung zwischen Import- und Exportpreisindex (Terms of Trade) klaffte in dem Maße auseinander, wie die DDR den Anschluß an die internationale Entwicklung verlor. Das Charakteristikum der DDR-Außenwirtschaft gegenüber westlichen Staaten war nicht nur die wesentlich schnellere Erhöhung der Importpreise gegenüber den Exportpreisen. Die annähernde Konstanz der Exportpreise bedeutete vielmehr relativ zur Preisentwicklung auf den Weltmärkten den Verfall der Wettbewerbsfähigkeit, der sich im Überwiegen von wenig technologieintensiven Produkten beim Export widerspiegelte“.172

170 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 531 f. 171 Hemmer, Hans-R.: Außenhandel II. Terms of Trade, in: HdWW, Bd. 1, 1988, S. 388 f. Diese Zusammenhänge wurden auch in der DDR so gesehen. „terms of trade, Abk. T. o. T., trade terms engl. – international übliche, nicht immer einheitlich verwendete Bezeichnung von Austauschverhältnissen auf Auslandspreisbasis. Die T. o. T. bezeichnen als zeitliche Austauschverhältnisse das Verhältnis des Indexes der Außenhandelspreisentwicklung für den Export zum Index der Außenhandelspreisentwicklung für den Import“. In: Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 314. 172 Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR, S. 148 f.

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Im westlichen DDR Außenhandel mußte zum Erwerb einer gegebenen Importgütermenge ein immer größeres Exportvolumen bereitgestellt werden als bei den alten ToT. „Die Relation zwischen Export- und Importgüterpreis hat sich also verringert, d. h. die ToT sind gesunken. Aufgrund der wohlstandsmindernden Auswirkungen dieser ToT-Verringerung identifiziert man ToT-Abnahmen deshalb üblicherweise mit Wohlstandsverlusten; man spricht dann von ‚Verschlechterungen’ der ToT“.173 Die Verschlechterung der ToT hatte große Auswirkungen auf die Zahlungsbilanz. „Die sich in der Zahlungsbilanz niederschlagenden Transaktionen lassen sich wie folgt gruppieren: Warenverkehr, Dienstleistungsverkehr, Übertragungen, Kapitalverkehr in einem engeren Sinne, Gold- und Devisenbewegungen bei der Währungsbehörde, Ausgleichsposten hierzu und Restposten. Bei den Transaktionen des Warenverkehrs handelt es sich um Lieferungen von Waren an das Ausland, also um Warenexporte, und um den Bezug von Waren aus dem Ausland, also um Warenimporte. … Als Zahlungsbilanz eines Landes bezeichnet man die systematische Aufzeichnung aller wirtschaftlichen Transaktionen zwischen Inländern und Ausländern für einen bestimmten Berichtszeitraum, z. B. für ein Jahr“.174 Die Verschlechterung der ToT der DDR führte dazu, daß sie immer mehr in das westliche Ausland exportieren mußte, um die Devisen für die Importe und die aufgenommenen Devisenkredite bezahlen zu können. Die Handlungsspielräume, die schon eng waren, wurden noch enger: Der Untergang der DDR war ökonomisch determiniert. Die Bundesrepublik Deutschland bewahrte die DDR vor dem anstehenden Staatsbankrott, d. h. der Unfähigkeit des sozialistischen Staates zur Verzinsung und Tilgung der aufgenommenen Devisen-Staatsschulden. Die Devisenertragskennziffern zeigen, daß der Kapitalstock der DDR marode war und stark auf Verschleiß heruntergefahren worden war.175 Der Kapitalstock ist die Ausstattung einer Volkswirtschaft mit Sachkapital. Er wird durch Ersatzinvestitionen erhalten und durch Neuinvestition auf den modernsten Stand erweitert. „Keine in einem marktwirtschaftlichen System autonom agierende Unternehmung kann auf die Dauer existieren, ohne daß mindestens das in ihr investierte Kapital erhalten bleibt“.176 Mit der Einhaltung des Minimalziels der Unternehmung der Kapital- bzw. Substanzerhaltung wird „letztlich die Existenzsicherung der Unternehmung – kurz die Unternehmenserhaltung bewirkt“.177

173 Hemmer, Hans-R.: a. a. O., S. 390. Schumann, Jochen: Außenhandel III. Wohlfahrtseffekte, in: HdWW, Bd. 1, 1988, S. 404. 174 Wolff, Ronald: Zahlungsbilanz I: Theorie und Politik, in: HdWW, 9. Bd., 1988, S. 539. 175 Schreiber, E. / Hendzlik, H. / Schmolinsky, K.: Stand, Entwicklung und Perspektiven des Außenhandels DDR – EG, Berlin, Juli 1990, S. 21. 176 Börner, Dietrich: Kapitalerhaltung und Substanzerhaltung, in: Erwin Grochla / Waldemar Wittmann (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., 1984, Sp. 2097. 177 Ebd., Sp. 2098.

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Nur die Staatliche Porzellanmanufaktur Meißen hätte in einer Marktwirtschaft überleben können. Alle anderen volkseigenen Kombinate/Betriebe der DDR waren beim Übergang in die Marktwirtschaft nicht wettbewerbsfähig. Der Handel zwischen den RGW-Ländern war ein Naturaltausch von zwei Handelspartnern. Die Produkteinheiten z. B. eine Tonne (t) Kohle wurden mit den Preisen der westlichen Marktwirtschaften bewertet. Ebenso wurden dann eine Tonne (t) Eisenerz bewertet. Beide Summen konnte man jetzt addieren. Das nicht konvertierbare sozialistische Geld diente nur als Verrechnungseinheit. Es erlaubte Kohle und Eisenerze zu addieren. „Im Interesse der Sicherheit ihres Außenhandels einigten sich die RGW-Länder bereits 1959 darauf, die durchschnittlichen Weltmarktpreise der letzten 5 Jahre vor dem laufenden Jahr im gegenseitigen Handel anzuwenden“.178 „Das staatliche Außenhandels- und Valutamonopol war untrennbarer Bestandteil der Zentralverwaltungswirtschaft, die ohne dieses Monopol überhaupt nicht durchsetzbar gewesen wäre“.179 Die Verflechtungsbilanzen waren schon bei der Aufstellung der gütergelenkten Zentralplanung nicht überschaubar, so konnte es das System der Außenhandelsbilanzen um so weniger sein. „Der naturalwirtschaftliche Charakter der zentralen Planwirtschaften bestimmte weitgehend die Strukturen der außenwirtschaftlichen Beziehungen der RGW-Länder. […] Die RGW-Preisbildungsprinzipien boten bei großen Produktivitätsunterschieden der Länder wenig Anreiz zu intensiverer Arbeitsteilung. Jedes RGW-Land war vor allem am Verkauf von Fertigprodukten, aber nicht an der Rolle des Zulieferers interessiert. Es entstanden in allen RGW-Ländern ähnliche Strukturen, die selbst bei Finalerzeugnissen nur einen geringen Sortimentsaustausch, wie z. B. bei Industriegütern für die Bevölkerung, wie Pkw, Unterhaltungselektronik, Kühlmöbel u. ä., zur Folge hatten. Die Errichtung gemeinsamer Betriebe – die DDR war insgesamt nur an zwei Betrieben beteiligt – erwies sich als wenig tragfähig. Letzten Endes waren es aber vor allem der Bilateralismus der Außenhandelsbeziehungen und das Fehlen einer – wenigstens im Rahmen der RGW-Länder – konvertiblen Währung, die die RGW-Strukturen zunehmend erstarren ließen“.180 Der transferable Rubel als „kollektive sozialistische Währung“ fungiert als Verrechnungseinheit in einem multilateralen Clearing über die sozialistische Internationale Bank für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ). „Ab 1948 wickelte die SBZ/DDR bis zu drei Viertel ihres Außenhandelsumsatzes mit den sozialistischen Ländern im RGW ab. Das führte zum arbeitsteilig ineffizienten komplementären Warenaustausch für die DDR. Sie wurde zum wichtigsten Investitionsgüterlieferanten im RGW. So gingen bis zu 85 % ihrer Maschinenbauerzeugnisse, 90 % des Chemieanlagenbaus und 100 % des Schiffbaus in die Sowjetunion bzw. in den RGW. Dafür erhielt sie überwiegend Roh-

178 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 35. 179 Ebd., S. 131. 180 Ebd., S. 131 f.

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stoffe und Halbfabrikate“.181 Die Liefermöglichkeiten in das westliche Ausland waren durch diese hohe Blockverflechtung erheblich begrenzt. In einem Gespräch in Berlin am 2. Mai 1994 äußerte sich Prof. Dr. Helmut Koziolek, ein intimer Kenner der DDR Außenwirtschaft und des RGW, so: „Die DDR war eine Hauswirtschaft, das bedeutet aber nicht, daß wir ein ökonomisch isoliertes Land gewesen sind. Wir hatten eine starke Außenwirtschaft, aber entscheidend war etwas anderes: Wir konnten nie an einer exakten internationalen Arbeitsteilung teilnehmen. Die gesamte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im RGW war ein extremer Bilateralismus, also Moskau-Berlin, Moskau-Warschau usw.; es kam nie zu wirkungsvoller Mehrseitigkeit, schon gar nicht bei der Problemlösung zwischen Ländern, an denen Moskau nicht beteiligt war. Es hat nie richtig: Polen-Tschechoslowakei-DDR gegeben, trotz wichtiger Vorschläge dazu“.182 7. Die Zahlungsbilanz regiert: DDR-Produkte werden im Westen gegen harte Devisen verramscht, verscherbelt. Der Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) unter Schalck-Golodkowski ab 1966-1989 Die innere Logik der güterwirtschaftlich gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft „gab die Doktrin, daß vor die Effizienz der Wirtschaft die Machtausübung und -erhaltung der SED zu stellen ist“.183 Die Sicherung der Liquidität der DDR gegenüber den westlichen Banken war für den Machterhalt der SED von alleroberster Priorität. „Der Kehraus der Wirtschaft zugunsten des Exports für harte westliche Devisen – zum geflügelten Wort entwickelte sich ‚die Zahlungsbilanz regiert’ – konnte nicht ohne Versorgungsprobleme im Innern bleiben“.184 Der Devisenhunger ließ die SED-Führung alle nur denkbaren Möglichkeiten zur Erlangung von Devisen ausschöpfen. Unter dieser Zielsetzung wurde der Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) am 15. September 1966 offiziell etabliert. Er erhielt einen Sonderstatus, war unabhängig vom Planungssystem und von der Außenhandelsbürokratie, er war ein „Staat im Staate“. 185 „Das Unter181 Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel, in: Kuhrt, E., in Verbindung mit Buck, H. F. und Holzweißig, G. (Hrsg.), Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren, Band 2: Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, Opladen 1996, S. 5566, hier: S. 56 f. und Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Stichwort Außenwirtschaft, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst et al. (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, Bd. 1 A-M, 2. Aufl., Paderborn, München, Wien, Zürich 1997, S. 110-116. 182 Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan, S. 276. 183 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 86. 184 Ebd., S. 133. 185 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro, Bd. 2, Berlin 1992, S. 247.

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nehmen war ganz nach internationalen marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten und dem Motto ‚pecunia non olet’ organisiert. Es gab kaum ein Geschäft, das das Imperium Schalck-Golodkowski nicht betrieb. Für Honecker und Mittag, dem das Unternehmen persönlich unterstand, war der Bereich Kommerzielle Koordinierung der letzte Rettungsanker zur Sicherung der Liquidität der DDR sowie zur Durchführung aller möglichen Feuerwehraktionen für die Versorgung der Bevölkerung, wenn Mißstände in der Warenbereitstellung einen für die politische Stimmung im Lande kritischen Grenzwert zu überschreiten drohten“.186 Der Leiter von KoKo, Alexander Schalck-Golodkowski, konzentrierte sich zunächst auf Spekulationsgeschäfte mit Wertpapieren und Waren, den Handel mit Rohstoffen und Textilien, den Import von Gütern des gehobenen Bedarfs sowie auf die Einfuhr von westlicher Hochtechnologie (Technologietransfer). „Hinzu kam der Export von Waffen sowie der hemmungslose Schacher mit Kunstgegenständen und Antiquitäten, die Verschleuderung nationalen Kulturgutes eingeschlossen.[…] Denn der Mann hatte nicht nur Devisen, Bananen oder Apfelsinen zu beschaffen, sondern auch Güter verschiedenster Art, die die Hochburgen des Kapitals, allen voran die USA, auf die sogenannte Cocom-Liste gesetzt hatten. Im Sinne dieses Embargos galt alles Mögliche als ‚strategisch wichtig’, vom elektronischen Kinderspielzeug bis zum Mikrochip“187, u. a. elektronische Bauelemente, IBM-Computer, Abhörwanzen bis zu Zielsuchgeräten für Kampf-Flugzeuge. Der Bereich KoKo hatte erhebliche Margen, jedoch fiktive und konspirativ abgeschirmte Importe. Die Qualität der Exportgüter nahm immer mehr ab, zunehmend reduzierte sich der Export auf Massengüter und landwirtschaftliche Produkte. Schalck tätigte auch Sondergeschäfte. Das moralisch fragwürdigste der „Sondergeschäfte“ von Koko war der Verkauf von in der DDR inhaftierten Häftlingen. „Zeitlich gekoppelt mit den Entlassungen der Häftlinge 1964 wurden von der Bundesrepublik die wirtschaftlichen Gegenleistungen erbracht. Sie umfassten Waren des täglichen Bedarfs wie Butter, Rohkaffee, Getreide, Südfrüchte, Düngemittel, zeitweise später auch Erdöl, Kupfer und andere Rohstoffe“.188 „Menschenhandel war nach dem StGB der DDR eine Straftat gegen die Freiheit und Würde des Menschen. Menschenhandel liegt vor, wenn ein Mensch mittels Gewalt, Drohung oder Täuschung entführt, rechtswidrig zum Aufenthalt in bestimmten Gebieten gezwungen oder in außerhalb der DDR liegendes Gebiet verbracht wird oder wenn ein minderjähriges Mädchen mit dessen Einverständnis aus der DDR zum Zwecke der Prostitution verbracht wird. – Wegen staatfeindlichen Menschenhandels ist strafrechtlich verantwortlich, wer es mit staatsschädigender Absicht oder in Zusammenhang mit gegen die DDR tätigen Institutionen,

186 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 134. 187 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro, Bd. 2, S. 266 f. 188 Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989, 2. Aufl., Halle (Saale) 2011, S. 66. Diekmann, Kai (Hrsg.): Freigekauft. Der DDR-Menschenhandel, München 2012.

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Gruppen oder Personen, mit Wirtschaftsunternehmen oder deren Vertretern unternimmt, Bürger der DDR in außerhalb deren Staatsgebietes liegende Gebiete oder Staaten abzuwerben, zu verschleppen oder auszuschleusen oder an der Rückkehr in ihren Staat zu hindern“.189 In der DDR handelte der Staat selbst kriminell. Unter Honecker produzierte die Staatssicherheit die „politischen Häftlinge, also zog sie auch den Gewinn aus ihrer Vermarktung“.190 „Von 1975 an überschritten die jährlichen Erlöse die 100-Millionen-Schwelle. Zwei Jahre später erreichten die DDR-Unterhändler einen bombastischen Durchbruch, indem sie die Pro-Kopf-Prämie von 40.000 auf 95.847 DM hochschrauben konnten. Erst im Wendejahr 1989 ging man von der Bezahlung des Einzelfalles ab. ‚Am 31.8.1989 ist zwischen Staatssekretär Dr. Priesnitz’, so Anwalt Vogel am 30. November an Krenz und Modrow, ‚und mir eine Pauschalierung vereinbart worden, um von dem Vorwurf der pro Kopf Rechnung wegzukommen’. Alles in allem haben die Bundesregierungen von Adenauer bis Kohl für die seit 1963 freigekauften 33.862 Häftlinge sowie für die über 250.000 Familienzusammenführungen mehr als 3,4 Milliarden DM gezahlt. Bis auf ca. 130 Millionen ist diese Summe über die Konten des Alexander Schalck gewandert. Sein Stellvertreter Manfred Seidel, Offizier im besonderen Einsatz wie er, überwachte Zugänge und Abgänge des Kontos. Was die Verwendung des Honecker-Kontos anbetraf, beschönigte Seidel beträchtlich, als er im Februar 1990 dazu vor der Kripo aussagen mußte. Die Gelder des Kontos 628, so Seidel, seien ‚vorwiegend für die Versorgung der Bevölkerung, d. h. Südfrüchte, Textilien und anderes und auch für Solidaritätszwecke, z. B. Weizen an Nicaragua’ ausgegeben worden. Das stimmte erstens nur in Teilen und unterschlug darüber hinaus, daß Honecker immer erst dann in sein Füllhorn griff, wenn Werner Krolikowski, der regierungsseits für die Versorgung der Menschen verantwortlich war, laute Klagelieder im Politbüro anstimmte“.191 Zu den Sondergeschäften gehörte auch der Waffenhandel, der von 1982 bis 1989 581 Millionen DM erbrachte. Beim Sonderhandel mit Kunst und Antiquitäten gab es auch Kuriositäten, die aber zeigen, daß alles versucht wurde, um an DM zu gelangen. Am 16. Juni 1987 schrieb der Generaldirektor der Kunst- und Antiquitäten GmbH, J. Farken, an Schalck:192 Werter Genosse Dr. Schalck! Uns liegen Anfragen vor nach Ausrüstungsgegenständen, speziell schwere Technik, aus der Zeit des 2. Weltkrieges. Der Interessent will für diese Gegenstände insgesamt 1,5 Mio. VM investieren. 189 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 9, Leipzig 1974, S. 301. 190 Przybylski, Peter: Tatort, S. 29. Judt, Matthias: Häftlinge für Bananen? Der Freikauf politischer Gefangener aus der DDR und das „Honecker-Konto“, in: VSWG, 94. Bd., 2007, H. 4, S. 417-439. 191 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro, Bd. 2, , S. 294. 192 Ebd. , S. 393.

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Am 20. Juli 1987 bin ich Gast beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Potsdam, Genosse Dr. Tschoppe, in seinem Gästehaus in Potsdam. Dort hätte ich die Möglichkeit, dem Chef der GSSD unsere oben angeführten Bezugswünsche vorzutragen. So soll sich z. B. im ehem. Olympischen Dorf ein Panzer der faschistischen Wehrmacht befinden sowie auf dem sowj. Militärflughafen Schacksdorf ein Bomber der faschistischen Luftwaffe „JU 88“. Ich bitte um Ihre Zustimmung dem sowj. General unsere Bezugswünsche vorzutragen. Mit sozialistischem Gruß Farken

Die „Zahlungsbilanz regiert“ hieß, daß immer die nötigen Devisen zur Bezahlung der Zinsen und der Kreditraten vorhanden sein mußten, „um den Offenbarungseid des Großschuldners DDR noch einmal abzuwenden“.193 Die Zahlungsbilanz in harter westlicher Währung wurde täglich überwacht. „Mitunter schickte Schalck seine Agenten mit Unsummen von DDR-Mark in die Berliner Wechselstuben, um sie in Westmark umzurubeln. Sie hatten vorher ihre Uhren zu vergleichen, um auf die Sekunde zeitgleich in mehreren Wechselstuben einzurücken. So wußte man dem vorzubeugen, daß die Wechselstubenbesitzer sich gegenseitig verständigten und den Wechselkurs höher setzten“.194 Alle Fakten zeigen mit aller Deutlichkeit, daß im Rahmen des sozialistischen Außenwirtschaftsmonopols eine Wirtschaftsrechnung unmöglich war. Von den wichtigsten Kommandohöhen der sozialistischen Außenwirtschaft wurden die DDR-Produkte in den Westen gegen harte Devisen „verramscht, verscherbelt“. Der Ausdruck „Hans-im-Glück-Geschäfte“ trifft genau den Tatbestand.195 Der von Dr. Alexander Schalck-Golodkowski geleitete Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo) wird von dem Politökonom Prof. Dr. Helmut Koziolek so umschrieben: „KoKo war eine der wichtigsten Organisationen bei der Durchbrechung der Hauswirtschaft im Hochtechnologiebereich, d. h. der Öffnung zu den Hochtechnologiemärkten, die uns normal verschlossen waren. Das andere hätte man ja ganz simpel mit allen beliebigen Organisationen machen können. KoKo hatte nicht zuletzt aufgrund der Bezahlung erstklassige Leute. Und KoKo war organisatorisch nicht im Sinne von Verwaltung organisiert, sondern Schalck

193 Ebd., S. 64. 194 Ebd. 195 Die ehemaligen DDR-Ökonomen Günter Kusch, Rolf Montag, Günter Specht und Konrad Wetzker benutzen den Begriff „Hans-im-Glück-Geschäft“ in ihrer Studie Schlußbilanz-DDR, S. 85. Bei dem Begriff handelt es sich um eine Metapher. Die DDR erhielt beim Verkauf von Waren in westliche Marktwirtschaften im Laufe der Jahre immer weniger Devisen (DM). Die Relation Mark der DDR zur DM wurde Richtungskoeffizient oder Devisenertragswert genannt. Das Immer-weniger-Wert-sein der DDR-Mark erinnert an das Märchen der Brüder Grimm „Hans im Glück“. In einer Tauschkette erhält Hans im Glück immer weniger als Gegenwert und war schließlich glücklich, als er von den Steinen als letzte Tauschgüter befreit wurde.

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hat KoKo im Sinne von Unternehmen organisiert. Deshalb spreche ich auch nie vom Bereich, sondern vom Unternehmen KoKo. Hauptpunkt war die Teilnahme an der Hochtechnologie. Und das Zweite war, KoKo war der Versuch, mit eigener Mittelerwirtschaftung die chronische Devisenlage der DDR durch die Verlangsamung der Schuldenzunahme zu verbessern – eine fürchterliche Dialektik, aber es ist die Wahrheit. Schalck konnte die Verschuldung nicht aufhalten, aber er konnte den Exitus verlängern. KoKo war im Hauptbereich ein Unternehmen, das wirklich auf Gewinnwirtschaftung orientiert war“.196 Für die Mitglieder des Politbüros und ihre Familien wurde Anfang der sechziger Jahre die „Waldsiedlung“ Wandlitz nordöstlich Berlins errichtet. Neben 23 Einfamilienhäusern für Politbüromitglieder beschaffte der Bereich KoKo für mindestens 60 Mio. DM Nahrungs- und Genußmittel, Bekleidung, Schmuck, Unterhaltungselektronik etc. Auch die Häuser in der Waldsiedlung Wandlitz wurden mit Materialien aus dem Westen gebaut. Im Einkaufscenter der Waldsiedlung gab es nach einigen Jahren kaum noch DDR-Güter. Von den täglichen Nahrungsmitteln bis zu den technischen Produkten wurde alles aus dem Westen herangeschafft. Sechs Millionen D-Mark pro Jahr, wies Generalsekretär Honecker seinen Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski an, sollten bereitstehen, um die Wünsche seiner Polit-Oberen zu befriedigen – rund eine viertel Million ValutaMark je Familie.197 Nach außen streng abgeschirmt, prasste die „Vorhut der Arbeiterklasse“ auf Kosten des Volkes. Dabei erwarben allein Mielke und seine Angehörigen 1988/89 für 91.014,40 DM Westwaren, wofür sie 126.214,30 Mark der DDR zahlten, während der reale Wert 472.165,60 Mark der DDR betrug.198 WestProdukte gab es also für das 1,5-fache des DM-Preises in Mark der DDR. Bahrmann und Fritsch jedoch gehen davon aus, daß die Wandlitzbewohner Westwaren zum Kurs von 1:1199 bekamen. Der in der Außenwirtschaft der DDR zugrunde gelegte Richtungskoeffizient traf für Politbüromitglieder nicht zu. Eine Mangelwirtschaft existierte in Wandlitz nicht. Das anliegende Dokument vom 2. August 1984 der Hauptabteilung PS (Personenschutz), Abteilung V200 unterlegt die Anspruchsmentalität dieser Nomenklatura und deren Wertschätzung der DDR-Produktion.

196 Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan, S. 279. 197 Bahrmann, Hannes / Fritsch, Peter-Michael: Sumpf, Privilegien, Amtsmißbrauch, Schiebergeschäfte, Berlin 1990, S. 143. 198 Angaben nach der Anklageschrift gegen Erich Mielke vom 16.4.1991, Bd. 31, Bl. 219 f. und Bästlein, Klaus: Der Fall Mielke. Die Ermittlungen gegen den Minister für Staatssicherheit der DDR, Baden-Baden 2002, S. 244 f. 199 Bahrmann, Hannes / Fritsch, Peter-Michael: Sumpf, Privilegien, Amtsmißbrauch, Schiebergeschäfte, S. 143. 200 Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung und Alexander Schalck-Golodkowski. Werkzeuge des SED-Regimes, BT-Drs. 12/7600, Bonn 1994, Anlagenband 3, DokumentNr. 634, Bonn 1994, S. 2582.

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Insbesondere die Privilegien der Nomenklatura zeigten in der DDR die Wirkungen einer „Zweiklassengesellschaft“, die von der Sowjetunion übernommen wurde. Den Herrschenden, die SED-Elite einschließlich Generaldirektoren und MfS-Generälen, stand die unterdrückte Mehrheit der Arbeiter und Angestellten (75 %), Genossenschaftsbauern (6,5 %), die soziale Schicht der Intelligenz (15 %) sowie private Gewerbetreibende und Handwerker (1,7 %) gegenüber.201 In einer Gesellschaft, die dem Primat der Politik folgte, standen Zugang zur und Verfügung über Macht von höchsten SED-Funktionären im Zentrum sozialer Ungleichheitsstrukturen.202 Die Nomenklatura der Partei und die Administration im Staatsund Wirtschaftsapparat stellten einen Anteil von etwa 1,5 bis 2 % an der DDRBevölkerung. Diese privilegierte Klasse verfügte über hohe Einkommen, günstige Wohnverhältnisse und – abgestuft – entsprechende Machtressourcen.203 In der DDR entstand eine sozial strukturierte Gesellschaft, die nicht der in den sechziger Jahren propagierten „sozialistischen Menschengemeinschaft“ sondern einer „Zweiklassengesellschaft“ entsprach.204 Ganz anders sah der Alltag der von der SED beherrschten und ausgebeuteten Klasse, der großen Mehrheit der Bevölkerung aus. Dies zeigen die von Armin Mitter und Stefan Wolle edierten Befehle und Lageberichte des MfS (Ministerium für Staatssicherheit) für die Zeit vom Januar – November 1989. Als wesentliche Gründe/Anlässe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. das ungesetzliche Verlassen der DDR – die auch in Übereinstimmung mit einer Vielzahl Eingaben an zentrale und örtliche Organe/Einrichtungen stehen – werden in einem Bericht des MfS vom 9.9.1989 angeführt: -

Unzufriedenheit über die Versorgungslage; Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen; Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung; eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland; unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf; Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter; Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über die Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern;

201 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 532. 202 Ebd., S. 543. 203 Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995, S. 76 ff., 210. Schroeder, Klaus: Der SEDStaat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 544. 204 Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, S. 76 f.

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Unverständnis über die Medienpolitik der DDR.205 Die Unzufriedenheit in der Versorgungslage gehörte zu den elementaren Erfahrungen von breiten Schichten der Bevölkerung in den 40 Jahren der Existenz der DDR (1949-1989). Die Versorgungsmängel (1969/70) sind repräsentativ für die 40 Jahre DDR: Mit Datum vom 4. November 1970 erging die Einladung zur 14. Tagung des Zentralkomitees der SED, die am 9. und 10. Dezember stattfinden sollte. Viele Fragen erforderten dringend eine Antwort: Wie war die schwierige Situation im Lande einzuschätzen? Welche Ursachen lagen ihr zugrunde? Worin bestand der Ausweg aus den Schwierigkeiten? Wie weitreichend mußten die Schlußfolgerungen sein? Wie sollte die Vorbereitung auf den VIII. Parteitag erfolgen? Ungeachtet großer Anstrengungen, die Komplikationen und Belastungen zu verringern, hatte sich die Lage weiter verschlechtert, sie war wirklich ernst. Jeder Bürger spürte dies unmittelbar. Es mangelte an vielem, so an warmer Unterbekleidung, Trainingsbekleidung, Arbeits- und Berufskleidung, winterfestem Schuhwerk, Hausschuhen, Öfen und Herden, Wintersportgeräten, Batterien, Anbaumöbeln, Handwerkszeug, Bügeleisen, Pionier-Füllhaltern und Kugelschreibern, also an Dingen, die zur Grundversorgung zählen, und manche von ihnen waren gerade im Winter am dringendsten gefragt. Hinzu kam, daß örtlich Schwierigkeiten in der Versorgung mit Butter und Fleisch entstanden waren. Das bevorstehende Weihnachtsfest, die Erfahrungen aus den harten Wintermonaten 1969/1970 ließen die Sorgen wachsen. Dies alles hatte zur Folge, daß der große, ja wachsende Rückstand gegenüber der BRD noch deutlicher hervortrat und bewußt wurde. Die Fragen nach der Funktionsfähigkeit sozialistischer Wirtschaftsführung häuften sich, Zweifel und Unzufriedenheit breiteten sich aus, bei vielen Menschen nahm das Vertrauen in die Partei und vor allem in ihre Führung ab. … 206 „Zunehmend verbinden einzelne Kunden ihre Kritiken an der Versorgungslage mit Mißfallensäußerungen gegenüber der Politik von Partei und Regierung. Sie erklären, daß fehlende Waren auf das Versagen des ökonomischen Systems des Sozialismus zurückzuführen seien. … Einige Kunden äußern direkt, daß die Versorgung ständig schlechter würde und es in der DDR bergab ginge. Wieder andere treten dem Verkaufspersonal gegenüber provokatorisch auf und sagen, das sei das Ergebnis von 25 Jahren DDR“.207 -

205 Mitter, Armin / Wolle, Stefan (Hrsg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar – November 1989, Berlin 1990, S. 142. 206 Die 14. Tagung des Zentralkomitees im Dezember 1970. In: Naumann, Gerhard / Trümpler, Eckhard: Von Ulbricht zu Honecker. 1970 – ein Krisenjahr der DDR, Berlin 1990, S. 35. 207 Ebd., S. 113: Aus dem Bericht des 1. Sekretärs der Bezirksleitung Potsdam der SED, Werner Wittig, an Walter Ulbricht vom 8. Dezember 1970.

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XI. Das Ende der Planbarkeit. Krise und Niedergang der Landwirtschaft in der DDR Von Arnd Bauerkämper Die Landwirtschaft der DDR gilt im Allgemeinen als Erfolgsgeschichte, auch über das Ende des ostdeutschen Teilstaates hinaus. So ist der Agrarsektor in einer 1995 von Diethelm Gabler veröffentlichten Studie als der „absolut sicherste, zuverlässigste Wirtschaftszweig der DDR“ bezeichnet worden.1 Zweifellos gelang es den Kollektivbetrieben, die seit den fünfziger Jahren die Struktur der Landwirtschaft in der DDR prägten, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln nicht nur zu sichern, sondern auch zu steigern. Allerdings zeigen wichtige ökonomische Indikatoren, dass die Leistungsfähigkeit der DDR-Landwirtschaft überschätzt worden ist, nicht zuletzt in der Bundesrepublik und in den anderen westlichen Staaten. Auch wenn man das in der Geschichtsschreibung dominierende, vom Rückblick geprägte Paradigma eines unaufhaltsamen Niedergangs der DDR ablehnt, fällt die ökonomische Bilanz der Landwirtschaft im ostdeutschen Teilstaat insgesamt negativ aus. Die Leistungen fielen besonders in den siebziger und achtziger Jahren gegenüber der Bundesrepublik deutlich zurück. In diesem Beitrag werden die Symptome und Ursachen der sich zuspitzenden Krise der ostdeutschen Landwirtschaft dargelegt. 1. Der Übergang zur „industriemäßigen Produktion“ in der Landwirtschaft Mit dem betrieblichen Zusammenschluss der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften trieb die SED-Führung in den Sechzigerjahren die Industrialisierung der Landwirtschaft kräftig voran. Dieser Prozess, der im Folgenden nachgezeichnet werden soll, wurde von einer überspannten Modernisierungsutopie befeuert. Ihr lag das Ziel der Ost-Berliner Machthaber zu Grunde, ökonomisches Wachstum mit der Herausbildung einer harmonischen „sozialistischen Menschengemeinschaft“ zu kombinieren. So beschloss die SED-Führung auf ihrem V. Parteitag (10.-16. Juli 1958), „in den Hektarerträgen bei allen Kulturen sowie in der Produktion von Fleisch, Milch und Eiern je Flächeneinheit die westdeutsche Landwirtschaft im Laufe des dritten Fünfjahrplans [d.h. bis 1963] zu überbieten“.2 Auch in den darauf folgenden beiden Jahrzehnten entsprach der übersteigerte Wissenschafts- und Technikeuphorie, die sich in der Programmatik der „indust-

1

Gabler, Diethelm: Entwicklungsabschnitte der Landwirtschaft in der ehemaligen DDR, Berlin 1995, S. 24.

2

Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 10. bis 16. Juli 1958, Bd. 1, Berlin (-Ost) 1958, 70. Dazu auch: Bauerkämper, Arnd: Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945-1963, Köln 2002, 183.

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riemäßigen“ Agrarproduktion widerspiegelte, der Glaube an die unbegrenzte Gestaltungsfähigkeit der Natur.3 Dementsprechend erhoben die führenden Funktionäre der SED auf ihrem VI. Parteitag im Januar 1963 „die weitere Intensivierung“ der Landwirtschaft zum übergeordneten agrarpolitischen Ziel, dem auch der „allmähliche Übergang zu industriemäßigen Produktionsmethoden“ verpflichtet war.4 Diese Politik wurde nach den Beschlüssen des VII. Parteitages (17. bis 22. April 1967) und des X. Bauernkongresses (13. bis 15. Juni 1968) verschärft, indem die SED-Führung industriemäßige Produktionsmethoden als Voraussetzung einer „sozialistischen Intensivierung“ in der Landwirtschaft propagierte.5 Zunächst wurden die LPG des Typs I, in denen die Mitglieder nur das Land gemeinsam bewirtschafteten, in Produktionsgenossenschaften des Typs III umgewandelt, in die Bauern auch ihre Gebäude, ihr technisches Inventar und ihr Vieh einbringen mussten. Nachdem das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) seit 1963 die Eigenverantwortlichkeit der LPG gestärkt und einen weiteren Schub technokratischer Verwissenschaftlichung ausgelöst hatte, führten die am Ende des Jahrzehnts erneut zunehmenden staatlichen Eingriffe schließlich einen weiteren Transformationsschub herbei.6 Anstelle der zunächst vorgesehen Bildung von „Groß-LPG“, die in den frühen 1960er Jahren stecken geblieben war, sollten nunmehr neue Kooperationsbetriebe etabliert werden.7 Insgesamt zielte dieses agrarpolitische Konzept vor allem auf die Steigerung der Agrarproduktion und der Arbeits- wie Flächenproduktivität im Rahmen einer „sozialistischen Intensivierung“.8 Die Erhaltung der Natur und der Schutz der natürlichen Umwelt wurden diesem Ziel rigoros untergeordnet. So legte das 1970 beschlossene Landeskulturgesetz den Primat der rationalen Gestaltung und Nut3

Hohmann, Karl: Agrarpolitik und Landwirtschaft in der DDR, in: Geographische Rundschau 36 (1984), S. 598-604, besonders. S. 600.

4

Krebs, Christian: Der Weg zur industriemäßigen Organisation der Agrarproduktion in der DDR. Die Agrarpolitik der SED 1945-1960, Bonn 1989, S. 1.

5

Hohmann, Agrarpolitik, S. 37, 600. Schröder, Stefanie: Die ideologische Arbeit der SED zur Entwicklung der Kooperation in der Landwirtschaft Mitte der sechziger Jahre, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) S. 22 (1980), S. 95-108, hier 107.

6

Heinz, Michael: Von Mähdreschern und Musterdörfern. Industrialisierung der Landwirtschaft und die Wandlung des ländlichen Lebens am Beispiel der Nordbezirke, Berlin 2011, S. 97116. Zum NÖSPL, zur Förderung der „Produktivkraft Wissenschaft“ und den Fortschrittsund Egalisierungsillusionen der frühen sechziger Jahre: Meuschel, Sigrid: Symbiose von Technik und Gemeinschaft. Die Reformideologie der SED in den sechziger Jahren, in: Emmerich, Wolfgang / Wege, Carl (Hg.): Der Technikdiskus in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart 1995, S. 203-230. Faulenbach, „Modernisierung“, S. 286, 291. Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft, S. 5, 291. Zum NÖSPL umfassend: Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999.

7

Roesler, Jörg: Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform in der DDR zwischen 1963 und 1970, Freiburg 1990, S. 128, 141.

8

Hierzu und zum Folgenden: Last, Georg: After the ‘Socialist Spring‘. Collectivization and Economic Transformation in the GDR, New York 2009, S. 155-203.

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zung von Natur und Landschaften fest.9 Das Konzept der agro-industriellen Produktion war darüber hinaus auf die Herausbildung einer einheitlichen und homogenen Schicht von LPG-Bauern und die Angleichung ihrer Interessen und Mentalität an die Industriearbeiter im Rahmen einer vorgeblich egalitären „sozialistischen Menschengemeinschaft“ ausgerichtet.10 Auch die vertikale und integrale Integration in der Landwirtschaft wurde kräftig verstärkt. Dabei sind vier Prozesse hervorzuheben. Erstens ordnete die SEDFührung seit den späten 1960er Jahren die Bildung von Kooperationsgemeinschaften an, die eine optimale Auslastung der Großmaschinen gewährleisten und die Zusammenarbeit zwischen den LPG verstärken sollten. Anfang der 1970er Jahre entstanden mit den Kooperativen Abteilungen Pflanzenproduktion (KAP) schließlich agrarische Großbetriebe, die 1974 durchschnittlich bereits rund 4.000 ha und damit vierzehn Mal so viel Land bewirtschafteten wie die LPG 1960 bearbeitet hatten. 1974 verfügten rd. 1.200 KAP über 261.000 Mitarbeiter und 74 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der DDR.11 In der Viehwirtschaft beschleunigten die neu gebildeten zwischenbetrieblichen bzw. zwischengenossenschaftlichen Einrichtungen den Integrations- und Fusionsprozess.12 Zweitens wurden Vor- und Dienstleistungen für die Agrarbetriebe in zwischenbetriebliche bzw. -genossenschaftliche Einrichtungen ausgelagert. So übernahmen Agrochemische Zentren die Düngung und den Pflanzenschutz. Darüber hinaus führten Kreisbetriebe für Landtechnik Reparaturarbeiten aus. Auch Meliorationen und Reparaturarbeiten wurden Spezialbetrieben übertragen, die jeweils für mehrere Volkseigene Güter (VEG), LPG bzw. KAP zuständig waren. In der Pflanzenproduktion kooperierten diese Agrarbetriebe in Agrar-Industrie-Vereinigungen mit den Dienstleistungszentren.13 Drittens setzte die SED-Führung die vertikale Integration der Landwirtschaft durch, die an vor- und nachgelagerte Wirtschaftsbereiche angeschlossen wurde. Für immer mehr Agrarprodukte mussten die Betriebe Verträge mit Verarbeitungsbetrieben für bestimmte landwirtschaftliche Produkte abschließen. Vor allem 9

Hohmann, Karl: Die Industrialisierung der Landwirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Umwelt in der DDR, in: Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria / Merkel, Konrad (Hg.): Umweltschutz in beiden Teilen Deutschlands, Berlin 1986, S. 41-67, hier S. 44. Zur Vorgeschichte: Knoth, Nikola: „Blümeli pflücken und Störche zählen …?“ – Der „andere“ deutsche Naturschutz: Wurzeln, Ideen und Träger des frühen DDR-Naturschutzes, in: Frese / Prinz (Hg.): Zäsuren, S. 439-463.

10 Dazu viele Belege in: Grüneberg, Gerhard: Agrarpolitik der Arbeiterklasse zum Wohle des Volkes. Ausgewählte Aufsätze 1957-1981, Berlin (Ost) 1981, bes. S. 43, 100, 105, 117, 149 f., 164 f., 176, 240, 243 f., 270 f., 308 f., 323, 349, 352, 359, 433, 435. 11 Schulz, Hans-Dieter: Jetzt ackern meist die KAP-Riesen. Großer Sprung bei der Sozialisierung der Landwirtschaft, in: Deutschland Archiv (DA) 7 (1974), S. 929-935, bes. S. 930. Roesler: Plan, S. 149 f. 12 Nehrig, Christel: Landwirtschaftspolitik, in: Herbst, Andreas / Stephan, Gerd-Rüdiger / Winkler, Jürgen (Hg.): Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 294-305, bes. S. 301; Roesler: Plan, 151. 13 Nehrig, Landwirtschaftspolitik, 303.

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für Qualitätsfleisch, Milch, Getreide, Kartoffeln, Obst und Gemüse bildeten sich seit den späten Sechzigerjahren institutionalisierte Kooperationsverbände heraus. Jedoch blieben die Lager- und Verarbeitungskapazitäten für Agrarprodukte in der DDR seit den sechziger Jahren durchweg begrenzt.14 Viertens ordneten die führenden Landwirtschaftsfunktionäre die Einrichtung staatlicher Betriebe außerhalb des genossenschaftlichen Sektors an. Besonders für die Tierproduktion wurden seit 1967/68 industriemäßige Anlagen aufgebaut, so Kombinate für Industrielle Mast (KIM), die sich vor allem der spezialisierten Erzeugung von Geflügel- und Schweinefleisch widmeten.15 Die zunehmende Erzeugung von Geflügel spiegelte in der DDR – ebenso wie in der Bundesrepublik – den Wandel von Ernährungsgewohnheiten und Konsumstilen wider. Die KIM nahmen auch Legehennen auf, deren Haltung in hohem Maß intensiviert und rationalisiert wurde.16 2. Die Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion und ihre Folgen Die forcierte Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion nach dem „Grüneberg-Plan“ (benannt nach dem Sekretär des SED-Zentralkomitees für Landwirtschaft von 1960 bis 1981, Gerhard Grüneberg), mit dem das SED-Regime 1977/78 erneut einen tiefen Umbruch in der landwirtschaftlichen Erzeugung erzwang, sollte die Industrialisierung der Agrarproduktion in der DDR weiter vorantreiben. Mit der Herausbildung spezialisierter Betriebe für Pflanzenbau und Viehwirtschaft erreichte der Gigantismus in der Agrarpolitik der SED schließlich seinen Höhepunkt. 1983 bewirtschafteten die LPG bzw. VEG Pflanzenproduktion durchschnittlich eine Nutzfläche von 4.700 bzw. 5.200 ha; die LPG bzw. VEG Tierproduktion wiesen im Durchschnitt über einen Viehbestand von rund 1.500 bzw. 2.200 Großvieheinheiten auf.17 In ebenem und fruchtbarem Gelände hatten 14 Roesler, Plan, S. 147 f. 15 Poutrus, Patrice G.: Die Erfindung des Goldbroilers. Über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentwicklung in der DDR, Köln 2002, S. 81-89, 182-190. Ders.: „[...] mit Politik kann ich keine Hühner aufziehn“. Das Kombinat Industrielle Mast und die Lebenserinnerungen der Frau Knut, in: Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln 1999, S. 235265. Ders.: Industrielle Produktion auf dem Lande? Das Beispiel KIM, in: Hürtgen, Renate / Reichel, Thomas (Hg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001, S. 275-293. Harnisch, Karla: Die Politik der SED zur Entwicklung der Landwirtschaft der DDR 1966 bis 1968, in: BzG 26 (1984), S. 356-364, besonders S. 363 f. Schulz: KAP-Riesen, S. 930. 16 Kurjo, Andreas: Organisation und Bedeutung der Geflügelhaltung in der Landwirtschaft der DDR, in: FS-Analysen, H. 4 (1989), S. 3-56, besonders S. 19 f., 35, 46-48. 17 Heinz, Michael: Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 117-154. Unterschiedliche Interpretationen in: Buchsteiner, Ilona: Bodenreform und Agrarwirtschaft der DDR. Forschungsstudie, in: Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission. hg. vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Bd. 5, Schwerin 1997, S. 9-61, bes. S. 54. Kuntsche, Siegfried: Die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse

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Ackerschläge eine Größe von jeweils 200 ha, gelegentlich sogar 400 ha erreicht.18 1989 wurden in der DDR insgesamt nur noch 1.162 LPG und 78 VEG registriert, denen die Pflanzenproduktion oblag. Sie verfügten über eine Nutzfläche von jeweils durchschnittlich 4.500 bis 5.000 ha und erstreckten sich auf bis zu fünf Gemeinden. Die Bewirtschaftung der gigantischen Betriebe erwies sich nicht als ökonomisch dysfunktional, sondern sie schädigte auch nachhaltig die natürliche Umwelt.19 Schon früh kritisierten Staats- und Parteifunktionäre in den Kreisen und einzelnen Gemeinden die Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion. Die Umstellung auf die Arbeitsorganisation nach Produktionsbereichen – anstelle der bodengebundenen Erzeugung – wurde vereinzelt sogar gezielt unterlaufen.20 Dennoch fiel die Agrarwirtschaft in der DDR vor allem hinsichtlich der Flächen- und Arbeitsproduktivität gegenüber der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren deutlich zurück. So erreichte die ostdeutsche Landwirtschaft im FünfJahres-Durchschnitt von 1985 bis 1989 nur 43,2 Prozent der westdeutschen Arbeitsproduktivität. Auch die Flächenproduktivität betrug in der DDR in den frühen achtziger Jahren lediglich 64,8 Prozent des in der Bundesrepublik erreichten Wertes. Diese Differenz ist auf die Reibungsverluste der Planwirtschaft und den ökonomischen Folgen des Zusammenschlusses zu agro-industriellen Komplexen zurückzuführen, die Grenznutzeneffekte verursachten. Zudem sank mit der steigenden Auslandsverschuldung und der sinkenden Exportrentabilität der Anteil der Investitionen zur Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft. Er erreichte in der DDR in den Jahren von 1980 bis 1984 nur 73 Prozent der landwirtschaftlichen Investitionen in der Bundesrepublik und ging im darauffolgenden Jahrfünft weiter auf 68 Prozent des in Westdeutschland registrierten Wertes zurück. Nicht zuletzt wurden staatliche Mittel vor allem in neue Bauten gelenkt, während die landwirt-

und der Produktionsstruktur in der Landwirtschaft, in: Keller, Dietmar u.a. (Hg.): Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 1, Bonn 1993, S. 191-210, besonders S. 205-208. Weber, Adolf: Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse und der Produktionsstruktur in der Landwirtschaft der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Bd. II/4: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Baden-Baden 1995, S. 2809-2888, hier: S. 2871 f. 18 Philipp, Hans-Jürgen: Abfolge und Bewertung von Agrarlandschaftswandlungen in Ostdeutschland seit 1945, in: Berichte über Landwirtschaft 75 (1997), S. 89-122, besonders S. 98. Hohmann: Industrialisierung, S. 45 f. 19 Nehrig, Landwirtschaftspolitik, S. 303. 20 Langenhan, Dagmar: „Wir waren ideologisch ausgerichtet auf die industriemäßige Produktion.“ Machtbildung und forcierter Strukturwandel in der Landwirtschaft der DDR der 1970er Jahre, in: ZAA 51 (2003), H. 2, S 47-55. Kipping, Manfred: Bäuerlich-ökonomische Vernunft wider Dirigismus bei der KAP-Bildung Oberwiera, in: Buchsteiner, Ilona / Kuntsche, Siegfried (Hg.): Agrargenossenschaften in Vergangenheit und Gegenwart. 50 Jahre nach der Bildung von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR, Rostock 2004, S. 135-143.

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schaftliche Ausrüstung (besonders Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel) vernachlässigt wurde.21 Die gravierenden betriebswirtschaftlichen Nachteile, aber auch die ökologischen Folgelasten der Landwirtschaftspolitik des SED-Regimes traten in den achtziger Jahren schließlich offen zutage. Der Agrargigantismus der Ost-Berliner Machthaber hatte zu riesigen Betrieben geführt, mit denen sich die Beschäftigten nur schwach identifizierten. Auch daraus ergaben sich hohe Verluste, besonders in der Viehwirtschaft. Durch die übertriebene Spezialisierung, die aus der Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion resultierte, war der natürliche Stoffkreislauf unterbrochen worden. Während den Viehbetrieben das Futter fehlten, mussten für den Ackerbau künstliche Düngemittel erworben werden, um damit die Erträge steigern zu können. Da die Kooperation zwischen den beide Zweigen der Agrarproduktion unzureichend blieb, konnte umgekehrt in den großen Viehbetrieben Gülle nur unzureichend ausgebracht werden. Demgegenüber wurde in Ackerbaubetrieben Viehfutter gehortet. Die Bildung der Großbetriebe erforderte überdies enorme Investitionen. Darüber hinaus entstanden in den z. T. riesigen Betrieben hohe Transaktionskosten, welche die günstigen ökonomischen Auswirkungen der Großbetriebe für die Produktionskosten (economies of scale) überstiegen. Besonders die Verwaltung und Aufsicht der Betriebe erforderten beträchtliche Aufwendungen. Ebenso steigerten die langen Verkehrswege in den LPG erheblich die Kosten. Da mit der wachsenden Größe und Spezialisierung zunehmend betriebsfremde Leistungen als Inputs benötigt wurden, schnellten die Ausgaben hoch. Wie sich 1990 unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Öffnung herausstellte, verfügten die agro-industriellen Komplexe in der DDR aus betriebswirtschaftlicher Sicht keineswegs über eine optimal size.22 Insgesamt blieben die Hektarerträge in der Feldwirtschaft besonders seit den siebziger Jahren deutlich hinter den entsprechenden Leistungen der westdeutschen Landwirtschaft zurück, besonders bei Zuckerrüben und Kartoffeln.23 Auch die Ergebnisse in der tierischen Produktion (Schlachtvieh je Rind bzw. Schwein und Milchaufkommen pro Kuh) erreichten bei weitem nicht die in der Bundesrepublik erzielten Leistungen. Dagegen wiesen die Großbetriebe in der DDR einen deutlich

21 Angaben nach: Weber, Adolf: Ursachen und Folgen abnehmender Effizienz in der DDRLandwirtschaft, in: Kuhrt, Eberhard u. a. (Hg.): Die Endzeit der DDR-Wirtschaft – Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Opladen 1999, S. 235, 237. Heinz, Michael: Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 233-245. 22 Hagedorn, Konrad: Konzeptionelle Überlegungen zur Transformation der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern, in: Merl, Stephan / Schinke, Eberhard (Hg.): Agrarwirtschaft und Agrarpolitik in der ehemaligen DDR im Umbruch, Berlin 1991, S. 19-34. Weber, Adolf: Lohnt sich der Aufbau landwirtschaftlicher Großbetriebe in der DDR?, in: Immler, Hans / Merkel, Konrad (Hg.): DDR-Landwirtschaft in der Diskussion. Köln 1972, S. 105-121. Ders.: Der landwirtschaftliche Großbetrieb mit vielen Arbeitskräften in historischer und international vergleichender Sicht, in: Berichte über Landwirtschaft 52 (1974), S. 57-80. 23 Weber, Adolf: Stand und Entwicklung der DDR-Agrarproduktion, in: FS-Analysen, Heft 5/1989, S. 26-38, hier: S. 29 f.

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höheren Arbeitskräftebesatz auf als die überwiegend klein- und mittelbäuerlichen Familienbetriebe in der Bundesrepublik.24 Der Rückstand hinsichtlich der Arbeitsproduktivität ist nicht zuletzt auf den geringen Umfang und die Fehlleitung von Investitionen zurück zu führen. So waren in der DDR Ende 1988 29,4 Prozent aller Traktoren älter als 18 Jahre. Auch die Qualität des Saatgutes und der Düngermittel war unzureichend. Insgesamt konnte das erforderliche Investitionskapitel für die Mechanisierung der Pflanzenund Tierproduktion unter den restriktiven Bedingungen der zunehmenden Auslandsverschuldung nicht aufgebracht werden. Vor allem aber trug die dysfunktionale Trennung der Tierhaltung von der pflanzlichen Erzeugung maßgeblich zur Krise der ostdeutschen Landwirtschaft in den achtziger Jahren bei. So lag die Produktivität in der Viehwirtschaft in den Jahren von 1980 bis 1983 in der DDR nur bei 82 Prozent des in der Bundesrepublik erzielten Wertes.25 3. Zögernde Korrektur in den achtziger Jahren Nach dem Tod Grünebergs (10. April 1981), dem X. Parteitag der SED (11. bis 16. April 1981) und dem XII. Bauernkongress der DDR (13./14. Mai 1982) schränkte die politische Führung in der DDR ihr Konzept der industrialisierten Agrarwirtschaft ein.26 So wurden die Betriebsgrößen zumindest geringfügig reduziert. Auch ordneten die Spitzenfunktionäre Maßnahmen an, mit denen die Bindung der Produzenten an den Boden wieder verstärkt werden sollte. So wurde die Arbeitsorganisation in den LPG durch die Wiedereinführung des „Territorialprinzips“ umgestellt. In den Agrarbetrieben sollten Brigaden nicht mehr für spezialisierte Produktionseinrichtungen, sondern für einen engen Raum zuständig sein, in dem sie – möglichst in der Nähe der Wohnorte der Beschäftigten – eingesetzt wurden. Dieser Neuorientierung lag das Ziel zu Grunde, die Identifikation der Beschäftigten mit dem von ihnen bebauten Land zu erhöhen.27 Zudem erlaubte das LPG-Gesetz von 1982 Mitgliedern von Produktionsgenossenschaften eine erwei24

Jordan, Carlo: Umweltzerstörung und Umweltpolitik in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). hg. vom Deutschen Bundestag. Bd. II/3: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung. Frankfurt/M. 1995, S. 1770-1790, besonders S. 1783. Hohmann: Agrarpolitik, S. 602.

25

Weber: Ursachen, S. 246.

26

Zarend, Christine: Möglichkeiten und Grenzen der Agrarpolitik in der DDR Anfang der achtziger Jahre, in: BzG 32 (1990), S. 528-531. Hohmann, Karl: Vom Optimismus zum Realismus – die agrarpolitische Zielsetzung der SED, in: FS-Analysen, H. 3 (1981), S. 49-55, bes. S. 54 f.

27 Eckart, Karl: Veränderungen in der Landwirtschaft der DDR seit Anfang der siebziger Jahre, in: DA 18 (1985), S. 396-411, hier: S. 405. Schulz, Hans Dieter: Plant die SED noch größere Agrar-Einheiten? Schon vor dem Bauernparteitag und -kongreß waren die Weichen gestellt, in: DA 15 (1982), S. 713. Heinz, Michael: Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 245249. Hohmann: Agrarpolitik, S. 37, 76.

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terte private Hoflandwirtschaft, deren Erzeugnisse auch wegen der relativ hohen Produktivität in der DDR unentbehrlich geworden waren. Auf ihrem XI. Parteitag (17. bis 21. April 1986) wertete die SED die individuellen Hauswirtschaften deshalb nochmals auf.28 Überdies hatte das Politbüro der Staatspartei schon am 18. Oktober 1983 beschlossen, die Pflanzen- und Tierproduktion wieder enger zusammenzuführen. Diesem Zweck sollten Kooperationsräte dienen, die eingerichtet wurden.29 Schließlich wurde 1984 eine Preisreform erlassen, um die LPG-Mitglieder zur Steigerung der Produktion anzuregen. Im Anschluss an die Erhöhung der Agrarpreise stiegen zwar die Erzeugerpreise; zugleich jedoch auch die Lebensmittelsubventionen, die allein im Zeitraum von 1983 bis 1988 von rund 12,1 Milliarden Mark auf 31,9 Milliarden Mark hochschnellten. 1988 waren insgesamt 46 Prozent der Ausgaben für Lebensmittel mit staatlichen Mitteln bezuschusst. In diesem Jahr übertrafen die Lebensmittelsubventionen der DDR die Hilfen für die westdeutschen Agrarproduzenten um das Zehnfache.30 Während die Erzeugerpreise damit z. T. über das Niveau der Erlöse im Einzelhandel stiegen, blieb die erhoffte Steigerung der Produktion in den landwirtschaftlichen Betrieben aus.31 In den achtziger Jahren gab die SED-Führung auch das Ziel auf, die Lebensverhältnisse in Stadt und Land einander anzugleichen. Im November 1981 wurde vielmehr verkündet „Dorf bleibt Dorf, und Bauer bleibt Bauer“.32 Diesem Kurswechsel entsprechend, wurde in den achtziger Jahren die 1946/47 gegründete Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe deutlich aufgewertet. Sie sollte die agrarwirtschaftliche Erzeugung in den Dörfern stärken und den Absatz von Produkten fördern, um den ökonomischen Niedergang aufzuhalten.33 Jedoch konnte auch der Rekurs auf „gute bäuerliche Erfahrungen und Traditionen“, die für die großbetriebliche Agrarproduktion genutzt werden sollten, die Krise der Landwirtschaft in

28 Hohmann, Karl: Zielsetzungen des XI. Parteitages im Agrarsektor, in: FS-Analysen, H. 2 (1986), S. 55-60. Heinz: Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 389-398. Eckart: Veränderungen, S. 67, 407. 29

Heinz: Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 264-270. Hohmann: Agrarpolitik, S. 75.

30

Weber: Ursachen, S. 251 f, 254. 31 Weber, Adolf: Stand und Entwicklung der DDR-Agrarproduktion, in: FS-Analysen, H. 5 (1989), S. 26-38, hier: S. 26, 34. Kurjo, Andreas: Zur Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft der DDR, in: FS-Analysen, H. 4 (1986), S. 75-108, hier: S. 89 f., 108. Ders.: Agrarpolitik und Agrarwirtschaft in der DDR im Prozeß der Erneuerung an der Schwelle der 90er Jahre, in: FS-Analysen, H. 2 (1990), S. 139-155, hier: S. 141, 149, 151. Heinz: Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 249-264. 32

Heinz, Von Mähdreschern und Musterdörfern, S. 270-272. Allgemein zu den – in der parteioffiziellen Geschichtsschreibung eskamotierten – abrupten Kurswechsel in der SED-Agrarpolitik: Bauerkämper, Arnd: Retrospektive Teleologie. Der Anspruch des SED-Regimes auf eine zielgerichtete Agrarpolitik und die Richtungswechsel in der DDR, in: Berliner Wissenschaftliche Gesellschaft, Jahrbuch 2004, 129-154.

33 Lapp, Peter Joachim: VdgB neues Mitglied im Demokratischen Block, in: DA 19 (1986), S. 16 f.

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der DDR nicht bremsen.34 Schließlich zwang der Devisenmangel zu einem beschleunigten Verkauf der Landmaschinen, die in der DDR produziert wurden. Die Abschreibungsfristen des technischen Inventars, das in der ostdeutschen Landwirtschaft eingesetzt wurde, mussten deshalb immer mehr verlängert werden. Trotz vorsichtiger Korrekturen blieb die Agrarpolitik der SED auch in den 1980er Jahren widersprüchlich. So war der „wissenschaftlich-technische Fortschritt“ weiterhin das übergeordnete Leitbild. Ebenso wurde der Technik- und Modernisierungsfetischismus allenfalls vorsichtig zurückgenommen.35 Zudem blieb die Agrarstruktur in der DDR großbetrieblich geprägt. 1989 bewirtschafteten mehr als 3.800 LPG und 465 VEG 87 Prozent bzw. 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Genossenschaftliche und staatliche Pflanzenbaubetriebe – LPG(P) und VEG (P) – umfassten durchschnittlich über 4.500 ha Land, und die LPG (T) hatten im Durchschnitt jeweils 1.800 Großvieheinheiten.36 1990 wurde in Mecklenburg die größte Schweinemastanlage in der DDR stillgelegt. Sie hatte über 100.000 Stellplätze verfügt.37 4. Bilanz Insgesamt erwiesen sich der Übergang zu „industriemäßigen Produktionsmethoden“ in der Landwirtschaft und der ihm zu Grunde liegende agrarpolitische Gigantismus des SED-Regimes als ökonomisch dysfunktional. Der Zusammenschluss von LPG zu agro-industriellen Komplexen und die Einbeziehung der Kollektivbetriebe in das System der zentralen Planwirtschaft prolongierten in der Agrarwirtschaft den Primat des Produktionsprinzips gegenüber dem Produktivitätskriteriums. Auch weil die Produktionsgenossenschaften darüber hinaus gesellschaftspolitische Aufgaben auf dem Lande übernehmen mussten, banden sie bis 1989/90 eine deutlich höhere Zahl von Arbeitskräften als die landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik. Noch 1980 waren in der DDR rund 10,7 (1985 sogar 11) Prozent der Berufstätigen in der Agrarwirtschaft beschäftigt (in der Bundesrepublik 5,3 Prozent). Insgesamt vollzog sich in der westdeutschen Volkswirtschaft der säkulare Wandel vom primären Sektor zur Industriewirtschaft und zunehmend auch zum Dienstleistungsbereich bedeutend schneller als in der DDR. Dieser Befund dokumentiert nicht zuletzt das Scheitern einer Agrarpolitik, die den Sprung in die kommunistische Moderne erzwingen sollte.38

34

Ebd., S. 46.

35

Ambros, Gerhard: Über die umfassende Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion, in: Einheit, H. 2 (1986), S. 145-147. Schmidt, Gerald: Über die umfassende Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion, in: Einheit, H. 1/1987, S. 82-85.

36

Buchsteiner, Bodenreform, S. 55.

37

Eckart, Karl: Agrarpolitische Rahmenbedingungen und Ergebnisse des Agrarstrukturwandels in den neuen Bundesländern, in: DA 27 (1994), S. 926-939, besonders S. 927. Reichelt, Hans: Die Landwirtschaft in der ehemaligen DDR. Probleme, Erkenntnisse, Entwicklungen, in: Berichte über Landwirtschaft 70 (1992), S. 117-136, hier: S. 130.

38

Bauerkämper: Agrarwirtschaft, S. 24, 35 f. Angaben nach Kurjo, Entwicklung, S. 77.

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XII. Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90) 1 Von Klaus Krakat 1. Zu den Ausgangsbedingungen Die Industrie war Basis und Hauptfaktor der Wirtschaftsentwicklung in der DDR; im Rahmen von Aufbau und Vervollkommnung der „sozialistischen Planwirtschaft“ erbrachte sie (seit Ende der 70er Jahre schwerpunktmäßig in Kombinaten organisiert) stets den Hauptteil der wirtschaftlichen Leistungen.2 1988/1989 existierten insgesamt 221 Industriekombinate: 126 gehörten der sogenannten zentralgeleiteten und 95 der sogenannten bezirksgeleiteten Industrie an. Mithin standen im Zentrum des wirtschaftspolitischen Handelns der Partei- und Wirtschaftsführung industriepolitische Aktionen. Nach dem Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung in den 60er Jahren konzentrierte sich die Wirtschaftspolitik der SED-Führung auf die von Honecker auf dem VIII. Parteitag (15.-19.06.1971) verkündete „Hauptaufgabe“ einer Erhöhung des Lebensstandards auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der Produktion, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität. Industriepolitisch wurde dieses Programm begleitet von dem Vorhaben einer „sozialistischen Intensivierung der Produktionsprozesse“, also der intensiven Nutzung der vorhandenen Kapazitäten und Ressourcen in Verbindung mit stärkerer Berücksichtigung von Forschung und Entwicklung und unterstützt durch Importe westlicher Technologie zur Modernisierung der Industriekapazitäten. Tatsächlich gelang in den 70er Jahren der entscheidende Produktivitätsschub nicht. Der Verbrauch wuchs schneller als die Produktion, wobei die 1972 vollzogene Verstaatlichung der verbliebenen Privat- und halbstaatlichen Betriebe einschließlich der Produktionsgenossenschaften des Handwerks und der verbliebenen Einzelhändler die Versorgungslage im Ergebnis weiter verschlechterte. Erschwerend kamen in den 1970er Jahren die Erhöhungen der Weltmarktpreise für Rohstoffe und Energieträger seit der Ölkrise von 1973/74 hinzu, die, mehr oder weniger schnell, auf die Wirtschaft der DDR durchschlugen. Da die DDR selbst über wenige eigene Rohstoffe – ausgenommen Braunkohle – verfügte, war sie auf Energierohstoff-, Grundstoff- und Halbwarenimporte angewiesen, deren Finanzierung wegen der Preissteigerungen in den 70er und 80er Jahren durch wachsende Exporterlöse erfolgen mußte. 1

Gekürzte Fassung des Beitrages von Krakat, Klaus: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/1990), in: Kuhrt, Eberhard in Verbindung mit H. F. Buck und G. Holzweißig (Hrsg.): Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren, Bd. 2: Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Opladen 1996, S. 137-167.

2

Sozialistische Volkswirtschaft, Hochschullehrbuch, Berlin (-Ost) 1989, S. 349 ff.

913

Eine kritische Zuspitzung der Situation trat ein, als die Sowjetunion 1981 die Liefermenge für das durch den RGW-Preisbildungsmechanismus subventionierte Rohöl (nach dem neuerlichen Preisanstieg 1981 lag der aktuelle Weltmarktpreis deutlich über dem durchschnittlichen der zurückliegenden fünf Jahre) um zwei Millionen Tonnen senkte und damit der DDR den wichtigsten Rohstoff für ihre Westexporte verknappte und verteuerte.3 Nach Aussagen des damaligen Chefs der DDR-Plankommission, Gerhard Schürer, führte diese Kürzung die DDR-Wirtschaft auf einen Weg in die Ausweglosigkeit: „[…] ohne diese zwei Millionen Tonnen“ konnten wir „nicht auskommen und mußten deshalb große Strukturveränderungen vornehmen[…]“.4 Eine Konzentration von Investitionen auf den Ausbau der Braunkohleforderung war damit unausweichlich. Zusätzlich verschärft wurde die Lage durch ebenfalls gekürzte Erdgaslieferungen der Sowjetunion: In einer an Mittag gerichteten Information der Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED vom 4.3.1980 wurde bemängelt, daß die mit der UdSSR vereinbarten Erdgaslieferungen seit Beginn des Jahres 1980 unterschritten wurden und bereits im März des Jahres zu „Minderreserven“ in Untergrundgasspeichern geführt hatten. „Wenn keine Erhöhung der Lieferungen erfolgt, sind ab diesem Zeitpunkt Einschränkungen in der Erdgasversorgung notwendig, vor allem bei den Stahlwerken bzw. zur Aufrechterhaltung der vollen Produktion die Umstellung dieser Verbraucher auf Heizöl“.5 Etwa gleichzeitig geriet die DDR in den Sog einer Vertrauenskrise bei internationalen Banken, ausgelöst durch Zahlungsschwierigkeiten von Polen und Rumänien und mit der Folge eines Kreditstopps ab 1982.6 Anfangs der 80er Jahre befand sich die DDR somit wirtschaftspolitisch in einer außerordentlich kritischen Situation, in der die Westverschuldung nach Einschätzung Schürers das Ausmaß einer Katastrophe angenommen hatte.7 Hinzu kam die Belastung durch die Anforderungen der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Um die aufwendige Sozialpolitik (insbesondere Konzentration auf das Wohnungsbauprogramm, Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Mietpreisen und Energie) finanzieren zu können, wurden immer mehr Mittel aus der Wirtschaft abgezogen und im Staatshaushalt konzentriert. Dazu mußten vor allem die Industriekombinate und -betriebe einen erheblichen Teil der von 3

Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel, in: Kuhrt, Eberhard et al. (Hrsg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, S. 55 ff.

4

Schürer, Gerhard: Interview in der ARD-Fernsehserie „Das war die DDR“, Teil 2: „Von der Zone zum Staat“, gesendet am 10.10.1993, abgedruckt im Begleitheft zur Serie, hrsg. vom MDR, Berlin 1993, S. 17.

5

Information der Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED vom 4.3.1980 an Mittag, in: SAPMO BArch, DY 30/26559, Bd. 2.

6

Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: Deutschland Archiv 28,6 (1995), S. 592.

7

Schürer, Gerhard: Das war die DDR, a. a. O., S. 17.

914

ihnen erwirtschafteten Gewinne und Amortisationen abführen und sich hoch verschulden. Zu den die industrielle Entwicklung behindernden Rahmenbedingungen in den 80er Jahren gehörte bemerkenswerterweise sogar ein Mangel an Arbeitskräften – Folge der Tatsache, daß einerseits für eine flächendeckende Modernisierung der Produktionsanlagen die erforderlichen produktivitätssteigernden Investitionen fehlten, andererseits systembedingt die Kombinate und Betriebe kein Interesse daran hatten, Arbeitskräftereserven offenzulegen und freizusetzen („weiche Pläne“). Schließlich wurden die systembedingten Defizite und die außenwirtschaftlichen Probleme zusätzlich verschärft durch die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Partei- und Wirtschaftsführung, von beschlossenen Handlungslinien abzuweichen. Schürer verweist darauf, daß er 1988 im Rahmen der Ausarbeitung des Volkswirtschafts- und Staatshaushaltsplanes einen Kurswechsel der bisherigen Wirtschaftspolitik vorgeschlagen habe und damit gegen Mittag nicht durchgedrungen sei. „Weil die Realität nicht mit der Beschlußlage der SED übereinstimmte, ignorierte Mittag konsequenterweise die Realität – die Beschlüsse der Partei waren unfehlbar und wahr“.8 Während SED und Regierung an der offiziellen Lesart festhielten, daß nur in einer Planwirtschaft eine „planmäßig proportionale“ und krisenfreie Entwicklung möglich sei, offenbarte demgegenüber die immer desolater werdende Wirtschaftspraxis den krassen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität. 2. Zur Industriepolitik in der Schlußphase der DDR Zielstellungen für den Industriebereich: Die entscheidenden Zielstellungen der Direktive des XI. Parteitages (1986) lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen: -

Ablösung teurer NSW-Warenimporte durch eigene und / oder RGW-Produktionen und- Dienstleistungen, die damit verbundene Intensivierung der imitierenden Forschung, die Forcierung des Rationalisierungsmittelbaues9 und die Reduzierung des Energieverbrauchs.

8

Hertle, Hans-Hermann: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft, in: Deutschland Archiv 25,2 (1992), S. 129.

9

Um bestehende Produktions- und Zulieferdefizite in der Industrie abzubauen, ging man ab dem Beginn der 80er Jahre dazu über, in den Kombinaten jeweils besondere Betriebe oder Bereiche für den Rationalisierungsmittelbau anzusiedeln. Diese wurden beauftragt, auf die Kombinatsproduktion ausgerichtete Roboter, Kontroll- und Meßgeräte, Förder- und Steuereinrichtungen zur Gewährleistung der Produktionsprozesse zur Verfügung zu stellen. Hieran interessierte Betriebe eines anderen Kombinates hatten die Möglichkeit, eine Nachnutzung zu beantragen. Als Beispiel hierfür kann der VEB Robotron-Rationalisierung Weimar genannt werden, welcher für Robotron-Betriebe u. a. Roboter herstellte.

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Diese Zielstellungen wurden in einem Bündel unterschiedlicher gesetzlicher Verfahrensvorschriften konkretisiert, d. h. verbindlicher Regularien für Kombinate und VEB, mit einem für die Anwender kaum noch übersehbaren Gewirr von Kennziffern und Normativen. Wesentliche Instrumente waren die für den Fünfjahrplanzeitraum 1986-1990 vorgegebene „Planungsordnung“10 und die „Rahmenrichtlinie für Kombinate und Betriebe“.11 Krisenmanagement statt Industriepolitik: Permanente Kontrollen der Planerfüllung ließen Politbüro und Ministerrat ab Beginn der achtziger Jahre zunehmend erkennen, daß die behauptete problemfreie Planerfüllung mit plankonformen Zulieferungen, störungsfreien Produktionen, schnell verwertbaren Forschungsergebnissen, Disziplin am Arbeitsplatz, dem breiten Einsatz neuer Technologien und damit Produktivitätserhöhung und Wirtschaftswachstum nicht realisierbar war. Schon allein auf Grund der oben skizzierten, sich während der achtziger Jahre verschlechternden allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mußten erhebliche Instabilitäten in Kauf genommen werden. Sie äußerten sich u. a. in fehlenden Anlagen oder Materialien, mangelhaften Vorproduktionen, knappen Rohstoffen, Produktionsausfallen durch den Einsatz technologisch veralteter Produktionsanlagen oder einer nachlassenden Arbeitsdisziplin sowie nicht zuletzt in systembedingten Strukturdefiziten wie einer fehlenden Risikobereitschaft und der Präferierung leicht zu erfüllender, also „weicher“ Pläne. Nicht zuletzt entwickelten sich die Ressourcenprobleme der Kombinate zu einem kaum noch zu überwindenden Innovationshemmnis. Die Probleme wurden zusätzlich durch die Konzentration auf bestimmte Prestige-Projekte – wie z. B. in der Mikroelektronik – verschärft, da diese auf Kosten einer Weiterentwicklung anderer Wirtschaftsbereiche oder einer breiteren Modernisierung industriebetrieblicher Produktionskapazitäten realisiert wurden. Die zentralistische Industriepolitik wandelte sich angesichts der sich zuspitzenden Probleme zu einem hektischen Krisenmanagement: Aufgedeckte und zur Normalität ansteigende Pannen und Defizite auf Kombinats- und VEB-Ebene verlangten umfangreiche und zeitintensive Gegensteuerungen mit Blick auf die Einhaltung festgelegter Wirtschaftsziele und banden zusätzliche finanzielle Mittel. Einige ausgewählte Krisenberichte von Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI), Finanzrevision oder Bezirksleitungen der SED sind geeignet, die Situation zu veranschaulichen: Fallbeispiel 1: Planerfüllung „mit dem Bleistift“ Die Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, Abteilung Inspektion, hatte 1987 im VEB Schuhfabrik Lobenstein „erhebliche Mängel und Mißstände“ aufgedeckt und in einer „Information über Verletzungen der staatlichen 10 Anordnung über die Planung der Volkswirtschaft der DDR 1986-1990 vom 7.12.1984, Teil A, in: GBl. der DDR vom 1.2.1985, Sonderdruck Nr. 1190a, 1190bff. 11 Anordnung über die Rahmenrichtlinie für die Planung in den Kombinaten und Betrieben der Industrie und des Bauwesens – Rahmenrichtlinie – vom 7.12.1984, in: GBl. der DDR vom 1.2.1985, Sonderdruck Nr. 1191.

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Ordnung beim Umgang mit Material und Fertigerzeugnissen“ zusammengestellt. Politbüromitglied Krolikowski sah sich genötigt, dem Wirtschaftssekretär Mittag per handschriftlichem Zusatzvermerk mitzuteilen, daß er den zur Diskussion stehenden „Skandal morgen im Ministerrat“ behandeln und entsprechende Schlußfolgerungen veranlassen werde. Dem Betrieb wurden Planverstöße jeglicher Art „mit Wissen der Kombinatsleitung“ weit über das allgemein übliche Maß hinaus vorgeworfen. U. a. wurde festgestellt: „Der VEB Schuhfabrik Lobenstein wurde den Qualitätsvereinbarungen gegenüber dem Handel nicht mehr gerecht, und es kam zum enormen Anstieg der Reklamationen und der Anhäufung von Fertigerzeugnissen. Diese Situation war sowohl den leitenden Kadern des Betriebes als auch der Kombinatsleitung bekannt. Sie duldeten Manipulationen in der Abrechnung zur Verschleierung der tatsächlichen Situation des Betriebes. So wurde der Plan in den meisten Fällen den erreichten Ergebnissen angeglichen, die Qualität der Erzeugnisse und die tatsächliche Reklamationsquote von 1984-1986 bewußt falsch ausgewiesen und erhebliche Unordnung in Teilbereichen der Abrechnung des Reproduktionsprozesses zugelassen. In den Jahren von 1984-1986 entstanden dem Betrieb dadurch Verluste in Höhe von 2,63 Mio. Mark. Trotz dieser erheblichen Verluste konnte der Betrieb durch eine entsprechende Plangestaltung mit Wissen der Kombinatsleitung die Hauptkennziffern der Leistungsbewertung über Jahre also erfüllt abrechnen. Die Nichterfüllung der ursprünglich geplanten Mengenleistungen, insbesondere in den Jahren 1985 und 1986, führten zu Mehrbeständen an Material per 31.12.1986 in Höhe von 0,9 Mio. M. Laut Inventurprotokoll vom 30.4.1987 wurden allein im Reklamationslager 21.389 Paar Schuhe im Wert von 2,5 Mio. M nachgewiesen. Darüber hinaus wurden im Betriebsteil Neundorf 2.589 Paar Rindbox-Damensandalen festgestellt, die letztmalig 1985 inventurgemäß erfaßt worden sind. Aufgrund ungenügender Aktivitäten der verantwortlichen Leiter zur Verbesserung der Qualität der Produkte und der Organisation einer vertragsgerechten Produktion nahm der Bestand an Schuhen dermaßen zu, daß unter Mißachtung aller Bestimmungen der Sicherheit und Ordnung, des Arbeits- und Brandschutzes alle Lagerkapazitäten des VEB erschöpft waren. Es wurde deshalb festgelegt, die eingelagerten Schuhe auf Reparaturfähigkeit zu prüfen und nicht reparaturfähiges Schuhwerk zu vernichten. Vom 1.1.1986 bis 27.2.1987 wurden 3.025 Paar Schuhe in der Heizungsanlage des Betriebes verbrannt. Für die im VEB Schuhfabrik Lobenstein eingetretene Situation werden folgende Ursachen dargestellt: -

ungenügende Wahrnehmung der Verantwortung durch leitende Kader des Betriebes für die ihnen übertragenen Aufgaben auf dem Gebiet der Materialwirtschaft, der Produktionsvorbereitung und -durchführung sowie beim Absatz, mangelnde Durchsetzung der Kontrollpflichten des Betriebsleiters und des Hauptbuchhalters. […]

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Häufiger Wechsel in der personellen Besetzung von Leitungsfunktionen hemmte die Konsolidierung der Leitungstätigkeit, schadete dem Vertrauensverhältnis der Werktätigen zu den Leitern und untergrub die Autorität der Leiter. […] Die Gesamtsituation des Betriebes begünstigt eine derzeit hohe Fluktuation. Die Arbeitskräftesituation wird im VEB Schuhfabrik Lobenstein seit 1985 zunehmend komplizierter, insbesondere bei Produktionsgrundarbeitern.

Mit dem Fehlen von Arbeitskräften und dem Einsatz unqualifizierter Arbeitskräfte werden u. a. Verletzungen der technologischen Disziplin bei der Fertigung begründet. Es wurde festgestellt, daß z. T. solche qualitätsbestimmenden Arbeitsgänge wie Verleimen der Sohlen, nicht ausgeführt wurden, um die geplante Mengenproduktion zu sichern. Da auf Grund der Arbeitskräftesituation die Meister mit am Band eingesetzt sind, unterbleiben die notwendigen Kontrollen“.12 Fallbeispiel 2: Qualitätsmängel Besonders peinlich für die Wirtschaftsführung waren Mängelrügen, die nicht als Ergebnis der „Parteikontrolle“, sondern auf Grund intensiver Recherchen von DDR-Medien festgestellt und zudem von der bundesdeutschen Presse weiter verbreitet wurden. Dies geschah z. B. in einem Beitrag der Satire-Zeitschrift „Eulenspiegel“13 über die Herstellung und den Vertrieb von Kinderfahrrädern. Der Mängelreport der Zeitschrift verbannte die zwar fabrikneuen, doch maroden und gesundheitsgefährdenden Räder in das „Gruselkabinett eines Fahrradmuseums“. Die Abteilung Maschinenbau und Metallurgie der SED wie auch die „Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat“ kamen nicht umhin festzustellen, daß die „Kritik zur Qualität der Kinderfahrräder des VEB Waggonbau Dessau“ berechtigt sei. In einer an Mittag gerichteten Information wurden die im „Eulenspiegel“ genannten Mängel daher ausnahmslos bestätigt. Zu dem „außerordentlichen“ Problemfall hieß es im einzelnen: -

-

„Die vom Werk Dessau des VEB Kinderfahrzeuge Mühlhausen ausgelieferten Fahrräder tragen zwar den Stempel der Endkontrolle auf den Begleitpapieren, jedoch muß der Servicemonteur der Verkaufsstelle bis zu 50 Minuten nacharbeiten, um das Fahrrad in einen fahrtüchtigen Zustand zu versetzen. Vom VEB Mifa-Werk Sangerhausen werden häufig zu lange Speichen eingesetzt, die Gangschaltungen funktionieren oft gar nicht oder sind nicht richtig eingestellt. Nicht alle Ersatzteile stehen ausreichend zur Verfügung, so insbesondere Tretlager und deren Einzelteile, Laufräder für Sportfahrräder, Gangschaltungen, Speichen, Dynamos, Lenker, Sportrahmen, Naben und Mehrfachkränze, Rennbedarf.

12 Mitteilung der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, Abt. Inspektion, vom 18.8.1987 an Mittag, in: SAPMO BArch, DY 30/41776, Bd. 1. 13 Mit Rat und Tat, in: Eulenspiegel Nr. 22/1989.

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Gelieferte Ersatzteile haben schlechte Qualität, so die im Stahl- und Walzwerk Hettstedt produzierten Alufelgen, die vom Betrieb Zella Mehlis des VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Suhl gelieferten Kettenblätter und Getriebe, die vom VEB Kettenfabrik Barchfeld hergestellten Speichen. Die Forderung, die Maße der DDR-Fahrräder den international üblichen anzugleichen, bestehe seit langem, werde aber vom IFA-Kombinat für Zweiradfahrzeuge ignoriert“.14 Fallbeispiel 3: Probleme bei der Bereitstellung von EDV-Technik

Dem einzigen Großhersteller rechentechnischer Erzeugnisse, dem Kombinat Robotron Dresden, war es in der Regel nicht möglich gewesen, den wachsenden Bedarf der DDR-Wirtschaft an Computern mit Blick auf Menge und Leistungsfähigkeit zu decken. Auch die Bereitstellung vergleichsweise kleiner Stückzahlen bereitete Probleme. Grund hierfür waren Mißmanagement, das allgemeine Unvermögen, mit Hilfe der eingesetzten Produktionstechnik Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in möglichst kurzer Zeit in die Produktion umzusetzen, sowie die durch Imitationsforschungen bedingten längeren Wartezeiten. Die daraus resultierenden Probleme fanden sich u. a. durch ein Schreiben des Leiters der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (SZS), Donda, vom 28.11.1988 an Mittag bestätigt: „Am 16.11.1988 wurden durch einen Abteilungsleiter im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik die CAD/CAM-Auftragsleiter der Ministerien und zentralen staatlichen Organe darüber informiert, daß das Kombinat Robotron die im Volkswirtschaftsplan 1988 festgelegten Stückzahlen für ESER-EDVA 1057, für 32-bit Rechner EC 1840 und für die 16-bit Rechner 1834 in erheblichem Umfang nicht erfüllt. […] Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß wichtige für 1988 und 1989 festgelegte inhaltliche Aufgaben […] nicht zu erfüllen sind. Es wird für notwendig gehalten, die sich aus der entstandenen Lage ergebenden Schlußfolgerungen, insbesondere zur Durchführung des gesamten Beschlusses des Sekretariats des ZK der SED und des Ministerrates vom Mai 1988, durch den Minister für Elektrotechnik und Elektronik im Präsidium des Ministerrates zur Entscheidung zu bringen“.15 Fallbeispiel 4: Die Folgen einer Stromunterbrechung im VEB Fernsehkolbenwerk Friedrichshain / Tschernitz: Nach einer mehrstündigen Unterbrechung der Stromversorgung und einem dadurch verursachten Temperatursturz in der Glasschmelzwanne des Fernsehkolbenwerkes, welches sich vor allem auf die Herstellung technischer Glaserzeugnisse spezialisiert hatte, heißt es in einem Schreiben des Ministeriums für Glas- und Keramikindustrie vom 10.2.1987 an Mittag: 14 Notiz für das Büro Mittag vom 24.5.1989, in: SAPMO BArch, DY 30/41775, Bd. 1. 15 Schreiben des DDR-Ministerrates, Staatliche Zentralverwaltung für Statistik vom 28.11.1988, an Mittag, in: SAPMO BArch, Büro Mittag, DY 30/411748.

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Es ist „trotz außerordentlicher Anstrengungen der Werktätigen, Techniker und Wissenschaftler nicht wieder gelungen, eine qualitätsgerechte Produktion von Bildschirmrohlingen entsprechend dem Plan zu sichern. […] Bisher konnte die Versorgung der Produktion von Farbbildröhren im Werk für Fernsehelektronik aufrechterhalten werden, indem vorhandene Bestände an Rohlingen in die Weiterverarbeitung mit einbezogen wurden. Das ist nur noch bis zum 20. Februar möglich. Ich habe die Situation mit den führenden Wissenschaftlern und Praktikern auf diesem Gebiet vor Ort beraten. Da die Ursachen bisher nicht erkannt wurden, muß damit gerechnet werden, daß das Wiedererreichen des planmäßigen Produktionsniveaus eine Einlaufkurve mindestens noch bis zum Ende Februar erfordert. Die Abstimmung mit dem Ministerium für Elektrotechnik / Elektronik hat ergeben, daß unter Einbeziehung aller vorhandenen Bestände zur Aufrechterhaltung der Produktion im VEB Werk für Fernsehelektronik Berlin die Zuführung von 25.000 Bildschirmen bzw. Rohlingen aus Importen erforderlich wird. Gemeinsam mit dem Ministerium für Außenhandel wurde die Prüfung der Bezugsmöglichkeiten und -bedingungen dazu veranlaßt“.16 Das Beispiel veranschaulicht, daß speziell im Falle eines Produktionsbetriebes mit Monopolstellung jede Havarie zu einem Zusammenbruch nachgelagerter Produktionen und zu teuren Ersatzbeschaffungen aus anderen RGW-Staaten oder auch aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ führte. Fallbeispiel 5: Probleme der „sozialistischen Arbeitsmoral“

In einem an Mittag gerichteten Schreiben des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne vom 8.2.1989 werden Kontrollergebnisse aus 66 Betrieben der zentralgeleiteten Industrie, des zentralgeleiteten Bauwesens sowie der örtlich geleiteten Wirtschaft berichtet: „I. Unentschuldigtes Fehlen Die Ausfallzeiten durch unentschuldigtes Fehlen nehmen seit Jahren zu. In der zentralgeleiteten Industrie stiegen sie von 3,9 Stunden je VbE (Vollbeschäftigungseinheit) Arbeiter und Angestellte im Jahre 1983 auf 6,3 Stunden im Jahre 1988, im zentralgeleiteten Bauwesen von 5,7 Stunden auf 7,1 Stunden (…). In der örtlichgeleiteten Wirtschaft sind diese Ausfallzeiten höher als in den zentralgeleiteten Betrieben. Die unentschuldigten Fehlzeiten im Jahre 1988 entsprechen dem Arbeitsvermögen von 9.575 Werktätigen in der zentralgeleiteten Industrie und 890 Werktätigen im zentralgeleiteten Bauwesen. Im Ergebnis der Untersuchungen kann folgendes festgestellt werden: 1. Die unentschuldigten Fehlzeiten wurden 1988 von 6 Prozent der Werktätigen, fast ausschließlich Produktionsarbeiter, vorwiegend im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, verursacht. Zwischen den Betrieben bestehen große Unterschiede. (…) 16 Schreiben des Ministers für Glas- und Keramikindustrie an Mittag vom 10.2.1987, in: SAPMO BArch, Büro Mittag, DY 30/41776, Bd. 2.

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2. Etwa 80 Prozent der Arbeitsbummelanten sind Werktätige, die gelegentlich, bis zu 5-mal im Jahr, der Arbeit fernbleiben. Die Zahl dieser Werktätigen und die von ihnen verursachten Fehlzeiten nahmen in der Mehrzahl der Betriebe 1988 gegenüber 1987 zu. Die Bummelanten ‚begründen‘ ihre Disziplinlosigkeit mit ‚verschlafen‘, ‚zuviel gefeiert‘, dringenden persönlichen Besorgungen u. a. Ihre leichtfertige Arbeitseinstellung wird mitunter begünstigt durch unkontinuierliche Produktion mit Warte- und Stillstandszeiten, unzureichende Kontrolle und liberale Haltung einzelner Leitungskader. 3. Etwa 20 Prozent der Arbeitsbummelanten sind Werktätige, die oft wochenoder monatelang fehlen bzw. überhaupt nicht arbeiten. Von diesen hartnäckigen Bummelanten werden etwa 70 Prozent, in manchen Betrieben 90 Prozent, der Fehlzeiten verursacht. Auch die Zahl dieser Arbeitsbummelanten und die von ihnen verursachten Fehlzeiten sind angewachsen. Hartnäckige Arbeitsbummelanten sind vor allem aus dem Strafvollzug Entlassene, kriminell Gefährdete, auf Bewährung Verurteilte, asozial lebende und psychisch auffällige Bürger, denen in der Regel durch die örtlichen Organe ein Arbeitsplatz zugewiesen wurde oder für die eine gerichtlich festgelegte Arbeitsplatzbindung besteht. Sehr häufig ist die Arbeitsbummelei mit Alkoholmißbrauch oder Alkoholismus verbunden. Viele hartnäckige Arbeitsbummelanten bekunden offen Arbeitsunlust und lehnen die mit der regelmäßigen Arbeit verbundenen Anforderungen als ‚freiheitseinschränkend‘ ab. Aufgrund ihrer niedrigen Qualifikation als Unund Angelernte und Teilfacharbeiter sowie ihrer Unzuverlässigkeit werden sie in den Betrieben in der Regel im innerbetrieblichen Transport, in der Lagerwirtschaft und anderen Hilfsprozessen eingesetzt, wo sich Arbeitsausfälle in geringerem Maße auf die Planerfüllung auswirken als in der Produktion selbst“.17 Industriepolitische Defizite: Die von der SED in den achtziger Jahren praktizierte Industriepolitik und damit auch ihre Forschungs-, Technologie- und Investitionspolitik offenbarte eine Palette systemtypischer Mängel, insbesondere einen Mangel an durchgreifenden Wachstumseffekten in Verbindung mit erheblichen technologischen Rückständen gegenüber westlichen Industriestaaten, eine erhebliche Vernachlässigung des Umweltschutzes, des Dienstleistungssektors und der sozialen Infrastruktur sowie erhebliche Rückstände in der industriellen Arbeitsproduktivität. Zwei weitere defizitäre Bereiche seien an dieser Stelle etwas näher erörtert. Hohe Überalterung und Verschleißquote industrieller Anlagen, Ausrüstungen und Gebäude: Eine der wesentlichsten Barrieren der betrieblichen Planerfüllung und der angestrebten Intensivierung war der exorbitant hohe Bestand an überalterten und verschlissenen Industrieanlagen und -ausrüstungen. Er war nicht zuletzt

17 Schreiben des Staatssekretärs für Arbeit und Löhne vom 8.2.1989 an Mittag, in: SAPMO BArch, DY 30/41763, hier Blatt 1 u. 2.

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auch verantwortlich für die mangelhafte Durchsetzung der angestrebten Intensivierung.18 Nach Schürers Angaben vom Ende Oktober 1989 hatte sich der „Altbestand“ in der Industrie insgesamt „von 47,1 im Jahre 1975 auf 53,8 % 1988 erhöht“. Mit anderen Worten: Bereits 1980 waren rund 55 % der Anlagen und Ausrüstungen älter als 10 Jahre, 21 % sogar älter als 20 Jahre.19 Noch 1990 arbeiteten in nicht wenigen Betrieben Maschinen aus den vierziger Jahren und früher.20 Etwa 15 v. H. der in der Industrie tätigen Produktionsarbeiter verbrachten ihre Zeit damit, alte und defekte Maschinen zu reparieren.21 Daher bestimmten in vielen Fällen neben teilweise neuer Technik bereits voll abgeschriebene und zudem stark reparaturanfällige Anlagen als schwächste Glieder der produktionstechnischen Kette innerhalb der Betriebe das Gesamtniveau von Automatisierung und Rationalisierung. Die daraus resultierenden zunehmenden Maschinenausfälle und „Havarien“, komplettiert durch „Bastelfertigungen“ als Ergebnis des Mangels an Ersatzteilen, legten nicht selten ganze Produktionsketten lahm. Andererseits zwangen Maschinenausfälle mit entsprechenden Diskontinuitäten im Produktionsablauf oder die zunehmenden Sonderproduktionen und Zusatzschichten zur Sicherung von Westexporten zu einem permanenten Mehreinsatz von Arbeitskräften.22 Daß die Voraussetzungen für eine störungsfreie Produktion selbst in den „strukturbestimmenden“ Kombinaten nicht gegeben waren, zeigt beispielhaft ein Rückblick auf die produktionstechnischen Rahmenbedingungen im Stammbetrieb des Kombinates Kabelwerke Oberspree (KWO):

18 Krisenanalyse Schürers vom Oktober 1989. Die Analyse hatte Egon Krenz am 24. Oktober 1989 bei Schürer mit dem Ziel in Auftrag gegeben, dem Politbüro der SED ein „ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage“ zu vermitteln. Deren Autoren unter der Leitung Schürers waren: Außenhandelsminister Beil, Finanzminister Höfner, Staatssekretär im Außenhandelsministerium, Leiter der Abteilung Kommerzielle Koordinierung und „Offizier im besonderen Einsatz“ des Ministeriums für Staatssicherheit Schalck-Golodkowski sowie der Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik Donda. „Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED“ vom 30. Oktober 1989, abgedruckt in: Schürers Krisenanalyse, Deutschland Archiv 25 (1992)-10, S. 1112-1120. 19 Schürers Krisen-Analyse, Deutschland Archiv, a. a. O., S.1114. – Vgl. in diesem Sinne ebenfalls die festgestellten Verschleißquoten des durchschnittlichen Grundmittel- und des Ausrüstungsbestandes je Wirtschaftsbereich, in: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990. S. 120 und 121. 20 So u.a. festgestellt im Rahmen eines Forschungsprojektes des Institutes für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der TU Berlin und der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Berlin, 1. Projektbericht vom 30.5.1990 (Manuskriptdruck), S. 10. 21 Zu Altersstruktur und Verschleißgrad industrieller Anlagen Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, in: Kuhrt, Eberhard et al. (Hrsg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, S. 7 ff. 22 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro, Bd. 2: Honecker, Mittag, Schalck-Golodkowski, Berlin 1992, S. 196.

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„Wie üblich zu Ehren eines SED-Parteitages wurde 1981 eine Versuchsstrecke mit im KWO gefertigten Glasfaserkabeln im Berliner Post-Telefonnetz übergeben, 1985 begann in den KWO-Labors in Oberschöneweide die Produktion von Lichtwellenleitern auf Maschinen, die eigentlich als Versuchsanlage gedacht waren. Mitarbeiter beklagten damals: Immer wenn neben dem Werksgelände ein Lastkahn an den Kai eines Baustofflagers donnerte, verursachten die Erschütterungen Qualitätseinbrüche bei der Glasfaser-Fertigung“.23 In verschiedenen Fällen versuchten Betriebe über Eigeninitiativen gravierende Maschinenausfälle zu beseitigen. In der Regel wurden jedoch derartige an den Planungen vorbeigehende Aussonderungsbestrebungen und Ersatzbeschaffungen bzw. Ersatzinvestitionen der VEB im Falle stark verschlissener Maschinen durch die Planbürokratie unterbunden. Der Einsatz von Uralttechnik und das häufig geringe Interesse der Betriebe, uneffektive Maschinen auszusondern, wurden zur Normalität. Planerfüllung um jeden Preis bestimmte das betriebliche Handeln. Aber auch die Lagerfunktion konnte von nicht wenigen Betrieben in der Produktion und im Handel nur ungenügend wahrgenommen werden. Vielfach typisch für die Phase des Warenumschlages einschließlich Lagerung (Hersteller – Handel / Warenlagerung – Kunde) war es, daß z. B. in Industriekombinaten hergestellte Konsumgüter nach Feststellungen der Arbeiter- und Bauern-Inspektion sowohl bei den Produzenten selbst oder vom Handel unzureichend gelagert wurden: Fallbeispiel 6: Mängel der Lagerwirtschaft Im Auftrag des Ministeriums für Handel und Versorgung und des ZWK (Zentralen Warenkontors) Industriewaren hatte das ABI-Komitee, Abteilung Handel und Versorgung, Kontrollen „in ausgewählten Großhandelsbetrieben“ durchgeführt, über die an Politbüro-Mitglied und ZK-Sekretär Jarowinsky unter anderem berichtet wurde: „Die Kontrollen hatten ergeben, daß die materiell-technische Basis des Großhandels nicht mit den wachsenden Umsatzleistungen Schritt hält. Umfang und Qualität des Lagernetzes entsprechen in vielen Fällen nicht den Anforderungen eines schnellen und verlustarmen Warenumschlags. Deshalb müssen umfangreiche Ausweichmöglichkeiten, wie Scheunen, Ställe, Tanzsäle u. a. genutzt werden, in denen TGL-gerechte24 Lagerung der Ware (Luftfeuchtigkeit, Temperatur) nicht immer gewährleistet werden kann. […] Verschärft werden die Lagerbedingungen durch eine Vielzahl undichter Dächer. Die Dachschäden sind insbesondere bei Scheunen, Ställen und Tanzsälen teilweise so groß, daß vom Lager aus der Himmel sichtbar ist und die Ware zum Teil 23 Kombinate. Was aus ihnen geworden ist. Reportagen aus den neuen Ländern, hrsg. v. Wochenzeitung Die Wirtschaft, 1. Auf., Berlin / München 1993, S. 41. 24 TGL = Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen; bezeichnet die seit 1960 herausgegebenen DDR-Standards, deren Einhaltung vom Amt für Standardisierung, Meßwesen und Warenprüfung (ASMW) überwacht wurde. Es galten sogen. Fachbereichs-Standards für spezifische Produktionssortimente und Werks-Standards für ein Kombinat, VEB usw.

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manuell von den Lagerarbeitern bewegt werden muß, um sie bei Regen an trockenen Lagerflächen unterzustellen. […] Verschärft wird die Lage durch die anhaltende Unterbesetzung mit Arbeitskräften in der materiellen Warenbewegung. […] In einer Scheune der GHG [Großhandelsgesellschaft] Haushaltswaren Schwerin […] wurden über 30 neue und ungebrauchte Gabelhubwagen vorgefunden, die seit Herbst vergangenen Jahres dort lagern. Dafür gibt es in der GHG keine Verwendung, obwohl sie in allen Bereichen des Binnenhandels dringend benötigt werden. […] Der Stellvertreter des Fachdirektors […] erklärte dazu, daß ihnen die Gabelhubwagen entgegen dem Bedarf vom ZWK Haushaltswaren ,aufgedrückt‘ wurden“.25 Unzureichende Lagerbedingungen zeigt auch ein Bericht über das Kombinat Schuhe Weißenfels, 1987: „[…] Das handelsgerechte Kommissionieren und Verpacken der erhöhten Kinderschuhproduktion [vollzieht sich] unter extremen Bedingungen auf Fluchtwegen, in Gängen, in Treppenhäusern und in Sozialgebäuden“. „In fast allen Betrieben werden Fertigwaren unter freiem Himmel gelagert und gegen Witterungsunbilden provisorisch mit Zeltplanen abgedeckt. Insbesondere im Stammbetrieb Werk 1 hatte es dazu wiederholt ernsthafte Mißfallensäußerungen in den Produktionskollektiven gegeben“.26 Ein weiterer ABI-Bericht betrifft den SHB (Sozialistischen Handelsbetrieb Möbel) Dresden: „Im SHB Möbel Dresden sind von den 64 Lagerobjekten mit 43.557 m² Hauptfunktionsfläche (HFFl) ca. 50 % der Objekte mit 24.055 m² HFFl. für eine Lagerung von Möbeln und Polsterwaren nicht geeignet. Dabei handelt es sich vorwiegend um z. T. baufällige Schuppen, ehemalige Wohnungen und Gewerberäume (teilweise Bausubstanz aus dem 15. Jahrhundert, z. B. in Bautzen). […] Nur in 4 von 64 Objekten ist der Einsatz von Gabelstaplern möglich. […]“. 3. Forschungs- und Technologiepolitik Grundsätze, Instrumente, Probleme: Auch die Forschungslandschaft der DDR entsprach den allgemein gültigen Systemmerkmalen: Die führende Rolle der SED, das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die zentrale Planung und Leitung sämtlicher gesellschaftlicher Prozesse prägten auch die Strukturen und Arbeitsweisen der Forschung. Zugleich galten Forschung und Technik als wichtigste

25 Bericht des Komitees der Arbeiter- und Bauerninspektion an Jarowinsky vom 29.2.1988, in: SAPMO BArch, Büro Jarowinsky, DY 30/41859, Bd. 1. 26 Schreiben von Schalck-Golodkowski mit einem Telegramm des Generaldirektors des Kombinates Schuhe Weißenfels als Anlage, in: SAPMO BArch, Büro Mittag, DY 30/41776, Bd. 1.

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Ressourcen im Rahmen von angestrebtem Wirtschaftswachstum und geplanter Modernisierung sämtlicher Wirtschaftsbereiche. Die zentralen politischen Organe trafen die Entscheidungen über Ziele, Bedingungen und Prioritäten von Forschung und Entwicklung. Zwar sollten mögliche forschungsrelevante Probleme durch Abstimmung zwischen Politikinstanzen, Wirtschaft und Wissenschaft gelöst werden, doch gaben in Konfliktfällen politische Kriterien den Ausschlag. Das Innovationsverhalten der Kombinate und Betriebe unterlag systemtypischen Hemmnissen: Ihre Leistungen wurden an der Erfüllung der zentral vorgegebenen und gesetzlich normierten Pläne gemessen. Das bewirkte ein systematisches Desinteresse der Betriebe an Produkt- und Verfahrensinnovationen. Sanktions- und Selektionsmechanismen eines durch Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Marktes fehlten. So blieb in der Regel die Entwicklung von Alternativen zu den gängigen Produkt- und Verfahrenslinien nachrangig; statt dessen dominierte die Ausrichtung auf den Weg des geringsten Widerstandes mit möglichst geringen Änderungen und geringem Risiko.

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Strukturdaten ausgewählter Industriekombinate (Stand 1989)

Kombinate Robotron Dresden Nachrichtenelektronik Berlin Carl Zeiss Jena Automatisierungsanlagenbau Berlin Mikroelektronik Erfurt Elektronische Bauelemente Teltow Keramische Werke Hermsdorf Elektro-Apparate-Werke Berlin (EAW) Elektromaschinenbau Dresden Schwermaschinenbaukombinat TAKRAF Leipzig Schiffsbau Rostock Baukema Leipzig Schwermaschinenbaukombinat „Ernst Thälmann“ Magdeburg Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert“ Chemnitz Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“ Berlin Polygraph Leipzig Textima Chemnitz IFA PKW Chemnitz Fortschritt Landmaschinenbau Neustadt Haushaltsgeräte NAGEMA Chemnitz Wälzlager und Normteile Chemnitz

Beschäftigte, Arbeiter und Angestellte o. Lehrlinge Jahresdurchschn. in Vollbeschäftigteneinheiten 65.782

Anzahl der selbständigen volkseigenen Betriebe

Anzahl der Arbeitsstätten

18

629

35.563 60.733

15 21

414 393

48.516 56.220

20 19

482 338

26.951

9

226

21.942

19

103

30.346

18

277

28.544

13

189

38.315 53.912 16.984

24 16 16

215 209

24.764

12

134

29.306

19

178

22.765 15.679 30.357 63.190

14 12 21 28

81 210 304

55.899

20

373

27.473

26

422

25.211

20

161

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Kennzeichnend für die Forschung und Entwicklung im Zeichen einer sozialistischen Planwirtschaft war zudem der Glaube an eine praktisch vollständige Planbarkeit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Dementsprechend war z. B. auch in der bereits genannten „Direktive“ des XI. Parteitages der SED 1986 u. a. festgelegt worden, die industriellen Forschungsleistungen zu erhöhen und die „Produktion neuentwickelter Erzeugnisse in der Industrie […] bis 1990 auf 140 bis 150 Mrd. M zu steigern“.27 Es liegt auf der Hand, daß eine umfassende zentrale Planung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht möglich ist, da sie eine totale Transparenz zukünftiger Daten voraussetzen würde. Viele DDR-Autoren haben diese Problematik vermutlich gesehen. Gleichwohl hielt das System – unter Einräumung von „Schwierigkeiten“ – an der „prinzipiellen“ Möglichkeit einer zentralen Fortschrittsplanung fest.28 Ein wesentliches daraus resultierendes Problem war die Einplanung der Ressourcen. Im System der Zentralverwaltungswirtschaft besteht bekanntlich auf der Ebene der Kombinate und VEB die Gefahr, daß den für die Durchsetzung von Neuerungsprozessen notwendigen Maschinen, Ausrüstungen oder Rohstoffen deshalb geringere Bedeutung beigemessen wird, „weil es sich hierbei um etwas Neues, in den Plänen der vergangenen Jahre noch nicht Enthaltenes handelt“ und sich zudem „Zeitpunkt und Zeitraum für Innovationen nicht so genau planen lassen wie die Produktion von Gütern, die schon seit Jahren vom gleichen Betrieb nach dem gleichen Verfahren hergestellt werden“.29 Diese Innovationsträgheit – bereits auf Planungsebene – wurde begünstigt durch das Fehlen einer echten Arbeitsteilung in Forschung und Entwicklung und die daraus resultierende schleppende Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Produktion. Folge war, daß die Übereinstimmung des „Planes Wissenschaft und Technik“ mit der Investitionsplanung, das heißt eine genaue Übereinstimmung zwischen bilanzierten und tatsächlich vorhandenen betrieblichen Ressourcen, häufig nicht gegeben war. Bei der in den achtziger Jahren zunehmenden Verknappung produktionsnotwendiger Ressourcen warf somit nicht nur jede „normale“ Industrieproduktion, sondern vor allem die betriebliche Innovationstätigkeit oftmals Probleme auf, weil Vorprodukte und / oder Arbeitskräfte fehlten oder eingesetzte Produktionstechnik altersbedingt ausfiel. Die bestehenden Makrostrukturen (Kombinate) und die in diesen vorherrschenden Produktionsbedingungen (Autarkieinteresse) mit stark reglementierten Spielräumen sowie eine weitgehende Orientierung auf die Bedürfnisse der anderen RGW-Partner führten darüber hinaus praktisch zu einer Abkopplung von westlichen Märkten.

27 Direktive, a. a. O., S. 31. 28 Wagner, Ulrich: Innovationsprobleme im Wirtschaftssystem der DDR, in: Gutmann, Gemot (Hrsg.): Das Wirtschaftssystem der DDR. Wirtschaftspolitische Gestaltungsprobleme, Stuttgart / New York 1983, S. 311-329. 29 Ebd., S. 320.

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Als eine besondere Barriere im Bereich von Forschung und Entwicklung erwies sich die rigide, gesetzlich verordnete Geheimniskrämerei. Sie behinderte sowohl eine grenzüberschreitende Kommunikation als auch den Informationsfluß in der DDR selbst. Die DDR-Führung verfolgte ihre technologiepolitischen Ziele – u. a. im Hinblick auf die westliche Cocom-Politik30, das Verbot des Ost-Exports sicherheitsrelevanter Waren und Technologien – auch auf dem Wege eines illegalen West-OstTechnologie-Transfers. Entweder wurden relevante Ausrüstungen aus dem Bereich der Hochtechnologien mit Hilfe eines hierfür aufgebauten Netzes unterschiedlicher Institutionen (z. B. Außenhandelsbetriebe, Schalcks „Kommerzielle Koordinierung“) beschafft, oder probate westliche Technologien wurden auf dem Wege der Imitationsforschung adaptiert und rezipiert. Die Ausrichtung auf diese Praxis erforderte – neben der unvermeidlichen Inkaufnahme eines erheblichen West-Ost-Technologie-time-lags – den Aufbau eines weitverzweigten, funktionierenden, konspirativ arbeitenden und kostenaufwendigen Beschaffungsapparates. Wesentliche Bedingungen für industrie- und technologiepolitisches Handeln ergaben sich dabei auch aus der Einbindung der DDR in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und den daraus resultierenden Verpflichtungen, insbesondere gegenüber der Sowjetunion. Unter Berücksichtigung industriepolitischer Koordinierungsmaßnahmen mit anderen RGW-Partnern wurden u. a. in dem im Dezember 1985 verabschiedeten „Komplexprogramm zur Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der Mitgliedstaaten des RGW bis zum Jahr 2000“ zahlreiche Verpflichtungen festgelegt.31 Die daraus abgeleiteten ehrgeizigen RGW-Technologieplanungen, die sich stark an den Schwerpunkten des Eureka-Projekts anlehnten, zielten darauf ab, -

akute Innovationsschwächen der RGW-Länder mit einer Ausrichtung auf Zukunftstechnologien zu überwinden,

30 Cocom, Abkürzung für: Commitee for Coordinating of East-West-Trade. – Hierbei handelt es sich um eine 1950 gegründete Organisation der NATO-Länder (ohne Irland), die den Transfer bestimmter Waren und Technologien aus sicherheitspolitischen Gründen in Ostblockländer ausschloß. Dazu dienten detaillierte Exportbestimmungen und permanent ergänzte Embargolisten, in welchen die vom Export ausgenommenen Waren und Technologien im einzelnen aufgeführt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland wurden diesbezügliche Exportkontrollen vom Bundesamt für Gewerbliche Wirtschaft, Eschborn, durchgeführt. Die Grundlage bildete hierfür eine Ausfuhrliste (als Anlage zur Außenwirtschaftsverordnung) mit Embargowaren und -technologien. – Z. B. Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung), Zusammenfassung der 54., 55., 56. und 57. Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste, Stand Februar 1987 (veröffentlicht beim Wilhelm Köhler Verlag, Minden / Frankfurt a.M. / Hamburg / Bonn). – Siehe dazu ergänzend insbesondere: Beschlußempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, Bundestags-Drucksache 12/7600, S. 251 („Die Bedeutung der Cocom-Liste“). 31 Zum „Komplexprogramm“ der RGW-Länder. Krakat, Klaus: Comcon-Länder verabschieden Programm zur Elektronisierung. Ost-Technologie will eigene Wege gehen, in: Computerwoche, München, Nr. 21 vom 21.3.1986, S. 44 u. 45 sowie 48 u. 49.

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zunehmende technologische Abhängigkeiten von den führenden westlichen Industrieländern zu begrenzen und in enger Verbindung dazu das Cocom-Embargo zu unterlaufen sowie richtungsweisende Eigeninitiativen auf ausgewählten Technologiefeldern mit Vorbildcharakter durchzusetzen.32

Hauptinstrument der zentralen Planung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung war auf Republiksebene der „Staatsplan Wissenschaft und Technik“. Er enthielt die von der Regierung und Wirtschaftsführung beschlossenen Ziele der Forschungs- und Technologiepolitik und diejenigen Maßnahmen, mit denen diese Ziele erreicht werden sollten (z. B. die den einzelnen Planträgern für die Planperiode zur Verfügung gestellten finanziellen und materiellen Fonds). Generell bestand für die Leitung der Durchführung von Staatsaufträgen „ein exakt ausgearbeitetes System mit klaren Verantwortlichkeiten“. „Weiter untersetzt wurde es insbesondere mit dem Politbürobeschluß vom 3.11.1981 über die Qualifizierung der Leitung und Planung von Wissenschaft und Technik, mit dem Ministerratsbeschluß zur Ordnung für die Arbeit mit Staatsaufträgen vom 18.2.1982 sowie den beschlossenen Hauptrichtungen und Schwerpunkten von Naturwissenschaft und Technik“.33 Der gesamtwirtschaftliche „Staatsplan“ wiederum wurde dann aufgeschlüsselt in die Spezialpläne „Wissenschaft und Technik“ für die einzelnen Industriebereiche, Industriezweige und Kombinate. Hauptbestandteil dieser Pläne waren die darin konkretisierten „Staatsaufträge Wissenschaft und Technik“, welche vor allen anderen Vorhaben absoluten Vorrang besaßen. Deren Zahl wuchs im Verlauf der achtziger Jahre stetig an. Diese Aufträge umfaßten im Detail bestimmte Planziele, die Beschreibung der staatlichen Förderungsmaßnahmen zur Durchsetzung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (Produktionsbedingungen für die geforderten kreativen Leistungen) und die vom Staat gewünschten Kooperationen zwischen einzelnen Kombinaten, und zwar angefangen von der Planung eines neuen Erzeugnisses bis hin zur Überführung eines Erzeugnisses in den Produktionsprozeß. Es ist davon auszugehen, daß mehr als ein Drittel der betrieblichen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten stets durch Staatsplanprojekte mit hoher Priorität gebunden waren.34 Forschungsrelevante Themen waren darüber hinaus ebenso Gegenstand der Jahres- und Fünfjahrplanung und mithin der bereits genannten „Planungsordnung“ und „Rahmenrichtlinie“. Rüstungsforschung (mit einer Adaption und Rezeption westlicher Standards) wurde in den offiziellen Plänen nicht bzw. unter verdeckten Bezeichnungen (z. B. „spezielle Technik“) ausgewiesen, obwohl sie Gegenstand 32 Hinweise über wirtschafts- und industriepolitische Hauptzielstellungen finden sich u. a. in: Zur Direktive des XI. Parteitages der SED im Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1986 bis 1990. Berichterstatter: Stoph, Willi, Berlin (-Ost) 1986, S. 7 ff. 33 Schreiben der Abteilung Forschung und technische Entwicklung des ZK der SED vom 10.9.1985 an Mittag, in: SAPMO BArch DY 30/41760. 34 Nach Mitteilungen verschiedener an Forschungs- und Entwicklungsaufgaben beteiligter Personen gegenüber dem Autor.

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zahlreicher Aktionen von Kombinaten unterschiedlicher Sektoren (insbesondere Elektrotechnik / Elektronik, Maschinenbau) und Bestandteil von „Staatsaufträgen“ war. Zu Forschungszielen und -prioritäten: Internationale Wettbewerbsfähigkeit war insbesondere angesichts der zunehmenden Geschwindigkeit des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts ein Hauptziel der Partei- und Wirtschaftsführung. Die DDR konzentrierte dabei ihre Potentiale unter den gegebenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der achtziger Jahre im wesentlichen auf Schlüsseltechnologien, von denen man sich einen deutlichen Produktivitäts- und Rationalisierungsschub erhoffte. Dies galt sowohl für die Grundlagenforschung wie für die angewandte natur- und technikwissenschaftliche Forschung. Ihren Niederschlag fanden die Mitte der achtziger Jahre festgelegten forschungs- und technologiepolitischen Ziele in den Beschlüssen des XI. SED-Parteitages zur „beschleunigten Entwicklung und Einführung von Schlüsseltechnologien in der Volkswirtschaft“ im April 1986. Dabei stellten sich die Prioritäten insgesamt dar als ein Mix aus: HochtechnologieProjekten; normal science; DDR-spezifischen Forschungs- und Anwendungsgebieten (einschließlich Umwegforschung, Substitutionsforschung und Nachentwicklungen – die durchaus nicht nur westlichen Technologieembargos geschuldet waren)“.35 Gemeinsam mit der Mikroelektronik zählten Informations- und Kommunikationstechnologien, die Produktautomatisierung und ebenso Lasertechnik und Biotechnologie zu den Kernbereichen der staatlich festgelegten „Hauptrichtungen“ und Anwendungsfelder. Für derartige „Vorzeigeprogramme“ mit allerhöchster Staatspriorität war stets genug Geld vorhanden. Zur Sicherung einer Einführung der Mikroelektronik in den Jahren 1987 bis 1990 hatte sich der Bereich KoKo dazu verpflichtet, „zusätzlich zu den planmäßigen Importfonds 1,05 Mrd. VM bereitzustellen. Diese Mittel trugen die Bezeichnung ,Fonds 1100‘ und waren ein Teil des ,Fonds Mikroelektronik‘.“36 Um jedoch darüber hinaus durch „ausnahmsweisen NSW-Import entstehende Kosten decken zu können, wurde zudem die Bildung eines „Havariefonds“ für elektronische Bauelemente angeregt. Mit dessen Hilfe sollte „Produktionsgefährdungen bzw. Produktionsstillständen“ begegnet werden. Dazu hieß es u. a. in einem Entwurfspapier des Leiters der Abteilung Maschinenbau und Metallurgie im ZK der SED, Tautenhahn:

„Die bisherige Praxis zeigt, daß spezielle Typen mikroelektronischer Schaltkreise, obwohl in den Abstimmungen zum Jahresprotokoll zugestimmt, nur zögernd mit Importverträgen rechtzeitig gesichert werden können.

35 Brocke, R. H. / Förtsch, E.: Forschung und Entwicklung in den neuen Bundesländern 19891991. Ausgangsbedingungen und Integrationswege in das gesamtdeutsche Wissenschafts- und Forschungssystem, Stuttgart 1991, S. 41. 36 BT-DrS. 12/7600, S. 272.

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Es wird deshalb zur Sicherung der unbedingten Produktionssicherheit in den Kombinaten der Geräteindustrie vorgeschlagen, dem Genossen Meier nach Zustimmung durch Genossen A. Schalck die Möglichkeit zu geben, in solchen genannten Fällen nochmals auf zeitweilige NSW-Importe zurückzugreifen. Dabei handelt es sich fast ausnahmslos um Embargobauelemente, die auf dem normalen Handelsweg nicht erhältlich sind. Dieser Fonds sollte einen Umfang von 1 Mio. DM-West jährlich haben. Die Abwicklung könnte analog in der Art und Weise erfolgen, wie sie für den Import von Embargoausrüstungen für die Produktion mikroelektronischer Bauelemente bestätigt ist“.37 Aus dem Schriftwechsel geht hervor, daß die Bildung eines Havariefonds genehmigt wurde. Finanzielle Engpässe konnten dabei auch durch Kredite an die Mikroelektronikindustrie gedeckt werden; in einer zentralen Wirtschaftsleitung wie der der DDR war es zudem möglich, erforderlichenfalls durch schnelle und erhebliche Umschichtungen im Staatshaushalt neue Geldquellen für ein als vorrangig eingestuftes Entwicklungsprogramm zu erschließen. Forschungseinrichtungen und -potentiale: Das gesamte Forschungspotential der DDR war hauptsächlich auf vier Sektoren verteilt.38 -

die staatseigenen Akademien die 54 Universitäten und Hochschulen die Industrieforschung (die den Kombinaten zugeordnete betriebliche Forschung und Entwicklung) einschließlich Ressortforschung von Ministerien und die Parteiinstitute

Um die in der Direktive genannten forschungs- und technologierelevanten Zielstellungen realisieren zu können, wurde Mitte 1985 eine Übersicht solcher Forschungseinrichtungen und ihrer personellen Kapazitäten erstellt, „die bisher nicht in den Reproduktionsprozeß von Kombinaten eingegliedert sind“.39 Mit ihnen sollten die bereits verfügbare Forschungsbasis erweitert und eine schnellere Umsetzung von Forschungsergebnissen sichergestellt werden. Zur Umsetzung der staatlichen Forschungs- und Technologiepolitik: Das Ziel der SED-Führung, ihren Staat als fortschrittliches Industrieland zu präsentieren und zu diesem Zweck den wissenschaftlich-technischen Fortschritt insbesondere im Bereich niveaubestimmender Technologien durchzusetzen, stand vor dem Hindernis

37 Schriftwechsel zwischen dem Staatssekretär Nendel im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik und dem Leiter der Abteilung Maschinenbau und Metallurgie im ZK der SED, Tautenhahn, vom 26.6.1984, in: SAPMO BArch, DY 30/35048, Bd. 2. 38 Gliederung nach Brocke, R. H. / Förtsch, E., a. a. O., S. 42. 39 Ministerrat der DDR, Stellvertreter des Vorsitzenden und Minister für Wissenschaft und Technik Weiz, an Mittag. Schreiben vom 25.6.1985 mit einer Anlage mit den zur Unterstützung der Industrieforschung in Frage kommenden Forschungseinrichtungen und Vorschlägen ihrer Zuordnung auf bestimmte Ministerien, in: SAPMO BArch, DY 30/41760 (15 Seiten).

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der westlichen Cocom-Bestimmungen. Die DDR unternahm daher ab Mitte der 60er Jahre und mit besonderem Nachdruck während der 80er Jahre massive Anstrengungen, diese Bestimmungen mittels des MfS und der „Kommerziellen Koordinierung“40 zu unterlaufen. Hierzu war tatkräftige Hilfe von „außen“ nötig. Zahlreiche inzwischen bekannte und zum Teil strafrechtlich verfolgte westliche Firmen bzw. Einzelpersonen unterhielten daher intensive konspirative Beziehungen, z. B. auch über Tarnfirmen, zur DDR. Der West-Ost-Technologie-Transfer vollzog sich verdeckt: EmbargoWaren wurden mit falschen technischen Angaben versehen, in den Versandpapieren waren falsche Empfänger enthalten, und durch getarnte Wege über Dritt- und Viertländer versuchte man, das wahre Ziel, die DDR, zu verschleiern. Die Finanzierung der Beschaffung wurde sichergestellt, auch wenn die Preisforderungen der westlichen „Handelspartner“ zur Abdeckung von Risiken um 30 bis 40 Prozent über dem Listenpreis lagen.41 Fallbeispiel 7: Staatsauftrag „Rechnergestütztes Entwurfssystem für hoch- und höchstintegrierte mikroelektronische Schaltkreise“ Um den angestrebten Anschluß an das insbesondere durch amerikanische Rechnerhersteller geprägte EDV-Leistungsniveau zu ermöglichen, wurden 1985 die hierfür notwendigen Maßnahmen zur Beschaffung und zum Nachbau eines 32Bit-Minirechnersystems eingeleitet. Für die Festlegung dieses Staatsauftrages waren zweifellos mehrere Ziele maßgebend: -

Verkürzung des gegenüber westlichen Produzenten bestehenden großen Rückstandes im Bereich der Informationstechnik, Profilierung der DDR als technologieorientierter Staat, Umgehung des Cocom-Embargos durch eine entsprechende Eigenleistung sowie nicht zuletzt, Schaffung einer geeigneten, leistungsfähigen rechentechnischen Basis bei der Realisierung von Produktionsautomatisierung und Mikroelektronik-Programm.

Wie beispielsweise aus einer Information des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik an Mittag im September 1985 hervorgeht, avancierten die Entwicklung und der Bau eines 32-Bit-Minirechners zu einem „Dreh- und Angelpunkt“ der Profilierungspläne der SED im Bereich Herstellung hoch- und höchstintegrierter Schaltkreise.42 Dem Staatsauftrag folgend, war hier das Kombinat Robotron als Entwickler und Hersteller federführend. Für die Zulieferung mikroelektronischer

40 BT-DrS. 12/7600 mit Anlagebänden. 41

a. a. O., S. 264 – Nach mündlichen Aussagen von Zeitzeugen hatten in Einzelfällen die Preisforderungen den Normalpreis um das Drei- bis Vierfache überstiegen.

42 Mitteilung des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik vom 3.9.1985 an Mittag, in: SAPMO BArch, DY 30/41760 sowie ergänzend dazu die ebenfalls an Mittag gerichtete SEDHausmitteilung vom 10.9.1985, in: SAPMO BArch, a. a. O.

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Komponenten war insbesondere das Kombinat Mikroelektronik Erfurt verantwortlich. Auf Grund offensichtlicher Forschungs- und Entwicklungsschwierigkeiten mußte mit Unterstützung von MfS und KoKo ein geeignetes Nachbaumuster beschafft werden.43 Als Vorlage für die „Entwicklung“ eines 32-Bit-Superminirechners diente der Embargo-Rechner DEC-VAX 11/780 der Digital Equipment Corp. / USA.44 Mittag mußte schließlich auch die Beschaffung eines zweiten EmbargoRechners gleichen Typs genehmigen, damit eingetretene Entwicklungs- und Produktionsengpässe bei Robotron beseitigt werden konnten. Mit der Adaption und Rezeption westlicher Technologien war jedoch zwangsläufig auch die Inkaufnahme eines time lags verbunden: Das amerikanische Rechnervorbild war bereits Ende der siebziger Jahre im Westen allgemein erhältlich; Robotrons Neubau wurde erstmals 1987, knapp zehn Jahre später, in Berlin (Ost) mit großem Presseaufwand vorgestellt. Die anschließend einsetzende Produktion vollzog sich mehr als schleppend. Schnell kamen dadurch die zentralen Einsatzplanungen ins Stocken; die durch eine Fülle von Veröffentlichungen zum neuen Rechnersystem, besonders in der DDRIndustrie, hochgeschraubten Erwartungen konnten nicht erfüllt werden. Fallbeispiel 8: Internationale „Zusammenarbeit“ für die Produktion von 256K-DRAM-Speicher-Chips 45 Die auf dem SED-Parteitag im April 1986 festgelegten und in Staatsaufträge umgesetzten umfangreichen forschungs- und technologiepolitischen Zielstellungen erforderten auch mit Blick auf die geplante Produktion von 256-K-DRAM-Speicher-Chips46 „qualitativ und quantitativ neue Anforderungen“ für die Beschaffung von Embargowaren. Ausgangsbasis bildete hierfür eine zwischen der AHB Elektrotechnik und japanischen Vertretern geschlossene Vereinbarung, nach der der Chiphersteller Toshiba „in drei Stufen das Know-how zur Herstellung eines 256-K-DRAM-Speicherschaltkreises in die DDR ‚übertragen‘ und dafür 25 Mio. Dollar erhalten sollte“. Danach lieferte Toshiba nicht nur die technischen Unterlagen und stellte Ingenieure bereit, sondern war ebenso bei der Beschaffung von Ergänzungsausrüstungen behilflich. Wie es im einzelnen hieß, wurde die Vereinbarung im Interesse der Geheimhaltung und Sicherheit als mündliches Gentlemen’s Agreement abgeschlossen, existierende Embargoprobleme und Detailfragen wurden aus den offiziellen Gesprächen ausgeklammert und sollten „in geeigneter Expertenrunde konspirativ“ verhandelt werden. 43 So die Mitteilungen eines Beteiligten gegenüber dem Verfasser. 44 BT DrS. 12/7600, S. 263. 45 Zum folgenden einschließlich der Zitate BT-DrS. 12/7600, S. 274 f., mit Dokumenten Nr. 593 bis 599 (Anlagenband 3). 46 DRAM, Abkürzung für: Dynamic Random Access Memory, Schreib-Lesespeicher (Hauptspeicher). 256 K, Hinweis auf die Speicherkapazität des Hauptspeichers in Byte, wobei K = 210 = 1.024 Byte gilt. Die 256-K-Speichertechnologie zählte Mitte der 80er Jahre zum Höchststandard der Speicherchipherstellung. Die Realisierung der hierfür notwendigen Herstellungstechnologie gelang als erster der japanischen Firma Toshiba.

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Zur Abwicklung der mündlich festgelegten ersten Zahlung in Höhe von 8,5 Mio. Dollar schloß der DDR-Vertreter auf Vorschlag der japanischen Seite einen „Scheinvertrag über die Lieferung von know-how-Dokumentationen für Leistungstransistoren im Werte von 7,8 Mio. US$“ ab. „Gleichzeitig wurde ein Protokoll unterzeichnet mit dem der Vertrag mit Ausnahme der Zahlungsverpflichtung für ‚Null und Nichtig‘ erklärt wurde. Aus Sicherheitsgründen für den Partner wurde diese Vereinbarung nur im Original ausgefertigt und befindet sich […] nicht in den Akten“. Wie sich zeigte, war eine termingerechte Produktion erster 256-K-DRAMMusterschaltkreise nicht gesichert. Die DDR-Seite wollte daraufhin Toshiba-Mitarbeiter dazu veranlassen, ohne Wissen ihrer Konzernleitung von den 256-KDRAM-Schablonen einen Satz Kopien anzufertigen und dem Handelsbereich 4 des AHB Elektronik Export-Import zu übergeben. Dies wie auch eine Ausleihe der Schablonen wurde von den angesprochenen Toshiba-Mitarbeitern jedoch abgelehnt. Der japanische Konzern, der bereits in anderem Zusammenhang die Aufmerksamkeit des CIA gefunden hatte, sah sich nunmehr in Sachen Speicherchips zu größter Zurückhaltung veranlaßt. Er verlangte „die völlige Vernichtung aller Unterlagen für die 64- und 256-k-DRAM-Produktion und eine Vernichtung der übergebenen Schablonensätze des 64-k-DRAM“. Dies geschah im Februar 1988. Zu diesem Vorgang wurden Schalck-Golodkowski und Staatssekretär Nendel mit einem Vermerk des Außenhandelsbetrieb Elektronik informiert: „Wir erklärten uns mit der Vernichtung aller übergebenen Unterlagen einschließlich Schablonen bereit und unter den Augen der japanischen Vertreter wurden in mehrstündiger Arbeit alle Dokumentationen vernichtet und die übergebenen Schablonensätze mechanisch und anschließend chemisch zerstört. […] tatsächlich wurden nicht die Originalschablonen vernichtet, sondern speziell zu diesem Zweck angefertigte Kopien. Die Originalschablonen befinden sich somit weiterhin in unserem Besitz und unter Verschluß […] Von den vernichteten Dokumentationen waren vorher Kopien angefertigt worden, die sich gleichfalls […] unter Verschluß befinden. Damit verfügten wir trotz dieser Vernichtungsaktion nach wie vor über alle notwendigen Voraussetzungen, um jederzeit nach Toshiba-Technologien produzieren zu können“. Die Entwicklung der Speicherchips ist ein aussagekräftiges Beispiel für den technologischen Rückstand der Forschung und Entwicklung in der DDR. Chipfabriken für die Produktion von 64-KB-DRAM-Speicherchips wurden vor den Toren Erfurts aus dem Boden gestampft. Im Kombinat Carl Zeiss Jena entwickelte man erste Labormuster des 256-KB-DRAM-Speicherchips. Eine erste Versuchsserie dieser Chips wurde im Werk Erfurt Süd-Ost II (ESO II) des Kombinates Mikroelektronik Erfurt produziert.47 Deren ebenfalls stark zeitverzögert angelaufene Produktion war jedoch von Pannen begleitet. Ersatzbeschaffungen aus dem

47 Auf Veranlassung des Generaldirektors des Kombinates Carl Zeiss Jena, Biermann, hatte Mittag die Produktion von Speicherchips 1987 aus dem Kombinat Mikroelektronik Erfurt gegen

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Westen mußten die Lücke schließen. Nach Schabowski kosteten die „ersten in der DDR hergestellten 256-Kilobyte-Chips […] 536 Mark. Die Gesellschaft subventionierte jedes Speicherplättchen mit 520 Mark. Der verarbeitende Betrieb bezahlte dafür 16 Mark, ein Betrag, der noch immer hundert Prozent über dem Weltmarktpreis lag“.48 Während japanische Firmen Ende 1985 bereits in der Lage waren, 1-MegabitSpeicherchips in Serie herzustellen und 1986 sogar eine Testproduktion erster 4Megabit-Speicherchips anlief, begann in der DDR der „Traum von Entwicklung und Produktion eigener Megabit-Speicherchips“ oder 32-Bit-Mikroprozessoren49 und damit verbunden der Glaube an eine „Marktführerschaft“ im RGW.50 Die Durchsetzung staatlicher Zielstellungen, unterstützt durch umfangreichen West-Ost-Technologie-Transfer, wurde in der DDR-Industrie immer dann zu einem Problem, wenn es galt, diese auf Kombinats- und VEB-Ebene z. B. im Musterbau, in Prüffeldern oder Pilotanlagen umzusetzen. Probleme ergaben sich insbesondere auf Grund fehlender oder mangelhafter Anlagen, Ausrüstungen und Einsatzmaterialien. Auch die Monopolstellung der Kombinate, die Selbstgenügsamkeit in der Fertigung für den Eigenbedarf der DDR oder die vergleichsweise geringen Anforderungen an das wissenschaftlich-technische Niveau beim Export in die RGW-Länder erschwerten die Durchsetzung von Innovationen. Das planbürokratische Instrumentarium von „Pflichtenheft“, „Erneuerungspaß“ und „Plankennziffer Erneuerungsrate“ bewirkte in der Praxis keine effiziente Steuerung von Forschung und Entwicklung.51

erheblichen Widerstand dessen Generaldirektors herausgelöst und dem Kombinat Carl Zeiss Jena übertragen. 48 Schabowski, Günter: Der Absturz, Berlin 1991, S. 126. 49 Mikroprozessoren können allgemein als das Hirn eines Computers bezeichnet werden. – Das erste „Funktionsfähige Muster“ eines 32-Bit-Mikroprozessors, bestimmt für eine neue DDRComputergeneration, wurde Honecker am 14. August 1986 von Angehörigen des VEB Mikroelektronik Erfurt im Hause des ZK der SED überreicht. Auch dieser Prozessor stellte eine originalgetreue Kopie des 32-Bit-Prozessors der amerikanischen Firma Intel dar. – Krakat, Klaus: Neue Leistungsschaltkreise sollen die flexible Automatisierung verbessern. DDR-Kombinat entwickelt erste eigene 32-Bit-CPU, in: Computerwoche, München, Nr. 41 vom 6.10.1989, S. 105. 50 Über die Mikroelektronik „Made in GDR“ und den Rückstand von Chipentwicklung und -Produktion gegenüber westlichen Industrieländern und die Folge für die elektronische Datenverarbeitung der DDR Krakat, Klaus: Schlüsseltechnologien in der DDR. Anwendungsschwerpunkte und Durchsetzungsprobleme, in: Die Wirtschaft in der DDR unter Leistungsdruck und Innovationszwang, Teil II. 12. Symposium der Forschungsstelle am 20. und 21.11.1986, FSAnalysen Nr. 5/1986, hier S.128 ff. sowie derselbe: Realisierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts am Beispiel der Mikroelektronik, FS-Analysen Nr. 1/1980, S. 8 ff, 34 ff. sowie 106 ff. 51 Das Pflichtenheft war ein Instrument der Leitung und Planung von Forschung und Entwicklung (Pflichtenheft-Ordnung vom 27.4.1977), GBl. 1/1977, S.145 f., (geänderte Fassung vom 17.12.1981, GBl. 1/1982, S. 1), für alle Kombinate, VEB und wissenschaftlich tätigen Institutionen verbindlich vorgeschrieben.

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Darüber hinaus war mit einer zunehmenden Breite der Erzeugnisprogramme eine Zersplitterung des Forschungs- und Entwicklungspotentials verbunden. Problematisch wirkte sich auch die unzureichende Einbindung der industriellen Forschung und Entwicklung in die internationale Arbeitsteilung aus. Die international vergleichsweise geringe Lizenznahme hatte einen hohen Forschungs- und Entwicklungsaufwand zur Folge. Da in den Kombinaten im Rahmen von Forschung und Entwicklung sowie Rationalisierungsmittelbau fast jedes Gerät selbst gebaut werden mußte, war man nicht in der Lage, gegen solche Länder zu bestehen, die auf der Basis einer hohen Spezialisierung und mit geringem Aufwand auf die Erfordernisse der Märkte mit Prozeß- und Produktsinnovationen reagieren konnten. Beispielsweise bestand bei der Einführung von 16-Bit-Mikroprozessoren gegenüber der Bundesrepublik Deutschland ein Rückstand von rd. 4,5, gegenüber den USA sogar von rd. 7,5 Jahren. Einige Probleme der industriellen Forschung und Entwicklung werden in den folgenden Beispielen anschaulich.

Gegenstand eines Pflichtenheftes waren die mit der vorgegebenen Aufgabenstellung festgelegten technischen, ökonomischen und organisatorischen Zielstellungen und Anforderungen auf der Grundlage einer verbindlichen Gliederung. Die einzuschlagenden Verfahrensabläufe und zu berücksichtigenden „materiell-technischen Bedingungen“ hingen primär davon ab, ob es sich um die angestrebte Realisierung von Produkt- und / oder Prozeßinnovationen handelte bzw. ob eine Neu- oder Weiterentwicklung anhängig war. Wesentliche Aktionsgrößen bzw. Vorgaben des Pflichtenheftes waren: Arbeitskräftestrukturen, produktionstechnische Rahmenbedingungen (einschl. Musterbau), bestimmte Inputmaterialien, Zeitvorgaben einschließlich notwendiger Arbeitsstufen (Zeitplanung), Zielstellungen (Kostenreduzierungen, Rationalisierungseffekte, Senkung des Materialverbrauchs, Innovationsvorteile, Devisenrentabilität, „gesellschaftlicher Nutzen“). Aufgabe des Pflichtenheftes sollte es vor allem sein, die notwendigen Ablaufplanungen in Übereinstimmung mit den Terminen des Planteils Wissenschaft und Technik vorzunehmen und die termingerechte Bereitstellung notwendiger leistungsfähiger Anlagen und Geräte, ausreichender Inputmaterialien (mit Blick auf Qualitäten und Quantitäten) sowie Arbeitsräume festzulegen. Die Pflichtenhefte waren gegenüber dem Amt für Standardisierung, Meßwesen und Warenprüfung (ASMW) zu „verteidigen“. Hinsichtlich ihres Inhaltes bedurften sie zudem der Zustimmung des Ministeriums für Materialwirtschaft, des Amtes für Erfindungs- und Patentwesen, des Amtes für industrielle Formgestaltung und des Amtes für Preise. Speziell für Aufgaben aus dem Staatsplan „Wissenschaft und Technik“ waren die vom Generaldirektor des Kombinates bestätigten Pflichthefte schließlich auch dem Ministerium für Wissenschaft und Technik vorzulegen. Der Erneuerungspaß wurde wiederum als Instrument der ökonomischen Leitung von Prozessen in Wissenschaft und Technik in den Industriekombinaten verwendet. Er war ein „Leitungsdokument“ des Generaldirektors zur Sicherung der aufgabenbezogenen Leitung, Planung und Kontrolle von produkt- und prozeßorientierten Erneuerungen innerhalb der Produktion. Hinsichtlich der Erneuerungsrate handelte es sich um den durch Planungsvorgaben festgelegten Anteil von Neuerungen an der Gesamtproduktion. Die Führung von Pflichtenheften und Erneuerungspässen (einschließlich der „Erneuerungsrate“) war auch Gegenstand einer speziellen Verordnung vom 11.9.1986, enthalten in: GBl. I, S. 409.

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Fallbeispiel 9: Probleme bei der Verkürzung der Forschungs- und Überleitungszeiten und der Führung von Pflichtenheften Eine 1982 „gemeinsam von der Staatlichen Finanzrevision und der Staatsbank der DDR in 63 Kombinaten und 6 Wirtschaftsräten der Bezirke“ durchgeführte Kontrolle über die „Verkürzung der Forschungs- und Überleitungszeiten“ deckte erhebliche Mängel auf:52 „1. In der Durchsetzung der Staatsdisziplin bei der Erarbeitung und ordnungsgemäßen Bestätigung der Pflichtenhefte wurden Fortschritte erreicht. Nach wie vor werden aber Forschungs- und Entwicklungsaufgaben durchgeführt, für die ein bestätigtes Pflichtenheft nicht vorliegt. Auch die Qualität vorliegender Pflichtenhefte muß weiter verbessert werden. […] In vielen bestätigten Pflichtenheften ist der ökonomische Nutzeffekt und der volkswirtschaftliche Aufwand, insbesondere an Investitionen für die Überleitung in die Produktion, unvollständig oder ungenau ermittelt. Pflichtenhefte, Investitionsvorbereitung und Plan stimmen nicht überein. Dadurch wird zum Teil von falschen bzw. unrealen Nutzenszielstellungen ausgegangen. 5,1 % aller Pflichtenhefte enthalten keine ökonomischen Zielstellungen. Nur für 49,5 % der F/E-Aufgaben liegen bestätigte Preislimite und für 55,1 % bestätigte Kostenlimite vor. […] Es wurde gefordert, die Übereinstimmung der Dokumente herbeizuführen und damit von realen Nutzenskennziffern in der Forschungskonzeption auszugehen. […] 2.1 Die Zielstellungen für die Erhöhung des NSW-Exports sowie für die Ablösung von NSW-Importen entsprechen noch nicht den volkswirtschaftlichen Anforderungen. […] Im VEB Robotron Büromaschinenwerk ‚Optima‘ Erfurt wurde mit einem Entwicklungsaufwand von 16,5 Mio. M (Planaufwand 9,5 Mio. M) die elektronische Schreibmaschine S6001 entwickelt und im IV. Quartal mit 1 ½ Jahren Verspätung in die Produktion übergeleitet. 1981 und 1982 sollten 25 TStck (= 25.000 Stück) in das NSW exportiert werden. Durch das verspätete Auftreten auf dem NSW-Markt und Qualitätsmängel wurden von den Kunden Verträge storniert. Die französische Vertreter Fa. […] kündigte infolge der Reklamationen das Vertreterverhältnis. Gegenüber den ökonomischen Zielstellungen im Pflichtenheft für die Jahre 1981 und 1982 tritt dadurch ein NSW-Exportausfall von 60 Mio. M ein. Infolge fehlender Weltmarktfähigkeit soll die Produktion ab 1983 eingestellt werden. Dafür entwickelt der Betrieb mit einem Aufwand von 31,7 Mio. M eine neue Baureihe. Die Produktionsaufnahme ist in den Jahren 1983/84 vorgesehen. […]

52 Schreiben des Ministeriums der Finanzen und der Staatlichen Finanzrevision an Mittag vom 9.7.1982 einschließlich Kontrollinformation vom 6.7.1982 (15 Seiten), in: SAPMO BArch Büro Mittag DY 30/272978, Bd. 2.

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2.2 Größere Rückstände bestehen noch in der Absicherung der Zielstellungen zur Senkung des Produktionsverbrauchs und der Kosten in den Jahren 1982 und 1983. Das betrifft sowohl die Senkung des Material- und Energieverbrauchs als auch die Senkung des Arbeitszeitaufwandes. […] So geht z. B. das Kombinat Haushaltchemie von einer Zielstellung für die Arbeitszeiteinsparung von 600 Th. (= Tausend Stunden) aus, die staatliche Aufgabe 1983 beträgt aber 1.650 Th. Im Kombinat Deko beträgt die Differenz 1.670 Th., das sind fast 50 %. […] 3. Die Forschungs- und Überleitungszeiten entsprechen bei rd. 80 % der Themen der Forderung, innerhalb der gesellschaftlichen Norm von 2 Jahren die Produktionswirksamkeit zu gewährleisten. […] Zur Einhaltung der Forschungs- und Entwicklungszeiten von 2 Jahren wird aber von einigen Betrieben und Kombinaten die Erprobung und Überleitung von der Forschung und Entwicklung getrennt und als selbstständige Aufgabe geplant. Damit werden zwar die Entwicklungszeiten von 2 Jahren eingehalten, eine Produktionswirksamkeit jedoch erst wesentlich später erreicht. […]“ Fallbeispiel 10: Barrieren bei der Entwicklung und Produktion von Siliziumscheiben im VEB Spurenelemente Freiberg Ein hochrangiges „Parteitagsvorhaben“ mit Blick auf den XI. SED-Parteitag 1986 stellten die Entwicklung und Herstellung neuer Siliziumscheiben („Investitionsprojekt Siliziumscheiben größer / gleich 100mm, SIS 100“) dar. Mit diesem sollte die Herstellung von Mikrochips in Halbleiterbetrieben gesichert werden. Die Realisierung des Projektes wurde zunächst – im Juni 1985 – durch fehlende Zulieferungen,53 in der Folge durch Schäden in den Produktionsanlagen behindert: „In vier von den sieben parallel betriebenen Reinstsiliziumproduktionslinien sind Risse in den Wandungen der Verdampfer festgestellt worden. Ein vorhandener Reserveverdampfer wurde eingebaut. 2 Linien mussten stillgelegt werden, so dass täglich ca. 50kg Reinstsilizium im Wert von ca. 30TM [30.000 M] nicht produziert werden können. Eine weitere Linie produziert nur mit geringer Leistung. An Verdampfern der anderen 3 Linien sind auch bereits bedenkliche Risse bzw. Ansätze dazu vorhanden, die eine kurzfristige Auswechslung der Verdampfer erfordern. […]“.54 Zur Beseitigung der Havarie mußten neben Kombinats-Generaldirektoren auch der Ministerrat, Minister und das ZK der SED eingeschaltet werden.55 53 Bericht der SED-Kreisleitung Freiberg vom 25.6.1985, in: SAPMO BArch, DY 30/35061, Bd. 2 (4 Seiten). Das Investitionsvorhaben „Siliziumscheiben größer / gleich 100mm“ galt als ein hochrangiges „Parteivorhaben“ (XI. SED-Parteitag, 17.-21.4.1986). 54 Bericht der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) an das ZK der SED, Leiter der Abteilung Maschinenbau und Metallurgie, Tautenhahn, mit Eingangsstempel vom 25.11.1985, in: SAPMO BArch, DY 30/35061, Bd. 1. 55 Schreiben des Ministers für Elektrotechnik und Elektronik vom 26.11.1985 an das ZK der SED, in: SAPMO BArch, DY 30/53061, Bd. 1 sowie SED-Hausmitteilung vom 3.12.1985 (innerhalb des ZK der SED), in: SAPMO BArch, SY 30/35061, Bd. 1.

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Als ein weiteres Problem stellten sich die vom Herstellerbetrieb festgesetzten stark überhöhten Preise für einzelne Siliziumscheiben heraus. Auch dies war im Rahmen einer Kontrolle kritisiert worden, weil die ausgegebenen Durchschnittspreise (mit Preisbasis 1986 und 1987) besonders bei Siliziumscheiben zwischen 51 und 125 mm den NSW-Preis bis um das Vierfache überstiegen.56 4. Zusammenfassung: Hauptziele und Fehlschläge der Investitionspolitik Maßgeblich für die Ausrichtung der Investitionspolitik der SED war in den letzten Jahren die vom XI. Parteitag beschlossene „ökonomische Hauptaufgabe“, mit der den Erfordernissen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und den Zielen der „sozialistischen ökonomischen Integration“ (SÖI) der RGW-Länder entsprochen und die Herausbildung neuer leistungsfähiger Produktions- und Exportstrukturen gewährleistet werden sollte. Berücksichtigt man zudem die in der „Parteitags-Direktive“ 1986 genannten Teilziele, dann war die Investitionspolitik der SED insbesondere gerichtet auf: -

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die Entwicklung und breite Anwendung von Schlüsseltechnologien mit „Spitzenposition“ auf „volkswirtschaftlich entscheidenden Gebieten“ in Verbindung mit einer „Modernisierung der Grundfonds“ in den Industriekombinaten, den Ausbau der Energie- und Rohstoffbasis durch Nutzung eigener Rohstoffressourcen und Veredelung verfügbarer Energieträger, Rohstoffe und Materialien (u. a. mit Intensivierung der Rohbraunkohleförderung, Ausbau der Kernenergie usw.), den Ausbau der Chemie-Industrie vor allem mit Blick auf die geforderte Veredlung einheimischer und vorwiegend aus der SU importierter Rohstoffe (insbesondere Braunkohle- und Erdölverarbeitung) und den Ausbau der Metallurgie sowie den Verarbeitungsmaschinenbau zur Stärkung des NSW-Exportes.

Daneben gab es die nicht in den offiziellen Plänen ausgewiesenen Investitionen zur Verbesserung des Rüstungspotentials der NVA, bei denen es erhebliche Verflechtungen mit den für die Mikroelektronik bereitgestellten Investitionen gab. Trotz der zur Mitte der achtziger Jahre bereits kritisch zugespitzten Wirtschaftsprobleme vermittelten die offiziellen Verlautbarungen der SED über den XI. Parteitag 1986 oder nachfolgende ZK-Tagungen das Bild einer ungebrochen heilen Welt der sozialistischen Planwirtschaft. Insbesondere in Verbindung mit punktuellen Erfolgen im Bereich der Produktionsautomatisierung in einigen Vorzeigebetrieben oder vermeintlichen Erfolgen im Bereich der Mikroelektronik versuchte die DDR-Führung eine erfolgreiche Aufholjagd bei der Entwicklung und Anwendung

56 Schreiben des Betriebsdirektors des VEB Spurenmetalle Freiberg vom 25.6.1986 an das ZK der SED, Sektionsleiter Elektrotechnik / Elektronik, in: SAPMO BArch, DY 30/35061, Bd. 1. Schabowski: Der Absturz, a. a. O., S. 126.

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von Schlüsseltechnologien zu demonstrieren. Es blieb der Öffentlichkeit mindestens bis in das Jahr 1989 verborgen, daß die stärker werdenden wirtschaftlichen Zwänge zunehmend eine Zurückstellung geplanter Investitionen in nicht wenigen Wirtschaftsbereichen mit sich brachten und daß sich die Entscheidung für den Ausbau der Mikroelektronik auf Kosten anderer notwendiger Entwicklungen vollzog. Bereits kurz nach der politischen Wende gab es selbstkritische Stellungnahmen zur Investitionseffektivität. In der Zeitschrift „Die Wirtschaft“ hieß es 1990 u. a.: „Der Anteil des Verkehrs- und Verbindungswesens an den Investitionen im produzierenden Bereich lag in der BRD etwa doppelt so hoch wie in der DDR. Dadurch wurden die den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen bestimmenden Zweige schneller entwickelt. Das kommt auch im Handel DDR-BRD zum Ausdruck. Von 1985 bis 1987 stieg der Anteil der Investitionsgüter an den Lieferungen der BRD von 18,8 auf 36,4 Prozent, ihr Anteil an den Lieferungen der DDR von nur 11,7 auf 15,3 Prozent. Vergleicht man die Verteilungsstruktur der Investitionen nach Zweigen innerhalb der Industrie, dann sind rund 60 Prozent des Niveauunterschiedes der unterschiedlichen Verteilungsstruktur geschuldet. So ging der Investitionsanteil der Zulieferkombinate der metallverarbeitenden Industrie (ohne die Kombinate der Mikroelektronik Erfurt und Elektronische Bauelemente Teltow) an den Investitionen in der metallverarbeitenden Industrie von 25,5 Prozent im Zeitraum von 1976 bis 1980 auf 19,5 Prozent in den Jahren 1986 und 1987 zurück. […] In der DDR hingegen wirkten 80 Prozent der Investitionen grundfondbestandserhöhend, sie wurden vorwiegend für – zum Teil nicht nutzbare – Kapazitätserweiterungen eingesetzt. […] Es wurden Investitionsprogramme durchgeführt, bei denen Aufwandserhöhungen in Kauf genommen wurden. Die Notwendigkeit des Aufbaus einer mikroelektronischen Industrie wird nicht bestritten. Doch die hohen Aufwendungen führten nicht – wie international üblich – zu einer Kosten- und Preissenkung für mikroelektronische Erzeugnisse. […] Schließlich widerspiegelt sich der vorwiegend extensive Investitionseinsatz in der DDR und der vorwiegend auf Intensivierung und Aufwandssenkung gerichtete Investitionseinsatz in der BRD im Anteil der Ausrüstungen an den Industrie-Investitionen. Dieser Anteil betrug in der DDR 71,0 Prozent (1980: 60 %) und in der BRD 76 Prozent (1980: 74 %). […] In den Jahren 1980 und 1988 wurde in der BRD nominell viermal so viel investiert wie in der DDR. Pro Einwohner waren es 18 bzw. 14 Prozent mehr. […]“.57 Trotz der Investitionen im Industriebereich konnten die in der „Parteitags-Direktive“ 1986 vorgegebenen Zielstellungen nicht erreicht werden. -

Die breite Anwendung von Schlüsseltechnologien mit Spitzenpositionen auf wirtschaftlich entscheidenden Gebieten wurde nicht realisiert. Der produkti-

57 Henke, Dietmar / Specht, Günter: Investitions- und Grundfondeffektivität. Im Vergleich zeigen sich deutliche Rückstände, in: Die Wirtschaft Nr.9/1990, S. 19.

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ons- und informationstechnische Ausstattungsstand in Kombinaten und forschungsorientierten Betrieben oder AdW-Instituten war in Menge und Qualität völlig unzureichend. Hinsichtlich der Computerisierung war die DDR ein Entwicklungsland geblieben. Der Ausbau der Energie- und Rohstoffbasis und der Ausbau der Chemieindustrie durch Nutzung eigener Ressourcen erforderte nicht nur umfangreiche Investitionen zu Lasten anderer Bereiche, sondern war – soweit überhaupt – nur auf Kosten erheblicher Umweltbelastungen möglich. Die besondere Förderung der Metallurgie sowie des Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbaus beschränkte sich auf wenige exportorientierte Betriebe. Diese galten als „Automatisierungsinseln“. In der Mehrzahl der Produktionsbetriebe blieben in der Regel technologisch veraltete Produktionsanlagen im Einsatz.58

Nach der bereits genannten unter Leitung von Schürer Ende Oktober 1989 erarbeiteten Schlußbilanz der Ära Honecker hatten sich fast sämtliche Erfolgsmeldungen der letzten Jahre als bewußt vorgenommene Fälschungen und Verdrehungen herausgestellt. Sämtliche Zielstellungen, angefangen vom „dynamischen Wachstum des Nationaleinkommens“ über den Abbau der Verschuldung bis hin zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, hatten sich als unrealistisch erwiesen.59 Die DDR hatte über ihre Verhältnisse gelebt, Schulden mit neuen Schulden bezahlt. Daher waren besonders die 1989 geplanten oder bereits durchgeführten Rettungsmaßnahmen nur noch als hilfloses Aufbäumen vor dem Wirtschaftskollaps einzuordnen. Als Beispiel hierfür ist die zur Vermeidung einer Zahlungsunfähigkeit in den neunziger Jahren im Wirtschaftsapparat unter der Leitung Schürers eingerichtete „Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz“ zu nennen: In einer geheimen Vorlage an Mittag hielt sie noch im September 1989 Hilfe durch eine Verdopplung des Exports in das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ von 12,2 Valutamark (VM) 1989 auf 24,0 Mrd. VM 1995 für möglich.60 Dieses Vorhaben mußte jedoch bereits mangels ausreichender absatzfähiger Exportwaren scheitern. Lediglich die schon recht brüchige Integration in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und die relativ enge Kooperation mit der Sowjetunion als dem wichtigsten Rohstofflieferanten und Großkunden sowie das Wirtschaften auf Kredit verdeckte zunächst noch nach außen die Fülle der nicht lösbaren Probleme.

58 Ergebnisse des Forschungsprojektes der TU Berlin und der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Bericht Stand 30.5.1990 (Manuskriptdruck), S. 6-12. 59 Hertle, Hans-Hermann: Staatsbankrott. Der ökonomische Untergang des SED- Staates, in: Deutschland Archiv, 25 (1992)-10, S. 1022 f. u. S. 1028 ff. 60 a. a. O., S. 1019 u. 1020.

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XIII. Die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen der Verschwendung der knappen Ressource Energie in der DDR Von Wolfgang Stinglwagner1 Die Geschichte der Energiewirtschaft der DDR von der Nachkriegszeit bis zum Ende der achtziger Jahre war geprägt von strukturellen Problemen. Zum einen waren diese Strukturprobleme in der Teilung Deutschlands begründet. Die Verbindungen zur westdeutschen Wirtschaft waren nach dem Zweiten Weltkrieg auf ein Minimum reduziert worden. Industrien, die noch bis zum Ende des Krieges intensiv miteinander verflochten gewesen waren, wurden auseinandergerissen, in Jahrzehnten herausgebildete Versorgungsstränge unterbrochen. Die Einbindung in das osteuropäische Wirtschaftsbündnis RGW – Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – war politisch diktiert. Ein wirksamer Ersatz für verlorene Zuliefer- und Absatzgebiete konnte dadurch jedoch nicht gewährleistet werden. Das zweite Grundproblem war systembedingt: Es gelang der DDR-Führung nicht, ein ökonomisches System aufzubauen, auf dessen Basis diese Strukturmängel auf Dauer wirkungsvoll hätten überbrückt werden können. Zwar wurden in der unmittelbaren Aufbauphase der fünfziger und sechziger Jahre in einzelnen Bereichen der Wirtschaft durchaus beachtliche Aufbauerfolge erzielt. Auch in der Energiewirtschaft gab es Beispiele dafür. Doch spätestens vom Ende der sechziger Jahre an wurde die strategische Grundausrichtung der SED den ökonomischen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Der notwendige Strukturwandel von der Schaffung industrieller Grundversorgungsstrukturen hin zu einem System, auf dessen Basis ausgewogene, an effizientem Wirtschaften orientierte Entscheidungen in den Betrieben selbst zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung hätten werden können, wurde nicht vollzogen. Das Leben der Bevölkerung sowohl am Arbeitsplatz als auch in sonstigen gesellschaftlichen und privaten Bereichen wurde vom Auf und Ab der Energieversorgung stark berührt. Kein anderer Wirtschaftssektor hatte flächendeckend so schwerwiegende Auswirkungen auf die Umwelt. Energiewirtschaftliche Höhepunkte wie Krisen standen häufig im Vordergrund der planwirtschaftlichen und propagandistischen Bemühungen der DDR-Führung. So überrascht es nicht, daß die energiewirtschaftliche Entwicklung der DDR in den achtziger Jahren ein Spiegelbild der allgemeinen wirtschaftlichen Probleme abgab, die letztlich erheblich zu ihrem Scheitern beitrugen. Dies belegen auch die seit der Wiederherstellung der deutschen Einheit verfügbaren Dokumente aus dem

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In: Kuhrt, Eberhard, et al.: Die Endzeit der DDR-Wirtschaft – Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Opladen 1999, S. 189-212. Ursprünglicher Titel: Die Energiepolitik der DDR und ihre wirtschaftlichen und ökologischen Folgen.

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Staats- und Parteiapparat der DDR, auf die im folgenden mehrfach Bezug genommen wird.2 1. Wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen der Energieversorgung Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war der Auf- und Ausbau der Energieversorgung eine infrastrukturelle Aufgabe ersten Ranges. Vor allem die ausreichende Verfügbarkeit von Kohle war ein wichtiger Faktor für den wirtschaftlichen Aufbau im gesamten Nachkriegseuropa. In der DDR wurde die heimische Braunkohlenförderung als Grundpfeiler der Energieversorgung ausgebaut, da nur geringe Lagerstätten mit anderen Energieträgern zur Verfügung standen. Deshalb wurden mit dem 1957 beschlossenen „Programm über die Festlegung der Perspektive und über Maßnahmen zur Sicherung der Entwicklung der Kohle- und Energiewirtschaft der DDR“ Weichenstellungen für einen großangelegten Ausbau der Braunkohlenindustrie vorgenommen. Rund ein Drittel der Industrieinvestitionen floß seitdem insbesondere in den Ausbau von Tagebauen, Braunkohlenkraftwerken und Anlagen der Kohleweiterverarbeitung. Nachdem diese strukturelle Grundentscheidung einmal getroffen war, ging die DDR-Führung auch später davon nicht mehr ab. Die starke Abhängigkeit von der Kohle war für die DDR weiterhin kennzeichnend, als in den westlichen Volkswirtschaften das Erdöl bereits seinen Siegeszug angetreten hatte und im Zuge der verstärkten Einbindung in die Weltmärkte die Modernisierung der energiewirtschaftlichen Infrastrukturen unter Effizienz- und Produktivitätsaspekten immer mehr in den Vordergrund rückte, auch in denjenigen Volkswirtschaften, in denen durchaus einheimische Kohle in nennenswertem Umfang zur Verfügung stand. Von den sechziger Jahren an erfuhren die westlichen Volkswirtschaften durch den verstärkten Einsatz des Erdöls einen Modernisierungsschub, der auch der technologischen Entwicklung in anderen Wirtschaftssektoren starke Impulse verlieh. Diese Entwicklung ging an der DDR – wie an den übrigen Volkswirtschaften in Osteuropa – weitgehend vorbei. Zunächst war es der Kalte Krieg, dann politischökonomische Unbeweglichkeit, die den Aufbau effizienter energiewirtschaftlicher Strukturen bremste. Nicht zuletzt die politisch auferlegte außenwirtschaftliche Isolierung der DDR nach Westen hatte zur Folge, daß sie bis zu ihrem Niedergang 2

Eine allgemeine Aufarbeitung der energiewirtschaftlichen Entwicklung der DDR dagegen wird hier nicht vorgenommen. Dazu ist schon viel veröffentlicht worden; z. B. Stinglwagner, Wolfgang: Die Energiewirtschaft der DDR unter Berücksichtigung internationaler Effizienzvergleiche. Manuskriptdruck des Gesamtdeutschen Instituts, Bonn 1985. Derselbe: Energiewirtschaft in der DDR, in: Geographische Rundschau, Heft Nr. 11/1987, S. 635-640. Bethkenhagen, Jochen: Die Energiepolitik der Sowjetunion und der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bonn 9. August 1986, S. 49-62. Derselbe: Strukturpolitik und Intensivierung in der DDR am Beispiel der Energiepolitik, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: Vierteljahresheft 4/1989, S. 351-361. Derselbe: Die Energiewirtschaft in den kleineren Mitgliedstaaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Entwicklungstendenzen in den achtziger Jahren, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: Beiträge zur Strukturforschung, Heft 113, Berlin 1990, S. 68-85.

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unter energiewirtschaftlichen Defiziten litt, deren Wurzeln noch aus den fünfziger Jahren stammten. Wegen ihrer Schlüsselstellung blieb die Energiewirtschaft in der DDR stets ein wichtiger Bestandteil der zentralen staatlichen Bilanzierung. Im Jahre 1972 war aus dem bis dahin bestehenden Ministerium für Grundstoffindustrie das Ministerium für Kohle und Energie hervorgegangen, das die zentrale Verantwortung für die Entwicklung der Energiewirtschaft bis in die achtziger Jahre hinein trug. Zu den Aufgaben dieses Ministeriums gehörte die Ausarbeitung von Staatsplanbilanzen für Energieträger, die Festlegung von Vorratskonzeptionen und die Bereitstellung von Energieträgern. Insgesamt waren dem Ministerium zuletzt 24 Kombinate mit insgesamt rund 200.000 Beschäftigten unterstellt. Wegen der seit Ende der fünfziger Jahre vorgenommenen starken Konzentration der zentral zugeteilten Investitionsmittel auf die Energiewirtschaft mußte in den anderen Industriezweigen häufig mit stark veralteten Ausrüstungen produziert werden. Doch trotz dieser hohen finanziellen Aufwendungen stellte die Energieversorgung wegen der starken Bindung an die einheimische Braunkohle immer wieder einen Engpaß dar. Die Partei- und Staatsführung blieb bei ihrer Strategie, die darauf ausgerichtet war, so weit wie möglich heimische Energieträger zu nutzen. Zwar konnte der sehr hohe Anteil der Eigenversorgung nicht auf dem Niveau der frühen fünfziger Jahre gehalten werden. Dies ließen selbst bei strengster Bewirtschaftung der Energiereserven die vorhandenen begrenzten Ressourcen auf dem Gebiet der DDR nicht zu. Außerdem konnte Braunkohle in bestimmten Verbrauchsbereichen schon aus technischen Gründen nicht in beliebigem Umfang importierte Energieträger ersetzen. Vor allem Erdöl und – ab Ende der siebziger Jahre – auch Erdgas mußten in steigenden Mengen importiert werden. So wurden Mineralölprodukte vor allem als Kraftstoffe im Verkehrswesen benötigt. Immerhin jedoch belief sich der Anteil der Importe am Primärenergieverbrauch der rohstoffarmen DDR bis Ende der achtziger Jahre auf nur wenig mehr als 20 Prozent.3 2. Schwerpunkte der Energiepolitik der achtziger Jahre Zu Beginn der achtziger Jahre wurde die starke Konzentration der Energieversorgung auf die heimische Braunkohle durch Entscheidungen der politischen Führung noch weiter verstärkt. Die Planungen sahen einen langfristig weiter wachsen-

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Ziesing, Hans-Joachim: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Entwicklung des Energieverbrauchs und seiner Determinanten in der ehemaligen DDR. Untersuchung im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft, Berlin 1991, S. 38. Ein Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland zeigt, wie stark sich das Autarkiestreben der DDR-Führung ausgewirkt hat. Obwohl Westdeutschland insgesamt über deutlich ergiebigere eigene Energieressourcen verfügte als die DDR, stieg hier der Importanteil am Primärenergieverbrauch bis Ende der achtziger Jahre auf über 70 Prozent an.

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den Energiebedarf vor, wobei Heizöl verstärkt durch Einsatz von Braunkohleprodukten eingespart werden sollte. Der gesamte zusätzliche Primärenergieverbrauch der neunziger Jahre sollte dann durch Kernenergie gedeckt werden.4 Hauptstützpfeiler Braunkohle Im Jahre 1982 wurden die Braunkohlenlagerstätten im Rahmen eines Forschungsprogramms bis zu einer Tiefe von 125 m auf ihre wirtschaftliche Nutzbarkeit hin untersucht. Als sicher nachgewiesene Vorräte wurden Lagerstätten im Umfang von 15,8 Mrd. t ermittelt. Der größte Anteil davon wurde im Bezirk Cottbus lokalisiert. Für eine längerfristige Erschließung wurden darüber hinaus 23,5 Mrd. t an zusätzlichen Vorräten geschätzt.5 Die Weichenstellung zugunsten einer weiter verstärkten Nutzung einheimischer Braunkohle zu Beginn der achtziger Jahre wurde von Wirtschaftlichkeitsberechnungen begleitet, in deren Rahmen versucht wurde, die politisch ohnehin gewünschte Vorteilhaftigkeit der Nutzung einheimischer Braunkohle gegenüber importierten Energieträgern auch ökonomisch zu untermauern. Im Ergebnis dieser Kalkulationen schnitt die einheimische Braunkohle unter Berücksichtigung des jeweiligen Energiegehaltes im Vergleich zu Importsteinkohle um den Faktor fünf und gegenüber importiertem Erdöl um einen Faktor von über sieben günstiger ab. Dieser Kostenvergleich war jedoch aus mehreren Gründen irreführend: - Die Bewertung der Kosten der Braunkohlenindustrie erfolgte zu DDR-Industriepreisen, darunter auch den DDR-Lohnkosten. Diese Kostenbestandteile waren wegen der fehlenden realistischen Umrechenbarkeit der DDR-Binnenwährung in internationale Währungen und wegen der von ausländischen Volkswirtschaften stark abweichenden lohn- und finanzpolitischen Strukturen der DDR mit entsprechenden Kosten ausländischer Produzenten nicht vergleichbar. Infolgedessen waren auch die Preisrelationen stark verzerrt. - Wie die vom DDR-Braunkohlenbergbau hinterlassenen weitläufigen „Mondlandschaften“ zeigen, war der für die Rekultivierung der ausgekohlten Tagebaue einkalkulierte Kostenaufwand bei weitem nicht vergleichbar etwa mit den entsprechenden Aufwendungen des rheinischen Braunkohlenbergbaus. Für Zerstörung von Infrastrukturen, Entzug land- und forstwirtschaftlicher Nutzflächen sowie Urbarmachung und Rekultivierung wurden jährlich etwa 500 bis 600 Mio. Mark Kosten kalkuliert. Je Tonne geförderter Rohbraunkohle entsprach dies einem Kostenanteil von 1,80 bis 2,00 Mark.6 Auch wenn quantitative Schätzungen dafür sehr schwierig sind, kann davon ausgegangen werden, daß der Anteil der vom Braunkohlenbergbau verursachten Umweltkosten, der

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Von erneuerbaren Energieträgern dagegen versprachen sich die Energieplaner der DDR keinen nennenswerten Beitrag in überschaubarer Zeit. Stinglwagner, Wolfgang: Wenig Chancen für alternative Energiegewinnung. Zur Nutzung nichtfossiler und nichtnuklearer Energiequellen in der DDR, in: Deutschland Archiv 18 (1985)/12, S. 1320-1325.

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Ebenda, S. 113-116.

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Ziesing, Hans Joachim: Entwicklung des Energieverbrauchs.

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somit bei der Kalkulation der Herstellerpreise für DDR-Braunkohle berücksichtigt wurde, viel zu niedrig war. Die bei der Entscheidung für die Braunkohle zugrunde gelegten Kosten- und Preisvergleiche negierten weitgehend die ökonomischen Effekte beim Einsatz des Energieträgers in Industrie, öffentlichen Einrichtungen und privaten Haushalten – also auf der Nachfrageseite, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ebenfalls ihren Einfluß auf die Preise und damit auf die Angebotsstrukturen hätte nehmen können und müssen. Durch zusätzliche Umstellung von Industrie- und Heizanlagen etwa von Steinkohle oder Heizöl auf Braunkohlebriketts und auch auf Rohbraunkohle entstanden dort Umstellungsaufwendungen sowie direkte und indirekte Folgekosten, die in den Vergleichsrechnungen nicht oder nur in höchst unvollständigen Ansätzen berücksichtigt wurden. Gerade hier werden die Defizite der damaligen planwirtschaftlichen Regulierung und Verwaltung im Energiesektor offenkundig. Primärenergieverbrauch in der DDR 1970 bis 1990: (in Petajoule)1)

Die aus dieser Strategie folgende Unausgewogenheit der DDR-Energieversorgung war auch zu Beginn der achtziger Jahre unübersehbar. Die Braunkohlenförderung war von 133 Mio. t im Jahre 1949 auf 240 Mio. t im Jahre 1975 und 258 Mio. t im Jahre 1980 gesteigert worden. Durch nochmals verstärkte Konzentration von Investitionsmitteln in diesen Bereich erfolgte dann eine weitere Erhöhung des Braunkohlenabbaus bis auf 310 Mio. t im Jahre 1988. Die Braunkohlenkraftwerke erzeugten gegen Ende der achtziger Jahre etwa 85 Prozent der Elektroenergie.

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Der Beitrag der heimischen Braunkohle zum Primärenergieverbrauch belief sich im Jahre 1980 nach DDR-Angaben auf 63 Prozent.7 Bis 1985 wurde dieser Anteil auf 70 Prozent erhöht, um bis zum Jahre 1989 leicht auf 68 Prozent zurückzugehen (Schaubilder 1 und 2). Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland erreichte der entsprechende Anteil von Braun- und Steinkohle zusammengenommen im Jahr 1980 29,8 Prozent, 1989 noch 27,7 Prozent.8 Damit hatte die Braunkohle ein strukturelles Übergewicht an der gesamten Energieversorgung der DDR erreicht, was sich immer wieder als schweres Handicap erwies. Struktur des Primärenergieverbrauchs in der DDR: (in Prozent)1)

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Alle energiestatistischen Angaben in diesem Beitrag, die sich auf Energiebilanzstrukturen beziehen, sind nach westdeutscher Berechnungskonvention berechnet – wenn nicht anders vermerkt. Frühere Angaben zum Primärenergieverbrauch der DDR, die sich mangels anderer Angaben fast durchgehend auf Veröffentlichungen in statistischen Jahrbüchern und Fachpublikationen aus der DDR stützen mußten, weichen von den hier verwendeten Angaben geringfügig ab, da die energiestatistische Berechnungsmethodik der DDR nicht durchgehend mit westlichen Berechnungsmethoden übereinstimmte. Insbesondere wegen politisch als sehr brisant eingestufter Devisengeschäfte des Sonderbereiches „Kommerzielle Koordinierung“ mit Erdölprodukten hatte die DDR-Führung auch intern keine zentral konsistente, alle Außenhandelsgeschäfte einschließende Gesamtenergiestatistik erstellen lassen. Da auch nach 1990 bestimmte energiestatistische Angaben nicht restlos nach westlicher Methodik aufgearbeitet werden konnten, verblieben auch weiterhin gewisse nicht aufklärbare Zahlendifferenzen, insbesondere bei Angaben über Primärenergieverbrauchs- und Endenergieverbrauchsstruktur der DDR. Ziesing, Hans-Joachim, S. 3-10.

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Berechnet nach Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Energie Daten ’90, Bonn 1991, S. 34.

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Kernenergie als Hoffnungsträger Neben der starken Ausweitung der Braunkohlenutzung sollte die Kernenergie das zweite Standbein der DDR-Energieversorgung um die Jahrtausendwende und darüber hinaus sein. Die DDR-Führung erhoffte sich davon einen wachsenden stabilen Beitrag zur Grundlastdeckung in der Stromerzeugung, obwohl die schon früher gepflegte Euphorie hinsichtlich der Möglichkeiten, die die Kernenergie bieten könnte, ähnlich wie in den westlichen Ländern erheblich gelitten hatte.9 Im Mai 1966 konnte das erste Kernkraftwerk der DDR in Betrieb genommen werden. Es lag in Rheinsberg am Stechlinsee, war mit einem sowjetischen 70-MW-Reaktor ausgestattet und diente auch in späteren Zeiten noch als Forschungs- und Ausbildungsstätte.10 Größere Bedeutung für die Elektrizitätswirtschaft der DDR hatte das zweite KKW, das bei Greifswald errichtet wurde. Vor allem die steigenden Kosten im Kernkraftwerksbau machten den DDREnergiewirtschaftsplanern jedoch schon seit den siebziger Jahren erheblich zu schaffen. Die chronische Finanz- und Devisenschwäche der DDR-Wirtschaft stellte auch hier ein großes Problem dar, weil die wichtigsten Komponenten aus der Sowjetunion bezogen werden mußten. Der in 1974 begonnene Bau des KKW Stendal, in dem modernere Reaktoren des Typs WWER-1.000 installiert werden sollten, verzögerte sich immer wieder über viele Jahre. Auch beim weiteren Ausbau des KKW Nord bei Greifswald, dessen erster 440-MW-Reaktor im Jahre 1973 in Betrieb gegangen war und das bis 1979 um weitere drei Reaktoren dieses Typs erweitert worden war, kam die ursprünglich für Mitte der achtziger Jahre geplante Fertigstellung von vier zusätzlichen Blöcken dieses Typs nicht zustande. Nicht zuletzt die nach dem Unfall von Tschernobyl im April 1986 verstärkte Einsicht in die Notwendigkeit, die neuen Reaktorblöcke in der DDR mit verbesserten Sicherheitsausrüstungen versehen zu müssen, machte das Vorhaben aufwendiger und komplizierter. So beklagte sich die Staatliche Plankommission am 6. Juni 1989 in einem Schreiben an das für Wirtschaftsfragen zuständige ZK-Mitglied Günter Mittag, die Ursachen für erhebliche Verzögerungen beim Bau von Block 6 des Kernkraftwerkes Nord seien „vor allem in der unzureichenden Qualität der Projekte des sowjetischen Generalprojektanten, die wegen begründeter Sicherheitsanforderungen der zuständigen Kontrollorgane der DDR überarbeitet werden mußten“, zu sehen. Schließlich wurden die Kosten für den geplanten Ausbau des KKW Nord Anfang 1990 auf 14,4 Mrd. DDR Mark beziffert. Dieser Betrag entsprach ungefähr einem Drittel der gesamten Industrieinvestitionen der DDR im Jahre 1988. Hinzu kamen die finanziellen Belastungen durch das seit 1974 im Bau befindliche KKW Stendal. Für die dort vorgesehenen vier 1.000-MW-Reaktoren waren die Kosten ursprünglich auf 16 Mrd. Mark veranschlagt worden. Doch schließlich stiegen die Schätzungen auf 24 Mrd. Mark, nachdem bis 1990 bereits 3,8 Mrd. Mark verbaut 9

Horlamus, Wolfgang: Die Kernenergiewirtschaft der DDR. Von ihren Anfängen bis zur Abschaltung der Reaktoren im Kernkraftwerk Nord, in: Hefte zur DDR-Geschichte 17 (1994), S. 24-38. Stange, Thomas: Zu früh zu viel gewollt. Der mißglückte Start der DDR in die Kernenergie, in: Deutschland Archiv 30 (1997)-6, S. 923-928.

10 Ebenda, S. 39-41.

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worden waren.11 Damit stieß die DDR an Grenzen, die nicht nur durch ihre Devisenschwäche gesetzt waren, sondern auch durch Knappheiten bei internen Finanzmitteln und Baukapazitäten. Die Engpässe der DDR-Wirtschaft beim weiteren Ausbau ihrer Infrastruktur schlugen sich gerade bei der Kernenergie seit Beginn der achtziger Jahre deutlich nieder. Immerhin war es in den siebziger Jahren gelungen, den Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung von ursprünglich nur 0,7 Prozent (1970) durch Aufbau des KKW Nord bis auf 12,7 Prozent im Jahre 1980 zu erweitern. In den darauffolgenden Jahren jedoch konnte nur noch die Stromerzeugung aus Braunkohle erhöht werden. Der Anteil der Kernenergie ging infolgedessen bis zum Jahr 1989 wieder auf 10,5 Prozent zurück.12 Als das KKW Nord im Sommer 1990 stillgelegt und der Bau des KKW Stendal abgebrochen wurde, waren sowohl wirtschaftliche Gründe als auch Erwägungen hinsichtlich Sicherheit und Umweltverträglichkeit der vorhandenen und im Bau befindlichen Reaktoren ausschlaggebend. 3. Außenwirtschaftliche Unbeweglichkeit Der hohe Beitrag der Braunkohle zur Energieversorgung hatte für die gesamte Volkswirtschaft der DDR Effizienzdefizite zur Folge, auf die noch einzugehen ist. Hinzu kam das Problem, daß auch in denjenigen Bereichen der Volkswirtschaft, in denen andere Energieträger eingesetzt wurden, immer wieder krisenhafte Energieversorgungslücken auftraten, weil die DDR aufgrund ihrer politischen und ökonomischen Schwächen nur äußerst begrenzte Möglichkeiten besaß, um etwa kurzfristig dringend benötigte Fehlmengen aus dem Ausland zu beziehen. Als rohstoffarmes Land war die DDR von Anfang an, trotz aller Bemühungen, möglichst weitgehend auf eigene Quellen zurückzugreifen, auf Rohstoff- und Materialimporte angewiesen. Unter den politischen Verhältnissen der Nachkriegszeit bedingte dies eine weitgehende Ausrichtung auf den Handel mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten im RGW. Auch später setzte die DDR-Führung darauf, von Lieferungen aus westlichen Ländern möglichst unabhängig zu bleiben. Dazu trug die Tatsache bei, daß es der DDR insgesamt nicht gelang, genügend wettbewerbsfähige Produkte herzustellen, deren Export zur Erzielung von Hartwährungseinnahmen und damit zur finanziellen Absicherung von Westimporten hätte dienen können. Damit befand sich die DDR in einem erheblichen Dilemma. Aus Sicht der politischen Führung ergaben sich zur Bewältigung dieser Situation folgende Prioritäten: Erstens die auch von der sowjetischen Führung eingeforderte weitere intensive Einbindung in die wirtschaftliche Zusammenarbeit innerhalb des RGW – und darunter insbesondere mit der UdSSR; zweitens eine gezielte Politik der Importsubstitution, um die Abhängigkeit vom Import bestimmter Güter weiter so umfassend wie möglich zu verringern. 11

Horlamus, Wolfgang, S. 46 f. 12 Ziesing, Hans-Joachim, S. 44.

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Jahrzehntelang wurden viel Mühe und Investitionen dafür aufgewandt, um Importe durch heimische Produkte und Leistungen abzulösen. Der Preis, der für diese wirtschaftliche und vor allem politische „Unabhängigkeit“ vom Westen gezahlt wurde, war sehr hoch: Die DDR verzichtete weitgehend auf die ökonomischen Vorteile, die sich für andere Industriestaaten aus der internationalen Arbeitsteilung auf den Weltmärkten ergaben. In dem Bestreben, notfalls möglichst viele als wichtig angesehene Vor-, Zwischen- und Endprodukte aus eigener Herstellung verfügbar zu haben, bauten die Wirtschaftsplaner der DDR die Industrie mit einer Fertigungstiefe und ausgeweiteten Produktpalette aus, die für Volkswirtschaften vergleichbarer Größenordnung sehr ungewöhnlich war. Damit trugen sie freilich auch den Unzulänglichkeiten des osteuropäischen Wirtschaftsbündnisses Rechnung. Nicht nur die politisch bedingten Beschränkungen des Handels mit westlichen Ländern, sondern auch der immer wieder eintretende Ausfall vertraglich zugesicherter, dringend benötigter Lieferungen von Rohstoffen und anderen Gütern aus den verbündeten Staaten des RGW bedingten häufig große Komplikationen für die DDR-Wirtschaft. Eine Überbrückung kurzfristiger Versorgungslücken bei wichtigen Produkten konnte mangels Verfügbarkeit von Devisen nur durch Warenbezüge vom politischen Gegner – der Bundesrepublik Deutschland – im Rahmen des „Swing“ (zinsloser Überziehungskredit im innerdeutschen Handel) gesichert werden, sofern dort noch Spielraum vorhanden war.13 Der Handel mit der Bundesrepublik Deutschland war – zumindest im quantitativen Rahmen des „Swing“ und unter Ausklammerung militärstrategischer Güter – das einzige flexible Instrument im Außenhandel der DDR, das ohne Einsatz von konvertierbarer Währung kurzfristig in Anspruch genommen werden konnte. Da dieser von seiten der Bundesrepublik im Rahmen politischer Absprachen eingeräumte zinslose Kredit immer wieder zum Auffüllen von Versorgungslücken auch in anderen Sektoren eingesetzt werden mußte, konnte damit auf längere Sicht aber keine Stabilisierung der Energieversorgung der DDR gewährleistet werden. Dieses Dilemma der außenwirtschaftlichen Inflexibilität schlug sich auch in der Energiewirtschaft nieder. Es konnte bis in die achtziger Jahre hinein nicht überwunden werden, sondern verschärfte sich sogar. Lediglich im Bereich des Anlagenbaus konnten durch enge Kooperation mit den östlichen Wirtschaftspartnern zunächst Vorteile der internationalen Arbeitsteilung genutzt werden, die jedoch später eher in Nachteile umschlugen. Versorgungslücken bei Energierohstoffen Auf das aktuelle Wirtschaftsleben und den Alltag der Bevölkerung unmittelbar spürbare Auswirkungen hatte die oft mangelhafte Versorgungslage mit Energierohstoffen. Besonders augenfällig wurde die fehlende außenwirtschaftliche Flexibilität der DDR, wenn vertraglich vereinbarte Lieferungen von Energierohstoffen aus der

13 Groß, Karl-Heinz: Der innerdeutsche Handel aus internationaler Sicht, in: Deutschland Archiv 19 (1986)/10, S. 1075-1084. Homann, Fritz: Zur Zukunft des innerdeutschen Handels. Ebenda, S. 1085-1094.

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Sowjetunion oder anderen RGW-Ländern ausfielen, weil auch deren planwirtschaftlich gesteuertes System zu unflexibel war, um immer wieder auftretende Produktionsengpässe schnell durch anderweitige Reserven auszugleichen. Sowohl das bürokratisch reglementierte staatliche Außenhandelssystem der DDR als auch der chronische Devisenmangel machten es unmöglich, ernste Versorgungskrisen etwa durch schnelle Zukäufe von Kohle oder Erdöl von internationalen Spotmärkten zu vermeiden. Deshalb beeinträchtigten derartige Lieferausfalle nicht selten gleich die Leistungsfähigkeit ganzer Industriezweige. Die Schwere der Probleme, die von solchen Lieferausfällen verursacht wurden, wurde damals insbesondere gegenüber westlichen Beobachtern soweit wie möglich geheimgehalten. Auf Grundlage der jetzt verfügbaren Dokumente sollen hier zwei Beispiele genannt werden. Zu Beginn der achtziger Jahre bezog die DDR auf Grundlage langfristiger vertraglicher Vereinbarungen jährlich über 3 Mio. t Steinkohle aus der Sowjetunion. Dieser Posten entsprach immerhin etwa 4 Prozent des Primärenergieverbrauchs der DDR. Wie aus einem internen Protokoll des Politbüros vom 10. Februar 1981 hervorgeht, reduzierte die UdSSR damals – vermutlich wegen eigener Versorgungsprobleme – ihre Lieferungen an die DDR um fast das gesamte Jahresliefervolumen. Daraufhin erteilte das ZK dem Ministerratsvorsitzenden Stoph einen strengen Verhandlungsauftrag. Er sollte bei seinem sowjetischen Amtskollegen intervenieren, da sonst „eine Reihe von Betrieben stillgelegt werden müßten“. Um das Schlimmste zu verhüten, wurde zusätzlich noch verfügbarer Spielraum im Rahmen des innerdeutschen Handels genutzt. Es wurde der Bezug von Steinkohle aus Westdeutschland verfügt, um aus dieser Quelle wenigstens einen Teil der ausgefallenen sowjetischen Kohlelieferungen auszugleichen. Noch drastischer wurden diese außenwirtschaftlichen Zwänge sichtbar, als die UdSSR kurz darauf ihre Erdöllieferungen an die DDR von 19 Mio. t im Jahre 1981 auf 16,8 Mio. t reduzierte. Aus Unterlagen, die die Staatliche Plankommission für ein Beratungsgespräch bei Günter Mittag am 13. Oktober 1981 ausgearbeitet hatte; gehen die tiefgreifenden Erschütterungen hervor, die von dieser Lieferkürzung in der DDR-Wirtschaft ausgelöst wurden.14 Darin wurde die zunächst erwogene Möglichkeit, die Versorgung der Volkswirtschaft mit Mineralölprodukten entsprechend der sowjetischen Lieferkürzung um insgesamt 2 Mio. t zu reduzieren, folgendermaßen kommentiert: „Erste Untersuchungen ergeben, daß derartige abrupte Eingriffe in die Versorgung der Volkswirtschaft mit Erdölprodukten Grundpfeiler der wirtschaftlichen und materiell-technischen Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR untergraben“.15 Es sei zwar vorgeschlagen worden, zur Schließung wenigstens eines Teils der Lücke 1 Mio. t Erdöl zusätzlich aus dem NSW („Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet“) zu importieren und dafür rund 550 Mio. Valutamark einzuplanen, aber: „Dies würde jedoch mehr Bargeld erfordern als für den gesamten Import der DDR im Jahre 1982 gegen konvertierbare Devisen geplant ist (445 Mio. VM)“.

14 SAPMO BArch, DY 30/vorl. SED 26562. 15 Ebenda, S. 4.

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Die Optionen zur Einsparung von Mineralölprodukten, die die Plankommission im gleichen Schreiben zur Prüfung durch die politische Führung unterbreitete, sahen folgendermaßen aus:16 Erstens zusätzlich zur ohnehin bereits festgelegten Senkung der Lieferungen von Vergaserkraftstoff an alle Bedarfsträger in der Wirtschaft um 10 Prozent die Annullierung der im Volkswirtschaftsplan vorgesehenen Steigerung des privaten Kraftstoffverbrauchs der Bevölkerung von 2,7 Prozent gegenüber 1981. Darüber hinaus wurde nach weiteren Einsparungsmöglichkeiten gesucht: „Vorliegende Einschätzungen besagen, daß bei einer Erhöhung der Benzinpreise für die Bevölkerung auf das Doppelte der Verbrauch um 10 % zurückgeht. Dadurch könnten 150 kt freigesetzt werden“.17 Dieser Empfehlung, deren Umsetzung in der DDR-Bevölkerung mit Sicherheit erheblichen Unmut hervorgerufen hätte, folgte die Staats- und Parteiführung allerdings nicht. Als zweiten Punkt schlug die Plankommission die Verringerung von Importen aus dem Westen (NSW) vor: „Um die sich aus der Verringerung des West-Imports (NSW) von Rohstoffen und hochproduktiven Ausrüstungen ergebende Flächenwirkung auf die Entwicklung der Produktion und des Nationaleinkommens zu verringern, wird zur Erwägung gestellt, den bisher vorgesehenen Einsatz von NSW-Valuta in Höhe von 150 Mio. DM zum Import von Rohstoffen und Fertigwaren für Exquisit und Delikat im Jahre 1982 nicht durchzuführen und zur Finanzierung des Imports von Erdölprodukten aus dem Westen (NSW) einzusetzen“. Diese Maßnahme, die vermutlich zumindest teilweise umgesetzt wurde, berührte die materielle Versorgungslage der Bevölkerung spürbar, weil in den Exquisit- und Delikatläden hochwertige Konsumgüter angeboten wurden, die im sonstigen Einzelhandel für DDR-Mark kaum zu kaufen waren. Als dritte Option wies die Plankommission auf die nach der Verringerung der sowjetischen Erdöllieferungen mögliche Reduzierung von DDR-Exporten in die UdSSR hin. Gleichzeitig relativierte sie den Wert dieser Option aber auch durch den Hinweis: „Die Nutzung dieser Fonds für einen zusätzlichen West-Export ist wegen ihrer Erzeugnisstruktur und der ohnehin außerordentlich hoch geplanten Steigerung des West-Exports im Jahre 1982 und in den folgenden Jahren nur in geringem Umfang möglich“. Es war also nicht möglich, die in Frage kommenden DDR-Waren auf westlichen Märkten rentabel abzusetzen und damit zusätzlich benötigte Mengen von Erdöl oder Mineralölprodukten zu beschaffen. Hier rächte sich erneut die starke außenwirtschaftliche Bindung der DDR an die UdSSR und die zu geringe Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie auf den Weltmärkten. Das dargestellte Beispiel zeigt, daß in der DDR Engpässe bei der Versorgung mit Mineralöl mit zentralen Planungsinstrumenten überbrückt wurden, die eher an das Notmanagement einer Kriegswirtschaft erinnern als an die Verteilung von Ressourcen in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Die Frage, welchen Beitrag Mineralölprodukte in den verschiedenen Bereichen der Volkswirtschaft leisteten 16 Ebenda, S. 6 f. 17 Ebenda, S. 6 ff.

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bzw. wo unter ökonomischen Aspekten deren Verknappung oder Ausfall die geringsten Verluste verursachte, spielte in den entscheidenden Beratungen der Wirtschaftsführung nur eine untergeordnete Rolle. Von zentraler Warte aus wurde mengenmäßig rationiert, weil das Planungs- und Leitungssystem der DDR-Wirtschaft nicht darauf eingerichtet war, sich an anderen Maßstäben der Zuteilung von Ressourcen zu orientieren. Da die Preise für Energieträger durchgehend staatlich festgelegt waren und es keine freien Märkte dafür gab, konnten ökonomische Knappheiten auch nicht durch Preissignale bewertet werden. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Strategie der Wirtschaftsplaner selbst. Die Planwirtschaft der DDR ließ an Marktpreisen orientierte Investitionen zur effizienten Verringerung des Energieverbrauchs in der gesamten Volkswirtschaft nicht zu. Somit blieben als Steuerungsinstrumente zur Beeinflussung des Energieverbrauchs in den Betrieben neben moralischen Appellen an Führungskader und Werktätige nur Vorschriften wie z. B. Energieverbrauchsnormative und – wie aufgezeigt –·schlichtweg die Zuteilung quantitativer Energiekontingente übrig. Damit mußten die betroffenen Industrie- und Verkehrsbetriebe dann zurechtkommen. Auch dies wird in dem bereits zitierten Papier der Plankommission plakativ belegt. Dort heißt es: „Mit ernsthaften Argumenten vertretene Mehrforderungen der Minister für 1982 in Höhe von 400 kt Heizöl, 300 kt Dieselkraftstoff und 50 kt Motorenbenzin können nicht berücksichtigt werden“.18 Gemeint waren damit vor allem die Zuteilungen von Dieselkraftstoff für das örtlich geleitete Verkehrswesen und die sonstigen örtlich geleiteten Bereiche der Wirtschaft. Die sich daraus abzeichnenden Konsequenzen für das örtliche Transportwesen und die Planerfüllung der örtlichen Betriebe zur Versorgung der Bevölkerung waren so gravierend, daß – wie aus einem Schreiben Mittags an Honecker hervorgeht – die Vorsitzenden der Bezirksräte sehr schonend und auf gezielte Weise über die vorgesehenen Einschnitte informiert werden mußten. Ähnliche Probleme aufgrund ausbleibender Lieferungen aus der UdSSR traten in den achtziger Jahren immer wieder auf und nahmen zuletzt aufgrund der in der Sowjetunion selbst zu verzeichnenden zunehmenden Instabilitäten an Schärfe zu. Gegen Ende der achtziger Jahre kam die UdSSR aufgrund der Streiks der Bergarbeiter in den Steinkohlerevieren ihren Lieferverpflichtungen gegenüber der DDR bei Kokskohle nicht mehr nach. Erneut erwiesen sich die Abhängigkeit von diesen Lieferungen und das Unvermögen, trotz der seit Jahren deutlich gesunkenen Weltmarktpreise für Importkohle kurzfristig auf andere Quellen auszuweichen, als schweres Handicap. Nur ein kleiner Teil der für die in der DDR zur Weiterverarbeitung eingeplanten Kokskohlemengen konnte ersatzweise anderweitig beschafft werden. Wiederum gab es in DDR-Betrieben nicht überbrückbare Engpässe. Probleme der RGW-Kooperation beim Kraftwerksbau Eine der wenigen Branchen, in denen die Vorteile internationaler Arbeitsteilung – zumindest in Verbindung mit den politischen Verbündeten in Osteuropa – 18 Ebenda, S. 1.

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relativ weitreichend genutzt wurden, war der Kraftwerksbau. Für den Ausbau vorhandener und die Errichtung neuer Kraftwerkskapazitäten spielten die Abkommen mit der Sowjetunion und den anderen Staaten des RGW eine herausragende Rolle. Zunächst hatte diese Kooperation für den Aufbau der DDR-Kraftwerksbasis nach dem Kriege durchaus beeindruckende Ergebnisse erbracht. Ende der achtziger Jahre waren in der DDR Kraftwerkskapazitäten von über 23.000 Megawatt (MW) vorhanden. Darunter befanden sich Braunkohlenkraftwerke mit über 17.000 MW und Kernkraftwerke mit insgesamt 1.830 MW. Von diesen Kraftwerkskapazitäten waren immerhin rund 10.000 MW zusammen mit Partnern aus dem RGW errichtet worden. Sie erzeugten rund die Hälfte des gesamten elektrischen Stroms in der DDR. Der Grundstein dafür war mit dem 1957 beschlossenen Energieprogramm gelegt worden. Der Bau von Braunkohlegroßkraftwerken ermöglichte eine deutliche Erhöhung der Elektrizitätserzeugung von rund 33.000 Gigawattstunden (GWh) im Jahre 1957 bis auf fast 70.000 GWh zu Beginn der siebziger Jahre. Wesentliche Stationen dabei waren die Inbetriebnahme des Kraftwerks Lübbenau mit 1.300 MW installierter Leistung im Jahre 1964 und das Kraftwerk Vetschau mit 1.200 MW im Jahre 1967. Nachdem ab Ende der sechziger Jahre zwischenzeitlich verstärkt Investitionsmittel in andere Industriezweige gelenkt worden waren und sich der Ausbau der Kohle- und Kraftwerkskapazitäten etwas verlangsamt hatte, folgten 1977 das Kraftwerk Hagenwerder mit 1.500 MW, 1980 das Kraftwerk Boxberg mit 3.520 MW und 1988 das Kraftwerk Jänschwalde mit 3.000 MW. Die DDR erhielt aus der Sowjetunion vor allem Turbinen und Generatoren für konventionelle Kraftwerke und die Reaktoren für die Kernkraftwerke. Aus Ungarn stammten Entaschungsanlagen, aus der Tschechoslowakei Kohletransportanlagen. Polnische Baubetriebe hatten zahlreiche Kühltürme und Schornsteine in der DDR errichtet. Maschinenbauunternehmen aus der DDR selbst errichteten die Dampferzeuger für die 500-MW-Blöcke. Für die DDR mag diese Ausrichtung auf die RGW-Kooperation beim Ausbau ihrer Kraftwerkskapazitäten anfangs Vorteile gehabt haben. Immerhin war es so möglich, den Aufbau der eigenen Kraftwerke bei Spezialisierung auf die Herstellung bestimmter Kraftwerkskomponenten zu sichern, ohne dafür konvertierbare Währung ausgeben zu müssen. Auf längere Sicht jedoch erwies sich die enge Bindung an die östlichen Standards und Lieferungen auch als Problem. Besonders schmerzhaft wirkte sich diese starke Bindung an die RGW-Partner aus, wenn die vereinbarten Lieferungen wichtiger Teile oder Komponenten nicht in vertragsgemäßer Qualität erfolgten oder gar ganz ausblieben. Vor allem während der achtziger Jahre, als in der Sowjetunion selbst politisch und ökonomisch bedingte Produktionsausfälle zu verzeichnen waren, nahmen diese schon von früheren Zeiten bekannten Probleme zu. Selbst in dringenden Einzelfällen war es auch bei den Kohlekraftwerken schon aus technischen Gründen sehr schwierig, fehlende Komponenten von westlichen Lieferanten zuzukaufen. Die durchgehende Ausrichtung der Anlagen auf technische RGW-Normen und -Standards erschwerte dies. Langfristige vertragliche Bindungen mit RGW-Partnern und der chronische Mangel an Devisen bewirkten ein Übriges.

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Diese Schwierigkeiten im Kraftwerksbau hatten keinesfalls geringe, wenn auch nicht immer unmittelbar spürbare Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in der DDR. Es waren umfangreiches Kapital, Baukapazitäten und Arbeitskräfte in Bereichen gebunden, die über viele Jahre keine oder nur beschränkte Beiträge zur Energieversorgung leisteten. Noch schwerer wog jedoch die Tatsache, daß Energieversorgungsbeiträge, die im Rahmen der staatlichen Wirtschaftsplanung von diesen neuen Kraftwerkskapazitäten erwartet wurden, nicht termingemäß zur Verfügung standen und deshalb anderweitig beigebracht werden mußten. 4. Unwirtschaftliche Energieverwendung Die geschilderten Probleme bei der Gewährleistung einer sicheren Energieversorgung wurden durch massive Unzulänglichkeiten auf der Seite der Energieverwendung zusätzlich verschärft. Die Volkswirtschaft der DDR war davon gekennzeichnet, daß teuer erzeugte oder importierte Energie in beträchtlichem Ausmaß verschwendet wurde. Gesamtwirtschaftlicher Effizienzrückstand Das war auch für westliche Beobachter schon vor zwanzig Jahren aus den wenigen Daten ersichtlich, die trotz einer sehr restriktiven Informationspolitik der DDR-Führung bekannt wurden. Nach einer für das Jahr 1978 auf Basis damals verfügbarer Daten vorgenommenen Überschlagsrechnung19 ergab sich folgendes Bild: Der Primärenergieverbrauch pro Kopf der Bevölkerung lag in diesem Jahre in der DDR mit 196 Gigajoule (GJ) in der weltweiten Spitzengruppe der Länder mit hohem spezifischem Energieverbrauch und damit auch deutlich über dem Pro-KopfVerbrauch in der Bundesrepublik Deutschland (171 GJ) oder anderer westeuropäischer Länder. Dies war um so bedenklicher, als die Wirtschaftsleistung der DDR pro Kopf der Bevölkerung nicht etwa über den entsprechenden Werten Westdeutschlands lag, sondern fraglos erheblich darunter. Es wurde also in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland pro Kopf der Bevölkerung deutlich mehr Primärenergie verbraucht, um eine erheblich geringere Wirtschaftsleistung zu erbringen. Genauer konnte dieses energiewirtschaftliche Effizienzdefizit nach der Herstellung der Einheit Deutschlands analysiert werden, da nun erheblich bessere Zugangsmöglichkeiten zum benötigten statistischen Material in der ehemaligen DDR bestanden.20 Der Primärenergieverbrauch pro Kopf der Bevölkerung hatte sich ge-

19 Stinglwagner, Wolfgang: Die Energiewirtschaft der DDR, S. 161-164. 20 Allerdings werden im nachhinein nie die letzten statistischen Details aufgeklärt werden können, da in der DDR schon das Grundlagenmaterial zum Teil unter anderen methodischen Gesichtspunkten aufbereitet wurde als im Rahmen der westdeutschen Energiestatistik. Selbst unter westlichen Ländern gibt es in bestimmten Bereichen unterschiedliche energiestatistische Daten aus der DDR, die besonders dann gewisse Abweichungen zwischen unterschiedlichen

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genüber dem Beginn der achtziger Jahre bis 1989 in beiden deutschen Staaten nochmals erhöht: In der DDR auf 229 GJ, in der Bundesrepublik Deutschland auf 179 GJ.21 Der Rückstand der DDR in bezug auf die Wirtschaftsleistung hatte sich dabei offensichtlich nicht verringert. Somit hatte sich das Effizienzdefizit der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland auch bis zum Jahr 1989 eher noch vergrößert. Zu Beginn der neunziger Jahre durchgeführte Schätzungen zeigen zwar, daß es in der DDR zumindest seit Beginn der achtziger Jahre gelungen war, die Energiemenge, die zur Bereitstellung von jeweils einer Einheit Bruttoinlandsprodukt benötigt wurde, um jährlich etwa 3 Prozent zu senken. Die im Westen oft geforderte und schließlich auch gelungene Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch war also auch in der DDR erreicht worden.22 Jedoch ging diese Entwicklung von einem stark überhöhten absoluten Verbrauchssockel aus, so daß in der DDR noch weit stärkere Energieeinsparungen nötig gewesen wären, um aus der internationalen Spitzengruppe der Energieverschwender herauszukommen. Insbesondere die massive Ausbeutung der heimischen Braunkohle war schon auf der Versorgungsseite ein wesentlicher struktureller Grund für den überhöhten Primärenergieverbrauch der DDR. Strukturelle Effizienzdefizite der Energieversorgung Insbesondere in harten Winterperioden erwies sich die massive Abhängigkeit von der Nutzung der heimischen Braunkohle als wunder Punkt der DDR-Energieversorgung. Wegen ihres hohen Wassergehaltes (bis über 50 Prozent) fror die Rohkohle bei starkem Frost in den Tagebauen, auf Förderbändern und in Waggons fest. Häufige Unterbrechungen der Versorgung mit Strom, Wärme und Brennstoffen waren die Folge. Gerade in kalten Wintermonaten, wenn besonders viel Energie zur Beheizung von Gebäuden benötigt wurde, mußten immer wieder tausende von Helfern aus der Volksarmee, Verwaltungskräfte und Studenten sowie Hilfskräfte aus der Landwirtschaft und anderen Betrieben mobilisiert werden, um angefrorene Rohbraunkohle freizusprengen, loszuhacken, abzutauen und umzuladen.23 Hinzu kamen die Folgen von Unglücksfallen oder sonstigen technisch bedingten Ausfällen. Auch durch die beachtliche Improvisationskunst der Beschäftigten in den Betrieben konnten nicht alle Probleme selbst behoben werden; besonders schwierig wurde es, wenn größere Reparaturen anfielen und Ersatzteile – vielleicht sogar noch aus dem Ausland – zu beschaffen waren. Dies konnte längere Zeiträume in Anspruch nehmen, da es keine eigenständigen Wartungs- und Reparaturunternehmen für den einheimischen Markt gab, die auf Grundlage eigener Disposition flexible und qualifizierte Angebote zur Behebung der überraschend eingetretenen Berechnungsmodellen ergeben können, wenn sich diese auf hochaggregierte, mit ökonomischen Wertgrößen (Mark der DDR) verbundene oder multiplikativ verknüpfte Daten beziehen. Letzteres ist z. B. bei der Berechnung spezifischer Größen – etwa Effizienzindikatoren – der Fall. 21 Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Energie Daten ’91, Bonn 1992, S. 37. 22 Ziesing, Hans-Joachim: Entwicklung des Energieverbrauchs, S. 59-63. 23 Stinglwagner, Wolfgang: Energiewirtschaft der DDR, S. 43-45.

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Ausfälle hätten anbieten können. Die in der DDR selbst vorhandenen Maschinenund Anlagenbaubetriebe, die für die Übernahme von Wartungs- und Reparaturarbeiten in Frage gekommen wären, waren weitgehend gebunden in zentral vorgegebenen Projekten und Exportverpflichtungen.24 Da auch die verfügbaren Reservekapazitäten z. B. in der Elektrizitätswirtschaft denkbar knapp waren, konnten in Zeiten erhöhten Bedarfs beim Ausfall von Kraftwerksanlagen ganze Regionen über längere Zeiträume ohne Strom bleiben. Wohnungen blieben kalt, weil Fernwärmesysteme, die mit ausgekoppelter Wärme aus großen Kraft- oder Heizkraftwerken arbeiteten, ohne Energienachschub blieben. Nicht nur die alten Kraftwerke der DDR waren immer wieder für solche Versorgungsausfalle verantwortlich. Obwohl z. B. das Braunkohlenkraftwerk Boxberg zu den neueren Kraftwerken der DDR gehörte, erwies sich auch dieses als störanfällig. Im Winter 1980/81 fiel es zeitweise wegen Vereisung wichtiger Aggregate völlig aus. Anfang 1987 wurde ein Block des Kraftwerks durch eine Explosion, die erheblichen Sachschaden verursachte, weitgehend zerstört. Da die Versorgungslücke in der Elektrizitätsversorgung kurzfristig nicht geschlossen werden konnte, erlitten viele Betriebe wegen wochenlangen Stillstands wichtiger Maschinen erhebliche Produktionsausfälle. Die Weiterverarbeitung der Braunkohle in den Brikettfabriken war wegen der starken Überalterung der meisten Anlagen – sie stammten teilweise noch aus der Vorkriegszeit – immer wieder von Ausfällen betroffen. Auch 1989 wurde berichtet, daß es immer wieder zu Produktionseinschränkungen kam, weil Dampfkessel ausfielen, „erhöhtes Brandgeschehen in Brikettfabriken mit Brennstauberzeugung“ eintrat und Pressen sowie Trockner den Dienst versagten.25 Der allgemeine technologische Rückstand des osteuropäischen Maschinenund Anlagenbaus führte im übrigen dazu, daß selbst der mit Investitionsmitteln für DDR-Verhältnisse gut ausgestattete Energiesektor im Vergleich zum internationalen Stand der Technik deutliche Effizienzrückstände aufwies. Insgesamt benötigten die Braunkohlenkraftwerke der DDR rund 20 Prozent mehr Kohle zum Erzeugen einer Kilowattstunde Strom als die westdeutschen Braunkohlenkraftwerke. Die Energie- und Brennstoffindustrie der DDR wies Strukturen auf, die dazu führten, daß dort selbst schon ein erheblicher Teil der verfügbaren Energie wieder verbraucht wurde. Darunter ist die extensive Ausbeutung zahlreicher zum Teil verhältnismäßig kleiner Braunkohlenlagerstätten mit immer schlechterer Ergiebigkeit zu nennen. Da 1989 pro Tonne geförderter Rohbraunkohle 4,52 Kubikmeter Abraum bewegt und 5,55 Kubikmeter Wasser gehoben werden mußten, stieg auch der Energieverbrauch der Tagebaue gegenüber den Vorjahren. Nur vier Jahre vorher – 24 Ziesing, Hans-Joachim, S. 88. 25 Hesselbach, Jochen: Gesamtbilanz Energie 1989 – Wirtschaftsraum DDR, hrsg. vom Institut für Energetik, Leipzig 1990, S. 29. Im Gegensatz zu den immer wiederkehrenden Anlagenausfällen in Betrieben hat die Führungskader der SED im Februar 1988 ein anderer Stromausfall sehr direkt betroffen. Er ereignete sich am 8. Februar 1988 bei einem Treffen des Politbüros mit hohen FDJ-Funktionären. Der Fall wurde so kritisch eingestuft, daß sich am 16. Februar 1988 selbst das ZK der SED damit befaßte (Anhang, Nr. 8).

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also 1985 – hatten sich die entsprechenden Werte noch auf 4,20 bzw. 5,27 Kubikmeter belaufen.26 Auch die energieintensive Herstellung von Karbid aus Braunkohle in Böhlen, die dort in Anlagen aus der Vorkriegs- und Kriegszeit vorgenommen wurde, um diesen Grundstoff vor allem als Ersatz für Erdölprodukte in der chemischen Industrie einzusetzen, trug zu dem hohen Eigenenergieverbrauch des Energiesektors bei. Im Jahre 1980 benötigte die Energie- und Brennstoffindustrie selbst fast 18 Prozent des gesamten in der DDR verfügbaren Stroms. Das waren knapp zwei Prozentpunkte mehr als zwanzig Jahre zuvor. Bis 1989 konnte dieser Anteil nicht nennenswert gesenkt werden.27 Auch die Industrie insgesamt verbrauchte viel elektrischen Strom, so daß für die übrigen Wirtschaftssektoren und den privaten Verbrauch relativ wenig übrigblieb. Zwar gelang es, den Anteil der gesamten Industrie am Stromverbrauch bis 1989 zugunsten anderer Bereiche auf unter 60 Prozent zu reduzieren. Doch gemessen am Stromanteil, den die Industrie in der Bundesrepublik beanspruchte (unter 50 Prozent), war dies immer noch ein hoher Prozentsatz. Probleme der Energieverwendung in Industrie und Verkehrswesen Selbst bei planmäßiger Energieversorgung bedingte der Mangel an Investitionsmitteln in der übrigen Industrie überhöhte Energieverbräuche, die wieder viel von den Bemühungen zunichte machten, die für die Ausweitung und Stabilisierung der Energieversorgung aufgewendet wurden. Es kamen vielfach veraltete Anlagen und Produktionsverfahren zum Einsatz. Daher wurden zahlreiche Produkte mit einem Aufwand an Energie hergestellt, der deutlich über dem Stand der Technik in westlichen Ländern lag.28 Zwar wurden auch hier im Lauf der Zeit Verbesserungen erzielt. Dies geschah aber insgesamt zu langsam, um entscheidend an fortgeschrittene internationale Standards heranzukommen. Ursache dafür waren neben der allgemeinen Knappheit an Investitionsmitteln vor allem Mängel des Planungs- und Leitungssystems der DDR-Wirtschaft. Produktion und Verteilung sehr vieler Güter wurden in naturalen Größen (z. B. Tonnen, Stück) geplant und abgerechnet. Die Preise spielten nur eine untergeordnete Rolle. Um die rationelle Energieverwendung zu fördern, wurden der Industrie sogenannte Energieverbrauchsnormative zentral vorgegeben, die den zulässigen Energieeinsatz für die Produktion eines bestimmten Erzeugnisses festlegten. In einem einzigen Normativ konnten sich 500 bis 1.000 detaillierte Energieverbrauchsnormen niederschlagen. Solche Normative fanden besonders bei energieintensiven Produkten wie z. B. Stahl, Zement, Karbid oder Glas Anwendung. Erst ab 1980 wurde der Lenkung über die Preise größere Bedeutung beigemessen, um der Industrie verstärkt Anreize zum Energiesparen zu vermitteln. Bei Überschreiten der zulässigen Energieverbrauchsmengen wurde den Betrieben das Zehnfache des normalen Preises 26 Ebenda, S. 27. 27 Angaben im Statistischen Jahrbuch der DDR 1989, Berlin, 1989, S. 154. 28 Ziesing, Hans-Joachim: Entwicklung des Energieverbrauchs, S. 62-71.

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berechnet. Da der Gewinn der staatlichen Unternehmen jedoch für das Einkommen und die allgemeine Situation der Beschäftigten bis hinauf zur Betriebsleitung keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielte, konnte auch durch solche Anreize nur wenig zur Verbesserung der Energieeffizienz beigetragen werden. Auch im Verkehrswesen wurde Energie ineffizient verwendet, wie z. B. bei der Bahn. Obwohl Elektroloks erheblich schneller und wirtschaftlicher betrieben werden können, erfolgten noch zu Beginn der achtziger Jahre nur rund 20 Prozent der Eisenbahntransporte mit Elektroloks, dagegen etwa 70 Prozent mit Dieselloks und sogar noch fast 10 Prozent mit Dampfloks. Der Anteil elektrifizierter Strecken am gesamten Streckennetz war lange Zeit sehr niedrig. Er wurde erst im Rahmen eines Sonderprogramms von 12 Prozent im Jahre 1980 auf über 25 Prozent Ende der achtziger Jahre erhöht. Im Jahre 1989 wurden immerhin 52 Prozent der Transporte mit Elektroloks und der Rest mit Dieselloks betrieben.29 In absoluten Größen gemessen, hatte die DDR-Reichsbahn etwa die gleiche Gütermenge zu transportieren wie die Deutsche Bundesbahn. Dabei ging ein erheblicher Anteil der Transporte auf die Rechnung der Braunkohlenindustrie. Allein ein Drittel aller Reichsbahn-Gütertransportkapazitäten wurde zum Transport von Braunkohle benötigt. Dies alles waren Faktoren, die den Energiebedarf im Verkehrssektor aufgrund struktureller Besonderheiten nach oben trieben. Vergleichsweise günstig wirkte sich dagegen der hohe Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel am Personentransport auf den Energieverbrauch aus. Der Bestand an zugelassenen Pkws dagegen belief sich in der DDR 1989 auf knapp 3,9 Millionen. Das waren 235 Pkw je 1.000 Einwohner. In der Bundesrepublik Deutschland hatte man damals bereits einen Bestand von 480 Pkw pro 1.000 Einwohner erreicht. Allerdings lag in der DDR der spezifische Kraftstoffverbrauch der vorhandenen Pkw höher als in der Bundesrepublik Deutschland. Je 100 km benötigten die DDR-Pkw 1980 noch 13,2 Liter (Bundesrepublik: 10,8 Liter). Bis 1989 verringerte sich dieser Abstand durch Modernisierung des DDR-Bestandes. Die Werte beliefen sich auf 11,5 bzw. 10,0 Liter.30 Insgesamt jedoch nahm der Verkehrsbereich in der DDR im Vergleich mit den alten Bundesländern vor allem wegen des relativ niedrigen Anteils des Individualverkehrs einen deutlich geringeren Anteil am Endenergieverbrauch in Anspruch, während – wie bereits ausgeführt – die Industrie einen deutlich größeren Anteil beanspruchte.

29

Ebenda, S. 78; insbesondere Buck, Hannsjörg F.: Rationalisierungsschwerpunkte im DDRVerkehrswesen bis 1985, in: Deutschland Archiv 14 (1981)/5, S. 487-505.

30

Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.): Energie Daten ʼ91, Bonn 1992, S. 37.

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Schaubild 3:

Schaubild 4:

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Schaubild 5:

Kernenergie als Hoffnungsträger Die Verschwendung von Energie trat vor allem im Verbrauch der privaten Haushalte für die Wohnraumheizung sichtbar zutage. Die Beheizung von Wohnungen wurde in der DDR als Bestandteil der sozialen Grundversorgung angesehen. In der Regel waren deshalb die Heizkosten Bestandteil der Miete. Ausreichende Meßeinrichtungen zur Erfassung des Wärmeenergieverbrauchs der einzelnen Wohnungseinheiten bei Zentralheizungssystemen waren nicht installiert. Für den einzelnen Mieter bestand damit besonders bei solchen Heizungssystemen keinerlei Anreiz zum Energiesparen. Oftmals war eine ausreichende Regelung der Wärmeabgabe der Heizkörper wegen des Fehlens geeigneter Ventile kaum möglich. Überheizung der Räume und gegebenenfalls Anpassung der Temperatur durch gelegentliches Öffnen der Fenster war somit ein weitverbreitetes Phänomen. Daneben trug die mangelhafte Wärmedämmung sowohl bei Alt- als auch bei Neubauten erheblich zu Energieverlusten im Heizungsbereich bei. Insbesondere die Wärmeverluste der sogenannten „Plattenbauten“ in den Neubauvierteln der DDR waren aufgrund der mangelhaften Bausubstanz hoch. Viel Wärme entwich durch schlecht gedämmte Außenwände, undichte Fugen zwischen den Platten und fehlerhafte Fenster. Immerhin 24,1 Prozent sämtlicher Wohnungen waren 1989 an Fernheizungssysteme angeschlossen. Diese wurden in der Regel von braunkohlegefeuerten Heizund Heizkraftwerken gespeist, in einigen Fällen aber auch durch ausgekoppelte Abwärme aus großen Kohlekraftwerken. Ein nennenswerter Teil der in den neueren

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Wohngebieten verschwendeten Heizenergie stammte somit aus energetisch rationell gewonnener Kraft-Wärme-Kopplung. Doch wegen des überhöhten Energieverbrauchs im Gebäudebereich wurden diese Teilerfolge, die auf der Seite der Wärmeversorgung besonders für Neubauviertel erzielt wurden, wieder verschenkt. Weiterhin insgesamt ungünstig auf die Effizienz der Wohnungsheizungen wirkte sich der hohe Anteil von Wohnungen aus, die mit kohlebefeuerten Einzelöfen beheizt wurden. Noch im Jahr 1989 waren dies fast 50 Prozent aller Wohnungen. 1980 hatte sich dieser Anteil sogar noch auf knapp 70 Prozent belaufen.31 Es entsprach der energiepolitischen Linie der DDR-Führung, bei der Gebäudebeheizung weitestgehend auf den Einsatz von Heizöl zu verzichten. Deshalb waren besonders zu Beginn der achtziger Jahre bereits vorhandene Ölheizungen wieder auf den wesentlich ineffizienteren und umweltbelastenden Einsatz von Braunkohlenbriketts umgestellt worden. Selbst bei Ein- und Zweifamilienhäusern mit Zentralheizungen dominierte diese Beheizungsart: Rund 70 Prozent aller nach 1965 errichteten Ein- und Zweifamilienhäuser waren im Jahre 1989 mit BraunkohlenbrikettZentralheizungen ausgestattet.32 Darüber hinaus gab es im Wohnungsbereich Gasheizungen und einen – allerdings sehr geringen – Anteil von Elektroheizungen. Nicht selten verursachten Engpässe in der Brikettversorgung Probleme. Dann mußte besonders in Zentralheizungsanlagen größerer Gebäudekomplexe auch Rohbraunkohle verfeuert werden. Dies brachte nicht nur Umstellungs- und Bedienungsprobleme für die Feuerungsanlagen selbst mit sich, sondern verursachte wegen des geringen Heizwerts der Rohbraunkohle auch zusätzliche Umweltbelastungen.33 Die Wärmeversorgung der Wohnungen schlug in der Endenergiebilanz der DDR spürbar zu Buche. Sie machte 1989 immerhin rund 70 Prozent der Energielieferungen an die Bevölkerung aus. Da die Energiepreise für den privaten Verbrauch – mit Ausnahme des Kraftstoffs für Pkw – subventioniert wurden, um sie auf dem Niveau des Jahres 1964 zu halten, stiegen die Aufwendungen für den Staatshaushalt entsprechend an. Im Jahr 1989 belief sich der Subventionsaufwand für den privaten Verbrauch der 6,9 Millionen Haushalte auf 8,4 Mrd. Mark. Davon entfiel der größte Anteil – nämlich 5,4 Mrd. Mark – auf die Aufwendungen zur Verbilligung der Raumheizung. Für die Wohnungen mit Fernwärme und zentraler Warmwasserversorgung wurden davon 3,1 Mrd. Mark ausgegeben. Auf jede Wohnung entfielen jährliche Heizungskosten von etwa 2.370 Mark. Davon mußte jedoch nur ein Anteil von 17 Prozent von den Mietern bezahlt werden. Der Hauptteil

31 Ziesing, Hans-Joachim: Entwicklung des Energieverbrauchs, S. 80. 32 Trautenhahn, Frank: Energielieferungen an die Bevölkerung – Entwicklungen und wesentliche Einflüsse, in: Energieanwendung 38 (1989)/5, S. 172. 33 Wie aus Dokumenten des Büros Mittag hervorgeht, hatten auch die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte ihre Probleme mit der Umstellung der Gebäudeheizungen auf Rohbraunkohle.

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der Finanzlast – also 83 Prozent – wurde durch Subventionen aus dem Staatshaushalt getragen.34 Das entsprach immerhin rund 2 Prozent der ausgewiesenen Staatsausgaben. Diese Zahlen veranschaulichen, welch hohen Stellenwert die DDR-Führung der Zielsetzung des Wohnungsbauprogramms einräumte, die Bürger auf Basis öffentlicher Mittel mit genügend Wohnraum zu versorgen, und dies „warm und trocken“. Die finanziellen und energiepolitischen Folgen dieser – übrigens im damaligen Osteuropa üblichen – als sozialpolitische Errungenschaft betrachteten Strategie waren freilich sehr problematisch. Unter diesen Umständen gab es für die Menschen in ihren Wohnungen keinen Anreiz zur Einsparung von Energie. Dies galt im übrigen nicht nur für die Wohnraumheizung, sondern auch für den Stromverbrauch der privaten Haushalte; hier wurde der Tarif durch Subventionen auf das Niveau von etwa 9 Pf/kWh gedrückt.35 Es verwundert deshalb nicht, daß 1987 sehr offen in einer DDR-Fachzeitschrift festgestellt wurde, es seien „die Möglichkeiten, auf den Elektroenergieverbrauch der Haushalte einzuwirken, relativ gering“.36 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es in der gesamten Kette der Energieversorgung der DDR – von der Produktion bzw. Erzeugung über die Verteilung bis hin zur Energieanwendung in Industrie, Verkehrswesen und privaten Haushalten – zahlreiche strukturelle und systembedingte Faktoren gab, die einen ineffizienten Einsatz von Energie verursachten. Generell ist dabei besonders ein Faktor festzustellen, der sich auf alle Bereiche der Energiewirtschaft auswirkte: Die Energieversorgung wurde bis zum Ende der DDR-Existenz zentral von höchsten Staatsbehörden aus geplant und vorgegeben. Selbst qualitative Merkmale der Energieanwendung – insbesondere Kennziffern der Effizienz – waren Gegenstand zentraler Planvorgaben. In diesem System kamen nachfrageseitige Impulse, die bei marktwirtschaftlicher Organisation der Verteilung knapper Ressourcen nicht wegzudenken sind, nicht zum Zuge. Dementsprechend erfolgte der Einsatz von Energieträgern sehr unrationell. Es blieb bis zuletzt ein Kennzeichen der DDR-Energiewirtschaft, daß trotz hoher gesamtwirtschaftlicher Aufwendungen für den Energiesektor immer wieder empfindliche Versorgungslücken auftraten, während es gleichzeitig Bereiche gab, in denen massiv Energie verschwendet wurde. Die damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Kosten bzw. Verluste dürften erheblich gewesen sein, auch wenn sie nicht quantitativ geschätzt werden können. Allerdings liegt die Vermutung nahe, daß durch flexiblere Märkte für den Endverbrauch – die eine realistischere Preisbildung vorausgesetzt und gleichzeitig auch ermöglicht hätten – und damit verbundene, gezielte, an den Kostenrelationen orientierte Investitionen zugunsten einer effizienteren Energieverwendung ein erheblicher Teil der genannten volkswirtschaftlichen Verluste hätte vermieden werden

34 Weisheimer, Martin: Preise und Subventionen im Energiesektor der DDR. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 40 (1990)-9, S. 630 f. 35 Ebenda, S. 631. 36 Genest, G.: Wie wird der Elektroenergiebedarf der Bevölkerung gedeckt? In: Elektropraktiker 41 (1987)-5, S. 133.

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können. Durch Maßnahmen wie verbesserten Schutz der Gebäude gegen Wärmeverluste, realistischere Energiepreise für private Verbraucher oder flexiblere, stärker kostenorientierte Zuteilungsmechanismen von Energie für Industriebetriebe hätte wahrscheinlich der Neuaufschluß so manchen Braunkohlentagebaus und der Bau so manchen Kraftwerks eingespart werden können. Nicht zuletzt hätten damit auch die umfangreichen Umweltbelastungen, die der Energiesektor der DDR verursachte, reduziert werden können. 5. Ökologische Folgen und Risiken In den achtziger Jahren gab es vor allem zwei Faktoren, die zur allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Erreichten und Geplanten in der DDR-Energiewirtschaft aus ökologischer Sicht beitrugen. Zum einen waren es die Folgen der extensiven Braunkohlenutzung. Diese waren nicht nur für Experten sichtbar, sondern prägten das Leben großer Bevölkerungsteile und ganzer Regionen. Hinzu kam – insbesondere nach dem Unfall von Tschernobyl – das auch in der DDR wachsende Bewußtsein für die Risiken der Kernenergienutzung. Beide Faktoren trugen nicht unerheblich zum Entstehen einer kritischen Bürgerbewegung bei. Umweltbelastungen durch die Braunkohlenutzung Für die Erschließung der Tagebaue wurden in den achtziger Jahren jährlich 30 bis 40 km2 Fläche in Anspruch genommen. Dafür mußten in großer Zahl Siedlungen, Straßen und Eisenbahnlinien, Betriebe und Flüsse verlagert bzw. umgeleitet werden. Die devastierten Flächen nach Auskohlung der Tagebaue weiteten sich ständig aus, weil die zur Nutzung für Land- und Forstwirtschaft sowie als rekultivierte Wasserfläche zurückgegebenen Flächen seit Jahrzehnten kleiner waren als die jeweils neu in Anspruch genommenen Flächen. Insgesamt wurden in den achtziger Jahren rund 360 km2 für den Braunkohlentagebau anderen Nutzungen entzogen. Die Summe der zurückgegebenen Flächen belief sich im gleichen Zeitraum nur auf etwa 210 km2. Wegen der im Umkreis von bis zu drei Kilometern Entfernung vom offenen Tagebaubereich erforderlichen Absenkungen des Grundwasserspiegels ergaben sich erhebliche wasserwirtschaftliche Probleme.37 Soweit Flächen für die landwirtschaftliche Nutzung wieder zurückgegeben wurden, erreichte deren Fruchtbarkeit häufig nicht mehr das vor dem Aufschluß gegebene Niveau. Ganze Landschaften veränderten infolge der Ausdehnung der Tagebaue ihr Gesicht. Bis Ende der achtziger Jahre wurden über 120 Ortschaften und 75 Ortsteile verlegt. Davon waren insgesamt über 60.000 Menschen betroffen.38 37 Berkner, Andreas: Braunkohlenbergbau, Landschaftsdynamik und territoriale Folgewirkungen in der DDR, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 31 (1989)-3, S. 179-183. 38 Ebenda, S. 181, insbesondere auch Buck, Hannsjörg F.: Umweltpolitik und Umweltbelastung, in: Kuhrt, Eberhard / Buck, Hannsjörg F. / Holzweißig, Gunter (hrsg. im Auftrag des Bundesministeriums des Innern): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, S. 223-266. Eine übersichtliche, straffe Gesamtschau der Anforderungen und

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Die langfristigen Planungen, die bis Ende der achtziger Jahre ausgearbeitet worden waren, gingen von einer konsequenten Fortsetzung der energiepolitischen Orientierung auf die Nutzung heimischer Braunkohle aus. Bis zum Jahre 2020 sollte die in Anspruch genommene Fläche nochmals verdoppelt werden, um schließlich bis zum Jahre 2050 insgesamt rund 3.000 km2 auszumachen. Dies hätte etwa 3 Prozent der Wirtschaftsfläche der DDR entsprochen. Besonders in den Bezirken Cottbus und Leipzig waren Tagebauerweiterungen vorgesehen. Doch auch in den Bezirken Magdeburg, Frankfurt und Dresden sollten neue Kapazitäten aufgeschlossen werden. Die Verwirklichung dieser Planungen hätte bis zum Jahre 2030 die Verlagerung von mindestens 400 weiteren Siedlungen und Ortsteilen mit 70.000 bis 90.000 Einwohnern erforderlich gemacht.39 · Mindestens ebenso bedenklich war die durch die Energiewirtschaft der DDR 1 39 verursachte Luftverschmutzung. Bis Ende der achtziger Jahre war kein einziges der in der DDR installierten Großkraftwerke mit Entschwefelungs- oder Entstikkungsanlagen ausgerüstet. Eine Versuchsanlage zur Rauchgasentschwefelung, die im Kraftwerk Vockerode installiert war und nach dem Kalksteinadditivverfahren arbeitete, erreichte keine praktische Bedeutung. Darüber hinaus waren die meisten Entstaubungsanlagen der Energiewirtschaft technisch veraltet. 10 Prozent der vorhandenen Dampferzeugerkapazitäten waren überhaupt nicht entstaubt, darunter die Kraftwerke Plessa, Schwarzheide und Finkenheerd.40 Wie ein im Jahre 1990 veröffentlichtes Beispiel zeigt, war der wirtschaftliche Druck zum Betrieb extrem umweltbelastender Anlagen auch dann noch sehr groß, als das öffentliche Bewußtsein für die damit verbundene Problematik aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse in der späten DDR bereits erheblich geschärft war. Zwei Mitglieder der Arbeitsgruppe Umweltschutz des Neuen Forums in Senftenberg kritisierten damals in einem offenen Brief an die Lausitzer Rundschau die Tatsache, daß in der Brikettfabrik Brieske immer noch eine extrem umweltbelastende veraltete Trocknungsanlage für Brikettierkohle in Betrieb war: „Von uns wurden folgende Jahresemissionen auf Grundlage der Angaben des BKK Senftenberg errechnet: Phenol etwa 3,8 t, Benzen etwa 10,4 t, Toluen etwa 14,4 t, Schwefelwasserstoff etwa 51,4 t, Staub etwa 1.270 t. Trotz dieser bedenklichen Werte […] ist das BKK nicht bereit, diese Anlage stillzulegen“.41 Mit jährlichen Emissionen von über 300 kg Schwefeldioxid (SO2) pro Einwohner und fast 50 t SO2 pro km2 nahm die DDR Mitte der achtziger Jahre eine traurige internationale Spitzenstellung ein. Hauptverursacher auch bei anderen umweltbelastenden Emissionen war die Energiewirtschaft. Nach DDR-Untersuchungen

Leistungen zur Sanierung der Bergbaufolgeschäden in den Braunkohle- und Uranrevieren bietet der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1998, Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 13/10823, S. 69-71. 39 Ebenda, S. 184 f. 40 Bundesministerium für Umwelt (Hrsg.): Eckwerte der ökologischen Sanierung und Entwicklung in den neuen Ländern, Bonn 1991, S. 16. 41 Lausitzer Rundschau v. 22. Januar 1990, S. 3.

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stammten Ende der achtziger Jahre von allen im DDR-Gebiet verursachten Emissionen allein aus den braunkohlebefeuerten Kraft- und Heizkraftwerken 51 Prozent des Schwefeldioxids, 39 Prozent des Kohlendioxids, 27 Prozent der Stickoxide und 34 Prozent des Staubes.42 Die Gesamtmenge des allein von den Kraftwerken emittierten Schwefeldioxids belief sich damit auf rund 2,5 Mio. t pro Jahr. Insgesamt emittierten die Energieerzeugungsanlagen der DDR im Jahre 1989 4,2 Mio. t SO2, 1,1 Mio. t Staub und 0,3 Mio. t Stickstoffoxide. Die Schadstoffkonzentration erreichte damit im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland das 11,5fache bei SO2 und das 8-fache bei Staub.43 Nennenswert beteiligt an der Luftbelastung war auch der bereits erwähnte hohe Anteil von Wohnungen, die mit Braunkohlenbriketts beheizt wurden. Diese 4,5 Mio. Wohnungen verursachten durch ihre Heizung im Jahre 1989 Emissionen von 343.000 t SO2, 146.000 t Staub und 6.200 t Stickstoffoxid. Von den gesamten CO2-Emissionen der DDR in Höhe von rund 297 Mio. t waren im Jahre 1989 fast 80 Prozent durch den Einsatz von Braunkohle bedingt. Durch häufige Smogsituationen vor allem in den Industriegebieten Zeitz / Weißenfels / Merseburg, Leipzig / Borna / Altenburg, Erfurt / Weimar und Zwickau / Glauchau / Meerane sowie in den Städten Chemnitz und Berlin bewirkte die Energiewirtschaft insbesondere zusammen mit den Betrieben der chemischen Industrie erhebliche gesundheitliche Belastungen der Bevölkerung. Mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit wurden auch etliche der bis dahin streng von den DDR-Verantwortlichen unter Verschluß gehaltenen statistischen Daten über die Folgen dieser Schadstoffbelastungen bekannt. Insbesondere im Raum Espenhain / Böhlen / Rositz – einem Schwerpunkt der DDR-Energiewirtschaft unter Einschluß der Kohlechemie – lag eine signifikant hohe Belastung der Bevölkerung mit Atemwegserkrankungen vor. Auch andere Regionen waren von solchen Erscheinungen betroffen. Schon zu DDR-Zeiten offener erkennbar waren die durch die Luftbelastungen verursachten Waldschäden. Wie Berechnungen aus dem Jahre 1990 ergaben, lag mit 35,9 Prozent deutlichen Schäden im Gebiet der neuen Länder ein mehr als doppelt so hohes Waldschadensniveau vor wie im übrigen Bundesgebiet.44 Dabei war gegen Ende der achtziger Jahre noch eine Verschlechterung der Situation eingetreten. Allein im Zeitraum von 1988 bis 1989 war nach Schätzungen von DDR-Stellen eine Zunahme der Waldschäden um rund 10 Prozent zu verzeichnen. Besonders stark betroffen waren neben Berlin die Bezirke Magdeburg, Cottbus und Dresden.45 Wie brisant die Luftbelastung in Ballungsgebieten von der DDR-Führung selbst eingeschätzt wurde, geht aus internen, streng unter Verschluß gehaltenen Berichten hervor. So heißt es in einer als „persönlich“ eingestuften vertraulichen Information des DDR-Umweltministers Reichelt an Günter Mittag vom April 1987, 42 Weisheimer, Martin: Was kostet uns der Strom wirklich? In: Berliner Zeitung v. 4.1.1991, S. 5. 43 Bundesministerium für Umwelt, S. 15. 44 Ebenda, S. 17. 45 Fege, B. / Göbel, M. / Jung, H.-U. (Hrsg.): Regionalreport DDR 1990, Berlin / Hannover 1990, S. 70 f.

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infolge der Umstellung vieler Energieanlagen auf Braunkohle sei die Luftbelastung in Berlin seit Anfang der achtziger Jahre wieder gestiegen: „Die Luftbelastung der Hauptstadt Berlin liegt etwa doppelt so hoch wie in Paris und London, gegenüber New York und Tokio beträgt sie mehr als das Dreifache. Diese Situation wird bis 1990 nicht verändert, eher ist ein noch deutlicherer Abstand zu anderen Großstädten zu erwarten“. Zur gesundheitlichen Belastung der Bevölkerung wird dabei angemerkt: „Das hohe Ausmaß der Belastung führt bei diesen Lagen zur Beeinträchtigung der Gesundheit, insbesondere von Herz-Kreislauf- und Atemwegerkrankten, Kleinstkindern und älteren Bürgern“. Hinsichtlich der ökologischen Folgewirkungen stellte es für die belasteten Regionen der DDR durchaus einen positiven Effekt dar, als die Braunkohlenproduktion nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion im Jahre 1990 infolge des Rückgangs der Industrieproduktion und der damit verbundenen Abnahme des Stromverbrauches deutlich zurückgefahren werden konnte. Die Förderung von Rohbraunkohle ging von über 300 Mio. t im Jahre 1989 zunächst auf unter 250 Mio. t im Jahre 1990 zurück. Risiken der Kernenergie Die Sicherheitsstandards der Kernreaktoren sowjetischer Bauart, mit denen das KKW Nord ausgestattet war, blieben hinter westlichen Sicherheitsstandards deutlich zurück.46 Es gab Sicherheitsmängel hinsichtlich der Beherrschung großer Leckstörfälle des Kühlsystems. Die im Westen übliche Installierung mehrfach redundanter Sicherheitssysteme wurde erst bei den später entwickelten WWER-440und WWER-1.000-Reaktoren vorgenommen. Der Schutz gegen externe Einwirkungen, wie z. B. einen Flugzeugabsturz auf ein Kraftwerk, war nicht ausreichend gewährleistet, da die Reaktorblöcke ohne entsprechendes Stahlcontainment ausgerüstet waren. Spezielle Stahlverbundzellen, die den Reaktorblock umgaben, konnten keinen adäquaten Schutz bieten.47 Typische, zum Teil auch bei den WWER1.000-Reaktoren auftretende Probleme waren darüber hinaus – wie spätere Untersuchungen der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO ergaben48 – Versprödungen der Reaktordruckbehälter, Schwierigkeiten beim Nachweis des sogenannten Leck-vor-Bruch-Verhaltens, Mängel bei der Dampferzeugerintegrität, unzureichende Komponentenqualitäten und Lücken in der Betriebssicherheit. Wenn auch Details darüber erst nach 1990 öffentlich bekannt wurden, so waren doch einzelne Folgen und Risiken des Betriebs der DDR-Kernkraftwerke schon vorher kein Geheimnis mehr. Das Kühlwasser aus dem KKW Nord hatte den Greifswalder Bodden seit seiner Inbetriebnahme im Jahre 1973 bis 1990 um immerhin 3 Grad aufgeheizt. Allein im Jahre 1988 wurden dem Vernehmen nach 46 Höhn, Joachim / Niehaus, Friedrich: Die Sicherheit von Kernkraftwerken in Osteuropa, in: Atomwirtschaft 42 (1997)/5, S. 307-313. 47 Stinglwagner, Wolfgang: Energiewirtschaft der DDR, S. 68-72. 48 Höhn, Joachim / Niehaus, Friedrich: Sicherheit von Kernkraftwerken, S. 308 f.

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160.000 Kubikmeter kontaminiertes Abwasser in die Ostsee abgelassen. Die Zahl der Störfälle, die allerdings strengstens vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wurden, war beachtlich.49 In der Öffentlichkeit allerdings wurde davon aufgrund der auferlegten Geheimhaltung vor 1990 kaum etwas bekannt. Erst damals erhielten die DDR-Umweltinitiativen detailliertere Informationen über die Sicherheitslage in den Kernkraftwerken und diskutierten dies z. B. am Zentralen Runden Tisch.50 Die DDR-Führung, der die Störfallstatistik wohl kaum unbekannt war, stellte mögliche Bedenken hinter wirtschaftlichen Überlegungen zurück. Bis zuletzt wurden große Hoffnungen auf die Kernenergie gesetzt, obwohl sich diese Hoffnungen angesichts der Probleme beim weiteren Ausbau der Kernkraftwerkskapazitäten immer mehr als trügerisch erwiesen. Der Entschluß, das KKW Nord im Sommer 1990 stillzulegen und die Nutzung der Kernenergie in Ostdeutschland zu beenden, war weniger auf etwaigen Widerstand in der Bevölkerung zurückzuführen als vielmehr auf die Unmöglichkeit, die bestehenden Reaktoren unter wirtschaftlichen Bedingungen durch technische Nachrüstung an das westliche Sicherheitsniveau anzupassen. Schlußbemerkung: Bereits zu Beginn der achtziger Jahre war absehbar, daß die DDR-Führung mit der Flucht in eine autarkieorientierte energiepolitische Strategie und mit der Konzentration von Investitionsmitteln auf Projekte zur Erweiterung des heimischen Energieangebots in eine Sackgasse geriet. In diesem Sinne verschaffte die Braunkohle der DDR-Wirtschaft nur eine „energiepolitische Galgenfrist“.51 Gerade die ökologischen Folgen der massiven Braunkohlenutzung und die in allen Bereichen der DDR-Wirtschaft bestehende Verschwendung von Energieressourcen hätten selbst bei unveränderten politischen Verhältnissen – d. h. bei Weiterbestehen der DDR – auf Dauer nicht ignoriert werden können. Die unterbliebene Modernisierung insbesondere im Bereich des Energieverbrauchs konnte nicht durch die Ausweitung des heimischen Energieangebots kompensiert werden. Im Gegenteil: Die Volkswirtschaft der DDR erlitt dadurch massive Verluste, die sich auf die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit insgesamt negativ auswirkten. Aus heutiger Sicht ist deshalb auch zu vermuten, daß die zu Beginn der achtziger Jahre vorgenommene Entscheidung zugunsten einer verstärkten Ausweitung der einheimischen Braunkohlenutzung ein nicht unwesentlicher Faktor für die schwierige gesamtwirtschaftliche Entwicklung der DDR in den achtziger Jahren war. Zugleich wird auch sichtbar, daß die Wirtschaftskraft DDR erheblich durch 49 Horlamus, Wolfgang: Kernenergiewirtschaft der DDR, S. 41-45. Sehr gering war darüber hinaus auch die Kenntnis der DDR-Öffentlichkeit über die Folgeschäden, die der ostdeutsche Uranbergbau hinterlassen hatte. Mager, Diethard: Wismut – die letzten Tage des ostdeutschen Uranbergbaus, in: Kuhrt / Buck / Holzweißig, S. 267-282. 50 In einem Papier des Zentralen Runden Tisches vom Mai 1990 heißt es dazu in der zusammenfassenden Bewertung: „Unsere Untersuchungen haben ergeben, daß bei den Kernkraftwerken Greifswald, Block 1 bis 4, sowohl im Werkstoffbereich wie im Bereich der Systemtechnik erhebliche Sicherheitsdefizite bestehen. Deshalb ist ein sicherer Weiterbetrieb, der schwere Unfälle ausschließt, nicht möglich“. Hirsch, Helmut u. a.: Beurteilung des Zustands der Blöcke 1 bis 4 des KKW „Bruno Leuschner“ bei Greifswald (DDR), Berlin, Mai 1990, S. I-1. 51 Stinglwagner, Wolfgang: Die Energiewirtschaft der DDR, S. 198-200.

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die Unzulänglichkeiten des osteuropäischen Wirtschaftsverbundes eingeschränkt war. Schließlich lag in der letztlich politisch bedingten fehlenden außenwirtschaftlichen Flexibilität ein wesentlicher Grund für die Entscheidung der Wirtschaftsführung, ab Beginn der achtziger Jahre noch stärker auf die Nutzung der heimischen Braunkohle zu setzen. Auch wenn es aufgrund der Komplexität der Materie nicht durch Modellrechnungen belegt werden kann, so spricht dennoch viel dafür, daß es für die Entwicklung der Energiewirtschaft weitaus günstiger gewesen wäre, einen nennenswerten Teil der Mittel, die für Investitionen zum Ausbau der Braunkohlenförderung eingesetzt wurden, in neue energiesparende Technologien und Ausrüstungen im Bereich des Energieverbrauchs zu investieren. Ob sich diese Alternative unter den damaligen politischen Verhältnissen wirklich ernsthaft geboten hat, kann allerdings im nachhinein kaum festgestellt werden. Noch zu Beginn des Jahres 1990 entwickelte die nach den Wahlen von 1989 etablierte letzte DDR-Regierung ein neues Energiekonzept, in dessen Zentrum drastische Energieeinsparung, die Stillegung alter Braunkohlenkraftwerke, der Bau neuer Kraftwerke auf der Basis von Erdgas, Steinkohle und Kernenergie und umfassende Maßnahmen zur Verringerung der Umweltbelastungen stehen sollten.52 Dieses Konzept hatte allerdings mindestens zwei Haken: Erstens sollte es etwa 100 Mrd. Mark kosten. Und zweitens kam es für die DDR als Staat zu spät.

52 Angaben des stellvertretenden Ministers für Schwerindustrie, Karl-Hermann Steinberg, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8.2.1990, S. 15.

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Berlin-Köpenick. – Lieferung von Braunkohlebriketts, Transport mit Kiepe Fotograf: Richter, Irene & Wolfgang, 1987 Bundesarchiv Bild 183-1987-0203-408.

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Boxberg, Braunkohlekraftwerk Fotograf: Matthias Hickel, 1990 Bundesarchiv Bild 183-1990-0924-013.

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Lausitzer Tagebau Fotograf: Rainer Weisflog, 1989 Bundesarchiv Bild 183-1989-1127-019.

Bezirk Cottbus, Tagebau-Rekultivierung Fotograf: Rainer Weisflog, 1984 Bundesarchiv Bild 183-1984-0830-009.

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XIV. In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR konnte nie das produziert werden, was der Konsument sich wünschte 1. Konsumentensouveränität in der Marktwirtschaft Der nordamerikanische Ökonom James Buchanan Jr., dem 1987 der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften zuerkannt wurde, hielt 1999 anläßlich des 100. Geburtstages von Friedrich A. von Hayek einen sehr bemerkenswerten Vortrag zum Thema „Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus“.1 Buchanans innovativer Beitrag beschäftigte sich mit dem Bruch in der Verbindung zwischen Produktion und Konsum im Sozialismus und den Folgen davon bei kollektiver Produktion, gemeinsamem Konsum und autoritärer Produktion in einer komplexen Ökonomie. Buchanan setzt bei seinem Vorgehen gute Kenntnisse beim Werden der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie im historischen Prozeß voraus,2 die hier skizziert werden, damit die Relevanz des Buchananʼschen Forschungsansatzes auch als Methode bei der Erforschung des realen Sozialismus der DDR nutzbar gemacht werden kann. Der Begründer der klassischen Nationalökonomie Adam Smith konstatierte 1776 in seinem Werk „An Inquiry into the Nature and the Laws of the Wealth of Nations“: „Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen des Produzenten eigentlich nur soweit betrachten, wie es erforderlich sein mag, um das Wohl des Konsumenten zu fördern. Diese Maxime leuchtet ohne weiteres ein, so daß es töricht wäre, sie noch beweisen zu wollen“.3 Auch der Begründer der „österreichischen Schule“ Carl Menger (1840-1921) sah es so: „Aus unserer bisherigen Darstellung geht aber hervor, dass der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seiner Gewalt über die Mittel zur Befriedigung derselben der Ausgangspunkt und Zielpunkt aller menschlichen Wirtschaft ist. Der Mensch empfindet zunächst Bedürfnisse nach Gütern erster Ordnung und macht diejenigen, deren ihm verfügbare Menge geringer ist als sein Bedarf, zu Gegenständen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, zu wirtschaftlichen Gütern, während er die übrigen in den Kreis seiner ökonomischen Thätigkeit einzubeziehen keine practische Veranlassung findet. Später führen Nachdenken und Erfahrung die Menschen zu immer tieferer Erkenntniss des ursächlichen Zusammenhanges der

1

Buchanan, James M.: Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus, in. Vanberg, Viktor (Hrsg.): Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung. Hommage zum 100. Geburtstag von Friedrich A. v. Hayek, 1999, S. 171-200.

2

Schneider, Erich: Einführung in die Wirtschaftstheorie, IV. Teil. Ausgewählte Kapitel der Geschichte der Wirtschaftstheorie, 1. Bd., 1962, S. III.

3

Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1974, S. 558.

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Dinge und zumal des Zusammenhanges derselben mit ihrer Wohlfahrt, und sie lernen die Güter zweiter, dritter und höherer Ordnung kennen“.4 „Erst mit der subjektiven Wertlehre, die zur Erklärung des Tauschwertes eines Gutes auch seinen Gebrauchswert heranzog, erlangt der Konsum eine der Produktion ebenbürtige Rolle in der Analyse des Wirtschaftsgeschehens. Diese Idee, bereits von C. Ellet und J. Dupuit aufgezeigt und von H. H. Gossen unabhängig von diesen beiden Arbeiten durch die Gesetze des abnehmenden Grenznutzens und des Genußausgleichs zu einem in sich geschlossenen System der Wertbestimmung entwickelt, wird später beinahe gleichzeitig von C. Menger, W. St. Jevons und L. Walras wiederentdeckt und zur Grundlage einer allgemeinen Theorie rationaler Konsumentscheidungen gemacht, die später Ausgangspunkt zahlreicher ökonometrischer Studien zur Konsumnachfrage spezieller Güter ist (z. B. H. Moore; H. Schultz; H. Wold)“.5 Hans Mayer (1879-1955) kann als „Erbwalter der Wiener Schule angesehen werden, der das methodische Vorgehen ihrer Gründer vorbehaltlos verteidigte und selbst inhaltlich zur Abrundung der Theorie beitrug“.6 Mayer argumentierte so wie vor ihm A. Smith und Carl Menger: „Die Produktion ist ja nur Mittel zum Zwecke der Ermöglichung der Bedürfnisbefriedigung und damit der Konsumtion, sie steht selbst ausschließlich im Dienste der Bedürfnisbefriedigung, ist in Ausmaß und Art durch die erstrebte Bedürfnisbefriedigung bedingt und kann daher nicht ihrerseits Bestimmungsgrund für die jeweilige Konsumtion sein. … Die Wirkungen der Konsumtion. Die einzige unmittelbar wirtschaftliche, aber als solche die ganze Wirtschaft bestimmende Wirkung der Konsumtion liegt in ihrem Einfluß auf die Produktion. Da jede Konsumtion Verminderung der verfügbaren Menge von Bedürfnisbefriedigungsmitteln bedeutet, zieht sie, wenn der letzte Zweck der Wirtschaft d. i. Bedürfnisbefriedigung auch für die Zukunft gesichert sein soll, die Notwendigkeit der Wiederbeschaffung des Verbrauchten, die auf die Dauer nur durch Produktion erfolgen kann, nach sich. Die Produktion steht demnach vollständig im Dienste der Konsumtion“.7 Ludwig von Mises stand in der Tradition von Smith und Menger: „In der Marktwirtschaft muss sich alle Produktion nach den Wünschen der Verbraucher richten. Entspricht sie nicht den Anforderungen, die der Konsument stellt, dann wird sie unrentabel. Es ist also dafür gesorgt, daß die Erzeuger sich nach dem Willen der Verbraucher richten, und daß die Produktionsmittel aus der Hand jener, die nicht gewillt oder befähigt sind, das zu leisten, was die Verbraucher von ihnen fordern, in die Hände jener übergehen, die besser imstande sind, die Erzeu-

4

Menger, Carl: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1871, S.69 f.

5

König, Heinz: Konsumfunktionen, in: HdWW, 4. Bd., 1988, S. 513.

6

Brandt, Karl: Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre, Bd. 2: Vom Historismus bis zur Neoklassik, Freiburg 1993, S. 320 f.

7

Mayer, Hans: Konsumtion, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 5. Bd., 1923, S. 868 f., 870.

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gung zu leiten. Der Herr der Produktion ist der Konsument. Die Volkswirtschaft ist, unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, eine Demokratie, in der jeder Pfennig einen Stimmzettel darstellt. Sie ist eine Demokratie mit jederzeit widerruflichem imperativem Mandat der Beauftragten. In der makroökonomischen Lehre der liberalen Theorie wurden die grundlegenden wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse, die mit Adam Smith 1776 begannen, fortgeführt. „Das zentrale Anliegen der liberalen Markttheorie ist es, die Wohlfahrtsvorteile des Lenkungs- bzw. Allokationsmechanismus des Marktes aufzuzeigen. Dabei geht man vereinfachend von folgenden Prämissen aus: Erstens: Die Wirtschaftssubjekte arbeiten unter marktwirtschaftlichen Bedingungen und sind vorwiegend Privateigentümer der Produktionsmittel. Zweitens: In der Volkswirtschaft handeln zwei Arten von Wirtschaftssubjekten. Die einen sind die privaten Haushalte, die Arbeitskräfte und Kapitalmittel in Form von Ersparnissen und Konsumgüter nachfragen. Die anderen sind die Unternehmen, die Arbeitskräfte und Geldkapital für Investitionszwecke nachfragen und Konsum- und Investitionsgüter produzieren und anbieten. Beide handeln rational, d. h. die privaten Haushalte streben nach Nutzen- und die Unternehmen nach Gewinnmaximierung“.8 Nach Gary S. Becker „bietet der ökonomische Ansatz einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Analyse menschlichen Handelns, wie ihn Bentham, Comte, Marx und andere seit langem gesucht, aber verfehlt haben“.9 Das „Streben nach Wohlstand“ wurde in allen natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften unterdrückt, was zum Bruch der Arbeitsmoral und damit zu sinkender Arbeitsproduktivität führte. „Ohne eine angemessene Konsummöglichkeit ziehen es die Menschen vielleicht vor, gar nichts zu arbeiten, da sie keinen Sinn darin sehen, Geld zu verdienen, das sie nicht ausgeben können. Und wenn der Mangel sich bis auf die Versorgung mit Lebensmitteln erstreckt, sind sie vielleicht aufgrund von Unterernährung nicht arbeitsfähig. Dieses Syndrom, das treffend in dem Spruch ‚Sie tun so, als würden sie uns bezahlen, und wir tun so, als würden wir arbeiten‘ zusammengefasst wird, bildet die Ursache dafür, dass Wirtschaftssysteme, die auf zentralen strategischen Zielvorgaben und administrativen Hierarchien beruhen, die deren Einhaltung kontrollieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt sind. Ohne Marktinformationen fällt es auch immer schwerer zu erkennen, welche Investitionen getätigt werden sollten, und so kann es zur Verschwendung umfangreicher Ressourcen durch Investition in veraltete oder überflüssige Einrichtungen kommen“.10

8

Paraskewopoulos, Spiridon / Köhler-Cronenberg, Tilo: Die makroökonomische Lehre der liberalen Theorie, in: Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre. Grundriss für Studierende, Herne / Berlin 2004, S. 201.

9

Becker, Gary S.: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 2. Aufl., Tübingen 1993, S. 15.

10 Jay, Peter: Das Streben nach Wohlstand. Die Wirtschaftsgeschichte des Menschen, Berlin, München 2000, S. 338.

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2. Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus. Kritik am utopischen sozialistischen Gedankengut 2.1. Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek, München Brueghel d. Ä., Pieter: Das Schlaraffenland

„In der Alten Pinakothek in München gibt es ein Gemälde von Brueghel (Schlaraffenland), das die ewige Idylle von Menschen zeigt, die sich eine Welt ausdenken können, die anders als ihre eigene ist. Fette, faulenzende Bauern finden ihre offenen Münder sofort mit feinsten Leckerbissen gefüllt. Jeder konsumiert, ohne daß irgendeiner produziert – das ist ein Zustand menschlicher Existenz, den man sich zwar vorstellen, der aber niemals verwirklicht werden kann. Der Mythos des Sündenfalls stößt den Träumer in die nüchterne Wirklichkeit zurück: damit konsumiert werden kann, muß produziert werden. Nur durch den Schweiß auf irgendjemands Stirn entsteht die Nahrung für Breughels Bauern. Der Mythos vom Garten Eden bevor der Apfel gegessen wurde – das heißt der Mythos vom Überfluß in der Natur – muß dem wissenschaftlichen Denken vollkommen ausgetrieben werden, wenn wir die vielen fehlgeschlagenen ebenso wie die erfolgreichen Versuche des Menschen, sein Los zu verbessern, verstehen wollen“.11

11 Buchanan, James M.: Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus, in: Vanberg, Viktor: Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung. Hommage zum 100. Geburtstag von Friedrich A. von Hayek. 1999, S. 174.

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Schlaraffenland: Märchenland, in dem jeder ohne Arbeit im Wohlstand lebt, wo Milch und Honig fließen und einem gebratene Tauben in den Mund fliegen. Bereits Dichter der attischen Komödie (5. Jahrhundert v. Chr.) geben eine ins Komische übertriebene Beschreibung von dem goldenen Zeitalter unter der Herrschaft des Kronos, die sich vielfach mit Zügen des Märchens vom „Schlaraffenland“ berührt. Auch hier fließen Bäche von Milch, Honig und Wein, Suppenströme führen gleich die Löffel mit sich, die Fische kommen ins Haus und braten sich selbst, gebratene Vögel und Backwerk fliegen den Leuten in den Mund, auf den Bäumen wachsen Bratwürste usw., sogar das „Tischchen, deck dich“ fehlt nicht. Bei der Dankesrede auf die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 1986 wies Buchanan darauf hin, daß die Theorien von Knut Wicksell (1851-1926) für sein eigenes Schaffen von grundlegender Bedeutung waren. „Wohl der bedeutendste Theoretiker, der als Zeitgenosse der zweiten Generation der Wiener Schule seinen Ausgangspunkt von ihren Lehren nahm, war Knut Wicksell“. Er konnte 1921 sagen: „Seit Ricardoʼs Principles hat es kein Buch gegeben – nicht einmal Jevonsʼ glänzendes, wenn auch ziemlich aphoristisches und Walrasʼ leider schwieriges Werk ausgeschlossen –, das einen so großen Einfluß auf die Entwicklung der Wirtschafswissenschaft ausgeübt hat wie Mengers Grundsätze“.12 Nach James Buchanan ist das kritischste Element in der Konstruktion des Sozialismus „der Bruch in der Verbindung zwischen Produktion und Konsum. Dieser Bruch hätte mit Sicherheit zum Scheitern des Sozialismus geführt, sogar in einer imaginären Welt mit vollkommenem Wissen. Der Anreiz, Werte zu produzieren, ist es, der in der idealisierten sozialistischen Konstruktion fehlt, und dies führt zwangsläufig zu Armut“.13 Nach dem Leistungsprinzip bewerten in Marktwirtschaften „zahllose Nachfrager im Wettbewerb den ihnen entstehenden Nutzen aus Leistungen miteinander konkurrierender Anbieter, indem sie als Gegenleistung einen Betrag anbieten, den sie im Regelfall deswegen zahlen können, weil sie ihrerseits eine anderen dienende Leistung am Markt verkauft haben. Diesem Austausch müssen beide Marktpartner zustimmen und sind insoweit gleichberechtigt“.14

12 Hayek, Friedrich A. v.: Wiener Schule, in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 69, 70: „Aber die systematische Begründung des methodologischen Individualismus, der nicht nur für die ganze ‚subjektive‘ Theorie des Wertes, sondern weit über die theoretische Nationalökonomie hinaus für unser ganzes Verständnis der Bildung sozialer Institutionen und damit für alle Gesellschaftstheorie von entscheidender Bedeutung ist, hat alle Mitglieder der Schule aufs tiefste beeinflußt“. 13 Buchanan, James M.: Konsum ohne Produktion: Die unmögliche Idylle des Sozialismus, in: Vanberg, Viktor (Hrsg.): Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung. Hommage zum 100. Geburtstag von Friedrich A. v. Hayek, 1999, S. 173. 14 Willgerodt, Hans: Leistungsprinzip, in: Hasse, Rolf H. u. a. (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft, S. 315.

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„Konsum und Produktion: Die Quelle des Scheiterns des Sozialismus ist genau in dem wissenschaftlichen Irrtum zu suchen, der eine Trennung zwischen Produktion und Konsum erlaubte. … Der Überfluß im Paradies ist nicht einfach durch die Knappheit jenseits seiner Grenzen ersetzt worden. Der nachparadiesische Mensch muß das, was er zu konsumieren wünscht, produzieren, selbst wenn er lediglich überleben will. Eine ‚Entscheidung‘ zu produzieren ist eine ‚Entscheidung‘ zu konsumieren. Und Produktion bedeutet eher die Allokation von ‚etwas‘ zu ‚etwas‘ als ‚zu etwas anderem‘. Im Sozialismus existiert keine „Wertskala, die es ermöglicht, Abwägungen zwischen den unterschiedlichen Endverbrauchsgütern zu treffen. … Aufgrund des Fehlens einer Wertskala, die aus den Entscheidungen der Individuen als Produzenten-Konsumenten in einer Marktordnung hervorgeht, müssen die allokativen Entscheidungen einer Autorität bis zu einem gewissen Grad willkürlich bleiben. Folglich wird das Güterbündel, das schließlich produziert wird, nicht mit jenem Güterbündel übereinstimmen, das sich die Personen gewünscht hätten. Der Wert, der in einer solchen Ökonomie produziert wird und letztlich für den Konsum zur Verfügung steht, steht in keiner Beziehung zu dem, was von denen, die unter dem Zwang der Autorität tatsächlich produzieren, gewünscht wird. Die allokative ‚Verzerrung‘ schiebt einen weiteren Keil zwischen Produktion und Konsum, weit über den hinaus, der bereits durch die bloße Trennung von Produktionsund Konsumentscheidungen inklusive der Extraktion bürokratischer Renten entsteht. … Zusammenfassend können wir sagen, daß die distributiven, allokativen und bürokratischen Quellen einer Trennung zwischen Produktion und Konsum um so beschränkender wirken, je komplexer die Ökonomie wird“.15 Da in der natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft eine Wertskala fehlt, steht das autoritär willkürlich produzierte Güterbündel in keiner direkten Beziehung zu dem, was von denen, die unter Zwang der sozialistischen Zentralplanwirtschaft produzieren, tatsächlich gewünscht wird. Die individuellen Nutzenschätzungen der Konsumenten stimmen mit dem im realen Sozialismus produzierten Güterbündel nicht überein. Der Keil zwischen Produktion und Konsum konnte nie überbrückt werden. Die Konsumenten in der DDR verglichen das Konsumgüterangebot in der DDR immer mit dem in der Bundesrepublik Deutschland. Erich Honecker: „Der Maßstab für die DDR war, ob wir es wollten oder nicht, immer die Bundesrepublik“.16 Er sah es als Erfolg an, daß die „Regierung der DDR als einziges sozialistisches Land in der Lage war, das Ernährungsproblem für ihre Bürger zu lösen“.17 In der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland und in den westlichen Marktwirtschaften war jeder Konsument (Kunde) ein König. In der DDR waren nur die Politbüromitglieder und ihre Angehörigen in „Wandlitz wirk-

15 Buchanan: Konsum ohne Produktion, S. 189 f. 16 Honecker, Erich: Moabiter Notizen. Letztes schriftliches Zeugnis und Gesprächsprotokoll vom BRD-Besuch 1987 aus dem persönlichen Besitz Erich Honeckers, Berlin 1994, S. 103. 17 Ebd. S. 67.

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lich König“,18 wie der Personenschützer von Erich Honecker, Lothar Herzog, berichtet. Erich Honecker liebte westliche Konsumprodukte. Zum Frühstück und zum Stückchen Kuchen gab es Nescafé (Instantkaffee), was auch Herzog wunderte.19 „Die Krönung der Tafel beim Frühstück war Langnese Honig“ aus Hamburg.20 Am liebsten trank Honecker DAB (Dortmunder) Bier aus der Büchse.21 Margot Honecker bevorzugte HB-Zigaretten.22 „In den 60er Jahren kam Walter Ulbricht gelegentlich im Klubhaus vorbei und trank seinen Beaujolais.23 Den Rotwein hatte er offenkundig in seinem französischen Exil schätzen und lieben gelernt, anderen Wein oder gar harte Sachen trank er nicht“.24 Mit dem ersten Fünfjahresplan ab 1951 wurde in der DDR die Schwerindustrie stark bevorzugt, was zu einer katastrophalen ökonomischen und sozialen Situation führte. Die Konsumgüterproduktion war mangelhaft und führte mit den Unterdrückungsmaßnahmen und Normerhöhungen zur Flucht in den Westen und direkt zum Volksaufstand am 17. Juni 1953.25 Klaus Schroeder hat den Konsumalltag in der DDR so zusammengefaßt: „Wer nicht den Partei-, Staats- und Wirtschaftseliten angehörte und damit Zugang zu deren abgestuften Sonderversorgungssystemen hatte, konnte sich knappe Güter häufig nur über persönliche Netzwerke oder Deviseneinsatz verschaffen. Ein Grundsortiment an Lebensmitteln und einfachen Gebrauchsgütern stand zwar in der Regel zur Verfügung, genügte jedoch oftmals nicht den vorhandenen Ansprüchen. So bestand das winterliche Angebot in Obst- und Gemüsegeschäften außerhalb des als Schaufenster der DDR bei der ‚Verteilung des Mangels‘ bevorzugten Ost-Berlins größtenteils aus Weiß- bzw. Rotkohl, Kartoffeln und Äpfeln. Obwohl sich die Versorgungslage im Laufe der Jahrzehnte verbesserte, riefen Versorgungsengpässe, Waren schlechter Qualität etc. erheblichen Ärger bei den Konsumenten hervor. Oft fehlten banale Alltagsgüter wie Fahrradventile, Autoreifen oder Kinderkleidung, während umgekehrt massenhaft produzierte Waren, die keiner haben wollte, die Lager und Schaufenster füllten. Zusätzlich frustrierend wirkte die sprichwörtliche Unhöflichkeit vieler Mitarbeiter des ‚sozialistischen Handels‘.

18 Herzog, Lothar: Honecker Privat. Ein Personenschützer berichtet, Berlin 2012, S. 103. 19 Ebd., S. 31: „Auch dies eines der großen Welträtsel, warum Honecker auf löslichen Kaffee so abfuhr. Jeder Mensch trank Bohnenkaffee, nichts duftete angenehmer als frisch gemahlene, nicht zu scharf gebrannte Kaffeebohnen, und schließlich das feine Aroma von frisch Gebrühtem. Nein, es musste bitterer Instantkaffee sein, der den Namen ‚Kaffee‘ nicht verdiente“. 20 Ebd., S. 32. 21 Ebd., S. 28. 22 Ebd., S. 31. 23 Beaujolais, weinreiche Landschaft im östlichen Frankreich zwischen Loire und Saône; Hauptort: Beaujeu. 24 Herzog, S. 48 f. 25 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, 1998, S. 119 f.

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Für die alltägliche ‚Warenbeschaffung‘ mußte viel Zeit aufgewendet werden. Verbreitet waren ‚sozialistische Wartegemeinschaften‘ vor Geschäften, in denen limitierte Lieferungen besonders begehrter Waren eingetroffen waren oder das Eintreffen solcher Lieferungen vermutet wurde. Reste von ‚Verkaufskultur‘ verbargen sich fast nur noch in der kleinen Zahl privater bzw. in Kommission bewirtschafteter Läden. Wer an begehrte Waren nicht durch das SKET-Prinzip (‚SehenKaufen-Einlagern-Tauschen‘) gelangte, hatte vielleicht das Glück, spendable Westverwandtschaft zu besitzen. … Die verbreitete Orientierung der Konsumenten an westlichen Standards relativierte alle Anstrengungen der DDR-Wirtschaft, Versorgungsmängel zu beheben und die Produktpalette zu erweitern. Da gerade bei Jugendlichen seit den sechziger Jahren u. a. bestimmte Kleidungsstücke wie Jeans als Statussymbole zur Herausbildung kultureller Identität dienten, konnte die SED-Führung, die anfangs gegen diese Erzeugnisse ‚amerikanischer Pseudokultur‘ wetterte, diesen Kampf nur verlieren. Allerdings gab es auch kurzlebige Konsumgüter, die immer reichlich und in großer Auswahl vorhanden waren, z. B. hochprozentige alkoholische Getränke. Beim Alkoholkonsum besaß die DDR das so oft beschworene, aber selten erreichte ‚Weltniveau‘ (Platz 3 seit 1982). Der Pro-Kopf-Verbrauch betrug bei Spirituosen 16,1 Liter (1955: 4,4), bei Bier 1988 143 Liter (1955: 68,5)“.26 Anders sah zu diesem Zeitpunkt die Lage in der Bundesrepublik Deutschland aus. Der Konsument besaß in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik eine zentrale Bedeutung. Ludwig Erhard (1897-1977)27 hatte auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1932 eine Belebung der Verbrauchsgüterproduktion gefordert. In einem Beitrag der Gewerkschaftszeitung „Welt der Arbeit“ vom 26. Juni 1953 skizzierte Erhard den Weg in die „Konsumgesellschaft“. „Er richtete einen unverhohlenen ‚Appell nach Verbrauchssteigerung‘ an die Konsumenten, die ein Recht auf Wohlstand hätten. … Aber – dieser Wohlstand verwirkliche sich nicht für alle gleichermaßen: Ein gehobener Bedarf könne sich nur dann entfalten, ein Luxus von heute (kann) nur dann allgemeiner Konsum werden, wenn wir es ertragen, daß es in der ersten Phase immer nur eine kleinere Gruppe mit gehobenem Einkommen sein kann, deren Kaufkraft an jene Güter heranreicht. Auf die Frage, wie sich ein Sozialrentner denn einen Kühlschrank leisten solle, könne er nur antworten, daß die ersten Automobile in Amerika wahr-

26 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 576-578. Staadt, Jochen: Eingaben. Die Institutionalisierte Meckerkultur in der DDR. Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin Nr. 24/1996, Berlin 1996. Dietsch, I.: Deutsch-deutscher Gabentausch, in: NGBK 1996, S. 204 ff. Merkel, I.: Der unaufhaltsame Aufbruch in die Konsumgesellschaft, in: NGBK 1996, S. 8 ff. Diewald, M.: „Kollektiv“, „Vitamin B“ oder „Nische“? Persönliche Netzwerke in der DDR, in: Huinink, J. u. a.: Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, Berlin 1995. Schmidt, H.-W.: Schaufenster des Ostens, in: Deutschland Archiv Nr. 4/1994, S. 364 ff. 27 Bär, Johannes: Ludwig Erhard (1897-1977), in: Killy, Walther (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.3, München 2001, S. 145 f.

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scheinlich auch nicht von Sozialrentnern, sondern im Zweifelsfall von Millionären gefahren wurden“.28 2.2. Wissenschaftliche Kritik am utopischen sozialistischen Gedankengut Einer der ersten Nationalökonomen, der das utopische sozialistische Gedankengut wissenschaftlich durchleuchtete, war A. E. F. Schäffle29, dessen „Quintessenz des Sozialismus“ erstmalig 1875 erschien. Schäffle schreibt: „Die Freiheit der Bedarfsbestimmung ist sicherlich die unterste Grundlage der Freiheit überhaupt. Würden die Lebens- und Bildungsmittel etwa von außen her und einem jeden nach seinem Bedarfsschema zugemessen, so könnte niemand nach seiner Individualität leben und sich ausbilden; es wäre der ‚Brotkorb‘ der Freiheit beseitigt. Es fragt sich deshalb, ob der Sozialismus die individuelle Freiheit der Bedarfsbestimmung aufhebt oder nicht. Hebt er sie auf, so ist er freiheitsfeindlich, aller Individualisation, daher aller Gesittung entgegen und ohne alle Aussicht mit den unvertilgbarsten Trieben des Mensch jemals fertig zu werden“.30 Der Jesuit Victor Cathrein31, dessen Schrift „Der Sozialismus“ erstmalig im Jahr der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 erschien, wies mit aller Klarheit auf die Bedarfsbestimmung bei der Durchführbarkeit des Sozialismus hin: „Was soll produziert werden? Produziert werden kann nur, wenn zuvor der ungefähre Bedarf der Gesamtheit feststeht. Denn dieser ist Zweck und Maß der ganzen Produktion. … Die ‚vorherige Berechnung aller maßgebenden Faktoren’, um alle zu einem einheitlichen, planmäßigen Produktionssystem zu vereinigen, welches dem vorhandenen Bedürfnis eines großen Gemeinwesens genau entspricht: das ist eben eine die menschlichen Kräfte übersteigende Schwierigkeit“.32 „Ebenso wenig läßt

28 Wildt, Michael: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“, Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, S. 9 f. 29 Meitzel: Schäffle, Albert Eberhard Friedrich, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 7. Bd., 1926, S. 166 f. 30 Schäffle, A. E. F.: Die Quintessenz des Sozialismus, 16. Aufl. 1919, S. 23. 31 Cathrein, Victor, Pseudonym N. Siegfried, Jesuit, Theologe, Philosoph, * 8.5.1845 in Brig (Kanton Wallis), † 10.09.1931 in Aachen. – Cathrein trat 1863 der Gesellschaft Jesu bei und arbeitete dann als Erzieher in belgischen Kollegien. 1869 begann er in Maria Laach mit dem Studium der Theologie und Philosophie, das er 1870/71 unterbrach, um im Deutsch-Französischen Krieg als Krankenpfleger tätig zu sein. Infolge des Jesuitengesetzes verließ er 1872 Deutschland und vollendete seine Studien in Holland und England. 1877 zum Priester geweiht, ließ er sich in Holland nieder und lehrte seit 1882 als Professor der Moralphilosophie am Kollegium in Valkenburg. Seit 1879 war er ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Stimmen aus Maria Laach“. In seinen philosophischen Schriften setzte sich Cathrein in Anlehnung an Theodor Meyer u. a. mit der Scholastik auseinander (Moralphilosophie, 2 Bde., 1890/91). Er veröffentlichte auch Werke zum Verhältnis von Sozialismus und Katholizismus sowie juristische Grundlagenwerke. In: Killy, Walther (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 2, 2001, S. 297. 32 Schäffle, A.: Die Quintessenz des Sozialismus, 24. Aufl., Gotha 1920, S. 22.

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sich annehmen, daß die oberste Zentralbehörde im sozialistischen Staat einfachhin den Bedarf nach Art und Masse der Produkte durch einen Machtspruch festsetze und danach die Produktion regle. Denkbar ist ein solches Verfahren. Aber um davon zu schweigen, daß dasselbe mit der demokratischen Organisation im Sinne der Sozialisten im Widerspruch steht, wäre es die vollendetste Knechtschaft. Die Freiheit beruht vor allem darauf, daß man selbst nach Gutdünken bestimmen kann, wie man sein Leben in Bezug auf Kost, Kleidung, Wohnung, Unterhaltung, Bildungsmittel usw. einrichten will. Wer das nicht mehr kann und sich alles von einer Behörde vorschreiben lassen muß, ist ein Sklave, mag man ihn auch ‚freien Genossen‘ nennen. Die Freiheit der Bedarfsbestimmung ist auch die Grundlage jedes Kulturfortschrittes“.33 3. Interpersonelle Nutzenvergleiche sind wissenschaftlich nicht möglich Das grundlegende Problem der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft war, daß es keine ökonomischen Regeln für die Festlegung der ökonomischen Ziele der sozialistischen Zentralplanung gab. Die Ziele wurden politisch willkürlich festgelegt. Die sozialistische Bedürfnisstrategie und die rationellen Verbrauchsnormen waren der untaugliche Versuch, ein Mindestmaß an Rationalität in das System zu bringen. Die sozialistische Zentralplanwirtschaft kam damit in ein Dilemma, das mit Arthur Cecil Pigous (1877-1959)34 Hauptwerk „The Economics of Welfare“ 1920 offenbar wurde. Die theoretische Basis der Pigouʼschen Wohlfahrtsökonomie ist die subjektive Wertlehre und die darauf aufbauende Grenznutzentheorie. Mit Pigou wurden interpersonelle Nutzenvergleiche in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Der Nutzen bildet die Grundlage des subjektiven Wertes. „Die Nutzenschätzung kann nur von einem individuellen Wirtschaftssubjekt, nicht aber von ‚der‘ Gesellschaft wahrgenommen werden ... Größte Übereinstimmung herrscht heute hinsichtlich der Tatsache, daß ein interpersoneller Nutzenvergleich unmöglich ist“.35 Wilhelm Weber und Reimut Jochimsen zeigen die Problematik der Wohlstandsökonomik auf: „Beurteilt man schon die Objektivität der intrasubjektiven empirischen Wohlstandsbestimmung skeptisch, besonders bezüglich vollständiger und strenger Präferenzstrukturen, so ist nach dem heutigen Stande der sozialwissenschaftlichen Forschung ein objektiver interpersoneller oder intersubjektiver Wohlstandsvergleich ausgeschlossen. Und selbst wenn er einmal objektiv möglich sein sollte, stellt sich dann immer noch die Frage, ob ein solcher Vergleich auch 33 Cathrein, Viktor S. J.: Der Sozialismus. Eine Untersuchung seiner Grundlagen und seiner Durchführung, 14.-16. Aufl., Freiburg i. Br. 1923, S. 259-261. 34 Noll, Werner: Arthur Cecil Pigou (1877-1959), in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 304-308. 35 Weber, Wilhelm / Streißler, Erich: Nutzen, in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 9. Arrow, Kenneth J.: Utilities, Attitudes, Choises, in: Econometrica, Amsterdam, 26, 1958. Shackle, George, L. S.: Time in Economics, Amsterdam 1958.

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von den Entscheidungsträgern verbindlich akzeptiert wird. … Wohlstandsfunktionen, welche der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsordnung entsprechen, sind solche des individualistischen Typus. Dabei lassen sich diejenigen vom Bergson-Typ von denen des Scitovsky-Typs unterscheiden. Die ‚Cambridge Welfare Function‘ gehört ebenfalls hierher. Gesellschaftliche Wohlstandsfunktionen des kollektivistischen Typus sind nach dem Sprachgebrauch dann gegeben, wenn nicht die Individuen einzeln (paretianisches Vetorecht) oder als Gesamtheit (mehrheitliche Abstimmungen) bestimmend sind, sondern einzelne Gruppen von Entscheidungsträgern (eine Partei) oder gar nur eine Person (Diktator)“.36 4. Das SED-Politbüro und die administrative Dienstklasse legten autoritär und politisch willkürlich fest, was produziert und damit konsumiert werden sollte Die Material-, Ausrüstungs- und Konsumgüterbilanzierung (MAK-Bilanzierung) war „darauf gerichtet, im Prozess der Leitung und Planung der Volkswirtschaft, ausgehend vom Ziel der sozialistischen Produktion, die Bedarfsentwicklung in der Einheit von Menge, Struktur und Qualität zu erfassen und diese zu den erforderlichen Zeitpunkten durch rationellen Einsatz der volkswirtschaftlichen Fonds planmäßig zu decken“.37 Es mußten Nahrung, Kleidung, Wohnung sowie die Produktionsmittel, die zur Herstellung dieser Konsumtionsmittel erforderlich sind, zentral geplant werden. Durch die MAK-Bilanzierung sollten die horizontalen und vertikalen Interdependenzen der Wirtschaft erfaßt werden. „Als bilanzierende Organe treten in der Volkswirtschaft auf: die Staatliche Plankommission, Industrieministerien und andere zentrale Organe (VVB), Staatliche Kontore, Kombinate, Betriebe. Die Nomenklatur über die Verantwortung zur erzeugnisbezogenen Planung des Bedarfs, zur Bilanzierung und Abrechnung von Aufkommen und Verwendung an Material, Ausrüstungen und Konsumgütern wird mit dem Bilanzverzeichnis festgelegt“.38 Bei den Zielen der sozialistischen Produktion mußten u. a. die Gesamtheit aller Konsumprodukte, d. h. das gesamte Konsumsortiment administrativ festgelegt werden.39 Um nicht völlig im Dunkeln zu tappen, behalf man sich mit der Sozialistischen Bedürfnisstrategie und den rationellen Verbrauchsnormen, die jedoch untauglich waren, um die willkürlich gesetzten Ziele zu erreichen.

36 Weber, Wilhelm / Jochimsen, Reimut: Wohlstandsökonomik, in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 348, 355. 37 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 492. 38 Ebd., S. 493. 39 Ökonomisches Lexikon, Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 173.

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Für das Erreichen der Ziele in den staatlichen Jahresplänen sollten die sozialistische Bedürfnisstrategie, rationelle Verbrauchsnormen und die sozialistische Konsumtionsforschung Hilfestellung leisten. „Die Ausarbeitung einer sozialistischen Bedürfnisstrategie basiert auf der Analyse der Struktur der Gesamtheit der Bedürfnisse, des Niveaus der Bedürfnisbefriedigung und der Aufstellung einer Rangfolge der Dringlichkeit von Bedürfnissen. … Die sozialistische Bedürfnisstrategie wird in sozialpolitischen und ökonomischen Zielen festgelegt. Für die analytische Arbeit und Planung bilden die Schwierigkeiten bei der Messung von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigung ein noch nicht befriedigend gelöstes Problem. Eine Möglichkeit der Messung ist die Annäherung über den Verbrauch der Bevölkerung und wahrscheinliche Verbrauchstendenzen durch Prognosen der Entwicklung des Lebensniveaus. Soweit sich die Bedürfnisse in Tätigkeiten ausdrücken, ist eine angenäherte Messung mit Hilfe von Zeitbudgets und auch durch Zeitbilanzen möglich. Für Planungszwecke können Reihenfolgen oder Präferenzskalen gebildet werden. In jedem Falle werden aber nur einzelne Seiten eines komplexen Bedürfnisses oder der Wechselwirkung von Bedürfnissen erfaßt. Ein weiteres Planungsinstrument sind Verbrauchsnormative von Waren und Dienstleistungen; diese Methode wird vor allem in der Planung in der UdSSR angewendet“.40 Zu den sozialistischen Methoden, den Verbrauch zu ermitteln, gehörten rationelle Verbrauchsnormen, d. h. Kennziffern für einen „rationellen Durchschnittsverbrauch der Gesamtheit oder einzelner Gruppen individueller Konsumenten. Der Verbrauch in Höhe des rationellen Verbrauchskonsums soll eine gesunde, harmonische Befriedigung der Lebensbedürfnisse sichern und weitgehend mit den Erfordernissen und Möglichkeiten der Volkswirtschaft übereinstimmen. Rationelle Verbrauchsnormen werden im Rahmen der Perspektivplanung des Konsumgüterverbrauchs vor allem für wichtige Positionen des Nahrungs- und Genußmittelsortiments, ferner für bestimmte industrielle Konsumgüter erarbeitet. Die rationellen Verbrauchsnormen haben den Charakter prognostischer Ziele. Die rationellen Verbrauchsnormen für Nahrungsmittel berücksichtigen in erster Linie die Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft, aber auch andere ökonomische und außerökonomische Faktoren, die den Verbrauch objektiv beeinflussen. Rationelle Verbrauchsnormen für viele industrielle Konsumgüter stützen sich dagegen in stärkerem Maße auf komplexe Entwicklungsprogramme der sozialistischen Gesellschaft (z. B. für den Wohnungsbau, für die sportliche und kulturelle Betätigung der Bevölkerung) und sind eng mit der gesellschaftlichen Konsumtion verbunden“.41 Diese sozialistischen Methoden erinnern stark an die Zwangsbewirtschaftung der Nahrungs- und Verbrauchsgüter in der Kriegs- und Nachkriegszeit, die in den

40 Bedürfnisstrategie, sozialistische, in: Ökonomisches Lexikon, A-G, 3 Aufl., Berlin (-Ost) 1977, S. 292. 41 Ebd., Q-Z, 1980, S. 414 f.

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Westzonen nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 bis 1950 aufgehoben wurden.42 Der Beitrag „Konsumtionsforschung“ im „Ökonomischen Lexikon“ zeigt, daß man sich utopische Ziele setzte: „Konsumtionsforschung (Verbrauchsforschung) – wissenschaftliche Untersuchung der individuellen und gesellschaftlichen Konsumtion einschließlich ihrer ökonomischen und außerökonomischen Ursachen. Im Sozialismus ist es Aufgabe der Konsumtionsforschung, die Gesetzmäßigkeiten der Konsumtion zu erforschen und damit Grundlagen für die langfristige Planung des Lebensstandards zu schaffen. Dabei spielt die Untersuchung der Entwicklung der Bedürfnisse, der Formen ihrer Befriedigung sowie der Vermittlung der Konsumtionsmittel eine große Rolle. Die Konsumtionsforschung liefert wichtige wissenschaftliche Grundlagen, um die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zielgerichtet durchzusetzen. In die Konsumtionsforschung eingeschlossen ist die Kauf- und Konsummotivforschung. Sie untersucht die subjektiven, bewußtseinsmäßig, ideologisch und psychologisch, rational und emotional verursachten und bedingten Seiten marktwirksamen Konsumentenverhaltens“.43 Die Gesetzmäßigkeiten der Konsumtion und die ökonomischen Gesetze des Sozialismus konnten auch nicht in dem 1972 gegründeten wissenschaftlichen Rat für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR entdeckt werden.44 5. Die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Das sozialistische Füllhorn von Erich Honecker und dem Politbüro Die ständig abnehmende Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft und die dadurch mangelnde Exportfähigkeit der Produkte und der zunehmende Importbedarf ließen die Auslandsverschuldung kontinuierlich ansteigen. Als Gegensteuerung wurde eine wachstumsbetonte Außenwirtschaftsstrategie (kreditfinanzierte technologieintensive Westexporte, um die ab zweiter Hälfte der siebziger Jahre aufgelaufene Verschuldung mittels einer Exportoffensive zu tilgen) versucht, die sich bereits am Ende des Fünfjahrplans 1976-1980 als gescheitert erwies.45 „Die erste Rohstoff-, vor allem Erdölpreisexplosion von 1973 mit ihren Rückwirkungen und schließlich die zweite Ölpreisexplosion 1979 hatten statt zum Abbau der Devisenverschuldung zu deren Verdoppelung geführt. … Gleichzei42 Schmitz, Hubert: Die Bewirtschaftung der Nahrungs- und Verbrauchsgüter 1939-1950, Essen 1956. 43 Ökonomisches Lexikon, H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 259. 44 Wissenschaftliche Räte der DDR für die gesellschaftswissenschaftliche Forschung, in: Ökonomisches Lexikon, Q-Z. 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 676 f.; ebd., A-G, S. 57. 45 Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: Rückblicke auf die DDR. Festschrift für Ilse Spittmann-Rühle, hrsg. von Gisela Helwig, Köln 1995, S. 120-131. Das folgende wortwörtliche Zitat ebd., S. 122.

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tig war durch das jährlich teurer werdende Erdöl im RGW auch eine Verschuldung gegenüber der Sowjetunion entstanden“. In der zweiten Energiekrise wurde Erdöl aus der UdSSR mit zwei Monaten Zahlungsziel bezogen, schnell verarbeitet und nach Rotterdam exportiert. Für die erzielten Devisen wurde Weizen beschafft. Als der US-Präsident Reagan den saudi-arabischen König Saud zu höherer Ölproduktion anregte, wurden russische Öllieferungen von russischer Seite gedrosselt und weniger Devisen erzielt. Auch die „Exportoffensive“ im letzten Jahrzehnt der DDR vermochte es nicht, die Außenverschuldung auch nur zu bremsen. „Liquidität geht vor Rentabilität“, so lautete die neue Maxime.46 Die sogenannte Devisenrentabilität, die den Valutaerlös je Mark Exportproduktion in Inlandspreisen auswies, sank von 0,54 (1970) und 0,45 (1980) auf zuletzt 0,25 (1988); gemessen an inländischen Werten wurde der Export für die DDR also zunehmend „teurer“.47 Demzufolge stieg die Verschuldung gegenüber dem NSW stetig an und erreichte im Herbst 1989 die dramatische Größenordnung von bis zu 21 Milliarden Dollar. Nach der 2. Öl-Krise erfolgte eine Umstellung auf die heimische Braunkohle. Diese Umstrukturierung war unwirtschaftlich und löste erhebliche Umweltschäden aus. Allein das Hochfahren der Braunkohleförderung ab 1980 zur Ablösung der Ölimporte und der Ausbau der auf diesem heimischen Energieträger beruhenden Energieerzeugung verschlangen während der achtziger Jahre zumeist ein Drittel des Investitionsvolumens. Dadurch nahmen – vor allem in den investitionspolitisch nicht privilegierten Wirtschafts- und Industriezweigen – bereits seit Mitte der siebziger Jahre das Alter der Produktionsausrüstungen und ihre Reparaturanfälligkeit ständig zu und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit ab.48 Dieser Effekt wurde durch die größte Fehlinvestition im Energiebereich – neben den Zweigen der Mikroelektronik49 – bei den Leuna-Werken verstärkt.

46 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 511. 47 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 54. 48 Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, S. 9. 49 Krakat, Klaus: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90), S. 137-172, insb. S. 161 ff. Nach Schabowski kosteten „die ersten in der DDR hergestellten 256-Kilobyte-Chips zum Beispiel 536 Mark. Die Gesellschaft subventionierte jedes Speicherplättchen mit 520 Mark. Der verarbeitende Betrieb bezahlte dafür 16 Mark, ein Betrag, der noch immer hundert Prozent über dem Weltmarktpreis lag. Bei solchen Aufwandsrelationen gerät jede Wirtschaft zwischen die Mühlsteine. Die riesigen Aufwendungen für die Entwicklung einer eigenen Fertigung mikroelektronischer Bauelemente machten sich nicht bezahlt. Die damit ausgestatteten Erzeugnisse brachten nur geringe Exporterlöse. Sie halfen nicht, die Devisenlöcher zu stopfen. Wie üblich wurde dann in den Topf mit Konsumwaren gegriffen, um schnelle DM- oder Dollargeschäfte zu machen. So war die Sozialpolitik letztlich nicht nur mit Schulden, sondern auch mit einem Schwund an Massenbedarfsgütern erkauft“. In: Schabowski, Günter: Der Absturz, Reinbek b. Hamburg 1992, S. 126.

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Vom Erdöl zurück zur Kohle – eine kumulierte Selbstzerstörung 1980 bis 1989: „Während die DDR zwischen 1976 und 1980 rund 12 Mio. Tonnen Erdölprodukte in den Westen geliefert hatte, waren es von 1981 bis 1985 bereits 27 Mio. Tonnen. Dieser außerordentliche Kraftakt war mit dramatischen Einschränkungen für die Binnenwirtschaft verbunden. Pro Jahr wurden 6 Mio. Tonnen Erdölprodukte dem Inlandsmarkt entzogen. Innerhalb kurzer Zeit sank der Mineralölverbrauch im Inland um ein Drittel! Der Logik des Wirtschaftssystems entsprechend, das die Verfügbarkeit über die Wirtschaftlichkeit stellte, wurde 1981 ein Programm zur Einsparung von Heizöl und Benzin begonnen. Drei Jahre zuvor waren vom Politbüro der SED bereits vereinzelte Sparmaßnahmen eingeleitet worden. Von 1980 bis 1989 wurde der Heizölverbrauch in der DDR von rund 7 Mio. Tonnen auf 1,2 Mio. Tonnen gesenkt. … Abgesehen von Kraftstoffen konnte die DDR-Chemie im Westen insbesondere nach 1980 nur noch Exporte zu Dumpingpreisen tätigen. Ihre Produkte waren von mangelhafter Qualität, was ihnen das Image des ‚billigen Jakobs‘ einbrachte. Aus dem ‚Opting for Oil‘ der Ulbricht-Ära wurde in der HoneckerÄra ein ‚Back to Coal‘. Die Beibehaltung der Carbochemie endete in einem energiepolitischen und ökologischen Fiasko“.50 Der technische Verschleiß der Leuna-Werke war in den achtziger Jahren so hoch, daß wegen des hohen Energie-, Arbeitskräfte- und Instandhaltungsbedarfs ein wirtschaftlicher Betrieb nicht mehr möglich war.51 In externen Gutachten für die Treuhandanstalt wurde festgestellt, daß die Mineralölwirtschaft der DDR pro Kopf nur 25 % der Produktivität der westdeutschen Mineralölwirtschaft erreichte.52 Die Ammoniak-Synthese, mit der das Werk 1916 gegründet wurde, und weitere 50 Anlagen wurden als größte „Dreckschleudern“ 1990 stillgelegt, die Umweltbelastung sank um 50 %.53 Trotz strikter Importdrosselung und einer Exportoffensive54 belief sich der Schuldenstand gegenüber dem NSW bereits 1986 auf ca. 24 Mrd. DM, obgleich

50 Karlsch, Rainer / Stokes, Raymond: Die Chemie muß stimmen. 1990-2000. Bilanz des Wandels, Leipzig 2000, S. 39 ff. 51 Lehmann, Jana / Schatz, Marion (Hrsg. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt): Leuna zwischen Wiederaufbau und Wendezeit. 1945-1990, Erfurt 2006. 52 Breuel, Birgit (Hrsg.): Treuhand intern, Berlin 1993, S. 97. 53 Ebd., S. 96. 54 Über die Außenhandelsbetriebe (AHB) wurde der Export von Konsumgütern zu Dumpingpreisen mit den Handelsketten Quelle und Neckermann abgewickelt. Das Sortiment – je nach Nachfrage in der Bundesrepublik Deutschland – reichte von Waschmaschinen, Kühlschränke über Bügeleisen bis zu Hemden und Unterwäsche. Auch Möbellieferungen folgten an das schwedische Unternehmen IKEA. Als IKEA die Lieferverträge stoppte, wurden die Erzeugnisse in Entwicklungsländer umgeleitet. Insbesondere der Bereich Kommerzieller Koordinierung (KoKo) leistete bereits ab 1966 einen erheblichen Beitrag zur Devisenerwirtschaftung. Die KoKo-Methoden zur Devisenerwirtschaftung waren u. a. Steuerbetrug, Falschdeklarationen, Umgehungsgeschäfte im innerdeutschen Handel, Antiquitätenexport, Schmuggel und Waffenhandel.

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erheblicher finanzieller Vorteile der DDR aus dem innerdeutschen Handel.55 Der 1985 beginnende und sich im ersten Halbjahr 1986 beschleunigende Preisrückgang für Erdölprodukte traf die DDR-Wirtschaft hart und unvermittelt. Trotz sowjetischer Lieferrückgänge hatte ihr der Export von Mineralölerzeugnissen für das Jahr 1985 noch 2,5 Milliarden Valuta-Mark eingebracht. Schon 1986 wurden mit einer kaum reduzierten Ausfuhrmenge nur noch 1 Milliarde ValutaMark erzielt.56 Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der DDR verschlechterte sich rapide, zumal der technologische Rückstand in den exportträchtigen Bereichen Maschinenbau und Elektrotechnik weiter zunahm. Der durch den Preisverfall bedingte relative Anstieg der RGW-Preise für sowjetisches Öl und das Beharren der Sowjetunion auf Bezahlung in Devisen erschwerte die Situation zusätzlich. - Eine Absenkung des Lebensstandards der Bevölkerung wollte die Partei- und Staatsführung auf dem Hintergrund der Erfahrungen des 17. Juni 1953 indes nicht riskieren. Als Ausweg blieb nur eine drastische Einschränkung der Investitionstätigkeit. Die gesamtwirtschaftliche Bruttoinvestitionsquote („Akkumulationsrate“) sank von 29 % im Jahre 1970 über 27 % in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auf knapp 22 % im Durchschnitt der achtziger Jahre.57 Zugleich halbierte sich sogar im gleichen Zeitraum die „Nettoinvestitionsquote“ für „produktive Investitionen“ in den produzierenden Bereichen (1970: 16,1 %; 1985: 8,1 %; 1986: 8,7 %; 1987: 9,9 %).58 In Wirklichkeit dürf-

55 Kuhnle, Gerhard Wilhelm: Die Bedeutung und Vorteile der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen für die DDR. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung paraökonomischer Aspekte, Dissertation, Frankfurt / Main 1993, S. 121-132. Die Vorteile, welche die DDR in Gestalt von Zins- und Zollersparnissen sowie Mehrwertsteuerkürzungen aus dem innerdeutschen Handel zog, wurden für die achtziger Jahre durchschnittlich auf rund 750 Mio. DM veranschlagt. Die unmittelbaren Zahlungen der Bundesrepublik an die DDR in Form der Transitpauschale, Investitionsbeteiligungen, der Postpauschale und Straßenbenutzungsgebühren beliefen sich im gleichen Zeitraum jahresdurchschnittlich auf 1.175 Mio. DM. Zusammen ergibt das rund zwei Milliarden D-Mark, die der DDR mittel- oder unmittelbar zugute kamen. Neben den Vorteilen aus dem innerdeutschen Handel und den staatlichen Transferzahlungen kamen der DDR noch vielfältige geldwerte Vorteile aus dem privaten Post- und Besuchsverkehr zugute. Schätzungen zufolge betrug allein der Wert der Paketsendungen jährlich etwa eine Milliarde DM. Unter Berücksichtigung der unmittelbaren Geschenktransfers, der Gewinne der Handelsketten Intershop und GENEX und der Beträge aus dem Zwangsumtausch und den Visa-Gebühren haben die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger weitere rund 1,2 Mrd. DM aufgewendet, die für die DDR geldwerte Vorteile waren. Insgesamt wurden jährlich über 4 Milliarden DM von den privaten und öffentlichen Haushalten der Bundesrepublik für den DDR-Staatshaushalt und die Menschen in der DDR aufgebracht. 56

Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 306.

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Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 22.

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Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1990, S. 14 f., 101 ff. Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, S. 11. Baar, Lothar / Müller, Uwe / Zschaler,

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ten die „Nettoinvestitionsquoten“ wesentlich niedriger liegen, da die für die Ermittlung der Erhaltungsinvestitionen abgesetzten Abschreibungen wegen überhöht angesetzter Nutzungsdauern viel zu niedrig lagen. Der Rückgang der Bruttoinvestitionsquote blieb nicht ohne Folgen für den inländischen Kapitalstock und das mittelfristige Produktionswachstum. Die jährliche Wachstumsrate des produzierten Nationaleinkommens ging von durchschnittlich 4,6 % während der ersten Hälfte der achtziger Jahre auf 4,3 % (1986), 3,6 % (1987), 2,9 % (1988) und endlich 2 % (1989) zurück.59 Im „produzierenden Bereich“ der DDR-Wirtschaft während der Honecker-Mittag-Ära 1971 bis 1989 wurde wertmäßig nur jeweils 0,9 % des Kapitalstocks im Jahr ausgesondert. In der Industrie lag die „Aussonderungsrate“ lediglich bei 1,1 %.60 Aufgrund rückläufiger Investitionstätigkeit war auch der Kapitalstock in den Betrieben Ende der achtziger Jahre trotz zu niedrig angesetzter Abschreibungen und Aufwertungen der Anlagen weitgehend verschlissen. „1989 waren rd. 47 % aller Produktionsanlagen buchmäßig abgeschrieben, in der Industrie und der Bauwirtschaft sogar 54 % bzw. 69 %. Insgesamt hatte die Kapitalausstattung ein nahezu biblisches Alter erreicht: Mehr als 50 % der Industrieausrüstungen waren 1989 älter als zehn Jahre (21 % sogar älter als 20 Jahre), lediglich 27 % jünger als fünf Jahre. […] Dieser desolate Zustand des Ausrüstungsbestandes hatte u. a. eine hohe Reparaturanfälligkeit zur Folge: 1988 waren z. B. in der chemischen Industrie der DDR ein Fünftel aller Beschäftigten (60.000 Arbeitskräfte) für Reparaturarbeiten eingesetzt“.61 Bei einem Besuch des Gaskombinats „Schwarze Pumpe“ bei Hoyerswerda im Februar 1990 wurde dem Verfasser zunächst ein Eindruck über den Gesamtbetrieb – durch den eine Autarkie der DDR im Energiesektor erreicht werden sollte – vermittelt. Dabei wurde ausgeführt, daß im Hauptbetrieb (sog. Stammbetrieb) von der Belegschaft von insgesamt 48.000 Beschäftigten allein 22.000 in der Instandhaltung eingesetzt sind. In einer Untersuchung über Großschäden in der Industrie durch die Hauptabteilung XVIII des MfS für 1986 und Anfang 1987 wird festgestellt, daß die starke Zunahme der Großschäden überwiegend auf den Verschleiß der Anlagen und nicht auf menschliches Versagen zurückzuführen ist.62 Frank: Strukturveränderungen und Wachstumsschwankungen. Investitionen und Budget in der DDR 1949-1989, S. 53 ff., S. 63 f.

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Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 22. Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 508.

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Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 58.

61 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 510 und Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 57. 62 Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: „Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR“, S. 127. Knortz, Heike: „Bei Windgeschwindigkeiten über 55 km/h müssen 22 Gebäude aus Sicherheitsgründen von den Werktätigen verlassen werden“. Gesundheitsgefährdung, Um-

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Mit der Ausschaltung des Mittelstandes und der Abwanderung von ca. 36.000 Unternehmen63 aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland gingen das „Unternehmerwissen“ und bestehende Netzwerke verloren. Tatsache ist, daß die SED-Führung es war, „die mit der sozialistischen Planwirtschaft das Band zwischen Unternehmertum und Technik zerschnitten. Damit zerstörten sie die Quelle der marktorientierten Innovationskraft“,64 mit verheerenden Folgen. Die verfügbaren Arbeitseinkommen und die Prämienfonds blieben hinter der propagierten Entwicklung des Nationaleinkommens zurück. Die angestrebte Leistungsmotivierung konnte auf diese Weise nicht gelingen.65 Im Gegenteil: Ein Großteil der Mittel floß in die Subventionierung der Grundnahrungsmittel, der Mieten sowie des Energieverbrauchs. Dies provozierte Verschwendung und Mißbrauch seitens der Bevölkerung und führte nicht zuletzt auch zu wachsenden Umweltbelastungen. Die „Strategie der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik scheiterte, weil einerseits das Wirtschaftssystem keine Anreize implizierte, die zu Leistungen führten, mit denen die sozialen Ansprüche befriedigt werden konnten, und andererseits die nicht an eigene Leistungen gebundene Zunahme sozialer Sicherheit kontraproduktiv auf die Leistungsmotivation zurückwirkte. [...] Der DDR-Bürger hat in all diesen Jahren über seine Verhältnisse und vor allem zu Lasten der Zukunft gelebt“.66 Obwohl die SED-Führung und jeder Planerfüllungsbericht das sozialistische Leistungsprinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ propagierte, zeigten sich bereits in den siebziger Jahren „leistungsfeindliche Löhne und kraftlose Prämienanreize“.67 „Wohl auf keinem anderen Gebiet war die Kluft zwischen theoretischem Anspruch und Realität so groß wie auf diesem. Nirgendwo hinterließ die zentrale Kommandowirtschaft ein solches Chaos wie bei den Lohnfragen“.68 [...] „Die Nutzung des Planes als Instrument der Verteilung der Löhne ließ alle Fragen der Tarifgestaltung, die ein stärkeres Mitspracherecht der Gewerkschaften mit sich gebracht hätte, in den Hintergrund treten. Tarife, die als Rudiment des Kapitalismus galten, wurden

weltzerstörung und verschlissene Produktionsanlagen in Berichten des MfS, in: Deutschland Archiv, Heft 3/2010, S. 462-470. 63 Hefele, Peter: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleitungsleistungsunternehmen aus der SBZ / DDR nach Westdeutschland, Stuttgart 1998, S. 54 f. 64 Paqué, Karl-Heinz: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009, S. 268. 65 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 22, 26. 66 Ebd., S. 18, 21. 67 Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR - Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, S. 45. 68 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 105.

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über Jahrzehnte nicht geändert“.69 Hinzu kam, daß es keine freien Gewerkschaften gab, die als Interessenvertreter der Arbeiter und Angestellten fungierten. Entsprechend niedrig waren wirtschaftliche Leistungskraft und Produktivität der DDR-Ökonomie. Nach neueren Rückrechnungen betrug das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner (Pro-Kopf-Produktion) im Vereinigungsjahr 1990 knapp ein Drittel des Wertes in der Bundesrepublik. Bereits 1985 war diese Quote mit knapp 36 % nur unwesentlich höher, während sie 1950 immerhin noch bei 50 % gelegen hatte.70 Aufgrund der hohen Erwerbsbeteiligung fällt ein Vergleich der gesamtwirtschaftlichen Produktivität (reales Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen) noch dramatischer aus: Neuesten Berechnungen zufolge betrug diese 1989 lediglich 16-20 % des westdeutschen Niveaus.71 Der jahrzehntelange Raubbau an natürlichen Ressourcen zerstörte die Umwelt und die Lebensqualität, obwohl der Umweltschutz als „Staatsziel“ bereits in der DDR-Verfassung von 1968 in Art. 15 verankert war. Bis 1989 war die DDR mit weitem Abstand vor allen anderen Staaten der größte Umweltverschmutzer bei Schwefeldioxid und Staub in Europa. In ihrer Endzeit (19871990) wurden auf dem Territorium der DDR pro Jahr 5,2 bis 5,6 Mio. t Schwefeldioxid und 2,2 bis 2,3 Mio. t Staub emittiert. Je Einwohner bliesen die DDR-Schadstoffemittenten 1988 rund 313 kg Schwefeldioxid und 132 kg Staub in die Luft. (Im Vergleich dazu wurden in der Bundesrepublik Deutschland im gleichen Jahr 18,6 kg Schwefeldioxid bzw. 7,5 kg Schwebstaub je Einwohner ausgebracht.)72 Zu den biologisch verendeten Flüssen gehörten neben der Elbe die Mulde, Saale und Schwarze Elster, die jahrzehntelang als Abwasserkanäle der Industrieregionen Schkopau, Leipzig, Halle und Hoyerswerda / Lauchhammer mißbraucht wurden. Einige der Schwerpunkte der Umweltbelastungen wie z. B. Bitterfeld, Espenhain u. a. hätten „entsprechend

69 Ebd., S. 108. 70 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, S. 510. 71 Schwarzer, Oskar: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ / DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999, S. 140, S. 142. 72 Buck, Hannsjörg F.: Umweltpolitik und Umweltbelastung, in: Kuhrt, Eberhard (Hrsg.): Am Ende des realen Sozialismus (2). Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Opladen 1996,S. 223266. Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 69 f. Auch der ostdeutsche Uranbergbau, die SDAG Wismut, führte zu erheblichen Umweltbelastungen in Thüringen und Sachsen. Der Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaft teilte am 31. August 1994 mit, daß bisher 5.500 Todesfälle infolge von Strahlenkrebs bei Mitarbeitern der Wismut bekannt seien. Gesundheitssituation in der Bergbauregion Sachsens und Thüringens, in: Umwelt Nr. 2/1993, S. 79. Mager, Diethard: Wismut – die letzten Jahre des ostdeutschen Uranbergbaus, in: Am Ende des realen Sozialismus (2). Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, hrsg. von Kuhrt, Eberhard im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Opladen 1996, S. 267-295.

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den von der UNO empfohlenen Grenzwerten für Umweltbelastungen als nicht bewohnbar eingestuft werden müssen“.73 Auch die Staatsfinanzen liefen der SED ab Anfang der achtziger Jahre durch ausufernde Rüstungs- und Machtsicherungsmaßnahmen und durch eine auf Dauer unfinanzierbare Sozial- und Subventionspolitik aus dem Ruder.74 Innerhalb der acht Jahre von 1981-1988 wurden die „Ausgaben für die Streitkräfte“ von 9,4 Mrd. Mark auf 15,7 Mrd. Mark hochgetrieben (+ 66,5 %). Die Kosten für das Imperium des Ministeriums für Staatssicherheit und für die „Sicherung der Staatsgrenze“ (Grenztruppen, Grenzbefestigungen, „Modernisierung“ der Mauer und der Abriegelungssperren nach Westen) stiegen im gleichen Zeitraum von 3,7 Mrd. auf 6,0 Mrd. Mark (+ 63 %).75

Die aufgezeigten Mängel und Defizite gegenüber den politischen Vorgaben waren der politischen Führung bekannt. Bereits vor seiner Krisenanalyse aus dem Jahr 198976 charakterisierte Schürer die Situation für 1978 mit den Worten: „Ende 1978 war der Schuldenberg schon so hoch, daß wir immer neue Kredite aufnehmen mußten, um die Zinsen bezahlen zu können“.77 Die außen- und binnenwirtschaftlichen Belastungen überstiegen in ihrer Gesamtheit die Wirtschaftskraft der DDR. Das rigorose staatliche Außenhandels- und Valutamonopol erwies sich als zunehmendes Hemmnis für die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung.78 Nach Schürers Krisen-Analyse 1989 ist die ‚Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet […] auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt‘.79 Zur Entwicklung des Zahlungsbilanzsaldos gegenüber dem Westen wird weiter ausgeführt: ‚Damit ergibt sich anstelle des geplanten Exportüberschusses von 23,1 Mrd. VM ein Importüberschuß im Zeitraum 1986-1990 von 6 Mrd. VM.

73 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 70. 74 Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, S. 14. 75 Ebd., S. 14. 76 Schürers Krisenanalyse vom 30.10. 1989, in: Deutschland Archiv Heft 10/1992, S. 11121120. 77 Schürer, Gerhard: Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt / O. 1996, S. 107 f. und Hertle, Hans-Hermann: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft. Das Scheitern der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ am Beispiel der Schürer / MittagKontroverse im Politbüro 1988, in: Deutschland Archiv Heft 2/1992, S. 127-145 (138). Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin 1998, S. 202 f. 78 Kusch, Günter et al.: Schlußbilanz – DDR, Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 131 f. 79 Schürers Krisenanalyse vom 30.10. 1989, in: Deutschland Archiv Heft 10/1992, S. 1114.

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Das war mit einem schnellen Anstieg des ‚Sockels‘ auf 49 Mrd. VM Ende 1989 verbunden, d. h. auf 190 % gegenüber 1985. Die eingetretene Höhe des ‚Sockels‘ entspricht damit etwa dem 4-fachen des Exports des Jahres 1989. Mit den geplanten Valutaeinnahmen 1989 werden nur etwa 35 % der Valutaausgaben insbesondere für Kredittilgungen, Zinszahlungen und Importe gedeckt. 65 % der Ausgaben müssen durch Bankkredite und andere Quellen finanziert werden. Das bedeutet, daß die fälligen Zahlungen von Tilgungen und Zinsen, d. h. Schulden mit neuen Schulden bezahlt werden. Zur Finanzierung der Zinsen müssen mehr als die Hälfte des Einnahmenzuwachses des Staatshaushaltes eingesetzt werden. […] Wenn der Anstieg des ‚Sockels‘ verhindert werden soll, müßte 1990 ein Inlandsprodukt von 30 Mrd. M aufgewendet werden, was dem geplanten Zuwachs des Nationaleinkommens von 3 Jahren entspricht und eine Reduzierung der Konsumtion um 25-30 % erfordert‘80 und würde die ‚DDR unregierbar machen‘.81 Zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit müßten entsprechende Exportüberschüsse erreicht werden. ‚Für einen solchen Exportüberschuß bestehen jedoch unter den jetzigen Bedingungen keine realen Voraussetzungen‘.82 Für Günter Schabowski, ehemaliges Mitglied des Politbüros, sind die Ursachen des Scheiterns der sozialistischen Planwirtschaft systembedingt.83 „Ich vermisse nichts aus der DDR. Der Sozialismus ist für mich etwas Überholtes. [...] Der Sozialismus ist nicht zu machen, er war eine Verheißung“.84 Für Schabowski und Schürer hatte der Zusammenbruch des wirtschaftlichen und politischen Systems der DDR systemische Ursachen. Diese Erkenntnis kam 1989 zu spät. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, so Gorbatschow im Oktober 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin.

80 Ebd. S. 1116. 81 Ebd. S. 1119. 82 Ebd. S. 1116. 83 Schabowski, Günter: Der Absturz, Reinbek b. Hamburg 1992. Zu den Ursachen des Untergangs des wirtschaftlichen und politischen Systems formuliert Gerhard Schürer: „Ich glaube heute nicht mehr daran, daß eine Planung mit klügeren Köpfen an der Spitze hätte bessere Antworten auf alle Fragen unserer Entwicklung geben können. [...] Es muß also für den Untergang des realen Sozialismus noch tiefere Ursachen geben als die Entartungen unter Stalin, den Subjektivismus der politischen Führungen, die Überzentralisierung im planwirtschaftlichen System und den schwerfälligen Wechsel von Versagern in führenden Positionen des Staates“. In: Schürer, Gerhard: Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt. O. 1996, S. 256. Auch für Schürer hatte der Zusammenbruch des wirtschaftlichen und politischen Systems der DDR systemische Ursachen. 84 Schabowski, Günter, in: Handelsblatt vom 5.11.2009.

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6. Lebensstandard und Versorgungslage 85 Von Gernot Schneider 6.1. Ein Situationsbericht zur Versorgungslage Unter den für die Beurteilung der Leistungskraft einer Wirtschaft besonders wichtigen Kriterien kommt dem privaten Verbrauch – und damit der Versorgungslage – eine Schlüsselrolle zu. Hier zeigt sich unmittelbar, in welchem Ausmaß Privatpersonen oder -haushalte ihre Wünsche und Bedürfnisse durch den Erwerb von Gütern bzw. die Inanspruchnahme von Diensten befriedigen können, offenbaren sich wesentliche soziale Resultate des Wirtschaftens. Deshalb gab es bei dieser Frage für die offizielle SED-Propaganda kein Zaudern, sondern die Situation war eindeutig: Das „Volk der DDR“, so Erich Honecker auf der 7. Tagung des SED-Zentralkomitees Anfang Dezember 1988, habe einen Lebensstandard erreicht, der „im Grunde genommen höher ist“ als jener der Bundesrepublik Deutschland. Die realsozialistische Wirklichkeit jedoch sah anders aus. Das verdeutlichen Auszüge aus Bürgereingaben an das Ministerium für Handel und Versorgung von 1989, die dem Zentralkomitee der SED zur Kenntnisnahme zugeleitet wurden.86 Ein Bürger aus Wilkau-Haßlau schreibt u. a.: „Bananen, gute Apfelsinen, Erdnüsse u. a. sind doch keine kapitalistischen Privilegien. Wenn so kleine Länder wie die Schweiz und Österreich Südfrüchte in großer Auswahl anbieten können, müßte das doch auch in unserem Land, einem führenden Industrieland, möglich sein. Wir alten Menschen, wie unsere Kinder und Enkelkinder möchten Südfrüchte nicht nur als ‚milde Gaben‘ von Verwandten aus der BRD geschenkt bekommen, sondern in unseren Geschäften selbst kaufen können“.

Eine Mutter aus Dresden meldet sich mit folgendem Kommentar zu Wort: „Ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Lebensstandards ist meines Erachtens, inwieweit der Staat in der Lage ist, für eine gesunde Ernährung seiner Bevölkerung zu sorgen. … Ich bin Mutter von zwei Kindern (Kindergartenbzw. Schulalter) und empfinde es als äußerst unwürdig, wenn ich meinen Kindern chemische Präparate, wie Sumavit-forte oder Traverdin, verabreichen muß, um wenigstens etwas das Gefühl zu besitzen, daß meine Kinder auch Vitamine zu sich nehmen. Ich bin 30 Jahre alt, und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke und Vergleiche anstelle, was für uns konkret da war in Obst- und Gemüseläden, frage ich mich, kann das heutige Angebot im Sinne der Politik zum Wohle des Volkes sein? … Das heutige Angebot erschöpft sich in sogenannten Sandmöh85 Schneider, Gernot: Lebensstandard und Versorgungslage, in: Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (Hrsg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, Opladen 1996, S. 111-136. 86 SAPMO BArch, DY 30/41886.

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ren, Kartoffeln, Schwarzwurzeln und dem Apfel ‚Gelber Köstlicher‘, der alles andere als köstlich ist und im Volksmund ‚Gelbes Elend‘ heißt“.

Und ein Arzt aus Coswig schreibt: „Frischobst mit Ausnahme von Äpfeln, Frischgemüse sowie Feinfrostobst und -gemüse gibt es in Dörfern, Klein- und Kreisstädten von November bis März so gut wie gar nicht. Selbst an Obstkonserven sieht man fast nur noch Hauspflaumen, Mischobst und Apfelmus, Obstsäfte, wie z. B. Orangensaft, gibt es nur zu unzumutbar hohen Preisen in Delikatgeschäften. Wir Ärzte sind aufgerufen, uns für die gesunde Ernährung der uns anvertrauten Bevölkerung einzusetzen, um Bluthochdruck, Herz- und Kreislaufkrankheiten und Stoffwechselerkrankungen vorzubeugen. Verzichten Sie auf den Import von Spirituosen aus südlichen und westlichen Ländern. Mit den dafür eingesparten Devisen können Sie ausreichend Bananen und Apfelsinen kaufen“.

Die SED- und Staatsführung selbst waren ständig mit den trivialsten Versorgungsfragen befaßt. Unzählige zentrale Inspektionen nahmen Mißstände in den Einrichtungen des Handels und der übrigen Wirtschaft auf und fertigten eine Flut von Berichten an, mit denen sich der „Apparat“ befaßte. So stellte es offensichtlich ein Politikum dar, in den Verwaltungsbezirken der DDR im Sommer 1989 die Gemüseversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Aus der daraufhin veranlaßten Berichtspflicht des Ministeriums für Handel und Versorgung an den zuständigen Sekretär des ZK der SED, Werner Jarowinsky, geht hervor, daß das Gemüseangebot der DDR zur damaligen Zeit im Durchschnitt nur sechs bis acht verschiedene Gemüsesorten aufwies, in den Bezirken Rostock und Cottbus zeitweilig sogar nur drei.87 Der Minister für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie, UdoDieter Wange, berichtete am 23. Juni 1989 dem für Wirtschaftsfragen zuständigen SED-Politbüromitglied, Günter Mittag, über Rückstände bei der Produktion und Auslieferung von Puddingpulver für die Bevölkerungsversorgung im Umfang von 355 Tonnen. Zur Korrektur dieser Situation habe er folgendes veranlaßt: 1.

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„Durchführung von Sonderschichten im VEB (Volkseigener Betrieb) Ring Mittweida des Kombinates Nahrungsmittel und Kaffee, beginnend am 24. und 25.6.1989 … Aussprachen mit der Belegschaft zum Übergang von der 2-Schicht- auf die 3-Schichtarbeit unter Zuführung von Arbeitskräften aus den Kombinaten der Lebensmittelindustrie ab 27.6.1989. Mit dem Präsidenten des Verbandes der Konsumgenossenschaften wurde eine zusätzliche Produktion von Puddingpulver in Betrieben des Konsums als sozialistische Hilfe vereinbart …“ 88

Der Minister für chemische Industrie (Wyschowsky) sah sich veranlaßt, Günter Mittag am 18. Juli 1989 eine Information über „die Erfüllung der Maßnahmen

87 SAPMO BArch, DY 30/41886. 88 SAPMO BArch, DY 30/41778.

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zur bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Gummibadehauben“ zukommen zu lassen. Ganz auf dieser Linie lag auch eine Anfrage Willi Stophs, des Regierungschefs der DDR, an Günter Mittag vom 25. August 1989, um Einverständnis für den „zusätzlichen Import von 4 Mio. Damenslips noch im Jahre 1989“ gegen Devisen (6 Mio. VM) aus der operativen Staatsdevisenreserve. Doch das Jahr 1989 bildete keine Ausnahme. Bereits im Herbst 1987 reiften die Zweifel, daß sich die Versorgungsziele des Fünfjahresplanes 1986-1990 erfüllen ließen. So berichtete zu dieser Zeit der Generaldirektor der Hauptdirektion des staatlichen Einzelhandels, Zacher, an Werner Jarowinsky über „Stimmungen und Meinungen der Bevölkerung zur Angebotssituation bei Kinderbekleidung, Jugendmode, Haushaltwaren sowie Ersatzteile und Zubehör in den Sortimenten Elektroakustik einschließlich Elektromaterial“. Danach häuften sich die kritischen bis aggressiven Meinungsäußerungen der verärgerten Kunden, wie einige in diesem Material zitierte Ansichten erkennen lassen: -

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„Bei uns geht die Entwicklung nicht vorwärts, sondern zurück“. „Seit vielen Wochen komme ich fast täglich, um eine Hose in der Größe 98/110 für meinen Sohn zu bekommen. Für ein Kaufhaus ist es ein völlig untragbarer Zustand, daß nicht eine Hose in dieser Größe zu bekommen ist …“. „Kinderkriegen wird zur Belastung, wenn man nichts zum Anziehen bekommt“. „Was nützt uns das Kindergeld, wenn wir nichts dafür bekommen?“ „Was gibt es bei uns überhaupt noch?“ „Wozu seid ihr da, ihr verschiebt wohl alles?“ „Da müßt Ihr mal rüber fahren, dort bekommt man wenigstens Hosen usw.“

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte im August 1987 in einer streng geheimen Information über „Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Problemen des Handels und der Versorgung“, die Werner Jarowinsky ebenfalls zuging, festgestellt, daß in allen Kreisen der DDR-Bevölkerung ein „erheblicher Anstieg kritischer Diskussionen zu verzeichnen (ist)“. Infolge immer spürbarer werdender Engpässe, Sortimentslücken bzw. Qualitätsmangel, „insbesondere bei solchen Erzeugnissen wie Damen- und Herrenoberbekleidung in allen Preisklassen, Kinderbekleidung, technischen Konsumgütern, Heimelektronik, Schuhen und Lederwaren, Ersatzteilen, hauptsächlich bei Kraftfahrzeugen, aber auch bei zahlreichen Artikeln des täglichen Bedarfs und Grundnahrungsmitteln häufen sich negative und abfällige Äußerungen über das Warenangebot. Zunehmend sind derartige Äußerungen verbunden mit offen ausgesprochenen Zweifeln an der Objektivität und Glaubwürdigkeit der von den Massenmedien der DDR periodisch veröffentlichten Bilanzen und Ergebnisse der Volkswirtschaft“.

Unter diesen Umständen werde es für die staatstragenden Kräfte immer schwieriger, „die bei Werktätigen vorhandenen Zweifel über die Realisierbarkeit der im Volkswirtschaftsplan enthaltenen Kennziffern, besonders für den Bereich Handel und Versorgung, zu entkräften“. Das Versorgungsniveau, liege, zitiert das MfS-Papier befragte Führungskräfte, „weit unter dem vergangener Jahre“. Von

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zahlreichen Beschäftigten, heißt es dort weiter, würden folgende Ursachen für die Versorgungsprobleme benannt: „Eine durch Schönfärberei oder Planreduzierung manipulierte Berichterstattung über die Planerfüllung, Eingriffe in für den Binnenhandel zur Verfügung gestellte Warenfonds zugunsten des Exports sowie – dieses Argument wird immer häufiger und mit zunehmender Aggressivität gebraucht – die Sicherung des hohen Versorgungsniveaus der Hauptstadt zu Lasten der Bezirke der DDR“. Zugleich beklagten die Bürger die Zunahme „von Korruption und Bestechung im Handels- und Dienstleistungsbereich sowie des ausschließlich auf persönliche Bereicherung abzielenden Verkaufs von … Engpaßwaren“. Immer häufiger, so die MfS-Information abschließend, würden Vergleiche zwischen dem Versorgungsniveau in der DDR und dem in der alten Bundesrepublik „vor allem durch Personen nach ihrer Rückkehr von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten angestellt und die Versorgungssituation in der BRD verherrlicht“.89 Beinahe wie ein Brandbrief mutet das Schreiben des Ministers für Handel und Versorgung, Gerhard Briksa, vom 8. Dezember 1987 an den ersten Stellvertreter des Regierungschefs, Werner Krolikowski, an. Aus ihm geht hervor, daß es enorme Schwierigkeiten gab, bis Ende November 1987 die Lieferverträge für die Bevölkerungsversorgung – erstes Halbjahr 1988 – abzuschließen. Beispielsweise fehlten noch Verträge für 1.700 t Dauerbackwaren, 1.700 t Kakaoerzeugnisse, 94.000 hl Wein, 1.599 TPaar Straßenschuhe, 1.846 TStck. Obertrikotagen, 332 TStck. Trainingsbekleidung, 1.151 TStck. Oberbekleidung für Kinder und Erwachsene, 109 Mio. Mark Möbel und Polsterwaren, 13.000 Stck. Tiefkühlschränke, 383.000 Wohnraumleuchten u. a. In einem persönlichen Anschreiben an Günter Mittag bezeichnet Krolikowski den dreiseitigen Situationsbericht des Ministers als „das bisher ernsteste Signal zur Versorgungssituation“.90 Doch die Versorgungsschwierigkeiten nahmen nicht ab, im Gegenteil. Deshalb sah sich auch das SED-Politbüromitglied Horst Dohlus veranlaßt, Erich Honecker am 15. November 1988 eine „Information zu einigen Fragen der Versorgung der Bevölkerung“ parteiintern zukommen zu lassen. Sie enthält die üblichen Klagen über Angebotsmängel, weist aber darüber hinaus auf kritische Diskussionen hin, die „es vor allen Dingen über fehlende hochwertige Industriewaren und wegen Angebotslücken bei Erzeugnissen (gibt), mit denen vielfach schon stabiler versorgt wurde“.91 Schließlich noch eine interne Information des Instituts für Marktforschung Leipzig vom 1. November 1988 an das Politbüromitglied Jarowinsky über die „Entwicklung des Umsatzes und der Versorgungslage bei Nahrungs- und Genußmitteln nach 3 Quartalen 1988“, die mit folgenden Feststellungen endet: „Die Bevölkerung schätzt bei ausgewählten Nahrungs- und Genußmitteln die Angebots-

89 Information über Reaktionen der Bevölkerung zu Problemen des Handels und der Versorgung vom 14. August 1987, Ministerium für Staatssicherheit, BStU ZAIG 3605. 90 SAPMO BArch, DY 30/41791. 91 SAPMO BArch, DY 30/41792.

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entwicklung äußerst kritisch ein. Auch bei hochaggregierten Positionen ist der Anteil der Haushalte, die eine Verschlechterung des Angebots signalisieren, größer, als derer, die eine Verbesserung feststellen“. Den beinahe letzten Versuch der SED-Führung um eine von der Bevölkerung der DDR akzeptierte Versorgung dokumentiert die Niederschrift vom 25. September 1989 über „Eingeleitete Maßnahmen zur Durchführung der Beschlüsse des Politbüros zur Gewährleistung einer zuverlässigen Grundversorgung“. Dort wird unter Punkt 1 folgendes festgelegt: „In der Zeit vom 21.9.-2.10.1989 findet in allen Bezirken und Kreisen der DDR ein Großeinsatz statt mit dem Ziel, umgehend in allen Territorien die Bedingungen zu schaffen, um im Rahmen des Planes mit Fleisch und Wurstwaren, Getränken, Gemüse und Obst eine durchgängig gute Versorgung zu gewährleisten. Dazu sind in allen Bezirken zentrale Arbeitsgruppen wirksam, denen je ein Vertreter des Ministeriums für Handel und Versorgung, des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, des Ministeriums für Bezirksgeleitete und Lebensmittelindustrie, des Verbandes der Konsumgenossenschaften und des Komitees der ABI (Arbeiter- und Bauerninspektion) angehören, insgesamt 75 Genossen. Analoge Arbeitsgruppen aus Vertretern der zuständigen bezirklichen, Staats- und Wirtschaftsorgane sind in allen 227 Kreisen im Einsatz. Die operativ eingesetzten ca. 1.200 Staats- und Wirtschaftsfunktionäre haben den Auftrag, - in den Geschäften, Fleischverarbeitungsbetrieben, Brauereien, landwirtschaftlichen Betrieben und örtlichen Großhandelsbetrieben die Lage einzuschätzen und die Ursachen zu analysieren, - sofort an Ort und Stelle notwendige Veränderungen einzuleiten und die Räte der Kreise bei der Vorbereitung erforderlicher Entscheidungen zu unterstützen, - Vorschläge zu unterbreiten für unbedingt erforderliche Entscheidungen und Unterstützungen durch die zuständigen zentralen Organe“.

Nach vierzigjährigem Führungsanspruch der SED um Lebensstandard und angemessene Versorgung der Bevölkerung zog Günter Manz, Experte der DDR für Lebensstandardforschung, im Ostberliner Fachblatt „Wirtschaftswissenschaft“ folgendes Resümee: „Schätzungsweise 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung haben so hohe Einkommen und Spareinlagen, daß sie sich praktisch alles leisten können, das heißt bis zur Zweit- und Drittausstattung mit technischen Konsumgütern, PKW, Pelzen, Schmuck usw. Etwa 50 Prozent sind so situiert, daß sie auch im Delikat und Exquisit kaufen können und ihre Ansprüche im wesentlichen befriedigt werden, wenngleich die gewünschte Bedarfsdeckung wegen Mangels an Gütern und Diensten nicht vorhanden ist. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung sind auf die subventionierten Erzeugnisse und die niedrigen Mieten voll angewiesen. Dieser Teil kann sich teure Industriewaren nicht oder nur nach längerem Sparen leisten. Wenn man von einer ‚Armutsgrenze‘ ausginge, so wie sie auch in Ungarn, der UdSSR und anderen Ländern berechnet wird, dann müßte man für die DDR 450 bis 500 Mark monatlich für

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den einzelnen (etwa 50 Prozent der durchschnittlichen Nettogeldeinnahmen der Arbeiter / Angestellten) ansetzen. Danach liegen rund 1,5 Millionen Rentner, insgesamt fast 2 Millionen Familienhaushalte mit 3 bis 3,5 Millionen Menschen um die Grenze (aber über dem Existenzminimum). Das entspricht etwa den bereits genannten 30 Prozent. Daran ändert auch nichts, daß beispielsweise Rentner noch sparen, indem sie sich nichts leisten“.92

6.2. Die Ursachen der Versorgungsprobleme Teile des realen privaten Verbrauchs blieben in den amtlichen DDR-Nachweisen unberücksichtigt. Das gilt vorzugsweise für alle Formen von angebotsseitig ausgelöster Schattenwirtschaft bzw. Selbstversorgung (1,5 Millionen Mitglieder des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter). Andere Teile des privaten Verbrauchs in der DDR standen in keiner Beziehung zum Leistungsvermögen der eigenen Wirtschaft, waren nicht das Resultat planwirtschaftlicher Bemühungen, sondern wegen der speziellen innerdeutschen Situation das Ergebnis stiller Teilhabe an den Leistungen der sozialen Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik. Das unterstreicht ein interner Bericht des Ministeriums für Handel und Versorgung an Werner Jarowinsky vom 27. Januar 1989,93 wonach Besuchsreisende im Jahre 1988 etwa 150.000 Stereorecorder aus dem Westen in die DDR eingeführt hätten, von denen etwa ein Drittel über den An- und Verkauf auf den DDR-Markt gelangte. Trotz ihres relativ niedrigen DMPreises besäßen diese Recorder „technische Parameter, die vorrangig nur von DDR-Erzeugnissen der oberen Preisgruppe erreicht werden“, sofern sich diese Geräte, deren Preise oberhalb von 1.500 Mark lagen, überhaupt im Angebot befanden. Der Wirtschaftsexperte Manz glaubt, daß über Genex (den Devisengeschenkdienst der DDR) mitgebrachte Geschenke und Paketsendungen, zu Preisen der DDR berechnet, für „20 bis 25 Milliarden Mark Konsumgüter in die Haushalte bisher einflossen“.94 Die unplanmäßige Einkommensentwicklung. Ein entscheidender Grund für die sich immer stärker zuspitzende Versorgungslage war die ungeplante Beschleunigung des Wachstums der Geldeinkommen der Bevölkerung. Es gelte langfristig (unter den speziellen Binnenmarktbedingungen der DDR), so das bereits erwähnte Papier des Ministeriums für Handel und Versorgung vom Januar 1989,95 „daß die Nettogeldeinnahmen als finanzieller Ausdruck des Bedarfs nicht schneller als die Arbeitsproduktivität und das Nationaleinkommen (dem Sozialprodukt vergleichbar) wachsen. Die Proportionen haben sich in den letzten Jahren so verändert, daß die Nettogeldeinnahmen schneller gestiegen sind als diese 92 Wirtschaftswissenschaft, 1990/4, S. 497. 93 SAPMO BArch, DY 30/41885. 94 Wirtschaftswissenschaft, 1990/4, S. 497. 95 SAPMO BArch, DY 30/41976.

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Kennziffern“. Und an anderer Stelle noch etwas genauer: Von 1986 bis Ende 1988 seien zusätzliche Geldeinkommen von 7 Milliarden Mark entstanden. Der Einzelhandelsumsatz habe mit dieser Dynamik nicht Schritt gehalten. Die nachfolgend abgedruckte Aufstellung gibt die Chronologie dieser Entwicklung wieder. Zur Entwicklung der Nettogeldeinnahmen und des Einzelhandelsumsatzes Die Nettogeldeinnahmen haben sich von 1981 bis 1985 von 1986 bis 1989 (Plan) der Einzelhandelsumsatz in den gleichen Zeiträumen

auf 117,1 % und auf 118,9 % entwickelt, auf 113 % bzw. 116,5 %.

Damit sind in den 80er Jahren die Nettogeldeinnahmen schneller gestiegen als der Einzelhandelsumsatz.

Jahr 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 (Plan)

NettogeldEinnahmen Ist: Mrd. M 120,9 124,7 128,7 131,1 136,2 141,6 149,5 156,5 162,6 168,4

Zuwachs Absolut in Mrd. M 2,9 3,8 3,5 2,9 5,1 5,4 7,8 7,1 6,0 5,8

z. Vorjahr % 2,5 3,2 2,8 2,3 3,9 4,0 5,5 4,7 3,9 3,6

Einzelhandelsumsatz Ist: Mrd. M 100,0 102,5 103,5 104,3 108,7 113,0 117,6 121,9 126,6 131,65

Zuwachs absolut in Mrd. M 4,3 2,5 1,0 0,8 4,4 4,4 4,6 4,3 4,7 5,0

z. Vorjahr % 4,5 2,5 1,0 0,7 4,2 4,0 4,1 3,6 3,9 4,0

Bei Unterstellung einer jährlichen Wachstumsparität ergibt sich im Zeitraum von 1981 bis 1985 ein Kauffondsüberhang von 4,5 Mrd. Mark, der zum Bestandteil der Geldakkumulation geworden ist. Quelle: Vergleich der Entwicklung der Nettogeldeinnahmen mit der Entwicklung wichtiger volkswirtschaftlicher Eckdaten vom 13. Januar 1989, Ministerium für Handel und Versorgung, SAPMO BArch, DY 30/41876.

Im Oktober 1989 wird dieses Problem in einer Geheimen Verschlußsache des Politbüros der SED noch deutlicher wie folgt angesprochen: „Aus der schnelleren Entwicklung der Nettogeldeinnahmen gegenüber dem Warenfonds zur Versorgung der Bevölkerung ergibt sich im Zeitraum 1986-1989 ein aktueller, direkt auf den Binnenmarkt wirkender Kaufkraftüberhang von 6,0 Mrd. M. Das entspricht etwa dem Zuwachs der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung eines ganzen Jahres“.96 Diese 6 Milliarden Mark dürften eher die Untergrenze markieren, denn in einer Analyse des Ministeriums für Handel und Versorgung vom 27. Juni 1988, die

96 Aus: Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen – Geheime Verschlußsache ZK 02 47/89 – 666.

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Günter Mittag zwei Tage später erhielt, wird ein Kaufkraftüberhang von 9-10 Milliarden Mark allein für den Zeitraum 1987-1989 vorausgesagt.97 Preistreiberei, technischer Rückstand, Qualitätsmängel und Angebotslücken bei Gebrauchsgütern und Bekleidung. Die Dimension der hinter diesen Disproportionen versteckten Verwerfungen offenbart sich allein über Zahlen der Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes – als geldwertem Ausdruck realisierten privaten Verbrauchs – nur unzureichend. Denn in „den letzten 15 Jahren wurde der wertmäßige Umsatzzuwachs bei technischen Konsumgütern im Prinzip durch das steigende Durchschnittspreisniveau erreicht. Die Umsatz- bzw. Verbrauchsmenge stagnierte weitgehend.“ Das bedeutet die interne Anerkennung einer Preisniveauanhebung gegenüber 1973 von über 100 Prozent. Dem hier zitierten Ministerium für Handel und Versorgung war klar, welche Konsequenzen diese Entwicklung nach sich zog. Deshalb heißt es in seiner Analyse mit Blick auf das damals bekannte und absehbare Angebot weiter: „Aus der Höhe des Preises und der Dynamik der Preisentwicklung bei gleichzeitig nicht erfolgter angemessener Gebrauchswertsteigerung zeichnen sich bei einigen Erzeugnissen preisbedingt Wachstumsgrenzen im Einzelhandelsumsatz ab. Das betrifft insbesondere Farbfernsehgeräte, Heimrundfunkgeräte, Stereoradiorecorder, Walkmans, Fotoapparate, Waschvollautomaten, Gefrierschränke und -truhen, elektrische Küchengeräte“. Zugleich enthält das Papier konkrete Vorschläge für folgende Neu- und Weiterentwicklungen in „zentral geplanten Positionen“, von denen man sich die Lösung der Probleme verspricht:98 Elektroakustik: Farbfernsehgeräte mit Stereoton und Videotextrecorder, mit Satelliten- und Kabeltuner, mit Rechteckbildröhren sowie mit kleineren Bildröhren; Hifi-Super- bzw. Komponentensysteme mit deutlich höherer Leistung, Fernbedienung und Digitaltechnik; Video- und CD-Technik. Möbel: Modelle mit hoher Langlebigkeit, besserer Werkstoffveredlung, neuartigen Oberflächen, Stauraumlösungen. Haushaltgeräte: Waschvollautomaten in Schmal- und Kompaktbauweise, elektrische Wäschetrockner, Geschirrspülautomaten, Mikrowellenherde, Elektroherde mit Glas-Keramik-Kochfeld bzw. Induktionsfeld, akkubetriebene elektrische Haus- und Küchengeräte in Kompaktbauweise. Foto-Kino-Optik: Sofortbildkameras, Kleinbildkameras (Pocket) und andere Fotoapparate mit eingebautem Blitz, Fotoapparate mit automatischer Scharfeinstellung, mit Belichtungsautomatik und motorisiertem Filmtransport. Spielwaren: Computerspiele, strategische Elektronikspiele, Experimentierbaukästen, Modellautos.

97 SAPMO BArch, DY 30/41792. 98 SAPMO BArch, DY 30/41876.

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Sport- und Campingartikel: Kraftsportgeräte, neue Sport- und Freizeitspiele, attraktive Sport- und Schlauchboote aus leichten Materialien, Touristenluftmatratzen aus leichtem Dederongewebe.

Die lange Wunschliste macht die vorhandenen Angebotslücken im Bereich der technischen Konsumgüter besonders deutlich. Vergleichbare Zustände bestätigt eine „Information zur Lage der Versorgung mit Straßenschuhen“ an das ZK der SED, erstellt im Juni 1988 von der Generaldirektion des Zentralen Warenkontors (ZWK) Schuhe und Lederwaren. 99 Sie konstatiert „ein den mengenmäßigen Bedarf der Bevölkerung nicht ausreichend deckendes Angebot bei Herren- und Damenschuhen“. Insbesondere der Nachfrage „nach modischen, hochwertigen Halbschuhen bzw. Pumps aus Leder und interessanten Materialkombinationen“ werde nicht entsprochen. Der Anteil der Spitzenerzeugnisse (Exquisit, Salamander-Gestattungsproduktion sowie die seit 1987 wirksame Beratungsproduktion) am Gesamtangebot für Erwachsene (jährlich etwa 25 Mio. Paar) falle seit 1986 von 38 Prozent auf 33 Prozent (Plan 1988), obwohl er der „Nachfrage entsprechend … bei ca. 50 Prozent“ liegen müßte. Gleichzeitig wird auf die drastisch gestiegene Reklamationsquote wegen Qualitätsmängeln verwiesen, obwohl sich das durchschnittliche Verbraucherpreisniveau zwischen 1980 und 1987 bei Damenschuhen um 54 Prozent und bei Herrenschuhen um 44 Prozent erhöht hatte, wie aus der nachstehenden Tabelle hervorgeht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Information des ZWK Schuhe und Lederwaren, daß die Preise für vergleichbare Damenschuhe, die 1988 in der DDR gezahlt werden mußten, teilweise doppelt so hoch lagen wie in der alten Bundesrepublik. Viele Ähnlichkeiten mit der Situation im Schuhsektor sind bei der Versorgung der Bevölkerung mit Textilien und Bekleidungserzeugnissen auszumachen. Aus einer Mitteilung der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat der DDR vom Mai 1989 „über die Vorbereitung und Durchführung des Zentralen Wareneinkaufs für das 2. Halbjahr 1989 für den Konsumgüterbinnenhandel“, die Werner Jarowinsky ebenfalls vorlag, geht hervor, daß „wie schon zu vorangegangenen Einkaufshandlungen … die notwendigen Entscheidungen über die Bereitstellung der Materialfonds … wiederum zu spät herbeigeführt (wurden)“. Besondere Schwierigkeiten habe es erneut mit Oberbekleidungserzeugnissen gegeben. „Bei Oberbekleidung gab es Widersprüche zum eingesetzten Gewebe“. Schließlich hätten „offene Probleme im Zusammenhang mit der Jugendmodekollektion … zur Verzögerung des Beginns der eigentlichen Kaufhandlung …“ geführt. Die betroffenen Einkäufer des Handels hätten die Meinung vertreten, „daß es unverantwortlich ist, zentrale Kaufhandlungen mit derart vielen ungeklärten Problemen durchzuführen“.

99 SAPMO BArch, DY 30/41884.

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Die Stabilität des Preisgefüges – Anspruch und Wirklichkeit Entwicklung der Durchschnittspreise für Herren- und Damenschuhe im Exquisit- und Fachhandelsortiment (Basis: Großhandelsumsatz) – Mark Sortiment 1980 1987 % Herrenstraßenschuhe 70,10 101,05 144 Stiefel 106,33 136,07 128 Halbschuhe 72,21 108,31 150 Sandalen 44,96 35,77 80 Damenstraßenschuhe 67,71 104,48 154 Stiefel 102,10 151,78 149 Halbschuhe 61,43 90,79 148 Pumps 82,84 118,41 143 Sandalen 40,94 52,42 128 1 Mengenanteil Sandalen rückläufig von 1980 = 29 % auf 1987 = 19 %. Quelle: Erstellt nach der Information zur Lage der Versorgung mit Straßenschuhen vom 28. Juni 1988, Zentrales Warenkontor Schuhe und Lederwaren Leipzig, SAPMO BArch, DY 30/41884.

Das von den Textil- und Bekleidungsbetrieben vorgelegte Angebot für das zweite Halbjahr 1989 bewerten „… die Einkaufskollektive des Handels und die Sortimentsräte …“ – ausgehend von den Erwartungen der Bevölkerung – hinsichtlich Gewerbeeinsatz, Accessoirs und Gestaltung als „sehr bescheiden“. Andererseits auch hier das Bestreben, „auf der Grundlage einer hohen Qualität maximale Preise festzulegen“. Im Zuge dieser Bemühungen kam es während der Kaufhandlung beispielsweise zu folgenden Verbraucherpreiserhöhungen: - „Damenkleider aus Großrundstrickgewebe crash 20 Prozent über denen für Großrundstrickgewebe versiegelt. -

Hosen, Röcke, Kleider aus Pigmentdruck / Goldfarbendruck 15 Prozent über dem bisherigen Preis für Pigmentdruck und Röcke, Kleider, Blusen aus Disko-Krepp zwischen 15 und 20 Prozent über den Preisen für herkömmlichen Lagenkrepp“.

Die Inspektionsgruppe des Ministerrats glaubt, „daß alle Möglichkeiten genutzt worden sind, mit den vorgestellten Erzeugnissen eine hohe Kaufkraftbindung zu realisieren“. Kaufkraftbindung meint hier Preiserhöhung, wie aus dem direkt angefügten Beispiel hervorgeht, wonach „gegenwärtig“ die Preise für Jeanshosen im Fachhandel mit 218,- Mark festgelegt sind. Dieser Preis, so das zitierte Papier, läge über dem Preis, der vor 3 bis 4 Jahren für vergleichbare Erzeugnisse „im Exquisit realisiert wurde“. Demgegenüber würden FDJ-Blusen weiterhin „in Höhe von 0,6 Mio. Mark“ subventioniert.100

100 SAPMO BArch, DY 30/35473.

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Und eine offizielle „Information über die Ergebnisse der Preisbestätigung in Vorbereitung und Durchführung des zentralen Wareneinkaufs für Textil / Bekleidung, Schuhe und Lederwaren (Herbst/Winter 1989) für den Fachhandel“ des Leiters des staatlichen Amtes für Preise, Walter Halbritter, vom 12. Mai 1989 an Günter Mittag offenbart nachdrücklich die eingeschlagene Strategie. Veränderungen in der Angebotsstruktur, heißt es da, hätten zur Folge gehabt, daß das durchschnittliche Verbraucherpreisniveau im normalen Fachhandel innerhalb von Jahresfrist um knapp 3 bis 10 Prozent angestiegen sei. Schließlich geht aus einer weiteren „Information über die Ergebnisse der Preisbestätigung für Bekleidung, Schuhe und Lederwaren des Versorgungszeitraumes Herbst / Winter 1989 für Exquisit“ von Halbritter an Mittag vom 1. Juni 1989 hervor, daß die Preise in den ohnehin teuren Exquisitgeschäften innerhalb des gleichen Zeitraumes sogar um 6 bis fast 40 Prozent zulegen sollten. Solche Preissprünge waren nicht mit gestiegenen Kosten zu begründen, wie bereits einer internen „Information über die Preisbestätigung für Exquisiterzeugnisse – Angebot 2. Halbjahr 1988 – am 27. April 1988 in Leipzig“ von Halbritter an Honecker vom 28. April 1988 zu entnehmen ist. Für Fertigwarenimporte aus westlichen Ländern, heißt es da, würde in den Exquisitgeschäften trotz gestiegener Importpreise je ausgegebener Valutamark ein höheres Ostmarkäquivalent erlöst als im Vorjahr. Dazu einige Beispiele:

Damenoberbekleidung Herrenoberbekleidung Herrenhemden Lederbekleidung Kosmetik Modeschmuck

Relation Importpreis (VM) zu Exquisitpreis (EVP) 2. Halbjahr 1987 2. Halbjahr 1988 1 : 5,3 1 : 5,7 1 : 5,7 1 : 5,9 1 : 6,1 1 : 6,8 1 : 5,3 1 : 5,4 1 : 11,0 1 : 11,4 1 : 6,8 1 : 7,3

Der Trend, Verbraucherpreise in den Exquisitsortimenten festzulegen, die schneller steigen als die vergleichbaren Importpreise, setzt sich auch im zweiten Halbjahr 1989 fort, wie die bereits erwähnte Information Halbritters an Mittag vom 1. Juni 1989 belegt. Der Beschleunigungsgewinn gegenüber dem entsprechenden Vorjahreshalbjahr erreicht je nach Sortiment rund 3 bis 14 Prozent.101 Dennoch: Diese allen offiziellen Politikinformationen und amtlichen Verlautbarungen zuwiderlaufende Preiserhöhungsstrategie ließ sich nicht beliebig und uferlos fortsetzen. Die SED-Führung besaß zwar das Angebots-, nicht aber das Informationsmonopol. Viele DDR-Bürger stellten Vergleiche an und lehnten Mondpreise zunehmend ab. Das bereits mehrfach erwähnte Material des Ministeriums für Handel

101 SAPMO BArch, DY 30/41753/1.

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und Versorgung vom Januar 1989 verweist auf die „umsatzhemmende Wirkung des Preises … durch die Möglichkeit des Einkaufs unserer Bevölkerung in IntershopEinrichtungen“. Ein Walkman, der dort für 50,- DM zu haben sei, im Einzelhandel der DDR dagegen für 399,- Mark (Preisverhältnis 1:8 – siehe nachfolgendes Schaubild zum Preisvergleich für Intershops), rege die Kunden geradezu an, „Mark der DDR in DM umzutauschen und auf den Kauf von DDR-Produkten zu verzichten“.102 Schaubild: Intershop – der zweite Versorgungsmarkt der DDR Preisvergleich für ausgewählte vergleichbare elektroakustische Geräte

Innovationsschwäche, Verarbeitungsmängel und Angebotslücken bei Nahrungs- und Genußmitteln. Lebensmittelangebot und -verbrauch standen in der DDR ganz im Zeichen einer ideologisch motivierten Niedrigpreispolitik. Die Subventionen hierfür stiegen von knapp 8 Milliarden Mark im Jahre 1980 auf fast 32 Milliarden Mark im Jahre 1988. Niemand mußte hungern, im Gegenteil: Die subventionierten Nahrungsmittelpreise begünstigten die Nachfrage, aber auch die achtlose Verschwendung von Lebensmitteln bzw. deren Mißbrauch als Tierfutter. Der Verzehr von Grundnahrungsmitteln pro Kopf und Jahr erreichte internationale Spitzenwerte – beispielsweise bei Fleisch- und Wurstwaren gut 100 kg (1988). Parallel dazu stellte sich die Übergewichtigkeit bei 40 Prozent aller Frauen und 20 Prozent der Männer ein. Eine Studie des Instituts für Marktforschung

102 SAPMO BArch, DY 30/41876.

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vom März 1987 über „die Ernährungssituation und Möglichkeiten ihrer Verbesserung“ für Werner Jarowinsky beklagt deshalb, daß -

„das Mengenwachstum im Verbrauch nach wie vor dominiert; der Nahrungsenergieverbrauch (kcal pro Kopf) um jährlich etwa 1 Prozent steigt, während er in hochentwickelten westeuropäischen Staaten nur um 0,3-0,4 Prozent wächst; die ernährungswissenschaftlichen Richtwerte mit ca. 140 Prozent erfüllt werden (1960: 111 Prozent); die ernährungsbedingten Erkrankungen anwachsen und sich damit Produktionsausfälle erhöhen“.103

Zugleich wuchs von Jahr zu Jahr die Kritik an der Qualität der Versorgung zu erschwinglichen Preisen, d. h. außerhalb des in nachfolgender Tabelle dokumentierten Angebots in den Delikatgeschäften. Die eben erwähnte Studie des Leipziger Marktforschungsinstituts führte folgende Mängelliste an: 







„Die Sortimentsvielfalt entspricht nicht den differenzierten Erwartungen der Verbraucher. - Seit Ende der 70er Jahre hat sich die Auswahlbreite in den Einzelhandelsverkaufstellen nicht wesentlich verändert. - Die Sortimentsvielfalt erreicht nur 25-30 Prozent des Niveaus vergleichbarer Einrichtungen in hochentwickelten westeuropäischen Staaten. - Die Auswahlmöglichkeit ist zwischen Sortimenten sehr unterschiedlich. - Das Angebot konsumreifer Erzeugnisse ist besonders gering, bei tischfertigen Sterilkonserven sind 1-2 Artikel von 45 produzierten im Angebot; tiefgefrostete Fertiggerichte werden nur zeitweise angeboten. - Die Stabilität im Feinsortiment (artikelkonkret) ist bei etwa einem Drittel der Erzeugnisse nicht gesichert. Die Qualität der Erzeugnisse des Grundbedarfs stagniert seit mehreren Jahren und hat sich teilweise verschlechtert. - Bei 40 Prozent der Erzeugnisse liegt das Qualitätsniveau unter dem von 1980. - Die hygienischen Bedingungen der Rohstoffe und ihrer Verarbeitung haben sich ebenfalls z. T. verschlechtert. … Die Innovationsrate beträgt 2,6 Prozent der Artikel bzw. 13 Prozent des Umsatzes (1986), enthält kaum echte Neuheiten mit versorgungspolitischem Effekt und führte nicht zur Ausdehnung der Sortimentsvielfalt. Die Aufwendungen der Haushalte für den Lebensmitteleinkauf haben sich seit 15 Jahren nicht verändert und betragen rd. 4 Stunden pro Woche (das entspricht fast einem halben Arbeitstag)“.104

Für die SED-Parteiführung war diese kritische Versorgungslage immer eine Herausforderung. Erich Honecker selbst beispielsweise machte mit Hilfe eines 103 SAPMO BArch, DY 30/38661. 104 Ebenda.

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Fernschreibens allen ersten Sekretären der Bezirks- und Kreisleitungen der SED am 25. November 1988 Mitteilung darüber, „daß ab 28.11.1988 der Verkauf von Apfelsinen in allen Bezirken und Kreisen beginnt“. Und weiter hieß es dort: „Insgesamt stehen 84.500 Tonnen aus Importen aus Kuba und kapitalistischen Ländern zur Verfügung. Über die für den Bezirk bereitgestellte Menge ist der Vorsitzende des Rates des Bezirkes durch den Minister für Handel und Versorgung informiert. Der Verkauf wird so gelenkt werden, daß die Vorräte bis zum 24. Dezember zur Verfügung stehen“.105 Welche Schattenseiten hinsichtlich der akuten Gefährdung der Volksgesundheit die Versorgungspolitik der SED-Führung aufwies, sei am Beispiel der Fleisch- und Wurstwaren näher verdeutlicht. Mit Fleischpreisen, die bei – wenngleich wegen devisenbringender Westexporte unzureichend angebotenem – Edelfleisch nur 25 bis 30 Prozent des vergleichbaren westdeutschen Preisniveaus erreichten, waren die Erhaltung und Modernisierung der fleischverarbeitenden Kapazitäten in der DDR sowie ein zeitgemäßes Lager- und Transportwesen nicht zu finanzieren. Dazu folgende Zahlen aus einer streng geheimen „Information über einige Probleme im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Arbeits- und Produktionssicherheit in der Fleischindustrie der DDR“, die das MfS im August 1986 verfaßte: 60 der 72 Schlachtbetriebe der DDR wurden vor der Jahrhundertwende errichtet. In die Kategorie I (gut) wurde von den zuständigen Kontrollinstanzen nur ein Betrieb eingestuft, weiteren 20 Schlacht- und Verarbeitungsbetrieben wurde die Kategorie II zugesprochen und 51 Betrieben die Kategorie III (schlecht). Der Handel mit Delikat-, Exquisit- und Jugendmodeerzeugnissen1 Jahr

1978 1980 1984 1985 1986 1987 1988

Umsatz Anteil des Umsatz im im Deli- Delikat-handels Exquisitkat-handel am Umsatz von handel in in Mio. Nahrungs- u. Ge- Mio. Mark Mark nußmitteln in % 725 1,5 1.100 4.500 7,9 4.900 8,4 5.200 8,6 5.600 9,1 -

1

Anteil des Zuwachs des Zuwachs des Zuwachs des Exquisit-handels Umsatzes im Umsatzes im Umsatzes im am Umsatz von ExquisitSortiment DelikatTextilwaren und handel in % Jugendmode handel Bekleidung in % in % in % 8,3 19,02 13,02 8,0 10,02 9,6 7,5 7,0 7,9 4,7 7,4

Die Tabelle veranschaulicht die Sonderversorgung, die ursprünglich von der SED-Führung zum Wettbewerb mit den Intershop-Geschäften ins Leben gerufen worden war. 2 Zuwachs im Angebot. Quelle: Nach Walter Dlouhy: Hochwertige Erzeugnisse und ihre Stellung im Nahrungs- und Genußmittelangebot, in: Lebensmittelindustrie Heft 1, Leipzig 1986; Neues Deutschland vom 19./20.1.1985, vom 18./19.1.1986, vom 19.1.1987, vom 23./24.1.1988 und vom 19.1.1989 sowie Statistisches Jahrbuch 1989 der DDR, Berlin (Ost) 1989.

105 SAPMO BArch, DY 30/41792.

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Weil sich diese Zustände auch im Hinblick auf den Export in den Westen nicht mehr vertuschen ließen – Hygiene-Vertreter der EG akzeptierten lediglich drei Schlachtbetriebe als Lieferanten –, sah sich das MfS zu dieser kritischen Bilanz veranlaßt. Ihr zufolge konnten nachteilige Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung infolge völlig verschlissener Produktionsanlagen nur „durch die Erteilung entsprechender Ausnahmegenehmigungen des Amtes für Standardisierung, Meßwesen und Warenprüfung (ASMW), der Staatlichen Bauaufsicht und des Staatlichen Amtes für Technische Überwachung vermieden werden“. Im Jahre 1985 habe das ASMW für etwa 29 Prozent „des Schlachtaufkommens (ca. 450 kt) der DDR“ insbesondere deshalb Ausnahmegenehmigungen aussprechen müssen, weil „die geschlachteten Tiere nicht entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen der TGL (Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen) auf eine Kerntemperatur von +8°C gekühlt und ausgeliefert werden konnten“. Für 1986 sagten Experten, so das MfS-Papier, einen entsprechenden Bedarf an Ausnahmegenehmigungen für 41 Prozent des Schlachtviehangebots der DDR voraus. Die Abweichungen von den normierten Kerntemperaturen betrügen bei Schweinefleisch 4°C (also +12°C) und bei Rindfleisch 6°C (+14°C). Diese „mit Gefahren für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung der DDR verbundenen Temperaturabweichungen treten“, so die geheime MfS-Information, „hauptsächlich bei den zur Verarbeitung für die Versorgung der Bevölkerung vorgesehenen Schlachtkörpern auf“. Und dann nochmals der Hinweis, daß „gesundheitliche Beeinträchtigungen der Bevölkerung bei Rohverzehr des nicht ausreichend gekühlten Fleisches nicht ausgeschlossen werden (könnten)“.106 Schließlich häuften sich in der zu Ende gehenden SED-Ära die Vorwürfe gegen Touristeneinkäufe, weil sie mitverantwortlich wären für die Kritik der DDRBevölkerung am schlechten Versorgungsniveau. In einer internen „Parteiinformation zu Zollfragen“ vom Januar 1989 wies Egon Krenz auf die Notwendigkeit hin, „Maßnahmen zum Schutz des Binnenmarktes“ zu ergreifen. Die Touristen wurden beschuldigt, durch ihre Einkäufe in Mark „zu Lasten unserer Werktätigen ökonomische Vorteile aus der Preispolitik der DDR zu ziehen“.107 In Wirklichkeit war die SED-Wirtschaftspolitik gescheitert, denn sie konnte die durch Geld gedeckte Nachfrage (das Problem Falschgeld wurde niemals erwähnt) nicht mit entsprechenden Waren und Leistungen befriedigen. Nahezu grotesk nehmen sich denn auch die Vorschläge des SED-Politbüros „für sofort wirksame Einschränkungen des Abkaufs von Waren durch ausländische Bürger, insbesondere der Volksrepublik Polen“ vom 31. Oktober 1989 aus, die u. a. damit begründet wurden, daß durch die Einkäufe der Polen „teilweise eine durchgängige Versorgung und ein normaler Einkauf durch unsere Bürger nicht mehr gewährleistet werden“ könne.108 Neben Empfehlungen zur Einschränkung des Verkaufs an polnische Touristen insbesondere in stark frequentierten Verkaufsstellen bzw. 106 BStU ZAIG/12/86. 107 SAPMO BArch, DY 30/41884. 108 Ebenda.

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zur Neubestimmung des touristischen Wechselkurses zwischen Mark und Zloty wurde mit Bezug auf den Transitverkehr folgendes vorgetragen: „Verstärkung der Zollkontrolle an der Staatsgrenze, insbesondere bei der Abfertigung von Schwerpunktzügen und Transitreisenden. Zuführung weiterer Kontrollkräfte. Festlegung von Transitwegen und -zeiten, die das Aufsuchen von Einkaufzentren erschweren. Das sollte umfassen:  Festlegung von Transitstraßen zwischen der VR Polen und Berlin (West) sowie der BRD, die nur in Notfällen verlassen werden dürfen.  Einsatz von Überwachungskräften zur Verhinderung illegaler Warenübernahmen und des Verlassens der Transitwege.  Verkürzung der Höchstfristen für den Transit mit Reisezügen von bisher 48 Stunden auf 8 Stunden nach Berlin (West) und 24 Stunden nach der BRD ohne Unterbrechung der Reise. Einstellung des Verkaufs von Mark der DDR an Transitreisende VRP-Bürger (bisher ist der Tausch von je 100 Mark für Hin- und Rückfahrt möglich)“.

6.3. Die Ausstattung der Haushalte mit technischen Konsumgütern Über die Ausstattung der Haushalte in der DDR mit technischen Konsumgütern gibt es nur wenige authentische Informationen, die etwas zur sozialen Struktur der Verbraucher bzw. zum technischen Standard der genutzten Gebrauchsgegenstände aussagen. Nicht etwa, weil es darüber keine detaillierten Unterlagen gegeben hätte. Das bereits mehrfach erwähnte Institut für Marktforschung in Leipzig erarbeitete zu diesem Gegenstand im Auftrag der politischen Führung in der DDR in bestimmten Abständen streng vertrauliche Materialien. Zu diesem Zweck durfte es sich ein repräsentatives Haushalt-Panel aufbauen. Der Öffentlichkeit aber blieben solche Erkenntnisse weitgehend verborgen. Sie mußte sich mit den Propaganda-Daten der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik begnügen, die im Statistischen Jahrbuch der DDR 1990 auf Seite 325 zur Ausstattung der Haushalte mit langlebigen technischen Konsumgütern im Jahre 1989 folgende Angaben macht: Auf 100 Haushalte entfielen Personenkraftwagen Motorräder, -roller Haushaltkälteschränke Gefrierschränke Haushaltwaschmaschinen Rundfunkempfänger Fernsehempfänger Farbfernsehempfänger

1989 54,3 18,4 99,0 47,5 99,0 99,0 88,1 57,2

(1980) (36,8) (18,4) (99,0) (12,5) (80,4) (99,0) (96,2) (16,8)

Zunächst fällt auf, daß es für viele Erzeugnisse, die sich in entwickelten westlichen Industrieländern zu dieser Zeit im Gebrauch privater Haushalte befunden haben, überhaupt keine Angaben gibt, weil man sie in den Geschäften der DDR

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gar nicht kaufen konnte. Dazu zählten, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, beispielsweise energieintensive Geräte wie moderne Küchenherde mit Keramikfeld, Mikrowellenherde, Geschirrspüler oder Wäschetrockner, abgesehen davon, daß viele Neubauwohnungen von ihrem Raumangebot her dem Einsatz solcher Geräte zusätzlich Grenzen setzten. Weitere Angebotslücken waren, wie schon an anderer Stelle erwähnt, im gesamten Freizeit- und Unterhaltungsbereich, insbesondere der Unterhaltungselektronik, zu konstatieren. Auf der anderen Seite war der technische Zustand jener Konsumgüter, die zum Verkauf standen und in die privaten Haushalte Einzug hielten, westlichen Maßstäben weit unterlegen. Aus der bereits mehrfach zitierten Quelle des Ministeriums für Handel und Versorgung vom Januar 1989 wird das deutlich. In diesem Material – dies verdeutlicht ein Hinweis in dem oben gegebenen Schaubild – wird ein Preisvergleich zwischen den Angeboten für TV-Geräte im Fachhandel der DDR und denen im Intershop mit dem Hinweis abgelehnt, daß Farbfernsehgeräte mit großen Bildröhren in den Devisengeschäften „bereits über Stereoton und Videotext verfügen“, während für Mark der DDR nur veraltete Technik zu haben war. 6.4. Lösungsvorschläge der SED-Führung: Verzicht auf die subventionierten Verbraucherpreise Die Wirtschaftspolitik der SED-Führung im Allgemeinen und die Versorgungspolitik im Besonderen waren 1989, wie eingangs gezeigt, endgültig in eine Sackgasse geraten. Dem Protokoll des Politbüros der SED vom 31. Oktober 1989 (Leitung: Egon Krenz) sind diese Einsichten zu entnehmen. Der Konsum der Bevölkerung, heißt es da, sei seit dem Jahre 1971 „schneller als die eigenen Leistungen“ gewachsen. Und weiter: „Es wurde mehr verbraucht als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde zu Lasten der Verschuldung im NSW (nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet), die sich von 2 Mrd. DM (DM-West) 1970 auf 49 Mrd. DM erhöht hat“. Dem hohen Tempo der Einkommensentwicklung konnte das Angebot zur Bevölkerungsversorgung nicht folgen, was „zu Mangelerscheinungen im Angebot und zu einem beträchtlichen Kaufkraftüberhang“ geführt habe. Allein die Zinsen für Sparguthaben der Bevölkerung, so das Papier des Politbüros, würden 1989 voraussichtlich fünf Milliarden Mark betragen, mehr als der Jahreszuwachs des Angebots für die Bevölkerungsversorgung vorsehe. Als Schlußfolgerung empfiehlt das SED-Politbüro in seiner Geheimen Verschlußsache ZK 02 47/89-666 „eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik. Es kann“, liest man da weiter, „im Inland nur das verbraucht werden, was nach Abzug des erforderlichen Exportüberschusses für die innere Verwendung als Konsumtion … zur Verfügung steht“. Künftig sei die Erhöhung der Einkommen „direkt an höhere Leistungen zu binden“. Das erfordere zugleich „für nicht gebrachte Leistungen, Schluderei und selbstverschuldete Verluste Abzüge vom Lohn und Einkommen“. Außerdem seien zum Abbau der Exportschulden und zur Entlastung des Binnenmarktes „alle Elemente der Subventions- und Preispolitik, die dem Leistungsprinzip widersprechen sowie zur Verschwendung und Spekulation

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führen, … zu beseitigen. Ausgehend von der Lage kann bei der Einschränkung der Subventionen kein voller Ausgleich gezahlt werden“.109 In einer Anlage zum Protokoll Nr. 52 des Politbüros vom 14. November 1989 unterbreitet Walter Halbritter „Vorschläge auf dem Gebiet der Verbraucherpreise und der Subventionspolitik unter den Bedingungen einer ausgewogenen Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in den 90er Jahren“. Nachdem eingangs in diesem Papier nochmals darauf hingewiesen wird, daß sich infolge der subventionierten Lebensmittelpreise das Preisverhältnis zwischen 1 kg Fleisch und einem Kleid von 1:8 (1971) auf 1:15 (1988) verschoben habe, bei Schuhen vergleichbar von 1:4 auf 1:8, wird folgendes vorgeschlagen: 1. Erhöhung der Verbraucherpreise für Kinderbekleidung, Kinderschuhe sowie Spielwaren und andere typische Kinderartikel (+ 90 Prozent); 2. Anheben der Preise und Tarife für Elektroenergie und Gas (+ 120 Prozent), für Brennstoffe (+ 200 Prozent) und für Trinkwasser (+ 300 Prozent); 3. Erhöhen der Verbraucherpreise für Schuhe (+ 30 Prozent), Haushaltwäsche (+ 10 Prozent), Handschuhe / Lederwaren (+ 20 Prozent) sowie Arbeits- und Berufsbekleidung (+ 50 bis 240 Prozent); 4. Anhebung der Verbraucherpreise für Nahrungsmittel (+ 80 Prozent) und Gaststättenleistungen (+ 25 Prozent); 5. Festlegen neuer Verbraucherpreise für Baustoffe (mindestens + 40 Prozent) und Zement (mindestens + 100 Prozent); 6. Erhöhung der Verbraucherpreise für Erzeugnisse der 1.000 kleinen Dinge aus Metall, Holz, Glas und Plastik, Werkzeuge und andere Artikel des Haushaltund Heimwerkerbedarfs (+ 20 bis 200 Prozent); 7. Anheben der Tarife für Handwerker- und Dienstleistungen; 8. Heraufsetzen der Verbraucherpreise für Spirituosen (+ 30 Prozent), Wein (+ 20 Prozent) und Sekt (+ 30 Prozent). In einer Überschlagsrechnung weist Halbritter nach, daß „von den insgesamt 49,8 Mrd. Mark an Preisstützungen für Waren und Leistungen 44,8 Mrd. Mark beseitigt“ worden wären. Künftig, heißt es dort weiter, würde nicht der am meisten am gesellschaftlichen Reichtum profitieren, „der die am meisten gestützten Waren und Leistungen erwirbt, sondern der, der am meisten leistet“.110 6.5. Die Versorgung der DDR-Bevölkerung mit PKW Für die Beurteilung des erreichten Niveaus des privaten Verbrauchs spielt die Situation auf dem Auto-Markt eine maßgebliche Rolle. Das gilt für alle entwickelten Industrieländer, so auch für die DDR. Immerhin war der mitteldeutsche Wirtschaftsraum, auf dem sich die DDR gründete, bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein bedeutendes Zentrum des deutschen Automobilbaus. Erinnert sei 109 Aus: Analyse der ökonomischen Lage der DDR, a. a. O. 110 SAPMO BArch, DY 30/41886.

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an die Produktionsstätten von Simson in Suhl (bis Anfang der 30er Jahre), von BMW in Eisenach, von Horch und Auto-Union im Raum Zwickau. Entsprechend autoaffin war die mitteldeutsche Bevölkerung und ihr Wunsch nach einem eigenen Fahrzeug stark ausgeprägt. Aber die Volkswirtschaft der DDR konnte diesen Wünschen nur unzureichend nachkommen. Während beispielsweise im Jahre 1970 in den alten Bundesländern auf 1.000 Einwohner 230 PKW kamen, standen in der DDR daher nur 95 PKW zur Verfügung. Die DDR-Eigenproduktion beschränkte sich im wesentlichen auf die Fahrzeugtypen „Wartburg“ (Eisenach) und „Trabant“ (Zwickau), wobei letzterer im Jahre 1984 einen Produktionsanteil von ca. 64 Prozent erreichte.111 Beide Typen fuhren mit technisch anspruchslosen, aber nicht eben umweltfreundlichen Zweitakt-Motoren. Gemäß eines Beschlusses des Politbüros der SED vom 9. Oktober 1984 (PKW-Motorenprogramm) sollte in Mosel (Sachsen) mit Hilfe des VW-Konzerns ein Motorenwerk für 1,0- bzw. 1,3-Liter-Viertakt-Motoren (Benzin und Diesel) errichtet werden, um zukünftig die Zweitakt-Motoren zu ersetzen. Veranschlagt wurden für dieses Vorhaben insgesamt 3.700 Millionen Ost-Mark, unter anderem auch West-Importe für 835 Millionen Valuta Mark (West-Mark). Dieses Motorenprogramm bereitete der DDR-Volkswirtschaft größte Schwierigkeiten. Bereits am 20. Januar 1986 informierte der Staatssekretär der Staatlichen Plankommission, Wolfgang Greß, das Politbüro-Mitglied Günter Mittag darüber, daß zum „Arbeitsstand“ Dezember 1985 bereits Investitionsmittel von insgesamt 7.610 Millionen Mark gebunden waren, auch 1.805 Millionen Valuta-Mark für WestImporte.112 Die Verantwortlichen dieses Vorhabens hatten offensichtlich die mit seiner Umsetzung verbundenen Schwierigkeiten unterschätzt. Schon bei der Fertigung des Rumpfmotors, der an VW zur Bezahlung der West-Importe ab 1988 geliefert werden sollte, traten erhebliche Qualitätsprobleme auf. Mit der Produktion des Vergasers für die neuen Motoren kam man auch nur schleppend voran, und der Mitte 1986 beschlossene Wechsel vom ursprünglich konzipierten Längs- zum Quereinbau des Motors in den „Wartburg“ kostete ebenfalls viel Zeit und Geld. Noch im Jahre 1987 setzte sich das Ministerium für Staatssicherheit in einer „streng geheimen“ Information mit den Ungereimtheiten dieses Prestigeprojektes auseinander.113 Letztlich haben die DDR-Modelle den Wechsel zum Viertakt-Motor nur in kleinen Stückzahlen erlebt, und aus einem Nachfolgemodell für den „Trabant“, der mit Hilfe der Wolfsburger an „Seat“ und „Polo“ angelehnt, aber mit DDR-

111 Kirchberg, Peter: Horch-Audi-DKW-IFA, 80 Jahre Geschichte der Autos aus Zwickau, Motorbuch Verlag Stuttgart, S. 197; Dähn, Ewald: Autos aus Suhl, transpress VEB Verlag für Verkehrswesen, Berlin (Ost) 1988. 112 SAPMO BArch, SED Archiv-Nr. 35645, Anlage. 113 BStU 00001, ZAIG 3571.

1013

spezifischem Erscheinungsbild, wie es in einem internen Papier der DDR-Führung vom 2. Mai 1989 hieß,114 entworfen werden sollte, wurde auch nichts mehr. Die Bevölkerungsversorgung mit PKW in Zahlen – Produktion, Export, Import, Warenbereitstellung (Angebot) für die Bevölkerung und gesamter Inlandsverbrauch an PKW sowie erteilte Zulassungen (Bestand) in der DDR (in Stück)

Quelle: Errechnet aus Statistischem Jahrbuch 1989 der DDR, Berlin (-Ost) 1989 und entsprechenden Jahrgängen.

114 BArch, Vorl. SED 38644.

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Die Warenbereitstellung (das Angebot) für die Bevölkerung erreichte mit 164.000 PKW im Jahre 1976 ihren Höchststand. PKW aus der Sowjetunion wurden den offiziellen Statistiken zufolge ab 1982 nicht mehr importiert und angeboten. Aus einer internen Hausmitteilung des ZK der SED vom 20. April 1989 an das für Handelsfragen zuständige Politbüro-Mitglied, Werner Jarowinsky, geht jedoch hervor, daß von den in der Bevölkerung durchaus beliebten russischen Lada-Modellen im Zeitraum 1981 bis 1985 in Summe 60.146 Stück und zwischen 1986 und 1988 nochmals 45.735 Stück importiert wurden.115 Die Struktur des privaten Fahrzeugbestandes für 1988 nach Fahrzeugtypen gibt die Tabelle „Bilanz einer gescheiterten Motorisierungspolitik“ wieder. Man erkennt daraus, daß 72 Prozent aller in Privatbesitz befindlichen Autos aus der DDR-Produktion stammten, davon fast 55 Prozent „Trabant“, von dessen ersten Modellen, deren Produktion bereits 1962 bzw. 1965 auslief, im Jahre 1988 immerhin noch 104.000 Exemplare auf den Straßen unterwegs waren. Setzt man das Angebot von 1988 ins Verhältnis zum privaten PKW-Bestand, läßt sich folgende Altersstruktur errechnen: bis 5 Jahre: 5 bis 10 Jahre: 10 bis 15 Jahre: 15 bis 20 Jahre: 20 bis 25 Jahre: Über 25 Jahre

21 Prozent 18 Prozent 22 Prozent 16 Prozent 11 Prozent 12 Prozent

In einer ZK-Hausmitteilung von Egon Krenz an Erich Honecker vom 19. Januar 1989 über den spekulativen Handel mit gebrauchten PKW, der die folgende Tabelle entnommen ist, wird auf Mängel bei der Ersatzteilversorgung hingewiesen. Die Bilanz einer gescheiterten Motorisierungspolitik – Fahrzeugtypenstruktur zum 30.09.1988 – privates und persönliches Eigentum (nach Angaben der Fahrzeugbestandsstatistik des MdI – Hauptabteilung Verkehrspolizei) Typen

Anzahl der zugelassenen Fahrzeuge

Typen

Anzahl der zugelassenen Fahrzeuge

Trabant P 50/60 P 601 Wartburg 311/312 353 Lada Skoda Moskwitsch Dacia Saporoshez

104.000 1,8 Mill.

Polski-Fiat

34.000

101.000 505.000 329.000 303.000 127.000 68.000 56.000

VW Golf

22.000

Wolga Mazda Zastava Citroën Volvo

19.000 11.000 5.000 2.500 1.000

Quelle: Hausmitteilung des SED-Zentralkomitees über die Situation beim spekulativen Handel mit gebrauchten PKW vom 19. Januar 1989, ZAPMO BArch, ZPA Vorl. SED 38644.

115 Ebenda.

1015

Für 1,5 Millionen (ca. 41 Prozent des privaten PKW-Bestandes) sei die Ersatzteilversorgung durch die Hersteller bereits eingestellt, da seit Produktionsende mehr als 10 Jahre vergangen seien. Von den importierten Fahrzeugen seien davon betroffen: 259.000 PKW Typ Skoda (Oktavia, MB 1000, S 100, S 110, S 105) 169.000 PKW Typ Moskwitsch 58.000 PKW Typ Saporoshez 64.000 PKW Typ Dacia 38.000 PKW Typ Polski-Fiat 27.000 PKW Typ Wolga 5.000 PKW Typ Zastava.116

Mit anderen Worten: Neben den 620.000 Pkw aus Importen gab es auch für 880.000 PKW der Typen „Trabant“ und „Wartburg“ herstellerseits keine Ersatzteilproduktion mehr. Die Ersatzteilprobleme für PKW waren systemimmanent und sie beschäftigten die führenden Kreise in Wirtschaft und Politik ständig. In einem internen Papier der Arbeiter- und Bauerninspektion (ABI) vom 28. Juli 1988 an den Minister und Vorsitzenden des Komitees der ABI, Albert Stief, wird darüber berichtet, daß die Bedarfsdeckung bei PKW-Abgasanlagen „bei weitem nicht mehr gewährleistet wird“ und Auspuffe im Handel „kaum noch erhältlich sind“. Folgerichtig verführt eine solche Versorgungslage zum Kaufen auf Vorrat (so genannte Hortungskäufe), wie das zitierte Papier auch bestätigt.117 In einer weiteren internen Hausmitteilung vom 15. August 1988 an Werner Jarowinsky kommen neben den bereits bekannten PKW-Ersatzteilengpässen, die auch auf den extrem überalterten PKW-Bestand zurückgeführt werden, zugleich die Probleme bei den PKW-Reparaturleistungen zur Sprache. Fehlende Teile und unzureichend entwickelte Reparaturkapazitäten führten zu folgenden Anmeldefristen für Instandhaltungsleistungen: -

„Allgemeine Durchsichten bis zu 140 Tagen Fahrwerkinstandsetzungen bis 160 Tagen Unfallschäden mit Karosserieinstandsetzungen bis zu 180 Tagen Karosserieinstandsetzungen bei größeren Korrosionsschäden 90 Tage bis mehrere Jahre“.118

Autos für den privaten Verbrauch konnte man in der DDR nicht einfach kaufen. Es existierte ein Angebotsmonopol durch den staatlichen Autohandel (IFAVertrieb). Dort mußte jeder Kunde seine PKW-Bestellung registrieren lassen und von dort erhielt er Nachricht, wenn sein Fahrzeug verfügbar war. Gemäß der hier bereits mehrfach zitierten ZK-Hausmitteilung an Erich Honecker lagen beim IFA-

116 Ebenda. 117 BArch, Vorl. SED 41713. 118 BArch, Vorl. SED 38644.

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Vertrieb zum Jahresende 1987 Bestellungen für 5,9 Millionen PKW vor, was, wie es dort heißt, dem 39,5-fachen des verfügbaren PKW-Angebots für 1988 entsprach. Zweifelsohne waren diese Bestellzahlen irreal, aber sie spiegelten sehr anschaulich den Nachfragestau wider, der sich in Jahrzehnten herausgebildet hatte, und sie waren eine Reaktion auf die ständig länger werdenden Lieferfristen. Egon Krenz beziffert in seinem Papier die durchschnittlichen Auslieferungszeiten (ausgenommen die Ostberlin- und Wismut-Sonderversorgung) auf 12,5 bis 17 Jahre. Auf einen „Trabant“ beispielsweise mußte man 12,5 bis 15 Jahre warten, je nachdem, in welchem Verwaltungsbezirk der Besteller wohnte. Die Vergleichszahlen für den „Wartburg“ lauteten 14 bis 16,5 Jahre.119 Die hier skizzierten Angebot-Nachfrage-Verzerrungen infolge des Fehlens eines offenen Auto-Marktes hatten natürlich Folgen. Zum einen nahm der Gebrauchtwagen-Verkauf absurde Züge an. In seiner ZK-Hausmitteilung an Honecker verweist Krenz darauf, daß die gezahlten Preise für Gebrauchtwagen „zum Teil beträchtlich über dem Neupreis“ lägen. In einem aus dem Jahre 1986 datierten internen Material der SED-Führung wird dazu folgendes berichtet: „So werden zum Beispiel für einen ‚Trabant‘, dessen Neupreis ca. 11.000,Mark betragen hat, nach 9 bis 10 Jahren noch bis zu 10.000,- Mark bezahlt, bei Fahrzeugen mit 5- bis 6-jähriger Nutzung etwa der Neupreis und bei neuen Fahrzeugen bis zu 17.000,- Mark. Ähnliche Relationen bestehen beim ‚Wartburg‘. Noch erheblich höhere Aufpreise werden für den ‚Lada‘ bezahlt. Extrem sind die Wiederverkaufspreise für bestimmte Fahrzeugtypen aus kapitalistischen Ländern“.120 Zugleich wird darauf verwiesen, daß man bei solchen Gebrauchtwagenpreisen als Verkäufer für den Kauf eines Neuwagens kaum zusätzlich Geld ansparen mußte. Zum Zweiten entstand ein Markt für PKW-Anmeldungen. Meistbietend wurde versucht, ohne oder mit verkürzter Wartezeit zu einem Neuwagen zu kommen. Andere boten ihre Anmeldung zum Verkauf an. Das eben zitierte Papier beziffert für das Jahr 1986 den Preis für den Anspruch auf eine fällig werdende Bestellung mit „bis zu 3.000,- Mark“.121 Egon Krenz, der in bereits erwähnter Niederschrift vorrangig Vorschläge gegen den spekulativen Autohandel in der DDR unterbreiten wollte, denen Erich Honecker mit „Einverstanden“ zustimmte, gab einige Beispiele für „durchgeführte Ermittlungsverfahren“ seitens der „Deutschen Volkspolizei“, von denen hier eines erwähnt werden soll: Ein 42-jähriger Lehrer aus dem Verwaltungsbezirk Erfurt „kaufte im Zeitraum von 1979 bis 1982 zum Zwecke des gewinnbringenden Weiterverkaufs 49 119 Ebenda. 120 Ebenda. 121 Ebenda.

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PKW; der Mehrerlös betrug 99.480,- Mark. Bei der Durchsuchung wurden weitere 15 PKW Trabant, 1 PKW Skoda und 1 Wohnwagen sichergestellt, die ebenfalls weiterveräußert werden sollten“.122 Zum Dritten wurden Netzwerke und Verbindungen genutzt, um unter Umgehung der offiziellen Regelungen an einen PKW zu gelangen. Beispielsweise legte die Abteilungsleiterin für Kultur beim ZK der SED, Ursula Ragwitz, ihrem Chef, dem Politbüro-Mitglied Kurt Hager, am 28. Januar 1982 eine Anfrage vor, ob man einem sehr bekannten Schriftsteller aus der DDR bei der Beschaffung eines PKW „Mercedes“ oder „Volvo“ behilflich sein könne, wobei der Herr, wegen fehlender „Valuten“ (Westmark), an ein Ausstellungsfahrzeug anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse dachte.123 In einem anderen Schreiben, datiert auf den 25. Februar 1983 übergibt Frau Ragwitz ihrem Vorgesetzten eine „nach Notwendigkeiten geordnete“ PKW-Wunschliste für 14 Mitglieder der Akademie der Künste der DDR und 3 Witwen ehemaliger Akademiemitglieder mit dem Hilfeersuchen um eine „außerplanmäßige“ Versorgung der Bittsteller.124 Vergleichbares findet sich auch in dem Schreiben des Büros von Kurt Hager vom 3. April 1987, in dem sein Büroleiter, Kurt Rätz, den Minister für Maschinenbau, Gerhard Trautenhahn, bittet, den „PKW-Freigebewünschen“ von 16 DDR-Künstlern (darunter Bläser der Staatskapelle Dresden) nachzukommen.125 Besagter Herr Rätz war dann am 1. Februar 1988 in der Lage, per Einschreiben einigen Damen und Herren der Antragstellerliste die Freigabeanweisung mit dem Wunsch auf „allzeit Gute Fahrt“ weiterreichen zu können.126 Überwiegend betrafen die „außerplanmäßigen“ PKW-Wünsche Importfahrzeuge (Lada, Peugeot, Citroën). In der Mehrzahl wurden „Lada“ bewilligt. Doch die russischen Lada wurden der Bevölkerung seit 1982 gar nicht mehr angeboten, und im offiziellen Außenhandel der DDR tauchten sie als Importe auch nicht mehr auf. Inoffizielle Importe gehörten oft zum Betätigungsfeld von Alexander Schalck-Golodkowski und seinem Geheimimperium (Kommerzielle Koordinierung). Sein Haus hatte weitgehend freie Hand zur Beschaffung dringlicher Waren aus allen Ecken der Welt, von denen die normalen DDR-Behörden überwiegend nichts wußten. Ganz in diesem Sinne berichtete Schalck-Golodkowski am 10. Dezember 1985 an Günter Mittag über „handelspolitische Importe 1985“ (Westgeschäfte) im Umfang von 269,0 Millionen Valuta-Mark, darunter PKW-Importe (Peugeot und Lada) im Wert von 71,6 Millionen Valuta-Mark.127

122 Ebenda. 123 SAPMO Vorl. SED 32711/1. 124 Ebenda. 125 BArch, Vorl. SED 40124. 126 Ebenda. 127 BArch, Vorl. SED 42004.

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„Wenn der Sozialismus kommt, bekommt jeder so ein Auto“. So der Kommentar eines Bewunderers dieses Gefährts

Foto: Jürgen Schneider, Mai 1990 in Berlin (-Ost).

7. Die Aura der westlichen Warenwelt – Intershops in der DDR128 Von Katrin Böske Die Bezeichnung Intershop steht für eine Ladenkette in der DDR, die den Verkauf von Waren, ausschließlich gegen Bezahlung in frei konvertierbaren Währungen, betrieb. Die Intershops waren an sich keine neue Erfindung. Analog den duty-free-shops in den Transiträumen westlicher Länder und ähnlichen Einrichtungen in den ehemaligen sozialistischen Staaten wurden hier in erster Linie zollfreie Waren angeboten. Die besondere Funktion derartiger Verkaufseinrichtungen in der DDR war der Devisengewinn. Er ließ sich absolut erzielen, wenn im Inland produzierte Waren in diesen Läden abgesetzt wurden. Die Einrichtung von Intershops, als Dienstleistungen für den Besucher aus dem westlichen Ausland, war politisch brisant. In manchen Kreisen redete man nur hinter vorgehaltener Hand über den Intershop. Denn eigentlich gehörte diese

128 Bereits veröffentlicht in: Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren. Hrsg. v.

d. Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst e.V.; Köln / Weimar / Wien 1996, S. 214-222; Titel u. Aufsatz geändert u. gekürzt. Dazu grundsätzlich: Kaminsky, Annette: Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001. Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999.

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institutionalisierte Präsenz der westlichen Warenwelt nicht in eine sozialistische Gesellschaft. Für DDR-Bürger bedeuteten die Intershops etwas sehr Verschiedenes. Die einen, die Westgeld hatten, schienen ganz normal mit den Westwaren umgehen zu können, während für andere, welche nur selten an D-Mark herankamen, es schon etwas Besonderes sein mußte, in den Intershops einkaufen gehen zu können. Und es gab auch jene, die eigentlich gar nicht in den Besitz davon gelangten, die mehr oder weniger neidvoll auf die für sie unerreichbaren Waren blickten. Die Intershops kamen erst in den letzten 15 Jahren der DDR für einen großen Teil der DDR-Bevölkerung zum Vorschein. Da bis 1974 der Besitz von Devisen verboten war, gab es offiziell für die DDR-Bürger keine Erlaubnis, Waren in den Intershops käuflich zu erwerben. Außerdem befanden sich die Intershops nur an den Grenzübergangsstellen und in den Interhotels und waren somit für die DDRBürger exterritoriales Gebiet. Dennoch wußten viele von ihrer Existenz. Bereits im Sommer des Jahres 1954 wurde auf einer Tagung des Staatssekretariats für Schiffahrt beschlossen, „daß in kürzester Zeit eine Verkaufsorganisation für Schiffsbedarf und Schiffsverpflegung innerhalb der drei Seehäfen Wismar, Rostock und Stralsund eingerichtet wird“.129 Diese Verkaufsorganisationen wurden in den anfänglichen Besprechungen Transitlager, Spezialverkaufsstellen bzw. Valutaläden genannt. Warum die Bezeichnung Intershop schließlich favorisiert wurde, geht aus einem Schreiben vom 4. August 1956 hervor. „Die Bezeichnung ‚Valutaladen‘ erscheint uns nicht angebracht. Wir sind der Meinung, daß die Verkaufsstellen einen klingenderen und international besser verständlicheren Namen tragen sollten, zum Beispiel ‚Internationale Verkaufsstelle‘ oder ‚Intershop‘ o. ä.“.130 Nach dem Mauerbau erlangten die Intershops ihre wirkliche Bedeutung für die Wirtschaft der DDR. Es waren nicht mehr nur die ausländischen Schiffsbesatzungen und Flugreisenden von Interesse, nun richtete man ein besonderes Augenmerk auf den Bahnhof Friedrichstraße, auf die Grenzübergangsstellen an der westdeutschen Grenze und die Rasthöfe an den Transitstrecken der Autobahnen. Im Jahre 1962 wurde eine Intershop GmbH gegründet,131 deren Zweck darin bestand, den „Einzelhandel mit Nahrungs- und Genußmitteln und Industriewaren, die vorwiegend der Deckung des persönlichen Bedarfs dienen“ 132 durchzuführen.

129 Bundesarchiv Potsdam: Ministerium für Handel und Versorgung, HA Einzelhandel – Abt. In-

dustriewaren: L-1 3077 vom 17.08.1954: Protokoll über die Tagung mit dem Staatssekretariat für Schiffahrt, S. 37. 130 Bundesarchiv Potsdam: Ministerium für Handel und Versorgung, HA Einzelhandel – Abt. In-

dustriewaren: L-1 3077 Schreiben vom 04.08.1956 des Stellvertreters des Abteilungsleiters der Abteilung Handel und Versorgung im Magistrat von Groß-Berlin an Ministerium für Handel und Versorgung; S. 72. 131 Bundesarchiv Potsdam: Mitteleuropäische Schlafwagen und Speisewagen AG: DM-200 223

Abschrift der Anweisung über die Intershop-GmbH vom 10.07.1962, S. 1 [im Original].

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Die Intershop GmbH übernahm die Großhandelsfunktion gegenüber den Fährschiffen, Flugplätzen, INTERHOTELS, den Hotels des Deutschen Reisebüro und der Handelskette HO. Sie wurde ab 1965 von der Zentralkommerz GmbH, einem staatlichen Außenhandelsunternehmen, das dem Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel unterstellt war, abgelöst. Aber die Zuständigkeit der Zentralkommerz GmbH währte nur kurze Zeit. Schon am 1. Januar 1974 kam es zur Gründung der Forum Handelsgesellschaft, die fortan sämtliche Aufgaben des Intershophandels der DDR übernahm. Durch diese nochmalige Neustrukturierung versuchte man, den anwachsenden Besuchsmöglichkeiten und dem sich daraus ergebenden Umsatzzuwachs der Intershops gerecht zu werden. Die sich verändernden innerdeutschen Beziehungen zu Beginn der 70er Jahre, das am 17. Dezember 1971 abgeschlossene, ab dem 3. Juni 1972 geltende Transitabkommen und der am 17. Oktober 1972 in Kraft tretende Verkehrsvertrag zwischen BRD und DDR hatten eine Erleichterung der Reisen und des Besuchs von Bürgern der BRD in die DDR zur Folge. „Der Reiseverkehr von Bundesbürgern in die DDR verdreifachte sich von 1969 bis 1975, während 1969 Westberliner kaum in die DDR oder nach Ostberlin reisen konnten, waren es 1975 über 3,5 Millionen. Ebenso durften 1975 außer den Rentnern 40.000 Bürger der DDR in dringenden Familienangelegenheiten in die Bundesrepublik reisen […]“.133 Aufgrund dieser Vereinbarungen veränderte sich auch der Kundenkreis in den Intershops. Nicht mehr nur Handels- oder Transitreisende, sondern vor allem die Besucher aus dem Westen kauften für sich und ihre „Gastgeber“ in den Intershops ein. Die Verantwortung über den Großhandel, Vertrieb und Sortimentsfestlegung der Waren blieb bis zu ihrer Auflösung Anfang der 90er Jahre bei der Forum Handelsgesellschaft. Mit der rapide anwachsenden Zahl von Intershopeinrichtungen innerhalb der DDR gelangten diese zunehmend in das Blickfeld der DDR-Bürger. Die Intershops können gewissermaßen als exterritoriale Gebiete der westlichen Warenwelt in der DDR bezeichnet werden, als Orte des Außergewöhnlichen, die in ihrer realen Anwesenheit durch bewusst unterlassene Veröffentlichungen, wie Werbung, eigentlich abwesend waren. Trotz dieser fehlenden Öffentlichkeit pilgerten insbesondere an den Sonntagen viele DDR-Bürger in die Intershops, um einen Blick auf die fremde (Waren-)Welt zu werfen. Der Sonntagsausflug in den Intershop wurde zu einer Reise in ferne Welten, ohne das eigene Land zu verlassen. Befragt nach dem Besonderen des Intershops, antworteten unsere Interviewpartner/innen spontan: „Es war der Geruch.“

132 Bundesarchiv Potsdam: Mitteleuropäische Schlafwagen und Speisewagen AG: DM-200 223

VERHANDELT, Vertrag über die Errichtung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung S. 2 [im Original]. 133 Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990, Hannover 1991, vollständig

überarbeitete und ergänzte Neuauflage, S. 149.

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Dieses Geruchsgemisch setzte sich aus den eher unüblich an einem Ort konzentrierten Waren zusammen. So vermischten sich die Düfte vom „Irischen Frühling“, „Lux“-Seife, „Weißer Riese“ mit dem Kaffeegeruch des „Jacobs“-Kaffees und „Hitschler“-Kaugummis sowie den vielfältig angebotenen Schokoladensorten. Mit den Intershopwaren verbanden sich bestimmte Ideale. Sie versprachen eine tadellose Funktionsfähigkeit der Gegenstände, modisches Aussehen, oder auch eine besondere Genußbefriedigung. In ihnen spiegelte sich in gewissem Maße das Weltniveau wider. Der Besitz von Artikeln aus dem Intershop und das Tragen von Kleidung, die im Intershop gekauft wurde, gestattete eine gewisse Distinktion. Manche stellten sie bewußt zur Schau. Die Markenwaren, die in diesen Verkaufseinrichtungen angeboten wurden, versprachen Originalität und bessere Qualität, so z. B. die Jeanshose, die außergewöhnlich wird, wenn es im Handel nur Stoffhosen aus Silastik und Kord zu kaufen gibt, oder der Füller, dessen Feder auf dem Papier nicht kratzt und die Kaugummis, mit denen man die größten Blasen machen kann. So konnte man in den Badezimmern die Aufreihung zumeist leerer Verpackungen von Kosmetika und Waschmitteln aus dem Westen finden. Die leeren Packungen standen aufgereiht, wie Ikonen, in den Regalen. Sie holten ein Stück weit die fremde Welt in den privaten Bereich. Die Seltenheit solcher Artikel in den jeweiligen DDR-Haushalten transformierte diese, über den eigentlichen Gebrauchswert hinweg, auf eine symbolische Ebene. Zur Besonderheit des Intershops gehörte die Helligkeit und Buntheit der in den Läden ausgestellten Waren, wie ihre Fremdheit und Unerreichbarkeit. Um an diese vorerst unerreichbare Ware zu gelangen, brauchte man Westgeld. Wer das zufällige Privileg hatte, konvertierbare Devisen über die Westverwandtschaft zu erhalten, konnte im Intershop einkaufen gehen. Gerade diese Möglichkeit, Gegenstände und Waren zu beziehen, die es im HO oder im Konsum nicht zu kaufen gab, machte das Westgeld zu einem begehrten Gut für die DDR-Bürger. Mittels Westgeld konnten viele Hebel in Bewegung gesetzt werden, die sich sonst gar nicht oder nur sehr langsam bewegten. So war es z. B. möglich, die lang ersehnten Handwerker für notwendige Arbeiten im heimischen Haushalt zu gewinnen, ein Kellner fand noch einen freien Tisch in einem Restaurant neben den voll besetzten und reservierten Tischen. Verschlossene Türen, z. B. die einer eigenen neuen Wohnung, konnten mit bestimmten begehrten Konsumobjekten aus dem Intershop geöffnet werden. Man konnte die D-Mark illegal zu sich verändernden Schwarzmarktkursen von 1:4 bis 1:10 tauschen. Eine Tätigkeit im Ausland und z. B. die Beschäftigung im Intershop waren weitere Möglichkeiten, Prämien in Form von Gutscheinen über einen bestimmten DM-Betrag zu erhalten. In jedem Fall war es nur einer begrenzten Schicht in der DDR vorbehalten, an Westgeld bzw. Intershopwaren zu gelangen. Dieses Privileg, in Besitz von Westgeld zu sein, war weder durch das Leistungsprinzip, noch durch das soziale Gefüge in der DDR determiniert. Der egalitäre Anspruch der DDR-Regierung beinhaltete, daß entweder allen alles zugänglich oder alles verboten wurde, dadurch wurde paradoxerweise ein System der Privilegien hervorgebracht und unterstützt.

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Das Leben in der DDR war gekennzeichnet von einem anderen Zeitgefühl. Es gab viele Dinge, auf die gewartet werden mußte. Das Warten steigert bestimmte Begehrlichkeiten und hebt die ersehnten Gegenstände auf eine Stufe des Wohlstands und des Luxus. Wer sich mit dem Warten nicht abfinden wollte, entwickelte Varianten, diese Prozedur zu verkürzen. Der Besitz von Westgeld in der DDR konnte verstellte Wege öffnen und Wartezeiten verkürzen. 8. Kein Strukturwandel bei den Verbrauchsausgaben der Haushalte in der DDR im Vergleich zu den 1920er und 1930er Jahren: Das Überleben der schmack- und nahrhaften Hausmannskost In einer Marktwirtschaft entscheiden die Haushalte durch die Verwendung ihrer Einkommen, was, wieviel und wenn produziert und investiert oder gespart wird. Nach der Währungsreform am 20.6.1948 in den Westzonen ist ein ständiger Anstieg der Nominal- und Realeinkommen der Einkommensbezieher festzustellen. Die Einkommen, die den privaten Haushalten zwischen 1950-1970 zuflossen, haben sich durchschnittlich mehr als vervierfacht. „Die Einkommensschichtung hat die typische Form einer asymmetrischen (linkssteilen) und eingipfligen Häufigkeitsverteilung. 1950 hatten 81 v. H. der Haushalte ein monatliches Nettoeinkommen von unter 500 DM, nur 3 v. H. verfügten im Monat über 1000 DM und mehr. 1970 belief sich das Durchschnittseinkommen je Haushalt auf monatlich 1.580 DM, 10 v. H. aller Haushalte verfügten bereits über 3000 DM oder mehr. Unter der 500 DM-Grenze war 1970 nur noch ein reichliches Fünftel der Haushalte zu finden. Die Verfügbarkeit der Haushalte über Einkommen, hat also in der zwanzigjährigen Spanne von 1950-1970 beachtlich zugenommen. Das Durchschnittseinkommen der Selbständigenhaushalte ist dabei erheblich stärker gestiegen als das der übrigen sozialen Gruppen. Der positive Entwicklungstrend in der Verfügbarkeit über Einkommen fand seinen Niederschlag einmal in einem beachtlichen Anschaffungsboom für langlebige Gebrauchsgüter, in einem steigenden Anspruchsniveau in der Bedarfsgestaltung, was sich am Beispiel der Wohnung und des Freizeitkonsums gut zeigen läßt, und zum anderen in einer beachtlichen Erweiterung der Vermögensbildung sowie einem kontinuierlichen Anstieg der Sparquote. Nach Ermittlungen der Einkommens-Verbrauchsstichprobe 1973 „hatten doppelt so viele Haushalte Personenkraftwagen wie 1962, viermal so viele Filmkameras, etwa achtmal so viele Tiefkühltruhen und -schränke, Geschirrspülmaschinen und elektrische Grillgeräte, zehnmal so viele Heimbügler. Fernsehgeräte und Kühlschränke, die 1962 nur in jedem dritten bzw. zweiten Haushalt zu finden waren, gehörten 1973 schon zur Standardausrüstung“. So erreichten von 100 3-Pers.-Haushalten mit einem Nettoeinkommen von 1.800-2.500 DM/Monat einen Ausstattungsgrad bei PKWs von 83,1, bei Fernsehapparaten von 92,9, bei Plattenspielern von 56,7, bei Kühlschränken von 98,0, bei Tiefkühlgeräten von 33,0, bei Geschirrspülmaschinen von 8,7, bei Waschmaschinen von 91,1 und Telefon von 70,5. Bei den langlebigen Gebrauchsgütern für Verkehr und Nachrich-

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tenübermittlung sowie für Bildung und Unterhaltung, aber auch bei solchen für die Hauswirtschaft, kann es sich um Investitionen der einzelnen privaten Haushalte in vier- und fünfstelligen Zahlen handeln, deren laufende Kosten beachtliche monatliche Aufwendungen zur Folge haben. So konnte in Modellrechnungen nachgewiesen werden daß bei Preisen von 1975 der Kapitalbedarf für langlebige Gebrauchsgüter für die Hauswirtschaft bei 4 - 25 Geräten zwischen 513 DM bis 9.108 DM liegt und sich die Gesamtkosten/Jahr für diese Anschaffungen auf 118 DM – 2.334 DM belaufen. Weiterhin gilt es zu beachten, daß die technische Ausstattung der Haushalte auch das familiale System in seinen Verhaltens- und Kommunikationsstrukturen entscheidend verändern kann. Ein beachtlicher Zuwachs an materiellem Wohlstand der privaten Haushalte läßt sich auch an der Wohnungsversorgung aufzeigen. So stieg die Durchschnittsgröße je Wohnung 1972 auf 74 m2, und die durchschnittliche Raumzahl je Wohnung betrug 4,2, aber auch ihr baulicher Zustand konnte erheblich verbessert werden. 1960 hatten erst 11 v. H. der Wohnungen in der Bundesrepublik Deutschland Bad, WC und eine Sammelheizung, 1968 waren es bereits 31 v. H., und 1972 stieg diese Zahl auf 43 v. H.. Dennoch mußte in einem Gutachten des Wiss. Beirats für Familienfragen 1975 festgestellt werden, daß 45 v. H. aller Kinder unter 18 Jahren 1969 in der Bundesrepublik Deutschland in Wohnungen lebt, die den international aufgestellten Mindestnormen nicht entsprechen. Erst in neuerer Zeit haben die Ausgaben für den Freizeitkonsum eine Bedeutung erlangt, die in Zukunft noch wachsen wird. So zeigen Schätzungen, daß der Anteil der Freizeitausgaben am privaten Verbrauch, der 1970: 10 v. H. und je Haushalt 1620 DM betrug, 1975 auf 12 v. H. ansteigen wird (je Haushalt 2.340 DM/Jahr) und 1985 sogar 18 v. H. erreichen soll (je Haushalt 5.070 DM/Jahr). Wenn 1970 rd. 36 Mrd. DM für den Freizeitkonsum in der Bundesrepublik Deutschland ausgegeben worden sind, so würde diese Zahl 1985 auf 128 Mrd. DM ansteigen. Trotz diesem gewaltigen Konsumboom konnten die privaten Haushalte den Bestand an Geldvermögen von 19 Mrd. DM 1949 auf 593 Mrd. DM 1972 erhöhen, 1974 betrug er bereits rd. 748 Mrd. DM, und die Sparquote (laufende Ersparnisbildung in Prozent des verfügbaren Einkommens) erreichte 1950 nur 3,2 v. H., 1972 jedoch 14,9 v. H.“.134

134 Schweitzer, Rosemarie von: Haushalte, private, in: HdWW, Bd. 4, 1988, S. 32 f.

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Die Anteile der monatlichen Ausgaben einer 4-Personen-Arbeitnehmerhaushaltes mit mittlerem Einkommen 1950, 1960 und 1990 in der Bundesrepublik Deutschland zeigen den enormen Strukturwandel bei den Verbraucherausgaben (in Prozent)135

In der DDR überlebte die schmackhafte Hausmannskost aus den 1920er/30er Jahren. Jutta Voigt, Pionier bei der Einführung der Krokette, erinnert sich: „Haben Sie Würfelzucker? ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen’ – es sollte alles noch viel besser werden, wir marschierten in eine lichte Zukunft, daran glaubte ich fest. Wie Walter Ulbricht, der 1958 die ‚Ökonomische Hauptaufgabe‘ darin sah, bis 1961 ‚eine komplexe und reichhaltige Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land und auf Weltniveau zu erzielen‘ und Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Butter zu überholen. ‚Überholen, ohne einzuholen‘ - der Slogan hatte eine unfreiwillige Komik.136 In Berlin sagte man zu jener Zeit nicht: Ich gehe einkaufen, sondern: Ich gehe einholen. 135 Wildt, Michael: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung,

Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994, S. 70. 136 „Ulbricht hatte 1970 die mathematisch unmögliche, fast tröstende Formulierung gebraucht,

den kapitalistischen Westen zu ‚überholen, ohne einzuholen’, einen Zeitpunkt des Überholens nannte er nicht mehr“. Weber, Adolf: Ursachen und Folgen abnehmender Effizienz in der DDR-Landwirtschaft, in: Kuhrt, Eberhard et al (Hrsg.): Die Endzeit der DDR-WirtschaftAnalysen zur Wirtschafts-, Sozial-und Umweltpolitik, Opladen 1999, S. 244.

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Überholen ohne einholen - so mochte es gehen. An die Stelle des 1956 angelaufenen Fünfjahrplans trat 1959 der ‚Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks‘. Ulbricht sah das Wohlleben schon vor sich: ‚Unser Tisch soll mit dem Besten gedeckt werden, was die Natur zu bieten hat: hochwertige Fleischund Milchprodukte, Edelgemüse und beste Obstsorten, früheste Erdbeeren und Tomaten zu einer Zeit, da sie auf unseren Feldern noch nicht reifen. Weintrauben im Winter, nicht nur zu Zeiten der großen Schwemme. Als Sozialisten sind wir uns darüber klar, daß im sozialistischen Lager bis 1965 ein Überfluß an Lebensmitteln erreicht werden soll. Was da auf den Handel zukommt‘, halluzinierte der Staats- und Parteichef mit der Fistelstimme, ‚diese immer mächtiger anschwellende Woge von Lebens- und Genußmitteln aus aller Herren Länder!‘ Von heute aus gesehen, macht die Ulbricht‘sche Zukunftsvision in ihrer infantilen Prahlerei den Eindruck verrückter Zukunftshörigkeit. Er hat es tatsächlich geglaubt. Der Realitätsverlust, unter dem die DDR von Anfang an litt, der Alzheimer der Utopie, begann frühzeitig. Die mächtig anschwellende Flut des Überflusses erwies sich als andauernde Ebbe. Die Leute standen Schlange nach Grundnahrungsmitteln. Sie kauften, weil sie ja nun schon so lange angestanden hatten, viel mehr, als sie brauchten. Sie bunkerten, horteten, hamsterten für schlechtere Zeiten. Die Angst, zu verhungern, steckte ihnen noch in den Knochen. Der Nachkrieg war in der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Ende gegenwärtig. Die Einschußlöcher an den Häusern starrten wie wachsame Augen aus dem erschöpften Gemäuer. Der Glaube an den Fortschritt hörte beim Essen auf, der Bauch folgt keinem Glauben. 1958 waren gerade mal die Lebensmittelkarten abgeschafft worden. Die Rationierung von Fleisch, Fett, Milch und Zucker war aufgehoben. Die Einzelhandelsverkaufspreise, die EVP, wurden festgelegt. Alles sollte überall, zu jeder Zeit in jedem Laden, dasselbe kosten. Der Traum stabiler Preise, staatlich gestützt, sollte nun wahr werden. Das Kilo Butter ist von 1958 bis 1990, also über dreißig Jahre lang, für zehn Mark zu haben gewesen, das Halbepfundstück für zwei Mark fünfzig. Ein Dreipfundbrot kostete einundfünfzig, das Brötchen fünf Pfennig, das Kilo Schweinekotelett acht Mark. Grundnahrungsmittel sollten billig sein, um jeden Preis. Ein Pyrrhus-Sieg über den Kapitalismus, erkauft für einen hohen Preis. Je mehr verbraucht wurde, desto höher stiegen die Kosten der staatlichen Subventionen, desto weniger entsprachen die Preise den realen Kosten. Die Leute aus dem Westen kauften das subventionierte Fleisch und die subventionierte Butter für Pfennige, weil sie ihr Geld eins zu fünf in den Wechselstuben tauschen konnten, für ein Kilo Rindfleisch bezahlten sie im Ostsektor ungefähr zwei Westmark. In den Restaurants war es vorübergehend Vorschrift, den Personalausweis zu zeigen, bevor man bestellte, auf diese Weise würden die West-Berliner daran gehindert, in den Ost-Berliner Gaststätten Schnitzel mit Rotkohl oder Königsberger Klopse für neunzig Pfennig essen zu können. ‚Ausweis ist vorhanden?’ lautete die gelangweilte Frage der Bedienung. Die Schaufenster dekorierten den scheinbar zwingenden Zusammenhang zwischen Schmalzfleisch und Partei, Bockwurst und Bedeutung, Dosenpyramiden und Zuversicht. Verstaubte Kunsthoniggläser rahmten das Bildnis des heldenhaft

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rußverschmierten Adolf Hennecke, des ersten Aktivisten der DDR. Büchsen mit Strömlingen in Tomatensauce bildeten den Sockel für den Aufruf zur unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion. Auf Türmen von Keksrollen thronte der Wahlaufruf der Nationalen Front. Im Schaufenster eines Hutsalons wurde dafür geworben, das Vermächtnis Ernst Thälmanns zu erfüllen und unser sozialistisches Vaterland zu stärken. Hut ab! Ein Foto, aufgenommen in der Endzeit der DDR im Zentrum von Dresden, zeigt ein Schaufenster mit einem Campanile aus TrinkfixDosen. Vielleicht war es nicht die verspätete Unfähigkeit zur Gestaltung eines Schaufensters, sondern später Stolz auf das massenhafte Vorhandensein von Trinkfix, dem beliebten Schokotrunk, einer Trumpf-Gestattungsproduktion. Luxus ist relativ. Der Luxus der Fünfziger bestand darin, sich nudelsatt essen zu können. Viele gingen in den Westen, wo man das konnte. Rita M. ging auch. Sie wolle sich, sagte sie, das sei der einzige Grund, zu jeder Zeit bei Bolle Schweinebraten mit Krusteln holen können. Das Politbüro befaßte sich derweil mit fehlenden Damenschlüpfern und dem Mangel an Zwiebeln, Nudeln und Dauerbackwaren. Und Würfelzucker. Die Geschichte vom Würfelzucker enthüllt die rätselhafte Struktur der DDRWirtschaft. Ein Funktionär machte im Sommer 1960 einen kleinen Bummel durch Dresdner Geschäfte und entdeckte, daß es keinen Würfelzucker gab. ‚Im Lebensmittelladen fehlt Würfelzucker’, stellte der Genosse nach seinem Abenteuerausflug in die Wirklichkeit fest und forderte die zuständige Genossin auf, sich zur Würfelzuckerlage zu äußern. Die schlüsselte ihm auf, daß der Handel zwanzigtausend Tonnen benötige, die Gesamtproduktion aber nur achtzehntausendachthundert Tonnen betrage, was sich auch 1961 und 1962 nicht ändern könne, weil die dazu notwendigen Maschinen fehlten. Eine klare Aussage. Im November 1960 schrieb eine Zuschauerin an den Deutschen Fernsehfunk in Gestalt des Conférenciers Heinz Quermann: ‚Heute nachmittag haben wir am Bildschirm gesessen und Ihnen gelauscht und dabei auch eine gute Tasse Kaffee getrunken. Voller Neid haben wir Ihnen zugesehen, wie Sie dem Pferd einen Würfelzucker nach dem anderen gefüttert haben, denn wir müssen unseren Kaffee ohne Würfelzucker trinken, weil es in Karl-Marx-Stadt schon wochenlang keinen Würfelzucker zu kaufen gibt.’ Woran das wohl liegen möge, fragte die würfelzuckerlose Kaffeetrinkerin den Spaßmacher. Das Politbüro nun führte sich als Haushaltsvorstand auf, der bloß mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen braucht, damit alles wieder seinen sozialistischen Gang geht. Es beauftragte den Minister für Handel und Versorgung, den Würfelzucker gefälligst in solche Gebiete zu lenken, ‚wo normalerweise der Verbrauch von Würfelzucker üblich ist’. Politbüro-Mitglied Willi Stoph, der über die fehlenden Produktionskapazitäten der Würfelzuckerherstellung voll im Bilde war, vergaß ganz einfach die unbequeme Information und behauptete: ‚Wir sind in der Lage, zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Bedarf der Bevölkerung an Würfelzucker voll zu befriedigen’. Aus dem Produktionsmangel machte er einen Verteilungsmangel. Auf sein Geheiß

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wurde der Würfelzucker im Norden abgezogen und nach Sachsen umgeleitet, von wo die Beschwerden gekommen waren. Auf diese Weise herrschte für eine Weile Ruhe im Land. So lange, bis die Leute im Norden merken würden, daß ihnen der Würfelzucker fehlte. Auch ich bemerkte die gelegentliche Abwesenheit von Würfelzucker und brachte mir aus Prag Bridge-Zucker mit, mehrere Schachteln auf Vorrat. Der tschechoslowakische Würfelzucker war nicht so grobkörnig wie unserer, er war weißer und zerfiel schneller im Kaffee, die feinen Stücke hatten die Form von Kartenspiel-Symbolen, Pique, Karo, Herz. Trotz ausgeprägter Egalitätssucht hatte der DDR- Bürger etwas übrig fürs Besondere. In der Vorliebe für Bridge-Zucker zeigte sich ein zartes Aufbegehren des Individuellen gegen den Einheitsgeschmack“.137 Amüsant sind auch die Ausführungen von Jutta Voigt zur Banane. „Die Banane spiegelte im geteilten Deutschland eine Hauptrolle. Die koloniale Südfrucht wurde zur Schranke und zur Brücke zwischen Ost und West. Manchmal diente sie als Liebesbeweis. Ein Mann, dem an mir gelegen war, gab viel Ostgeld aus, um bei jedem unserer Treffen mit einer Staude Bananen aufzuwarten, die er zuvor in West-Berlin zum Kurs von eins zu fünf oder eins zu sechs erstanden hatte. Im Grunde sind Bananen nicht mein Fall. Ich habe an ihnen immer nur eins geschätzt, den Geschmack des Seltenen. Dabei sollen sie zu Fruchtbarkeit, Potenz und guter Laune verhelfen. Herr P., der zu Mauerzeiten öfter mal in den Westen durfte, kaufte sich, kaum hatte er den Grenzübergang passiert, an der nächsten Ecke eine Banane, jedesmal: ‚Wenn ich eine Banane in der Hand hatte, wußte ich, Mensch, du bist im Westen’. Die Banane weilte stets unter uns, in corpore oder in Gedanken. Was passiert, wenn man eine Banane auf die Mauer legt? Da, wo abgerissen wird, ist Osten“.138 Ein Vergleich des Anteils der Grundbedürfnisse an den Verbrauchsausgaben zwischen der BRD und der DDR ist sehr aufschlußreich.139

137 Voigt, Jutta: Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR, Berlin

2008, S. 48-52. 138 Ebd., S. 65. 139 Rößler, H. / Schünemann, G.: Die materiell-technischen Bedingungen der Konsumtion und

ihre Entwicklungstendenzen in der DDR, in: Pschibert, Reinhard: Die materiell-technische Basis der individuellen Konsumtion, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, S. 116-121. Als Quelle werden die Statistischen Jahrbücher der DDR angegeben.

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Der Anteil der Grundbedürfnisse Ernährung, Bekleidung und Wohnung an den Verbrauchsausgaben im Deutschen Reich 1927 und in der Bundesrepublik Deutschland 1950, 1960 und 1990 (in Prozent)*

50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

Ernährung Wohnung Bekleidung

1927

1950

1960

1990

* Statistisches Jahrbuch der DDR.

Der Anteil der Grundbedürfnisse Ernährung, Bekleidung und Wohnung an den Verbrauchsausgaben im Deutschen Reich 1927 und in der DDR 1960, 1970, 1980 und 1986 (in Prozent)*

60

50

Ernährung

40 30 Bekleidung

20 10 Wohnung

0 1927

1960

* Statistisches Jahrbuch der DDR.

1970

1980

1986

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Der Anteil der Verbrauchsausgaben für Ernährung, Bekleidung und Wohnung insgesamt im Deutschen Reich 1927 sowie in der Bundesrepublik und in der DDR (in Prozent)*

80

70 DDR

60

50 Bundesrepublik Deutschland

40 30

20 10

0 1950

1960

1970

1980

1986

1990

* Statistisches Jahrbuch der DDR.

der Grundbedürfnisse den Verbrauchsausgaben Der AnteilDer derAnteil Grundbedürfnisse an denan Verbrauchsausgaben [in Prozent]1) (in Prozent)*

Deutsches Reich 1927 Bundesrepublik Deutschland 1950 DDR 1960 Bundesrepublik Deutschland 1960 DDR 1970 DDR 1980 DDR 1986 Bundesrepublik Deutschland 1990 Schweiz 1985 Österreich 1982

Ernähren Bekleiden 45,90 13,50 46,40 13,60 50,40 16,30 36,20 15,40 46,90 15,90 41,80 15,30 41,10 15,40 16,00 8,10 21,30 6,70 22,70 10,60

Wohnen 17,30 10,50 6,40 9,20 6,10 5,00 5,20 21,60 22,40 18,70

Summe Grundbedürfnisse 76,30 70,50 73,10 60,80 68,90 62,10 61,70 45,70 50,40 52,00

* Statistisches Jahrbuch der DDR. 1)Statistisches Jahrbuch

der DDR

Wenn man den Anteil der Grundbedürfnisse an den Verbrauchsausgaben in der DDR mit denen von westlichen Ländern vergleicht, so sieht man, daß die Strukturen der DDR von 1960 eher den Strukturen im Deutschen Reich von 1927 und denen der Bundesrepublik von 1950 bei Ernährung und Kleidung gleichen, während die Verbrauchsausgaben für Miete in der DDR wesentlich geringer waren. Der Anteil der Grundbedürfnisse an den Verbrauchsausgaben zeigt, daß die alten Strukturen über Jahrzehnte hinweg fest starr waren.

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Als Fazit kann festgehalten werden, daß es bei den Verbrauchsausgaben im langen Zeitablauf bei der Bundesrepublik einen starken Strukturwandel gab, während sich die Strukturen in der DDR kaum veränderten. Erich Honecker 1993: „Jedenfalls war die DDR dank des Fleißes der Arbeiter, Bauern und Wissenschaftler, der aktiven Tätigkeit der Regierung der DDR als einziges sozialistisches Land in der Lage, das Ernährungsproblem für ihre Bürger zu lösen“.140 Prof. Dr. Helmut Koziolek, der von 1965 bis 1989 Direktor des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED war, äußert am 2. Mai 1994 in einem Gespräch: „Zur gleichen Zeit, als die Bundesrepublik voll in die Weltwirtschaft und die ‚scientific community’ integriert wurde, wurde die DDR, was die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge anbetrifft, absolut abgeschnürt [...]. Die Einflüsse der Außenwirtschaft auf die Planwirtschaft haben ja nicht durchgewirkt. Der hauswirtschaftliche Charakter der DDR, der den Umständen geschuldet war – kein Ökonom war der Meinung, daß die Hauswirtschaft gut war – führte zu einer katastrophalen Ausdehnung des Sortiments, damit zu kleinen Serien, zu relativ hohen Kosten und damit zu einer wachsenden Unrentabilität und zu einer Abschirmung vom Weltmarkt“.141 Der Ausdruck „Hauswirtschaft“ war eine Metapher, Koziolek meint damit eine geschlossene Wirtschaft wie die DDR sie besaß im Gegensatz zu einer offenen Wirtschaft wie sie die Bundesrepublik hatte. In der geschlossenen Wirtschaft, der Hauswirtschaft DDR, gab es immer Hausmannskost, d. h. einfache, schmackhafte und nahrhafte kräftige Kost. Jutta Voigt beschreibt mit viel Einfühlung das Essen, Trinken und Leben in der DDR. „Im Jahr 1986 aß jeder DDR-Bürger 96 Kilo Fleisch, 43 Kilo Zucker, 15,7 Kilo Butter und 307 Eier, als Verbraucher waren wir Weltspitze. Wir waren Vielfraße. Wir aßen aus Lust und Frust, aus Begeisterung und Verzweiflung, aus Langeweile und der chronischen Angst, nicht genug zu kriegen. Reich sei nicht derjenige, der viel besitzt, reich sei derjenige, der viel begehrt, besagt eine ambivalente Sentenz - wir waren Nimmersatte. Wir wollten alles. Viel essen, viel trinken, niedrige Preise, billige Wohnungen. Immer Arbeit, aber nicht mehr als unbedingt notwendig, viel Freizeit und jederzeit Bananen, Milka-Schokolade und Jacobs Krönung. Dazu Freiheit, Gleichheit, Früchtejoghurt. Wir haben gegessen, weil es billig war und weil man sanft wurde vom vielen Essen. Wir haben mit dem Frust nach der Speckseite geworfen. Betäubung, Rückführung in den Zustand des Nuckelns an der Mutterbrust bis zum Eindösen. Wir gaben unser Geld für Lebensmittel aus, weil wir anderes nur mir viel Warten und Mühe oder gar nicht kriegten. Videos, Autos, Geschirrspüler; die Kaufkraft war immer höher als das Warenangebot. Weil wir nicht nach Mallorca konnten und nicht an den Gardasee, ha-

140 Honecker, Erich: Moabiter Notizen, Berlin 1994, S. 67. 141 Die DDR war eine Hauswirtschaft. Gespräch mit Prof. Dr. Helmut Koziolek, Berlin, 2. Mai

1994, in: Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 263, 268.

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ben die Hungrigsten von uns an so manchem lauen Grillabend in Lauben, Datschen und auf Balkons jeder drei Bratwürste und zwei Scheiben Schweinekamm verzehrt und dazu dreihundert Gramm sowjetischen Wodka getrunken oder den polnischen mit dem Grashalm, Zubrowka, so wurden wir satt und zufrieden. Zeit zum Essen hatten wir ja, Zeitwohlstand war eine der schönsten Nebenwirkungen des Staates DDR, wir nahmen ihn mit großer Selbstverständlichkeit entgegen. Ein ehemaliger Maurer erinnert sich begeistert an Nachtschichten, während deren er riesige Eisbeine mit Sauerkohl verzehrte, Bauarbeiterversorgung nannte sich die Völlerei. ‚Was haben wir für Kaßlerrollen gegessen, und was haben wir gelacht!’ ist der Kernsatz ostalgischen Bedauerns eines Drehbuchautors, der nicht glücklich wurde im Westen. Neulich habe ich in einem frisch eröffneten rheinischen Lokal das erste Mal nach der Zeitenwende wieder Kaßler gegessen, es schmeckte, als sei ich zu Besuch in dem verschwundenen Land, in dem ich geboren wurde. Die deutsche Küche der DDR war abgeschirmt gegen Einflüsse von außen, es sei denn, es handelte sich um Pilze aus Polen, eine Suppe aus Rußland oder Buletten vom Balkan, die unsere an Nahrhaftigkeit noch übertrafen. Die kalorienschwere DDR-Küche machte uns zu braven Bürgern, beschäftigt mit Ranschaffen und Verdauen. Ein voller Bauch rebelliert nicht gern - das wußten Partei und Regierung. Sie wußten auch, daß vom Essen ihre Macht abhing, Sein oder Nichtsein, satt oder weg. Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen, bitte sehr - es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her. Die Versorgung, ihre Lücken und Mängel, ihre Engpässe und Ausfälle waren vierzig Jahre lang Dauerthema in den Sitzungen von ZK und Politbüro, wo man über Versorgungslücken beim Würfelzucker sprach wie über Weltereignisse. Da gab es die Brot-Krise und die Kaffee-Krise und die Fleisch-Krise und die Südfrüchte- Krise, die Butter-Krise und die Milch-Krise, die Fisch-Kartoffel-Kakaound-Zwiebel-Krise. Die ‚planmäßige Verbesserung der Versorgung der DDRBevölkerung mit Speisen und Getränken’ ließ sich so lange Zeit, bis die Zeit abgelaufen war. ‚Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben’ – ‚Hoffentlich nicht!’ schrieb jemand unter die Losung. Dieses Land ist an seinen Vorzügen zugrunde gegangen, sagt eine Freundin immer, das ist nicht von der Hand zu weisen“.142 Auch für die Grundbedürfnisse war die Bundesrepublik das Modell. Erich Honecker: „Der Maßstab für die DDR war, ob wir es wollten oder nicht, immer die Bundesrepublik“.143 In der Marktwirtschaft ist der Kunde König und der Verkäufer umwirbt, hofiert den Käufer. In der sozialistischen Mangelgesellschaft verteilte die Verkäuferin die knappen Güter und ließ dabei die Kunden, die Käufer ihre Macht spüren. Jutta Voigt zeigt das Verhalten einer besonders „bösen Verteilerin“ im DDR142 Voigt, Jutta: Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR, Berlin

2005, S. 10-12. 143 Honecker, Erich: Moabiter Notizen, S. 103.

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Sozialismus und nach der Einführung der DM am 1.7. 1990. Wie immer ist sie dabei einfühlsam und bringt die Realität gewürzt mit Humor und Satire auf den Punkt. „Schöne Unfreundlichkeit: In den Schulferien arbeitete ich als Verkäuferin im Lebensmittel-Konsum unserer Straße, weißer Kittel, weißes Häubchen. Es war wie Spielen mit dem Kaufmannsladen. Eintüten, Abwiegen, die Kasse klingeln lassen, Milch wurde in mitgebrachte Kannen gefüllt. Ich träumte nachts davon, wie eine Einkaufstüte gefaltet wird, spitze Tüten mußte man anders falten als eckige. Ich war freundlich zu den Kunden. Das mag daran gelegen haben, daß ich die Anweisungen für sozialistische Verkäuferinnen nicht kannte. Keiner sollte mehr dienen im Arbeiter-und-Bauern-Staat, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen war ein für allemal abgeschafft. Alfred Kollmann veröffentlichte 1956 in Leipzig eine Verkaufskunde. Sämtliche Wörter, die das Bedienen betreffen, sind in Anführungsstriche gesetzt und somit als unzeitgemäß gekennzeichnet. Unser Kunde trete uns heute nicht mehr als ‚Herr Amtsgerichtsrat’ entgegen, auch die ‚gnädigen Frauen’ seien längst entschlafen, informierte Kollmann. Der Verkäufer stünde nicht mehr ‚zu Diensten’, er sei kein ‚Butler’ in einem Herrschaftshaus, fuhr er fort. ‚Heute tritt unserem Verkäufer ein gleichberechtigter Vertragspartner gegenüber. Aus dieser Erkenntnis der Gleichberechtigung bringen sich beide Partner gegenseitig Achtung und Anerkennung entgegen, wobei der eine vom anderen nicht mehr Höflichkeit verlangen kann, als er ihm selber zu geben bereit ist’. Dieses Verhältnis, so Kollmanns revolutionäre Verkaufskunde, sei ein Ausdruck für die neue Art des Zusammenlebens der Menschen unter sozialistischen Bedingungen. Auf diese Weise haben sie sich gegenseitig die Hölle heiß gemacht, die Verkäuferin dem Kunden und der Kunde der Verkäuferin. ‚O nicht genug zu preisende Langsamkeit / Der nicht mehr Getriebenen! Schöne Unfreundlichkeit! / Der zum Lächeln nicht mehr Zwingbaren!’ dichtete Heiner Müller. ‚Kauf mich, kauf mich!’ – schreien die Waren und ihre Anbieter in den Buden und Tempeln der Marktwirtschaft. In den Baracken der sozialistischen Planwirtschaft verstummten ihre Hilferufe, das Angstlächeln der Angestellten, die bei Strafe des Jobverlusts Umsatz bringen mußten, verschwand. Allerdings verschwand nun jegliches Lächeln, um Hilfe rief nicht mehr die Ware, sondern der Kunde. ‚Du stehst als werktätiger Verkäufer werktätigen Verbrauchern mit gleichen Aufgaben und Zielen gegenüber’, klärte Kollmann die sozialistischen Verkäufer auf. ‚Vermeide beim Sprechen jene ergebene, überschwengliche Dienstbeflissenheit einer vergangenen Zeit, sie paßt nicht zu unserem neuen fortschrittlichen Arbeitsstil’, riet der vom Umbruch der Verhältnisse beseelte Verkaufskundler. Derartiges ließen sich die fortschrittlichen Verkäuferinnen nicht zweimal sagen. Es ging ihnen wie von selber in Fleisch und Blut über, daß sie nicht dienen, sondern herrschen sollten. Daß sie die knappe Ware nicht anzubieten, sondern zu verteilen hatten, der Ton war rau. Von Gleichberechtigung zwischen Kunde und

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Verkäufer konnte keine Rede sein. Das Verhältnis stand Kopf, nicht der Kunde war König, sondern der Verkäufer. Er sah es als seine Aufgabe an, den Kunden zu Bescheidenheit, Geduld und Unterordnung zu erziehen. Den launischen Vollstreckerinnen der gerechten oder ungerechten Verteilung von Rinderfilet und grünen Gurken, Halberstädter Würstchen und Schnittkäse blieb es überlassen, wann sie sich bückten, unter den Ladentisch faßten und dem artigen Kunden huldvoll ein Päckchen mit irgendwas zu irgendeinem Preis über die Ladentheke reichten und wann sie das nicht taten. Die Machtverhältnisse konnten sich in ihr Gegenteil verkehren, wenn sich die wartenden Kunden überraschend solidarisierten und ein Pulk aus Unzufriedenheit den Laden okkupierte. Wenn die Schlange die Verkäuferinnen beschimpfte, sie für den Mangel verantwortlich machte und der Bestechlichkeit zieh. Wenn sich der gesammelte Unmut der Schlange gegen die Repräsentantinnen des sozialistischen Handels richtete. Das kam selten vor. Der einzelne wagte solche Angriffe nur im Ausnahmezustand. ‚Der Fettarsen aus’m Jemüsekonsum!’ schrie der volltrunkene Herr D. aus seinem Fenster im Hinterhof: ‚Der Fettarsch aus’m Jemüsekonsum vakooft frische Gurken nur gegen Schmiergelder. Damit ihr’s alle wißt’. Und schlug das Fenster zu. In der Regel waren Verkäuferinnen Göttinnen. Böse oder gute, rachedurstige oder milde, bestechliche oder gerechte. Herrscherinnen und Hexen. Der Kunde duckte sich unter Ihr Zepter, tanzte nach ihrer Pfeife. Aufbegehren zog Liebesentzug nach sich. Um belohnt zu werden, machte man sich lieb Kind bei den Dominas von Konsum und HO. Bedankte sich überschwenglich, gab Pfötchen, beziehungs-weise Trinkgeld, und lächelte dankbar in die strengen Verteilerinnengesichter, ein Sado-Maso-Verhältnis besonderer Art. Vielleicht hat er hier begonnen, der pragmatische Opportunismus des DDR-Insassen, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Der sozialistische Kunde wartete ergeben, wenn eine Verkäuferin mit einer anderen was zu bereden hatte, ihre Fingernägel feilte oder einen Zeitungsartikel zu Ende las, bevor sie sich entschloß, nach etwaigen Wünschen zu fragen. ‚Haben Sie?’ fragte der Kunde kleinlaut. Kopfschütteln. ‚Wann kriegen Sie?’ setzte er demütig nach. Achselzucken. ‚Na ja, dann nehme ich eben [...]’ Rübergereicht, fertig, dreidreißig. Längst war die Verkäuferin wieder ins Gespräch mit der Kollegin vertieft. Die Unterwürfigkeit der Kunden traf auf das Desinteresse der Austeiler, die selten das Richtige zum Verteilen hatten. Das setzte ihrer Herrschaft Grenzen, machte sie ohnmächtig und mürrisch. Schöne Unfreundlichkeit der zum Lächeln nicht mehr Zwingbaren! Manchmal fühlten sich Verkäuferinnen zu mehr berufen als dazu, Waren auszuteilen. Ich habe Mitte der Siebziger folgenden Vorfall notiert, weil er mir symptomatisch schien für die verbreitete Feindseligkeit gegen das Abweichen vom Durchschnitt, und sei es nur in Kleidung und Frisur. Alle sollten gleich sein, alle sollten gleich aussehen. Der Egalitarismus wandte sich gegen alles, was irgendwie anders war, gegen Außenseiter, Künstler, Intellektuelle, auffällig gekleidete Jugendliche. Allein das Wort Rand war aggressiv und ausgrenzend gemeint, ein Akt der Selbstverteidigung also, daß der Kunde das ‚Randstück’ ablehnte:

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Ein junger Mensch mit langem braunem, gelocktem Haar betrat einen Bäckerladen. Seine Frisur hatte Ähnlichkeit mit der des Sonnenkönigs Ludwig des Vierzehnten, in seinem linken Ohrläppchen steckte ein silberner Ohrring, er trug geflickte Bluejeans und eine abgewetzte Lederjacke im Thälmann-Stil. Der junge Mensch wollte ein Stück Bienenstich kaufen. Die Verkäuferin, eine dauergewellte Platinblonde, reichte ihm ein Randstück. ‚Das ist angebrannt’, sagte der junge Mann, er wolle das daneben, ein schönes goldbraunes Mittelstück, schön und goldbraun wie alle anderen. Die Verkäuferin zog die Kuchenzange zurück, ihr Mund verformte sich zu einem auf den Kopf gestellten U. ‚Gerda! Gerrda!’ rief sie in Richtung der Tür, an der ‚privat’ stand. Als Gerda nicht gleich erschien, lief die Blonde nach hinten. Der Mensch in der Lederjacke hatte inzwischen seine vierzig Pfennige wieder vom Ladentisch genommen. Da kamen sie, Gerda und die andere, Seit an Seit, und Gerda sagte: ‚Ein Blick genügt!’ Sie meinte nicht den Bienenstich, sondern den Kunden, dessen Äußeres ihren Vorstellungen von einem ordentlichen Kunden widersprach, von einem Bürger, der ein anständiges Stück Bienenstich zu beanspruchen gehabt hätte. Der mit den Locken verließ den Laden, ohne Bienenstich. Was die Bäckersfrauen aufregte, war, daß ein Mensch, zu dem, wie sie meinten, ein Randstück paßte, dieses Randstück nicht wollte. In meiner Kaufhalle herrschte in den Achtzigern eine besonders böse Verteilerin. Mit unwirschen Händen, abgebrochenen Fingernägeln, an deren Rändern Spuren hellroten Nagellacks hafteten, warf sie wortlos Fleisch auf die Waage. Nach Wende und Währungsumstellung am 1. Juli 1990 war die Frau bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Als hätte man sie über Nacht einer Hirnwäsche unterzogen. Sie trug einen blütenweißen Kittel, der Ansatz ihrer Haare war frisch blondiert, die Fingernägel hatte sie perfekt manikürt. Und das unheimlichste: Sie lächelte. Schöne Freundlichkeit der zum Lächeln Gezwungenen!“144 9. In der sozialistischen Mangelgesellschaft existierte für die Politbüroangehörigen in Wandlitz (bei Berlin) ein Paradies für Westwaren Charakteristisch in der antagonistischen Drei-Klassen-Struktur der DDRGesellschaft waren die utopischen Verheißungen der herrschenden SED-Klasse für die große Masse der beherrschten Gesellschaft in der DDR, die in großem Kontrast zu deren Alltag standen. Bei der 1954 eingerichteten „Jugendweihe“145

144 Voigt, Jutta: Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR, Berlin

2008, S. 58-63. 145 Jugendweihe. Seit 1954 gesellschaftliche Einrichtung in der DDR zur Unterstützung der staatsbürgerlichen Erziehung der Schüler nach achtjährigem Schulbesuch unabhängig von der sozialen Herkunft und der Weltanschauung der Eltern. Höhepunkt im Frühjahr ist die feierliche Aufnahme der jungen Menschen in die Reihen der Erwachsenen; in ihrem Gelöbnis bekennen sich die Jugendlichen zu ihrem sozialistischen Vaterland. Unter Leitung der Ausschüsse für Jugendweihe wird im Zusammenwirken mit der Schule der Jugendorganisation

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wurde ein Buch „Unsere Welt von morgen“146 überreicht, in dem es im Kapitel die „Ströme des Reichtums“147 im Sozialismus heißt:148  „Die Geschäfte werden entschieden differenziert und spezialisiert, um zu gewährleisten, daß ohne Umwege jeder Artikel, der überhaupt verfügbar ist, mit Sicherheit in den zuständigen Spezialgeschäften zu finden ist; dabei bilden die benachbarten Geschäfte in Stadtzentren oder großen Ladenstraßen ein Ensemble von Versorgungseinrichtungen, die jeden vernünftigen Bedarf zu befriedigen vermögen, aber kein sinnloses Überschneiden und Nebeneinander mehr kennen.  Der Kundendienst ist optimal zu entwickeln: von der sachkundigen Beratung des Käufers bis zur sofortigen Behebung von Mängelrügen; von dem selbstverständlichen Kundendienst an der Tankstelle bis zur wunschgerechten Lieferung ins Haus; von der raschen Beschaffung vergriffener oder aus anderen Gründen örtlich nicht vorrätiger Waren bis zu der sorgfältigen und gewissenhaften Erforschung der Verbraucherwünsche und ihrer verbindlichen Weitergabe an die Industrie.  Ebenso müssen die Reparatur- und Ersatzteilprobleme zufriedenstellend gelöst sein. Eine Vernachlässigung des Bedarfs an Reparaturleistungen und Ersatzteilen kann und wird sich auch das reichste sozialistische Land in Zukunft nicht leisten, weil sie eine der dümmsten und schädlichsten Formen der Verschwendung ist.  Neben dem reichhaltigen Angebot der Einkaufszentren in den Städten und den überall vorhandenen Geschäften für den täglichen Bedarf an ‚gewöhnlichen‘ Waren wird es ein Netz von Versandhäusern geben müssen, die eine qualifizierte, schnelle und bequeme Versorgung auch der Bevölkerung auf dem Lande aus dem vollen Sortiment aller Warengattungen gewährleisten. Mit Hilfe von systematischen Katalogen können dann die Einwohner selbst entlegener Gebiete und kleiner Gemeinden jeden Artikel bestellen und binnen weniger Tage auch erhalten, der sonst nur in Spezialgeschäften großer Städte zur Hand ist“. Die „Ströme des Reichtums“ flossen bis zum Untergang des „realen Sozialismus“ 1989/90 nicht für die beherrschte und ausgebeutete große Masse der Bevölkerung der DDR. Anders sah es bei der herrschenden Klasse, der Parteielite

und mit Partnern aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in den der feierlichen Jugendweihe vorausgehenden Jugendstunden ein festes Programm absolviert. Vor allem machen bewährte Kämpfer der Arbeiterklasse den Schülern die Bedeutung ihres Gelöbnisses bewußt. In: Meyers Neues Lexikon, Bd. 7, 2. Aufl., Leipzig 1973, S. 179. 146 Böhm, Karl / Dörge, Rolf: Unsere Welt von morgen, 4. Aufl., Verlag Neues Leben, Berlin (-Ost) 1961. Zur Erinnerung an die Jugendweihe. 147 Ebd., II. Teil: Blick in die Zukunft (S. 235 ff.), Ströme des Reichtums mit den Kapiteln „Einkauf – leicht gemacht“ (S. 369 ff.) und „Im Warenparadies“ (S. 373 ff.) 148 Ebd., S. 371 f.

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der SED aus. „Am Rande der Ortschaft Wandlitz, eine halbe Autostunde vom Berliner Zentrum entfernt, wurde die ‚verbotene Stadt‘ errichtet. Der Beschluß vom 31. Mai 1960 sagte aus, daß auf Bedenken des Ministeriums für Staatssicherheit eine Kasernierung unumgänglich sei – aus Sicherheitsgründen. … Über 600 Angestellte sorgten sich am Ende um das Wohl der zwei Dutzend Familien auf dem mehrere Quadratkilometer großen Areal, das in einen inneren und äußeren Sperrkreis eingeteilt war. Im äußeren Sperrkreis wohnten die Angestellten – ausnahmslos bei der Staatssicherheit beschäftigt –, waren Geschäfte, eine Gärtnerei, das Heizhaus, ein eigenes Wasserwerk, die eigene Energiestation und diverse Werkstätten“.149 Als sich das Politbüro 1978 für die täglichen Fahrten von Wandlitz nach OstBerlin schwedische Nobelautos der Marke „Volvo“ selbst genehmigte, reagierte die beherrschte Klasse, die große Mehrheit der DDR-Gesellschaft fassungslos, denn für diese Menschen waren „Westwaren“ und jede Form westlichen Lebensstandards weitgehend tabu. „Im Einkaufscenter der Waldsiedlung gab es nach einigen Jahren kaum noch DDR-Güter. Von den täglichen Nahrungsmitteln bis zu den technischen Produkten wurde alles aus dem Westen herangeschafft. Sechs Millionen D-Mark pro Jahr, wies Generalsekretär Honecker seinen Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski an, sollten bereitstehen, um die Wünsche seiner Politbüro-Oberen zu befriedigen – rund eine Viertelmillion DM-West je Familie. Verwaltet wurde das Geld von Frau Sigrid Schalck-Golodkowski, die wie ihr Ehemann den Dienstrang einer ‚Genossin Oberst‘ der Stasi führte. Den Wert zu steigern, kaufte sie im Großhandel kostengünstig ein und konnte damit den SEDRanghöchsten phantastische Preisangebote unterbreiten. Und die führenden Genossen nutzten die Offerten: Mittag kaufte im Jahr zehn Farbfernseher, auch Sindermann erwarb noch kurz vor Toresschluß in den letzten Wochen vier TVGeräte. Bezahlt wurde in Wandlitz zum Kurs 1:1. Was Wunder, daß die Genossen in ‚Volvograd‘, wie die Siedlung im Volksmund genannt wurde, sich bereits mit der konkreten Gestaltung der kommunistischen Gesellschaft befaßten, waren für sie die irdischen Probleme im Alltag doch bereits gelöst“.150 Dem Normal-Bürger der DDR standen circa 3.000 Medikamente vor 1989/90 zur Verfügung. Die Apotheken in der DDR erhielten einmal pro Woche Arzneimittel. Die Avantgarde, die fortgeschrittensten Kräfte der SED, die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des Zentralkomitees der SED besaßen auch hier große Privilegien, denn sie konnten jederzeit auf 60.000 Medikamente, die es in WestBerlin gab, zurückgreifen. Erst als die GEHE AG von der Treuhand im Oktober 1990 sechs Niederlassungen in Neubrandenburg, Schwerin, Berlin, Magdeburg, Halle (Saale) und Dresden erwarb, wurden die Apotheken in den neuen Bundesländern drei- bis viermal am Tag aus dem Medikamentensortiment von 60.000

149 Bahrmann, Hannes / Fritsch, Peter-Michael: Sumpf. Privilegien, Amtsmißbrauch, Schiebergeschäfte, Berlin 1990, S. 142 f. 150 Ebd., S. 143.

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Arzneimitteln beliefert. Der neue Bundesbürger wurde damit der früheren ParteiElite der SED gleichgestellt.151 Zu den weiteren Privilegien gehörten u. a. große eingezäunte Jagdgebiete, so z. B. für Erich Honecker 11.000 Hektar (entspricht einem Quadrat von 10,5 x 10,5 km)152 und für Erich Mielke 15.000 Hektar.153 „Die Jagdausflüge von Honecker mit Mittag, Mielke und anderen Politbüromitgliedern, von denen die meisten ein eigenes Revier hatten – Mielke in Wolletz, Stoph im Birkenheide usw. –, gerieten bald zu einem Wettbewerb zwischen den Schützen, was, worauf ich noch eingehen werde, anfänglich auch bei der jährlichen Diplomatenjagd deutlich wurde. Das eigentliche Anliegen des Waidmanns, nämlich die Hege und Pflege des Tierbestandes in seinem Jagdrevier, wozu – in Ermangelung natürlicher Feinde – auch die Begrenzung des Wildschwein- und Rotwildbestandes gehören, trat damit sukzessive in den Hintergrund. Man schmückte sich mit Abschusszahlen und Trophäen. … Die von den wahnsinnig erfolgreichen Jägern angegebenen Abschusszahlen stimmten nie mit der der toten Hasen überein. Um diese Peinlichkeit nicht offenbar werden zu lassen, wurden fortan die erlegten Langohren im Kreis aufgebahrt, wodurch das Nachzählen erheblich erschwert wurde. Meine Mission bestand darin, mich diskret im Hintergrund zu halten, denn für die gastronomische Betreuung sorgte ausgewähltes Personal aus Erfurter Hotels. Dafür hatte die Bezirksleitung der SED in Thüringen zu sorgen wie auch für ausreichend Hasen. Die meisten, das kann ich verraten, lagen bereits in den Kühlhäusern, als wir in Thüringen eintrafen. Sie wurden dann zu den tatsächlich erlegten gepackt, damit die Strecke gewaltig aussah“.154 Der Generaldirektor des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena, Dr. Wolfgang Biermann, berichtet in einem Gespräch vom 22.9.1993 über Privilegien der Führungskader in diesem Kombinat: „Die Leute hatten in dieser Zeit große Vorteile. Die Führungskader hatten Häuser, sie hatten Autos, was unter den Bedingungen dieses Landes nicht selbstverständlich war. Ich konnte ihnen nach einem Jahr einen Lada geben, auf den man sonst zehn oder zwölf Jahre gewartet hat. … Ich

151 Neue Wege. 175 Jahre Gehe-Jubiläumsmagazin 2010. Innovation. Professionalität. Partnerschaft, S. 75. In der Hauptversammlung im April 2003 änderte die GEHE AG ihren Namen um in Celesio AG. 152 Das Anwesen am Drewitzer See war ein 43 Millionen DDR-Mark teures Geschenk von StasiChef Erich Mielke an Honecker zu dessen 70. Geburtstag. Nach 1990 wurde es von einem Bremer Unternehmer erworben, der neben dem reetgedeckten Jagdhaus Honeckers zwei Dutzend Ferienhäuser errichten ließ. Nach finanziellen Schwierigkeiten meldete er Insolvenz an. Die holländische Van der Valk Hotelgruppe gewann im November 2011 einen Bieterwettstreit vor dem Amtsgericht Waren, das die 14 Hektar große Immobilie in der Mecklenburgischen Seenplatte zur Versteigerung ausgeschrieben hatte. Der Zuschlag erfolgte bei 2,5 Millionen Euro. 153 Bahrmann, Hannes et al.: Sumpf, S. 148. 154 Herzog, Lothar: Honecker privat. Ein Personenschützer berichtet, Berlin 2012, S. 101, 129 f., S. 156: „Fisch und Wild kamen so wenig auf den Tisch Honeckers wie Spargel und Pilze“.

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hatte ein eigenes, von der Regierung zur Verfügung gestelltes Kontingent von etwa 60 Autos im Jahr“.155 Das System von Privilegien ließe sich leicht fortführen. Die hier aufgeführten exorbitanten Privilegien zeigen mit aller Deutlichkeit, warum sich hohe SEDFunktionäre so an den Machterhalt klammerten. Der Altkommunist und SED-Funktionär Werner Eberlein (geb. 1919) bemerkte dazu nach der Wiedervereinigung: „Für mich war nicht die BlendaxZahnpasta anstößig, sondern die Isolation, jenes Ghetto-Prinzip, das zur Loslösung, zur Abkapselung der Parteiführung von der Masse der arbeitenden Menschen geführt hat“.156 Die antagonistische staatssozialistische Zwei-Klassen-Struktur der DDR-Gesellschaft war ein Abbild der Sowjetgesellschaft: „In der Gesellschaft der UdSSR gibt es also eine herrschende Klasse und andere Klassen, die von ihr unterdrückt werden. Es gibt einen Klassenantagonismus. Das ist die Wahrheit über die Sowjetgesellschaft. Was ist also in Rußland möglich geworden? Möglich wurde folgendes: Der Jahrzehnte dauernde, aufopfernde Kampf der marxistischen Revolutionäre, die Revolution, der Bürgerkrieg, die physische Ausrottung ganzer Klassen der Gesellschaft, die unerhörten Anstrengungen und die zahllosen Opfer – alles das im Namen einer gerechten Gesellschaft ohne Klassen und Klassen-Antagonismen – führt im Endeffekt nur zur Errichtung einer neuen antagonistischen Klassengesellschaft“.157 In der Soziologie der UdSSR wurde schon 1966 zwischen Eigentum und Verfügung über Eigentum unterschieden. Jakow Abramowitsch Kronrod hat in seinem Werk „Die Gesetze der politischen Ökonomie des Sozialismus“ (Moskau 1966) die Zusammenhänge zwischen der sozialistischen Eigentumsordnung und der sozialen Differenzierung der sowjetischen Gesellschaft dargestellt. Kronrod widerlegt den Mythos der sozialen Gleichheit im Sozialismus. „Er unterscheidet in der komplexen Formel ‚Eigentum = Aneignung‘ erstens zwischen der ‚Aneignung im Sinne der Verfügung‘ über die Produktionsmittel und zweitens der ‚Aneignung im Sinne der faktischen Nutzung‘ derselben durch die arbeitende Bevölkerung. … Das sozialistische Eigentum bringt zwar eine sozial gleiche Verfügung über die Produktionsmittel hervor, aber dabei handelt es sich nur um ein

155 Gespräch mit Wolfgang Biermann. Man mußte ein König der Improvisation sein. In: Pirker, Theo et al. (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR, 1995, S. 221. 156 Zimmermann, Brigitte / Schütt, Hans-Dieter (Hrsg.): ohnMacht. DDR-Funktionäre sagen aus, Berlin 1992, S. 57. 157 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, 3. Aufl., 1985, S. 233.

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formales rechtliches Verhältnis, das keine konkreten individuellen Verfügungsrechte begründet“.158 Ahlberg folgert aus den Ausführungen von Kronrod, „daß in der sowjetischen Gesellschaft eine politisch weisungsberechtigte Schicht oder Klasse existiert, die im Namen der Gesellschaft faktisch über die Volkswirtschaft verfügt und die Subsistenzmittel unter die einzelnen sozialen Gruppen verteilt. Die sozialistische Eigentumsordnung hat die politische Ungleichheit zwischen weisungsberechtigten und weisungsgebundenen Schichten nicht beseitigt. Sie hat das sozialistische Herrschaftssystem aber mit einer neuen Legitimation ausgestattet – mit dem Glauben an die Gleichheit der Interessen zwischen Staat und Gesellschaft“.159 A. I. Paschkow veröffentlichte 1971 einen ausführlichen Aufsatz über das Werk, in dem er Kronrods „Auffassungen zutiefst falsch“ nannte.160 Nach Douglass C. North gibt es grundsätzlich zwei Arten von Erklärungen des Staates: eine Vertragstheorie und eine Ausbeutungstheorie.161 „Die Räuberoder Ausbeutungstheorie des Staates wird von einer bemerkenswert vielschichtigen Gruppe von Sozialwissenschaftlern vertreten – einschließlich Marxisten (zumindest in ihrer Analyse des kapitalistischen Staates) und einiger neoklassischer Ökonomen. Nach dieser Auffassung ist der Staat Instrument einer Gruppe oder Klasse; seine Aufgabe ist es, im Interesse dieser Gruppe oder Klasse den übrigen Staatsangehörigen für sich ein Einkommen abzugewinnen“.162 Diese Ausführungen passen genau für die Parteielite der SED, die Ausbeuterklasse. Sie bestimmte letztlich die Löhne, Kosten, Preise und Investitionen. Die Festlegung dieser ökonomischen Größen war willkürlich, denn auch die dem Politbüro zuarbeitenden Gremien besaßen keine ökonomischen Kriterien, um die ökonomischen Größen festzulegen. „Die ordnungsstiftende Kraft der DDR-Zentralverwaltungswirtschaft war der Wille des Organisators“,163 d. h. des Politbüros. „Die Entscheidungen zu inhaltlichen Fragen erfolgten durch Beschlüsse des ZK, des Politbüros und des Ministerrates“.164 Die wirtschaftliche Lenkungsaufgabe bestimmte einen großen Teil der Aufgaben des totalitären SED-Staates. Mit der administrativen und der operativen Dienstklasse schuf sich die herrschende Klasse, die Parteielite der SED, eine geeignete Befehlsorganisation. „Die Lenkungsaufgabe zwingt zu umfassender Reg-

158 Ahlberg, René: Der Mythos der sozialen Gleichheit im Sozialismus, in: Osteuropa, 31. Jg., Heft 11, November 1981, S. 968. 159 Ebd., S. 972. 160 Paschkow, A. I.: Über das Eigentum an den Produktionsmitteln, über die Klassen und sozialen Gruppen sowie über den Charakter der Arbeit im Sozialismus, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1972, Nr. 4, S. 372. 161 North, Douglass C.: Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1988, S. 21. 162 Ebd., S. 22. 163 Paraskewopoulos, Spiridon, in: Volkswirtschaftslehre. Grundriss für Studierende, Berlin 2004, S. 51. 164 Mittag, Günter: Um jeden Preis, S. 301.

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lementierung des Verhaltens der am Wirtschaftsprozeß Beteiligten. Da der Wirtschaftsprozeß alle Lebensbereiche berührt, folgt daraus zwangsläufig eine sehr weitgehende Einflußnahme des Staates auf alle Lebensbereiche. Das konkrete gesamtwirtschaftliche Lenkungsziel und der ‚totale Staat‘ bedingen einander.165 Die politische Bedeutung dieser Machtkonzentration wird durch zwei Tatsachen verstärkt, die sich aus der Wirtschaft selbst ergeben: die zentrale Planung des gesamten Wirtschaftsprozesses erweist sich als unmöglich, sofern dabei demokratische Methoden angewendet werden sollen.166 Und: Da der Wirtschaftsablauf ständig Anpassungen an neue Tatsachen oder Ziele erfordert, die im Plan nicht oder nicht vollständig berücksichtigt wurden, ist ständig ein hohes Maß staatlicher ‚operativer Tätigkeit‘ erforderlich. Der Staatsordnung der Zentralverwaltungswirtschaft muß daher insoweit ein Element fehlen, das für die Marktwirtschaft unerläßlich ist: die Stetigkeit staatlicher Tätigkeit im Hinblick auf den konkreten Ablauf des Wirtschaftsprozesses“.167 In der antagonistischen staatssozialistischen Zwei-Klassen-Struktur der DDRGesellschaft war grundsätzlich alles auf eine einheitliche Durchformung der Gesellschaft abgestellt. Die Leitbilder dafür wurden von der Parteielite der SED bestimmt. Die administrative und die operative Dienstklasse waren nur ausführende Organe. Ihre Stellung wurde von Paul Verner (1911-1986)168 so charakterisiert: „Die Aufgabe der SED-Parteielite besteht doch darin, die politische Linie für alle Gebiete des sozialistischen Aufbaus auszuarbeiten und die Hauptrichtung der gesamten Tätigkeit des Staatsapparates festzulegen. Der Staatsapparat hat die Aufgabe, die konkreten Maßnahmen zur Durchführung der Beschlüsse der Partei festzulegen und zu verwirklichen. Die Mitglieder unserer Partei, die im Staatsapparat tätig sind, sind in diesem Sinne Parteiarbeiter“.169 Zur beherrschten und ausgebeuteten sozialistischen Arbeiterklasse hatte die SED ein sehr ambivalentes Verhältnis. Die SED „hegte paradoxerweise ein tiefes Misstrauen gegen ihre eigentliche Zielgruppe, die werktätigen Massen. Die SEDParteiführer waren überzeugt, dass diese Massen politisch orientierungslos waren, auch weil es ihnen an Bildung fehlte. Daher galten sie als potentiell anfällig, vom Klassenfeind materiell und geistig verführt zu werden. Daher war die Diktatur des Proletariats auch so etwas wie eine Beaufsichtigung des Proletariats, das fortwäh165 Beckerath, E. von: Freiheit und Bindung in der modernen Volkswirtschaft, in: Wirtschaftsfragen der freien Welt, Festschrift zum 60. Geburtstag von Ludwig Erhard, Frankfurt / Main 1957, S. 78-87. 166 Hayek, F. A.: Der Weg zur Knechtschaft, 3. Aufl., Zürich 1952, S. 82 ff. 167 Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1982, S. 285 ff. Zitat nach Peter Dietrich Propp: Zur Transformation einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs in eine Marktwirtschaft, Berlin 1964, Reprint 1990 mit Vorwort von Gernot Gutmann, S. 20. 168 Paul Verner war seit 1950 Mitglied des ZK, war 1950/53 und seit 1958 Sekretär des ZK der SED, wurde 1958 Kandidat und war seit 1963 Mitglied des Politbüros des ZK der SED. 1959/71 war er Erster Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED. 169 Propp, Peter Dietrich: Zur Transformation, S. 120. Quelle: Neues Deutschland vom 30. Juli 1960, S. 4.

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rend zu Selbstprüfung und notfalls Selbstzüchtigung angemahnt wurde. Die alltäglichen Unzulänglichkeiten der neuen Gesellschaft und die Skepsis der Bürger gefährdeten unablässig die Machtverhältnisse und den Führungsanspruch der SED. Machtsicherung bedeutete wiederum ideologische Indoktrination. Dazu gehörten ein Parteilehrjahr für die schlichten Mitglieder als Pflichtfach, ausschließlich zur Propaganda bestimmte Massenmedien sowie verdeckte und offene Zuträgerei, die im Stalinismus kulminierte“.170 Besonders aufschlußreich ist die Haltung der Arbeiter zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). „Das Selbstverständnis des FDGB war also ein ideologisches. Der FDGB wollte die Arbeiter- und Bauern-Macht politisch stärken, indem politisch-ideologisch aus der Gewerkschaft eine ‚Schule des MarxismusLeninismus‘ wurde, und ökonomisch, indem der FDGB in den Betrieben als Propagandist für den sozialistischen Wettbewerb auffiel. … Die Forderungen, die die DDR-Arbeitnehmer hier aufstellen, lassen auf eine große Distanz zur Partei-, Staats- und Gewerkschaftsführung schließen. Alle diese Äußerungen sind Belege dafür, daß sich die Beschäftigten in der DDR nach wie vor als ‚abhängig‘ Beschäftigte, also als Arbeiter, verstanden und nicht als ‚Werktätige‘, die auch nur in Ansätzen das ‚Volkseigentum‘ als ‚ihr‘ Eigentum betrachteten. Solche Haltungen geißelte der FDGB als ‚Erscheinungen des kleinbürgerlichen Individualismus, des Egoismus, des gleichmütigen Verhaltens zu den Fragen schlechter Arbeit. Es gibt nicht wenige Beispiele, wo die Kollegen äußern: – Hauptsache mein Geld stimmt, und sie sich wenig Sorgen machen um die gesamte Situation im Betrieb und am Arbeitsplatz‘. Da der FDGB so gut wie keine materiellen Anreize zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität in Aussicht stellen konnte, sondern nur materielle Einbußen, mußte er sich seiner Rolle gemäß auf eine ideologische Rechtfertigung dieser Arbeitsintensivierung verlegen. Die Parole des Produktionsaufgebotes lautete erschreckend offen: ‚In gleicher Zeit für das gleiche Geld mehr produzieren‘. Wer mehr arbeitet und im Verhältnis dazu weniger verdient, der stützt den Weltfrieden. Der hier konstruierte Zusammenhang wurde von den Arbeitnehmern in seiner Vordergründigkeit und Abstrusität, wie die Zitate zeigen, sehr wohl durchschaut. Auch hier, wie ebenfalls bei anderen ideologischen Fragen, wurde den Arbeitnehmern zugemutet, im Alltag ständig gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge wie die Stärkung des Sozialismus und des Weltfriedens in ihrer Arbeit zu reflektieren. Aber so denken und handeln Arbeiter und Angestellte nicht – und Politbüro-Mitglieder auch nicht. Dennoch wurde an das ‚Klassenbewußtsein‘ und die ‚Arbeiterehre‘, für weniger Geld mehr zu arbeiten, mit riesigem Aufwand appelliert. Ehre statt Geld. Diese Formel ist sehr deutsch und auch sehr verlogen. Die Reserviertheit der DDRArbeitnehmer gegenüber den Ritualen der Produktionsaufgebote, vor allem die vom FDGB immer wieder kritisierte schematische Beteiligung an diesen organi-

170 Schabowski, Günter, im Gespräch mit Frank Sieren: Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, 3. Aufl., Berlin 2009, S. 88.

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sierten Ausbeutungsmaßnahmen, muß als Ausdruck dafür gewertet werden, daß die Beschäftigten ein sehr klares Bewußtsein davon hatten, durch solche ideologischen Rechtfertigungslitaneien individuell und kollektiv von Partei und Gewerkschaft übers Ohr gehauen zu werden. Die Haltung des FDGB jenseits offizieller Verlautbarungen war von Hilflosigkeit geprägt und dies hatte eine Ursache: daß die Beschäftigten in der DDR ‚Werktätige‘ und keine ‚Arbeitnehmer‘ wie im Kapitalismus seien, gehörte zu den wichtigsten sozialistischen Errungenschaften. Das Ernstnehmen solcher Arbeitnehmer-Haltungen, von denen der FDGB mit jedem neuen Produktionsaufgebot, mit jedem neuen sozialistischen Wettbewerb von Jahr zu Jahr neue Belege erhielt, hätte bedeutet, Widersprüche, ja Antagonismen in der DDR-Wirtschaft einzuräumen. Das Einräumen solcher fundamentalen Widersprüche hätte des weiteren zu dem Eingeständnis führen müssen, daß die Politik der SED nicht widerspruchsfrei ist und hätte deren ideologisch begründete Monopolstellung erschüttert. An diesen Tabus konnte und wollte der FDGB nicht rütteln. Da der FDGB als Massenorganisation keine Widersprüche in der sozialistischen Wirtschaft einräumen konnte, unterschob er faktisch den Arbeitnehmern die Schuld an den hohen Ausfallzeiten und den Produktionsrückständen etc. Die Ursache war die mangelnde Ausbildung einer ‚sozialistischen Arbeitsmoral‘. Warnke warf 1961 auf der 10. Tagung des Bundesvorstandes seinen Werktätigen vor, über ihre Verhältnisse zu leben, da sie in ihrer Arbeit nicht das Verhältnis Arbeitsproduktivität – Durchschnittslohn beachteten, und brandmarkte eine unter den Arbeitern verbreitete ‚Verbraucher-Ideologie‘. Die Perfidie dieser Argumentation liegt darin, aus der beschränkten Fähigkeit des FDGB, die objektiven Widersprüche der antagonistischen Gesellschaft DDR ‚einzuschätzen‘, eine Beschränktheit der Arbeitnehmer zu konstruieren. Mit Begriffen wie ‚Arbeiterehre‘, ‚mangelndes Klassenbewußtsein‘, ‚Arbeitsmoral‘ und ‚Arbeitsdisziplin‘ konnte der FDGB nicht die objektiven Probleme der DDR-Wirtschaft erfassen, bestenfalls – und völlig unmarxistisch – moralisieren“.171 Der Erste Sekretär des ZK der SED, Erich Honecker (1912-1994) „war am meisten darüber erschüttert, daß der Virus der Aufmüpfigkeit sich inzwischen auch in der Produktion, im Wirkungsfeld der ‚fortschrittlichsten Klasse‘, der Arbeiterschaft, eingenistet hatte“.172

171 Eckelmann, Wolfgang / Hertle, Hans-Hermann / Weinert, Rainer: FDGB intern. Innenansichten einer Massenorganisation der SED, Treptow 1990, S. 65, 69 f. 172 Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Band 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski,

Berlin 1992, S. 131.

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XV. Der Staatshaushalt der DDR: Zwei Drittel aller Ausgaben für die Staatswirtschaft in den 1980er Jahren hatten stagnativen Subventionscharakter1 Von Hannsjörg F. Buck 1. Begriff und Aufgaben des Staatshaushalts im SED-Staat In der DDR war der „sozialistische Staat“ das Hauptinstrument zur Ausübung der Macht der SED und zur Verwirklichung der Ziele der Einparteien-Diktatur. Der Staatshaushalt diente dabei der Regierung als zentrales Instrument zur Finanzierung und Durchsetzung der Ziele der SED-Führung.2 In den vom Ministerium der Finanzen (MdF) aufgestellten „Staatshaushaltsplänen“ wurde die Finanzpolitik der Regierung im Detail in Einnahmen- und Ausgabenpositionen konkretisiert. Diese als Gesetz verabschiedeten Pläne bildeten das Finanzprogramm der Staatsführung für das jeweils nächste Plan- und Haushaltsjahr. Nach der Staatslehre des SED-Sozialismus plante und formte der „sozialistische Staat“ (Staatsmacht, Gesetzgebung, Staatsverwaltung, Exekutivmittel) unter der Führung der „marxistisch-leninistischen Partei“ die Lebensbedingungen seiner Untertanen. Ihm oblag die Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung nach den Vorgaben der obersten Parteiführung. Die ihm zugewiesene Rolle umfaßte drei Kernaufgaben: (1) Die Erfüllung der ihm übertragenen wirtschaftlich-organisatorischen Funktionen (Lenkung der Volkswirtschaft durch verbindliche staatliche Pläne); (2) die Wahrnehmung der ihm zugewiesenen kulturell-erzieherischen Funktionen (Umsetzung der ideologischen Doktrinen des Marxismus-Leninismus in die gesellschaftliche Praxis) und (3) die Sicherung der Macht der Einparteien-Diktatur nach innen und außen (= „Schutzfunktion“ des Staates; Gewährleistung des militärischen Schutzes des Landes).

1

Dieser Aufsatz bietet mehr als eine empirisch fundierte Beschreibung der Einnahme- und Ausgabeströme des DDR-Staatshaushalts. Er legt zugleich den Funktionsmechanismus zwischen naturaler (= materieller) und finanzieller Planung offen und zeigt die sprachlichen Pendants zu den in der DDR gebräuchlichen Finanzbegriffen in der bundesdeutschen Haushaltssystematik. Die ursprüngliche Fassung des Beitrages wurde unter Weglassung von 272 Fußnoten gekürzt. Hannsjörg F. Buck: Öffentliche Finanzwirtschaft im SED-Staat und ihre Transformationsprobleme, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.). 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Bd. III/2, Frankfurt a. M. 1999, S. 975-1267.

2

Ausführlicher zum Analyse- und Planungsinstrumentarium der Finanzwirtschaft der DDR: Buck, Hannsjörg F.: Technik der Wirtschaftslenkung in kommunistischen Staaten, 2 Bände, Coburg 1969.

1044

Alle drei Aufgaben verlangten zu ihrer Erfüllung die Beschaffung von Finanzmitteln durch den Fiskus. Hierzu wurden direkt bei den „Organen der Staatsmacht“ „Geldfonds“ eingerichtet, in denen das mit Hilfe von Steuern und Abführungen gesammelte „Geldkapital“3 akkumuliert und dann umverteilt wurde. Die Funktionen des Staatshaushalts im sowjet-sozialistischen Wirtschaftssystem: Geprägt vom wirtschaftshistorischen Vorbild der Rüstungs- und Kriegswirtschaften während des Ersten und Zweiten Weltkrieges dominierte in allen sowjetsozialistischen Zentralplanwirtschaften die güterwirtschaftliche (naturale) Wirtschaftslenkung vor der monetären Wirtschaftssteuerung. Unbeschadet dieses Vorgangs hatte die Wirtschaftsführung in der DDR der Finanz- und Haushaltspolitik ein mächtiges Paket an Unterstützungsaufträgen zur Bewältigung der vielfältigen Aufgaben und Probleme der zentralen Wirtschaftslenkung aufgebürdet. Methodisch gesehen hatte der Staatshaushalt als zentrales finanzwirtschaftliches Lenkungsinstrument fünf Funktionen zu erfüllen. (1) (2) (3) (4) (5)

Eine Allokationsfunktion (Lenkungsfunktion); eine Stabilisierungsfunktion; eine Verteilungsfunktion; eine Stimulierungsfunktion und eine Kontrollfunktion.

Bei der direkten und indirekten Lenkung der Wirtschaftsprozesse sollte die Finanz- und Haushaltspolitik dafür sorgen, daß bei der Erfüllung der staatlichen Wirtschaftspläne eine effiziente Allokation der Ressourcen erreicht wird (= Allokationsfunktion; Planerfüllung unter strikter Beachtung des „ökonomischen Prinzips“). Ferner sollten beide sicherstellen, daß beim Planvollzug die Kontinuität und Stabilität der Wirtschaftsabläufe gewahrt wird (= Stabilisierungsfunktion). Im Mittelpunkt der Aufgabenerfüllung des Staatshaushaltes stand jedoch die „Verteilungsfunktion“. Ausgehend von der Primärverteilung bei der Entstehung des Sozialprodukts hatte der Fiskus durch die Konzentration eines hohen Anteils des Volkseinkommens (Nationaleinkommens) in der Staatskasse und durch die anschließende Umverteilung auf die in den Volkswirtschaftsplänen festgesetzten Verwendungszwecke zu gewährleisten, daß die von der politischen Führung angestrebte Verwendung des Sozialprodukts für investive und konsumtive Zwecke planmäßig erreicht wurde (= Haushaltsfinanzierung der Planaufgaben). Diese Umverteilung schloß auch den Bau von Infrastruktureinrichtungen (Krankenhäusern, Schulen, Hochschulen, Verkehrswegen usw.) und die Bereitstellung von Infrastrukturleistungen ein.

3

Im Bestreben, die Inhalte der in der DDR gebräuchlichen Finanzgrößen vergleichend mit der bundesdeutschen Systematik darzustellen, überzieht der Autor bei der Übertragung des Kapitalbegriffs. Das Geld fungierte zwar laut offizieller Lesart im „real existierenden Sozialismus“ als Maßstab der Preise sowie als Zirkulations- und Zahlungsmittel, durfte aber nicht als Kapital eingesetzt werden. Der Begriff erscheint deshalb hier und im Folgenden in Anführungszeichen (Anmerkung von Udo Ludwig).

1045

In dem Schema werden Zusammenhänge dargestellt, die das Ministerium der Finanzen bei der Abstimmung der zentralen Finanzpläne beachten muss. Es wird ersichtlich, wie zum Beispiel das in der Bilanz des Nationaleinkommens ausgewiesene Reineinkommen des Staates mit Positionen wie die Produktionsabgabe und Gewinnabführung im Staatshaushaltsplan korrespondiert oder wie die in der Bilanz der Geldeinnahmen und geldausgaben der Bevölkerung ausgewiesene Lohnsteuer in der Position „Lohnsteuer“ des Staatshaushaltsplanes wiederkehrt. Zusammenhang zwischen wichtigen volkswirtschaftlichen Bilanzen und dem Staatshaushalt 4

4

Großmann, Werner: Der Staatshaushalt der Deutschen Demokratischen Republik. Grundfragen des Staatshaushalts, in: Autorenkollektiv (Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 97.

1046

Gemessen am Umverteilungspotential übertraf der DDR-Staatsetat bei weitem diejenige Bedeutung, die auf diesem Gebiet in der Bundesrepublik dem Öffentlichen Gesamthaushalt aller Gebietskörperschaften zukommt. Ferner war dem Staatshaushalt und seiner Mittelbeschaffungs- und Ausgabenpolitik auch eine „Stimulierungsfunktion“ übertragen worden. Im Dienste dieser Aufgabe wurden vor allem die Steuern, Abführungen und finanziellen Sanktionen zu „ökonomischen Hebeln“ ausgebildet, um so verhaltensleitende Impulse auszulösen, um die Leistungsbereitschaft der Abgabenpflichtigen zu wecken und um auf diese Weise letztlich die privaten und die betrieblichen Einkommensinteressen mit denjenigen Leistungsanforderungen in Übereinstimmung zu bringen, die in den vollzugsverbindlichen Plänen verankert worden waren. Die Planung und Abrechnung des Staatshaushaltes beschränkte sich demnach nicht nur auf eine passive monetäre Gegenrechnung zur Planung und Abrechnung güterwirtschaftlicher Produktionsziele. Sie sollte vielmehr zugleich auch ein aktives Instrument zur Lenkung der Wirtschaftsaktivitäten und zur Erhöhung der Effizienz der Wirtschaftstätigkeit sein (= Lenkungs- oder Allokationsfunktion der Budgetpolitik in Verbindung mit gezielten Anspornimpulsen bei Steuern und Subventionen). Letztlich wurde der Staatshaushalt und seine enge Verflechtung mit den Finanzen der Staatswirtschaft auch noch als Kontrollmittel genutzt. Diese Aufgabenbefrachtung der Haushaltspolitik war auch aus dem Grunde unumgänglich, um die für die Lenkungseffizienz der DDR-Planwirtschaft mitentscheidende „Einheit von naturaler Mengenplanung und monetärer Steuerung“ zumindest in etwa zu gewährleisten. Gelang es, die Einnahmen- und Ausgabenströme in ein Spiegelbild der mengenmäßigen Planerfüllung zu verwandeln, so konnte auf diese Weise die Leistungsqualität und Planerfüllung der Unternehmensformen an der Produktionsbasis (VEB, Kombinate, Produktionsgenossenschaften) überwacht werden. Die „Finanzkontrolle“ (= „Kontrolle durch die Mark“) nach Abschluß der Planperiode war somit für die Wirtschaftsverwaltung ein viel genutztes Mittel um herauszufinden, ob bei allen mit der Planerfüllung beauftragten Wirtschaftseinheiten die Plandisziplin eingehalten worden war (Kontrollfunktion). 2. Haushaltsvolumen und Haushaltsexpansion in den 1980er Jahren Einschließlich der Beitragseinnahmen des Sonderfonds der „Sozialversicherung“ schloß der letzte Öffentliche Gesamthaushalt der DDR für ein volles Jahr (1989) mit einem Volumen von 271.773 Mio. Mark (Ost) ab. Ohne die Beitragseinnahmen der Sozialversicherung (= 19.181 Mio. Mark) erreichte der Staatsetat der DDR einen Umfang von 252.595 Mio. Mark. Diese Summe entsprach dem vierfachen Wert des Haushaltsvolumens welches 19 Jahre zuvor (1970) erreicht worden war. Die durchschnittliche Steigerung der Gesamtheit der Einnahmen und Ausgaben betrug in diesem Zeitraum 7,7 v. H. pro Jahr. Die Expansion des Haushaltsvolumens war jedoch in den einzelnen Fünfjahresplanzeiträumen zum Teil erheblichen Schwankungen ausgesetzt. So wuchs der Staatshaushalt in den ersten 5 Jah-

1047

ren der Honecker-Mittag-„Ära“ um durchschnittlich 10,8 v. H. pro Jahr. In den beiden folgenden Fünfjahres-Abschnitten expandierte das Budget jeweils um durchschnittlich 7,2 v. H. und um 8,5 v. H. Dann jedoch sackte die Steigerungsrate im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1990) deutlich ab und kam über einen Wachstumswert von im Durchschnitt 3,7 v. H. im Jahr nicht hinaus. Einnahmen des Öffentlichen Gesamthaushaltes der DDR 1965 bis 1989 Gesamte Haushaltseinnahmen Jahr

Beitragseinnahmen der Sozialversicherung in Mio. Mark

Gesamte Haushaltseinnahmen ohne die Beiträge zur Sozialversicherung

1965

56.361

7.780

48.581

1970

70.619

8.946

61.673

1975

114.662

11.817

102.845

1980

160.652

15.203

145.449

1981 1982 1983 1984 1985

167.466 182.836 192.410 213.535 235.535

15.670 16.120 16.549 16.955 17.297

151.796 166.716 175.861 196.580 218.238

1986 1987 1988 1989

247.013 260.449 269.699 271.773

17.711 18.329 18.822 19.181

229.302 242.120 250.877 252.592

Wie in Marktwirtschaften führten auch in der DDR Änderungen der Einnahmen- und Ausgabenpolitik zu unterschiedlich großen Wachstumsraten des Staatsbudgets. Hinter diesen Größenentwicklungen standen entweder grundsätzliche Änderungen des wirtschaftspolitischen Programms oder aber punktuelle Schwerpunktverlagerungen bei der Verfolgung einzelner politischer Ziele. Häufig wurden diese Schwankungen der Expansionsraten jedoch auch durch Umsteuerungsmaßnahmen sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite des Budgets hervorgerufen. Entschied sich die Wirtschaftsführung z. B. für eine vergleichsweise stärkere zentrale Lenkung des „Investitionskapitals“ über den Staatshaushalt, um so die selbstgeplanten Investitionen der Wirtschaftsunternehmen zu drosseln und das bei ihnen akkumulierte „Reineinkommen“ (= angesammelte Amortisationsmittel, Gewinne) in vermehrtem Maße auf zentral ausgewählte „strukturbestimmende Investitionen“ zu konzentrieren, so führte dies automatisch sowohl zu einer Erhöhung der Staatseinnahmen (z. B. durch die Anhebung der Gewinnsteuern und der Amortisationsabführungen) als auch zu einer Expansion der Staatsausgaben (= Erhöhung der zweckgebundenen Investitionsmittelzuweisungen an ausgewählte Investitionsträger der „volkseigenen Wirtschaft“).

1048

Als Beispiel hierfür möge folgender Beleg aus der DDR-Finanzgeschichte dienen. Im ersten Jahrfünft nach dem Machtantritt Honeckers (1971-1975) wuchs das Volumen des Staatsbudgets der DDR um insgesamt 66,8 v. H. (durchschnittliche Steigerung pro Jahr = 10,8 v. H.) Diese furiose Expansion war die Folge des Abbruchs der Wirtschaftsreform (1963-969/70) und der erneuten Rezentralisierung der Entscheidungen über die Steuerung der Wirtschaftsprozesse in der Wirtschaftsverwaltung. Während der Periode des „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖS) hatte die Wirtschaftsführung der DDR mit Inbrunst die schrittweise Einführung des „Prinzips der Eigenerwirtschaftung der Mittel“ proklamiert. Durch seine Befolgung könne endlich eine effizientere Finanzierung der Modernisierung und des Wachstums der Staatswirtschaft erreicht werden. Dieses Prinzip verpflichtete die VEB, Kombinate und „Vereinigungen Volkseigener Betriebe“ (VVB) dazu, ihre Investitionen vorwiegend aus selbst erwirtschafteten Gewinnen zu finanzieren. Blieben Finanzierungslücken offen, so sollten sie diese durch verzinsliche Kredite abdecken. Energisch drangen die Wirtschaftsreformer darauf, daß nur noch die Errichtung neuer Betriebe und die Inangriffnahme von Infrastrukturinvestitionen durch nicht rückzahlbare Zuschüsse des Staatshaushalts bezahlt wurden. Diese „Ökonomisierung“ der Investitionsfinanzierung sollte die Wirtschaftlichkeitsbestrebungen der Betriebs- und Kombinatsleitungen stärken. Zudem erhoffte man, daß so der bis dahin üblichen Verschwendung von Budgetzuschüssen und Investitionsmitteln Einhalt geboten werden könne. Zur Umsetzung dieser neuen Finanzierungspolitik senkte der Fiskus drastisch die Gewinnsteuern und verzichtete ferner weitgehend auf die Beschlagnahme eines Teils der erwirtschafteten Amortisationsmittel. Außerdem wollte man mit dieser Aktion möglichst die gesamte Staatswirtschaft finanziell auf eigene Füße stellen. Diese Stärkung der eigenen Finanzbasis sollte selbst die ertragsschwachen VEB und Kombinate nach und nach vom Subventionstropf des Staatshaushalts unabhängig machen. Die konsequente Anwendung des „Prinzips der Eigenerwirtschaftung der Mittel“ zielte demnach auch darauf ab, endlich mit der ökonomisch widersinnigen Existenz sogenannter „verlustgeplanter Betriebe“ Schluß zu machen. Unterstützt und ermöglicht wurden diese angestrebte Sanierung der Staatsbetriebe und ihre allmähliche Umwandlung in „rentable Unternehmen“ durch die Festsetzung möglichst kostendeckender Preise für sämtliche Rohstoffe, Industrieerzeugnisse und Dienstleistungen. Diese umfassende Revision der Einzelpreise und der gesamten Preisstruktur firmierte damals unter dem Namen „Industriepreisreform“ und nahm insgesamt 4 Jahre in Anspruch (1964-1967). Ergänzt wurde die Generalrevision der Preise durch eine flächendeckende Umbewertung der Anlagegüter (Grundmittel) und die Einführung „ökonomisch sinnvoller“ Abschreibungssätze. Diese Umsteuerungsmaßnahmen führten naturgemäß zu einem Bedeutungsverlust des Staatshaushalts als Umverteilungszentrale des Volkseinkommens. Nach dem Scheitern der Wirtschaftsreform (1969/70) und der Rückkehr zu einer straffen administrativen Befehlswirtschaft schlug die Wirtschaftsführung einen genau entgegengesetzten Kurs ein. Der Staatshaushalt wurde wieder in seine traditionelle Rolle als Hauptfinanzierungskasse der „volkseigenen Wirtschaft“ einge-

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setzt. Daß die immer kräftigere Belastung der „Steuerquelle Staatswirtschaft“ für die rasche Expansion des Haushaltsvolumens in den Jahren von 1971 bis 1975 verantwortlich war, zeigt auch folgender Vergleich. Im Zeitraum der fünf Jahre von 1970 bis 1975 wuchs das Haushaltsvolumen um insgesamt 41,17 Mrd. Mark. Allein rund 52 v. H. dieser Volumenexpansion (oder 21,30 Mrd. Mark) gehen dabei auf das Konto der Mehreinnahmen aus der Staatswirtschaft. 2.1. Die Einnahmen des Staatshaushalts der DDR Ausgehend von den verfassungsrechtlich verbürgten Geboten des Rechtsstaates sind seit jeher für die Gestaltung des Besteuerungssystems in der Bundesrepublik folgende Grundsätze konstitutiv: Der Gleichstellungsgrundsatz, das Willkürverbot, das Verbot der Diskriminierung einzelner Gruppen von Steuerpflichtigen (Allgemeinheitspostulat), das Verbot der Übermaßbelastung und der Grundsatz der Steuergerechtigkeit (= gerechte Verteilung der Abgabenlast/Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen) (Art 3, Abs. 1, GG). Derartige Grundsätze haben in der DDR zu keiner Zeit für die Mittelbeschaffung des „sowjet-sozialistischen Staates“ eine Rolle gespielt. Im Gegenteil, sie wurden als überholte, volksfeindliche Prinzipien einer „bürgerlichen Klassengesellschaft“ diffamiert, deren Anwendung nur der Ausbeuterklasse der Kapitaleigentümer nutze. Infolgedessen unterschied die Wirtschaftsführung der DDR die Besteuerungsformen und die einzelnen Steuerquellen nicht nach sachrationalen Gesichtspunkten, sondern stets nach den „sozialökonomischen Kriterien“ des Marxismus für die Charakterisierung von Klassengesellschaften. Im Gegensatz hierzu klassifiziert die Finanzwissenschaft der Bundesrepublik die vom Fiskus erhobenen Steuern zumeist nach folgenden beiden Einteilungskriterien. Maßgebend ist, ob Anknüpfungspunkte der Besteuerung Bestandsgrößen in Form von Geld- oder „Sachkapital“ sind (= Vermögen) oder, ob stattdessen als Objekt der Besteuerung eine Wertänderung oder eine Wertschöpfung gewählt werden (= Ressourcenzuwachs in der laufenden Periode). Im Gegensatz dazu teilte die Wirtschaftsführung der DDR die Steuerarten stets danach ein, in welchem Eigentumssektor die in Anspruch genommene Steuerquelle lag und zu welcher sozialökonomischen Gruppe der belastete Steuerpflichtige gehörte (Arbeiterklasse, Kollektivbauern, „Kapitalbesitzer“. Vor allem in den Jahren von 1949 bis 1961 wurde die Steuerpolitik der DDR in beträchtlichem Maße durch zwei gegensätzliche Besteuerungspraktiken geprägt: Durch steuerliche Diskriminierungsmaßnahmen für die Privatwirtschaft und für private Eigentümer von Sach- und Geldvermögen auf der einen und durch steuerpolitische Vergünstigungen für die Betriebe der Staatswirtschaft und für die sozialistischen Produktionsgenossenschaften auf der anderen Seite. Hierdurch sollte die nach 1945 überkommene individualistische Eigentums- und Wirtschaftsordnung geschwächt und der Aufbau einer sowjet-sozialistischen Zentralplanwirtschaft auf der Basis des Staatseigentums an den Produktionsmitteln vorangetrieben werden.

1050

Im Dienste dieser sozialrevolutionären Zielsetzung differenzierte daher die Staatsführung der DDR die Besteuerungsformen und die Steuerlasten von Anfang an danach, zu welcher Eigentumsform der jeweils besteuerte Betrieb gehörte und aus welchen Quellen natürliche Personen ihr Einkommen bezogen. Je nachdem, ob das Steuersubjekt ein Staatsbetrieb, eine Produktionsgenossenschaft oder ein Privatbetrieb war, waren andere Steuergesetze, Besteuerungsformen und Steuerlasten maßgebend. Auch für die Besteuerung der individuellen Einkommen, die zu Beginn der 50er Jahre nach „sozialistischen Kriterien“ umgestaltet wurden, blieben bis zum Untergang der DDR „Klassenkampfziele“ maßgebend. So unterlagen z. B. persönliche Einkommen aus Produktivvermögen und aus selbstständiger Unternehmertätigkeit exorbitant hohen Abschöpfungssätzen, während demgegenüber die Einkünfte aus unselbstständiger Tätigkeit (Arbeitseinkommen der Werktätigen) nur einer gelinden Besteuerung unterworfen wurden. Die Unterscheidung der Steuerarten nach der Zugehörigkeit der Steuerquellen zu einzelnen Eigentumsformen führte zu der merkwürdigen Konsequenz, daß in der Steuerquellensystematik die „Bevölkerung“ zu einer „eigenen Steuerquelle“ wurde. Entsprechend dieser Ordnung der Abgaben nach ihrer „sozialökonomischen Herkunft“ gliederte sich die staatliche Mittelbeschaffung in der frühen DDR in sechs Klassen fiskalischer Pflichtzahlungen: (1) Die Abgaben der Staatswirtschaft; (2) die Abgaben der sozialistischen Kollektivwirtschaften (Produktions-genossenschaften in der Landwirtschaft, im Gartenbau, im Fischereiwesen und im Handwerk; dazu die Konsumgenossenschaften); Jeden einzelnen Typ dieser Kollektivwirtschaften hatte der Fiskus der DDR einem anderen System der Besteuerung unterworfen. (3) die Steuern der kleinen privaten Handwerker, die als „natürliche Bündnispartner der Arbeiterklasse“ bezeichnet, aber nicht so behandelt wurden; (4) die Steuern der restlichen privaten Gewerbe-, Einzelhandels- und Dienstleistungsbetriebe (einschließlich der „Kommissionshändler“); (5) die Steuern der Bevölkerung (hierunter fallen die Besteuerung der Einkünfte natürlicher Personen aus verschiedenen Einkommensquellen und die Abgabenverpflichtungen bei einer Reihe sonstiger Bevölkerungssteuern); und letztlich (6) ein Gemisch verschiedener kleiner Steuern und Abgaben von geringer fiskalischer Ergiebigkeit (Gemeindesteuern). Die Abgaben der Staatswirtschaft: Die Steuern, die den staatlichen Betrieben und Kombinaten in den sechs wichtigsten „produzierenden Bereichen“ der Volkswirtschaft abverlangt wurden, waren zusammen mit den Abgaben, die von den staatlichen Banken, den Versicherungen und dem „Außenwirtschaftsmonopol“ an den Fiskus gezahlt wurden, die einträglichste Einnahmequelle des DDR-Staats-

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haushalts. Diese Art der Mittelbeschaffung ist für alle sowjetsozialistischen Wirtschafts- und Finanzsysteme charakteristisch. In ihr spiegelt sich die überragende Bedeutung des Staatseigentums am Produktivvermögen der Volkswirtschaft wider. Im Zeitraum von 1980 bis 1988 kassierte der DDR-Fiskus im Durchschnitt zwei Drittel seiner gesamten Einkünfte durch die Eintreibung von „Unternehmenssteuern“ und sonstigen Abführungen der Staatswirtschaft. Anteile der Steuern und Abführungen der staatlichen Betriebe und Betriebsvereinigungen (Kombinate) aller Wirtschaftsbereiche, sämtlicher Banken und der Staatlichen Versicherung an den gesamten Einnahmen des Staatshaushalts der DDR

Jahr

Haushaltseinnahmen durch Steuern und Abführungen der staatlichen Betriebe und Kombinate aller Wirtschaftsbereiche, der Banken und der Staatlichen Versicherung in Mrd. Mark

Haushaltseinnahmen insgesamt

Anteil der Budgeteinkünfte durch Steuern und Abführungen der staatlichen Betriebe und Kombinate aller Wirtschaftsbereiche an den gesamten Haushaltseinnahmen in v. H.

1980

86,96

145,45

59,8

1981 1982 1983 1984 1985

95,37 100,64 106,02 131,38 147,58

151,80 166,72 175,86 196,58 218,24

62,8 60,4 60,3 66,8 67,6

1986 1987 1988 1989

157,01 162,80 168,45 166,86

229,30 242,12 250,88 252,59

68,5 67,2 67,1 66,1

Nach der Begriffs-Doktrin der marxistischen Politökonomie handelte es sich bei den Pflichtabführungen der staatseigenen Betriebe und Kombinate nicht um Steuern. Bei diesen Transferleistungen von den Betriebskassen in die Staatskasse fände kein Eigentumswechsel statt. Diese Angaben seien daher nichts anderes als ein Zugriff des Eigentümers Staat auf einen Teil des erwirtschafteten BruttoErwerbseinkommens (= Reineinkommen) seiner Betriebe und Betriebsvereinigungen (Kombinate). Die fiskalischen Pflichtzahlungen der VEB und Kombinate „Unternehmenssteuern“ zu nennen, war daher streng verpönt und gehörte zu den ideologischen Tabus. Stattdessen benutzte man offiziell die unverfängliche Bezeichnung „Abführungen aus der volkseigenen Wirtschaft“. Abgesehen von dem rein formal-juristischen Aspekt, daß bei diesen Zahlungen kein Eigentümerwechsel stattfand, trugen diese Abgaben und das bei ihnen angewendete Bemessungs-, Einzugs- und Vollstreckungsverfahren alle Merkmale einer Steuer. Die ideologisch begründete Ablehnung, die Pflichtabführungen aus der „volkseigenen Wirtschaft“ Steuern zu nennen, hatte für die Herrschaftsausübung

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der SED eine sehr angenehme Seite. Alle Gesetze, welche die Besteuerung der Staatswirtschaft betrafen, mußten so angeblich nicht durch die Volkskammer beschlossen werden. Dies erleichterte z. B. auch die Geheimhaltung der Steuersätze, welche den VEB und Kombinaten bei der Gewinnsteuer auferlegt wurden. Die hier als „Unternehmenssteuern“ gekennzeichneten Pflichtabgaben aus der Staatswirtschaft umfaßten zur Hauptsache folgende drei Steuerarten: (1) Eine Gewinnsteuer (amtliche Bezeichnung = „Nettogewinnabführung“); (2) eine Lohnsummensteuer; sie hatte von der SED-Führung das werbe-wirksame Etikett „Beitrag für gesellschaftliche Fonds“ erhalten; und (3) eine Steuer auf das in den Produktions- und Handelsbetrieben (VEB, Kombinate) eingesetzte Anlage- und Umlauf“kapital“ (= „Kapitalsteuer“). Da im Sozialismus ebenfalls auch die Verwendung des Begriffs „Kapital“ mit einem Tabu belegt und durch die Bezeichnung „Fonds“ ersetzt worden war, hatte man diese Steuer „Produktions- und Handelsfondsabgabe“ getauft. Dieses Steuer-Dreigestirn wurde in der DDR-Finanzpolitik häufig auch als „Drei-Kanäle-Abführungs-System“ bezeichnet. Steuerschuldner dieser drei Abgaben waren die Staatsbetriebe und Kombinate der Wirtschaftsbereiche Industrie, Bauwirtschaft, Transport- und Verkehrswesen, Wasserwirtschaft und Binnenhandel. Ergiebigste Unternehmenssteuer war während der 70er und 80er Jahre die Gewinnsteuer. Gestützt auf die ideologischen Dogmen zählte die Politökonomie der DDR auch die von der Bevölkerung in den Einkaufspreisen mitgetragene kombinierte Umsatz- und Verbrauchssteuer (amtliche Bezeichnung = „produktgebundene Abgabe“) zu den „Abführungen aus der volkseigenen Wirtschaft“. Auch sie sei in Wirklichkeit ein „Bestandteil des in der Betriebssphäre erwirtschafteten Reineinkommens“ und dürfe deshalb nicht den „Bevölkerungssteuern“ zugerechnet werden. Diese Zuordnung war sachlich nicht gerechtfertigt. Die kombinierte Umsatzund Verbrauchssteuer wird infolgedessen hier als „Bevölkerungssteuer“ angesehen. Neben den Einkünften, welche der Fiskus durch die drei großen Unternehmenssteuern kassierte, floss aus dem staatlichen Wirtschaftssektor dieser fünf Wirtschaftsbereiche noch eine bunte Mischung weiterer Abgaben in die Staatskasse. Dabei handelte es sich ausnahmslos um Abführungen, die ihre Entstehung den verschiedenen Formen administrativ-planwirtschaftlicher Lenkung und Reglementierung der VEB und Kombinate verdankten. Zu diesen Abführungen gehörte u. a. die befohlene Abführung angesparter „Amortisationsmittel“, für die auf längere Sicht keine zweckentsprechende Verwendung möglich war. Solche Beschlagnahme von „Eigenmitteln“ der VEB erfolgte häufig dann, wenn die Wirtschaftsverwaltung infolge der unzureichenden Investitionskraft der DDR nicht imstande war, diesen Betrieben für die Durchführung der erforderlichen Ersatzinvestitionen Investitionsmittel zuzuteilen. Darüber hinaus zählte zu diesen Staatseinnahmen auch die Konfiskation solcher Gewinne, die nach Auffassung der Wirtschaftsführung „nicht auf eigenen Leistungen“ der Betriebe beruhten. Gleiches geschah mit den Gewinnen, die ohne Zutun der Betriebe durch staatlich verordnete Industrie-

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preisänderungen entstanden waren (Umbewertungsgewinne). Letztlich rechneten dazu auch noch die Sanktionen (Strafgeldzahlungen für Verstöße gegen die Planerfüllungsvorschriften), das Abwassergeld, sonstige Bußgeldzahlungen, Verzugszuschläge, Verspätungszinsen und Ordnungsstrafen. Neben den bisher behandelten Steuern und Abführungen aus den oben genannten fünf Wirtschaftsbereichen erhielt die Staatskasse noch folgende Einkünfte aus der Staatswirtschaft: A. Die Steuern und Abführungen der VEB und Kombinate der staatlichen Landund Nahrungsgüterwirtschaft; Die in diese Wirtschaftsgruppe aufgenommenen Betriebe der Lebensmittelindustrie zahlten – ebenfalls wie alle anderen Industriebetriebe – eine Gewinn-, eine Lohnsummen- und eine „Kapitalsteuer“. Über die in diesem Bereich bei diesen drei Steuerarten erzielten Steuererträge wurden in den Haushalts(ab) rechnungen keine verwertbaren Einzelangaben gemacht. B. Die Brutto-Einnahmen der staatlichen (Unterstützungs-)Einrichtungen für die sozialistische Landwirtschaft der DDR; C. die Abführungen des Bereiches „Staatliche Außenwirtschaft“ (Abgaben an die Staatskasse aufgrund des in Staatshand befindlichen Außenwirtschaftsmonopols); und D. die Gewinnabführungen und sonstigen Abgaben der staatlichen Geschäftsbanken, der Sparkassen und der Staatlichen Versicherung der DDR. Im Einnahmeposten „Abführungen aus der staatlichen Außenwirtschaft“ wurden einerseits diejenigen Gewinnsteuern erfaßt, welche die ausschließlich mit Imund Exportaufgaben befaßten staatlichen Außenhandelsbetriebe (AHB) zahlen mußten. Andererseits gingen in diesen Ertragsposten auch die Exportgewinnabführungen ein, die den VEB und Kombinaten in den anderen Wirtschaftsbereichen für erfolgreich abgeschlossene Ausfuhrgeschäfte abverlangt wurden (Gewinnsteuern auf Exportgewinne aus dem Nettoertrag des „einheitlichen Betriebsergebnisses"). Im Jahre 1988 stammten 67 v. H. der Einnahmen des Öffentlichen Gesamthaushalts der DDR aus „Steuern und sonstigen Abführungen“ der „staatseigenen Wirtschaft“. Diese Einnahmen setzten sich zu rd. 65 v. H. aus Unternehmenssteuern und zu rd. 10 v. H. aus sonstigen Abführungen der VEB und Kombinate der Industrie, der Bauwirtschaft, des Verkehrswesens, des Binnenhandels und der Wasserwirtschaft zusammen. Der Bereich „staatliches Außenwirtschaftsmonopol“ steuerte zu diesen Einkünften rd. 15 v. H. und die „volkseigene Land- und Nahrungsgüterwirtschaft“ rd. 5 v. H. bei. Die restlichen rd. 5 v. H. der Abgaben aus dieser Steuerzahlergruppe kassierte der Fiskus bei den staatlichen Geschäftsbanken, bei den Sparkassen und bei der Staatlichen Versicherung. Bezogen allein auf das Steueraufkommen aus den drei Unternehmenssteuern der Staatswirtschaft (ohne die „volkseigene Land- und Nahrungsgüterwirtschaft“) ergab sich 1988 folgende Struktur der Steuererträge getrennt nach Steuerarten:

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Einkünfte aus Gewinnsteuern = rd. 40 v. H.; Einnahmen durch die Lohnsummensteuer = rd. 32 v. H. und Einkünfte aus der „Kapitalsteuer“ = rd. 28 v. H. Die Gewinnsteuer: In den Marktwirtschaften der westlichen Industriestaaten ist der im Unternehmenswettbewerb am Markt erzielte Gewinn stets zu einem gewissen Teil ein „Überraschungsergebnis“. Im Unterschied dazu wurden in der DDR die Gewinne der Staatsbetriebe und Betriebszusammenschlüsse (Kombinate) durch staatliche Planvorgaben vorprogrammiert oder (bescheidener formuliert) sie sollten durch Planbefehle im Voraus bestimmt werden. Der Gewinn der Staatsbetriebe war jedoch zu keiner Zeit der Wirtschaftsgeschichte der DDR ein automatisches Produkt der zentral festgelegten Produktionsund Absatzbedingungen der „volkseigenen Wirtschaft“. Er war stets auch ein Ergebnis unvorhersehbarer, vom Plan abweichender Wirtschaftsentwicklungen innerhalb und außerhalb der Wirtschaft der DDR. Darüber hinaus hing dieser auch in einem beträchtlichen Maße von den Managementqualitäten der Betriebs- und Kombinatsleitungen und vom Einsatzwillen, dem Fleiß, der Kreativität und der Flexibilität ihrer Belegschaften ab. Um diese Leistungsbereitschaft anzuspornen, versuchte die Wirtschaftsführung, die persönlichen Einkommens- und Versorgungsinteressen der Beschäftigten mit dem staatlichen Interesse an hohen Produktionsleistungen und einer glänzenden Gewinnerzielung zu verkoppeln. Als Klammer hierfür dienten verschiedene Formen der Beteiligung der Leitungen und Belegschaften der VEB und Kombinate am erzielten Gewinn. Diese Form der Interessenverkopplung lieferte auch den Anknüpfungspunkt, um über die Besteuerung der Betriebsgewinne auf indirekte Weise die betrieblichen Wirtschaftsaktivitäten zu steuern und zu mobilisieren. Während der gesamten Honecker-Mittag-„Ära“ erhielten die VEB und Kombinate mit der Übergabe der vollzugsverbindlichen „Betriebspläne“ genau vorgeschrieben, wieviel Brutto- und Nettogewinn sie im Laufe des Planjahres erwirtschaften sollten (Nettogewinn = Bruttogewinn minus „Kapitalsteuer“ / Produktionsfondsabgabe). Außerdem enthielt der „Betriebsplan“ die Weisung, welcher Anteil oder Betrag vom planmäßigen und vom überplanmäßigen Nettogewinn im Laufe des Wirtschafts- und Haushaltsjahres als Gewinnsteuern an die Staatskasse abgeführt werden mußte. Um die Planungssicherheit im Hinblick auf die zu erwartenden Einnahmen aus der Gewinnsteuer zu erhöhen, legte der Fiskus die Steuerschuld der Betriebe in der Regel nicht als „Prozentanteil vom tatsächlich erwirtschafteten Nettogewinn“, sondern als festen Betrag in Mark fest. Hierdurch sollte der Leistungsdruck auf die VEB und Kombinate verstärkt werden, um diese zu zwingen, die Planvorgaben für die Gewinnerwirtschaftung weisungsgetreu einzuhalten. Gelang es nämlich diesen nicht, das Planziel für die Gewinnerwirtschaftung zu erfüllen, so führte die konstant bleibende Gewinnsteuerauflage dazu, daß der im Betrieb verbleibende Restgewinn zusammenschmolz. Dies hatte u. a. die Konsequenz, daß die Betriebs- und Kombinatsleitungen die Mittelzuführungen an die betrieblichen „Kultur- und Sozialfonds“ und an die „Prämienfonds“ kürzten und die Prämienzahlungen an die Belegschaft zusammenstreichen mußten.

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Ausgehend von den unterschiedlichen Produktions- und Rentabilitätsbedingungen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen und –zweigen gab es somit in der DDR keinen einheitlichen Gewinnsteuersatz für alle Kombinate und Betriebe. Die Heranziehung der VEB und Kombinate zur Auffüllung der Staatskasse erfolgte vielmehr völlig systemkonform durch betriebsindividuell festgelegte Gewinnsteuersummen. Neben dieser von Betrieb zu Betrieb unterschiedlichen Festlegung der Gewinnsteuerlasten gab es in der DDR auch keine Kontinuität im Hinblick auf die jährliche Höhe der den Staatsbetrieben auferlegten Steuerbürde. Im Prinzip konnte der Staat Jahr um Jahr bei den Betrieben einen anderen Anteil vom erwirtschafteten Gewinn requirieren. Diese variable Festlegung der Gewinnsteuerlasten war in der DDR der wichtigste steuer- und finanzpolitische Hebel, mit dem auf Betriebsebene die Ersparnis- und „Kapitalbildung“ reguliert wurde. Über ihn sollte zugleich auch Einfluß auf die Investitionsaktivitäten der VEB und Kombinate genommen werden. Im Dienste dieser Regulierungsfunktion diente die Gewinnsteuer dem SED-Staat als Instrument, um seine investitions-, struktur- und wachstumspolitischen Prioritäten durchzusetzen (= Allokationsfunktion der Gewinnsteuer). Während die Wirtschaftsführung versuchte, mit Hilfe variabler, produktspezifischer Umsatz- und Verbrauchssteuern Einfluß auf die Verbrauchsentscheidungen der privaten Konsumenten zu nehmen, zielte somit der variable Einsatz der Gewinnsteuer (Nettogewinnabführung) darauf ab, die „Kapitalbildung“ vor Ort so zu steuern, damit sich auch diejenigen Wirtschaftsaktivitäten harmonisch in das Struktur- und Wachstumsprogramm der Regierung einfügten, die von den Staatsbetrieben aus eigener Initiative ergriffen wurden. Lenkungseffekte und damit Planerfüllungserfolge durch den Einsatz der Gewinnsteuer als Steuerungsinstrument konnten jedoch nur dann erzielt werden, wenn die Wirtschaftsführung einsichtig genug war, den VEB und Kombinaten einen attraktiven Teil des erwirtschafteten Gewinns zur eigenverantwortlichen Verwendung zu belassen. Nahm die Gewinnbesteuerung einen konfiskatorischen Charakter an und blieb nach Steuern nur noch ein deprimierender Restbetrag vom Gewinn in den Betriebskassen übrig, der ökonomisch sinnvoll nicht nutzbar war, so erstarb jede betriebliche Eigeninitiative. Der Einsatz der Betriebs- und Kombinatsleitungen und ihrer Belegschaften beschränkte sich unter diesen Knebelbedingungen dann nur noch auf das unbedingt notwendige Planerfüllungs-Muß. Je mehr ab Ende der 70er Jahre der Einnahmebedarf des DDR-Fiskus durch den explosiven Anstieg der Ausgaben auf vielen Gebieten zunahm (Aufrüstung, Staatssicherheit, Außenwirtschaft, Landwirtschaft, Wohnungswesen, Preisstützungssubventionen), um so kräftiger wurde die Gewinnsteuerschraube angezogen und hierdurch die Betriebe und Kombinate um die Früchte ihres Gewerbefleißes betrogen. Diese konfiskatorische Besteuerung lähmte auf der Betriebs- und Kombinatsseite mehr und mehr diejenigen ökonomischen Antriebskräfte und Rationalisierungsbestrebungen, die doch durch Nutzung des so gepriesenen „Prinzips der wirtschaftlichen Rechnungsführung“ (Rentabilitätsprinzip) und seines Kernstücks – der „Eigenerwirtschaftung“ der für Produktion und Investition benötigten Finanzmittel – geweckt werden sollten.

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Steuern auf das eingesetzte „Kapital“: Mit der Einführung von „Kapitalsteuern“ für die Staatswirtschaft ab Ende der 60er Jahre wurde ein ganz neuer Typ von „Unternehmenssteuern“ geboren. Die nach einer mehrjährigen Erprobungsphase ab 1971 generell erhobenen Abgaben auf das eingesetzte Produktivvermögen der Staatsbetriebe waren ein „Kind der Wirtschaftsreform“ in den 60er Jahren (= „Neues ökonomisches System 1963-1969/70). Sie sollten dazu beitragen, das finanzpolitische Lenkungsinstrumentarium der DDR-Wirtschaftsführung zu komplettieren und zu qualifizieren. Im Unterschied zum „Kapitalzins“ in den Marktwirtschaften gab es bis zu diesem Zeitpunkt in der Volkswirtschaft der DDR keine Mindestrentabilitätsmarke, die bei Neuinvestitionen nicht unterschritten werden durfte. Zudem verfügte die DDR auch nicht über einen geld- und finanzpolitischen Regulator, durch den die Leitungen der VEB und Kombinate dazu gedrängt wurden, das bereits in ihren Betrieben investierte Anlage- und Umlaufvermögen so effektiv wie möglich zu nutzen. Um diesen Mangel zu beheben, wurden im Laufe der Wirtschaftsreform insgesamt drei neue „finanzökonomische Hebel“ eingeführt: (1) Die „Produktionsfondsabgabe“ (PFA) (= „Kapitalsteuer“ auf das Anlage- und Umlaufvermögen in der Industrie und Bauwirtschaft) (2) die „Handelsfondsabgabe“ (= „Kapitalsteuer“ auf das in den Handelsbetrieben eingesetzte Produktivvermögen); und (3) die „Bodennutzungsgebühr“ (Gebühr für den Entzug von land- und forstwirtschaftlich genutzten Boden für andere Produktionszwecke, z. B. als Standort für Industriebetriebe, Lagerhallen usw.) Durch alle drei Abgaben versuchte die Wirtschaftsführung Druck auf die Staatsbetriebe auszuüben, damit diese sich intensiv darum bemühten, die ihnen vom Staat zur Verfügung gestellten Produktionsfaktoren „Kapital“ und Boden so effektiv wie möglich zu nutzen. Die „Produktions- und Handelsfondsabgabe“ war daher ab 1971 die ideologisch unverdächtig und dem DDR-Sozialismus angepaßte Ersatzkonstruktion für das segensreiche Wirken des „Kapitalzinses“ in den westlichen Marktwirtschaften. Die Produktionsfondsabgabe: Die vom Fiskus erhobene „Kapitalsteuer“ durfte nicht auf die Herstellkosten der Erzeugnisse aufgeschlagen, sondern mußte aus dem erzielten Gewinn bezahlt werden (Nettogewinn = Bruttogewinn minus Produktionsfondsabgabe). Ausgehend hiervon bezeichneten die Finanzökonomen der DDR die „Kapitalsteuer“ öfters auch als einen „Vorgriff“ des Staates auf die von seinen Betrieben verlangte Gewinnerwirtschaftung. Ebenso wie bei der Gewinnsteuer, wurde demnach auch bei der Produktionsund Handelsfondsabgabe die Hebelwirkung zur Stimulierung der betrieblichen Wirtschafts- und Rationalisierungsaktivitäten über den „Gewinn“ ausgeübt. Die „Hebelwirkung“ der Abgabe beruhte somit darauf, daß die mit ihr verbundenen Zahlungsverpflichtungen unmittelbar mit darüber entschieden, wieviel vom Net-

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togewinn dem Betrieben zur teilweise selbständigen Verwertung übrigblieb. Denn um einen ausreichenden Nettogewinn zu erzielen, der auch zufriedenstellende Prämienausschüttungen an die Direktoren und Belegschaften ermöglichte, mußten die Staatsbetriebe jedes Plan- und Haushaltsjahr eine „Kapitalrentabilität“ erzielen, die deutlich höher lag als die auf den Kapitaleinsatz bezogene prozentuale Abgabenrate bei der „Produktionsfonds- und Haushaltsfondsabgabe“. In diesem Sinne hieß es auch in § 2 der „Verordnung über die Produktionsfondsabgabe“ vom Jahre 1985: „Die Produktionsfondsabgabe […] [ist die] staatliche Mindestforderung an die Effektivität der Grundmittel und der materiellen Umlaufmittel“. Analog hierzu verlangte natürlich auch jede Investitionsentscheidung über die Errichtung neuer Betriebe und Werksteile, daß bei diesem „Kapitaleinsatz“ eine Rentabilität erzielt wurde, die merklich höher lag als die Abgabenverpflichtung bei der „Kapitalsteuer“. Steuerschuldner der „Produktionsfondsabgabe“ waren in der DDR die Betriebe der Industrie, der Baumaterialindustrie und des Bauwesens. Die jährlichen Zahlungsverpflichtungen gegenüber der Staatskasse hingen dabei ab vom durchschnittlichen Wertvolumen des „Kapitalbestandes“ (Anlage- und Umlaufvermögen), das während des Haushaltsjahres von den Staatsbetrieben genutzt wurde. In der Zeit von 1971 bis Ende Mai 1985 war Bezugsgrundlage für die Ermittlung der Steuerschuld a) der Bruttowert aller zum „Kapitalstock“ zählenden Anlagen (Gebäude, Ausrüstungen und noch nicht abgeschlossene Investitionen) und b) der Bruttowert der betriebsnotwendigen Umlaufmittel. Diese Festlegung sollte dazu dienen, die Staatsbetriebe zu zwingen, verschlissene kostenintensive und unrentable Produktionsmittel so schnell wie möglich auszusondern und diese durch neue, produktivere Fertigungskapazitäten mit einer höheren „Kapitalrentabilität“ zu ersetzen. Diese Bestimmung wurde Mitte 1985 aufgehoben. Seitdem wurde der Nettowert des eingesetzten Anlage- und Umlaufvermögens zur Bezugsgrundlage für die Ermittlung der Zahlungsverpflichtungen bestimmt (Nettowert = Anschaffungswert der „Kapitalgüter“ minus Abschreibungen = Zeitwert entsprechend dem buchungsmäßige ermittelten Verschleißgrad). Diese Umsteuerung war ein deutliches Zeichen für den Mitte der 80er Jahre erreichten kritischen Zustand der DDR-Wirtschaft. Die Regierung in Ostberlin konnte es sich angesichts der Investitionsschwäche der DDR-Wirtschaft nicht mehr leisten, einen „finanzpolitischen Hebel“ einzusetzen, der auf die schnelle Aussonderung verschlissener und abgeschriebener Produktionsmittel hinwirkte. Infolge des katastrophalen Mangels an Investitionsgütern mußte in den 80er Jahren jede noch halbwegs intakte Maschine immer wieder repariert und bis zum totalen Zusammenbruch eingesetzt werden. Daher brauchte die Wirtschaftsführung jetzt eine Abgabe (= „Hebel“), durch die, um die Investitionsgüternachfrage zurückzudrängen, der Einsatz neuer Maschinen relativ härter steuerlich belastet wurde als die Weiterverwendung mitgeschleppter, immer wieder geflickter Maschinen. Die Lohnsummensteuer = „Beitrag für gesellschaftliche Fonds“: Mit dem Jahresbeginn 1984 wurden die Betriebe und Kombinate der staatseigenen Industrie mit einer für DDR-Verhältnisse ganz neuartigen „Unternehmenssteuer“ kon-

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frontiert. Ein Jahr später (1. Januar 1985) erweiterte der Fiskus den Anwendungsbereich dieser neuen Steuer auch auf die Bauwirtschaft. Ihrer Art nach glich diese neue Abgabe einer „Lohnsummensteuer“. Dieser Vergleich mit einer „Lohnsummensteuer“, wie sie auch in Marktwirtschaften vorkommt, kam dadurch zustanden, weil als Bemessungsgrundlage für die Ermittlung der Steuerschuld der von den Staatsbetrieben „tatsächlich verausgabte Lohnfonds der Arbeiter und Angestellten“ bestimmt worden war. Überraschung löste aus, daß der Gesetzgeber bei dieser neuen „Unternehmenssteuer“ eine enorm hohe Abgabenrate festgelegt hatte. Der Steuersatz belief sich auf 70 v. H. der effektiven Lohnsumme der Betriebe. In Übereinstimmung mit der schon seit langem praktizierten steuerlichen Belastung des eingesetzten „Kapitals“ wurde ab 1984 auch der Einsatz des „Produktionsfaktors Arbeit“ mit einer Steuer belegt. Wie bei der Produktionsfondsabgabe geschah dies ebenfalls durch ein für alle Steuerzahler (= Betriebe der Industrie und Bauwirtschaft) gleichbleibendes Normativ. Mit der Einführung der neuen Steuer erweiterte sich das Verfahren der Mittelbeschaffung des Fiskus bei der Staatswirtschaft vom bisherigen „Zwei-Kanäle-“ auf das neue „Drei-Kanäle-Abführungssystem“. Trotz der Ähnlichkeiten mit einer „Lohnsummensteuer“ hielt die Regierung der DDR eine solche Namensgebung für politisch nicht tragbar. Stattdessen versuchte sie der Bevölkerung zu suggerieren, daß die Einnahmen aus dieser neuen Steuer nahezu ausschließlich dafür bestimmt seien, das „materielle und kulturelle Lebensniveau des Volkes“ zu verbessern. Im Dienste dieses Propagandaziels verlieh sie der neuen Steuer das werbewirksame Etikett „Beitrag für gesellschaftliche Fonds“. Eine dementsprechende Zweckbindung für die Einkünfte, welche diese neue Abgabe einbringen sollte, wurde jedoch in das einschlägige Steuergesetz nicht aufgenommen. Im Unterschied zur Gewinn- und „Kapitalsteuer“ mußten die Staatsbetriebe die neue Abgabe nicht aus dem von ihnen erwirtschafteten Gewinn bezahlen. Diese Steuer sollte vielmehr den Herstellkosten der Erzeugnisse zugeschlagen (= Kostensteuer) und dann (ausgenommen bei den Verbrauchsgütern für den Bevölkerungsbedarf) in die Betriebsabgabepreise der Unternehmen einkalkuliert werden. Die Einführung der neuen Lohnsummensteuer führte ruckartig zu einer massiven Verteuerung des „Produktionsfaktors Arbeit“. Dadurch kam es innerhalb der staatseigenen Industrie- und Bauwirtschaft zu einer revolutionären Umwälzung der Kosten-Erlös-Strukturen und der gesamten betrieblichen Finanzwirtschaft. Wie der Wortlaut der Präambel des neuen Steuergesetzes jedoch klar belegt, war diese Wirkung gewollt. Dort hieß es: „Mit der Einführung des Beitrags für gesellschaftliche Fonds wird die lebendige Arbeit entsprechend ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung höher bewertet und damit der rationelle Einsatz des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens und die sozialistische Rationalisierung gefördert sowie die wirtschaftliche Rechnungsführung weiter vervollkommnet“. Damit wurde zugleich eine alte Forderung verwirklicht, die von Wirtschaftsreformern in der DDR schon in den 60er Jahren erhoben worden war.

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Wie aber sollten die Betriebe über Nacht eine neue Steuerlast verkraften, durch die ihre Lohnkosten abrupt um 70 Prozent anstiegen? – Dies konnte kurzfristig nur durch vier Hilfsmaßnahmen geschehen. Als erstes war unvermeidbar, einen beachtlichen Teil der verordneten „Lohnkostenexplosion“ auf die Verkaufspreise zu überwälzen. Ein weiterer beträchtlicher Teil der Kostenlawine mußte durch eine Kürzung der Gewinnsteuerlasten aufgefangen werden. Drittens waren die Staatsunternehmen selber gefordert, durch umfassende innerbetriebliche Rationalisierungsmaßnahmen Kostensenkungen herbeizuführen. Und letztlich mußte den Betrieben und Kombinaten, deren Absatzpreise durch die Preisbehörden nicht so schnell umgeplant werden konnten, eine „Überbrückungshilfe“ gewährt werden, um ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern. Zu einer eigenen simultanen Neufestsetzung ihrer Betriebsabgabepreise hatten die Staatsunternehmen bekanntlich kein Recht. Sie mußten so lange warten, bis ihnen vom Staatlichen Preisamt nach Abschluß einer bürokratischen Überprüfungsprozedur der vorgelegten Preiskalkulation neue, verbindliche Verkaufspreise zugeteilt wurden. Die Finanzierungslücken, die während dieser Bearbeitungs- und Wartezeiten entstanden, mußte die Wirtschaftsführung durch Subventionen stopfen. Dies geschah dann auch. So erhielt die Staatswirtschaft 1984 aus der Staatskasse einen „staatlichen Erlöszuschlag“ in Höhe von rd. 16 Mrd. Mark ausbezahlt, mit dem sie einen Teil ihrer „offenen Rechnungen“ begleichen konnte. Getreu dem Honecker-Dogma, die Mini-Preise für „Waren des Grundbedarfs der Bevölkerung“ stur beizubehalten und sie - ungeachtet der ständig steigenden volkswirtschaftlichen Kosten – nicht zu ändern, war im Gesetz über die neue Lohnsummensteuer folgende Versprechung verankert worden: „Durch diese Verordnung werden weder die Preise für Erzeugnisse und Leistungen gegenüber der Bevölkerung verändert, noch dürfen solche Veränderungen auf ihrer Grundlage vorgenommen werden“. Diese Weisung bewirkte, daß es bei allen Betrieben, denen strikt verboten worden war, zur Überwälzung eines Teils der neuen Steuerlasten Anträge auf Bewilligung höherer Verkaufspreise zu stellen, nicht nur zu einer vorübergehenden Entstehung von Finanzierungslücken kam. Hier riss die Einführung der „Lohnsummensteuer“ auf Dauer neue Finanzierungslücken auf, wodurch erneut eine Lawine an Haushaltssubventionen losgetreten wurde. Diese Konsequenz ergab sich zwangsläufig vor allem bei den Staatsbetrieben, die überhaupt keine Gewinne erzielten, sondern ständig Verluste machten (= „verlustgeplante Betriebe“). In der Kommandowirtschaft der DDR war es für die Leitungen der Kombinate und Betriebe wirtschaftlich vernünftig, neben Investitionsmitteln und Material auch Arbeitskräfte zu horten. Denn die Erfüllung der zentral vorgegebenen Planziele war um so leichter möglich, je größer die in den Unternehmen aufgebauten Arbeitskräftereserven und die geheimen Läger an Produktionsmitteln und Material waren. Durch diese Eingreifreserven konnten Planungsfehler der Planbehörden ausgeglichen, zeitweise Engpässe bei der Versorgung mit Vorprodukten überwunden und Stoßeinsätze beim Planendspurt gefahren werden, um so – trotz aller Disproportionen im Wirtschaftsablauf – die Pläne erfüllen und die begehrten Prämien einkassieren zu können.

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Diese systemtypische Hortungsmanie der Staatsbetriebe gehörte mit zu den Ursachen für die geringe Arbeits- und „Kapital“produktivität der DDR-Wirtschaft im Vergleich zu der in den westlichen Industriewirtschaften. Die Lohnsummensteuer sollte nun als Roßkur mit dieser Fehlleitung der betrieblichen Leistungsinteressen aufräumen und die Einkommensinteressen und Wirtschaftsaktivitäten der Staatsunternehmen wieder in Einklang mit den gesamtwirtschaftlichen Interessen (Planzielen) der Wirtschaftsführung bringen. Hauptzweck des neuen „finanzpolitischen Hebels“ war daher, auf die Betriebe Druck auszuüben, gehortete Arbeitskräftereserven abzubauen, damit an anderer Stelle der Volkswirtschaft Engpässe bei der Arbeitskräfteversorgung beseitigt werden konnten. Rein theoretisch hätte das gewünschte stärkere Gewicht der Lohnkosten in der Kosten- und Ergebnisrechnung der Staatsbetriebe (Gewinn- und Verlustrechnung, Preiskalkulation) auch durch eine kräftige, vom Staat verordnete Erhöhung der Löhne und Gehälter hergestellt werden können. Doch woher sollte über Nacht das erforderliche größere Angebot an Konsumgütern und Dienstleistungen kommen, um die damit ausgelöste Expansion der kaufkräftigen Nachfrage zu befriedigen. – Bei dieser Zwangslage blieb der Wirtschaftsführung nur ein Ausweg, sie mußte die „Lohnkosten“ der Betriebe erhöhen ohne die Löhne anzuheben. Die „Überwälzung“ der Steuer auf die Verbraucher erfolgte somit in der DDR durch staatliche Dekretierung der Abnehmerpreise. Eine solche Form der steuerlichen Belastung der Verbrauchs- oder Konsumausgaben ist natürlich nur in einer Wirtschaftsordnung möglich, in der die Marktpreisbildung beseitigt und stattdessen ein staatliches Preisfestsetzungsmonopol erreicht worden ist. Seit der „Industriepreisreform“ (1964-1967) belegte der staatliche Steuereinnehmer in der DDR zumeist nur noch industrielle Verbrauchsgüter (Fertigerzeugnisse aus der eigenen Produktion und Importwaren) und Genußmittel mit solchen Teuerungszuschlägen. Im Jahre 1988 stammten rund drei Viertel aller Umsatzund Verbrauchsteuereinnahmen aus der staatseigenen Wirtschaft aus Industrieund Wirtschaftszweigen, die Konsumgüter herstellten und/oder verkauften. Die steuerlichen Teuerungszuschläge auf die Betriebspreise waren somit in der DDR ein untrennbarer Bestandteil der für den Binnenhandel und für die Letztverbraucher von Waren und Dienstleistungen geltenden Industrieabgabe- und Einzelhandelsverkaufspreise (EVP). Auf die Höhe der Steuersätze hatten die Hersteller von Konsumerzeugnissen, die mit steuerlichen Teuerungszuschlägen befrachtet wurden, keinen Einfluß. Sie hatten nicht das Recht, nach unternehmerischen Erwägungen einzelne Industrieabgabepreise zu senken und damit den Steueranteil in den Letztverbraucherpreisen zu vermindern. Dieses Verbot galt auch dann, wenn bei einzelnen Gütern die Nachfrage sank, unabsetzbare Lager entstanden und Kapazitäten brach lagen. Um der nach Warenarten differenzierten Verbrauchsbesteuerung zu entgehen und die Übernahme von allzu drückenden Zahllasten beim Einkauf zu vermeiden, hatten die Bürger der DDR nur zwei Möglichkeiten: Die Zensiten konnten erstens

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ganz auf den Erwerb der besteuerten Waren verzichten und sie konnten zweitens unter vergleichbaren Waren diejenigen wählen, die steuerlich weniger stark belastet waren. Konnte es sich ein Konsument z. B. nicht leisten, 70,- Mark (Ost) für ein Kilogramm Bohnenkaffee der Marke „Rondo“ auszugeben, so mußte er notgedrungen auf den erheblich billigeren Malzkaffee umsteigen. Da jedoch höherwertige technische Industrieerzeugnisse und Qualitätswaren bei den Genußmitteln in der Regel knapp und schwer zu beschaffen waren, scheute sich der Fiskus im DDR-Sozialismus nicht, diese Produkte mit kräftigen Teuerungszuschlägen zu befrachten, da er sicher sein konnte, daß diese Waren auch bei Höchstpreisen ihren Abnehmer finden würden. Einheitsschema zur Kalkulation der Industriepreisabgabe und der Einzelhandelsverkaufspreise bei Verbrauchsgütern in der DDR

1.

Durchschnittliche Selbstkosten aller Hersteller des gleichen Erzeugnisses in der Volkswirtschaft (= Staatlich akzeptierte Stückkosten)

2.

+ Gewinnaufschlag zugunsten der Betriebe

3.

= Betriebspreis je Stück

4. + Teuerungszuschlag durch die Erhebung der kombinierten Umsatz- und Verbrauchsteuer (Produktgebundene Abgaben) 5.

= Industrieabgabepreis (IAP) je Stück

6.

+ Groß- und Einzelhandelsspanne

7.

Einzelhandelsverkaufspreis (EVP)

Mit hohen Abgaben wurden vor allem die Umsätze bei Genußmitteln, Importwaren und „luxuriösen“ langlebigen, technischen Gebrauchsgütern belastet. Dagegen enthielten die Einzelhandelspreise für Grundnahrungsmittel und die Verbraucherpreise für sozialpolitisch bedeutsame Industriewaren (Babybekleidung, Kinderschuhe, Schulartikel, Lehrbücher, Arzneien) zumeist keine Steueraufschläge. Im Gegenteil, sie wurden in der Regel durch die Gewährung von Preisstützungssubventionen sogar zu Preisen unter den Gestehungskosten verkauft. Diese Maßnahme pries die SED- und DDR-Führung als eine beispielhafte „sozialpolitische Errungenschaft“. Denn auf diese Weise könnten die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, die sich mit einem entsprechend kleineren und ausgedünnten Warenkorb zufriedengeben müßten, von einer harten Verbrauchsbesteuerung verschont bleiben.

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Ebenso wie in den anderen sowjet-sozialistischen Staaten war auch in der DDR die kombinierte Umsatz- und Verbrauchssteuer gekoppelt mit der Preispolitik ein Musterbeispiel dafür, wie ein systemgemäßes Steuerungsinstrument einer administrativgelenkten Zentralplanwirtschaft konstruiert sein muß. Dieser steuerliche Teuerungszuschlag war auf vielfältige Weise nutzbar. Er war nicht nur ein Hilfsmittel zur Einnahmenbeschaffung für die Staatskasse. Im Dienste der zentralen Wirtschaftslenkung erfüllte er darüber hinaus zahlreiche Allokations- und Stabilisierungsaufträge und half, ausgewählte verteilungspolitische Zielsetzungen der Wirtschaftsführung zu erreichen. So konnte im Bedarfsfalle durch eine Variation der produktspezifischen Steueraufschläge die Nachfrage der privaten Haushalte in die vom Staat gutgeheißenen Richtungen gelenkt und zudem auch das Dauerproblem angegangen werden, die Nachfrage der Verbraucher jeweils auf die volkswirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten abzustimmen. Reichte z. B. bei der Einführung neuer, langlebiger Industrieerzeugnisse von hoher Qualität (Autos, Fernsehgeräte, Kühlschränke, Musiktruhen, Photoapparate usw.) das Angebot nicht aus, um die lange zurückgestaute Nachfrage abzudecken, so konnten die Finanz- und Preisbehörden die steuerlichen Teuerungszuschläge so hoch festsetzen, daß ein Teil der Nachfrage wieder vom Binnenmarkt verdrängt und so ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage hergestellt wurde. Diese Maßnahme hatte zudem den Vorteil, daß die Wirtschaftsführung die so entstandene „Innovationsrente“ zugunsten der Staatskasse abschöpfen konnte, was ihr die Finanzierung weiterer Forschungs- und Entwicklungsvorhaben und eine Erweiterung der Kapazitäten erleichterte. Aber auch bei Versorgungslücken anderer Art konnten Änderungen der kombinierten Umsatz- und Verbrauchssteuer als ein flexibles „Marktausgleichsinstrument“ genutzt werden. Allerdings mußte die Wirtschaftsführung hierbei stets prüfen, ob durch Preistreiberei bei „politisch sensiblen Erzeugnissen“ nicht Massenproteste der Arbeiterschaft ausgelöst und die Bevölkerung zum politischen Widerstand herausgefordert wurde. In diesen Fällen war es politisch klüger, den planmäßigen Unmut der Bürger über die ständigen Versorgungslücken und die ewigen Warteschlangen in Kauf zu nehmen. Diese Art sozialistischer Umsatz- und Verbrauchsbesteuerung hatte zur Folge, daß es in der Volkswirtschaft und im Binnenhandel der DDR tausende von unterschiedlichen Umsatz- und Verbrauchsteueraufschlägen gab. Um jedoch nicht den Widerstand der zur Staatskasse gebetenen Verbraucher über allzu schamlose Teuerungszuschläge herauszufordern, wurden die im Einzelfall verhängten steuerlichen Preisaufschläge streng geheimgehalten. In der DDR ist es der Wirtschaftsführung zu keiner Zeit gelungen Geldmenge und kaufkräftige Nachfrage nur in dem Maße anwachsen zu lassen wie das Leistungsvermögen der Konsumgüterindustrie erhöht und das Verbrauchsgüterangebot gesteigert werden konnte. Infolge der unterproportionalen mengenmäßigen Erhöhung der Warenbereitstellung und der zumeist nicht nachfragegerechten Struktur des Konsumgüterangebots entstand bei den privaten Haushalten ein Geldüberhang, der in eine Kassenhaltungsinflation mündete (Zwangssparen, zurückgestaute Inflation). Diese mußte vom Staat bekämpft werden, um Störungen der zentral-

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gelenkten Wirtschaftsabläufe durch vagabundierende Kaufkraftmengen zu verhindern. Mit einer kräftigen Verbrauchsbesteuerung der Umsätze bei „Luxusgütern“ verfügte nun die Wirtschaftsführung über ein flexibles Mittel, um damit einen Teil der überschüssigen, im Einzelhandel ökonomisch nicht sinnvoll verwertbaren Kaufkraft abzuschöpfen und diese in die Staatskasse zu leiten. Die so erzielten Einnahmen setzte der Fiskus dann auch für die Finanzierung der Subventionen zur Stützung der für sakrosankt erklärten Minipreise für „Güter des Grundbedarfs“ ein. Durchschnittliche Belastung der Einkommensverwendung der Bevölkerung in der DDR beim Einkauf von Genußmitteln und Industriewaren durch die kombinierte Umsatz- und Verbrauchssteuer

Jahr

Verkauf von Konsumwaren an Letztverbraucher im Einzelhandel (= nur Umsätze von Genußmitteln und industriellen Verbrauchsgütern)

Steueraufkommen durch die kombinierte Umsatzund Verbrauchssteuer in der Staatswirtschaft

Mio. Mark

Durchschnittliche Belastung der privaten Konsumausgaben beim Einkauf von Genußmitteln und Industriewaren durch die kombinierte Umsatzund Verbrauchssteuer) in v. H.

1970

40.005

19.355

48,4

1975

53.956

30.278

56,1

1980 1981 1982 1983 1984 1985

67.861 69.618 70.045 70.409 73.851 77.441

39.193 37.702 38.445 39.283 50.242 44.457

57,8 54,2 54,9 55,8 68,0 57,4

1986 1987 1988 1989

81.184 84.447 88.472 92.556

41.998 42.965 43.108 42.055

51,7 50,9 48,7 45,4

In den fünf Jahren von 1980 bis 1984 betrug die durchschnittliche Steuerbelastung der Konsumausgaben der privaten Haushalte beim Einkauf von Genußmitteln und industriellen Verbrauchsgütern rd. 58 v. H. (= Anteil der Umsatz- und Verbrauchsteuereinnahmen aus der Staatswirtschaft am gesamten Einzelhandelsumsatz dieser Warengruppe). In der zweiten Hälfte der 80er Jahre (1985-1988) erreichte die durchschnittliche Belastung des privaten Verbrauchs durch steuerliche Teuerungszuschläge in den Konsumgüterpreisen einen Anteilssatz von rund 51 v. H. Demnach war der Fiskus der DDR in dieser Zeit bei jedem Einkauf von Genußmitteln und Industriewaren im Einzelhandel in Höhe von 100 Mark mit einer Staatskasseneinnahme von durchschnittlich 51 Mark beteiligt.

1064

2.2. Die Ausgaben des Staatshaushalts der DDR Im Unterschied zu einer Marktwirtschaft, in der die Marschrichtung der Wirtschaft nicht durch vollzugsverbindliche Staatspläne bestimmt wird, dient in einer Zentralplanwirtschaft die Ausgabenpolitik der Umsetzung der – in naturalen Kennziffern festgelegten – Ziele der Jahres- und Mehrjahrespläne. Die Ausgabenpolitik in der DDR war somit in erster Linie ein abgeleitetes Vollzugsmittel der Planerfüllung. Darüber hinaus diente sie jedoch der Wirtschaftsführung auch als aktives Leitungsinstrument zur Steuerung der Planträger, um zugleich mit der Planerfüllung eine effiziente Allokation der Ressourcen zu erreichen (= Effizienzund Wachstumsorientierung der Ausgabenpolitik). Nach DDR-Sprachgebrauch bestand die wirtschafts- und finanzpolitische Hauptaufgabe des Staatshaushaltes und der Ausgabenpolitik darin, zwischen zwei Dritteln bis drei Viertel des jährlich erwirtschafteten Nationaleinkommens (Volkseinkommens) einerseits auf die in den Volkswirtschaftsplänen festgelegten Verwendungszwecke und andererseits auf die für die Verwirklichung dieser Einzelpläne verantwortlichen Staats- und Wirtschaftsorgane, Kombinate und Produktionsgenossenschaften „umzuverteilen“. Dabei wurden häufig allein durch die Zuweisung von „Finanzkapital“ aus dem Staatshaushalt an ausgesuchte Planträger versucht, solche Planziele aus den naturalen Volkswirtschaftsplänen in die Tat umzusetzen, die in diesen Projektionen nur vage umrissen worden waren. Den Planträgern vor Ort wurde dabei in diesen Fällen befohlen, in eigener Verantwortung die materiellen Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Ziele zu schaffen. Generell galt jedoch die Leitmaxime, daß Haushaltsausgaben nur in unbedingter Übereinstimmung mit den Festlegungen der Volkswirtschaftspläne und den Vorschriften des Planungs- und Wirtschaftsrechts geplant und durchgeführt werden durften. Mit dem Sturz Ulbrichts, der Machtübernahme Honeckers und dem Beginn der Honecker-Mittag-„Ära“ 1970/71 wuchs in beträchtlichem Maße auch die Bedeutung des Staatshaushalts und der Ausgabenpolitik im Bereiche der SED Sozial- und Wohlfahrtspolitik. Mit der Verkündung des Orientierungsprogramms der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ auf dem VIII. Parteitag der SED (15. bis 19. Juni 1971), das von da an für knapp zwei Jahrzehnte die sozialökonomische Politik des SED-Staates prägte, begann eine schier unglaubliche Beanspruchung der Staatskasse für die Finanzierung öffentlicher Wohltaten. Ob die Mehrheit der SED-Führung geglaubt hat, im Sozialismus sei der Born „Staatskasse“ nahezu unerschöpflich? Bei diesem Wechsel auf die Zukunft hat fraglos die Hoffnung eine große Rolle gespielt, eine vermehrte Verteilung sozialer Wohltaten würde nahezu automatisch (womöglich aus Dankbarkeit) einen Leistungsschub unter den Werktätigen bewirken, zu einer revolutionären Steigerung der Arbeitsproduktivität führen und staunenswerte Outputs bei den Innovationen hervorbringen. Gelänge es, mit Hilfe der „Triebkraft Sozialpolitik“ die gewünschten Wachstumsgewinne herbeizuzaubern, so brächte dies wiederum steigende Staatseinnahmen ein und eine Überforderung der Staatskasse würde verhindert.

1065

An der Wiege dieser Konzeption einer „Wirtschafts- und Sozialpolitik aus einem Guß“ hat natürlich – wie zu Ulbrichts-Zeiten – auch wiederum der Wunsch gestanden, die Bundesrepublik Deutschland beim Ausbau eines Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu übertreffen und damit die Ausstrahlungskraft des „Sozialismus in den Farben der DDR“ zu erhöhen. Einer kollektiven Ordnung mit einer Einparteiendiktatur und einer vom Staat gelenkten Volkswirtschaft ist natürlich eine solche Beschränkung der Staatsaktivitäten völlig wesensfremd. Eine totalitäre Führung, die ihre Kommandogewalt in jede Hütte und jeden Winkel des Landes auszudehnen bestrebt ist, wandelt nahezu sämtliche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb der Grenzen ihres Territoriums in „gekorene“ Staatsaufgaben um. Die fast alles verschlingende Expansion des Staatssektors in der Wirtschaft, im Wohnungswesen, der Bildung, der Wissenschaft, der sozialen Sicherung, des Gesundheitswesens, der Kultur und Literatur, der gedruckten und der elektronischen Medien, 5 des Erholungswesens und des Sports erzeugte einen enormen Ausgabenbedarf. Dieser in Massen angemeldete Bedarf mußte jedes Haushaltsjahr erneut auf seine Berechtigung überprüft und zudem kontrolliert werden, ob die Verwendung der erhaltenen Staatskassenmittel durch die Zuwendungsempfänger sparsam und wirtschaftlich erfolgt war. Die sich hieraus für die Haushaltsplanung und die Haushaltsdurchführung ergebenden Anforderungen verlangten zwangsläufig den Aufbau einer das gesamte Land überdeckenden, mächtigen Wirtschafts- und Finanzverwaltung. Diese hatte, zusammen mit dem Staatsbankapparat als „Kassenvollzugsorgan des Staatshaushalts“, nahezu die gesamte Finanzierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zu organisieren. Sowohl bezogen auf das Ausgabenvolumen als auch im Hinblick auf die schier unübersehbare Masse der einzelnen Ausgabenarten (= Staatsaufgaben) ist daher die Verwendungsseite der DDR-Staatsetats ein Paradebeispiel für eine Ausgabenstruktur im Kollektivismus. Rangordnung der Staatsausgaben der DDR in den 1980er Jahren: Unter den Ausgabenarten des DDR-Staatsbudgets nahm die Finanzierung der „sozialistischen Wirtschaft“ (einschließlich des staatlichen Außenwirtschaftsmonopols) eine alles überragende Stellung ein. Dies ist das auffälligste Ergebnis, das die Analyse der Ausgabenstrukturen des Staatsetats der DDR in den 80er Jahren erbrachte. Ausgehend von der Art des in der DDR errichteten Wirtschaftssystems ist dieses Ergebnis nicht überraschend. Wird unter staatlichem Kommando die Gesamtheit der Staatsbetriebe und Kollektivwirtschaften im Lande im Prinzip zu „einem Büro und einer Fabrik“ vereinigt (Lenin), so erscheint zwangsläufig auf der Ausgabenseite der „Bilanz der Staatsfinanzen“ die „sozialistische Wirtschaft“ als der hauptbegünstigte Zuwendungsempfänger von „Staatskapital“. Dieses Ergebnis entspricht auch völlig der Bedeutung, die den „Einnahmen aus der Staatswirtschaft“ auf der Aufkommensseite des Budgets zukam. 5

Der komplett verstaatlichte Medienbereich umfaßte den Rundfunk, das Fernsehen, den Nachrichtendienst, die gesamte Presse, die Verlage und die Buchproduktion.

1066

Rund 36 v. H. der Staatsausgaben dienten in den 80er Jahren der Sanierung, der Verlustabdeckung, der Subventionierung, der Förderung, der Modernisierung und der Erweiterung der Kapazitäten a) der Staatsbetriebe und Kombinate aller Wirtschaftsbereiche und b) der Produktionsgenossenschaften in der Landwirtschaft. Von den Gesamtausgaben für diesen Empfängerkreis erhielten im gleichen Zeitraum die staatlichen und genossenschaftlichen Betriebe in der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR einen Anteil von etwas mehr als 14 v. H. Die übrigen 86 v. H. der Ausgaben wurden von der Staatswirtschaft außerhalb der Landund Nahrungsgüterwirtschaft vereinnahmt. Rangordnung der Staatsausgaben der DDR in den 80er Jahren

Ausgaben nach Zuwendungsempfängern/Verwendungszwecken/Ausgabenarten in v. H. 1. Sozialistische Wirtschaft (Staatswirtschaft und Kollektivwirtschaften in der Landwirtschaft) 2. Preisstützungssubventionen für Grundnahrungsmittel, ausgewählte Industriewaren, für die Tarife im Personenverkehr und bei der Versorgung der Bevölkerung mit Energie und Trinkwasser

35,7

18,6

3. Abdeckung des Defizits der Sozialversicherung, Soziale Sicherung, Sozialwesen, Familienförderung

8,5

4. Streitkräfte, Rüstung, Zivilverteidigung

6

5. Wohnungsversorgung und Wohnungswesen

6

6. Gesundheitswesen

5,8

7. Volksbildung, Berufsausbildung

4,9

8. Staatssicherheit, öffentliche Ordnung, Grenzsicherungsregime

2,5

9. Regierung, Staatsapparat, Wirtschaftsverwaltung, Staatsmedien

2,5

10. Hoch- und Fachschule, Hochschulforschung

1,5

11. Kultur, Kunstpflege

1,2

12. Erholungswesen, FDGB-Feriendienst, Jugendbetreuung

0,4

13. Sportpolitik, Sportförderung, Sportstätten

0,4

14. Kommunale Einrichtungen und Dienste

0,4

15. Private und genossenschaftliche Betriebe im Handwerk, Einzelhandel und Gaststättenwesen

0,1

16. Sonstige und nicht aufklärbare Staatsausgaben

5,5

Staatsausgaben insgesamt

100

1067

Der zweithöchste Anteil an den Gesamtausgaben des Staatshaushalts beanspruchte das über Jahrzehnte üppig ausgewucherte Gestrüpp der vielen „Preisstützungssubventionen“. Diese Stützungen aus der Staatskasse dienten der Verteidigung stabiler Niedrigpreise bei Grundnahrungsmitteln und ausgewählten Industriewaren und bescherten der Bevölkerung einen Bezug der wichtigsten öffentlichen Vorsorgeleistungen zu einem Entgelt nahe dem Null-Tarif. Der für die Staatskasse damit verbundene Riesenaufwand verschlang in den 80er Jahren rund 19 v. H. der Gesamtausgaben. An dritter Stelle in der Rangskala der Ausgabenarten folgten die Zuschüsse zur Abdeckung des Defizits der Sozialversicherung (Volksversicherung) und die Ausgaben für die soziale Sicherung, das Sozialwesen und für die Unterstützung junger Familien. Danach folgten auf Platz 4 die Ausgaben für die „Unterhaltung, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte, die Rüstung und die Zivilverteidigung“ (Luftschutz, Sanitätsdienst, Sicherung strategischer Objekte usw.). Ebenso wie bei den Ausgaben für die „Staatssicherheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Grenzschutzregime“ (= Platz 8 der Rangskala) wurden hier bei der Ermittlung des Ausgabenanteils für „Militär und Verteidigung“ nur die von der DDR-Regierung „offen ausgewiesenen“ Budgetaufwendungen erfaßt und gewertet.6 Sofern es durch weitere Recherchen gelingt, die von der Staats- und Militärführung der DDR „ganz verheimlichten“ oder in anderen Ausgabenposten „versteckten“ Aufwendungen a) für militärische Zwecke und b) für die innenpolitische Absicherung der SED-Diktatur ausfindig zu machen, so könnte dies dazu führen, daß einer oder sogar beide Ausgabenpositionen um einen Rangplatz nach oben klettern. Die Plätze 5, 6 und 7 nahmen die Ausgaben für die „Wohnungsversorgung und das Wohnungswesen“, für das „Gesundheitswesen“ und für die „Volksbildung und die Berufsausbildung“ ein. Den vergleichsweise hohen Rangplatz, den der Aufgaben- und Ausgabenbereich „Wohnungsversorgung und Wohnungswesen“ in der Rangordnungsskala erklommen hatte, war die Folge der enormen Anstrengungen, die der SED-Staat seit 1971/72 unternahm, um die bis dahin immer prekärer gewordene „Wohnungsfrage“ durch ein aufwendiges Programm für den Neubau, die Reparatur und die Modernisierung von Wohnhäusern zu lösen.7 Darüber hinaus umfasste dieser Ausgabenanteil auch die „Mietpreissubventionen“. So konnten in den 70er und 80er Jahren im genossenschaftlichen und staatlichen Wohnungswesen der DDR nur etwa ein Viertel bis ein Drittel der tatsächlichen laufen-

6

Zum Verhältnis zwischen offenen und versteckten Ausgaben für die Streitkräfte und die Rüstung, für die Sicherung der Einparteien-Diktatur der SED, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und für das Grenzsicherungsregime siehe Hannsjörg F. Buck, Enquete Kommission, S. 1.097 ff.

7

Buck, Hannsjörg F.: Bauwirtschaft und Wohnungswesen, in: Eppelmann, Rainer et al. (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, 2. Aufl., Bd. 1: A-M, 1997, S. 122-131.

1068

den Kosten für die Bereitstellung von Wohnungen durch Mieteinnahmen gedeckt werden. Den letzten Platz in der Rangordnung der Staatsausgaben mit einem Ausgabenanteil von 0,1 v. H. am gesamten Ausgabenvolumen des Öffentlichen Gesamthaushalts nahmen die Aufwendungen für die „Stützung und Förderung der privaten und genossenschaftlichen Betriebe im Handwerk, im Einzelhandel und im Gaststättenwesen“ ein (darunter rund 82.200 private Handwerksbetriebe und rund 2.700 PGH). Deutlicher als durch diesen 0,1-Prozentanteil kann die eklatante Vernachlässigung dieses für die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen so eminent wichtigen Wirtschaftsbereiches nicht belegt werden. Diese Zurücksetzung war keine Glanztat der so oft beschworenen Bündnispolitik der SED-Führung mit den privat wirtschaftenden „kleinen Warenproduzenten“ im Gewerbe, im Handwerk, im Einzelhandel und im Gaststättenwesen und darüber hinaus auch keine generöse Anerkennung der genossenschaftlichen Zusammenschlüsse im Handwerk, die nach SED-Urteil doch schon „den richtigen sozialistischen Weg eingeschlagen“ hatten. Die Expansion der Staatsausgaben aufgeteilt nach Zahlungsempfängern und Ausgabenarten: Überproportionale Ausgabensteigerungen (gemessen an der Expansion des Haushaltsvolumens insgesamt) gab es in dieser Zeit vor allem bei den „Preisstützungssubventionen“, bei den „Ausgaben für den komplexen Wohnungsbau“ (einschließlich Mietpreissubventionen) und bei den „Ausgaben für die Staatswirtschaft“. Bei dem letztgenannten Zuwendungsbereich hat in erster Linie der enorme Subventions- und Finanzierungsbedarf für das staatliche „Außenwirtschaftsmonopol“ dafür gesorgt, daß die Staatswirtschaft zu einem „Geldforderungs-Moloch“ für die Staatskasse wurde. Von einer leicht überproportionalen Ausgabenexpansion wurde auch das „Gesundheitswesen“ begünstigt. Wie jedoch die umfangreichen Untersuchungen über die Qualität der medizinischen Versorgung in den stationären Einrichtungen der DDR nach der „Wende“ und Wiedervereinigung ergeben haben, führte dies nicht zu einem merklichen Abbau enormer Mängel, die bei der medizinisch-technischen Ausrüstung und beim baulichen Zustand der Krankenhäuser, Polikliniken, Ambulatorien, Arztpraxen und Krankentransportstationen bestanden. Eine leicht unterproportionale Steigerung erfuhren in den hier betrachteten acht Jahren von 1980 bis 1988 die offen ausgewiesenen „Ausgaben für Streitkräfte, die Rüstung und die Zivilverteidigung“ und die Ausgaben für die „Staatssicherheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Grenzsicherungsregime“. Dabei muß bei derartigen Vergleichen des Expansionstempos stets beachtet werden, daß eine Wertung nach dem Maßstab „überproportional“ oder „unterproportional“ erheblich mit davon abhängt, auf welches Ausgangsniveau die jeweils betrachteten Ausgabenarten bereits bei Beginn des Untersuchungszeitraums angehoben worden waren. Der SED-Staat hat – wie in der Regel alle totalitären Regime – über Jahrzehnte große Anstrengungen unternommen, um sein internationales Ansehen durch spektakuläre Erfolge seiner Leistungssportler auf internationalen Wettbewerben zu steigern (Europa- und Weltmeisterschaften, Sommer- und Winter-Olympiaden

1069

usw.). Dies verlangte erhebliche Anstrengungen vor allem auf dem Gebiet des Leistungssports, der Unterhaltung von Trainings- und Sportstätten und des Aufbaus von Betreuungs- und Unterstützungskadern. Diese Wertschätzung des Sports als Propagandainstrument zeigt sich auch in der relativ kräftigen Erhöhung der Ausgaben für diese Zwecke um rd. 58 v. H. in nur acht Jahren ab 1980. Expansion der Ausgaben des Staatshaushalts der DDR 1980 bis 1988 (aufgeteilt nach Zuwendungsempfängern, Verwendungszwecken und Ausgabenarten) Ausgabensteigerung 1980 bis 1988 (1980 = 100) 1. Subvention zur Stützung von Niedrigpreisen bei Grundnahrungsmitteln und ausgewählten Industriewaren des Bevölkerungsbedarfs, Subventionen zur Stützung von Niedrigtarifen im Personenverkehr, bei öffentlichen Versorgungsleistungen (Trinkwasser, Abwasserreinigung) und bei Reparatur- und Dienstleistungen

+ 201

2. Ausgaben für den „komplexen Wohnungsbau“

+ 132

3. Ausgaben für die Staatswirtschaft darunter: Subventionierung und Finanzierung der Außenhandelsbetriebe und Außenwirtschaftsaktivitäten Zuschüsse zur Förderung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten Finanzierung von Investitionen

+ 117

+ 132 + 108 + 80

4. Ausgaben für das Gesundheitswesen

+ 79

5. Ausgaben für Kultur und Kunstpflege

+ 67

6. Offen ausgewiesene Ausgaben für die Streitkräfte, die Rüstung und die Zivilverteidigung

+ 66

7. Offen ausgewiesene Ausgaben für die Staatssicherheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (darunter für die Polizeieinheiten alle Art), die Justizanleitung, den Strafvollzug und das Grenzsicherungsregime

+ 63

8. Ausgaben für die Sportförderung, die Unterhaltung der Sportstätten und die Finanzierung der staatlichen Sportorganisation und ihres Funktionärskorps

+ 58

9. Ausgaben für Hoch- und Fachschulwesen

+ 47

10. Ausgaben für kommunale Einrichtungen und Dienste

+ 45

11. Ausgaben für die Volksbildung und die Erwachsenenqualifizierung

+ 44

12. Ausgaben für die Berufsbildung

+ 43

13. Ausgaben für die Staatsmedien (Rundfunk und Fernsehen)

+ 33

14. Ausgaben für das Sozialwesen und für Zuschüsse zur Abdeckung der Einnahmenlücke der Sozialversicherung

+ 25

15. Ausgaben für den Staatsrat, den Ministerrat, den zentralen und örtlichen Staatsapparat und die Wirtschaftsverwaltung

+ 21

Expansion des Staatshaushaltsvolumen insgesamt

+ 73

1070

Das Schlusslicht bei der Expansion der einzelnen Ausgabentitel bildeten die Aufwendungen für das „Sozialwesen und für die Abdeckung der Einnahmenlücke bei der Sozialversicherung“ und die Ausgaben für die „Regierung, den Staatsapparat und die Wirtschaftsverwaltung“. Die Ausgaben für die Staatswirtschaft: „Zwei Drittel aller Budgetausgaben für die Staatswirtschaft hatten stagnativen Subventionscharakter“. Die finanzielle Beanspruchung des Staatshaushalts durch die „Staatswirtschaft der DDR“ (ohne Staatsbetriebe der Land-, Nahrungsgüter- und Forstwirtschaft) wuchs in den 9 Jahren von 1980 bis 1989 um 117 v. H., und zwar von 39,40 Mrd. Mark auf 85,98 Mrd. Mark. Im Unterschied hierzu gelang es ab 1984/85 durch die Anhebung der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise auf ein in der Wirtschaftsgeschichte der DDR bis dahin beispiellos hohes Preisniveau, den Ausgabenbedarf für die Subventionierung und Förderung der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft in etwa auf dem Niveau zu halten, das sich Anfang der 80er Jahre eingestellt hatte. Bis 1983 war für den Fiskus die Land- und Nahrungsgüterwirtschaft ein ständiger „Zuschussbetrieb“. Durch die abrupte Zubilligung lukrativer Höchstpreise für alle wichtigen landwirtschaftlichen Erzeugnisse ab 1984/85 konnten die „finanzielle“ Ertragskraft der Landwirtschaft deutlich gesteigert, die Steuererträge aus diesem Bereich merklich angehoben und die Subventionen (zeitweise) beträchtlich gesenkt werden. Aber auch nach diesen enormen Vergünstigungen durch die „Agrarpreisreform“ bleib die Land- und Nahrungsgüterwirtschaft bis zum Ende der DDR in einem erheblichen Umfang „Kostgänger“ des Staatshaushalts. Ausgaben des Staatshaushaltes der DDR für die Staatswirtschaft1980 bis 1989 (ohne die Ausgaben für staatliche Betriebe der Land-, Nahrungsgüter- und Forstwirtschaft)

Jahr

Haushaltsausgaben für die Staatswirtschaft

Haushaltsausgaben insgesamt

in Mrd. Mark

Anteil der Haushaltsausgaben für die Staatswirtschaft an den gesamten Ausgaben des Staatshaushalts in v. H.

1980

39,40

145,45

27,1

1983 1984 1985

44,00 70,64 64,61

175,86 196,58 218,24

25,0 35,9 29,6

1986 1987 1988 1989

66,02 74,51 85,54 85,98

229,30 242,12 250,88 252,59

28,8 30,8 34,1 34,0

Die (zeitweise) Entlastung der Staatskasse von einem beträchtlichen Teil der Subventionen für die sozialistische Landwirtschaft war jedoch für die Haushaltswirtschaft der DDR insgesamt nur ein „Pyrrhus-Sieg“. Durch das Verbot, die Nahrungsgüterpreise im Einzelhandel den gestiegenen Erzeugerpreisen in der Landwirtschaft anzupassen, kam als Ergebnis der Teilsanierung der Agrarfinanzen le-

1071

diglich eine Verlagerung der Subventionen von der Landwirtschaft zu den „Preisstützungssubventionen“ für Lebensmittel heraus. Die Analyse der geheimen Haushalts(ab)rechnungen über die Ausgaben der Staatskasse für die „Staatswirtschaft“ erbrachte zwei in diesem Ausmaß nicht erwartete Sensationen: 1. Das Ausmaß der Transfers an „Staatskapital“ für wirklich „produktive“ Zwecke (Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen, Förderung von Forschung und Entwicklung) war vergleichsweise gering. Der bei weitem größte Teil der Ausgaben für die Staatswirtschaft diente der Subventionierung und Aufrechterhaltung des bereits bestehenden Produktionspotentials (Abdeckung von Verlusten, Sanierungs- und Erhaltungssubventionen, Übernahme eines Teils der laufenden Betriebskosten, Auffüllung der betrieblichen Finanzfonds ertragsschwacher VEB nach Planvorgabe usw.). 2. Beginnend mit der Honecker-Mittag-„Ära“ wurden die Handelsaktivitäten des staatlichen „Außenwirtschaftsmonopols“ der DDR zu einem gigantischen Verlustgeschäft. Die DDR konnte sich aus dem immer verlustreicher werdenden Außenhandel aber nicht einfach zurückziehen. Durch ihre Rohstoffarmut und durch ihre Bindungen an das Sowjetimperium, von denen ihre politische und ihre ökonomische Existenz abhing, war ihre Wirtschaft hochgradig außenhandelsabhängig. Daher ließ sich der Außenhandel nicht einfach zeitweise drosseln, sondern mußte vielmehr ständig weiter gesteigert und (wenn möglich) rentabler gemacht werden. Durch die Preisexplosionen bei Energierohstoffen und Grundstoffen auf dem westlichen und östlichen Weltmarkt ab 1974/75 und infolge der immer mehr absinkenden Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wissenschaft und Industrie verschlechterten sich jedoch ab Mitte der 70er Jahre in dramatischer Weise die Handels- und Wettbewerbsbedingungen der DDR. Die hierdurch mitbedingte Aushöhlung der Erneuerungskraft führte dann zu einem rapiden Substanzverzehr des „Kapitalstocks“ und des Produktionspotentials der DDR-Volkswirtschaft. Nur knapp 9 v. H. der Ausgaben für die Staatswirtschaft dienten während der 80er Jahre der Errichtung und Ausrüstung neuer Betriebe, dem Bau neuer Werksteile und der Generalreparatur sowie der Modernisierung von Schlüsselbetrieben, denen für die Planerfüllung eine herausgehobene Bedeutung zukam (= Vom Ministerrat in jedem Einzelfall geprüfte und beschlossene Investitionsvorhaben; Staatsplanvorhaben). Eine ebenso bescheidene Rolle spielten auch die Transfers zur Förderung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in den Betrieben und Kombinaten der Staatswirtschaft. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben für die Staatswirtschaft belief sich lediglich auf etwas mehr als 7 v. H. der Gesamtausgaben für die Staatswirtschaft. Demgegenüber hatten rund zwei Drittel aller Budgetausgaben für die Staatswirtschaft stagnativen Subventionscharakter. Bei einem Transfer von „Staatskapital“ überwiegend zugunsten leistungsbewahrender und nicht zugunsten leistungssteigender Verwendungszwecke diente die von den Propheten der Staatsplanwirtschaft so hoch gepriesene zentrale „Ka-

1072

pitalumverteilung“ über das Budget eben nicht zur Hauptsache dem Zweck, „die Leistungsfähigkeit der materiell-technischen Basis der Volkswirtschaft weiter zu erhöhen“, „die wissenschaftlich-technische Revolution zielstrebig weiterzuführen“ und ein hohes, dynamisches Wirtschaftswachstum zu erzielen. Zudem konnte so für die DDR-Wirtschaft insgesamt auch nicht ein „immer höheres Niveau der Arbeitsproduktivität und Effektivität“ erreicht werden. Genau diese optimistischen Vorstellungen hat jedoch die Wirtschaftsführung der DDR in ihren Deklarationen stets zu erwecken versucht. Der größte Verbraucher von „Staatskassenkapital“ war in der Staatswirtschaft der DDR das „Außenwirtschaftsmonopol“ mit seinen Import- und Exportaktivitäten und mit seinen Kreditbeziehungen zum Ausland und zu Westdeutschland. Knapp drei Fünftel aller Ausgaben für die Staatswirtschaft (=58,5 v. H.) verschlang in der 80er Jahren der Bereich „staatliche Außenwirtschaft“ (Hervorhebung J. Schneider). Einnahmen und Ausgaben des Staatshaushalts der DDR durch die Finanzbeziehungen zum staatlichen Außenwirtschaftsmonopol

Jahr

Einnahmen

Ausgaben zur Förderung und Subventionierung des Exports, zur Ermöglichung von Importen und zur Finanzierung internationaler Transportleistungen

9.240,0 5.657,5 11.696,6 5.744,8 5.445,1 11.698,9 17.066,8 16.167,7 21.469,7 25.564,8 26.960,4

8.968,5 11.984,3 21.412,8 19.724,8 22.158,1 22.813,8 30.295,8 40.067,1 44.469,2 53.943,5 49.662,6 51.732,1

Zuschüsse des Staatsbudgets (Subventionen) zur Abdeckung der Verluste des Außenhandelsmonopols

in Mio. Mark 1970 1975 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

+ 271,6 - 11.984,3 + 15.755,3 + 8.028,2 + 16.413,3 + 17.368,5 + 18.596,9 + 23.000,3 + 28.301,5 + 32.473,8 + 24.097,8 + 24.771,7

Das Außenwirtschaftsmonopol als Hauptkunde der Staatswirtschaft für „Subventionskapital“: In der DDR waren die Außenhandelsbetriebe, die Dienstleistungseinrichtungen das Außenhandels, die Staatsfirmen für Außenhandelstransporte und die gesamte Ex- und Importwirtschaft (= Bereich staatliches „Außenwirtschaftsmonopol“) sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite des Budgets fest mit der Staatskasse verkoppelt.

1073

Bis zum Untergang der SED-Diktatur waren die jährlichen Defizite des „Außenwirtschaftsmonopols“ in Mark der DDR und die vom Staatshaushalt aufgefangenen Verluste dieses Bereichs eines der am besten gehüteten Staatsgeheimnisse im SED-Staat. Erst nachdem die Zahlenpakete der „geheimen Haushalts(ab)rechnungen“ für den Ministerrat zugänglich sind, lassen sich das ganze Ausmaß dieser Defizitwirtschaft offenlegen und die Belastungen aufzeigen, die dem Staatshaushalt durch die Leistungsschwächen der DDR-Außenwirtschaft aufgebürdet wurden. Dies geschieht hiermit zum ersten Mal. Im Jahre 1970 brachten die haushaltswirksamen Einnahmen und Ausgaben des „Außenwirtschaftsmonopols“ dem DDR-Fiskus noch eine kleine NettoEinnahme ein (rund 272 Mio. Mark). Jedoch von da an ging es rasch bergab. Bereits 1975 betrug das der Staatskasse aufgebürdete Defizit durch die Verlustgeschäfte im Außenhandel fast 12 Mrd. Mark. Der Zuschussbetrag, der jährlich zur Abdeckung der immer mehr anschwellenden Defizite benötigt wurde, kletterte dann bis 1987 auf die dreifache Summe, die im Jahre 1975 gebraucht wurde, um damals das „Außenwirtschaftsmonopol“ wieder finanziell zu sanieren (= 32,5 Mrd. Mark). In den letzten beiden Lebensjahren der DDR gelang es, den Anstieg der Verluste zu bremsen und die Defizite auf einem Verlustniveau von jährlich rund 24 bis 25 Mrd. Mark „zu stabilisieren“. Rund ein Zehntel aller Einnahmen, die in den Jahren von 1987 bis 1989 dem Öffentlichen Gesamthaushalt zugeflossen waren, verschlang in dieser Zeit die Abdeckung der Verluste des „Außenwirtschaftsmonopols“. In den 80er Jahren machte allein der Anteil der Subventionsform „Exportstützungen“ im Durchschnitt fast die Hälfte derjenigen Finanzhilfen aus, welche die Staatskasse bereitstellen mußte, um die Verluste des „Außenwirtschaftsmonopols“ auszugleichen. Hinter dem Verschleierungsbegriff „Exportstützungen“ hatte die Wirtschaftsführung die reinen hausgemachten Verluste der DDR-Wirtschaft im Außenhandel versteckt. Solche „Exportstützungen“ wurden den Produktionsbetrieben für die Herstellung von Exportgütern (VEB, Kombinate) dann gezahlt, wenn der ihnen von den staatlichen Außenhandelsbetrieben überwiesene Exporterlös in Mark der DDR geringer war als der Inlandsaufwand für die Herstellung der Exportgüter. Insgesamt mußten zur Abdeckung von Außenhandelsverlusten in den 15 Jahren der Honecker-Mittag-„Ära“ von 1975 bis 1989 248,4 Mrd. Mark an Steuermitteln eingesetzt werden. Dieser gigantische Finanzbedarf des ständigen „Zuschußgeschäfts DDRAußenwirtschaft“ ist mit ein Grund dafür, weshalb in den 80er Jahren der Staatshaushalt des SED-Staates nicht mehr in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen werden konnte, sondern durch interne Verschuldung und Kredithilfen der Staatsbank (= Geldschöpfung) wieder ins Lot gebracht werden mußte. Die Ausgaben für Preisstützungssubventionen: Zwei Drittel der Preisstützungssubventionen mußte die Wirtschaftsführung für die Sicherung stabiler Preise bei den Nahrungsgütern ausgeben. Die Finanzierung der Ausgaben zur Stützung und Stabilerhaltung der Endverbraucherpreise für ausgewählte Güter und Dienste des Bevölkerungsbedarfs bean-

1074

spruchte in den Jahren von 1971 bis 1989 folgende Anteile der insgesamt erzielten Einnahmen des Staatshaushalts der DDR: 1971 bis 1975 = 11,8 v. H. 1976 bis 1980 = 12,1 v. H. 1981 bis 1985 = 14,7 v. H. 1986 bis 1989 = 20,3 v. H. Für die Mehrheit der SED-Führung, und insbesondere für den Generalsekretär des ZK der SED, Honecker, gehörte die absolute Stabilität der Preise für alle Güter, Dienste und Versorgungsleistungen des „Grundbedarfs“ der Bevölkerung zu den herausragenden „Errungenschaften“ des „realen Sozialismus in den Farben der DDR“. Die Verteidigung dieser Preiszementierung war ebenso wie das „SEDWohnungsbauprogramm 1971-1990“ ein Kernstück der Sozialpolitik der Staatspartei. Anteil der Ausgaben für Preisstützungssubventionen an den Gesamtausgaben des Staatshaushalts der DDR

Jahr

Gesamte Haushaltsausgaben

Etatausgaben für Preisstützungssubventionen

in Mio. Mark 1970

61.673

1975 1980

Anteil der Etatausgaben für Preisstützungssubventionen in v. H.

8.372

13,6

102.845

11.226

10,9

145.449

16.853

11,6

1981 1982 1983 1984 1985

151.796 156.716 175.861 196.580 218.238

20.296 21.452 21.853 31.826 40 622

13,4 12,9 12,4 16,2 18,6

1986 1987 1988 1989

229.302 242.120 250.877 252.592

47.883 49.336 49.811 50.648

20,9 20,4 19,9 20,1

In den Ausgabenkomplex „Preisstützungssubventionen“ wurden alle Staatskassen-Aufwendungen zusammengefaßt, die zur Abdeckung der Kosten der Festpreispolitik bei folgenden Gruppen „preisgestützter“ Verbrauchsgüter und Dienstleistungen benötigt wurden: 1. Für Preisstützungssubventionen bei Nahrungsgütern (Lebensmittel); 2. für Preisstützungssubventionen bei ausgewählten sozialpolitisch bedeutsamen Industriewaren (darunter Hausbrand, Kinder- und Säuglingsbekleidung, Kinderschuhe, Schulartikel, Lehrbücher und Lehrmittel, Arbeits- und Berufsbekleidung);

1075

3. für Preisstützungssubventionen zur Verbilligung der Fahrpreise im PersonenNah- und Personenfernverkehr; 4. für Preisstützungssubventionen zur Aufrechterhaltung niedriger Abgabepreise bei Trinkwasser und zur Beibehaltung der Mini-Gebühren für die Abwasserreinigung; und 5. für Preisstützungssubventionen zur Beibehaltung von Niedrigpreisen bei ausgewählten Reparaturen und Handwerker-Dienstleistungen für die privaten Haushalte. Sozialpolitische Vergünstigungen durch staatlich festgesetzte Niedrigpreise und durch Mini-Gebühren und -Tarife bei ausgewählten Dienst- und Versorgungsleistungen für die privaten Haushalte in der DDR 1988/89

A. Preise für Verkehrsleistungen 1. Fahrkarte der Eisenbahn, 2. Klasse, Personenzug, je km 2. Arbeiterwochenkarte, 2. Klasse, Personenzug 3. Fahrkarte der S-Bahn, Ostberlin, Preisstufe 1 4. Straßenbahn, Einzelfahrt

0,08 Mark 2,50 Mark 0,20 Mark 0,20 Mark

B. Preise für Dienstleistungen des Post- und Fernmeldewesens 1. Briefsendung bis zu 20 Gramm im Ostverkehr 2. Briefsendung bis zu 20 Gramm im Fernverkehr 3. Paket bis 5 Kg, 1 Zone (bis 100km) 4. Ortsgespräch von einer öffentlichen Telefonzelle 5. Monatliche Rundfunkgebühren je gebührenpflichtiger Anlage 6. Monatliche Rundfunk- und Fernsehgebühren je Anlage mit 1. Programm mit 1. und 2. Programm

0,10 Mark 0,20 Mark 0,60 Mark 0,20 Mark 2,00 Mark 7,00 Mark 10,00 Mark

C. Preise für Strom, Gas und Fernwärme 1. Monatlicher Grundpreis für elektrischen Strom je Küche und je Raum 2. Haushaltstarif für eine kWh elektrischen Strom 3. Haushaltstarif für einen Kubikmeter Stadtgas 4. Haushaltstarif für Fernwärme je Quadratmeter Wohnfläche

0,50 Mark 0,08 Mark 0,16 Mark 0,40 Mark

D. Preise für Trinkwasser Preis für 1 Kubikmeter Trinkwasser

0,70 Mark

In der Zentralplanwirtschaft der DDR lag die volle Befehlsgewalt über die Festsetzung der Preise in den Händen der Wirtschaftsführung. Sie konnte daher Preisdiktate unmittelbar – bezogen auf ausgewählte Gruppen von Gütern und Dienstleistungen – als Instrument der Sozialpolitik einsetzen. In einer Marktwirtschaft dagegen würden derartige drakonische Eingriffe in die freie Preisbildung und in die Primärverteilung des Volkseinkommens zur Selbstzerstörung dieser Ordnung führen. Durch massenhafte Interventionen in die Preisbildung würde die Steuerungsmacht der Märkte und des Wettbewerbs für eine effiziente Allokation der Ressourcen vernichtet, die Informationsqualität der Preise über die Knappheit

1076

bei Gütern und Diensten beseitigt, Rationalisierungs- und Strukturwandlungsprozesse gehemmt, Fehlsteuerungen der Wirtschaftsaktivitäten der Marktparteien provoziert und die unverzichtbare flexible Koordinierungs-Kompetenz und Ausgleichsfunktion der Märkte zwischen Angebot und Nachfrage beseitigt. In fast jeder Grundsatzrede betonten Spitzenpolitiker der SED, daß die Beibehaltung stabiler Preise für den Grundbedarf der Bevölkerung und für die wichtigsten Versorgungsleistungen im häuslichen Bereich (Trinkwasser, Strom, Gas, Fernwärme) ein unverzichtbarer Vorzug des DDR-Sozialismus sei. Diese Grundsatzentscheidung ist ohne merkliche Korrekturen bis zum Untergang der DDR 1989/90 beibehalten worden. Auch nachdem in den 80er Jahren der mit dieser Preiszementierungspolitik verbundene Aufwand immer unbezahlbarer wurde, wurde diese sozial-und wohlfahrtspolitisch begründete Doktrin starrsinnig durchgehalten. Alle Warnungen, die in dieser Zeit von Fachökonomen vorgebracht wurden, und in denen sie nachwiesen, daß die Anwendung von Preisstützungssubventionen und die durch sie verursachte Verschwendung wertvoller Ressourcen die Wirtschaftskraft der DDR überfordern würde, prallten an der Sturheit des SED-Generalsekretärs Honecker und seiner Helfershelfer im Politbüro ab. Hierzu schreibt der ehemalige Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer: „Honeckers Standpunkt war immer der, daß alle politischen Schwierigkeiten in den anderen sozialistischen Ländern mit der Erhöhung der Einzelhandelspreise begonnen hatten und die DDR ihren guten Weg nicht durch solche ‚Dummheiten‘ aufs Spiel setzen darf. In Wahrheit war das sture Festhalten an der überholten Preispolitik eine wesentliche Ursache für die ökonomischen Schwierigkeiten und die Mangelwirtschaft im Sozialismus“.8 Über die gleiche Erfahrung mit der Unbelehrbarkeit Honeckers und mit der sachwidrigen Anpassungs-Kumpanei Mittags an den ihn stützenden SED-Generalsekretär berichtet auch Erhard Meyer, ehemals Sektorleiter der Abteilung Planung und Finanzen im Zentralkomitee der SED: „Während der gesamten Zeit als Politbüromitglied von 1966 bis 1989 oder als Sekretär des ZK (1976 bis 1989) vertrat Günter Mittag bedingungslos das jeweilige wirtschaftspolitische Konzept des 1. Sekretärs bzw. des Generalsekretärs. Und er vertrat sie nicht nur, häufig überzog er maßlos. […] So wurde 1988 mit seiner Zustimmung und Befürwortung vom Leiter des Amtes für Preise, Walter Halbritter, eine Politbürovorlage über Preiserhöhungen für Erzeugnisse außerhalb des Grundbedarfs mit dem Ziel, Subventionen abzubauen, eingereicht. Als Erich Honecker in der Politbürositzung diese Vorschläge kategorisch ablehnte, wechselte Güter Mittag schnell die Front und fiel in rüden Worten über den Verfasser der Vorlage her“.9

8

Schürer, Gerhard: Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, 2. Aufl., Frankfurt/Oder 1996, S. 77.

9

Meyer, Erhard: Der Bereich Günter Mittag. Das wirtschaftspolitische Machtzentrum, in: Modrow, Hans (Hrsg.): Das große Haus. Insider berichten aus dem ZK der SED, Berlin 1994, S. 137-147, hier S. 138 und 142.

1077

Relation der Subventionen für Grundbedarf, Tarife und Mieten zum Arbeitseinkommen gesamt im produzierenden Bereich in der DDR 1970-1988 (in Prozent; 100 % = Arbeitseinkommen gesamt)

Arbeitseinkommen gesamt im produzierenden Bereich und Subventionen des Staatshaushalts für stabile Preise beim Grundbedarf, Tarife und Mieten 1970-1988 (in Mill. Mark)

1078

Nach der Terminologie der DDR-Politökonomie gehörten die Budgetausgaben für Preisstützungssubventionen zum Komplex der „Leistungen des Staates aus gesellschaftlichen Fonds“. Der Begriff „gesellschaftliche Fonds“ kam in der DDR nach dem Machtantritt Honeckers 1971/72 in Mode, als die SED-Führung ihre neue Konzeption der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ verkündete. Ausgehend hiervon veröffentlichte die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik im Jahrbuch für 1972 erstmals eine Tabelle unter dem Titel „Leistungen und Zuwendungen des Staates aus gesellschaftlichen Fonds“. Darin wurden die „Preisstützungssubventionen“ als wesentlicher Bestandteil der DDR-Wohlfahrtspolitik geführt. Die Aufwendungen für Preisstützungssubventionen aller Art bezeichnete die SED-Propaganda werbewirksam als „Einnahmen der Bevölkerung aus der zweiten Lohntüte“. Daran ist zutreffend, daß die kommandierte Verbilligung der Güter und Dienste des Grundbedarfs ohne Frage eine Maßnahme war, durch welche die Kaufkraft der Einkommen und der Ersparnisse der privaten Haushalte erhöht wurde. Diesen Vergünstigungen stand jedoch gegenüber, daß die DDR-Führung auch zur Honecker-Mittag-„Ära“ nur vergleichsweise geringe Erhöhungen der Löhne und Prämien der Arbeiter und Angestellten zuließ und die (im Verhältnis zu den Einkünften der Erwerbstätigen äußerst geringen) Renteneinkommen der Ruheständler (Arbeitsveteranen) nur jeweils in Abständen von einigen Jahren um Minimalbeträge anhob. Diese offenkundige Divergenz in der Entwicklung der „ersten“ und der „zweiten Lohntüte“ bezeichneten die SED-Ideologien als die konsequente Anwendungen der von Lenin aufgestellten Prinzipien für eine Sozialpolitik im Sozialismus. Dieser hatte prophezeit, daß die der Bevölkerung aus den „gesellschaftlichen Fonds“ gewährten kollektiven Wohlfahrtsleistungen in der Reifeetappe des „entwickelten Sozialismus“ rascher wachsen werden als gleichzeitig die Arbeits- und Renteneinkommen zunehmen, die den Bürgern vom Staat individuell zugebilligt werden. Wie die Analyse der Haushalts(ab)rechnungen des DDR-Staats belegt, erhöhte sich der Aufwand für „Preisstützungssubventionen“ in den 70er und 80er Jahren zum Teil geradezu explosionsartig. Vor allem in den 80er Jahren wurde die Staatskasse durch die Forderungen der Konsumgüterhersteller und Dienstleistungsproduzenten, ihre ungedeckten Herstellkosten durch Subventionszahlungen wettzumachen, geradezu geplündert. Innerhalb von nur 9 Jahren (1981 bis 1989) stiegen die Ausgaben für diesen Zweck von 16,9 Mrd. Mark auf 50,6 Mrd. Mark. Rund 20 v. H. aller Einkünfte des Öffentlichen Gesamthaushalts mußte der Fiskus in der zweiten Hälfte der 80er Jahre bereitstellen, um den steil ansteigenden Subventionsbedarf zu befriedigen. Dieser gewaltige Anstieg der Subventionen ist jedoch mitnichten durch eine sorgfältig geplante und gewollte Erhöhung der Wohlfahrtsleistungen für die Bevölkerung verursacht worden. Es war vielmehr zu einem beträchtlichen Teil die bittere Konsequenz eines großangelegten Versuchs während der ersten Hälfte der 80er Jahre, die Produktionsleistungen in der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft

1079

durch kräftige Preiserhöhungsanreize zu stimulieren und einen Überfluß an Agrarprodukten zu erzeugen. Da die kräftige Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugerpreisen infolge politischer Verbote nicht auf die Preise der Endprodukte überwälzt werden durfte, schnellten natürlich die Preisstützungssubventionen für Nahrungsgüter abrupt in die Höhe (Ausgaben für Preisstützungssubventionen bei Lebensmitteln im Staatsetat der DDR 1983 = 12,1 Mrd. Mark; 1984 = 20,6 Mrd. Mark und 1985 = 27,6 Mrd. Mark). Rund zwei Drittel der Preisstützungssubventionen mußte die Wirtschaftsführung für die Sicherung stabiler Preise bei den Nahrungsgütern ausgeben. Diese Zusammenhänge offenbaren, daß in der DDR die „Preisstützungssubventionen“ eine Doppelfunktion besaßen. Auf der einen Seite dienten sie als Hilfsmittel bei Operationen zur Stimulierung hoher Erzeugerleistungen in der Landund Nahrungsgüterwirtschaft (= verdeckte Agrarsubventionen als Form indirekter Wirtschaftsförderung) und auf der anderen Seite ermöglichten sie eine sozialpolitisch motivierte Verteilung „unentgeltlicher Leistungen“ beim Einkauf von Nahrungsgütern. Struktur der Ausgaben für Preisstützungssubventionen im Staatsetat der DDR in den Jahren 1985 bis 1989 in v. H. Gütergruppen, Versorgungsangebote und Dienstleistungssektoren mit subventionsgestützten Endverbraucherpreisen

1985

1986

1987

1988

1989

Subventionsausgaben aufgeteilt nach Verwendungsbereichen 1. Subventionen zur Beibehaltung stark ermäßigter Endverbraucherpreise bei Nahrungsgütern

67,9

64,4

63,7

64,1

64,6

2. Subventionen zur verordneten Verbilligung der Einzelhandelspreise bei ausgewählten sozial-politisch bedeutsamen Industriewaren

22,3

23,2

24,2

24,0

23,5

3. Subventionen zur Stützung fester MiniTarife für die Personenbeförderung im Fern- und Nahverkehr

7,8

10,5

10,2

10,0

10,0

4. Subventionen zur Stützung fester Preise / Gebühren bei der Trinkwasserversorgung und bei der Abwasserreinigung

1,1

1,0

0,9

0,9

0,9

5. Subventionen zur Stützung der Preise für Dienstleistungen und Reparaturen des Bevölkerungsbedarfs

0,9

0,9

1,0

1,0

1,0

Insgesamt

100

100

100

100

100

Insgesamt in Mio. Mark

40.622 47.883 49.336 49.811 50.648

1080

Welche Verzerrung der Lebensmittelpreise im Einzelhandel durch diese gigantischen Stützungen hervorgerufen wurde, wird durch folgende Gegenüberstellung deutlich. So mußte die Staatskasse im Jahre 1988 bei einem Nahrungsmittelabsatz an private Verbraucher von insgesamt 38,2 Mrd. Mark Preisstützungssubventionen in einer Größenordnung von 31,9 Mrd. Mark aufbringen. Addiert man diese beiden Posten und unterstellt dabei, daß diese Summe den Einzelhandelsumsatz bei Nahrungsgütern zu Selbstkosten plus einem Gewinnaufschlag repräsentiert, so erhielt die DDR-Bevölkerung im Jahre 1988 rund 46 v. H. aller „eingekauften“ Nahrungsgüter „unentgeltlich“ zugeteilt. Subventionsausgaben im Staatsetat der DDR zur Stützung von stark ermäßigten Endverbraucherpreisen unter den Herstellerkosten der Erzeugnisse der Versorgungs- und der Dienstleistungen in den Jahren 1980-1989 1980

1981

1982

1983

1984

16.833

20.296

21.452

21.853

31.826

1985

1986

1987

1988

1989

40.622

47.883

49.336

49.811

50.648

Die hier vorgenommene Untersuchung des Komplexes „Preisstützungssubvention als Instrument der Haushalts- und Sozialpolitik“ führt zu folgendem Ergebnis: Nicht zuletzt aus ideologischen Gründen hat die Staats- und Wirtschaftsführung alle ihr zu Gebote stehenden zentralplanwirtschaftlichen und finanzpolitischen Lenkungsmittel genutzt (einschließlich Preisdiktat und Subventionsmaßnahmen aller Art), um die von ihnen aufgestellten utopischen Ziele der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erreichen. Bei der Wahl ihrer Mittel hat sich jedoch ausgerechnet die rohstoffarme, hochgradig außenhandelsabhängige und vom Produktivitätsniveau her enorm rückständige DDR dafür entschieden, eines der kostspieligsten Systeme zur Bereitstellung „sozialer Wohltaten“ einzusetzen, das es auf der Welt gibt. Infolge der hierdurch ausgelösten nicht abbremsbaren Ausgabenexplosion und Verschwendung war die DDR-Staatskasse im Laufe der 80er Jahre nicht mehr in der Lage, die immer größer werdenden Ansprüche an die „gesellschaftlichen Fonds“ durch die Erschließung neuer oder durch eine noch rigorosere Ausschöpfung traditioneller Einnahmequellen zu verkraften. Die bei der Bilanzierung der Staatseinnahmen und Staatsausgaben aufzubrechenden Einnahmelücken mußten daher durch Staatskredite mit einer Laufzeit gegen unendlich gestopft werden. Weshalb war die kostspielige Sozialpolitik am Ende nicht mehr aus „erwirtschafteten Einnahmen“ bezahlbar und mußte durch „Schuldenmachen“ finanziert werden? Eine Sozialpolitik, durch die für alle flächendeckend Mini-Preise und Preisstützungssubventionen für Güter und Dienste des sogenannten „Grundbedarfs“ angeboten werden, konzentriert sich nicht, wie es eigentlich notwendig wäre, auf subjektbezogene Unterstützungsleistungen für tatsächlich Bedürftige und

1081

Bezieher geringer Einkommen. Ihre „Wohltaten“ (Kaufkraftverbesserungen, „unentgeltliche Leistungen“) werden schematisch über Bedürftige und Nicht-Bedürftige ausgeschüttet. Diese Wirtschafts- und Sozialpolitik setzte ferner die für ein wirtschaftlich rationales Verhalten gänzlich unverzichtbaren Lenkungs- und Erziehungswirkungen der Preise außer Kraft. Dies führte zu einer gigantischen Verschwendung knapper ökonomischer Ressourcen. Eines der markantesten Beispiele hierfür war die massenweise Verfütterung von Brot, Brötchen, Haferflocken und sonstigen Nährmitteln für die Aufzucht von Kleintieren (Kaninchen, Geflügel u. a.) und zwar nicht zuletzt deswegen, weil es entweder keine Futtermittel gab oder aber der Preis für Futtermittel höher war als der Brotpreis. Der Preis für ein Kilo Roggenmischbrot betrug in der DDR lediglich 52 Pfennige. Dieser so widersinnig in die Höhe getriebene Nahrungsmittelverbrauch fesselte „Inlandskapital“ (einschließlich Anbauflächen), Devisen und Arbeitskräfte in Produktionen, die an anderer Stelle der Volkswirtschaft hätten höhere Erträge erwirtschafteten und bessere Bedarfsdeckungsleistungen erzielen können. Im Jahre 1980 waren die Ausgaben des Staatshaushalts für „Preisstützungssubventionen“ (ohne Mietpreisstützungen und ohne Subventionen für Strom, Gas und Fernwärme) um 56 v. H. höher als diejenigen Ausgaben, welche aus dem Staatskassentopf im gleichen Jahr für die Förderung von Wissenschaft und Technik und für die Inangriffnahme von Investitionen ausgegeben wurden. Fünf Jahre später hatte sich dieses Mißverhältnis noch um ein Vielfaches verschlimmert. So lagen 1985 die Subventionsausgaben für „Preisstützungen“ um 166 v. H. und 1988 um 152 v. H. über den Budgetaufwendungen, die vom SED-Staat zur Förderung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und für die Investitionen bereitgestellt wurden. Neben dieser „Spitzenleistung bei der Ressourcenverschwendung“ hielt die DDR noch einen weiteren „Weltspitzenplatz“. Zusammen mit den Vereinigten Staaten und Kanada war sie „Weltmeister“ beim Energieverbrauch. Auch hierfür waren maßgeblich die stark subventionierten Strom-, Gas- und Wärmepreise für private Verbraucher verantwortlich. Stabilität und Ausgeglichenheit des Staatshaushalts der DDR als Propaganda-Idylle und als Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus: Nach dem Sturz Honeckers (17./18. Oktober 1989) beauftragte das Politbüro des ZK der SED unter seinem neuen Generalsekretär Egon Krenz am 24. Oktober 1989 den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, „eine Analyse der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation“ vorzulegen. Die gewünschte ungeschminkte Bilanz des Zustandes der DDR-Wirtschaft sollte in einem deutlichen Kontrast zu den bis dahin oft schöngefärbten Lageberichten stehen. Die unter Schürers Leitung gebildete Arbeitsgruppe legte dem SED-Politbüro am 30. Oktober 1989 ihren Bericht über die vom Konkurs bedrohte DDR-Wirtschaft vor. Darin heißt es: "Die Verbindlichkeiten des Staatshaushaltes gegenüber dem Kreditsystem entwickelten sich aufgrund der höheren Ausgaben gegenüber den erreichten Einnahmen von rd. 12 Mrd. M 1970 auf 43 Mrd. M 1980 und 123 Mrd. M 1988.

1082

In den Jahren 1989 und 1990 können die höheren Ausgaben des Staatshaushaltes gegenüber den Einnahmen nur durch zusätzliche Kreditaufnahme in Höhe von 20 Mrd. M erreicht werden, so daß die Gesamtverschuldung 1990 insgesamt 140 Mrd. M beträgt. Geldumlauf und Kreditaufnahme des Staates, darunter wesentlich aus den Spareinlagen der Bevölkerung, sind schneller gestiegen als die volkswirtschaftliche Leistung. Die ungenügende Erhöhung der Effektivität im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß, die Angleichung der Industrieabgabepreise an den im internationalen Vergleich zu hohen Aufwand sowie die wachsende Verschuldung des Staatshaushaltes hat zu einer Schwächung der Währung der DDR geführt“. Dieses Schuldenmachen des SED-Staates bei der Staatsbank verstieß eindeutig gegen Recht und Gesetz. Nach den verbindlichen „Grundsätzen der Haushaltswirtschaft“ der DDR (siehe hierzu § 11 der „Staatshaushaltsordnung) mußte die Ostberliner Regierung bei der Planung und Durchführung des Öffentlichen Gesamthaushaltes dafür sorgen, daß das Budget in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen war. Diese strikte Abstimmung von Einnahmen und Ausgaben sollte die „Stabilität der Staatsfinanzen und den Ausgleich der Pläne des Staatshaushalts gewährleisten“. Da eine Mittelbeschaffung des Staates durch Staatsanleihen grundsätzlich nicht vorgesehen war, mußten alle staatlichen Aufgaben, für deren Erfüllung gesetzlich der Einsatz von Haushaltsmitteln vorgeschrieben war, - bei Beachtung des Legalitätsprinzips – ausschließlich durch Einnahmen in Form von Steuern, Abführungen, Beiträgen und Gebühren finanziert werden. Dies war jedoch vor allem seit Ende der 70er Jahre nicht mehr der Fall. Im Gegensatz zu dem in den parlamentarischen Demokratien des Westens gesicherten Prinzip der „Haushaltswahrheit“ verkündete der Finanzminister der DDR, Ernst Höfner, in den 80er Jahren bei der Begründung der Staatshaushaltspläne oder bei der Präsentation der IST-Bilanz des Staatsbudgets für das abgelaufene Haushaltsjahr (= Haushalts(ab)rechnung) stets die Unwahrheit. Gewissermaßen als Krönung und Modell für derartige Erklärungen bis zum Untergang der DDR 1989/90 sollen hier abschließend die für die Haushaltsjahre 1985 und 1986 abgegebenen Versprechen zitiert werden: „So wie stets in der 35jährigen Entwicklung der DDR beinhaltet auch der Plan für das kommende Jahr 1985, daß die Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sind und der Staatshaushalt mit einem Überschuß abschließt“. „Erneut hat sich unser gut funktionierendes System der sozialistischen Planwirtschaft eindrucksvoll bestätigt. Es erweist sich als leistungsfähig, dynamisch und flexibel. […] Wir kennen keine Staatsverschuldung, keinen Sozialabbau. Der Ministerrat hebt hervor, daß in all den Jahren des Bestehens unserer Deutschen Demokratischen Republik ein ausgeglichener, stabiler Staatshaushalt als wichtiger Faktor der Stabilität unserer Währung gewährleistet werden konnte“. Wie prekär jedoch die Lage der Staatsfinanzen ein gutes Jahr vor dem Zusammenbruch der DDR wirklich war, geht aus einer Analyse hervor, die im August 1988 der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, bei seinem Staatssekretär und Leiter der „Arbeitsgruppe Staats- und Wirtschaftsführung beim

1083

Ministerrat“, Harry Möbis, in Auftrag gegeben hatte. In dieser am 26. August 1988 abgelieferten Studie wird unmißverständlich und prägnant festgestellt: „Auf der Grundlage der volkswirtschaftlichen Leistungs- und Effektivitätsentwicklung konnte der Staatshaushalt die Ausgaben bis Anfang der 80er Jahre im Prinzip durch das planmäßig erwirtschaftete Reineinkommen decken. In den Folgejahren mußten im wachsenden Umfang Finanzierungsaufgaben des Staatshaushaltes über Kredite der Staatsbank (Kreditsystem) realisiert werden, weil das erwirtschaftete Reineinkommen nicht ausreichte. Ende 1987 betrugen die Verbindlichkeiten des Staatshaushaltes gegenüber dem Kreditsystem insgesamt 112,7 Mrd. Mark. Das sind 43 Prozent des Staatshaushaltsvolumens 1987. Die Finanzierung von Staatshaushaltsausgaben durch Kredit als Folge des nicht erwirtschafteten Reineinkommens wirkte sich negativ auf die Stabilität der Währung aus, weil dadurch der volkswirtschaftliche Geldumlauf in einem ökonomisch nicht gerechtfertigten Umfang erhöht wird“. Selbstverständlich wußte auch DDR-Finanzminister Höfner genau über die „Schieflage" des Staatshaushaltes Bescheid. Am 11. September 1986 übersandte er dem ZK-Sekretär für Wirtschaft, Mittag, eine „Information zum erreichten Stand der Ausarbeitung des Staatshaushaltsplanes 1987“. Darin heißt es: „Die mit den staatlichen Aufgaben 1987 einschließlich des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 20.5.1986 über Maßnahmen zur ökonomischen Stärkung der DDR festgelegten Einnahmen von 254,6 Mrd. Mark werden in Höhe von 5,4 Mrd. Mark nicht erreicht. Die festgelegten Ausgaben von 254,4 Mrd. Mark werden mit 1,3 Mrd. Mark überschritten. Gegenwärtiger Fehlbetrag für die Bilanzierung des Staatshaushaltes 6,7 Mrd. Mark. Damit wird deutlich, daß […] in der Leistungs- und Effektivitätsentwicklung … noch weitere Verbesserungen erreicht werden müssen, um die Finanzierung der festgelegten gesamtstaatlichen Aufgaben mit einem ausgeglichenen Staatshaushaltsplan zu sichern“. Unter Bezug auf diese Botschaft schreibt Mittag umgehend an Honecker und teilt diesem mit: „Bei der Vorbereitung des Staatshaushaltsplanes 1987 hat sich bei der Bilanzierung ein Problem in volkswirtschaftlicher Größenordnung ergeben. Genosse Höfner hat der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED das als Anlage beigefügte Schreiben übergeben. Daraus geht hervor, daß zur Bilanzierung des Staatshaushaltes 1987 ein Betrag von fast 7 Mrd. Mark fehlt. Bei einer solchen Größenordnung ist die Bilanzierung des Planes nicht möglich. […] Im Zusammenhang mit den Arbeiten an dieser Problematik wurde durch den Finanzminister erstmalig zusammengefaßt dargelegt, daß der Staatshaushalt der DDR gegenüber dem Kreditsystem Ende 1987 in einer Größenordnung von 113 Mrd. Mark verschuldet sein wird. Um auch künftig eine stabile Entwicklung der Staatsfinanzen und damit der Währung der DDR zu gewährleisten, schlagen wir vor, die Genossen Höfner und

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Kaminsky10 intern zu beauftragen, […] Vorschläge vorzulegen, wie eine stabile Entwicklung des Staatshaushaltes im Jahre 1987 und bis 1990 unterstützt werden kann“. Im Haushaltsjahr 1988 mußte die Staatskasse der DDR der Staatswirtschaft (ohne Land- und Nahrungsgüterwirtschaft) mit 20,5 Mrd. Mark an „Verluststützungen“ und Subventionen aushelfen, mußte zur Abdeckung der Verluste des staatlichen Außenwirtschaftsmonopols 24,1 Mrd. Mark übernehmen, mußte gegenüber 1987 zur Finanzierung der „Preisstützungssubvention für Güter des Grundbedarfs“ eine weitere halbe Mrd. Mark zuschießen (inzwischen erreichter Gesamtaufwand = 49,8 Mrd. Mark) und war gezwungen, bei der Staatsbank zur Stopfung der Haushaltslöcher weitere 10,3 Mrd. Mark Kredit aufzunehmen. Ungeachtet dieser Staatskrisen-Symptome erklärte ein knappes halbes Jahr vor dem Sturz der SED-Diktatur der Finanzminister Höfner bei der Vorlage der „Haushalts(ab)rechnung“ für 1988 vor den Abgeordneten der Volkskammer (8. Juni 1989): „Die vorliegende Haushaltsrechnung für das Jahr 1988 macht überzeugend deutlich, wie unsere Deutsche Demokratische Republik auf dem Kurs der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik [...] weiter vorangekommen ist. Trotz zusätzlicher Belastungen der Volkswirtschaft […] konnte auch 1988 ein ausgeglichener Staatshaushalt erreicht werden. Der im Gesetz über den Staatshaushaltsplan 1988 festgelegte Überschuß wurde gesichert und überboten“.

10 Kaminsky, Horst, geb. 20.3.1927 in Markranstädt (b. Leipzig), war seit 1974 Präsident der Staatsbank der DDR.

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3. Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR11 Von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt Die Zahlungsbilanzkatastrophe: Ende 1989 befand sich die DDR am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Diese Tatsache und der Umfang der Zahlungsbilanzkatastrophe konnten erst nach der Wende mit Original-DDR-Daten belegt werden. Dank der Geheimniskrämerei bei Wirtschaftsdaten im allgemeinen und Außenwirtschaftsdaten – vor allem der Zahlungsbilanz als höchstes Staatsgeheimnis – im besonderen, fehlten sie als letzter Beleg für die Existenzbedrohung der DDR. Unbeschadet dessen wurde allerdings im Westen vor allem auch der zu Beginn der achtziger Jahre einsetzende rapide ökonomische Niedergang kontinuierlich analysiert, und die Ergebnisse wurden auf den seit 1975 alljährlich im November im Berliner Reichstagsgebäude stattfindenden Symposien der Forschungsstelle für Gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert.12 Was sich aber im innersten Zirkel der Macht, dem Politbüro der SED, angesichts der eskalierenden wirtschaftlichen Probleme wirklich abspielte, blieb verborgen und wurde erstmals im Jahre 1992 im „Deutschland Archiv“ durch die verdienstvollen Gespräche von Hans-Hermann Hertle mit dem letzten langjährigen Chef der Staatlichen Plankommission (SPK), Gerhard Schürer, Kandidat und – nach der Wende – Mitglied des letzten Politbüros der SED, in eindrucksvoller Weise offenbart und von Jörg Roesler inzwischen vertieft.13 In diesem Zusammenhang dokumentierte das „Deutschland Archiv“ erstmalig eine geheime Politbürovorlage „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“.14 Diese Analyse hatte Egon Krenz mit dem Ziel, dem Politbüro am 31. Oktober 1989 ein „ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage“ vorlegen zu können, am 24. Oktober bei Schürer in Auftrag gegeben.

11 Gekürzt entnommen aus: Deutschland-Archiv, 28, 1995, S. 588-602. 12 Die Symposien wurden zusammen mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin und dem Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IGW) Erlangen veranstaltet. Die in den Medien vielbeachteten Ergebnisse wurden in der Reihe FS-Analysen der Forschungsstelle und zum Teil im Deutschland Archiv (DA) publiziert. Die Forschungsstelle wurde zum 31.12.1993 abgewickelt; DA, Heft 12/1992, S. 1298-1305 sowie S. 1318-1321 und DA, Heft 1/1994, S. 12. 13 DA, Heft 2/1992, S. 123-145 und Heft 10/1992, S. 1019-1038, sowie Roesler, Jörg: „Der Einfluß der Außenwirtschaftspolitik auf die Beziehungen DDR-Bundesrepublik. Die achtziger Jahre“, in: DA, Heft 5/1993, S. 558-572. 14 „Schürers Krisenanalyse“ (GVS b5 1158/89 vom 30.10.1989) in: DA, Heft 10, 1992, S. 11121120. Ein auszugsweiser Nachdruck dieses sensationellen Papiers erfolgte umgehend in: „Der Spiegel“, Nr. 44 vom 26.10.1992, S. 102-115. Die 10. Ausfertigung (b5-1155/89) des Vorabexemplars vom 27.10.1989 befindet sich als Dokument 731 in „Beschlußempfehlung und Bericht“ des 1. Schalck-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, Drucksache 12/7600 vom 27.5.1994, 3. Anlagenband, S. 3109-3119.

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Die Autoren unter Schürers Leitung waren: Außenhandelsminister Gerhard Beil, Finanzminister Ernst Höfner, Staatssekretär im Außenhandelsministerium, Leiter der Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) und „Offizier im besonderen Einsatz“ (OibE) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Alexander Schalck-Golodkowski sowie der Leiter der Zentralverwaltung für Statistik Arno Donda. Das düstere Szenario der Analyse gipfelte in dem Offenbarungseid: „Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 % erfordern und die DDR unregierbar machen. Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderliche exportfähige Endprodukt in dieser Größenordnung nicht aufzubringen“. Die Ursachen für diese Entwicklung wurden in dieser Analyse offenbar erstmalig vor dem Politbüro in „ungeschminktem“ Zusammenhang aufgelistet mit dem Fazit: „Es wurde mehr verbraucht, als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde zu Lasten der Verschuldung im NSW (Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet), die sich von 2 Milliarden Valutamark 1970 auf 49 Milliarden 1989 erhöht hat. Das bedeutet, daß die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruht, sondern zu einer wachsenden Verschuldung im NSW führte“. Die Autoren hatten in ihrer Analyse errechnet, daß zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit für die Jahre 1990 bis 1995 Exportüberschüsse in Höhe von insgesamt 44 Milliarden VM erzielt werden müßten. „Für einen solchen Exportüberschuß bestehen unter den jetzigen Bedingungen keine realen Voraussetzungen“. In ihren Schlußfolgerungen hielten die Verfasser eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR mit einer Wirtschaftsreform für erforderlich. Verblüffend war die Kooperation der „Zahlungsbilanzhüter“15 untereinander, selbst angesichts einer aussichtslosen Lage. Am 14. November 1989 schickten Schalck und die Stellvertreterin des Finanzministers Herta König an den Ministerratsvorsitzenden Hans Modrow eine „Gesamtfassung“ aller planmäßigen und außerplanmäßigen Forderungen und Verbindlichkeiten: „Dabei wird deutlich, daß die bisher dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission bekannte Verschuldung tatsächlich um 12,6 Milliarden VM geringer ist “.16 Mit gleichem Datum wurde auch Schürer darüber informiert. Ungeachtet der tatsächlich geringeren Nettoverschuldung in Höhe von 38 Milliarden VM oder 20,6 Milliarden US-Dollar stellten Schalck und König in ihrer Aufstellung fest, daß auch die bisher „geheimgehaltenen“ Guthaben und ihr vollständiger Einsatz 15 Unter der Leitung von Schürer tagte die ständige Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz seit 1982, ihre Aufgabe bestand darin, die Zahlungsbilanzsicherheit der DDR jeden Tag zu gewährleisten. Mitglieder dieser AG waren neben den genannten Autoren der Krisenanalyse (ohne Arno Donda) die Stellvertretende Finanzministerin Herta König und der Präsident der Deutschen Außenhandelsbank (DABA) Werner Polze. 16 Dokumentiert in: Bundestagsdrucksache 12/7600, a. a. O., Anm. 4, 3. Anlagenband, Dokument 733, S. 3121-3125.

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nicht ausreichten, „um die 1991/92 anfallenden Bargeldprobleme zu lösen“. Am 2. Dezember, unmittelbar vor seiner Flucht, teilte Schalck Modrow und dem Vorsitzenden der Parteikontrollkommission Werner Eberlein in einem Abschiedsbrief mit, daß nach seiner Auffassung die Zahlungsunfähigkeit Ende 1989 bzw. Anfang 1990 eintreten werde.17 Christa Luft, Modrows Stellvertreterin, zuständig für die Wirtschaft, bezifferte noch bis Ende November in bestem Glauben die Nettoverschuldung (Bruttoverschuldung abzüglich Guthaben) der DDR mit den bis dahin aller Welt bekannten 10 Milliarden US-Dollar. Sie mußte erst von „zwei langgedienten Ministerkollegen“ über den Wert der DDR-Guthaben aufgeklärt werden.18Über die wurde lange gerätselt.19 Die Kenntnis über die Zahlungsbilanzsituation der DDR basierte international auf den Statistiken der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel. Aus der für Ende 1989 ausgewiesenen Bruttoverschuldung von 33,3 Mrd. DM, abzüglich der ausgewiesenen Guthaben von 17,5 Mrd. DM, ergab sich eine rechnerische Nettoverschuldung von 15,7 Mrd. DM. Rechnete man die Verschuldung im innerdeutschen Handel in Höhe von 4 Mrd. Verrechnungseinheiten (DM) hinzu, ergaben sich 19,7 Mrd. DM, also reichlich 10 Mrd. US-Dollar, aber nicht 20 Mrd. US-Dollar, wie Schalck an Modrow berichtete. Aus einer Gekados (Geheimen Kommandosache) von Schürer, die der Krisenanalyse beigegeben war, geht hervor, daß die sogenannten Guthaben aus Einlagen von Ausländern (5,3 Mrd. VM), aus Umlaufmitteln von KoKo (2,7 Mrd. VM) sowie aus bereits vereinbarten, aber bis zum Einsatz angelegten Krediten (8,4 Mrd. VM) und Devisenguthaben von DDR-Bürgern (0,3 Mrd. VM) bestanden. Bei Informationen über Guthaben der DDR, die durch ausländische Banken oder Kreditinstitute erfolgten, würden alle diese Mittel als „Guthaben der DDR“ angesehen, da die tatsächlichen Quellen diesen Banken nicht bekannt seien; das heißt, allen diesen angeblichen Forderungen stünden auch Verbindlichkeiten in gleicher Höhe gegenüber. „Im Interesse der Notwendigkeit der Erhaltung der Kreditwürdigkeit ist eine absolute Geheimhaltung dieser Fakten erforderlich. Sie dürfen deshalb auch künftig nicht in die Abrechnung der Planungsbilanz einbezogen werden“.20

17 Ebenda, Dokument 749, S. 3525-3226. 18 Luft, Christa: Zwischen Wende und Ende, Berlin 1991, S. 81. Schürers Krisenanalyse fiel Christa Luft „durch einen Zufall“ im Sommer 1992 in die Hände. Treuhandreport Berlin 1992, S. 17. Hans Modrow erhielt aus dem DA, Heft 10/1992, davon Kenntnis. Gespräch mit der Verf. am 21.12.1994. 19 Hierzu ausführlich: Lösch, Dieter / Plötz, Peter: HWWA-Gutachten „Die Bedeutung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung für die Volkswirtschaft der DDR“, in: Bundestagsdrucksache 12/7600, Anhangband, a. a. O., Anm. 4, S. 3-158, hier S. 100-101. 20 Geheime Kommandosache b5-1156/89 vom 27.10.1989 zur Zahlungsfähigkeit der DDR (Zusatzinformation zur GVS „Analyse der ökonomischen Lage mit Schlußfolgerungen“), dokumentiert in: DA, Heft 10/1992, S. 1026. Die Bundesbank hatte die Nettoverschuldung der DDR im Juni 1990 mit 14,8 Mrd. $ beziffert. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juli 1989.

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Die Vogel-Strauß-Politik der siebziger Jahre: Wie es zu dem dramatischen Niedergang der DDR-Wirtschaft kam, ist inzwischen bekannt, wenn auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der nun zugänglichen Quellen noch immer in den Kinderschuhen steckt. Das ist zweifellos auch die Folge der rigorosen Abwicklung der Fachkompetenz in Ost und West nach der Wiedervereinigung.21 In Fortsetzung der Arbeiten von Hertle und Roesler sollen im folgenden weitere Hintergründe der wirtschaftspolitischen Entscheidungen oder Nichtentscheidungen und ihre Auswirkungen zusammengetragen werden. Zum Verständnis werden hier nur die wesentlichsten Ereignisse noch einmal in Erinnerung gerufen. Ausgangspunkt war der VIII. Parteitag der SED von 1971, der Beginn der Ära Honecker, dessen wichtigste Ergebnisse waren: 1. Die ideologische Abgrenzung zu Ulbricht, d. h. vor allem die Abkehr von den Reformen der sechziger Jahre. 2. Die Verkündung der ökonomischen Hauptaufgabe. Diese beinhaltete die weitere Erhöhung des Lebensstandards auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der Produktion, vornehmlich ab 1976 als ökonomische Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik propagiert. 3. Das Postulat einer wachstumsbetonten Außenwirtschaftsstrategie, die kreditfinanzierte technologieintensive Westimporte in der ersten Hälfte der siebziger Jahre vorsah. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sollte dann die aufgelaufene Verschuldung mittels einer Exportoffensive getilgt werden. Am Ende des Fünfjahrplans 1976 bis 1980 erwies sich diese Außenwirtschaftsstrategie als restlos gescheitert. Die erste Rohstoff-, vor allem Erdölpreisexplosion von 1973 mit ihren Rückwirkungen auf die, den Weltmarktpreisen zunächst nachhinkenden, Preise im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), die dadurch bedingten jährlich wachsenden Exporte von Fertigwaren zur Bezahlung von Erdöl und anderen Rohstoffimporten, die kreditfinanzierten Futtergetreide- und Konsumgüterimporte aus dem Westen, das anspruchsvolle sozialpolitische Programm mit dem Kernstück Wohnungsbau und schließlich die zweite Ölpreisexplosion 1979 hatten statt zum Abbau der Devisenverschuldung zu deren Verdoppelung geführt. Gleichzeitig war durch das jährlich teurer werdende Erdöl im RGW auch ein Passivsaldo gegenüber der Sowjetunion entstanden. Schürer charakterisierte die Situation bereits für 1978 mit den Worten: „Ende 1978 war der Schuldenberg schon so hoch, daß wir immer neue Kredite aufnehmen mußten, um die Zinsen bezahlen zu können“.22 Im November 1980 zog der damalige Vorsitzende der eingangs erwähnten Forschungsstelle Karl C. Thalheim auf dem 6. Symposium im Berliner Reichstagsgebäude das Fazit: „Die außen- und

21 Gutmann, Gernot / Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: „Abschied von der Forschungsstelle“, in: FS-Analysen, Heft 4/1993, S. 5-12. 22 DA, Heft 2/1992, S. 138. Cornelsen, Doris: „Bilanz des Fünfjahrplans 1976-1980“, in: 6. Symposium, FS-Analysen, Heft 5/1980, S. 49-50.

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binnenwirtschaftlichen Belastungen übersteigen in ihrer Gesamtheit die Wirtschaftskraft“ der DDR.23 Doch bereits 1973 hatte im Politbüro die Vogel-Strauß-Politik begonnen. Auf der 10. Tagung des ZK der SED vom 8. bis 10. November 1989 berichteten Günther Ehrensperger, Abteilungsleiter für Planung und Finanzen im ZK, und Gerhard Schürer über die vergeblichen Versuche, Honecker auf die drohenden Gefahren hinzuweisen. Eine von der Abteilung Planung und Finanzen zusammen mit dem Finanzminister ausgearbeitete „Auswirkungsberechnung“ der Rohstoffund Ölpreisentwicklung bis 1980, die bedeutende Schulden signalisierte, falls keine Kursänderungen vorgenommen würden, wurde im November 1973 Honecker von Werner Krolikowski, ZK-Sekretär für Wirtschaft, unterbreitet. Ehrensperger wurden daraufhin noch am gleichen Tag derartige Rechnungen und Ausarbeitungen untersagt. Das Material behielt Honecker ein, die Vernichtung der Unterlagen in der Abteilung mußte veranlaßt werden.24 Auf Grund der bereits 1978 einsetzenden akuten Zahlungsbilanzprobleme machte Schürer einen weiteren Vorstoß, nachdem er bereits 1977 zusammen mit Günter Mittag, Politbüromitglied und Nachfolger Krolikowskis als ZK-Wirtschaftssekretär, Honecker vergeblich auf den wachsenden Schuldenberg hingewiesen hatte. Schürer wurde 1978 nach seinen Angaben persönlich scharf kritisiert und verwarnt, er habe die Parteibeschlüsse durchzuführen. In der von Honecker organisierten und von Stoph unterschriebenen Stellungnahme des Ministerrats wurde den Vorschlägen der Plankommission zur Bewältigung des bereits alarmierenden Schuldenbergs entgegengehalten: „Die Staatliche Plankommission macht die Zahlungsbilanz zum Maßstab der Wirtschaftspolitik. Der Maßstab der Wirtschaftspolitik muß aber die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sein“.25 Immerhin charakterisierte Honecker auf dem 11. Plenum des ZK der SED nach der zweiten Erdölpreisexplosion im Dezember 1979 (dem sogenannten Außenhandelsplenum) die Entwicklung nicht nur als „eine weitere Verschärfung der ohnehin komplizierten Situation“, sondern als „neue Lage“.26 Die in der „Direktive zum neuen Fünfjahrplan bis 1985“27 veröffentlichten Fünfjahrplanziele ergaben, daß mit nie dagewesener Dringlichkeit die Volkswirtschaft außenwirtschaftlichen Zwängen untergeordnet wurde. Honeckers Forderung auf dem X. SED-Parteitag im Jahre 1981:

23 Weertz, Peter: „Ratlose Planwirtschaft“, in: Die Welt vom 22.11.1980. 24 Protokoll der 10. Tagung des ZK der SED, 8.-10.11.1989, BStU ZA Sekretariat des Ministers (SDM) 289, S. 117. 25 Ebenda, S. 116-117. 26 Neues Deutschland vom 14.12.1979. 27 Neues Deutschland vom 18./19.4.1981, S. 3-8.

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„Die Sicherung des Erreichten auf materiellem und kulturellem Gebiet sowie seine Mehrung verlangen einen volkswirtschaftlichen Leistungsanstieg wie nie zuvor“.28 Der Beginn der Götterdämmerung: Tatsächlich wurde 1981 das hohe jährliche Handelsbilanzdefizit erstmals seit 1974 sichtbar verringert, dennoch blieben die Planziele unerreicht.29 Die Zahlungsbilanz blieb weiter zerrüttet. Die DDR näherte sich, wie auf dem 7. Symposium der Forschungsstelle Ende 1981 resümiert wurde, „zielsicher den Grenzen ihrer internationalen Kreditwürdigkeit“.30 Diese Grenzen waren tatsächlich erreicht. Um die Jahreswende 1981/82 geriet die DDR in den Sog der Vertrauenskrise der internationalen Banken, ausgelöst durch die Zahlungsschwierigkeiten von Polen und Rumänien. Das bedeutete ab 1982 faktisch einen Kreditstop auch für die DDR. Gleichzeitig kürzte die SU die vertraglich vereinbarten Erdöllieferungen, in Höhe von 19 Mio. t jährlich (rd. 85 v. H. der Gesamterdölimporte der DDR) bis 1985, auf 17 Mio. t jährlich ab 1982. Die nun beginnende Götterdämmerung charakterisierte Schürer 1993 mit den Worten: „1981 war die Westverschuldung zu einer Katastrophe geworden. Und in diese Situation hinein sind dann auch noch Probleme gekommen – die UdSSR hatte die Erdöllieferungen von 19 auf 17 Millionen Tonnen gekürzt, wir konnten aber ohne diese zwei Millionen Tonnen nicht auskommen und mußten deshalb große Strukturveränderungen vornehmen – so daß sich alles gebündelt hat in ein Knäuel von Sorgen und Ausweglosigkeit. Das war einer der Punkte, wo man fragen mußte, wie geht’s weiter in der DDR ….31 Nach zwei brieflichen Interventionen von Honecker bei Breshnew zur Abwendung der Kürzung überbrachte am 21. Oktober 1981 der Sekretär des ZK der KPdSU, Russakow, den definitiv abschlägigen Bescheid mit dem Hinweis, daß Breshnew geweint habe, als er ihn unterschrieb.32 Honecker legte an Hand ausführlicher Berechnungen dar, daß die Lieferkürzung fast nicht zu bewältigen sei und bat schließlich um Übermittlung der Frage an Breshnew: „ob es 2 Millionen 28 Bericht des ZK der SED an den X. Parteitag, in: Neues Deutschland vom 12.4.1981, S. 3. 29 Haendcke-Hoppe, Maria: „DDR-Außenhandel unter dem Zwang zum Erfolg“, in: DA, Heft 3/1982, S. 262-269. 30 Gutmann, Gernot: „Die DDR-Wirtschaft zum Beginn der 80er Jahre“, in: 7. Symposium, FSAnalysen-Heft 8/1981, S. 23-24. 31 Interview in der ARD-Fernsehserie: Das war die DDR, Teil 2, „Von der Zone zum Staat“, 10.10.1993, 22:35 Uhr. Abgedruckt im Begleitheft zur Serie, MDR (Hrsg.), Berlin 1993, S. 17. 32 Anlage zum Protokoll der Politbürositzung vom 27.10.1981 „Niederschrift über das Gespräch des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, mit dem Sekretär des ZK der KPdSU, Genossen Konstantin Viktorowitsch Russakow am 21. Oktober 1981“. SAPMO BArch ZPA J IV 2/2A 2431/31, S. 29-30. Protokollant dieses Gespräches war Günter Sieber, Abteilungsleiter im ZK für internationale Verbindungen. Er berichtet außerordentlich plastisch darüber: „Ustinov tobte, Gorbatschow schwieg“, in: Zimmermann, Brigitte / Schütt, Hans-Dieter (Hrsg.): Ohnmacht – DDR-Funktionäre sagen aus, Berlin 1992, S. 231-232.

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Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu destabilisieren und das Vertrauen unserer Menschen in die Partei- und Staatsführung zu erschüttern“. Russakows Antwort hätte die Partei- und Staatsführung der SED damals alarmieren müssen: „Genosse Leonid Iljitsch hat mich beauftragt, dem Politbüro der SED mitzuteilen, in der UdSSR gibt es ein großes Unglück. Wenn Ihr nicht bereit seid, die Folgen dieses Unglücks mit uns zu tragen, dann besteht die Gefahr, daß die Sowjetunion ihre gegenwärtige Stellung in der Welt nicht halten kann, und das hat Folgen für die ganze sozialistische Gemeinschaft“. Die ökonomische Misere der UdSSR, wozu u. a. auch mehrere Missernten gehörten, sowie die wachsende Auslandsverschuldung geboten dringend, mehr Erdöl auf dem Weltmarkt gegen harte Devisen zu verkaufen und dafür die Lieferverpflichtung gegenüber den RGW-Partnern, die den Löwenanteil der sowjetischen Ölexporte erhielten, einzuschränken. Diese Situation war auch Ursache für die restriktive Kreditpolitik der internationalen Banken ab 1982. Die bis dato unterstellte „Regenschirmtheorie“, die beinhaltete, daß die UdSSR denjenigen RGW-Ländern, die in Zahlungsbilanzschwierigkeiten gerieten, helfen würde, hatte sich nicht bestätigt. Schürer berichtete im November 1989 dazu: „Ende Juni 1982 entwickelte sich international ein Kreditboykott gegenüber der DDR. Der Vorsitzende des Ministerrates, Genosse Willi Stoph, unterstützte die Staatliche Plankommission und forderte, ich zitiere ‚einschneidende Maßnahmen zur Änderung der Wirtschaftspolitik’. Genossen Stoph wurde im Politbüro geantwortet von Genossen Honecker: ‚Die Worte über einschneidende Maßnahmen wollen wir hier nie wieder hören’“.33 Dennoch gelang während einer Galgenfrist die Gratwanderung am Abgrund, allerdings weiter zu Lasten der ökonomischen Substanz. Statt dringend erforderlicher Modernisierungen wurden die knappen Investitionsmittel vor allem von der überstürzten Ablösung des Erdöls durch Braunkohle, der tieferen Spaltung von Rohöl, dem milliardenschweren Mikroelektronikprogramm und wachsenden Rüstungslasten (Nato-Doppelbeschluß) verschlungen. Westexporte wurden um jeden Preis, vor allem auch zu Lasten der Versorgung, getätigt. In Ermangelung von wettbewerbsfähigen Fertigerzeugnisse für den Westexport waren Mineralölprodukte zum Devisenbeschaffer Nr. 1 geworden; mit ihnen konnte bis zu einem Drittel der Devisenerlöse im Westhandel erwirtschaftet werden. Westimporte wurden dagegen bis zur Schmerzgrenze gedrosselt. Die Öffnung der Kreditmärkte gelang aber erst wieder durch die beiden von Franz Josef Strauß eingefädelten Finanzkredite in den Jahren 1983 und 1984 in Höhe von je einer Mrd. DM. Nach Aussagen von Krolikowski erfuhr das Politbüro davon 1983 erst aus der Westpresse.34

33 Protokoll der 10. ZK-Tagung, a. a. O., Anm. 14, S. 117. 34 Roesler, Jörg, a. a. O., Anm. 3, S. 505. Zum damaligen „Krisenmanagement“ Maria Haendcke-Hoppe: „Die DDR-Außenwirtschaft am Beginn der Fünfjahrplanperiode 1986-1990“, in: DA, Heft 1/1987, S. 49-55.

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Durch die rigorose Importdrosselungspolitik und das waghalsige, weil preisempfindliche „Notexportprogramm“ von Mineralölerzeugnissen gelang es, die Verschuldung bis 1986 konstant bei 28 Mrd. VM zu halten.35 Der Absturz: Der XI. und letzte Parteitag der SED im April 1986 trug dem dramatischen Ablauf der vergangenen fünf Jahre mit dem Postulat Rechnung, bis 1990 alle Kräfte darauf zu konzentrieren, die „ökonomische Unangreifbarkeit der DDR weiter zu festigen“ und „den handelspolitischen Spielraum“ zu erweitern. Doch bereits zum Zeitpunkt der Verkündung war eine Lawine ins Rollen gekommen, die dieses Postulat konterkarierte. Denn durch den Zusammenbruch des Erdölpreises und damit auch der Preise für Erdölerzeugnisse auf dem Weltmarkt seit der Jahreswende 1985/86 büßte die DDR allein 1986 rd. 1,5 Mrd. US-Dollar an Devisenerlösen aus dem Export der Mineralölprodukte ein. Ersatzexportgüter gab es jetzt noch weniger als 1981, durch nun rückläufige Exporteinnahmen und weiter steigende Importausgaben nahm die Verschuldung rasch zu. Dennoch blieb wirtschaftspolitisch alles beim Alten. Ehrensperger und Schürer berichten von weiteren erfolglosen Vorstößen bei Honecker, um die Spirale der Verschuldung aufzuhalten.36 Dabei wurden laut Schürer und Ehrensperger auf der November-Tagung des ZK 1989 derartige Beratungen seit 1977 nur im sogenannten „kleinen Kreis“ oder „Kreis der besonders für die Wirtschaft verantwortlichen Genossen des Politbüros“ durchgeführt, der sich unterschiedlich aus 10 bis 15 Teilnehmern zusammensetzte. Die mit Wirtschaft befaßten Politbüromitglieder wie Stoph, Kleiber, Mittag, Felfe und Krolikowski sowie Schürer waren ständig dabei. Schürer berichtet dann von seinem letzten „massivsten“ Vorstoß für eine Kursänderung: Er übersandte Honecker im April 1988 „Überlegungen zur weiteren Arbeit am Volkswirtschaftsplan 1989 und darüber hinaus“ mit der Bitte um ein persönliches Gespräch.37 Honecker ließ, ohne Gespräch mit Schürer, die „Überlegungen“ von Mittag überprüfen und im Politbüro durch dessen Vorlage abschmettern: „Die gesamte Arbeit zeigt, daß es von entscheidender Bedeutung ist, daß der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission und alle Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission konsequent von den Beschlüssen der Partei ausgehen und sie zur festen Grundlage der Arbeit machen, daß entsprechend den Beschlüssen die Qualität der Arbeit entschieden erhöht wird, die politisch-ideologische Arbeit allseitig entwickelt wird und die fachliche Weiterbildung erfolgt. In der Staatlichen Plankommission sind 2000 Mitarbeiter beschäftigt, darunter 1768 Genossen. Die Konzentration der Arbeit auf die Durchführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik erfordert, Vorschläge zu unterbreiten, wie die gesamte Arbeit in Zukunft organisiert und so gestaltet wird, wie das in den Orientierungen im Referat des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, in

35 „Schürers Krisenanalyse“, a. a. O., Anm. 4. 36 Protokoll der 10. ZK-Tagung, a. a. O., Anm. 14, S. 99 und 117-118. 37 BStU ZA, Arbeitsbereich (Arbb.) General Mittig 148.

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der Beratung mit den 1. Kreissekretären am 12. Februar 1988 zum Ausdruck kommt“.38 Erst auf Drängen von Stoph erhielten die Politbüromitglieder danach auch die „Überlegungen“ Schürers.39 Diese Verhaltensweise Mittags angesichts der gerade auch ihm bewußten katastrophalen Lage macht es schwer, seine 1991 erschienene „Rechtfertigung“ als Quelle heranzuziehen, da sie in erster Linie Schuldzuweisungen enthält und der eigenen Reinwäsche dienen sollte. Angesichts des oben zitierten Verhaltens ist seine spätere Feststellung – „Für die Verwirklichung ökonomischer Aufgaben im strengsten Sinne des Wortes fehlte sowohl vor 1971 als auch danach jegliche politisch-geistige Atmosphäre“40 – blanker Zynismus, denn gerade er hatte über zwei Jahrzehnte diese Atmosphäre maßgeblich geprägt; berüchtigt war sein Umgangston auf den Seminaren mit den Generaldirektoren der Kombinate während der Leipziger Messen.41 Inzwischen bekannt sind seine direkten Eingriffe in die Planung und in die statistische Berichterstattung, die Arno Donda, der auf Mittags Geheiß ab Mitte der siebziger Jahre nicht mehr öffentlich auftreten durfte, folgendermaßen zusammengefaßt: „Das unreale Bild der Lage wurde zum Prinzip, die Nichtvergleichbarkeit der aufgeführten Dinge machte diese Art von Statistik undurchschaubar und unbrauchbar“.42 Mittags Monopolstellung in Sachen Ökonomie, gekoppelt mit der „Parteidisziplin“ der übrigen wirtschaftssachverständigen Politbüromitglieder – Schürer war ja bis zur Wende lediglich Kandidat – hat dazu geführt, daß eine abenteuerliche Wirtschaftspolitik in einer solchen Katastrophe enden konnte. Schürer ist es hoch anzurechnen, daß er auf der 10. Tagung des ZK im November 1989 als einziger erklärte: „daß ich schon vorher, besonders aber nach Abberufung der Genossen Erich Honecker und Günter Mittag, die Verantwortung voll auf meinen Schultern habe“.43 Obwohl „Schürers Krisenanalyse“ vom 31. Oktober 1989 die erste „ungeschminkte“, Ursachen und Wirkung im Zusammenhang auflistende Darstellung vor dem Politbüro in voller Besetzung war, bleibt es Tatsache, daß alle Mitglieder des Politbüros auf Grund der monatlichen Vorlagen Schürers über die eskalierende Zahlungsbilanzsituation informiert waren.44 Die Ereignisse im Spiegel von MfS-Akten: „Schürers Krisenanalyse“ und ihre Hintergründe sind seit Oktober 1992 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Umso verblüffender, aber bezeichnend für stasilüsternen Journalismus ist, daß zwei Jah-

38 Mittag-Vorlage, ebenda. 39 DA, Heft 2/1992, S. 127-138 sowie Protokoll der 10. ZK-Tagung, a. a. O., Anm. 14, S. 118. 40 Mittag, Günter: Um jeden Preis, Berlin 1991, S. 347. 41 Janson, Carl-Heinz: Totengräber der DDR, Düsseldorf, Wien, New York 1991, S. 119-125. 42 Donda, Arno: „Zahlen lügen nicht“, in: Brigitte Zimmermann, a. a. O., Anm. 22, S. 30-32. 43 Protokoll der 10. ZK-Tagung, a. a. O., Anm. 14, S. 118. 44 A. a. O., Anm. 10, S. 1036.

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re später Zitate und Daten aus Teil I der Analyse in mehreren Zeitungen zum „gerade aufgefundenen geheimen Stasipapier“ mutierten. Dieses Papier entpuppte sich als auf drei Seiten zusammengeschnippelte Kurzfassung von Teil I der Originalpolitbürovorlage. Als eigener Beitrag des MfS dazu existiert allerdings eine Stellungnahme der Hauptabteilung (HA) XVIII, die für die „Sicherung der Volkswirtschaft“ zuständig war. Von den zuletzt 13 Abteilungen der HA XVIII waren elf entsprechend der volkswirtschaftlichen Struktur einschließlich der Außenwirtschaft gegliedert und für die zentralen wirtschaftsleitenden Organe zuständig. Lediglich dem Wirtschaftsbereich Verkehr war eine eigene Diensteinheit zugeordnet, die HA XIX. Ab 1983 bestand auch für den Außenhandelsbereich Kommerzielle Koordinierung von Schalck eine eigene Diensteinheit, die Arbeitsgruppe (AG) BKK. Die HA XVIII, geleitet von Generalleutnant Alfred Kleine, war dem Arbeitsbereich des 1. Mielke-Stellvertreters und ZK-Mitgliedes, Generaloberst Rudolf Mittig, zugeordnet. Ende Oktober 1989 gehörten ihr 646 hauptamtliche Mitarbeiter, darunter 111 OibE (Offiziere im besonderen Einsatz), an. Die Anzahl der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) betrug 2.150.45 Zusammen mit den Abteilungen XVIII der Bezirksverwaltungen (BV) des MfS mit über 1.050 Hauptamtlichen und den Wirtschaftsreferenten der 211 Kreisdienststellen (KD) sowie sechs Objektdienststellen (OD) in besonders wichtigen Kombinaten bildeten die Diensteinheiten der HA die „Linie“ XVIII. Damit waren von der zentralen Ebene über die Bezirks- bis auf die Kreisebene alle volkswirtschaftlichen Prozesse erfaßt. Schwerpunkt waren dabei die ab Ende der siebziger Jahre gebildeten über 300 zentral- und bezirksgeleiteten Kombinate. Die Hinterlassenschaft der HA XVIII beläuft sich im Zentralarchiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) auf über 700 Aktenmeter. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich in erster Linie auf Reflexion der ökonomischen Situation der achtziger Jahre in diesen Akten. „Das Schiff geht an den Baum“: Zur prekären Ausgangssituation für den Fünfjahrplan 1981 bis 1985 berichtete nach der Wiedervereinigung der ehemalige Abteilungsleiter der HA XVIII, 4 Oberst Horst Roigk. Die Abteilung 4 war die volkswirtschaftliche Kernabteilung der HA, zuständig für die wichtigsten zentralen wirtschaftsleitenden Organe, darunter Staatliche Plankommission, Finanzministerium, Ministerium für Materialwirtschaft, Staatsbank- und Zentralverwaltung für Statistik. Zu diesem Bereich gehörten 12.000 Beschäftigte, darunter nach Roigks Angaben 6.500 bis 7.000 Geheimnisträger,46 die wie auch in allen anderen Bereichen permanenten Sicherheitsüberprüfungen unterlagen. 45 Dokumentation zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Bürgerkomitee Berlin AG 4, Information vom 23.1.1990, S. 4. Für die Anzahl der OibE. BStU, ZA HA XVIII 550. 46 „Dr. Horst R., Jahrgang 1931, ehem. Oberst des MfS Hauptabteilung XVIII“, in: Karau, Gisela: Stasiprotokolle, Frankfurt am Main 1922, S. 20-34, hier 26-27.

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Roigk erhielt mit drei weiteren Mitarbeitern nach nochmaliger zusätzlicher Vergatterung zum Stillschweigen, den Auftrag, eine Ausarbeitung über die Lage der Volkswirtschaft der DDR zu erstellen, „angeblich“ als Vorbereitung für die Direktive 1981 bis 1985 zum X. Parteitag. Alle Materialien stünden ihnen zur Verfügung, und sie sollten sich diese auch selbst besorgen. Regierungsdokumente dürften eingesehen werden, „und wenn mir jemand was nicht freiwillig gegeben hat, hab ich’s mir nachts geholt“. Roigk fühlte sich dazu von der Regierung legitimiert, da die Abwehr auch für die Kontrolle über die sichere Aufbewahrung von Staatsgeheimnissen zuständig gewesen sei. „Und dann haben wir einen Schrecken gekriegt. Nach einer Woche wußten wir, daß die Volkswirtschaft der DDR am Zusammenbruch war. Schon 1980. So, dann haben wir alles aufgeschrieben und, wie es beim MfS üblich ist, herausgearbeitet, wer schuld dran ist. Da gab’s bei uns einen Hauptschuldigen, der hieß Mittag, der zweite hieß Schalck-Golodkowski. Das haben wir geschrieben. Unser General (gemeint ist Kleine, d. Verf.) ist blaß geworden. Ob wir das denn vertreten können“. Alles Material mußte abgegeben werden. Mielke habe es mit großem Interesse gelesen. Die Reaktion war: „Was wir noch in der Partei zu suchen hätten, Leute mit so ’ner politischen Verantwortungslosigkeit können nicht solche Funktionen bekleiden“. Zwei der Mitarbeiter schworen dann wegen der Anmaßung, Mittag kritisiert zu haben, ab. Roigk tat dies nach seinen Angaben nicht. Offensichtlich wollte Mielke sich wegen der verschwommenen Diskussionen im Politbüro von den eigenen Leuten aufklären lassen. Angesichts des gar nicht „parteilichen“ Ergebnisses reagierte er wie Honecker auf die Prognosen von Ehrensperger zur Preisexplosion bei Rohstoffen im Jahre 1973. Unmittelbar nachdem am 22. Oktober 1981 im Politbüro die definitive Kürzung der Öllieferung aus der SU bekannt geworden war, gab Mielke die Anweisung, eine Gegenüberstellung der Auswirkungen des Importes von einer Mio. t Erdöl oder alternativ 300 Mio. m3 Erdgas zu machen. Am 19. November wurde das Ergebnis von Kleine präsentiert. Die beigefügte „Information“ enthält den Bericht über die Lösungsvarianten in der Staatlichen Plankommission. Einleitend heißt es: „Durch zuverlässige inoffizielle Quellen wurde erarbeitet, daß gegenwärtige Vorschläge zum Problem der Verringerung von Energieträgern aus der UdSSR unterbreitet werden, die hohe volkswirtschaftliche Belastungen mit sich bringen“.47 Die Information schließt: „Diese Vorschläge und Berechnungen sind in der Staatlichen Plankommission in einem internen Kreis vorgenommen und dem Kandidaten des PB, Genossen Schürer, übergeben worden. Weitere Abstimmungen sind bisher nicht erfolgt. Die inoffiziellen Quellen schätzen ein, daß diese Vorschläge und Berechnungen dem Politbüro zur Kenntnis gegeben werden und der Genosse Schürer erneut beauftragt wird, eine Abstimmung mit den führenden Genossen in der UdSSR vorzunehmen“.

47 BStU, ZA HA XVIII, 5714.

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Am 10. Februar 1982 informierte der OibE Zetsche,48 Sicherheitsbeauftragter in der Plankommission, „daß der gesamte Bedarf der NVA an Munition M 34 für das Jahr 1982 von ca. 32 Mio. Schuß durch den Bereich des Genossen Schalck exportiert wird“. Dazu sollte eine Planmanipulation erfolgen, die nach Meinung des OibE-Kollegen aus der HA I (Militärproduktion) der SPK planwidrig sei und die „ökonomische Entwicklung vertusche“. Genosse Kleiber habe die Senkung der Staatsplanauflage um die 32 Mio. Schuß gefordert. Andererseits würden nach Angaben des Leiters der HA I im Ministerium für Allgemeinen Maschinenbau (MALF) die 32 Mio. Schuß produziert, exportiert und als Planüberfüllung abgerechnet. Dafür erhalte das Ministerium einen Teil der erzielten Devisen. Diese Information illustriert gleich dreierlei: Westexport um jeden Preis auch im sensibelsten Bereich des eigenen Bedarfs, den Informationsfluß durch OibE und groteske Planmanipulationen. Die durch Kreditstop und Ölkürzung dem Kollaps nahe Situation im Jahre 1982 charakterisiert auch der handschriftliche Treffbericht des IM „Marbach“ vom 27. Mai 1982 aus dem gleichen Bereich des MALF:49 „… der Stellvertretende Minister, Gen. Dr. St. …, vertritt voll die Meinung, daß das ‚Schiff’ (Volkswirtschaft der DDR) an den Baum geht, da die ökonomischen Dinge derart durcheinandergeraten sind, daß sie unüberschaubar sind und damit ökonomisch in der DDR die gleichen Probleme entstehen wie in der VR Polen“. Und weiter, der Sektorenleiter M. … sei der Meinung, „daß das Planungssystem der DDR und der ‚Sojus’ (Sowjetunion) so mangelhaft ist, daß sie zwangsläufig zu einem Zusammenbruch führen müssen. … nach seiner Auffassung werden die Probleme mit dem Ableben von Gen. Breshnew Klarheit bringen …“. Der IM listete dann in zehn Punkten die Meinungen unter den mittleren und leitenden Kadern, denen er sich ausdrücklich anschloß, auf: so u. a., „das Bilanzsystem der DDR ist nicht mehr überschaubar, … die Verantwortlichkeit der Leiter auf den Wirtschaftsebenen nicht mehr klärbar, die ökonomischen Verluste nicht mehr bestimmbar, … die Unsicherheit der Leiter nimmt zu“. – Dem IMBericht ist nachzutragen, daß die „subversiven“ Äußerungen dem stellvertretenden Minister offenbar nicht mehr geschadet haben, er blieb bis 1989 im Amt; wie es dem zitierten Sektorenleiter erging, ließ sich nicht überprüfen. Angesichts der Kriseneskalation richtete der Leiter der HA XVIII, Kleine, am 7. Dezember 1982 ein Schreiben an Mielke persönlich mit einer „Information, die das konzentrierte Ergebnis geprüfter Aussagen verantwortlicher Wirtschaftsfunktionäre, die sich vertrauensvoll an das MfS gewandt haben“, ist. Darin wird festgestellt: „Gegenüber den Volkswirtschaftsplänen vorangegangener Jahre enthält der Plan 1983 spezifische Besonderheiten und Risikofaktoren, deren Beherr-

48 BStU, HA XVIII 1908. 49 BStU, (ZA) HA XVIII 4288.

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schung auf das engste mit der Gewährleistung der inneren Stabilität und Sicherheit der DDR verbunden ist“.50 Auf 17 Seiten wird die Quadratur des Kreises der Planaufstellung 1983, Energieeinsparung, Verschuldung, Kreditstop, Versorgung der Bevölkerung dargelegt. Aus der 1983 im Vergleich zu 1982 noch um 4 Mrd. Mark größeren Angebotslücke für die Bevölkerung resultierte das Sicherheitsrisiko, „daß der Leistungswille negativ beeinflußt wird. Es wird ein sicherheitspolitischer Schwerpunkt für das gesamte Jahr 1983 sein, den Warenfonds, seine Bildung und Verwendung unter ständiger Kontrolle zu halten und notwendige operative Eingriffe im Risiko kalkulierbar zu machen“. Kleine sicherte Mielke im Anschreiben zu, „daß die in der Information genannten Schwerpunkte so unter operativer Kontrolle gehalten (werden), daß sicherheitspolitische Zusammenhänge vorbeugend beherrscht werden. – Die operativen Kräfte der Linie XVIII (inoffizielle Mitarbeiter/Gesellschaftliche Mitarbeiter und Sicherheitsbeauftragte) werden zielstrebig dazu eingesetzt, kurzfristige Lösungsvarianten für die genannten Schwerpunkte zu erarbeiten und an ihrer Umsetzung mitzuwirken“. Der rapide Verschleiß der Produktionsanlagen: Die Auswirkungen der Austerity-Politik zu Beginn der achtziger Jahre (Investitionsverzicht, Importablösung, Streichung von Ersatzteilimporten) auf den Zustand der Produktionsanlagen, insbesondere der schon immer vernachlässigten Konsumgüterindustrie, illustriert eine streng geheime „Information“51 des MfS mit Verbesserungsvorschlägen vom 6. August 1986 über die verheerenden Zustände in der fleischverarbeitenden Industrie. In der gesamten Volkswirtschaft führte die sprunghaft zunehmende Überalterung der Produktionsanlagen zu wachsenden Stillstandszeiten und Schadensfällen. Eine Übersicht aus der HA XVIII über das Schadensgeschehen, d. h. sogenannte Havarien und Brände, von 1984 bis 1987 (April) zeigt einen nur teilweise durch den strengen Winter 1986/87 bedingten explosionsartigen Anstieg der Summen der Sachschäden über eine Mio. Mark. Havarien und Brände Jahr Anzahl Summe in Mio. Mark

1984

1985

1986

8

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19

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56

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50 BStU ZA HA XVIII 4694. 51 BStU ZA ZAIG 3535 Nr. 357/86.

1987 (Stand 15.4.1987) 8 508

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Für 1986 und 1987 (April) wird als Ursache für rd. 41 % aller größeren Schäden ab 100.000 Mark der Verschleiß von Maschinen und Anlagen angegeben. In 53 % der Fälle habe kein menschliches Versagen vorgelegen.52 „Unverständnis und Unglaube“: Über die Reaktionen in der Staatlichen Plankommission auf die von Mittag im Politbüro gerüffelten „Überlegungen“ Schürers vom April 1988 berichtet ein Gewährsmann der HA XVIII.53 Die Überlegungen seien „positiv, als konstruktiv und mutig bewertet“ worden. Unverständnis herrschte über die Vorwürfe gegen Schürer. „In diesem Zusammenhang wurde die Meinung geäußert, künftig werde wohl kaum ein leitender Funktionär noch den Mut aufbringen, derartige Vorschläge, die darauf gerichtet sind, Aufkommen und Verteilung in eine günstigere Relation zu bringen, zu unterbreiten“. Bei Beibehaltung derartiger „Tabus“ sei das Problem, einen realen, anspruchsvollen Plan 1989 vorzulegen, nicht zu lösen. Vermutlich von derselben Quelle in der Staatlichen Plankommission stammt ein Bericht über die Auswertung der Sitzung von Honeckers „kleinem Kreis“ vom 6. September 1988 „mit ausgewählten Leitungskadern“ in der SPK.54 Schürer habe den Mitgliedern des „kleinen Kreises“ als Geheime Verschlußsache eine Information zur Zahlungsbilanz übergeben, die nicht Gegenstand der Auswertung der Beratung sein sollte. Laut Bericht unterrichtete Schürer die Parteiführung über die wirklichen Probleme, so daß die Genossen jetzt wüssten, „daß wir einen Ausweg suchen müssen, der etwas umkehrt, etwas geändert werden muß“. Alle Teilnehmer des „kleinen Kreises“ (Mittag war übrigens nicht anwesend) hätten Vorschläge in die richtige Richtung gemacht, aber Größenordnungen in Zahlen seien nicht sichtbar geworden. Als Ursache der Probleme der Zahlungsfähigkeit seien wieder die Lieferkürzungen von Erdöl und Rohstoffen aus der SU beschworen worden. Schürer habe festgestellt, daß er sich seit März vergeblich bemühe, einen bilanzierten Plan zustande zu bringen. Die erste Reaktion der Teilnehmer an der Auswertung in der SPK sei Unverständnis darüber gewesen, daß der SU die Schuld an der komplizierten Lage gegeben wurde. Enttäuschung herrsche auch darüber, daß wieder keine konkreten Lösungen zur Debatte gestanden hätten. – „Einmal mehr Augenblicksaufgaben, die weder die ökonomische Wende noch die Lösung der Zahlungsprobleme herbeiführen“. Seine Empörung über die Plankommission äußerte ein hochkarätiger IM (Stellv. Minister) aus der Leichtindustrie im März 1989 im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen.55 Im Plan fehlten für rd. 100 Mio. VM Textilexporte in den Westen, die im zweiten Halbjahr aus der Inlandsversorgung abgezweigt werden

52 BStU ZA HA XVIII 6162. 53 Genossen Mielke persönlich, 7.6.1988, BStU ZA ZAIG 5252. 54 BStU ZA Arbb. Mittig 148. 55 BStU ZA HA XVIII 554.

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sollten – insgesamt eine Kürzung von 5 %. Da aber nur bestimmte Erzeugnisse der Gesamtposition für den Export in Frage kämen, seien „ernsthafte Versorgungsstörungen bei Hemden, Nachtwäsche, Oberbekleidung“ usw. im zweiten Halbjahr vorprogrammiert. Außerdem – in früheren Jahren undenkbar (d. Verf.) – sei eine 50prozentige Kürzung bei der Versorgung der stationierten Sowjetarmee vorgesehen, d. h. im zweiten Halbjahr ein Null-Angebot. Besonders brisant sei es, den Betrieben klarzumachen, daß ausnahmslos alle Zusatzverpflichtungen für die Versorgung nun für den Westexport bereitzustellen seien. Zur verzweifelten Gesamtlage äußerte sich am 22. August 1989 der nicht mehr aktive IM „Rosenthal“ aus dem Sekretariat des Vorsitzenden des Ministerrates, der um das Gespräch mit dem MfS gebeten hatte, weil er sich diesem weiter verbunden fühle und „um Probleme los zu werden, über die er nicht mit anderen Personen sprechen kann“.56 Er stellte fest, daß auch die Planung 1990 von vornherein unreal sei, da ihr als Ausgangsgröße die Planerfüllung 1989 zugrunde liege, was aber bei allen wesentlichen Kennziffern (Gewinn, NSW-Export oder Nettoproduktion) nicht der Fall sein werde. Zur Stimmung im Sekretariat Stophs berichtete er, daß einige Genossen (er nennt sieben Namen) in Diskussionen „sehr vertraulich in kleinstem Kreis, z. T. unter vier Augen“ die Meinung vertreten, daß Partei und Regierung Konzeptionen für Veränderungen finden müßten, weil Wege, die in der VR Polen und Ungarn beschritten würden, für die DDR indiskutabel seien. Nach harscher Kritik am Subventionsunwesen erklärte er, in den Gesprächen der Genossen werde „mehr und mehr Unglaube an der Realität, besonders der Wirtschaftspolitik“ geäußert. Die Nichtreaktion der Partei- und Staatsführung führe zu einer gewissen Lethargie in der Arbeit. Weiter berichtete er: Stoph habe mit der Begründung „sollen denn die Regale in den Geschäften leer bleiben“ die Reduzierung der Produktion nicht absetzbarer Oberbekleidung abgelehnt. Also werde weiter produziert, um Fertigprodukte dem Reißwolf zuzuführen. Schließlich informierte „Rosenthal“ noch darüber, daß nach Anfrage des Verlages aus der „Festschrift“ für Stoph zum 75. Geburtstag (Sammlung seiner Reden), mit dessen Einverständnis die Metapher „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ (aus seiner Rede von 1980) gestrichen werde. Diese Entscheidung habe Enttäuschung bei den Mitarbeitern hervorgerufen und werde als Unsicherheit der Partei- und Staatsführung in der Lagebewertung eingeschätzt. Am 27. Oktober 1989 hielt der Leiter der HA XVIII, Kleine, eine Beratung mit den Leitern der Linie XVIII ab, zu der bereits am 6. Oktober eingeladen worden war.57 Angesichts der veränderten Lage nach Honeckers Sturz und der Kenntnis des Krenz-Auftrages zu einer ungeschminkten Krisenanalyse, deren

56 BStU ZA HA XX/AKG 84. 57 BStU ZA HA XVIII 565 Bd. 4. Das 54seitige Referat ist dokumentiert bei Bastian, Uwe: Auf

zum letzten Gefecht. … Dokumentation über die Vorbereitung des MfS auf den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, Nr. 9/1994, Dokument 1.

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konkreter Inhalt Kleine zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt sein konnte, wurde das Programm offensichtlich verändert. Kleine hielt ein langatmiges, aber drastisches Referat zur ökonomischen Lage und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Arbeit mit der Begründung: „… daß die Leiter unserer Abteilungen sowohl der Linie als auch der Hauptabteilung mit bestimmten volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhängen vertraut sein müssen, um in der politisch operativen Arbeit auftretende Probleme jederzeit richtig einordnen zu können“. Kleine beschwor u. a. die Zahlungsfähigkeit als Existenzfrage des Sozialismus in der DDR, nannte aber keine konkreten Zahlen! Über die Wirkung von Kleines Referat kann nur spekuliert werden. Einerseits waren die Abteilungsleiter mit den ökonomischen Missständen bestens vertraut. Dennoch gehörten Gesamtzusammenhänge zumindest nicht zum offiziellen Wissen, auch nicht bei den leitenden Mitarbeitern. Es galt schließlich das Prinzip „strengster Konspiration“, jeder hatte nur soviel zu wissen, wie er für seine Arbeit unbedingt brauchte. Schlußbetrachtung: Die ausgewählten Begleitdokumente zur ökonomischen Talfahrt der DDR in den achtziger Jahren sind nur ein winziger und nicht repräsentativer Ausschnitt der HA XVIII, dennoch illustrieren sie folgendes: 1. Den permanenten offiziellen und inoffiziellen Informationsfluß aus den zentralen wirtschaftsleitenden Organen. Trotz noch sehr lückenhaften Erkenntnisstandes kann festgestellt werden, auf Grund des parallelen Aufbaus der Linie XVIII zur Volkswirtschaftsstruktur wurde ein Spiegelbild von der Planaufstellung bis zum Planvollzug überliefert. 2. Die makroökonomischen Primärinformationen einschließlich Zahlungsbilanzdaten gelangten sowohl vom Politbüromitglied Mielke in die Leitung der HA XVIII als auch durch offizielle Informationen aus den Ressorts. Informationen von IM und OibE duplizierten, ergänzten, vertieften und übermittelten die Stimmung. 3. Die Berichte der IM zeigen die Ventilfunktion der MfS-Führungsoffiziere auf; denn es wurden Probleme und Kritiken abgeladen, die anderswo nicht laut werden durften. Das taten auch die offiziellen Gesprächspartner, etwa die Minister. Ex-Abteilungsleiter Roigk dazu: „Ich weiß nicht, wie oft manche (Minister, d. Verf.) bei mir ihr Herz ausgeschüttet haben“.58 4. Die Berichte vermitteln auch eine Erwartungshaltung, das MfS könne etwas ändern. Letzteres führt zu der häufig gestellten Frage, warum hat das MfS angesichts einer Kenntnis vom Verfall der Wirtschaft nichts unternommen? Soweit das wirtschaftspolitische Entscheidungen betraf, hatte es aber dazu fast gar keine Kompetenz. Seine ureigene Aufgabe bestand in der „konsequenten“ Durchsetzung der vom Politbüro beschlossenen Wirtschaftspolitik, selbst wenn diese alles andere als

58 „Dr. Horst R.“, a. a. O., Anm. 36, S. 20.

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konsequent war. Entsprechend lauteten die jeweiligen zentralen Planvorgaben Mielkes für die mittel- und kurzfristigen Einzelpläne der Diensteinheiten, so z. B. für 1986 bis 1990: „Durch die politisch-operative bzw. fachliche Arbeit aller Diensteinheiten des MfS ist die störungsfreie und konsequente Durchsetzung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED zur weiteren Verwirklichung der ökonomischen Strategie und zur Fortführung des Kurses der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik auch unter den anhaltenden und komplizierten außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Bedingungen maximal zu unterstützen. Es gilt, diese Politik vor jeglichen feindlichen Angriffen und anderen gegnerischen Störaktivitäten umfassend und zuverlässig zu schützen“.59 Für diesen „umfassenden und zuverlässigen Schutz“, die sogenannte Einheit von Feindbekämpfung, Schadensvorbeugung und -verhinderung, wurde der geballte Machtapparat eingesetzt. Das MfS hatte die „Suprematie im Kontrollbereich“ (Gilles/Hertle). Es durchsetzte die vielfältigen systembedingten Kontrollsysteme auf allen Ebenen.60 Stellvertretend dafür sei die Arbeitsgruppe „Organisation und Inspektion“ beim Ministerrat genannt. Deren Leiter, Staatssekretär Harry Möbis, war OibE der HA XVIII und führte weitere 25 OibE dieses obersten staatlichen Kontrollorgans der Wirtschaft.61 Aber diese Kontrolle mit dem wichtigsten spezifischen Instrumentarium, dem engmaschigen IM-Netz, war zur Bekämpfung der vornehmlich durch Verschleiß und nicht etwa durch Sabotage bedingten, ständig schlechter werdenden Produktionsbedingungen wenig tauglich.62 Angesichts der innenpolitischen Entwicklung und des obersten Gebotes der Ruhe in den Betrieben verschoben sich auch die spezifischen Aufgaben der Linie XVIII und konzentrierten sich immer stärker auf Ausreisewillige und oppositionelle Strömungen. So schließt der Jahresplan 1989 des Leiters der HA XVIII mit der Forderung nach noch mehr Bespitzelung. Angesichts der massiven Probleme beim Vollzug des Volkswirtschaftsplanes 1989, der damit verbundenen Versorgungsprobleme und im Zusammenhang mit der zunehmenden „politisch-ideologischen Diversion (sind) die Reaktionen unter den Werktätigen verstärkt hinsichtlich Erscheinungen zu analysieren und auszuwerten, die besondere sicherheitspolitische Bedeutsamkeit signalisieren und umgehend territoriale und zentrale Maßnahmen erfordern“.63 In diesem Zusammenhang ist die ablehnende Haltung der HA XVIII zu einem weiteren dubiosen Müllgeschäft mit der Stadt Hamburg im Rahmen des innerdeutschen Handels in Höhe von 6 Mio. DM aufschlussreich. Schalck hatte im Mai

59 BStU, DK, GVS, MfS 0008-41/86, Bd. 1. 60 Gilles, Franz-Otto / Hertle, Hans-Hermann: Überwiegend Negativ, FU Berlin, Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung, Berliner Arbeitshefte, Nr. 92, Oktober 1992. 61 BStU ZA HA XVIII 5380. Die Arbeitsgruppe leitete ihrerseits die Sicherheitsbeauftragten in der Wirtschaft, die, soweit hauptamtlich tätig, OibE der Linie XVIII waren. 62 Gilles/Hertle, a. a. O., Anm. 50, hier S. 9. 63 BStU ZA HA XVIII 5519.

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1989 Mielke in einem Schreiben um Prüfung der „Transportvariante“ nach der Deponie Schöneiche und um Zustimmung gebeten.64 Die HA XVIII fürchtete das Sicherheitsrisiko, weniger das Umweltrisiko: Das durch „feindliche negative Kräfte“ sensibilisierte Umweltdenken hätte angesichts des täglichen Transportaufkommens von 50 Müll-Fahrzeugen zur Deponie Schöneiche/Zossen zu negativen Reaktionen führen können. Es sollte daher „nochmals bedacht werden, ob der erwartete ökonomische Nutzen für die DDR im richtigen Verhältnis zu den möglichen politisch-negativen Wirkungen steht“. Abschließend ist festzustellen: 1. Die wirtschaftspolitische Einflußnahme des MfS blieb in erster Linie auf die „umfassende“ Information der Partei- und Staatsführung, auf Stellungnahmen und Vorschläge beschränkt. Eine Tätigkeit, die bekanntlich von Honecker 1991 noch dazu massiv diskreditiert wurde. Er habe zwar fast alle Informationen gelesen, auch die über die ökonomische Entwicklung, ihnen aber wenig Beachtung geschenkt, da man diese auch aus westlichen Medien habe gewinnen können. „So zuverlässig waren die Informationen des MfS für die Parteiund Staatsführung der DDR überhaupt nicht“.65 2. Die Antwort auf die diesem Beitrag vorangestellte Frage „Wer wußte was?“ lautet: Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger, die Politbüromitglieder, wußten Bescheid. Aber die Bereitschaft zur Wahrnehmung oder gar zum Handeln entwickelte sich in der Parteispitze umgekehrt proportional zur Eskalation der ökonomischen Probleme. Entsprechend wuchsen Unverständnis und Verzweiflung bei den Fachleuten in den Staats- und Wirtschaftsorganen. Damit führten die Politbüromitglieder unter Leitung von Erich Honecker ihre eigene Maxime ad absurdum: „Ein unumstößliches Arbeitsprinzip in der Führungstätigkeit der Partei ist es, die Ergebnisse und Erfahrungen der zurückgelegten Wegstrecke real einzuschätzen und gründlich auszuwerten, rechtzeitig und richtig zu bestimmen, welch weitere Schritte, ausgehend von dem Notwendigen und Erreichten, bei Beachtung der vorhandenen Möglichkeiten und Kräfte, durchgeführt werden müssen“.66

64 BStU ZA HA XVIII 5748. 65 Andert, Reinhold / Herzberg, Wolfgang: Der Sturz – Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin und Weimar 1991, 4. Aufl., S. 312. 66 Erich Mielke auf der Kreisparteiaktivtagung am 16.10.1987. BStU ZA ZAIG 2, unerschlossener Bestand.

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4. Das Referenzmodell: Zurückgestaute Inflation in den sozialistischen RGW-Staaten. Der letzte Jahresbericht 1989 der Staatsbank der DDR 4.1. Zurückgestaute Inflation in den sozialistischen RGW-Staaten Ulrich Busch hat die Rolle des Geldes in den politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften analysiert. „Die Entwicklung der osteuropäischen Länder in den 1980er Jahren war durch eine zunehmende Instabilität der politischen Strukturen, der ökonomischen Systeme und sozialen Verhältnisse gekennzeichnet. Diese Instabilität ist Ausdruck einer Gesellschaftskrise, der existentiellen Krise des administrativ-bürokratischen Systems des Sozialismus stalinistischer Prägung. Moment dieser Gesellschaftskrise ist die ökonomische Krise, die offenbar wurde, als es den RGW-Ländern nicht gelang, den Übergang zum intensiven Wachstum zu vollziehen. Verbunden mit der ökonomischen Krise ist die unübersehbare Instabilität des Geldes, die sich in den 1980er Jahren immer deutlicher abzeichnete und die zugleich Ausdruck und Folge wie auch Ingredienz des ökonomischen Krisenzustandes ist. Ökonomische und monetäre Stabilität: Zwischen ökonomischer, sozialer und politischer Stabilität besteht ein enger, interdependenter Zusammenhang. In diesem besitzt, langfristig gesehen, die ökonomische Stabilität Basisfunktion. Ohne eine stabile ökonomische Entwicklung ist auf Dauer keine soziale und politische Stabilität zu erreichen. Wann aber ist eine Volkswirtschaft als ökonomisch stabil zu charakterisieren? Ökonomische Stabilität ist dann gegeben, wenn sich die Wirtschaft dynamisch und proportional entwickelt, was unter intensiven Wachstumsbedingungen wachsende Effizienz ebenso einschließt wie die Beachtung ökologischer Erfordernisse und die immer umfassendere Realisierung ökonomischer Ziele. Analysiert man die volkswirtschaftliche Entwicklung realsozialistischer Länder, so sind in den 1980er Jahren, teilweise aber auch schon vorher, unübersehbare Instabilitätstendenzen und -prozesse erkennbar, die sich in Verbindung mit politischen und sozialen Krisen- und Umbruchprozessen zu tiefen ökonomischen Krisen auswuchsen. Hinlänglich verifizieren läßt sich diese Aussage an der Halbierung der ökonomischen Wachstumsraten. Durchschnittliche Wachstumsraten des produzierten Nationaleinkommens 1966 1970 1975 1980 Land bis bis bis bis 1986 1987 1988 1989 1970 1975 1980 1985 Bulgarien 8,1 7,9 6,0 3,7 5,0 5,1 2,4 -0,4 Ungarn 6,8 6,2 2,8 1,1 0 4,1 0,3 -2,0 DDR 5,4 5,4 4,0 4,6 4,0 3,3 2.8 Polen 5,9 9,7 1,0 -0,8 5,0 1,9 4,9 Rumänien 8,7 10,5 7,0 4,4 7,0 4,8 3,2 UdSSR 7,7 5,7 4,2 3,5 4,0 1,6 4,4 2,4 ČSFR 7,0 5,4 3,7 1,8 2,0 2,1 2,4 1,3 Quelle: IIPL Moskau, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 18.4.1990, S. 18.

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Die unbefriedigende Produktivitäts- und Effektivitätsentwicklung, die stagnierende bzw. sinkende Fondseffiktivität, die sinkende Außenwirtschaftsintensität und -rentabilität und die Existenz erheblicher Disproportionen zwischen den Sektoren sowie die Strukturkrisen zeigen die zunehmende Instabilität des ökonomischen Gesamtsystems. Gesellschaftliche Arbeitsproduktivität 1913 1920 1929 1950 1987 Kapitalistische Hauptländer 100 100 100 100 100 Sozialistische Länder 14 10 12 14 13 RGW 26 17 24 38 35 Quelle: „Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge“. Heft 4/1988, S. 442 ff.

Aber nicht nur in diesen den materiellen Wachstumsprozeß widerspiegelnden Daten findet die Stabilität bzw. die Instabilität der Volkswirtschaft ihren Ausdruck. Deutlicher noch und verhältnismäßig genau quantifizierbar spiegeln sie sich im Geld wider, in den monetären Prozessen. Dem liegt zugrunde, daß die Stabilität des Geldes in planwirtschaftlichen Systemen untrennbar mit der gesamtvolkswirtschaftlichen Stabilität verknüpft ist. Die Planwirtschaftssysteme der RGW-Länder integrierten zwar die Ware-Geld-Beziehungen in bestimmtem Maße, letztlich beruhen sie jedoch alle auf einer naturalwirtschaftlichen Allokation (Bilanzsystem). Das Geld diente lediglich als Exekutor des Planes. Als ‚Gegenstand und Instrument der gesellschaftlichen Leitung und Planung‘67 ist es dem naturalwirtschaftlichen Planungsregime vollständig unterworfen. Seiner aktiven Rolle kann es daher unter diesen Bedingungen ebenso wenig gerecht werden wie der Markt seiner die Warenproduktion regulierenden Funktion. Aus dem planwirtschaftlichen Gesamtkonzept und der Ein- und Unterordnung der Wert- und Geldkategorien in dieses System entspringt nun logisch ein ganz bestimmtes Stabilitätskonzept des Geldes, nämlich die Auffassung, daß das Geld in dem Maße stabil ist, wie es sich in Übereinstimmung mit den materiellen Prozessen befindet. Diese Vorstellung gipfelt in der These von der Übereinstimmung der monetären mit den naturalen Prozessen auf der Grundlage der Einheit von naturaler und finanzieller Zentralplanung. Diese sehr formal verstandene Übereinstimmung der monetären Prozesse mit den naturalen Prozessen drückt, zusammen mit der Entwicklung der Kaufkraft der Geldeinheit, dem Wachstum des Kredit- und Geldvolumens, dem Geldumlauf, der Bilanziertheit des Staatshaushalts und der Außenwirtschaft auf spezifische Weise volkswirtschaftliche Stabilität aus. Selbstverständlich gilt aber auch die Umkehrung. Das heißt, Diskrepanzen zwischen den monetären und den naturalen Prozessen, wie sie in allen osteuropäischen Ländern mehr oder weniger existieren, dazu der Verfall der Kaufkraft einer Reihe von Währungen (z. B. des Złoty und des Forint), der Geldüberhang, der in den Guthaben der Betriebe und der Bevölkerung verkörpert ist (z. B. in der DDR, in Bulgarien, in der ČSFR), das riesige Defizit von 67 Zur aktiven Rolle der Finanzen, Berlin (-Ost) 1980, S. 9. Wesen und aktive Rolle des Geldes in der sozialistischen Planwirtschaft, Berlin (-Ost) 1989, S. 23 f., 29 ff.

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120 Milliarden Rubeln im Staatshaushalt der UdSSR (1989) und das ‚ernsthaft zerrüttete Finanzsystem‘68 der Sowjetunion, der total gestörte Geldumlauf in Rumänien und in der Volksrepublik Vietnam, die wachsende Verschuldung der RGWLänder im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, das alles sind Indizien und Resultate einer instabilen volkswirtschaftlichen Entwicklung. Der Planungsprozeß vollzieht sich von vornherein als naturale und finanzielle Planung und erfaßt damit auch die Wert- und Geldkategorien, die Preise, die Kosten, den Gewinn, die Einkommen, den Kredit, den Geldumlauf, die Geldfonds usw. Die Planmäßigkeit des Reproduktionsprozesses kann nur in der Einheit von naturaler und monetärer Planung gewährleistet werden. Daß es in den Planwirtschaften der RGW-Länder in keinem einzigen Fall gelungen ist, diese Einheit wirklich zu realisieren, hat verschiedene Gründe, prinzipiell konzeptionelle und planmethodische. Entscheidend dafür ist aber, daß das planwirtschaftliche Modell, das administrativ-bürokratische Wirtschaftssystem, letztlich auf einer naturalen Allokation beruhte und den objektiven Warencharakter der Produktion, den Markt und das Geld ignorierte bzw. vernachlässigte. Geldstabilität und Währungsstabilität gelten mithin als prägnanteste Ausdrücke für ökonomische Stabilität“.69 Die Einheit von naturaler und finanzieller Zentralplanung ist ein Gleichgewichtsmodell (Neoklassik), ein Referenzmodell zur Erklärung der Realität. Auf dem Hintergrund dieses Modells war die Wirtschaft des realen Sozialismus disharmonisch, gleichgewichtslos und damit instabil. Wenn man wissenschaftlich erklären will, ob es im realen Sozialismus eine Inflation, d. h. eine Geldstabilität gab oder nicht, muß man auf die Forschungen der Ordnungstheoretiker zurückgreifen. Nach Giersch ist „Inflation eine Kette von Zuständen (Prozeß), in denen ein Nachfrageüberhang (Inflationslücke) existiert in dem Sinne, daß a) die zu gegebenen (oder erwarteten) Preisen geplante kaufkräftige Nachfrage nach (Konsum- und/oder Investitions-)Gütern größer ist als das durch die gegebenen Produktionsmöglichkeiten begrenzte Angebot (bewertet zu Kostenpreisen: Durchschnittskosten plus normale Gewinnspanne plus indirekte Steuern), also eine ‚Güterlücke‘ besteht, b) die zu gegebenen (oder erwarteten) Preisen geplante kaufkräftige Nachfrage nach Arbeitskräften und Rohstoffen ein nicht entsprechend ausdehnungsfähiges Angebot übertrifft, also eine ‚Faktorenlücke‘ existiert. Das Wesen der zurückgestauten Inflation: Allgemein ist die zurückgestaute Inflation dadurch gekennzeichnet, daß die Preise (und Löhne) nicht flexibel sind, weil entweder die Regierung einen allgemeinen Preisstopp befiehlt oder monopolistische Anbieter von sich aus mit den Preisen nicht heraufgegen, bevor sie sich durch 68 Gorbatschow, Michael: Über die Grundrichtungen der Innen- und Außenpolitik der UdSSR, in: Neues Deutschland, 31.5.1989, S. 4. 69 Busch, Ulrich: Stabilität und Instabilität des Geldes in planwirtschaftlichen Systemen, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 8, S. 1262 ff.

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erhöhte Produktions- (oder Lebenshaltungs-)Kosten vor der Öffentlichkeit rechtfertigen können. Die ex-ante-Preise der Nachfrager decken sich mit den tatsächlichen Preisen, aber diese sind keine Gleichgewichtspreise im definierten Sinne. Die Güterlücke manifestiert sich in gefüllten Auftragsbüchern, anomalen Lieferfristen, Käuferschlangen und schrumpfenden Verkaufslägern, die Faktorenlücke in absolutem Rohstoffmangel und einer Überzahl offener Stellen im Vergleich zur Zahl der Stellungsuchenden. Das Korrelat zu den unbefriedigten Nachfragewünschen sind ungewollte überschüssige Kassenreserven (Geldüberhang bzw. Verminderung der Umlaufgeschwindigkeit). Bei der kleinen zurückgestauten Inflation übersteigt die tatsächliche Liquidität die von den Wirtschaftssubjekten gewollte Liquidität. Das Wesen der großen zurückgestauten Inflation: Mit zunehmender Stärke dieses Liquiditätsdruckes erweist sich eine Abstützung der Staumauer der Höchstpreise durch quantitative Kontrollen der Nachfrage (auch nach Devisen) als notwendig. Damit wird das Geld allmählich seiner Tauschmittelfunktion (und der davon abgeleiteten Funktionen) weitgehend entkleidet und die Marktwirtschaft in gleichem Maße in eine Zentralverwaltungswirtschaft (Eucken) umgewandelt. Das Geld bleibt zwar formal Recheneinheit, aber da der Preismechanismus ausgeschaltet ist, kann nur mit den fiktiven Werten der Stopppreise kalkuliert werden. Die unvermeidliche Folge einer derartigen Blockierung des volkswirtschaftlichen Rechensystems ist eine Produktivitätsminderung. Fehlschichten und unbestrafte Nachlässigkeiten der Arbeiter, ungerechtfertigte Zunahme des Personals in bestimmten Betrieben, Hinaufschieben der Waren in höhere Preiskategorien, Verminderung der Qualität und der Leistungen, das Schlangestehen, die Engpässe, die Fehlleitung der Produktivkräfte, die Armee der Aufsichtsbeamten und Inspektoren sind – mit den Worten Jacob Viners – die volkswirtschaftlichen Kosten der zurückgestauten Inflation, die mit der Stärke des Liquiditätsdruckes (Geldüberhanges) zunehmen. Die notwendige Kontrolle von Produktion und Lagerhaltung zur Sicherung der Ablieferungsbestimmungen und zur Verhinderung von Sachwerthortung und illegalen Transaktionen muß umso eher zusammenbrechen, je fühlbarer infolge der beschriebenen Produktivitätssenkung der Gütermangel die Diskrepanz zwischen dem nackten Lebensinteresse der Menschen und ihrer (überforderten) staatsbürgerlichen Loyalität ausweitet. Der Staudamm wird dann durchlöchert durch die spontane Bildung ‚schwarzer‘ Märkte, auf denen das Geld wieder als Tauschmittel fungiert, oder ‚grauer‘ Märkte, auf denen der Naturaltausch mit all seinen Nachteilen dominiert. Man kann sich vorstellen, daß im Endstadium der Staudamm bricht und die Flut der aufgespeicherten Liquidität die Zentralverwaltungswirtschaft hinwegspült. Es ist nicht ohne weiteres wahrscheinlich, daß sich dabei eine Hyperinflation entwickelt, sofern nur der Staatshaushalt ausgeglichen ist“.70 Die Staatsbank der DDR (bis 1967 Deutsche Notenbank) war nach dem sowjetischen Modell (Stalin) gegründet worden, als „zentrales Organ des Ministerrates

70 Giersch, Herbert: Inflation, in: HdSW, 5. Bd., 1956, S. 282, 285.

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für die Verwirklichung der von Partei und Regierung beschlossenen Geld- und Kreditpolitik in ihrer Gesamtheit“.71 Wenn man wissenschaftliche Aufschlüsse über die sozialistische Staatsbank gewinnen will, muß man auf die Reichsbank als Referenzmodell zurückgreifen. Das Ziel der durch Gesetz vom 14.3.1875 geschaffenen und bis 1945 in Deutschland bestehenden Notenbank (= Reichsbank) war grundsätzlich die Stabilität der Währung. Anfang 1939 wurde die Reichsbank dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler unterstellt und wurde unter Reichsbankpräsident Walter Funk (1939-1945) eine „Vollzugsbehörde im Sinne einer Art ‚Hauptkasse‘ der Regierung ohne Autonomie“.72 Da die Preise (1936), Mieten und Löhne (1938) gestoppt waren,73 konnte keine offene Inflation wie im Ersten Weltkrieg ausbrechen. „Im engeren Sinne beginnt die finanzielle Kriegsvorbereitung mit dem ‚Gesetz über die Deutsche Reichsbank vom 15. Juni 1939‘, wurden doch hier alle wesentlichen die Geldschöpfung der Reichsbank zugunsten des Staates einengenden Vorschriften beseitigt“.74 Die Ökonomen sprechen bei der nationalsozialistischen Kriegsfinanzierung (1939-45) von einer „geräuschlosen“ Kriegsfinanzierung oder vom neuen Typ der „zurückgestauten“ Inflation.75 „Die Lebensmittelkarten wurden mit Wirkung vom 28. August 1939 eingeführt und traten in den Westzonen am 30. April 1950 außer Kraft“.76 Durch die Rationierung aller Güter waren die Ausgabemöglichkeiten der arbeitenden Bevölkerung ab 1939 beschränkt. Dadurch konnte viel Geld bei den Geschäftsbanken und Sparkassen angelegt werden. Der nationalsozialistische Staat zog die Spargelder ab und gab den Banken dafür verzinsliche Wertpapiere. „So bildete sich ein spezifischer Kreislaufzusammenhang heraus, den Ehrlicher wie folgt umschreibt: ‚Der Staat zieht durch zusätzliche Geldschöpfung Güter und Dienste an sich, für die neugeschaffenen Einkommen besteht nur beschränkte Verfügungsmöglichkeit, die neu geschaffenen Gelder müssen nach einiger Zeit zwangsläufig ihren Umlauf beenden und bei den Banken stillgelegt werden. Die Einengung sonstiger Anlagemöglichkeiten läßt den Banken keine andere Wahl, als diese Gelder nun dem Staat langfristig zur Verfügung zu stellen“.77 Das Reich war 71 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost), 1980, S. 220. 72 Hansmeyer, Karl-Heinrich, Caesar, Rolf: Kriegswirtschaft und Inflation (1936-1948), in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876-1975, Frankfurt am Main 1976, S. 388. 73 Diehl, Markus Albert: Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933-1945, Stuttgart 2005, S. 110 ff. 74 Hansmeyer, Karl-Heinrich, Caesar, Rolf: Kriegswirtschaft, S. 345. 75 Ebd., S. 403 ff. Diehl, Markus, Albert, Marktwirtschaft, S. 165 ff. 76 Schmitz, Hubert: Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939-1950. Dargestellt an dem Beispiel der Stadt Essen, Essen 1956, S. 41. 77 Ehrlicher, W.: Die deutsche Finanzpolitik seit 1924, in: Institut Finanzen und Steuern, H. 65, Bonn 1961, S. 9/10.

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bei Kriegsende 1945 bei den Geschäftsbanken mit 110 Mrd. RM, bei den Sparkassen mit 54 Mrd. RM und bei den Versicherungen mit 25 Mrd. RM verschuldet“.78 In der DDR kam es wie in allen sozialistischen RGW-Staaten zu einer zurückgestauten Inflation. Die Staatsbank der DDR besaß keine Autonomie, sondern war ein Organ des Ministerrats der DDR. Monetäre Instabilität und zurückgestaute Inflation. „In den Inflationsprozessen, mit denen wir es gegenwärtig (1989) zu tun haben, und zwei Prozesse verflochten: erstens die ‚permanente Aufblähung des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus‘, die ihren Ursprung in einer expandierenden Geldmenge hat, und zweitens die ‚permanente Erhöhung des Durchschnittsniveaus sämtlicher Erzeugerpreise auf dem Gütermarkt‘.79 Die Phänomene, in denen diese Prozesse in Erscheinung treten, sind in den Volkswirtschaften der RGW-Länder mannigfaltig und in den einzelnen Ländern durchaus verschieden. In manchen Ländern (z. B. Ungarn und Polen) steht der Kaufkraftverlust der Geldeinheit im Vordergrund, in anderen Ländern der überproportional anwachsende Bargeldumlauf (z. B. in der UdSSR) und die disproportionale Sparakkumulation der Bevölkerung, ferner Haushaltsdefizite, ein überproportionales Wachstum des Kreditvolumens, eine Verlangsamung des Umschlags der Kredit- und Geldfonds, wachsende Auslandsverbindlichkeiten und anderes mehr. Auch das doppelte Preisniveau, die Schattenwirtschaft und Erscheinungen einer inoffiziellen Doppelwährung und einer entsprechenden Spaltung des Marktes gehören hierher. Alle diese Erscheinungen können durch die sozialistische ökonomische Theorie nicht länger ignoriert werden, sondern bedürfen einer eingehenden Analyse und Interpretation. Dabei setzt sich zunehmend der Standpunkt durch, daß es sich hierbei nicht schlechthin um monetäre Instabilitäten handelt, sondern um inflationäre Prozesse. ‚Im Grunde gibt es Inflation überall um uns herum. Sie äußert sich nicht nur in der Preissteigerung und in der riesigen Menge nicht durch Ware gedeckten Geldes, sondern auch im Staatshaushaltsdefizit, in der Destabilisierung des Marktes, den Zuschüssen für unrentable Zweige und Betriebe, den unentgeltlichen Leistungen für die Bevölkerung und in vielem anderen‘.80 Analysiert man die Stabilität bzw. Instabilität des Geldes in den RGW-Ländern und zieht dazu die oben herausgearbeiteten Kriterien – die Nominaleinkommensentwicklung im Verhältnis zum Wachstum des Nationaleinkommens, die Kaufkraftentwicklung der Geldeinheit und das Wachstum des Geldvolumens – heran, so zeichnet sich ein außerordentlich differenziertes Bild ab. Die unterschiedliche Dynamik der ökonomischen Entwicklung in den einzelnen Ländern. In den 1980er Jahren vollzog sich eine spürbare, aber gemessen an der Entwicklung des für die Verwendung im Inland verfügbaren Nationaleinkommens entschieden zu rasche Entwicklung der Nominaleinkommen. Von dieser Entwicklung,

78 Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Währung und Wirtschaft, S. 405. 79 Caspers, R.: Das Gesetz der Inflation, Hamburg 1987, S. VII. 80 Nini, E. Die Inflation zügeln, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, Heft 11, 1989, S. 1477.

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die sich zu Lasten der Akkumulationskraft und zum Teil auf der Basis einer dramatisch anwachsenden Auslandsverschuldung vollzog, gehen für das Geld, für die betreffende Währung, erhebliche stabilitätsgefährdende Wirkungen aus. Bruttoverbindlichkeiten ausgewählter Länder bei westlichen Banken 1989 (Milliarden US-Dollar)

Bulgarien ČSFR DDR Ungarn Polen UdSSR

8,1 5,0 21,7 17,2 38,9 42,9

Quelle: „Die Wirtschaft“, Nr. 1/1990 vom 1.2.90, S. 1

Analysiert man die Kaufkraftentwicklung einzelner Währungen, so wird die obige Aussage von einer differenzierten und problematischen Situation erhärtet. Die Kaufkraft der Währungen in den letzten zwei Jahrzehnten ist erheblich gesunken. Statistische Vereinheitlichungen bei der Berechnung dieser Daten würden das Bild wahrscheinlich noch ungünstiger erscheinen lassen. Index der Einzelhandelsverkaufspreise für ausgewählte Länder (1980 = 100)

Bulgarien ČSFR UdSSR Ungarn Polen

1982 101 107 105 112 247

1985 105 111 105 138 386

1988 110 112 109 182 906

Quelle: berechnet nach „Statistischeski ezegodnik stran tschlenow SEW“, 1989, S. 318 f.

Als Kriterium der Geld- und Währungsstabilität besitzt die Kaufkraftentwicklung der Geldeinheit im Innern natürlich nur einen begrenzten Aussagewert. Für eine umfassende Wertung muß sie durch entsprechende Angaben zum Repräsentationswert des Geldes, der sich in der Veränderung der Austauschverhältnisse reflektiert, ergänzt werden. Das zweite monetäre Stabilitätskriterium, das Kredit- und Geldvolumen, läßt sich auf der Grundlage der veröffentlichten Daten kaum quantifizieren. ‚Seine Entwicklungstendenz kann aber indirekt, an Hand der Entwicklung der Geldfonds der Bevölkerung, insbesondere der Spareinlagen, ermittelt werden.

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Index der Einlagen der Bevölkerung in Sparkassen und Banken (1980 = 100)

Bulgarien Ungarn DDR Polen UdSSR ČSFR

1981 106 110 103 135 106 106

1983 124 136 113 215 119 122

1985 151 168 125 338 141 140

1987 166 197 142 504 171 160

1988 179 152 750 190 169

Quelle: „Statistischeski: ezegodnik […]“, a. a. O., S. 74.

Das unterschiedliche Ausgangsniveau (1980) der Spartätigkeit und die sehr differenzierte Kaufkraftentwicklung der Währungseinheiten sind bei der Interpretation der Tabelle selbstverständlich zu berücksichtigen. Setzt man als entscheidende materielle Kennziffer die Entwicklung des Nationaleinkommens dagegen, so erhält man doch einigen Aufschluß über diesen Aspekt des Stabilitätsproblems des Geldes. Es wird deutlich, daß in allen untersuchten Ländern ein überproportionales Wachstum der Geldfonds der Bevölkerung und damit, so meine Annahme, auch des Kredit- und Geldvolumens insgesamt zu verzeichnen ist. Eine solche Entwicklung birgt erhebliche Instabilitätspotentiale in sich. Wertet man nun die Situation in der Geldzirkulation der RGW-Länder, so läßt sich – bei erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern – in den 80er Jahren eine Bedeutungszunahme monetärer Probleme im Rahmen einer ökonomischen und gesellschaftlichen Destabilisierung insgesamt konstatieren. Generell kann von einer monetären Instabilität, von Disproportionen und Ungleichgewichten, gesprochen werden, die sich in einigen Ländern stärker in einem Kaufkraftverlust der Währungseinheit, in anderen Ländern dagegen mehr in einer überproportionalen Entwicklung des Kredit- und Geldvolumens und der Geldakkumulation zeigen. In Polen und in Ungarn hat der Destabilisierungsprozeß des Geldes inzwischen ein Ausmaß erreicht, daß die monetäre Vermittlung des Reproduktionsprozesses zwischen den Klassen und Schichten stattfinden. Ausmaß und Wirkungen dieser Prozesse rechtfertigen es, hier uneingeschränkt von Inflation zu sprechen“.81 Der Mechanismus der zurückgestauten Inflation in den sozialistischen RGWStaaten war dem der nationalsozialistischen Kriegsfinanzierung in hohem Maße ähnlich. Die Geldmenge der Konsumenten war immer größer als der „Warenfonds“, d. h. der Teil des Aufkommens an Konsumgütern, der für die Versorgung der Bevölkerung in einem bestimmten Planzeitraum vorgesehen war“. 82 Bereits beim Geldumtausch im Juni/Juli 1948 in der SBZ war die Geldmenge im Verhältnis zur Produktion von Konsumgütern stark überhöht.

81 Busch, Ulrich: Stabilität und Instabilität des Geldes, S. 1267-1277. 82 Ökonomisches Lexikon A-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 572.

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„Die Erstausgabe von neuen Geldzeichen betrug 4.169 Millionen DMdDN (Mark der Deutschen Notenbank). Diese Summe ist in Veröffentlichungen nicht genannt. Sie ist aber in der Bilanz der Deutschen Notenbank (später der Staatsbank der DDR) als ‚Forderung an den Staatshaushalt für Erstausstattung mit Banknoten‘ ausgewiesen. In den drei Westzonen, mit mehr als der dreifachen Bevölkerung im Vergleich zur Sowjetzone, betrug der Banknotenumlauf 3,8 Milliarden DM. Insgesamt stieg das Geldvolumen bis zum Juli 1948 in den Westzonen (Bargeldumlauf und Guthaben auf den Konten) auf 17 Milliarden DM. In der Sowjetzone war diese Gesamtsumme durch die Bevorzugung der Volkseigenen Betriebe und der Haushaltskonten etwa ebenso groß. Allein aus diesem Vergleich geht hervor, daß die Geldmenge keineswegs den Erfordernissen der Produktion angepaßt war. Im Gegenteil, sie war stark überhöht. Von den neu in Umlauf gesetzten Banknoten flossen über den Handel anfangs größere Beträge zurück zu den Banken. Gleichzeitig wurde jedoch von den Sparund Girokonten Geld abgehoben. Auf diese Weise pendelte sich das umlaufende Bargeld zunächst bei etwa 3,5 Milliarden DMdDN ein. Aber schon wenige Wochen nach dem zweiten Geldumtausch im Juli 1948, begann die Summe des umlaufenden Bargeldes besorgniserregend zu steigen. Die Ursache war einfach: Es mangelte nach wie vor an Waren“.83 Der Warenmangel, d. h. Probleme bei der Produktion, führten dazu, daß die Lebensmittelrationierung erst im Oktober 1958 aufgehoben wurde. Ein Geldmangel existierte im realen Sozialismus nie, wie der Banknotenumtausch vom 13. Oktober 1957 zeigt. „Im Frühjahr 1957 fand im Finanzministerium eine Beratung über die besorgniserregende Entwicklung des Bargeldumlaufs statt. 1956 war die im Bargeldumsatzplan vorgesehene Bargeldmenge mehrfach überschritten worden. Die in den Bankanalysen festgestellte Ursache, nämlich das erhebliche Zurückbleiben der Warenbereitstellung hinter der Nachfrage der Bevölkerung, wurde in dieser Beratung nur beiläufig akzeptiert. Der zuständige stellvertretende Finanzminister Rothe sprach vor allem über verstärkte Spekulationen mit Bargeld. Der Geldumtausch war ein Fehlschlag. Am Abend des 13. August 1957 betrug die Differenz zwischen ursprünglich in Umlauf gegebenen und beim Umtausch eingezogenen alten Banknoten etwas mehr als 400 Millionen DDR-Mark. Diese Summe verminderte sich durch die nachträglichen Umtauschmöglichkeiten noch erheblich. Keinesfalls war es ein ‚Schlag‘ von 600 Millionen DDR-Mark gegen ‚westberliner und westdeutsche Währungsspekulanten‘, wie Walter Ulbricht in einer Rede aus diesem Anlaß verkündet hatte. Ich war am späten Abend des 14. Oktober 1957 ins Finanzministerium gerufen worden, um an der Berechnung des vorläufigen Umtauschergebnisses mitzuwirken. Ein Referent hatte in Unkenntnis der Zusammenhänge mehr als 600 Millionen DDR-Mark errechnet. Diese Summe war Ulbricht mitgeteilt worden. Tatsächlich war nach dem Geldumtausch der Überhang an Geld unvermindert groß geblieben. Am 31. Dezember 1956 betrug die Summe allen Bargeldes und der

83 Frenzel, Paul: Die rote Mark: Perestroika für die DDR, Herford 1989, S. 39.

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Spareinlagen bei der Bevölkerung 10.576 Millionen DDR-Mark und am 31. Dezember 1957 12.469 Millionen DDR-Mark. Das bedeutete eine Erhöhung um 1.893 Millionen DM, die höchste, die bis dahin jemals erreicht worden war. Eine Erfahrung mehr, daß chronischer Warenmangel eben nicht mit spektakulären Geldaktionen behoben werden kann“.84 Die Zunahme der Spareinlagen der Bevölkerung der DDR zeigt an, daß das Problem der Mangelversorgung im realen Sozialismus nie gelöst werden konnte. Die Bevölkerung legte die Spareinlagen bei den Banken insbesondere bei den Sparkassen an und die Spareinlagen wurden zugleich von der Staatsbank der DDR abgezogen und einer neuen Verwendung zugeführt, genauso wie bei der nationalsozialistischen Kriegsfinanzierung. 4.2. Die Haupttendenzen der Entwicklung des Geld- und Kreditvolumens im Spiegel des letzten Jahresberichts 1989 der Staatsbank der DDR85 „Die im Herbst 1989 eingeleiteten gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR markieren auch einen Wendepunkt in der Tätigkeit der Staatsbank und der anderen Geld- und Kreditinstitute. Mit der schrittweisen Beseitigung der administrativ-zentralistischen Wirtschaftsführung bei stärkerer Ausrichtung der Wirtschaft auf die Erfordernisse der Märkte werden Geld, Kredit und Zins sowie die Bankarbeit insgesamt ein prinzipiell anderes Wirkungsfeld erhalten. Wachstums- und effektivitätsfördernde Potenzen werden in den Mittelpunkt der Wirtschaftstätigkeit rücken. Für die Finanzierung des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses waren Ende 1989 in der DDR Geld- und Kreditfonds in Höhe von 468,5 Mrd. M eingesetzt. Diesem Geld- und Kreditvolumen liegen ein Bruttoinlandsprodukt im Jahre 1989 von 353 Mrd. M und ein beträchtliches Nettonationalvermögen [?] zugrunde, das 1988 im produzierenden Bereich 941 Mrd. M betrug. Ausgehend davon, daß die Stabilität der Währung weitgehend auf der Leistungskraft der Volkswirtschaft beruht, haben Disproportionen und ungenügende Effektivität das materielle [= naturale] und finanzielle Gleichgewicht der Volkswirtschaft im Jahre 1989 erheblich beeinträchtigt. Die währungspolitische Entwicklung wird durch folgende Prozesse charakterisiert: 1. 1989 ist das Geld- und Kreditvolumen schneller gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Diese Entwicklung wird insbesondere durch zunehmende Disproportionen zwischen Zuliefer- und Finalindustrie, unzureichende strukturgerechte Deckung der inländischen Nachfrage und abnehmende Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten verursacht. Wesentliche Ursachen für 84 Ebd., S. 67 f. 85 Der letzte Jahresbericht 1989 der Staatsbank der DDR wurde Jürgen Schneider mit Anmerkungen von Paul Frenzel, der von 1952 bis 1961 Leiter der Planungsabteilung der Deutschen Notenbanken war, zugeschickt.

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das rückläufige Wachstumstempo sind die zu niedrige produktive Akkumulation und damit verbunden die geringe ökonomische Wirksamkeit von Wissenschaft, Technik und der Investitionen sowie Probleme bei der Durchsetzung des Leistungsprinzips. Im IV. Quartal hat sich diese Entwicklungstendenz insbesondere im Ergebnis der Verringerung der Anzahl der Arbeitskräfte im Zusammenhang mit der Ausreise von Bürgern der DDR weiter verschärft. Das Produktionsvolumen sank in den Monaten November und Dezember unter das Niveau des Jahres 1988. Das Tempo der Senkung des Produktionsverbrauchs und der Kosten hat sich verringert und die Erwirtschaftung von Reineinkommen [= Gewinn] vermindert. Es gelang nicht, die Aufwandserhöhungen im Inneren der Volkswirtschaft, besonders für die Energiewirtschaft (Entwicklung der Kernenergie und Braunkohlebasis), durch eine entsprechende Senkung des Aufwandes und der Kosten in der Volkswirtschaft der DDR auszugleichen. Die Senkung des Produktionsverbrauchs je Einheit Nationaleinkommen betrug 1989 nur 0,1 %, während im Zeitraum 1986-1988 eine durchschnittliche Senkung von 1,2 % erreicht worden war. Die hiermit verbundene Untererfüllung des Nettogewinns ist die wesentliche Ursache für das 1989 zu erwartende Haushaltsdefizit von 6 Mrd. M. 2. Auswirkungen auf die Währung und den Geldumlauf in der DDR haben die Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet im Umfang von saldiert 18,5 Mrd. US-Dollar per 31.12.1989. Diese Verpflichtungen sind mit jährlich hohen wiederkehrenden Zins- und Kreditkosten verbunden. Die Aufnahme dieser Kredite, mit denen in den vorangegangenen Jahren insbesondere volkswirtschaftlich strukturbestimmende Investitionen [?] finanziert wurden, führte nicht zu der erforderlichen Steigerung der Leistungs- und Exportkraft der DDR. Der Zuwachs des Exportes in die westlichen Industrieländer und Entwicklungsländer von 8,5 % im Jahre 1989 ist zwar bedeutend, entspricht jedoch nicht den sich aus der Entwicklung der Auslandsverpflichtungen ergebenden volkswirtschaftlichen Erfordernissen. 3. Im Zusammenhang mit der rückläufigen volkswirtschaftlichen Effektivität und der zunehmenden Zentralisierung von Gewinnen im Staatshaushalt erhöhte sich die Kreditbelastung der Wirtschaft. Während in der ersten Hälfte der 80er Jahre das Wachstum der Kredite an die Wirtschaft im wesentlichen mit dem Leistungswachstum der Volkswirtschaft übereinstimmte, war danach die Entwicklung durch ein schnelleres Wachstum der Kredite gekennzeichnet. Der Kreditanteil an der Finanzierung der produktiven Akkumulation betrug 1989 rd. 60 %, was infolge wachsender Zinszahlungen zu steigenden Kostenbelastungen führte. 4. In den Geldbeziehungen der Bevölkerung haben Disproportionen zwischen Kauf- und Warenfonds zur weiteren Herausbildung von Kaufkraftüberhängen, insbesondere in den Jahren 1986 – 1989 in Höhe von 12 bis 14 Mrd. M, geführt.

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Es ist auch 1989 nicht gelungen, diesen Kaufkraftüberhang abzubauen, da die Nachfrage der Bevölkerung vor allem nach hochwertigen Industriewaren nicht bedarfsgerecht befriedigt werden konnte. Die Bevölkerung verwendete 1989 6,3 % der Nettogeldeinnahmen für die Erhöhung ihrer Spareinlagen, Versicherungsguthaben und Bargeldbestände. Im Vorjahr waren es 7,1 %“. Ergebnisse aus dem „Jahresbericht 1989 der Staatsbank der DDR“. Seit dem Geldumtausch im Juni/Juli 1948 bis 1989 war die Mangelversorgung in der SBZ / DDR eine Konstante, wie der letzte Jahresbericht der Staatsbank der DDR zeigt. „Im Konsumgüterbinnenhandel stieg der Krediteinsatz Ende Dezember 1989 gegenüber dem Vorjahr um 1,5 Mrd. M auf 10,6 Mrd. M. Die komplizierte volkswirtschaftliche Lage in der DDR widerspiegelt sich zunehmend auch in den Handelsbeständen. Während einerseits bei bestimmten Erzeugnissen wie Spirituosen, Kakaoerzeugnissen sowie im Delikatsortiment und bei Industriewaren wegen Qualitätsmängeln insbesondere bei Schuhen, Textilwaren und einer Reihe technischer Konsumgüter Mehrbestände vorhanden sind, bestehen andererseits bei einer zunehmenden Anzahl von Versorgungsgütern, besonders bei Industriewaren, erhebliche Minderbestände“. (S. 8). Die Mangelversorgung gehörte in den Westzonen/Bundesrepublik mit der Währungsreform vom 20.6.1948 der Vergangenheit an. In der SBZ/DDR hielt die Mangelversorgung von Gütern des täglichen Bedarfs bis zum 1.7.1990 an. Die „Kreditbilanz“ und die „Bilanz der Staatsbank“ sind in verschiedenen Positionen manipuliert. Die Gesamtschulden der DDR beliefen sich 1989 auf 130 Mrd. innere und 162 Mrd. äußere Gesamtschulden, d. h. zusammen 292 Mrd. M/DDR. Dies entspricht fast der Summe von 2 Jahren Nettogeldeinkommen der Bevölkerung (1989 = 167 Mrd. M). Die inneren Schulden sind die Sparmittel der Bevölkerung, die die Staatsbank von den Banken abgezogen hat und sich somit an die Banken verschuldet hat. Die äußeren Schulden sind die Kredite, die die DDR im Westen aufgenommen hat. In der SBZ/DDR wurde vom Geldumtausch im Juni/Juli 1948 bis zur Währungsunion am 1. Juli 1990 mehr Geld ausgegeben als Waren zur Verfügung standen. Die Spareinlagen hätten im realen Sozialismus der DDR nie mehr in Waren umgesetzt werden können. Das Auseinanderfallen von Nominal- und Realeinkommen war Teil des sozialistischen Betrugssystems an der arbeitenden Bevölkerung.

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XVI. Die Hauptursachen für den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten: Extensives Wachstum und Mangelwirtschaft 1. Das Referenzmodell: Technischer Fortschritt und Automation führen zum Dienstleistungssektor und zum Strukturwandel in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland Die Wirtschaft der DDR besaß 1988 eine Struktur wie die Bundesrepublik 1965. Um den nichtstattgefundenen Strukturwandel in der DDR wissenschaftlich beurteilen zu können, sollen hier die drei Phasen des Strukturwandels in der Wirtschaft der Bundesrepublik skizziert werden. Der Strukturwandel in der Bundesrepublik bildet dann das Referenzmodell für die wissenschaftliche Beurteilung des nichtstattgefundenen Strukturwandels in der DDR Wirtschaft. Das starke Dominieren von altindustriellen Strukturen erforderte einen Neu-Aufbau der wirtschaftlichen Strukturen in der Phase der Transformation 1990/94. In der Zeit von 1913 bis 1950 hatten die USA das höchste Produktivitätsniveau in der Welt erreicht. 1950 betrug die Produktivität der Bundesrepublik Deutschland etwa 1/3 der der USA. Technische Neuerungen und neue Produktionsverfahren führten zu einem Aufholprozess und der Vorsprung der USA wurde geringer. Comparative levels of productivity in 1870, 1950 and 1977 (U.S. GDP per Man Hour = 100)1

Australia Austria Belgium Canada Denmark Finland France Germany Italy Japan Netherland Norway Sweden Switzerland United Kingdom United States Arithmetic Average of 15 Countries (excluding U.S.A)

1

1870 182 53 110 89 65 44 62 63 59 24 107 59 45 80 122 100

1950 70 29 53 78 44 32 41 35 31 14 51 49 57 51 55 100

1977 78 66 94 88 66 66 79 84 68 52 84 86 79 65 61 100

78

46

74

Fischer, Wolfram: Expansion – Integration – Globalisierung. Studien zur Geschichte der Weltwirtschaft, Göttingen 1998, S. 229.

1116

Der Beitrag von Walter Hamm „Sektorale Strukturpolitik“ im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften gibt einen guten Überblick zum Strukturwandel in der Bundesrepublik. „Branchenbesonderheiten sind jedoch lediglich spezifische Risiken der Produktion in den verschiedenen Wirtschaftszweigen. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist es grundsätzlich Sache der Unternehmen, mit den ihnen bekannten Risiken fertig zu werden. Nur in Fällen, in denen sich staatliche Ziele durch wettbewerblich geordnete Marktprozesse nicht erreichen lassen (z. B. leitungsgebundene öffentliche Versorgung), sind branchenspezifische Regelungen erforderlich. In allen Volkswirtschaften vollziehen sich ständig strukturelle Wandlungen unterschiedlichen Ausmaßes. Die Unternehmen passen sich unablässig an Veränderungen der Nachfrage nach ihren Produkten, der geographischen Ausdehnung der Märkte, der Preise auf wichtigen Beschaffungsmärkten sowie an Produkt- und Verfahrensinnovationen an. Die hierzu erforderlichen Umstellungsprozesse laufen im Allgemeinen ohne staatliches Zutun ab. […] Strukturwandlungen haben in der Zeit von 1950 bis 1975 die Wirtschaft in den hochentwickelten Industrieländern grundlegend verändert. Einige Wirtschaftsbereiche sind nahezu verschwunden oder erheblich geschrumpft, andere Branchen haben sich aus bescheidenen Anfängen zu beachtlicher Größe entwickelt. Allein aus der Landwirtschaft,2 den privaten Haushalten, dem Kohlenbergbau,3 der Bekleidungsindustrie,4 den Eisenbahnunternehmen und der Lederherstellung und -verarbeitung sind in der Zeit von 1950 bis 1970 in der Bundesrepublik Deutschland rund 4,5 Millionen Beschäftigte ausgeschieden. Die Elektrotechnik, der Maschinen- und Fahrzeugbau sowie nahezu alle Dienstleistungsbereiche haben dagegen eine starke Expansion zu verzeichnen. In einigen Branchen haben die beträchtlichen Umstellungssorgen staatliche Instanzen zu Interventionen veranlasst. Ursachenanalysen: An Hand der Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich gut die möglichen Ursachen branchenstruktureller Schwierigkeiten beispielhaft darstellen. Vor allem geht es dabei um längere Zeit anhaltende Engpässe und Überkapazitäten, aber auch um einen im Vergleich zum Ausland niedrigen Leistungsstand der Unternehmen einer Branche und die langsame Verbreitung von Innovationen.

2

Harsche, Edgar: Landwirtschaft, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, Sp. 816-835.

3

Tettinger, Peter J. (I) / Schneider, Hans K. (II): Kohle, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, Sp. 564 ff.

4

Breitenacher, Michael: Textilindustrie, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995. Grömling, Michael / Matthes, Jürgen: Globalisierung und Strukturwandel der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie, Köln 2003.

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1.1. Technischer Fortschritt beim Wiederaufbau der Wirtschaft der Bundesrepublik: Substitution des Produktionsfaktors Arbeit durch Kapital 1950-1960 Hohe Produktivitätsfortschritte in der Industrie wurden durch die Substitution von Arbeitskraft durch Kapital in den Jahren 1950-1960 erzielt. „Unter den Hauptgruppen der Industrie ist die Einsparung von menschlicher Arbeitskraft in den Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien am weitesten fortgeschritten, im Bergbau wird aber in letzter Zeit der Rückstand im Rationalisierungstempo rasch verringert. In den traditionellen Verbrauchsgüterindustrien wird nun eine beschleunigte Zunahme der Kapitalausstattung und damit der Effizienzsteigerung einsetzen müssen, wenn die Unternehmen dieses Bereichs nicht in Rückstand geraten wollen. Vermutlich ist solch ein Aufholprozeß schon in Gang gekommen. Insgesamt sind die Differenzen im Tempo der Produktivitätsentwicklung zwischen den verschiedenen Industriehauptgruppen und auch weiter zwischen den einzelnen Branchen relativ gering. Das spricht für die in wissenschaftlichen Erörterungen bereits mehrfach belegte These, daß die Produktivitätsstruktur einer entwickelten Industriewirtschaft erheblichen Beharrungstendenzen unterliegt, d. h. die Produktivitätsfortschritte der industriellen Branchen pflegen im großen und ganzen dem gleichen Trend zu folgen, so unterschiedlich auch die Relation Nettoproduktion : Arbeitsaufwand (= Arbeitsproduktivität) bei den einzelnen Branchen sein mag.5 Lediglich in einigen jüngeren Industrien, deren struktureller Standort in der Gesamtwirtschaft noch nicht fixiert ist, wurde in den letzten zehn Jahren eine erheblich überdurchschnittliche Produktivitätsverbesserung erreicht, so vor allem in der Kunststoffverarbeitung, im Fahrzeugbau und in der Mineralölindustrie. Dort genügten 1960 37 v. H., 33 v. H. bzw. 29 v. H. des Arbeiterstunden-Aufwands von 1950 zur Erzielung des gleichen realen Nettoproduktionsergebnisses. Im Mittel der gesamten Industrie wurden 1960 je Produktionseinheit nur noch 55 v. H. der Arbeiterstunden aufgewendet, die zehn Jahre früher erforderlich gewesen waren. Im Jahr 1961 wird also im Durchschnitt der Industrie jeder Produktionsleistung nur noch der halbe Aufwand an Arbeiterstunden gegenüberstehen wie 1950“.6 „Als exogene Ursache für das Entstehen von Disproportionalitäten ist auf die Teilung des Deutschen Reichs, auf Kriegszerstörungen, Demontagen und politisch aufgezwungene Produktionsverbote (Industriepläne der Alliierten) hinzuweisen. Eine zweite, praktisch überaus bedeutsame Ursache von Anpassungsschwierigkeiten war und ist in wettbewerbsbeschränkenden und marktwidrigen staatlichen Interventionen zu sehen. Preisreglementierungen bei Kohle und Stahl, bei Ver5

Hoffmann, Walther G.: Die Produktivitätsstruktur in verschiedenen Entwicklungsstadien, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 115, 1959, S. 536 ff.

6

D/W-Wochenberichte 1961, S. 149 f.: Die Einsparung menschlicher Arbeitskraft in der westdeutschen Industrie 1950-1960.

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kehrsleistungen und Wohnungen, zum Teil kombiniert mit staatlichen Marktzugangsregelungen, haben zu einer Flut weiterer sektoraler Interventionen und zu hohen Subventionen geführt. Drittens haben der steigende Lebensstandard, der wachsende Anteil der öffentlichen Hand am Sozialprodukt und die dadurch bewirkten Nachfrageänderungen beträchtliche branchenstrukturelle Umstellungsprobleme ausgelöst. Als vierte wichtige Ursache ist die wachsende Außenhandelsverflechtung der westdeutschen Wirtschaft anzusehen. Rund 30 v. H. des Bruttoinlandsprodukts sind für Auslandsmärkte bestimmt, und rund ein Viertel aller im Inland abgesetzten Güter und Dienstleistungen stammten in der Bundesrepublik in der Mitte der siebziger Jahre aus dem Ausland. Der durch die internationale Arbeitsteilung bewirkte Strukturwandel wird auch in Zukunft erheblich sein. Dies ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Fünftens haben Verfahrens- und Produktinnovationen nachhaltige Veränderungen von Branchenstrukturen erzwungen. Neue Produkte haben alte ganz oder zum Teil verdrängt. In einigen Branchen hat die Unteilbarkeit von Großaggregaten zu ruckartigen Kapazitätserweiterungen und damit zu temporären Überkapazitäten geführt. Ausnahmen vom Wettbewerbsbeschränkungsverbot haben sechstens maßgeblich zu Engpässen und Überkapazitäten beigetragen. Zu erwähnen sind u. a. die allzu großzügige Zulassung der externen Unternehmenskonzentration, Ausnahmen vom Kartellverbot und Ausnahmeregelungen für einzelne Branchen. Siebtens ist auf falsche Prognosen und irrationales Verhalten meist kleiner Unternehmer zu verweisen. Werden nicht alle verfügbaren Informationen ausgewertet, kann es leicht zu falschen Prognosen kommen. Wegen der harten marktwirtschaftlichen Sanktionen für fehlerhafte Investitionsentscheidungen tritt dieser Fall jedoch selten ein. Überkapazitäten können ferner darauf zurückzuführen sein, daß kleine Unternehmer trotz rückläufiger Gewinne und niedriger Einkommen nicht bereit sind, ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben und sich umzustellen. Beispiele für übersetzte Branchen sind die Binnenschiffahrt und der Straßengüternahverkehr“.7 1.2. Automation 1956 publizierte Friedrich Pollock (1870-1970)8 die Studie „Automation. Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen“. Im Vorwort zur zweiten Auflage (1964) schrieb Pollock: „Als die Europäische Verlagsanstalt mir den Vorschlag machte, mein 1956 veröffentlichtes und in sechs Sprachen erschienenes Buch über die ökonomischen und sozialen Folgen der Automation neu aufzulegen, war es offenbar, daß angesichts

7

Hamm, Walter: Strukturpolitik, sektorale, in: HdWW, 7. Bd., 1988.

8

Pollock war 1933 in die Emigration nach New York ausgewandert und kehrte 1950 nach Frankfurt/M in das wiedererrichtete Institut für Sozialforschung zurück. In: DBE, Bd. 8, 2001, S. 29.

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der unglaublichen Entwicklung, welche die neue Produktionsweise9 in den seither vergangenen sechs Jahren erfahren hatte, ein unveränderter oder nur wenig ergänzter Neudruck nicht zu verantworten war. Nicht als ob ich die in der ersten Auflage vorgetragenen theoretischen Überlegungen und Analysen zu revidieren hätte: sie haben sich in allen wesentlichen Punkten als richtig erwiesen. Aber Tempo und Maß der Ausbreitung der Automation in den Industrieländern haben alle Erwartungen übertroffen, ihre technischen und organisatorischen Möglichkeiten haben die vor wenigen Jahren noch als in absehbarer Zeit unübersteigbar angesehenen Grenzen in breiter Front durchbrochen.10 Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind, zuerst in dem am weitesten ‚automatisierten‘ Land, den Vereinigten Staaten, mit großem Abstand auch in den anderen Industrieländern sichtbar geworden. Alles dies mußte in einer Neuauflage berücksichtigt werden, wenn der Leser keinen falschen Eindruck von der heutigen Lage erhalten sollte. […] Der Bericht stützt sich wesentlich auf amerikanische Erfahrungen. Nur hie und da konnten Beispiele für das Vordringen der Automation in Europa genannt werden. Die einseitige Auswahl des Materials war notwendig, weil die Automation in den Vereinigten Staaten nicht bloß viel weiter fortgeschritten ist als in Europa, sondern dort auch eine umfangreiche, wenngleich noch recht lückenhafte Berichterstattung vorliegt. Es scheint berechtigt, die Geschichte der Automation in Amerika ebenso als das Muster zu betrachten, nach dem sie mutatis mutandis sich in den anderen marktwirtschaftlich organisierten Industrieländern entfalten wird, wie einst der Verlauf der ersten industriellen Revolution in England die kommende Entwicklung auf dem Kontinent angekündigt hat. Unter ‚Automation‘ verstehen wir bestimmte, der gegenwärtigen Phase der technischen Entwicklung eigentümliche Methoden der automatischen Erzeugung und Verarbeitung von Gütern (Produktion) und der Herstellung und Verarbeitung von Informationen für die Betriebsführung (Buchhaltung, Lagerhaltung, Statistiken aller Art, Berechnung von Alternativen usw.). Wir sprechen also von der Ära der ‚Automation‘ in einem analogen Sinn, wie wir das 19. Jahrhundert als die Ära der Industrialisierung und die Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen als die Phase der ‚Rationalisierung‘ kennzeichnen. Als Synonym für ‚Automation‘ gebrauchen wir gelegentlich den Ausdruck ‚automatische Produktionsweise‘. Ziele und Methoden der ‚Automation‘ lassen sich zur ersten Orientierung etwa folgendermaßen beschreiben: Automation als Produktionstechnik hat zum Ziel, die menschliche Arbeitskraft in den Funktionen der Bedienung, Steuerung und Überwachung von Maschinen sowie der Kontrolle der Produkte soweit durch Maschinen zu ersetzen, daß vom Beginn bis zur Beendigung des Arbeitsprozesses keine 9

Unter Produktionsweise verstehen wir im Folgenden alle für die wirtschaftliche Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens angewandten Methoden der Fertigung, Verteilung und Verwaltung.

10 Beispiele hierfür sind die neuen Methoden der automatischen Programmierung und der numerischen Kontrolle, die Rolle des „operations research“, die Entwicklung der „denkenden“ Elektronenrechner, die tendenzielle Verdrängung des mittleren management und vieler Berufszweige durch die Geräte der Automation.

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menschliche Hand das Produkt berührt. Ihre Methoden lassen sich sowohl auf Teilprozesse der Fertigung als auch auf einen vollständigen Produktionsgang vom Rohstoff bis zum Fertigfabrikat anwenden. Im ersten Fall sprechen wir von partieller Automation, im zweiten von vollautomatischer Produktionsweise. Weitgehende Annäherung an die vollautomatische Fabrik stellen gewissen Fabriken der Kriegsindustrie, insbesondere die Atomwerke dar, in der nichtmilitärischen Industrie Produktionsstätten der Petroleumraffinerie, der Fabrikation von Motorenblöcken und -kolben, Futtermühlenbetriebe, Glasflaschenfabrikation, Biskuitfabriken, Zigarettenindustrie usw. Wo die Methoden der Automation auf Büroarbeiten im weitesten Sinn angewandt werden, ersetzen sie den Menschen bei der Berechnung, Verbuchung, Statistik und Kontrolle der gewünschten ‚Informationen‘ sowie bei der Ausführung vieler damit verbundener Schreibarbeiten. Die Elektronenrechner leisten darüber hinaus noch eine Reihe wichtiger Dienste, auf die später zurückzukommen ist. Der wichtigste methodische Grundsatz der Automation in der Produktionsphäre ist die Integrierung der bisherigen diskontinuierlichen Einzelprozesse der Produktion in einen zusammenhängenden, fließenden Gesamtprozeß, der mit Hilfe gekoppelter, technisch höchstentwickelter Spezial- und Werkzeugmaschinen ausgeführt und von elektronischen Geräten gesteuert und überwacht wird. Man könnte sagen, daß die bisher vorwiegend für die Montage angewandten Methoden des Fließbandes auf die Materialbearbeitung übertragen werden, jedoch mit dem Unterschied, daß die am Fließband bisher tätigen Arbeitskräfte durch neuartige Maschinen ersetzt werden. Dies wird ermöglicht durch Methoden und Erfindungen, die auf der in den letzten zwei Jahrzehnten geschaffenen mathematischen Theorie der Kommunikation (‚theory of communication‘) aufgebaut sind und Namen wie ‚Rückkopplung‘ (‚feedback‘), ‚Elektronenrechner‘ oder ‚Rechenautomat‘ (‚computer‘) ‚Kontrollmechanismus‘ (‚servomechanism‘) tragen. Aus dem bisher Gesagten läßt sich erkennen, daß Automation viel mehr bedeutet als die Anwendung automatischer Maschinen. Ihre vielleicht revolutionäre Wirkung auf die Wirtschaft und Gesellschaft fließt aus ihrer ans Phantastische grenzenden Leistungsfähigkeit. An dieser Stelle können wir erst begründen, warum wir für die Bezeichnung der neuen technischen Methoden die Neubildung ‚Automation‘ verwenden, anstatt uns mit dem gebräuchlichen Wort ‚Automatismus‘ zu begnügen. Dies geschieht, um die Produktion mit Hilfe von ‚Automaten‘ – das heißt automatischer Maschinen, die auf Grund mechanischer Prinzipien konstruiert sind (wie etwa der automatische Webstuhl) – von der oben bezeichneten neuen Produktionsweise zu unterscheiden. Man könnte sagen, daß die Phase des ‚Automatismus‘, wie sie in dem folgenden Zitat charakterisiert wird, der neuen Ära der ‚Automation‘ vorangeht: „Technischer Fortschritt ist gleichbedeutend mit einer Vermehrung der Automaten aller Art. Die Fabrik selbst wird zum Automaten, wenn der gesamte Arbeitsvorgang, an dessen Ende das technische Produkt steht, durch einen selbsttätigen Mechanismus verrichtet und mit mechanischer Gleichförmigkeit wiederholt wird. Der Arbeiter greift mit der Hand nicht mehr in die Arbeit des Automaten ein, er kontrolliert als Mechaniker seine automatische Funktion. […] Wir sind von einem

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stets fortschreitenden Automatismus, dem alle Gebiete der Technik zustreben, umgeben […] (Die Aufgabe der Automaten besteht darin), den von ihnen geforderten Arbeitsvorgang mit jener mechanischen Gleichförmigkeit zu wiederholen, mit der die Schallplatte immer das gleiche Stück hervorbringt. Erst durch diesen Automatismus erhält unsere Technik das ihr eigentümliche Gepräge, das sie von der Technik aller anderen Zeiten unterscheidet“.11 Die Besonderheit der neuesten Technik liegt darin, daß ein großer Teil der dem Arbeiter im ‚Automatismus‘ noch verbliebenen Funktionen, so zum Beispiel die Zufuhr des zu bearbeitenden Materials, Ingangsetzen und Abstellen der Maschinen, Kontrolle der Qualität und Menge des Produkts, Gesamtüberwachung des Arbeitsprozesses, ebenso wie die Handhabung von nichtautomatischen Werkzeug- und Einzweckmaschinen durch vorwiegend elektronische Geräte übernommen werden können. Das logische Endziel der Automation, das technisch zwar bereits erreichbar ist, aber aus später zu erörternden Gründen in der Praxis vorläufig nur ausnahmsweise angestrebt wird, ist der vollautomatische Arbeitsprozeß. Er liegt dann vor, wenn die Produktionslage ‚ohne menschliche Eingriffe das Endprodukt innerhalb der vorgeschriebenen Qualitätstoleranzen liefert‘.12 Charakteristisch für einen solchen vollautomatischen Arbeitsgang sind folgende vier Merkmale: 1.

2. 3. 4.

Alle Vorgänge der Materialverarbeitung, Montage und Verpackung sind integriert und erfolgen automatisch. Sie beginnen mit der Empfangnahme der Rohmaterialien (oder Halbfabrikate) und enden erst, wenn die Verarbeitung abgeschlossen ist; die einzelnen Arbeitsprozesse sind derart aufeinander abgestimmt, daß der Gesamtprozeß gleichmäßig fließen kann; die Halbfabrikate werden automatisch von Maschine zu Maschine befördert; nach jedem wichtigen Arbeitsgang wird das Halbfabrikat (und am Ende das Fertigfabrikat) automatisch daraufhin inspiziert, ob es von den vorgeschriebenen Qualitätstoleranzen abweicht. Ist dies der Fall, dann werden, ebenfalls automatisch, die notwendigen Korrekturen an der Maschine oder im Arbeitsprozeß vorgenommen oder, falls dies nicht möglich ist, der Aufseher alarmiert. Außerdem zeigen die einzelnen Werkzeug- oder Spezialmaschinen noch vor dem Überschreiten der Toleranzen an, wenn einer ihrer Teile sich erheblich abgenutzt hat.

Ebenso wie beim Fließbandprozeß wird hier der Produktionsvorgang in kleinste Teiloperationen zerlegt, die dann wieder in einen fließenden Gesamtprozeß integriert sind. Aber der für uns wesentliche Unterschied liegt darin, daß in der vollentwickelten Automation von den im traditionellen Fließbandprozeß notwendigen menschlichen Arbeitskräften nur noch das Personal für die Einstellung, Beaufsichtigung und Instandhaltung der Maschinerie übrig geblieben ist. Etwas Ähnliches gilt, wie wir gesagt haben, für die Handhabung der automatischen Maschinen. Nichtautomatische Einzweck- und Werkzeugmaschinen, für deren Handhabung in der Regel hochqualifizierte Facharbeiter notwendig sind, können ebenfalls mittels elektronischer Geräte gesteuert werden. Den nicht mit der Leitung der Arbeiten und der Bedienung und Instandhaltung der Kalkulatoren und ihrer Zusatzgeräte betrauten Angestellten bleibt bisher in den 11 Jünger, Georg Friedrich: Die Perfektion der Technik, 2. Aufl., Frankfurt/M 1949, S. 31 f. 12 Oetker, R.: Vollautomatisierung, in: Regelungstechnik, 1954, Heft 3.

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automatisierten Büros nur eine recht beschränkte Zahl von Tätigkeiten: die Belieferung der Maschinen mit dem Rohmaterial der ‚Information‘ (‚input‘), die Weitergabe des ‚output‘ – das heißt der Mitteilungen aller Art, die von den Maschinen geliefert werden – sowie die Ausführung nichtrepetitiver Aufgaben, zum Beispiel die Erledigung der nichtstandardisierten Korrespondenz und ihre Registrierung, der persönliche Verkehr mit Kunden oder dem Personal anderer Betriebsabteilungen und ähnliche, ‚eigenes Urteil auf höherer Stufe‘ erfordernde Funktionen. Hinzu tritt als neue Funktion die des ‚Programmierers‘. Im Gesamtprozeß der Automation wird den Ingenieuren, den Mathematikern und dem Forschungspersonal die wichtigste Rolle in der Produktion zufallen. Der Weg zur Automation in der Metallindustrie. Die nachfolgende Graphik ist ein Versuch, die Stadien, welche als Fertigung von Metallgegenständen von der Handarbeit bis zur vollautomatischen Fabrik durchläuft, schematisch, d. h. in größter Vereinfachung darzustellen. Die Figuren haben lediglich symbolische, nicht etwa statistische Bedeutung. Die meisten in der Graphik verwendeten Ausdrücke sind ohne weiteres verständlich; für die folgenden mag jedoch eine Erläuterung angebracht sein: automatisch bedeutet automatische Maschine, das heißt einzelne Automaten werden in dieser Phase verwendet. Die Steuerung der Automaten und die Kontrolle des Produktes erfolgen durch Menschen; vollautomatisch: bei einzelnen automatischen Maschinen werden auch die Steuerung der Maschine und die Kontrolle des Produktes automatisch ausgeführt; automatische Einheit: mehrere Werkzeugmaschinen werden durch Transfer-Geräte zu einer Einheit gekoppelt und ihre Arbeit automatisch gesteuert und kontrolliert. Dasselbe Verfahren kann auch auf Montagegeräte Anwendung finden. Hierher gehören z. B. die Werkstätten für die Bearbeitung von Zylinderblocks für die Automobile oder Montagegeräte wie AUTOFAB; automatisches System: mehrere Stufen des Produktionsprozesses, etwa von der Bearbeitung des Materials bis zur Verpackung und Lagerung des Produktes werden zu einem automatisch gesteuerten und kontrollierten Gesamtprozeß vereinigt; automatische Abteilung: ein automatisches System wird bei einer ganzen Abteilung eines Werkes angewendet, während die übrigen Abteilungen noch ganz oder teilweise mit traditionellen Produktionsmethoden arbeiten. Beispiele hierfür sind viele Werke der amerikanischen Stahl- und Automobilindustrie; automatische Fabrik: das logische Ziel der Automation, aber bisher nur in einzelnen Fällen annähernd verwirklicht, z. B. bei den modernsten Petroleumraffinerien oder der Granatenfabrik in Rockford, Illinois.

1123

Der Weg zur Automation in der Metallindustrie

1124

Vielleicht ist es am zweckmäßigsten, nur dann von Automation zu sprechen, wenn mindestens eines der folgenden fünf Merkmale vorliegt: 1. die Verarbeitung von Informationen mittels Elektronenrechner (Electronic Data Processing, kurz EDP): 2. die Steuerung ganzer Fertigungs- und Verwaltungsprozesse mittels dieser Elektronenrechner (Process Control Systems); 3. die Verfahrensforschung (Operations Research); 4. die numerische Steuerung (Numerical Control) zur unmittelbaren Steuerung von Werkzeugmaschinen; 5. die Verkettung von Arbeitsmaschinen mittels automatischer Transfereinrichtungen zu Taktstraßen unter Anwendung des Rückkopplungsprinzips (Detroit Automation). Bei der Automation handelt es sich um eine Entwicklung, die der Gegenwart angehört, von der wir bisher nur die ersten Anfänge kennen, und deren wirtschaftliche und soziale Folgen sich bisher nur in den gröbsten Umrissen erkennen lassen. Liest man die neuesten Berichte über die Leistungen großer und kleiner Elektronenrechner oder Einzelheiten über die Einführung automatischer Methoden in Produktion, Distribution und Verwaltung, dann muß man die Überzeugung gewinnen, daß die Grenzen ihrer Anwendung noch gar nicht abzusehen sind. Technische Grundlagen (1) Das Prinzip der Rückkopplung (‚Feedback‘): Technisch beruht die automatische Produktionsweise auf einer Verbindung alles dessen, was auf dem Gebiet des Maschinenwesens bisher geschaffen worden ist, mit einer grundsätzlich schon früher bekannten, aber erst neuerdings mit Hilfe vorwiegend elektronischer Geräte und dem Elektronenrechner weithin anwendbaren Methode der ‚Selbstregulierung‘ von Arbeitsvorgängen. (2) Arbeitsweise und Leistungen der Elektronenrechner (Computer). (3) Methoden der Datenverarbeitung. Automatische Datenverarbeitung und Dokumentation. (4) Automatische Produktionsmethoden. Das Prinzip der kontinuierlich fließenden Produktion ‚continuous flow production‘. (Process Control)“. Pollock gibt eine große Fülle von Beispielen für die Entwicklung und Ausbreitung der Automation bei der industriellen Produktion von Elektrorechnern, bei den Dienstleistungen, im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, bei der öffentlichen Verwaltung und bei der Anwendung in den Büros der Privatwirtschaft.13

13 Pollock, Friedrich: Automation. Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1964, S. 7-10.

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Vergleich der Kosten bei der Verwendung numerischer Kontrolle für Werkzeugmaschinen mit der traditionellen Produktionsmethode

Automation in Deutschland Schon Ende 1956 war die Automatisierung in Deutschland weiter fortgeschritten als in irgendeinem Land mit Ausnahme der Vereinigten Staaten. Trotzdem war und ist der Abstand in der praktischen Anwendung der automatischen Produktionsweise zwischen diesen beiden Ländern gewaltig. Umso eindrucksvoller ist die Lektüre des RKW-Berichtes,14 der zeigt, auf wie vielen Gebieten die automatische Arbeitsweise schon Mitte der fünfziger Jahre in Deutschland eingeführt oder in Vorbereitung war. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht die Zeitungen oder die Fachzeitschriften über ein weiteres Vordringen der Automation berichten. Die Verteilung der Elektronenrechneranlagen nach Wirtschaftszweigen war nach dem Stand von März 1961 die folgende: Wirtschaftszweige Montanindustrie Chemische Industrie Textil und Bekleidung Eisen- und Metallverarbeitung sowie Maschinenbau Handel und Versicherung Banken, Sparkassen usw. Verkehr und Verwaltung Sonstige Branchen zusammen

absolut 54 82 16

Prozent 8,2 12,4 2,4

145 81 110 94 79

21,7 12,3 16,7 14,3 12,0

659

100,0

14 Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW), Automatisierung, Stand und Auswirkungen in der Bundesrepublik Deutschland, München 1957.

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1.3. Dienstleistungen in der Entwicklung der Wirtschaftsstruktur Nach Gerhard Kleinhenz „erscheint es zweckmäßig, die Dienstleistungen eindeutig als wirtschaftliche Güter zu behandeln und sich für die Begriffsbestimmung und für ihre systematische Einordnung in die Güterlehre der Entwicklung in der ökonomischen Güterlehre entsprechend auf die nutzenstiftenden Eigenschaften der Dienstleistungen zu konzentrieren. Dienstleistungen sind uneingeschränkt und ohne grundsätzliche Besonderheiten als Güter zu verstehen, die (in gleicher Weise wie Sachgüter) wegen ihrer nutzenstiftenden Eigenschaften nachgefragt werden. Dienstleistungen entfalten ihre nutzenstiftenden Eigenschaften nur vermittels materieller Güter oder Medien ebenso wie die nutzenstiftenden Eigenschaften von Sachgütern nur in Verbindung mit Diensten (entgeltlichen oder unentgeltlichen) in der Nutzenproduktion des Haushalts wirksam werden. […] Dienstleistungen können dann als sowohl komplementäre als auch substitutive Güter zu den in der Ökonomie überwiegend interessierenden Sachgütern verstanden werden, wobei die letztlich zur Bedürfnisbefriedigung beitragenden Eigenschaften des Gutes ‚Dienst‘ nicht in den materiellen (Medien) Gütern, sondern im menschlichen leistungspotential bzw. in den Arbeitsleistungen selbst begründet sind. Dienstleistungen in der Entwicklung der Wirtschaftsstruktur: Den Hauptanteil an der wirtschaftswissenschaftlichen Beschäftigung mit den Dienstleistungen nimmt die Diskussion um die ‚Drei-Sektoren-Hypothese‘ für die Entwicklung von Volkswirtschaften ein. Weitgehend übereinstimmend erfolgt dabei die Gliederung der Volkswirtschaft in den primären Sektor (Sektor I: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei), den sekundären Sektor (Sektor II: warenproduzierendes Gewerbe: Bergbau und Industrie, Handwerk) und den tertiären Sektor (Sektor III: Dienstleistungen). Den jeweiligen Gliederungskriterien entsprechend ist der Dienstleistungssektor vor allem im Verhältnis zu dem durch die industrielle Produktion geprägten sekundären Sektor nach A. B. G. Fisher15 durch eine Einkommenselastizität der Nachfrage größer als eins, nach J. Fourastié durch geringeren technischen Fortschritt und nach M. Wolfe durch die Begrenzung des technischen Fortschritts durch die menschlichen Fähigkeiten gekennzeichnet; bei C. Clark16 ist der Dienstleistungssektor als Residuum der nicht zum primären und zum sekundären Sektor gerechneten Wirtschaftszweige bestimmt. Die (vor allem mit J. Fourastié verbundene) ‚Drei-Sektoren-Hypothese“ behauptet als eine Theorie von Entwicklungsstadien oder –stufen die Gesetzmäßigkeit einer Verschiebung der relativen Bedeutung der drei Wirtschaftssektoren vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor.17 Dabei kann die relative Bedeutung der Sektoren in den Anteilen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung oder 15 Fisher, Allan G. B.: Production – Primary, Secondary, Tertiary. Ec Record, Melbourne 15 (1939). 16 Clark, Colin: The Conditions of Economic Progress, London 1940. 17 Fourastié, Jean: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln-Deutz 1954, S. 268 ff.

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an der Beschäftigung bestimmt werden. Die Erklärung für die behaupteten Entwicklungstendenzen beruht sowohl auf Nachfragegesetzmäßigkeiten, die den von E. Engel statistisch ermittelten Strukturen der Haushaltsausgaben (Haushalt, privater) oder der Bedürfnishierarchie von A. H. Maslow verwandt sind (Bedürfnis), als auch auf Annahmen über die Möglichkeiten und Beschränkungen des technischen Fortschritts bzw. der Produktivitätssteigerung. Nachdem die industrielle Entwicklung die behauptete Verlagerung des Gewichts vom Bereich der Urproduktion zum warenproduzierenden Gewerbe bestätigt hat, wird gegenwärtig für die hochindustrialisierten Länder die Entwicklung zur nachindustriellen Gesellschaft vorhergesagt bzw. schon deren Existenz nachzuweisen versucht. Die methodisch kritische Analyse und empirische Untersuchungen zur DreiSektoren-Hypothese haben vor allem zu den folgenden Ergebnissen geführt: (1) Für die heterogenen zum Dienstleistungssektor gerechneten Bereiche bedarf die generelle Annahme eines unterdurchschnittlichen technischen Fortschritts zumindest einer erheblichen Differenzierung; neben Bereichen mit schon bisher gesamtwirtschaftlich überdurchschnittlicher Produktivitätsentwicklung dürfte die Ausbreitung der elektronischen Informations- und Kommunikationstechnologie als Basistechnologie auch für alle Dienstleistungsbereiche zu einer erheblichen Beschleunigung des technischen Fortschritts in diesem Sektor führen. (2) Auch für die Nachfrage nach Dienstleistungen kann nicht generell von einer Einkommenselastizität größer als eins ausgegangen werden. Für die Entwicklung der Nachfrage nach Dienstleistungen sind außerökonomische Bestimmungsfaktoren wie die demographischen Veränderungen (Verringerung der Zahl der Haushaltsmitglieder), räumliche Konzentration der Wohn- und Arbeitsstätten sowie die zeitliche Konzentration von Arbeit und Erholung zu berücksichtigen. Bei der Querschnittsbetrachtung haben die Haushalte mit den niedrigeren Einkommen eine überproportionale Einkommenselastizität für die Nachfrage nach Dienstleistung; in Bezug auf die Abhängigkeit der Nachfrage nach Dienstleistung von der gesamtwirtschaftlichen Einkommensentwicklung ergibt sich eine Überlagerung durch Substitutionseffekte (durch Sachgüter oder Eigenerstellung). Die Entwicklung des Dienstleistungssektors (Sektor III) in der Bundesrepublik Deutschland ist (nach der Gliederung des Statistischen Bundesamtes) im folgenden durch die Anteile an die Bruttowertschöpfung und durch die Anteile an der Erwerbstätigkeit im Verhältnis zu den anderen beiden Sektoren sowie in der Aufgliederung nach den Dienstleistungsbranchen wiedergegeben.

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Entwicklung der Anteile der Sektoren der Teilbereiche des Dienstleistungssektors an der Bruttowertschöpfung der Bundesrepublik Deutschland (in % zu Preisen von 1976)

Entwicklung der Anteile der Sektoren der Teilbereiche des Dienstleistungssektors an der Erwerbstätigkeit der Bundesrepublik Deutschland (in %)

Die Diskussion über die Entwicklung des Dienstleistungssektors in der Bundesrepublik konzentriert sich einmal auf den Fragenkomplex, ob die Bundesrepublik eine ihrem Einkommensniveau nicht angepaßte Sektoralstruktur und Entwicklung des Dienstleistungssektors aufweise, sowie auf die Frage, ob die von Fourastié vermutete Bedeutung des Dienstleistungssektors als Auffangbecken für die in anderen Sektoren freigesetzten Arbeitnehmer zutreffend sei. Die Bundesrepublik weist im internationalen Vergleich (insbes. im Vergleich zu USA und Schweden) für den sekundären Sektor einen relativ hohen Produktions- und Beschäftigungsanteil und für den Dienstleistungssektor einen relativ niedrigen Anteil auf. Diese Besonderheit kann u. a. auf den unterschiedlichen Grad der zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung und des Marktbezugs der Haushalte zurückgeführt werden, aber auch auf die unterschiedliche Entwicklung beim staatlichen Dienstleistungsangebot und auf Wechselkursverzerrungen. Auch in Bezug auf die beschäftigungspolitische Bedeutung des Dienstleistungssektors werden die vor allem im Zusammenhang mit den Beschäftigungsproblemen seit Mitte der 70er Jahre gehegten Erwartungen in die Aufnahmefähigkeit des Dienstleistungssektors nicht erfüllt. Zwar erweist sich die Beschäftigung im Dienstleistungssektor konjunkturell als stabiler und ist (bis 1982) ein stetiges Ansteigen der absoluten Zahl der Erwerbstätigen festzustellen, mit der Folge, daß sich im Rezessionsjahr 1975 der Wechsel in der Führungsrolle bei den Anteilen an der Erwerbstätigkeit vom sekundären zum tertiären Sektor (mit seitdem stetig wachsenden Abstand) vollzog. Das Beschäftigungswachstum im

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Dienstleistungsbereich, das in erster Linie von den Bereichen Staat, Kreditinstitute und Versicherungen sowie den sonstigen Dienstleistungen getragen wurde, erwies sich jedoch keineswegs als ausreichend, um die Beschäftigungsrückgänge im sekundären Sektor auszugleichen, zumal – abgesehen von strukturellen Anpassungsproblemen – vor allem die Ausweitung staatlicher Dienstleistungen von der Entwicklung im sekundären Sektor eingeschränkt wurde. Zur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Bedeutung: Die Beurteilung der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Bedeutung der Dienstleistungen ist zunächst abhängig von der Einschätzung der Gültigkeit der Drei-Sektoren-Hypothese und den aus ihr ableitbaren Konsequenzen für die zukünftige Entwicklung und für wirtschafts- und gesellschaftspolitische Strategien. Dabei stellt sich vor allem die Frage, ob die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft auch Grundlage einer Wachstums- und Entwicklungsstrategie sein kann. Trotz des relativ stetigen Wachstums der Beschäftigung im Dienstleistungssektor und der wohl auch (wegen des in vielen Bereichen relativ niedrigen Kapitalbedarfs) besonderen Eignung des Dienstleistungsbereichs für die Gründung neuer selbständiger Existenzen (und zusätzlicher Arbeitsplätze), dürfte gerade die gegenwärtige Rezession auch die Abhängigkeit der Entwicklung des Dienstleistungssektors vom gewerblichen Bereich verdeutlicht und die Vorstellung von einer in erster Linie vom Dienstleistungssektor getragenen, langfristigen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung in Frage gestellt haben. Ein weiteres Problem stellt sich mit der Anpassung an die offenbar vorherrschende Tendenz der Zunahme des Anteils von Dienstleistungsberufen und -tätigkeiten an der Erwerbstätigkeit in allen Sektoren. In der Bundesrepublik hat sich der Anteil der Beschäftigten mit reinen Warenherstellungstätigkeiten (bei einer Zuordnung nach der überwiegenden Tätigkeit) bis 1980 auf nur noch ca. 27 % verringert und der mit Dienstleistungstätigkeiten auf ca. 71 % erhöht. Damit sind vermutlich in erheblichem Maße Umstellungsprobleme in den Betrieben und bei den Arbeitnehmern verbunden, die im Rahmen der Arbeitslosigkeit und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen nicht für sich ausgewiesen werden können. Gegenwärtig werden diese tätigkeits-strukturellen Anpassungsprobleme durch das Problem der zunehmenden Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch die Anwendung der Basistechnologie elektronischer Informations- und Kommunikationssysteme auch in der Dienstleistungsproduktion überlagert. Eine Weiterführung der These von der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft führt zu der Vermutung, daß in Zukunft nicht ein unersättlicher Bedarf an entgeltlichen Dienstleistungen die freigesetzte Arbeit aufnimmt, sondern daß auf der Grundlage einer höchst produktiven, arbeitssparenden Technik der Erstellung von Sachgütern und standardisierten Dienstleistungen sowie einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit menschliche Zeit und Handlungsantriebe im übrigen auf die Weiterentwicklung und sozial-organisatorische Beherrschung der technischen Möglichkeiten sowie auf ‚Eigenarbeit‘ und ‚Sozialarbeit‘ zur situations- und interessenadäquaten (‚nichtentfremdeten‘, ‚humanen‘) Güterproduktion und Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet sein werden. Eine solche, über die Entwicklung einer ‚post-industriellen‘ Gesell-

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schaft hinausgehende, grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse würde für die Individuen ganz erhebliche Anpassungsprobleme und für die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik die Notwendigkeit grundlegender Reformen beinhalten“.18 Geringer technischer Fortschritt beim Wiederaufbau in der SBZ/DDR Systemimmanente Mängel der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft waren von Anfang an in der Wirtschaft der SBZ/DDR vorhanden19 1. Überhöhte Verwaltungskosten; 2. mangelhafte Sorgfalt bei der Planung von Investitionen; 3. schlechte Arbeitsorganisation; 4. mangelhafte Ausnutzung der Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe; 5. Vergeudung von Arbeitskraft; 6. Verschwendung staatlicher Gelder; 7. mangelnde Arbeitsdisziplin.20 Beim Wiederaufbau nach 1945 wurde in der SBZ/DDR nicht wie in der Bundesrepublik der Faktor Arbeit durch Kapital ersetzt (1950/60), sondern der Wiederaufbau erfolgte weitgehend mit der alten Technik. Die Nettoinvestitionen dienen der Erweiterung und/oder Verbesserung des Produktionsapparates. Sie werden „weiterhin unterteilt in Erweiterungsinvestitionen (Zweck: Erweiterung des Produktionsapparates) und Rationalisierungsinvestitionen; letztere haben den Zweck, das gleiche Produktionsvolumen bei veränderten, kostengünstigeren Faktoreinsatz herstellen zu können“.21 Die Effizienz der Investitionen wird erheblich reduziert, wenn bei der Nettoinvestition nicht die neueste Technik Berücksichtigung finden kann. „Im Textilmaschinenbau hat eine Reihe wichtiger Maschinen Kennziffern, die zum Teil erheblich unter denen der Fabrikate anderer Länder liegen. Alle Projekte für Textilbetriebe, die gegenwärtig (1959) ausgearbeitet werden, weisen daher eine viel zu geringe Steigerung der Arbeitsproduktivität und auch eine zu geringe Senkung der Selbstkosten aus. Für die Rekonstruktion des Werkes I der Baumwollspinnerei Erdmannsdorf z. B. sind im gegenwärtigen Projekt 83 Karden22 mit einer Leistung von 3,75 Kilogramm je Stunde und

18 Kleinhenz, Gerhard: Dienstleistungen, in: Staatslexikon (Hrsg.): Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., 2. Bd., 1995, Sp. 49 ff. Eick, Jürgen: Dienstleistungen, in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 550 ff. 19 Schmidt, Martin: Die gesellschaftliche Bedeutung des Feldzuges für strenge Sparsamkeit, in: Wirtschaftswissenschaft, 1954, S. 137-148. 20 Behrens, Fritz: Arbeitsproduktivität und Arbeitsintensität. Bemerkungen zu ökonomischen und politischen Problemen der Übergangsperiode, in: Wirtschaftswissenschaft, 1956, S. 398 f. 21 Kromphardt, Jürgen: Investitionen I: Volkswirtschaftliche, in: HdWW, 4. Bd., 1988, S. 247. 22 In der Spinnerei Vorrichtung, mit der die büscheligen Fasern des zu spinnenden Materials geglättet, von Verunreinigungen befreit, parallel ausgerichtet und zu einem gleichmäßigen Flor ausgebreitet werden.

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Maschineneinheit vorgesehen. Die durchschnittliche internationale Leistung von Karden beträgt aber sechs Kilogramm je Stunde“.23 An die technische Weiterentwicklung im Textilmaschinenbau wurde nach 1945 „nur sehr zaghaft und langsam herangegangen. Dies erklärt, daß heute (1960) noch im Textilmaschinenbau ein großer Teil veralteter Maschinentypen, die teilweise weit unter dem heutigen Weltstand liegen, gefertigt wird. Trotz der Forderungen der Textilindustrie nach produktiven und moderneren Textilmaschinen und Anlagen verstand es die Leitung der damaligen Hauptverwaltung bzw. der VVB24 Textilmaschinenbau nicht, die Entwicklung von dem Weltstand entsprechenden Maschinen und Anlagen zu forcieren. Diese Vernachlässigung beruht zu einem großen Teil auf der mangelhaften Leistungsfähigkeit der ehemaligen Leitungsorgane des Textilmaschinenbaus“.25 „Im Stahl- und Walzwerk Brandenburg wurde im Jahr 1956 eine Drahtstraße in Betrieb genommen, die eine Schichtleistung von 36 Arbeitskräften erfordert. Straßen, die die Möglichkeit der neuen Technik voll ausschöpfen, erfordern jedoch nur sechs bis acht Kräfte je Schicht. In Finow wurde ein Warmbandwalzwerk in Betrieb genommen, das in seiner technischen Konzeption völlig überaltert ist“.26 Der spezifische Energieeinsatz war in der DDR 1950 in etwa so hoch wie in Westdeutschland, lag 1960 jedoch um ca. 30 Prozent höher, „da sich weder Kohleverbraucher noch der Maschinenbau ernsthaft um die Senkung des Energieeinsatzes bemüht hatten. Bei einem gleichen spezifischen Energieeinsatz wie in Westdeutschland wäre 1960 eine um 53 Millionen Tonnen geringere Kohleförderung notwendig gewesen. Diese Menge entspricht einem Investitionsaufwand von etwa 3 Milliarden MDN27 und etwa 400 bis 500 Millionen MDN laufende Betriebskosten“.28

23 Grosse, Hermann: Zu einigen Fragen des Nutzeffekts der Investitionen, in: Einheit, 14. Jg., Nov. 1959, Heft 11, S. 1489. 24 Vereinigungen Volkseigener Betriebe. Nach Auflösung der Produktionsministerien seit Februar 1958 wurden deren bisherige fachliche Hauptverwaltungen (jene Stellen also, die direkt oder über „Verwaltungen Volkseigender Betriebe“ die Produktionsbetriebe anleiteten) unter der Bezeichnung „Vereinigungen Volkseigener Betriebe“ in Industrieorten mit der Aufgabe der operativen und produktionsnahen Anleitung der „volkseigenen“ Industriebetriebe etabliert. 25 Dünnebier, Günther / Kohler, Karl Heinz / Mayerhofer, Rudolf: Zur sozialistischen Rekonstruktion im Textilmaschinenbau, in: Wirtschaftswissenschaft, 1960, S. 363. 26 Grosse, Hermann: Zu einigen Fragen des Nutzeffekts der Investitionen, in: Einheit, 14. Jg., Nov. 1959, Heft 11, S. 1489. 27 Durch den Geldumtausch 1948 in der Sowjetzone wurde die „Deutsche Mark der Deutschen Notenbank“ geschaffen. Die Bezeichnung der Währungseinheit wurde am 31.7.1964 in „Mark der Deutschen Notenbank“ und im Dezember 1967 in „Mark der Deutschen Demokratischen Republik“ geändert. 28 Mann, Helmut: Die Weiterentwicklung des Preissystems in der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung, in: Wirtschaftswissenschaft, 1966, S. 989.

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2. Die Ursachen des extensiven Wachstums in sozialistischen Zentralplanwirtschaften: Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts führt zu hoher Innovationsschwäche. Der zentralbilanzierte Plan war starr und besaß keine Flexibilität für Innovationen Nach Christian Watrin und Matthias Schmidt ist das „Kennzeichen einer dynamischen Wirtschaft die fortwährende Umdisposition der in ihr eingesetzten Ressourcen. Diese üblicherweise als Strukturwandel beschriebenen Prozesse werden hervorgerufen durch neue zum Einsatz gelangende Produktionsverfahren, durch den Wandel der Bedürfnisse, durch Änderungen in der Produktionsfaktorenausstattung (Entdeckung oder Abbau von Rohstoffvorkommen, Zu- oder Abwanderung von Menschen oder Kapital), durch Veränderungen der Kostensituation und durch Verschiebungen zwischen handelbaren und nicht handelbaren Gütern im internationalen Wirtschaftsverkehr. Strukturwandlungen schlagen sich nieder in Veränderungen der relativen Preise, die ihrerseits wiederum Signale für die Umstellung der Produktion und die Anpassung an neue Marktkonstellationen sind. Im Prozeß des Strukturwandels (bzw. der Reallokation von Ressourcen) entstehen z. B. Überangebote auf einzelnen Märkten infolge rückläufiger Nachfrage nach den jeweiligen Produkten (Steinkohle,29 Stahl),30 die ihrerseits entweder den Marktaustritt oder das Überwechseln von Produktionsfaktoren in andere Branchen oder Regionen (Standorte) erforderlich machen“.31 Watrin und Schmidt heben als Kennzeichen einer dynamischen Wirtschaft die „Umdisposition der in ihr eingesetzten Ressourcen, neue Produktionsverfahren, die Reallokation von Ressourcen im Prozeß des Strukturwandels und eine neue Kombination von Produktionsfaktoren“ hervor. Zu den Grundproblemen des Wirtschaftens gehören (1) das Lenkungs- bzw. das Allokationsproblem, (2) das Leistungsproblem, (3) das Verteilungssystem und das Interessen- und Machtausgleichsproblem. „Aufgrund der Knappheit von Konsum- und Investitionsgütern und infolge der Arbeitsteilung ist es aus ökonomischen Vernunftgründen erforderlich, dass eine möglichst sachlich optimale Allokation, d. h. eine zeitlich und regional optimale 29 Tettinger, Peter J. / Schneider, Hans K.: Kohle, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, Sp. 564-570. 30 Vondran, Ruprecht: Eisen- und Stahlindustrie, in: Ebd., 2. Bd., Sp. 208-214. 31 Watrin, Christian, Schmidt, Matthias: Strukturpolitik, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, Sp. 369 ff. Die Strukturpolitik wird oft mit dem Argument des sozialen Schutzes zu rechtfertigen versucht. Aus ordnungspolitischer Sicht ist jedoch erstens auf die in der Marktwirtschaft wirksame Generalkompensation zu verweisen: Wer durch Strukturwandel Einbußen erleidet, wird, da er gleichzeitig auf allen anderen Gebieten an den Wohlfahrtssteigerungen einer dynamischen Wirtschaft teilnimmt, für die ihm auf einem Markt entstehenden Verluste in vielfacher Weise entschädigt. Zweitens ist zu fragen, ob sozialer Schutz nicht wirkungsvoller und mit geringeren volkswirtschaftlichen Kosten durch eine Politik zu erreichen ist, die ihre Mittel nicht, wie die Strukturpolitik, in Form von Produzentenhilfen in erster Linie einzelnen Branchen, Unternehmen oder Regionen zugutekommen läßt, sondern die sich auf echte Notfälle konzentriert.

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Verteilung der Güter bzw. der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren innerhalb eines Wirtschaftsraumes erreicht wird. Dies ist notwendig, um den Menschen in diesem Wirtschaftsraum in der betrachteten Periode eine relativ hohe materielle Versorgung zu garantieren. Angestrebt wird eine optimale Lösung des Lenkungsbzw. des Allokationsproblems“.32 In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft erhält der Volkseigene Betrieb naturale Bilanzanteile und soll dann das produzieren, was im Zentralplan vorgegeben ist. Die Bilanzanteile sind dann beispielsweise für 1 Jahr starr und es ist im voraus festgelegt, was und wieviel in einem Jahr produziert werden soll. Eine Umdisposition bzw. eine Reallokation von Ressourcen ist im starren System der naturalen sozialistischen Zentralplanwirtschaft grundsätzlich nicht möglich, d. h. auch der technische Fortschritt und Innovation sind exogen, d. h. außerhalb des Systems. In der dynamischen Marktwirtschaft sind technischer Fortschritt und Innovation endogen, d. h. sie werden im System der dynamischen Marktwirtschaft generiert und treiben es voran. Das erwerbswirtschaftliche Prinzip, dynamische und kreative Unternehmer im Wettbewerb sind die Konstituanten dieses Systems. Klaus Krakat beschreibt in seiner „Schlußbilanz der elektronischen Datenverarbeitung in der früheren DDR die Schwierigkeiten beim Rechnereinsatz in den Volkseigenen Betrieben. „Zunächst kann allgemein festgestellt werden, daß die vorhandenen Erkenntnisse der Forschungsstelle (Berlin) über den unbefriedigenden Leistungsstand der Rechentechnik in der DDR nicht nur durch selbstkritische Veröffentlichungen, sondern ebenso durch die erfolgten Betriebsbesuche bestätigt wurden. Einigkeit besteht in der DDR vor allem darüber, daß auch der relativ unzureichende Einsatz von Rechnern in die Betriebspraxis einer der Gründe für das Zurückbleiben auf dem EDV-Sektor gegenüber den hier führenden westlichen Industrieländern bildete und daher ebenfalls für den vergleichsweise niedrigen Automatisierungsgrad der DDR-Industrie verantwortlich war. Bekanntlich wurde der Automatisierungsgrad ebenso durch den unbefriedigenden Einsatz numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen, Bearbeitungszentren und Fertigungszellen entscheidend mit beeinflußt. Die Situation von Entwicklung und Nutzung der elektronischen Rechentechnik im ersten Halbjahr 1990 in der DDR läßt sich insbesondere durch folgende Merkmale charakterisieren. (1) Bei etwa 85 v. H. der installierten Rechner handelte es sich um Anlagen aus ehemaligen Kombinatsbetrieben. Rund 80 v. H. stammten aus der Produktion des Kombinates Robotron. Dieses produzierte zuletzt, angefangen von Kleinrechnern über Personalcomputer und Superminis bis hin zu EDVA des ESER, praktisch Rechner aller Größenordnungen. Ernst zu nehmende Konkurrenten gab es für Robotron nicht, dazu war das Produktionsvolumen der beiden anderen Rechnerhersteller, der Kombinate Automatisierungsanlagenbau Berlin (Industriecomputer 32 Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre. Grundriß für Studierende, Herne, Berlin 2004, S. 28 f.

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ICA 700) und Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow (P 8000 und P 8000 compact) zu gering. Darüber hinaus genossen diese Kombinate lange Zeit nicht die für Robotron typische umfangreiche staatliche Unterstützung. Robotron hatte somit die Position eines Monopolisten erlangt, in die es seit seiner Gründung im Jahre 1969 mit staatlicher Zustimmung hineingewachsen ist. (2) Da die Produktionskapazitäten bei Robotron begrenzt, legale Importe aus dem Westen auf Grund des Cocom-Embargos nicht möglich und selbst der Kauf von Rechentechnik durch DDR-Betriebe aus anderen RGW-Ländern nicht ohne Zustimmung staatlicher Leitungsorgane möglich waren (staatliches Außenhandelsmonopol), mußte der Rechnereinsatz in den Betrieben in der Regel langfristig geplant werden. Betriebe, die den Einsatz von Rechnern vorsahen, mußten ihren Bedarf gegenüber den hierfür zuständigen Staatsorganen ‚bilanzieren‘ und begründen. Mit diesem Verfahren wurde der individuelle Rechnerbedarf mit den staatlich gesetzten Prioritäten in Übereinstimmung gebracht. Daher konnte nicht jeder Betrieb, der einen Rechnerbedarf ‚angemeldet‘ hatte, auch mit einer Rechnerzuteilung rechnen. Privatinitiativen waren daher in der Regel notwendig, um notwendige Hard- und Software zu beschaffen. Wenn ein angemeldeter Bedarf akzeptiert und die entsprechenden Lieferungen angewiesen wurden, dann erhielten die Betriebe in der Mehrzahl der Fälle nur eine Rechner-Minimalkonfiguration (die sogenannte ‚Nendel-Konfiguration‘, benannt nach dem ehemaligen Staatssekretär im aufgelösten Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik), bei der z. B. Drucker fehlten. Das Ergebnis der früheren staatlichen Investitionspolitik äußert sich nunmehr in dem u. a. 1989 realisierten Rechnerbestandsdaten. (3) Offizielle Rechnerzuteilungen und mithin der rechentechnische Ausstattungsstand der Betriebe war in der Regel abhängig von den von der früheren Parteiund Wirtschaftsführung gesetzten gesamtwirtschaftlichen Prioritäten. Dementsprechend konnten Betriebe aus den ‚sogenannten strukturbestimmenden Industriezweigen‘, denen zudem besondere Aufgaben z. B. im Rahmen der Durchsetzung des früheren Mikroelektronik-Programms der SED zugewiesen worden waren, kaum über einen Computermangel klagen. (4) Obwohl während der letzten Jahre vermehrt 16-Bit-Rechner sowie 32-BitSuperminis zum Einsatz kamen, wurde das Gesamtniveau der EDV 1989 und 1990 zu etwa gleichen Teilen von der 8- und 16-Bit-Technik geprägt. Die als sogenannte Einplatzsysteme, d. h. im Stand-alone-Betrieb eingesetzten Rechner, kamen innerhalt der Industrie schwerpunktmäßig in den Bereichen Elektrotechnik/Elektronik und Maschinenbau zum Einsatz“.33 Die grundsätzlichen Schwierigkeiten, Erträge von Forschung und Entwicklung in die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft, d. h. in die

33 Krakat, Klaus: Schlußbilanz der elektronischen Datenverarbeitung in der früheren DDR, Berlin 1990.

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Produktion, überzuleiten, führte im Stalinistischen Industrialisierungsmodell zu extensivem Wachstum. Die Intensivierung gelang keinem der sozialistischen RGWLänder. Die Folge davon war, daß die sozialistischen Länder in altindustriellen Strukturen steckenblieben, d. h. eine Modernisierung der Wirtschaft war in diesem System nicht möglich. Dies sehen auch die Experten vom ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Plankommission so. „Im Zeitraum zwischen 1971 und 1988 wurden die Investitionen überwiegend zur Kapazitätserweiterung und Erhöhung des Kapitalstocks eingesetzt. Im produzierenden Bereich entfielen darauf 84 %, während nur 16 % der Investitionen dem Ersatz dienten. Die Aussonderungsrate betrug lediglich 0,9 %. Die Dependenz geringer Aussonderung von extensiver Programmdurchführung ist am Beispiel der metallverarbeitenden Industrie deutlich nachvollziehbar. So stieg der Anteil der Investitionen zur Erhöhung des Kapitalstocks unter dem Einfluß des PKW- und NKW-Programms sowie des Mikroelektronikprogramms von 65 % im Zeitraum von 1976 bis 1980 auf 81 % in den Jahren 1981 bis 1985, Im gleichen Zeitraum verringerte sich die Aussonderungsrate der metallverarbeitenden Industrie insgesamt von 2,9 % auf 1,5 %, im Mittel der Jahre 1976-1987 betrug sie 2,0 %. Dabei waren die an den Programmen beteiligten Kombinate mit einer mittleren Aussonderungsrate von 2,5 % eher in der Lage auszusondern, als vergleichbare Ausrüstungskombinate, die nur 1,9 % erreichten. Demgegenüber erfolgte in der BRD ein überwiegend intensiver Einsatz der Investitionen. So dienten zwischen 1981 und 1985 in der Industrie der BRD rund 75 % der Investitionen dem Ersatz ausgesonderter Grundfonds. Der vorwiegend extensive Investitionseinsatz in der DDR und der auf Intensivierung, Modernisierung und Aufwandssenkung orientierte Investitionseinsatz in der BRD wird auch durch die unterschiedliche materiell-technische Struktur der Investitionen belegt. Der Anteil der Ausrüstungen war in der BRD wesentlich höher als in der DDR“.34 Das extensive Wachstum wird von Christian Heimann ebenfalls bestätigt. „Aufgrund der strukturellen Defizite der Zentralverwaltungswirtschaft war es der DDR-Wirtschaftspolitik nach Einschätzung von DDR-Wirtschaftswissenschaftlern nicht ausreichend und nicht frühzeitig genug gelungen, den technischen Fortschritt in rationellere Fertigungsmethoden umzusetzen, i. e. die sogenannte ‚intensiv erweiterte Reproduktion‘ als Quelle des wirtschaftlichen Wachstums zu nutzen und damit die volkswirtschaftliche Struktur zu modernisieren. Wie auch in den anderen RGW-Ländern war die Wirtschaftsstruktur der DDR daher noch geprägt durch ‚die Merkmale der extensiven Phase bzw. der Industrialisierung‘, i. e. ‚hoher Anteil der Grundstoffindustrie innerhalb der Industrie, relatives Zurückbleiben der produktiven Infrastruktur gegenüber der Industrie‘. Noch 1989 befand ‚sich die Volkswirtschaft bei der Ausschöpfung der Strukturpotentiale der wissenschaftlich-technischen Revolution erst am Anfang. […] Ein

34 Kusch, Günter / Montag, Rolf / Specht, Günter / Wetzker, Konrad: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 58.

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entscheidender Strukturschub, sowohl in den Aufwands- als auch in den Ergebnisstrukturen, also insgesamt in der Produktionsstruktur, steht auch für unsere Volkswirtschaft noch aus‘. Im internationalen Vergleich und insbesondere gegenüber den OECD-Ländern lag die DDR damit zurück, denn der ‚Inflexionspunkt‘ von dominierend durch extensives Wachstum der Volkswirtschaft begründetem Strukturwandel zu dem dominierend durch intensives Wachstum begründeten Strukturwandel war vor allem in den führenden marktwirtschaftlichen Ländern bereits eingetreten“.35 2.1. Hat es eine Innovationskultur in der DDR überhaupt gegeben, geben können? Von Reinhard Buthmann Ich will auf diese vielfach erörterte Frage durch Reduzierung des Gesamtphänomens der Innovation auf einen DDR-typischen ideologischen Term und auf ein Fragment der Technologiegeschichte, dem der Frühgeschichte der DDR-Mikroelektroniktechnologie, eine grundsätzliche Antwort versuchen.36 Der Begriff Innovation gilt für jenen produkt- oder technologieeinführenden Vorgang in der Volkswirtschaft, der zwischen Invention (Making things possible) und Diffusion, also Marktdurchdringung liegt. Der Platz der Innovation ist mithin jener Bereich in der Volkswirtschaft, der am empfindlichsten auf zentralwirtschaftliche (Fremd-)eingriffe reagiert, insbesondere wenn diese unvollkommen, inkonsistent, unstet und unelastisch erfolgen. Im vorliegenden Fall geht es nicht um eine Verbesserungsinnovation, denn dieser Typ war – wenngleich nicht unter diesem Namen – in der DDR dominant, sondern um eine Basisinnovation, nämlich die der Mikroelektroniktechnologie. Sie ab Mitte der 1960er Jahre zu entwickeln, war höchste Zeit. Doch die SED hatte hiervon, geschweige denn von der Art dieser Innovation und der neuartigen Technologie, keine zureichende Vorstellung. Das war recht eigenartig, da sie den wissenschaftlich-technischen Fortschritt geradezu zelebrierte und dem sozialistischen Lager hierin die Führerschaft andichtete. Ein Paradoxon, das nicht nur von begrifflich-normativer, sondern, wie wir sehen werden, faktischer Bedeutung war. In der DDR ist der Begriff Innovation bis 1983 verschwiegen worden. Alois Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“, Berlin 1912, lag in den Giftschränken der großen Bibliotheken. Das Ökonomische Lexikon erwähnt selbst in seiner dritten Auflage von 1978 das Stichwort „Innovation“ nicht,37 dem Jahr, in dem die DDR noch einmal begann, die Technologie der Mikroelektronik zu entwickeln. Bestimmungselemente der Innovation enthalten jedoch die Begriffe „Erfindung“ und „Forschung und Entwicklung“. Auch definiert das Lexikon sinngemäß 35 Heimann, Christian: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945-1989, Frankfurt / Main 1997, S. 59 f. 36

Die Frühgeschichte der Mikroelektronik ist u. a. ausführliches Thema eines Buches des Verfassers zur Geschichte der Wissenschaftspolitik der DDR, es erscheint voraussichtlich 2017.

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Ökonomisches Lexikon in drei Bänden. Berlin (-Ost) 1978, 3., neu bearbeitete Auflage.

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die Begriffe „Erneuerung der Produktion“, „Erneuerungsgrad“ und „Erneuerungsmodelle“. Unter „Erneuerung der Produktion“ findet sich durchaus die Innovationsidee: „Erneuerung der Produktion – Ablösung veralteter oder nicht mehr dem Bedarf entsprechender Erzeugnisse durch Neu- bzw. Weiterentwicklung und Veränderung der entsprechenden Produktionsbedingungen“.38 Der Begriff „Innovation“ taucht erstmals 1983 in der 5. Auflage des Wörterbuchs der Ökonomie. Sozialismus auf.39 Vorher, in der Praxis der Betriebe, war ein sehr reduzierter Begriff der Innovation in dem Vehikel der „intensiv erweiterten Reproduktion“ zu Hause. So wurde der Begriff der Innovation gewissermaßen synonym mit Intensivierung, Effizienz-Steigerung, Veredlung oder Kostensenkung verwandt. Erst 1986 schlug die DDR recht offene Töne zur Innovationsproblematik an. Überall war nun die Rede von der Innovation, und die innovationsbezogenen Statistiken bogen sich sprichwörtlich wie die Balken. Es war die Periode der höchsten Anstrengungen der DDR auf den Gebieten militärisch angelegter Hochtechnologien im Rahmen ihres Anti-SDI-Programms.40 Ein Feld, das nicht nur unter der gewöhnlichen Überzentralisierung, sondern unter extremster Geheimhaltung litt, so dass aus dem ohnehin problematisch dualen Charakter der ökonomischen Entscheidungsprozesse in der DDR durch den Einsatz der Staatssicherheit explizit und massiv ein trialer Charakter entstand, der nun den notwendigen Bedingungen der Innovation überhaupt nicht mehr entsprach. Zu den unabdingbaren Vorbedingungen für Innovationen zählt erstens die Grundlagenforschung zur Realisation von Inventionen. Ausreichende Mittel und ein hinreichendes Verständnis für diese Basis allen Fortschritts gab es in der DDR so gut wie nie. 1965 sah sich der Physiker Martin Strauss (1907 bis 1978) veranlasst, ohne Wenn und Aber eine uneingeschränkte Förderung der Grundlagenforschung öffentlich zu fordern. Es müsse „alles vermieden werden, was zu einer Beschränkung der Grundlagenforschung auf den zukunftsträchtigen Gebieten führen würde“.41 Dazu zählt zweitens eine Industrieanbindung, doch die war weder frei bestimmbar noch verlässlich. Der Chemiker Erich Thilo (1898 bis 1977) hatte 1960 zu Fragen der Überführung von Forschungsergebnissen in die Produktion stellvertretend für viele im akademischen Raum arbeitende Wissenschaftler geklagt, dass es zwar „im gesamten chemischen Bereich der Forschung eine ganze Reihe von 38 Ebd., Bd. A-G, S. 567. 39 Wörterbuch der Ökonomie. Sozialismus. Berlin (-Ost) 1983, S. 401 f. 40 Buthmann, Reinhard: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. 2., durchges. Aufl., Berlin 2000, S. 199216. Die sogenannten Anti-SDI-Projekte der DDR waren mehrheitlich im Rahmen der streng geheimen und konspirativ organisierten Großprojekte wie „Präzision“ und „Heide“ in Instituten, Hochschulen und Betrieben angelegt. Sie beinhalteten die modernsten Techniken, Kenntnisse und Forschungen auf ausgewählten Gebieten der Physik, Mathematik und Informationstechnik. Deren grundsätzliche Ausrichtung unterschied sich nicht von jener, die die USA mit ihrem SDI-Programm (Strategic Defense Initiative) verfolgte. 41 Strauss, Martin: Thesen in Vorbereitung des I. Philosophischen Kongresses der DDR 1965. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Strauss, Nr. 61, S. 1-4, hier 3.

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Ergebnissen“ gäbe, „die produktionsreif“ seien, doch es mangele „sehr oft“ an den „notwendigen Investitionen“, um die „Forschungsergebnisse in der Produktion zu verwirklichen“. Auf der anderen Seite würden die Industriebetriebe mangels freier Kapazitäten „nicht in der Lage“ sein, die „Forschungsergebnisse in die Produktion zu überführen“.42 Drittens zählt dazu die Kreativität, die zwar gewollt und gefordert wurde, doch die gesellschaftlichen Strukturen passten nicht. Es fehlte insbesondere an Freiheit in allem. Schließlich zählt viertens zu den Vorbedingungen der Innovation eine weltoffene Kommunikation oder mit dem Wirtschaftswissenschaftler Harry Maier (1934 bis 2010) gesagt, „die aktive Teilnahme an der internationalen Kooperation von Forschern“.43 Diese war keineswegs gegeben. Der Physiker und Multifunktionär Robert Rompe (1905 bis 1993)44 war es, der den parteilosen Industriephysiker Werner Hartmann (1912 bis 1988) 45 zu einer zweiten DDR-Karriere riet und ihm – gegen Widerstände vielfältiger Art – den Weg hierzu ebnete. Er wusste, dass Hartmann ein Begeisterter war, ein bewährter Macher, vor allem aber ein unabhängiger Geist. Und Hartmann versuchte zu handeln als gäbe es die Zentralverwaltungswirtschaft und die Funktionäre vor Ort nicht. Die von Maier später formulierten Forderungen für Innovationen versuchte Hartmann, geschult u. a. in der Praxis bei Siemens, wenigstens in brauchbaren Ansätzen zu realisieren; etwa die Forderung: Erst wenn die Betriebe „selbständig über ihr Pro-

42 HA III/6/T vom 15.5.1962: Aussprache mit Thilo. Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen (BStU), MfS, AOP 771/63, Bd. 1, Bl. 152-155, hier 153. 43 Maier, Harry: Innovation oder Stagnation: Bedingungen der Wirtschaftsreform in sozialistischen Ländern. Köln 1987, S. 128. Zu Harry Maier: 1968 Professor an der Akademie der Wissenschaften. Stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften. Maier flüchtete 1986 aus der DDR. 44 1946 Professor an der Humboldt-Universität, II. Physikalisches Institut. Von 1949 bis 1958 Direktor des Instituts für Strahlenquellen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW) und anschließend bis 1970 Direktor des Physikalisch-Technischen Instituts. 1953 Ordentliches Mitglied der DAW. Vielzahl von Funktionen, u. a. von 1963 bis 1968 stellvertretender und amtierender Generalsekretär der DAW. Von 1958 bis 1989 Mitglied des ZK der SED. 45 Akademische Lehrer u. a. Gustav Hertz, Max Volmer, Fritz Houtermans und Wilhelm Westphal. 1935 bei Siemens, Forschungslabor II. Hier Zusammenarbeit unter Hertz, Walter Schottky und Erwin W. Müller. 1937 an der Fernseh GmbH Berlin-Zehlendorf zunächst Laborleiter, später Abteilungsleiter. Von 1945 bis 1955 als Spezialist in der Sowjetunion, Agudseri bei Suchumi. 1955 Gründung des VEB Vakutronik. 1961 Gründung der Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME). Nebenamtlich als Professor an der TH Dresden tätig. 1972 erste funktionstüchtige Festkörperschaltkreise für 25 Millionen Mark verkauft. Am 26. Juni 1974 Beurlaubung und Hausverbot. Fristlose Abberufung am 11. Juli 1974 und Einsatz als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Siliziumwerk VEB Spurenmetalle Freiberg/Sa. Literaturhinweis: Buthmann, Reinhard: Von der Not und Kunst des Widerhandelns: Die Eigenständigkeit bürgerlicher Physiker in der Ulbricht-Ära. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes (ZdF), Nr. 27, (2010), S. 148–167.

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duktionsprogramm, ihre Innovationspolitik entscheiden können, seien „sie auch bereit“ dazu, „das damit verbundene Risiko zu tragen“.46 Genau dies versuchte Hartmann gegen mannigfaltige Widerstände in seinem VEB, der Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME, der Betrieb wechselte mehrfach den Namen) zu leben, ihn wie ein eigentümergeführtes Unternehmen zu leiten. Er entsprach einem Unternehmertyp, der in der DDR trotz Einzelleitungsprinzip natürlich nicht akzeptiert wurde.

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Maier: Innovation oder Stagnation, S. 47.

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Die Mikroelektroniktechnologie war weiland eine vieldimensionale und vor allem neuartige technisch-organisatorische Herausforderung, eine radikale Innovation, die insbesondere im Osten auf harte Grenzen stieß. Hartmann fand im Chef der Staatlichen Plankommission (SPK) Erich Apel (1917 bis 1965, Suizid)47 seinen einzigen Unterstützer von Rang und Einfluss. Das war zwar viel zu wenig, kam aber für seine frühere Manager-Leistung, der „Erfindung“ des wissenschaftlich-industriellen Betriebes Wissenschaftlich industriellen Betrieb (WIB) gerade noch rechtzeitig. Mit dem WIB wollte Hartmann aus dem Zwangskäfig der plantechnischen Maschinerie heraus. Die Idee hierzu entwickelte er bereits 1959 zusammen mit Apel für seinen VEB Vakutronik. Mit dem WIB wollte er die für die volkseigenen Betriebe unhintergehbaren starren Strukturen mit festen Produktionsplanzielen brechen. Vor allem sollte die kümmerliche Elastizität in der Frage von Neuentwicklungen wesentlich erhöht werden. Ähnlich wie der erste aller Wissenschaftsfunktionäre der DDR, der Physiker Max Steenbeck (1904 bis 1981),48 polemisierte er gegen die Planungsmanie der SED, alle Betriebe wie Schraubenfabriken zu behandeln. Ohne Apel, der die WIB maßgeblich forcierte, hätte diese Betriebsform niemals Gesetzeskraft erhalten. Immerhin entstanden für kurze Zeit einige wenige WIB. Apel damals: „Also, Werner, Deine Angelegenheit ist in Ordnung, ich habe mit Ulbricht gesprochen, wenn das Amt anders denkt, ist das Quatsch“.49 Das blieb in den örtlichen Funktionärskreisen und speziell im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht unwidersprochen. Hartmann wehte plötzlich im eigenen Betrieb eine negative Stimmung entgegen: „Seine Versuche“, frohlockte die Staatssicherheit, „die leitenden Mitarbeiter des Betriebes dafür zu gewinnen, sind bisher gescheitert“. Hartmann aber war der Überzeugung, dass der „gesamte technische Fortschritt“ künftig „von solchen Betrieben“ abhängen werde;50 er gab nicht auf, handelte, schrieb und versuchte zu überzeugen. Über ein Jahrzehnt später betonte er in einem Meinungsstreit in der akademieeigenen Zeitschrift spectrum, „dass man die Existenz einer ‚physikalischen Industrie’ nicht in Abrede stellen“ könne. Man beobachte zwar, dass sich verschiedene Ingenieurswissenschaften von der Physik abnabelten, jedoch gäbe es „in den letzten Jahrzehnten Gebiete, für die dies“ eben nicht zutreffe, und „deren Arbeitsmethoden durchaus denen der Physik“ glichen. Das seien, so Hartmann, „Bereiche, in denen eine derartige Vermaschung und Kopplung verschiedener Zweige der Naturerkenntnis ausschlaggebend“ seien, „dass sie nur ein Physiker durch seine Ausbildung und Denkmethodik beherrschen 47 1955 bis 1958 Minister für Schwermaschinenbau. Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro des ZK der SED. Stellvertretender Minister des Ministerrates der DDR. Ab 1960 Mitglied des ZK der SED. Chef der Staatlichen Plankommission. 48 Als Spezialist von 1945 bis 1956 in der Sowjetunion. Ab 1956 Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademischen Wissenschaften (DAW). 1965 bis 1978 Vorsitzender des Forschungsrates der DDR. 49

Abteilung VI/2 vom 11.12.1959: Aussprache des MfS mit Rambusch vom AKK am 11.12.1959. BStU, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 2, Bl. 76 f., hier 76. Der VEB Vakutronik war dem Amt für Kernforschung und Kerntechnik (AKK) unterstellt.

50

Abschrift eines inoffiziellen Berichtes vom 20.2.1960 zu einem Schreiben von Hartmann an Rambusch vom 24.9.1959. Ebd., Bl. 44 f., hier 44.

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lernt. Ein Beispiel dafür sind die integrierten mikroelektronischen Schaltkreise“.51 Es ist nicht überliefert, ob Maier, solange er in der DDR lebte, je etwas von Hartmanns Bestrebungen und seinem Schicksal erfahren hatte, jedenfalls formulierte er ex ante dessen Bestrebungen ziemlich exakt: „Nur wenn eigene Innovationsstrategien verfolgt werden und die Betriebe mit ihrem Erfolg auch wachsen können, werden sie die mit grundlegenden Innovationen verbundenen Risiken auf sich nehmen“.52 Und genau dies geschah nicht. Die SED war nicht bereit, Hartmann relative Autonomie einzuräumen. Über zehn Jahre versuchte sie mit Hilfe der Staatssicherheit ihn zu beseitigen. Offen ging dies nicht, da man dem Erfolgreichen und auch staatlicherseits vielfach Ausgezeichneten nichts vorwerfen konnte. „Die Bereitschaft einer Gesellschaft“, so Maier, „solche Betriebe entstehen und mit Erfolg wachsen zu lassen, ist ein wichtiges Kriterium ihrer Innovationsfähigkeit“.53 Diese Bereitschaft war jedoch unter Erich Honecker nicht gegeben. Vieles, wozu Hartmanns Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME) eigentlich gar nicht ausgerüstet und zuständig war, musste er selber entwickeln und anfertigen. Entsprechende Dienstleistungen zu erhalten, erwies sich stets als schwierig und zeitraubend sowie oft auch als unmöglich. Für den Aufbau der Mikroelektroniktechnologie wurden zahlreiche Groß- und Kleingeräte, Materialien, Stoffe und Gebäudeausrüstungen, die es auf dem DDR- respektive RGW-Markt nicht gab und die mehrheitlich auf der Embargoliste des Westens standen, benötigt. Einmal bat Hartmann den VEB Carl Zeiss Jena, für den Zyklus I der Mikroelektroniktechnologie ein fotolithographisches Gerät (Repeater) zu entwickeln. Erwartungsgemäß wurde ihm aus Kapazitätsgründen der Wunsch versagt. Später erfuhr er von ZeissMitarbeitern, dass man jede Diskussion über seine „Spinnerei Mikroelektronik“ verboten hätte.54 Also entwickelte er das Gerät selber. Es wurde Exportschlager im Ostblock. Und genau dies hatte Maier in der DDR ständig registrieren müssen, dass an Betriebe herangetragene Innovationsversprechungen als „weltfremd und akademisch“ bezeichnet und demzufolge zurückgewiesen worden seien.55 Als 1973 die Mikroelektroniktechnologieentwicklung in Dresden erste Früchte trug und sogar Export in das sogenannte nichtsozialistische Ausland getätigt werden konnte (100.000 Integrierte Schaltungen), verschärften SED-Funktionäre und Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit ihre verborgenen Kampagnen gegen Hartman. Er wurde nun nahezu ständig observiert, dutzende Male wurden konspirative Durchsuchungen seiner Hotel-, Dienst- und Wohnräume vorgenommen und geheime Gutachterteams zum Zwecke des Nachweises von Spionage und Sabotage zum Einsatz gebracht. Skurrile Auswüchse waren an der Tagesordnung. So verstanden sie ihn in der Frage des von ihm verwendeten Begriffs der „Schwarzen Magie“ 51

Hartmann, Werner: Technologie – Aschenputtel der Wissenschaft?, in: spektrum 4 (1973) 11, S. 8-10.

52

Maier: Innovation oder Stagnation, S. 91.

53

Ebd., S. 92.

54

Nachlass Hartmann, Technische Sammlungen der Stadt Dresden, Abteilung H 51.

55

Maier: Innovation oder Stagnation, S. 131.

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bewusst falsch. Hatte er doch im spectrum geschrieben, dass in der Halbleitertechnologie „noch ein gehöriger Anteil Alchemie mit im Spiel“ sei. Diese schwarze Magie, so Hartmann, führe „dazu, dass auch in stabil eingelaufenen Produktionslinien plötzlich unerwartet hoher Ausschuss auftritt, der manchmal ebenso plötzlich wieder verschwindet“.56 Die Staatssicherheit hieß dies unwissenschaftlich. Die Veröffentlichung stelle, so eine geheime fünfköpfige Expertenkommission, „eine wissenschaftliche Rückversicherung dar, solange derartig unwissenschaftliche Darstellungen im wissenschaftlichen Bereich unwidersprochen bleiben“.57 Also suchte man Wissenschaftler für eine entsprechende Gegenpropaganda. Die fanden sich natürlich nicht unter jenen, die Rang und Namen hatten. Der Begriff „Schwarze Magie“ wurde von der Staatssicherheit als verkapptes Einverständnis Hartmanns verstanden, die DDR-Mikroelektronik sabotieren zu wollen. Dies war nicht das einzige Wort, das ihnen missfiel. Ihm half auch nicht zu versichern, dass er „an dieser Stelle nicht besonders zu unterstreichen“ brauche, „dass bildhafte, vielleicht sogar drastische Vereinfachungen von Tatbeständen die tragenden Prinzipien klarer hervortreten lassen, jedoch Feinheiten dabei verloren gehen. So wäre es natürlich absurd, von der Klassifizierung komplizierter Festkörperschaltkreise als ‚Abfallprodukte‘ weiterreichende Konsequenzen in anderen Bereichen abzuleiten. Mit dieser Aussage soll nur unterstrichen werden, dass nicht die Herstellung der Festkörperschaltkreise selbst die primäre Aufgabe ist und sein darf, sondern eben die Schaffung und Beherrschung der Technologie einschließlich ihrer physikalisch-chemischen Grundlagen“.58 Es waren Worte und Gedankengänge, die unter allen Fachleuten im In- und Ausland völlig korrekt waren. Nicht aber von den Gedankenprüfern der SED und der Staatssicherheit. Bei ihnen herrschte eine andere Logik. Hartmann arbeitete bis zu seiner fristlosen Entlassung Anfang 1974 aus der Arbeitsstelle für Molekularelektronik (AME) in der sogenannten Einführungsphase der klassischen Innovationsphilosophie. Wider Erwarten hatte er die Anfänge trotz massivem Mangel und zahlreichen Behinderungen gemeistert. Die DDR entschied sich jedoch anders, sie setzte ab 1977 auf den massiven illegalen Technologieimport.59 Eine Innovationskultur hatte es in der DDR nicht gegeben. In der von Jed Z. Buchwald herausgegebenen Reihe „Transformations: Studies in the History of Science and Technologie“ erschien 2007 die Studie von Dolores L. Augustine „Red Prometheus. Engineering and Dictatorship in East Germany, 1945-1990“. In der Rezession des Buches von Raymond Bentley heißt es: 56

Hartmann: Technologie – Aschenputtel, S. 9.

57

Untersuchungsbericht einer fünfköpfigen Expertenkommission, ohne Datum: Über die Tätigkeit des Leiters der Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden, Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Hartmann, bei der Erfüllung zentraler staatlicher Aufgaben; BStU, BV Dresden, AOP 2554/76, Bd. 7, Bl. 1-218, hier 211.

58

Hartmann: Technologie – Aschenputtel, S. 9.

59

Buthmann, Reinhard: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung westlicher Technologien im Bereich der Mikroelektronik, in: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Das Gesicht dem Westen zu. DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 279–314.

1143

„The Promethean goal of the political elite in East Germany (GDR) was to construct a society that was both socialist and superior to that of capitalist West Germany. Technology was central to this mission and initial dependence on ‘bourgeois’ engineers and scientists inevitable. Later these generally apolitical specialists would be replaced by cadres socialized and trained in the GDR. Dolores L. Augustine’s interesting study looks at German specialist in the postwar USSR, engineering professionalism during the early GDR years, challenges in the Walter Ulbricht era, and the experience of high-tech research managers. After discussing technological fantasies in culture and propaganda, it examines careers in the Erich Honecker era, particularly during the ‘new cold war’ of the 1980s. A historian notably of the Wilhelmine business elite, Augustine mentions she gained the idea for her latest book after reading Thomas A. Baylis’s The Technical Intelligentsia and the East German Elite (1974). She does not compare the two books, but Augustine is particularly concerned with how effectively technical experts resisted the ‘totalitarian impulse’ of the Communist […]”.60 Augustine behandelt das Forschungs- und Entwicklungspotential in der totalen Diktatur der DDR. Im Zentrum steht die grundsätzliche Frage nach der Innovationskultur in einem totalitären Staat und den Rückwirkungen auf den Modernisierungsprozess. Es ist dies Teil der Wissenschaftsgeschichte. In der Wirtschaftsgeschichte der SBZ/DDR liegt der Schwerpunkt auf der Überleitung von Forschung und Entwicklung in die Produktion. Diese Überleitung war in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft im Vergleich zu Demokratien mit Marktwirtschaft nur sehr beschränkt möglich, so dass der reale Sozialismus an der Modernisierung der Wirtschaft scheiterte und zusammenbrach. Dies zeigt auch exemplarisch Klaus Krakat, der die lange Zeit von der Forschung und Entwicklung bis zur Überleitung in die Volkseigene Industrie hervorhebt.61 Die Daten aus der Wissenschaftsstatistik 1971 bis 1989 für den Bereich von Forschung und Entwicklung in der DDR sind von folgenden Personen aufbereitet und kommentiert worden: Prof. Dr. Herbert Kusicka (Ministerium für Forschung und Technologie – MFT – der DDR; Forschungsbereich), Prof. Dr. Werner Meske (Akademie der Wissenschaften der DDR; Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft), Sybille Thielsch (MFT der DDR; Forschungsbereich), Dr. Henriette Thieme (MFT) der DDR; Forschungsbereich). In der Publikation findet sich eine detaillierte Darstellung der Forschung und Entwicklungs-Aktivitäten im Wirtschaftssektor der DDR 1987.62 60

Bentley, Raymond: In: The American Historical Review, 2009, 114, 2, S. 500 f.

61

Krakat, Klaus: Schlußbilanz der elektronischen Datenverarbeitung in der früheren DDR, FS Analysen, 5, 1990.

62

Echterhoff-Severitt, Helga / Stegemann, Werner (Hrsg.): Forschung und Entwicklung in der DDR. Daten aus der Wissenschaftsstatistik 1971 bis 1989, Essen 1990, S. 23 f.

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Wirtschaftssektor: Der Wirtschaftssektor hat – analog den finanziellen Ressourcen – den größten Anteil an dem in Forschung und Entwicklung tätigen Personal. Die Zahl der FuE-Beschäftigten in diesem Sektor ist 1983 gegenüber 1971 um 21.544 auf 87.372 gestiegen; dies entspricht einer Zunahme von rd. 32,7 %. Hingegen sank das FuE-Personal in der Wirtschaft im Zeitraum 1983 bis 1989 um 1.605 Personen auf 85.767. Bedingt durch diese Entwicklung verringerte sich der Anteil des Wirtschaftssektors an FuE-Personal des natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereichs von 72,2 % (1971) bzw. 67,7 % (1983) auf 64,8 % (1989). Die Grafik veranschaulicht die Verteilung des FuE-Personals im Wirtschaftsbereich nach Personalgruppen. Diese für den Wirtschaftssektor allgemein nachweisbare Entwicklung stellt sich hinsichtlich der einzelnen Personalgruppen differenziert dar. Die Zahl der Wissenschaftler und Ingenieure wuchs von 1971 bis 1989 von 16.830 auf 35.335, d. h. um 110,0 %. Während diese Personalgruppe auch in den letzten Jahren einen Zuwachs zu verzeichnen hatte, entwickelte sich der Bestand an Technikern und sonstigen Fachkräften der Forschung seit Beginn der 80er Jahre rückläufig. Im gesamten Zeitraum 1971 bis 1989 erreichten die Techniker lediglich einen Zuwachs um 4.110 auf 24.188 Personen. Das entspricht einem Anstieg von 20,5 %. Die Zahl des sonstigen Personals verringerte sich in diesen Jahren von 28.920 auf 26.244 Vollbeschäftigteneinheiten, d. h. um 9,3 %. Hauptsächlich ist diese Entwicklung auf den Widerspruch zwischen öffentlicher Darstellung des Anspruchs an das FuE-Personal und der im Entgelt und in der gesellschaftlichen Stellung zum Ausdruck kommenden unzureichenden Anerkennung zurückzuführen. Der Anreiz, in der Forschung und Entwicklung zu arbeiten, war daher vor allem bei Technikern und sonstigen Beschäftigten nicht sehr ausgeprägt. Die differenzierte Entwicklung der Personalgruppen in den Jahren 1971 bis 1989 führte zu einer wesentlichen Veränderung der Anteile dieser Gruppen an den FuE-Beschäftigten der Natur- und Ingenieurwissenschaften insgesamt.

1145

FuE-Personal im Wirtschaftssektor der DDR 1971-1989 – nach Personalgruppen –

Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung waren in der DDR auch international gesehen relativ hoch. Die Schwierigkeiten entstanden bei der Überleitung der Ergebnisse in die Produktion. In der Jahreszentralplanung waren die Bilanzanteile grundsätzlich starr. Bürokratische Hindernisse machten den Weg von FuE in die Produktion sehr lang und dadurch wurden die FuE Erträge auch schnell entwertet.

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Relative Anteile der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (Prozent)63 am Nationaleinkommen1) europäischer RGW-Länder (1984) Bulgarien Ungarn DDR Polen UdSSR Tschechoslowakei

2,8 3,2 4,1 1,0 4,7 4,1

am Bruttosozialprodukt (BSP) ausgewählter marktwirtschaftlicher Industrieländer (1985) USA BRD Japan Großbritannien Schweden Frankreich

2,7 2,6 2,6 2,3 2,2 2,2

1) Etwa vergleichbar werden diese relativen Angaben, wenn die auf Basis BSP berech-

neten Prozentwerte um den Faktor 1,2 bis 1,3 erhöht werden. Das Bild verändert sich jedoch stark bei Berücksichtigung absoluter Größenverhältnisse. Quelle: Nationaleinkommen: Wirtschaftswissenschaft, Heft 1/1987, S. 102: Bruttosozialprodukt: Technologie-Nachrichten, Management-Information, Hennef-Lichtenberg 1985, Nr. 416, S. 8 u. 406.

Zur „Nutzung der Mikrorechentechnik zur Qualifizierung und Rationalisierung der Auslandsmarktforschung“ „fand im November 1988 an der Hochschule für Ökonomie ‚Bruno Leuschner‘ Berlin (HfÖ) ein wissenschaftliches Kolloquium statt, das von der Sektion Betriebswirtschaft des Außenhandels der HfÖ in enger Zusammenarbeit mit der Wirtschaftspraxis durchgeführt worden ist. Es nahmen 68 Vertreter aus wissenschaftlichen Einrichtungen, Ministerien sowie aus Kombinaten und Außenhandelsbetrieben teil. Mit diesem Kolloquium wurde das Anliegen verfolgt, theoretische Verallgemeinerungen zur Anwendung der modernen Rechentechnik in einem Schwerpunktbereich der Auslandsmarktarbeit – der Marktforschung im Außenhandel mit sozialistischen und nicht sozialistischen Ländern – unter praxisbezogenen Gesichtspunkten zu beraten. Des weiteren sollte ein umfangreicher Erfahrungsaustausch zum Stand und zu den Möglichkeiten des entsprechenden Einsatzes von Computertechnik durchgeführt werden. […] Der objektive Zwang zur verstärkten Nutzung der Mikrorechentechnik in der Auslands-Marktforschung resultiert aus der Verarbeitung der ständig wachsenden Datenmenge. Der Einsatz von Arbeitsplatzcomputern mit Druckern ermöglicht jederzeit den Druck gespeicherter Datenbestände für verschiedenste Verwendungszwecke. Dadurch treten weitere Rationalisierungseffekte ein. Praxisuntersuchungen bewiesen, daß für die Erarbeitung von Leitungsdokumenten (insbesondere mit Import- und Exportstatistiken bezogen auf mehrere Länder, unter Herausarbeitung der Marktposition von Kombinaten der DDR) bisher manuell etwa 3 Wochen Arbeitszeit eines Mitarbeiters nötig waren, während mit dem Personalcomputer dazu nur wenige Stunden benötigt werden.

63

Naumann, Bernd: Die weltwirtschaftliche Herausforderung, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 10, S. 1380.

1147

Auf die Vorbereitung des Einsatzes eines Personalcomputers PC 1715 für Aufgaben der Marktforschung im Schwermaschinenkombinat TAKRAF ging Weber (VEB SMK TAKRAF Leipzig) in seinem Diskussionsbeitrag ein. Den Anstoß für die Vorbereitungen des Einsatzes eines Personalcomputers gaben zum einen die Notwendigkeit der Rationalisierung der Informationserfassung in Bezug auf die Aufwandssenkung der Quellenauswertung und der Verkürzung der Zugriffszeiten zum Zentralrechner in Neustadt und zum anderen die Einbeziehung des Kombinats TAKRAF in die Nutzergemeinschaft des MAMLF hinsichtlich der Einführung des Informationssystems Wissenschaft-Technik-Markt (IWTM) Bei der Konzipierung konnte auf positive Erfahrungen, wie sie im Zentralen Arbeitskreis Auslandsmarktforschung der HfÖ dargelegt wurden, sowie auf bereits vorhandene Softwarelösungen, so zum Beispiel auf eine Länderdatei des Kombinats Nachrichtenelektronik, zurückgegriffen werden. Für die Anpassung dieser Softwarelösungen an die speziellen Bedingungen des Kombinats TAKRAF sucht das Kombinat die enge Zusammenarbeit mit diesen Einrichtungen. Weber betonte, daß „Insellösungen“ auf Dauer nicht sinnvoll seien. Das Kombinat TAKRAF beabsichtige deshalb, die Informationsbeziehungen zwischen verschiedenen Abteilungen des Direktionsbereiches Absatz und Außenwirtschaft, dem Außenhandelsbetrieb/AHB) TAKRAF Export/Import und dem Direktionsbereich Erzeugnisentwicklung einerseits sowie dem Bereich Marktforschung und Absatzstrategie andererseits so zu gestalten, daß künftig mit Hilfe der Rechentechnik ein rationeller Informationsaustausch möglich sei. Es wurde angeregt, länderspezifische Basisinformationen, die für mehrere Kombinate verwertbar sind, in erster Linie in zentralen Speichern des Ministeriums für Außenhandel (Zentralinstitut für Information und Dokumentation des Außenhandels/ZIDA) zu speichern, zu aktualisieren und bei Bedarf an die Kombinate zu übermitteln“.64 Das Kolloquium an der HfÖ Bruno Leuschner 1988 zeigt den Stand der Auslandsmarktforschung in der politisch naturalgesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft kurz vor dem Wirtschaftszusammenbruch 1989/90. Das wissenschaftliche Kolloquium in Berlin zeigt die Hilflosigkeit von Wissenschaftlern und Praktikern im Stalinschen Industrialisierungsmodell. Die Probleme wurden erkannt, es gab aber keine Lösung im System und es blieb alles so wie es war, wie Prof. Dr. Springer bei der Zusammenfassung hervorhob: „Das vorgesehene Ziel sei erreicht worden, indem ein intensiver Gedanken- und Erfahrungsaustausch stattfand“.65

64

Seyffahrt, Klaus / Stürzer, Thomas: Die Nutzung der Mikrorechentechnik zur Qualifizierung und Rationalisierung der Auslandsmarktforschung, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 3, S. 444-448.

65

Ebd., S. 448.

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2.2. West-Ost-Technologietransfer und das Ringen um wissenschaftlichtechnischen Höchststand im Bereich von Elektronik und Computertechnik Von Frank Dittmann Technologietransfer im Kalten Krieg Mitte der 1980er Jahre schlug beim Ministerium für Staatsicherheit der DDR (MfS) eine Entdeckung, die Schaltkreisentwickler in einem Labor des Kombinats Mikroelektronik Erfurt gemacht hatten, ein wie eine Bombe. Auf einem Mikroprozessor der amerikanischen Firma Digital Corporation hatten sie eine kurze Mitteilung gefunden, als man den Chip analysierte. Die Schrift befand sich auf der Metallisierungsebene, die zur Verbindung der einzelnen Bauelemente in einem integrierten Schaltkreis dient. Da diese Ebene nicht oben ansteht, konnte den Text nur finden, wer den Schaltkreis Schicht für Schicht abträgt, um dessen Aufbau und die Herstellungstechnologie nachzuvollziehen. In einem recht holprigen Russisch wurde dort das Ende der Technologiespionage gefordert: „Wann hört ihr endlich auf zu klauen!“.66 Diese Entdeckung machte den Stasi-Mitarbeitern klar, dass im Westen durchaus bekannt war, dass sich östliche Geheimdienste Rüstungsgüter und Hightech-Produkte des „Klassenfeindes“ beschafften, um sie zu analysieren und nachzubauen. Das war umso brisanter, da die Informationen zu derartigen Aktivitäten den höchsten Sicherheitsbestimmungen unterlagen.

Diese Nachricht auf der Metallisierungsebene eines 32-bit-Mikroprozessors wurde vom MfS wie folgt übersetzt: „CVAX … Wann hört ihr endlich auf zu klauen, eigene (wahrhafte) Entwürfe sind besser“. Wie mittlerweile bekannt ist, wollte der Chip-Designer Bob Supnik mit dem fehlerhaften russischen Text sagen: „Wenn ihr schon klaut, klaut das Beste“. Siehe: http://micro.magnet.fsu.edu/creatures/pages/russians.html - Letzter Zugriff 15.02.2016.

66 Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme. Dresden 2000, S. 33.

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„Technologietransfer“ existiert als Begriff zwar erst seit einigen Jahrzehnten, das Phänomen der Weitergabe bzw. Aneignung von technologischen Kenntnissen dagegen ist zweifellos viel älter. Dabei hing es von den jeweiligen Interessen ab, ob die Weitergabe gewollt war oder ob der Abfluss unerwünscht erfolgte und verfolgt wurde. Der amerikanische Technikhistoriker John M. Staudenmaier identifizierte fünf Wege für die Verbreitung von Technologien:67 (1) die Migration von Personen mit technischem Know-how (Experten), (2) der Austausch von Fachzeitschriften sowie der Besuch von Technischen Schulen und Ausstellungen, (3) formale Vereinbarungen und Verträge, (4) Technologietransfer als Element der Kolonialpolitik und (5) illegaler Technologietransfer durch Industriespionage. Letzteres war mindestens seit der Industriellen Revolution ein üblicher Weg, um Kenntnisse über begehrtes, aber nicht offiziell zugängliches Know-how zu erlangen. Jene Seite, von der Know-how abfloss, betrachtete dies stets als Schädigung wirtschaftlicher Interessen und verfolgte derartige Aktivitäten, wenn möglich. Während des Kalten Krieges erhielt der illegale Technologietransfer noch eine deutliche politische Komponente. Die Besonderheit des Kalten Krieges bestand darin, dass sich zwei Supermächte mit ihren jeweiligen Militärblöcken gegenüberstanden, die in der Lage waren, die Erde mehrfach als Lebensraum der Menschheit auszulöschen. In diesem Zusammenhang wurde ein unberechtigter Technologieabfluss in den COMECON von den westlichen Regierungen sowie der dortigen Öffentlichkeit als ernstes Sicherheitsproblem betrachtet.68 Die westlichen Medien griffen solche Themen, die sich im Bereich von Geheimdienstaktivitäten einerseits und tatsächlichen bzw. vermeintlichen Bedrohung aus dem Osten andererseits bewegten, gern auf. Das betraf nicht nur Tageszeitungen und politische Magazine, sondern auch Publikumszeitschriften wie den Playboy.69 In vielen Fällen reagierten die Regierungen im Westen mit Embargo, d. h. der Ex- und Import von Waren bzw. Rohstoffen in ein bzw. aus einem Land wurde unterbunden, was nicht zuletzt als wirksames Mittel zur politischen Einflussnahme eingesetzt werden konnte.70 Um den Abfluss von strategisch wichtigen Technologien in die Länder unter sowjetischem Einfluss sowie die Volksrepublik China71 zu verhindern, war 1949

67 Staudenmaier; John M.: Technology's Storytellers. Reweaving the Human Fabric. Cambridge, MA, London 1985, S. 124. 68 Zur Verknüpfung von nationaler Sicherheit und Technologietransfer siehe: Benson, Sumner: How national security considerations affect technology transfer. In: The Journal of Technology Transfer 13, Fall 1988, H. 1, S. 34-41. 69 Tuck, Jay: Heisse Fracht für Moskau. In: Playboy Nr. 4 vom 4. April 1985, S. 74-76, S. 180188. 70 Zur Geschichte und Theorie des Embargos siehe die umfangreiche Studie: Hasse, Rolf: Theorie und Politik des Embargos. Köln 1973. 71 Auf die US-Technologiepolitik China gegenüber kann hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu: Nimmo, Elizabeth M.: United States Policy Regarding Technology Transfer to the Peo-

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auf Betreiben der USA das Coordinating Committee on Export Control (CoCom) mit Sitz in Paris gegründet worden.72 Die betroffenen Technologien und Güter (hauptsächlich Waffen, Kerntechnik, Industrieanlagen und Mikroelektronik) waren in der sog. CoCom-Liste aufgeführt, die permanent angepasst wurde.73 Problematisch für die Überwachung des Technologietransfers gestaltete sich allerdings die immer schwierigere Charakterisierung von Produkten als eindeutig sicherheitsrelevante Güter, denn die modernen Technologien konnten zunehmend sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich eingesetzt werden (dual use). Manche Reaktion wirkt aus heutiger Sicht überzogen. So forderte z. B. im Frühjahr 1984 die US-Regierung, dass keine PCs ab 16 Bit Verarbeitungsbreite in den Osten geliefert werden dürften. Die amerikanische Zollbehörde beschlagnahmte tragbare Kleincomputer, sog. portables, die deren Besitzer auf Geschäftsreise ins Ausland mitnehmen wollten.74 Nach 1990 hörte die Industriespionage keineswegs auf. Immer wieder gibt es Berichte, dass China, Russland und andere Länder Wirtschaftsspionage betreiben. Aber auch westliche Industrienationen werden verdächtigt, deutsche Unternehmen auszuspähen. Die Amerikaner sollen sich dabei des ECHELON-Systems bedient haben, das automatisch die weltweiten Datenströme nach relevanten Informationen durchsucht. Die Existenz dieses satellitengestützten Abhörsystems war 1996 von einem niederländischen Journalisten enthüllt worden.75 In das System war auch die Station in Bad Aibling eingebunden, die 2004 geschlossen wurde. Meldungen der letzten Jahre legen allerdings nahe, dass die NSA weiterhin gegen deutsche Wirtschaftsinteressen spioniert. Für Hightech-Spionage werden im Allgemeinen zwei mögliche Zielstellungen angegeben: Ein militär-strategisches und ein wirtschaftliches Ziel. Bei ersterem geht es um die Kenntnis der Waffentechnologien des Gegners, um im Krisenfall geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Somit kann der Industriespionage durchaus eine deeskalierende Wirkung zugeschrieben werden. Neben der ple's Republic of China. In: Northwestern Journal of International Law & Business 6, 1, Spring 1984, S. 249-274. 72 CoCom umfasste 1985 die USA, Großbritannien, die Türkei, Portugal, Norwegen, die Niederlande, Luxembourg, Japan, Italien, Griechenland, Frankreich, die BRD, Dänemark, Kanada und Belgien. Siehe u. a. Mastanduno, Michael: Economic containment. CoCom and the politics of East-West trade. Ithaca 1992. Zur westdeutschen Situation der 1950er und 1960er Jahre siehe: Fässler, Peter E.: Bonn und das strategische Embargo gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten 1949-1958. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte 54, 2006, H. 4, S. 673700. 73 CoCom Lists (1953-1993), siehe http://evansresearch.org/cocom-lists/ Letzter Zugriff 15.02.2016. 74 USA ziehen Cocom-Schraube drastisch an. In: Computerwoche Nr. 12 vom 16.03.1984. 75 Dix, Alexander: ECHELON auf dem parlamentarischen Prüfstand. In: Datenschutz und Datensicherheit 24, 2000, Nr. 11, S. 659-662. Schulzki-Haddouti, Christiane: Das Ende der Schweigsamkeit. EU-Parlament verabschiedet Echelon-Untersuchungsbericht. In: c't 2001, H. 19, S. 44.

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militär-strategischen Nutzung der Informationen kann man „gegnerische Technologien“ aber auch erfolgreich in eigenen Waffensystemen bzw. in der nationalen Wirtschaft verwenden. Gerade die wirtschaftlichen Vorteile machen die Industriespionage auch für die zivile Ebene interessant, weil damit hohe Entwicklungskosten gespart werden können. Voraussetzung ist allerdings, dass die Erkenntnisse rasch in die Produktion überführt werden. Ansonsten kann es zu einem ständigen Nachlaufen hinter der aktuellen Technikentwicklung kommen. Eigene Ideen und Potentiale werden in diesem Fall nicht genutzt bzw. mögliche Entwicklungsalternativen nur ungenügend entwickelt, da man völlig auf das Einholen des Branchenprimus fixiert ist. Gerade bei komplexen Technologien, wie der Mikroelektronik, werden von den führenden Unternehmen Entwicklungspfade vorgegeben, die nur mit großem Aufwand nachvollzogen werden können, was enorme Ressourcen bindet. Dieser Beitrag nimmt den illegalen Technologieabfluß während des Kalten Krieges in West-Ost-Richtung in den Blick. Schwerpunkte bilden die Aktivitäten der Geheimdienste der UdSSR und der DDR im klassischen dual-use-Bereich von Mikroelektronik und Computertechnik. Dabei wird auch auf die wichtige Frage eingegangen, ob und wie durch Spionage erworbene Erkenntnisse genutzt werden konnten. Die Aktivitäten der Auslandsaufklärung der DDR (HV A) in diesem Bereich wurden in den vergangenen Jahren intensiv untersucht.76 Breit ist die Literatur, in der die Protagonisten ihre Version der Ereignisse und Zusammenhänge verbreiteten.77 Eine wichtige Quelle zum illegalen Technologietransfer in die COMECONStaaten sind zudem zeitgenössische westliche Pressemeldungen. Auch Geheimdienstberichte sind hier zu nennen. So gab z. B. die amerikanische Regierung 1982 eine Studie zum illegalen Technologietransfer heraus, nachdem sich im Herbst des Jahres ein KGB-General dem französischen Geheimdienst offenbart hatte. Nach gründlicher Auswertung erschien 1985 eine überarbeitete Version der Studie, die auch in Deutsch verbreitet wurde.78 76 Siehe hierzu u. a. die Monografien: Macrakis, Kristie: Die Stasi-Geheimnisse. Methoden und Technik der DDR-Spionage. München 2009. Klenke, Olaf: Ist die DDR an der Globalisierung gescheitert? Autarke Wirtschaftspolitik versus internationale Weltwirtschaft – Das Beispiel Mikroelektronik. Frankfurt 2001. Buthmann, Reinhard: Hochtechnologien und Staatssicherheit. Die strukturelle Verankerung des MfS in Wissenschaft und Forschung der DDR. Berlin 2000. Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme. Dresden 2000. 77 Siehe zum Technologietransfer: Stiller, Werner: Im Zentrum der Spionage. Mainz 1986. Ronneberger, Gerhardt: Deckname "Saale". High-Tech-Schmuggler unter Schalck-Golodkowski. Berlin 1999; Schalck-Golodkowski, Alexander: Deutsch-deutsche Erinnerungen. 2. Aufl. Reinbek b. Hamburg 2000; Müller, Horst / Süss, Manfred / Vogel, Horst (Hrsg.): Die Industriespionage der DDR. Die wissenschaftlich-technische Aufklärung der HV A. Berlin 2008. 78 Soviet Acquisition of Western Technology. U.S. Department of Commerce. Washington/DC, April 1982; Soviet Acquisition of Militarily Significant Western Technology: An Update,

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Die Wirtschaftsspionage der DDR und der UdSSR Neben der Bearbeitung der klassischen Geheimdienstfelder gehörte das Ausspähen von wissenschaftlich-technischen Geheimnissen von Anfang an zu den Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.79 Bereits bei der Gründung der Vorgängerinstitution, des Außenpolitischen Nachrichtendienstes der DDR (APN) im Jahre 1951, war die Wirtschaftsspionage fester Bestandteil des Aufgabenspektrums. Am Beginn der arbeitsteiligen und systematischen Kooperation mit dem Auslandsgeheimdienst HV A stand 1962 die Eingliederung der Arbeitsgruppe Wissenschaftlich-technische Auswertung (WTA). 1969 stieg die damals gegründete Abteilung V zum Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) auf, der aus drei Beschaffungsabteilungen, einer Auswertungsabteilung sowie mehreren operativen Gruppen bestand und zusehends wuchs. 1989 soll das Personal fast 500 Personen umfaßt haben. Eng verbunden mit dem SWT war der bis 1989 von Alexander Schalck-Golodkowski geleitete Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo).80 Dem Westen blieben diese Strukturen lange Zeit verborgen. Erst nachdem Werner Stiller im Januar 1979 zum Bundesnachrichtendienst übergelaufen war, erhielt man hier einen tieferen Einblick. Bis heute gilt die Flucht des DiplomPhysikers, der seit 1972 im SWT gearbeitet hatte, als eine der spektakulärsten Spionage-Affären im Kalten Krieg.81 Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Wirtschaftsspionage immer mehr zugunsten der Beschaffung von konkreten Planungsunterlagen, modernen technischen Geräten und Industriemustern. So bildeten die Ergebnisse der Abteilung XIV des SWT, die den Bereich der Elektrotechnik und Elektronik bearbeitete, eine wichtige Grundlage für die Entwicklung des 1-Mbit-Speicherchips im Kombi-

Springfield/Va. 1985; Die sowjetische Beschaffung von militärisch wichtiger Technologie aus dem Westen – Ein aktualisierter Bericht, Bonn, Arbeitskreis für Landesverteidigung, September 1985. 79 Siebenmorgen, Peter: „Staatssicherheit“ der DDR. Der Westen im Fadenkreuz der Stasi. Bonn 1993, S. 182-200. Einen Überblick der Aktivitäten des MfS zur Technologie sowie zur eingesetzten Technik gibt: Macrakis, Kristie: Die Stasi-Geheimnisse: Methoden und Technik der DDR-Spionage. München 2009. 80 Koch, Peter-Ferdinand: Das Schalck-Imperium. Deutschland wird gekauft. München / Zürich 1992. Rathmer, Matthias: Alexander Schalck-Golodkowski. Pragmatiker zwischen den Fronten. Eine politische Biographie. Diss. Universität Münster, 1995. Ronneberger, Gerhardt: Deckname „Saale“. High-Tech-Schmuggler unter Schalck-Golodkowski. Berlin 1999. Schalck-Golodkowski, Alexander: Deutsch-deutsche Erinnerungen. 2. Aufl. Reinbek b. Hamburg 2000. 81 Stiller, Werner: Im Zentrum der Spionage. Mainz 1986. Hoffmann, Wolfgang: Die roten Ideen-Diebe. In: Die Zeit Nr. 47 vom 19.11.1982, S. 17-18. Stiller identifizierte auch den DDR-Spionagechef Markus Wolf auf einem Foto, das der Spiegel umgehend als Titelbild brachte: DDR-Spionage: Das läßt die mächtig wackeln. In: Der Spiegel 1979, H. 10, S. 7083.

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nat Carl Zeiss Jena, wo auch ein Teil des operativen Mitarbeiterstammes stationiert war.82 Nutznießer des sehr produktiven MfS-Dienstzweiges für Wirtschaftsspionage waren einerseits die Volkswirtschaft der DDR und andererseits der militärischindustrielle Komplex der UdSSR sowie deren Industrie und Wissenschaft. Da die Leistungsfähigkeit des SWT weit über das hinausging, was die DDR selbst umsetzen konnte, übernahm der Bereich auch direkte Aufträge von sowjetischen Partnerstellen, teilweise gegen Rechnung. Zugespitzt könnte man sagen, dass das MfS der Sowjetunion mehr geholfen hat als der DDR. Nichtsdestotrotz konnte damit der Zerfall des sowjetischen Imperiums nach 1990 nicht verhindert werden. Einbettung der Wirtschaftsspionage in die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des MfS

Quelle: Industriespionage. Wächter werden wach, in: Wirtschaftswoche 39, 1985, Nr. 4, S. 36-48, hier S. 40.

82 Zu diesem Prestigeprojekt siehe: Kirchner, Otto Bernd: Wafer-Stepper und Megabit-Chip. Die Rolle des Kombinats Carl-Zeiss-Jena in der Mikroelektronik der DDR. Diss. Universität Stuttgart 2000.

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Bild 3: Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) des MfS Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) des MfS

Leiter des SWT Offizier für Sonderaufgaben

Sekretariat

Sekretär der SED-Grundorg.

Ref. 2 – E-Technik u. Elektronik

Ref. 3 – Chemie, Biologie, Landw.

Abt. XIII Atomwissenschaft, Chemie, Biologie, Medizin

Ref. 4 – Metall-, Waffen-, Schwerindustrie Ref. 5 – Dokumentation, Literatur, Dok.-Aufarbeitung Ref. 6 – op. Außengruppe Ref. 7 – EDV-Speicherung, Informationsbeziehungen

Arb. Gr. 5 offizielle Kontakte

Arb. Gr. 3 Beschaffung von Rüstungsgütern

Operative Beschaffungsabteilungen

Abt. V W/T-Auswertung Ref. 1 – Militärtechnik

Arb. Gr. 1 Residenturkräfte, IM in techn.-kommerz. Büros u. im Auslandsstudium

Ref. 1 – Nukleartechnik Ref. 2 – Chemie Ref. 3 – Landwirtschaft Ref. 4 – USA Ref. 5 – Biologie, Gentechnologie

Ref. 6 – op. Außengruppe

Quelle: Siebenmorgen, Peter: „Staatssicherheit“ der DDR, Bonn 1993, S. 327.

Abt. XIV Mikroelektr., E-Technik, Wiss. Gerätebau; Embargofragen Ref. 1 – milit. Nachrichtengeräte, Mikroelektronik, Optronik Ref. 2 – EDV und militärische Mikroelektronik

Ref. 3 – Außenstelle VEB C. Zeiss Jena (Feinmechanik; Optik; Lasertechnik)

Abt. XV Metallindustrie, Maschinen- und Fahrzeugbau, Rüstung

Ref. 1 – Waffen u. milit. Geräte Ref. 2 – Maschinen- u. Fahrzeugbau Ref. 3 – Luft- u. Raumfahrtindustrie, Raketenbau

Ref. 4 – Wirtschaft u. Finanzen

Ref. 4 – op. Außengruppe Jena

Ref. 5 – Wirtschaft u. Finanzen

Ref. 5 – op. Außengruppe

Arb.-Gr. Auswertung

Ref. 6 – Embargogüter

Arb.-Gr. Dokumentenbeschaffung op. Außengruppe

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In der Sowjetunion wurde der Technologietransfer durch das Komitee des Präsidiums des sowjetischen Ministerrates für Angelegenheiten der Rüstungsindustrie (VPK) koordiniert.83 Dieses Gremium bestand aus Spitzenmanagern des militärisch-industriellen Komplexes und koordinierte die Entwicklung aller sowjetischen Waffen. Dazu gehörte auch die Beschaffung westlicher Technologien. Alle Anfragen wurden nach Priorität geordnet und den Beschaffungsorganen zugeleitet. Dazu zählten das Staatskomitee für Wissenschaft und Technologie (GKNT), die sowjetische Akademie der Wissenschaften, das Außenhandelsministerium, das Staatskomitee für außenwirtschaftliche Beziehungen sowie der KGB und der militärische Nachrichtendienst GRU. Innerhalb des KGB waren in der zuständigen Abteilung T mehr als 500 wissenschaftlich-technisch ausgebildete Mitarbeiter mit der konspirativen Beschaffung beschäftigt. Weltweit arbeitete eine große Anzahl weiterer Mitarbeiter als Diplomaten, Kaufleute und Journalisten in Botschaften, Konsulaten, Handelsvertretungen und Niederlassungen von sowjetischen Staatsunternehmen. Der militärische Geheimdienst GRU hatte eine eigene operativ arbeitende wissenschaftlich-technische Abteilung, die vor allem rüstungstechnische Aufklärung betrieb. Die Sowjetischen Geheimdienste bedienten sich auch der Unterstützung befreundeter Dienste. Das galt vor allem nach der herben Niederlage im Jahre 1982, die unter dem Codenamen Farewell in die Spionagegeschichte eingegangen ist. Besondere Hilfe kam damals vom bulgarischen Geheimdienst, aber auch die HV A unterstützte die sowjetischen Beschaffungsaktivitäten. Festzuhalten bleibt, dass von Anfang an der illegale Technologietransfer Bestandteil der Auslandsarbeit östlicher Geheimdienst war. Während im Westen Wirtschaftsspionage vor allem auf der Ebene von Unternehmen stattfand, war es im Osten Teil der Staatspolitik. Das ist insofern nicht verwunderlich, da alle sozialistischen Staaten nach sowjetischem Muster Zentralverwaltungswirtschaften waren, in denen wesentliche Entscheidungen über knappe Ressourcen von einer zentralen Instanz getroffen wurden. Folgerichtig wurde auch die Beschaffung schwer zugänglicher Informationen bzw. Geräte und Anlagen zentral beauftragt und gesteuert.

83 Alexander, Arthur: Soviet Science and Weapon Acquisition. Santa Monica / Ca., Rand 1982 (R-2942-NAS), S. 3-13. Hanson, Philip: Soviet Industrial Espionage: Some New Information. In: RIIA Discussion Paper No. 1, London 1987. Rombach, Bert: Ziele – Was suchen Spione? In: Tuck, Jay / Liebl, Karlheinz (Hrsg.): Direktorat T. Industriespionage des Ostens. Heidelberg 1988, S. 54-74, hier S. 55-61.

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Schlüsselorganisationen mit Beteiligung an der Leitung der militärischen Forschung

Bild 4: und Rüstungsherstellung und an der Beschaffung von Technologien Schlüsselorganisationen mit Beteiligung an der Leitung der militärischen Forschung aus dem Westen und Rüstungsherstellung und an der Beschaffung von Technologien aus dem Westen Politbüro Zentralkomitee Ministerrat

Verteidigungsministerium

Generalstab

Hauptdirektion für Aufklärung (GRU)

Militär-Industrielle Kommission (VKP)

Komitee für Staatssicherheit (KGB)

Staatskomitee für Wissenschaft und Technologie (GKNT)

Schlüsselministerien für Wehrproduktion

Osteuropäische Geheimdienste

Akademie der Wissenschaften

Luftfahrtindustrie Maschinenbau Wehrindustrie Allg. Maschinenbau Fernmeldegeräte Radioindustrie Mittl. Maschinenbau Schiffbau Elektronik Chemische Industrie Elektrische Geräte Petrochem. Industrie

Ministerium für Außenhandel

Sonstige Ministerien für Wehrproduktion

Staatskomitee für Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland (GKES)

Militärpolitik, -forschung, -produktion und die wichtigsten Auftraggeber für Technologiebeschaffung im Westen Sammler für Technologie aus dem Westen

Quelle: Die sowjetische Beschaffung von militärisch wichtiger Technologie aus dem Westen – Ein aktualisierter Bericht, Bonn, Arbeitskreis für Landesverteidigung, September 1985, S. 5.

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Gegenmaßnahmen des Westens Die westlichen Geheimdienste hatten naturgemäß die Aufgabe, die Aktivitäten der östlichen Dienste zu beobachteten und zu unterbinden. Da bis in die 1970er Jahre die legalen Handelskontakte intensiv ausgebaut wurden, waren zu dieser Zeit die Grenzen für den Technologietransfer relativ weit gesteckt. 1980 veränderte sich auf Druck der USA die Situation radikal, als US-Präsident Jimmy Carter die Embargo-Bestimmungen gegenüber dem Osten verschärfte – eine Politik, die Ronald Reagan nach seiner Wahl zum US-Präsidenten vorbehaltlos weiterführte. Anlass war der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan im Dezember 1979 sowie die drohende Intervention der Sowjetunion 1980 in Polen nach der Zuspitzung der dortigen politischen Lage. Politisch wurde der sich verschärfende Wirtschaftskrieg durch den sog. NATO-Doppelbeschluss von 1979 ergänzt. Der Beschluss beherrschte die außen- und innenpolitische Debatte in der Bundesrepublik dieser Zeit und wurde von den wirtschaftlichen Eliten im Westen durchaus mit Skepsis betrachtet.84 1983 setzte die USA den Export Administration Act in Kraft,85 der ihr die Befugnis einräumte, „den Export amerikanischer Güter und Lizenzen auch außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets zu kontrollieren“. Auch gegenüber befreundeten westlichen Staaten wurde die neue Linie konsequent durchgesetzt.86 Im Pentagon sowie bei der CIA wurden neue Spezialabteilungen für die Bekämpfung des illegalen Technologietransfers eingerichtet: bei der CIA das Technology Transfer Intelligence Commitee und beim Verteidigungsministerium die Technology Security Administration. Auch das US-Handelsministerium hatte sein Fahndungspersonal aufgestockt und der US-Zoll die Sondergruppe „Operation Exodus“ gegründet. Wie bereits angemerkt, gab es für die Exportkontrolle seit 1949 eine eigene Organisation, das CoCom. Wegen starker wirtschaftlicher Interessen, reagierten die Europäer und Japan nach 1980 nicht sofort auf die Verschärfung der US-Ausfuhrbestimmungen, was wiederum die US-Administration 84 Osthandel. Fast wie in der Steinzeit; und: Interview mit Berthold Beitz: „Die Erwartungen sind zu hochgeschraubt“. In: Wirtschaftswoche 37 (1983) Nr. 48, S. 32-34. Einen guten Überblick zur Diskussion Anfang der 1980er Jahre gibt: Geheimclub CoCom. In: Die Zeit Nr. 42 vom 14.10.1983. Schiller, Ulrich: Die Arroganz des Pentagon. In: Die Zeit Nr. 42 vom 14.10.1983. 85 Kiernan, Kathleen E.: Export Administration Act Amendments of 1983. Foreign Availability of Controlled Goods and Technology. In: Journal of Legislation 11, 1984 No. 2, S. 292-316. 86 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1983, München 2014, S. 782-783. Danach erklärte 1983 ein Abteilungsleiter des amerikanischen Handelsministeriums dem deutschen Botschafter in Washington: „Europa müsse erkennen, daß es der Administration ‚verdammt‘ ernst damit sei zu verhindern, daß die sowjetische Militärmacht durch westlichen Technologietransfer Unterstützung erhalte. Schließlich trage die USA die Hauptlast der Verteidigung Europas.“ Sowie: „[…] ausländische Exporteure, die gegen amerikanische Sicherheitskontrollen verstießen, hätten kein Recht, ihre Waren auf dem amerikanischen Markt abzusetzen“.

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den Druck verstärken ließ. Viele Geräte, die kurz vorher noch legal gehandelt werden konnten, durften nicht mehr an die Sowjetunion oder deren Verbündete geliefert werden. Im Januar 1988 bestätigte der damalige sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse die Wirksamkeit der Abschottungspolitik in einer spontanen Rede vor dem Deutschen Industrie- und Handelstages in Bonn mit den Worten: „Diese verfluchte CoCom-Liste!“87 Im Rückblick kann man sagen, dass die USA einen Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion führten, aus dem sie 1989 siegreich hervorging. Dieses Ergebnis war jedoch in den 1980er Jahren keineswegs abzusehen und man debattierte in der Bundesrepublik darüber, ob die drastischen Handelsbeschränkungen mit dem COMECON nicht zu einer verstärkten Eigeninitiative führen könnten. Mit einer wachsenden Autonomie wiederum würde sich der COMECON dem Einfluss des Westens mehr und mehr entziehen. Zugespitzt lautete die Frage, ob die Verschärfung der COCOM-Liste nicht einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ gleichkäme.88 Ganz in diesem Sinne sagte Berthold Beitz, von 1970 bis 1990 Aufsichtsratsvorsitzender im Krupp-Konzern, 1983 in einem Interview: „Das Embargo war falsch und gleichzeitig gefährlich, weil die Russen dadurch gezwungen waren, ihre eigenen Entwicklungen unter Druck voranzutreiben“.89

87 Tuck, Jay / Liebl, Karlheinz (Hrsg.): Direktorat T. Industriespionage des Osten. Heidelberg 1988, Vorwort S. V. Matern-Rehm, Sigrid / Ziesemer, Bernd: Fauler Kompromiß. In: Wirtschaftswoche Nr. 5 vom 29.01.1988, S. 12-15. 88 Krakat, Klaus: Einseitiger West-Ost-Technologie-Transfer zum Vorteil für den Comecon. In: FS-Analysen 4/1981, S. 21. In dieser Studie wir vor allem auf die Computertechnik Bezug genommen und auf den amerikanischen EDV-Experten Seymour Goodman verwiesen, der meinte, dass „sich die Sowjetunion mit ihrem Verzicht auf Joint-Venture-Projekte mit USFirmen mehr geschadet [habe] als durch die seit dem 4. Januar [1980] geltenden amerikanischen Export-Kontrollen bewirkt werden könne“. Siehe: US-Wissenschaftler: Sowjets können Computer-Embargo verkraften. In: Computerwoche vom 22.02.1980. 89 „Die Erwartungen sind zu hochgeschraubt“. In: Wirtschaftswoche 37, 1983, Nr. 48, S. 32 u. 34, hier S. 34.

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Nachricht zum aufgedeckten Schmuggel eines hochwertigen DEC-Computers in die Sowjetunion

Quelle: Der Tagesspiegel, Berlin, vom 15.07.1982.90

90 Siehe auch: Zoll beschlagnahmt in Frankfurt und München DEC-Rechner: „Exodus“ beendet US-Computerexport. In: Computerwoche vom 23.07.1982.

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Beispiel 1: Hilfe für die sowjetische Halbleiterindustrie Die Mikroelektronik und Computertechnik hatte – neben militärischen Gütern – eine hohe Beschaffungspriorität für die Sowjetunion. So wurden Schaltkreise in großer Zahl von der Sowjetunion und anderen COMECON-Staaten in den USA und Japan gekauft.91 Ganz legal kamen jedes Jahr bis zu 100 Mill. Chips in die Sowjetunion. Vor 1980 kaufte die UdSSR jedes Jahr mehrere hundert Tonnen hochreines Silizium, vorwiegend in den USA, der Bundesrepublik und Japan, das zur Herstellung von Schaltkreisen in der sowjetischen Industrie benötigt wurde. Als der Verkauf plötzlich gestoppt wurde, blieb der UdSSR lediglich, auf illegalen Bezug zu setzen. Der Schwerpunkt des illegalen Technologietransfers lag jedoch in der Herstellungstechnologie. Der Herstellungsprozess der Schaltkreise ist außerordentlich komplex. Deshalb sind enorme Forschungs- und Entwicklungskapazitäten nötig, um diese zu beherrschen. Probleme in einem Produktionsschritt führen rasch zur erheblichen Verringerung der Ausbeute im gesamten Prozess. Oft steckt das Know-how als tacit knowlegde in den Produktionssystemen. Anfang der 1980er Jahre war die VLSI-Technologie (very large scale integrated circuits) entwickelt worden. Damit ließ sich die Integrationsdichte vergrößern, d. h. es passten viel mehr Bauelemente auf einen Halbleiterchip. 92 Diese Technologie ermöglichte die Produktion von leistungsfähigen Mikroprozessoren ab 16 Bit Verarbeitungsbreite und Speicherschaltkreisen bis zu einer Kapazität von 1 MBit. Wegen der militärtechnischen Bedeutung hatte das Pentagon in das Projekt 680 Mill. US-Dollar investiert. Mit der VLSI-Technologie war es z. B. möglich, im F15-Kampfflugzeug die Anzahl der Schaltkreise von fast 5000 auf 41 zu reduzieren, das bedeutet eine Gewichtsreduktion von 25 kg auf 1,5 kg, eine höhere Zuverlässigkeit und eine beträchtliche Energieeinsparung.93 Eigentlich stand die VLSI-Technologie im Zentrum eines Wettlaufs zwischen dem US-Unternehmen IBM und der japanischen Firma Hitachi. Auch hier wurden Fälle von Industriespionage bekannt. Hitachi-Manager wurden nämlich in den USA auf frischer Tat beim Diebstahl von IBM-Produktionsgeheimnissen ertappt. Pikant war dabei, dass auch der amerikanische Chiphersteller National Semiconductors auf japanischer Seite beteiligt war. In einem außergerichtlichen Vergleich verpflichtete sich Hitachi zu einer Schadensersatzzahlung von schätzungsweise 300 Mill. US-Dollar. Im Zusammenhang mit dem Technologiediebstahl von Hitachi wurde die Sicherheit von Hightech-Unternehmen im Silicon Valley

91 Bryen, Stephen: Bedrohung – NATO-Technologie in Ostblock-Waffen. In: Tuck, Jay / Liebl, Karlheinz (Hrsg.): Direktorat T. Industriespionage des Ostens. Heidelberg 1988, S. 117-142, hier S. 133. 92 Sze, Simon M. (Ed.): VLSI Technology, New York 1983. 93 Tuck, Jay: Ein Megabyte-Makler für Moskau. In: Ders. / Liebl, Karlheinz (Hrsg.): Direktorat T. Industriespionage des Ostens. Heidelberg 1988, S. 18-38, hier S. 37.

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untersucht und dabei eine Fülle von Lücken entdeckt. Ein Sicherheitsspezialist meinte: „Spionage scheint irgendwie zur Kultur von Silicon Valley zu gehören“.94 Der illegale Technologietransfer in West-Ost-Richtung und die allgemein übliche Industriespionage war eng verwoben. Beispielweise wurden am Thanksgiving-Wochenende 1982 bei der kalifornischen Firma Monolithic Memories Schaltkreise für militärische Anwendungen im Wert von 2,7 Mill. US-Dollar gestohlen. Das FBI fand die Hälfte wieder, der Rest wurde im COMECON vermutet. Während im Westen die Industriespionage im Wesentlichen auf Unternehmensebene angesiedelt war, beauftragte im Osten der Staat seine Institutionen, um die als notwendig angesehenen Technologien mit geheimdienstlichen Mitteln auch unter Umgehung der Embargobestimmungen im Westen zu beschaffen. Gleichwohl konnte dies nur der Beginn der Wertschöpfungskette sein. Genauso wichtig war die rasche Nutzung des Know-how in der Produktion, durchaus auf Schwierigkeiten stieß. So hatte man im Ostblock beträchtliche Probleme mit der VLSI-Technologie. Sehr schmerzhaft war es für die sowjetische Führung, dass Anfang der 1980er Jahre mehrfach westliche Spezialisten Halbleiterfertigungsmaschinen in militärischen Herstellungszentren reparieren mussten. Damit wurden nicht nur grundlegende Sicherheitsbestimmungen verletzt, sondern dem Westen auch schwerwiegende Produktionsstörungen in militärischen Einrichtungen sowie Mangel an geeignetem Personal offenbart.95 Während westliche Geheimdienste den illegalen Technologietransfer einzudämmen versuchten, entwickelten einige dubiose Unternehmer den HightechSchmuggel zu einem einträglichen Geschäftsmodell. Eine wichtige Figur im illegalen Technologietransfer mit der UdSSR war z. B. der Deutsche Richard Müller, wegen seines extravaganten Lebenswandels auch „Moneten-Müller“ genannt.96 Weltweit besaß er rund 100 Unternehmen. Anfang der 1980er Jahre hatte er Hightech-Geräte vor allem für die VLSI-Herstellungstechnologie im Wert von 8 Mill. US-Dollar zusammengekauft. Im November 1982 erfolgte der Transport mit einem schwedischen Schiff von Kapstadt über Hamburg nach Helsingborg. Im Hamburger Hafen wurde es von amerikanischen und deutschen Zollbeamten gestürmt und drei Container mit Embargo-Gütern von Bord genommen. In Helsingborg folgten weitere vier. Kurz darauf wurden die Güter medienwirksam auf einer Pressekonferenz in Washington präsentiert. 94 Industriespionage. Puzzle gegen Spione. In: Wirtschaftswoche 37 (1983) Nr. 51, S. 42 u. 44, hier S. 44. 95 Bryen, Stephen: Bedrohung – NATO-Technologie in Ostblock-Waffen. In: Tuck, Jay / Liebl, Karlheinz (Hrsg.): Direktorat T. Industriespionage des Ostens. Heidelberg 1988, S. 117-142, hier S. 133-134. 96 Tuck, Jay: Die Computerspione. Der heimliche Handel mit NATO-Technologie. München 1984, S. 84-103. Der Fall Müller wird auch in einem CIA-Bericht beispielhaft erwähnt, siehe: Die sowjetische Beschaffung von militärisch wichtiger Technologie aus dem Westen – Ein aktualisierter Bericht, Bonn, Arbeitskreis für Landesverteidigung, September 1985, S. 30.

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Auf Druck der USA erklärten sich Anfang der 1980er Jahre immer mehr Staaten bereit, die Embargobestimmungen konsequenter durchzusetzen und den USBehörden bei ihrer Arbeit Amtshilfe zu leisten. Die Öffentlichkeit war schockiert über die vermeintliche oder tatsächliche Zunahme der Bedrohung aus dem Osten, die sich aus dem Zugriff auf neueste westliche Hochtechnologien ergab. So publizierte etwa der Spiegel Ende 1983 einen Beitrag unter dem Titel „Die SS-20 steckt voll West-Technologie“.97 Die weltweite Fahndungsarbeit in der Müller-Affäre hatte über 1,2 Mill. USDollar gekostet. Die Regierungen in Washington, Bonn und Stockholm waren involviert. Alle diese Aktivitäten mündeten in einen wenig spektakulären Prozess vor dem Amtsgericht Lübeck. Da Müller untergetaucht war, konnten nur drei seiner Mitarbeiter abgeurteilt werden. Die Aktion hatte aber große Auswirkungen auf die Kontrolle der Embargo-Bestimmungen. So wurden z. B. beim Lübecker Prozess erstmals Schweizer Bankauskünfte als Beweismittel in einem deutschen Strafverfahren eingesetzt. Nach den Kontoauszügen einer Züricher Bank hatte Müller mindestens 300 Mill. DM umgesetzt. Auch die westlichen HightechFirmen waren vorsichtiger geworden. Wegen der Verstrickungen einer seiner europäischen Niederlassungen in die Müller-Affäre zahlte z. B. der US-Computerhersteller Digital Equipment Corporation (DEC) eine Geldbuße von 1,2 Mill. USDollar, anderenfalls wäre der DEC die US-Exportlizenz entzogen worden. Das schwedische Unternehmen Data Saab zahlte in den USA freiwillig 1 Mill. USDollar, um nicht auf die schwarze Liste zu kommen. Auch im Gerichtsverfahren gab es einige Neuerungen. Ein Handelspartner von Müller wurde nicht nur wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz, sondern zusätzlich wegen Spionage angeklagt. Obwohl es keine Hinweise auf konspirative Methoden, wie tote Briefkästen oder Geheimschriften gab, verwies man im Urteil auf die Zusammenarbeit mit dem MfS, was zur Anklage wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit ausreichte. Ein weiterer Geschäftsmann, der im Westen für die UdSSR Embargogüter einkaufte, war der Deutsche Werner Bruchhausen.98 Er begann seine Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst Mitte der 1970er Jahre. Dazu hatte er in den USA und in Europa ein weit reichendes Firmenkonglomerat aufgebaut. 97 „Die SS-20 steckt voll West-Technologie“. In: Der Spiegel Nr. 52 vom 26.12.1983, S. 60-65. Freihofner, Gerald: Heisse Fracht für Moskau. In: Wochenpresse, Wien, vom 18.06.1985, S. 22-26. Mit einem ähnlichen Tenor: Gustafson, Thane: Selling the Russians the Rope? Soviet Technology Policy and U.S. Export Controls. Santa Monica, Rand Corp., 1981. 98 Über diesen spektakulären Fall mit seinen vielfältigen Vernetzungen wurde ausführlich in der Presse berichtet: Simpson, Christopher: What are the Soviets doing in Silicon Valley? In: Computerworld 15, No. 6, Feb. 9, 1981, S. 1-5 u. 8. Laberis, Bill: Jury Probing Firm Charged With Breaking Trade Embargo. In: Computerworld 15, No. 12, March 23, 1981, S. 87-88. Wirtschaftsspione bedrohen Amerikas Vormachtstellung. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 13 vom 17./18. Januar 1981, S. 36. Geheimhandel. In: Die Zeit Nr. 37 vom 10.09.1982, S. 50. Kulzer, Rudi: Computerschmuggel. Mikrochips zwischen West und Ost. In: Chip 1984, Nr. 4, S. 24-27. Operation Exodus. In: Der Spiegel 1987, Nr. 30, S. 101-103.

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1980 sollten zwei Hochdruck-Oxidationsanlagen aus den USA über die Bundesrepublik, Österreich und die Niederlande in den Osten geliefert werden. Aber die Sache flog auf und gegen Bruchhausen und einige seiner Mitarbeiter wurde in den USA Anklage erhoben.99 Der flüchtige Hightech-Händler stand auf den Fahndungslisten der Polizei vieler Länder. 1985 wurde er in London festgenommen und kam aufgrund seines falschen Reisepasses ins Gefängnis. Zwei Jahre lang versuchte er, seine Auslieferung in die USA zu verhindern. Im Mai 1987 wurde Bruchhausen dann vor dem Federal Court in Los Angeles zu 15 Jahren Gefängnis und 15.000 US-Dollar Geldbuße verurteilt. Als sich ein US-Senatsausschuss der Sache annahm, musste er massive Verletzungen der Embargobestimmungen feststellen.100 Das Bruchhausen-Imperium

Quelle: Simpson, Christopher: Electronics Underworld. In: Computerworld Vol. 15, No. 35, Aug. 31, 1981, S. 1, 6-7, 9, hier S. 1. https://books.google.de/books?id=FBv773oEDMwC&printsec=frontcover&hl=de&source= gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false - Letzter Zugriff 15.02.2015.

99 Simpson, Christopher: Maluta and Tittel Found Guilty of Smuggling High-Tech Goods. In: Computerworld 15, No. 44, Nov. 2, 1981, S. 2. 100 Kirchner, Jake: Senat Subcommittee Recommends Restructing of U.S.: Export Control. In: Computerworld 16, No. 22, May. 31, 1982, S. 51, 55. Transfer of United States High Technology to the Soviet Union and Soviet bloc Nations, Hearings before the Permanent Subcommittee on Investigations of the Committee on Governmental Affairs, United States Senate, 97. Congress, 2. Session, May 4, 5, 6, 11, and 12, 1982, Washington 1982.

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Deutlich wurde das ganze Ausmaß des illegalen Technologietransfers, nachdem sich im Herbst 1982 ein KGB-General dem Westen offenbarte. Dieser Fall wurde unter dem Codenamen Farewell bekannt.101 Der KGB-Offizier Wladimir I. Wetrow (auch Vetrov), der selbst im Direktorat T tätig war und 1985 in Moskau hingerichtet wurde, hatte einen Großteil der sowjetischen Hightech-Spione in Westeuropa und den USA an den französischen Geheimdienst verraten. Die Auswertung der über 4000 von ihm übergebenen topsecret-Dokumenten, von denen einige handschriftliche Anmerkungen von Leonid Breschnew, dem damaligen sowjetischen Partei- und Staatschef, trugen, dauerte drei Jahre: Sie enthielten u.a. viele Namen von KGB-Agenten. Außerdem wurde klar, dass während des 10. Fünfjahresplans zwischen 1976 und 1980 über 3500 strategisch wichtige Geräte bzw. Dokumentationen aus dem Westen illegal in die UdSSR geschleust worden waren. Nach sowjetischen Angaben soll das dem Warschauer Pakt mindestens 1,4 Mrd. US-Dollar militärische Entwicklungskosten gesparten haben.102 Diese Werte wurden üblicherweise von den Beschaffungsorganen selbst festgelegt und naturgemäß hatte das dortige Personal ein Interesse daran, den Wert der Spionageergebnisse hoch anzusetzen. Unklar bleibt hingegen, was davon in Produktion überführt werden konnte und welcher finanzielle Gegenwert dabei anzusetzen ist. Die US-Administration übte nach diesen Enthüllungen massiven Druck auch auf neutrale Staaten wie Österreich, Schweiz und Schweden aus, damit der Embargoschutz verstärkt und die Täter intensiver verfolgt würden. US-Spezialisten reisten durch europäische Hauptstädte und drängten auf Aktionen. Die bereits erwähnte US-Zoll-Gruppe Operation Exodus unterstützte die Razzien der europäischen Kollegen. Weltweit stieg die Zahl konfiszierter Embargosendungen auf über 4000. In der BRD flogen Dutzende von kleineren Händlerringen auf. Mitte der 1980er Jahre hatte sich die UdSSR auf die neue Situation eingestellt. Da der Technologietransfer über die neutralen Länder schwieriger geworden war, operierte man nun in Mittelmeer-Ländern, in Fernost und der Dritten Welt. Die Lieferrouten führten nun über Malta, Zypern, Istanbul, Thessaloniki in die bulgarische Hauptstadt Sofia. Der sowjetische Geheimdienst holte sich Hilfe bei den befreundeten Diensten der Bruderstaaten. 101 Regnard, Henri: L'USS et le renseignement scientifique, technique at technologique. In: Défense nationale N° 438 Décembre 1983, S. 107-121. Hanson, Philip: Soviet Industrial Espionage. In: Bulletin of the Atomic Scientists April 1987, S. 22-29. Weiss, Gus W.: Duping the Soviets. The Farewell Dossier. In: Studies in Intelligence 39, 1996, H. 5, S. 121-126. Kostin, Sergej: Bonjour, farewell. La vérité sur la taupe française du KGB. Paris 1997. Kostin, Sergej: / Raynaud, Éric: Farewell. The greatest spy story of the twentieth century. Las Vegas/ Nev. 2011, Nart, Raymond / Debain, Jacky / Denoël, Yvonnick: L' affaire Farewell. Vue de l‘intérieur, Paris 2013. 102 Die sowjetische Beschaffung von militärisch wichtiger Technologie aus dem Westen – Ein aktualisierter Bericht, Bonn, Arbeitskreis für Landesverteidigung, September 1985, S. 5 u. 13. Dieser Bericht ist die aktualisierte und übersetzte Fassung von: Soviet Acquisition of Western Technology. U.S. Government (National Technical Information Service, U.S. Department of Commerce) PB 82-213083. Washington / DC, April 1982.

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Beispiel 2: Westliches Know-how in der DDR-Halbleiterindustrie Im Juni 1977 wurde in der DDR der „Beschluß zur Beschleunigung der Entwicklung, Produktion und Anwendung der Mikroelektronik in der DDR“ gefasst, vor allem weil sich die Halbleitertechnologie und Mikroelektronik zu einer entscheidenden Technologie im Systemwettstreit entwickelt hatte. Wie eine im Auftrag des ZK der SED durchgeführte Analyse ergab, betrug damals der Rückstand zur internationalen Spitze bei analogen Schaltkreisen bereits vier bis acht Jahre, bei digitalen Halbleiterspeichern und Mikroprozessoren sechs bis sieben Jahre und bei technologischen Spezialausrüstungen bis zu neun Jahre. Die Produktivität der Ausrüstungen betrug ein Zehntel, in günstigen Fällen ein Drittel, die Kosten erreichten jedoch das 5-fache des internationalen Niveaus.103 Dennoch hielt das Politbüro 1977 den schnellen Aufbau einer mikroelektronischen Industrie in der DDR für möglich. Einerseits glaubte man an eine echte arbeitsteilige Zusammenarbeit innerhalb des COMECON.104 Andererseits überschätzte die politische Führung die Möglichkeiten des MfS, unter Umgehung der Embargobestimmungen notwendige Spezialausrüstungen und Know-how im Westen zu beschaffen. Dies zusammengenommen bezeichnet Gerhard Barkleit als Spagat zwischen dem Embargo im Westen und der Kooperationsverweigerung der UdSSR.105 Olaf Klenke kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass das nationalstaatlich angelegte Mikroelektronik-Programm der DDR an der Globalisierung gescheitert ist, an der sie nicht teilnehmen konnte.106 Im Zeitraum von 1977 bis 1988 wurden enorme Ressourcen zur Verfügung gestellt. Die Zahlen liegen zwischen 14 Mrd. und ca. 30 Mrd. DDR-Mark für den Zeitraum 1986 bis 1990 – eine gewaltige Summe bezogen auf die Leistungsfähigkeit der DDR-Volkswirtschaft. Insgesamt wirkten am Mikroelektronik-Programm rund 400.000 Beschäftigte mit. Dennoch blieb ein technologischer Rückstand von 7 bis 8 Jahren, der nicht aufgeholt werden konnte. Gerade bei der Halbleiterproduktion ist die Technologie eng an das Produkt gebunden. Üblich war es beispielsweise, eine teuere Maschine zu kaufen, die den 103 Müller, Gerhard: Die Politik der SED zur Herausbildung und Entwicklung der Mikroelektronikindustrie der DDR im Rahmen der ökonomischen Strategie zur Durchsetzung der intensiv erweiterten Reproduktion (1976 bis 1985), Berlin, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Dissertation (B) 1989, S. 15. 104 Im Juni 1977 leitete der DDR-Partei- und Staatschef Erich Honecker eine Information an den SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag weiter, in der darauf hingewiesen wurde, dass der „Aufwand für die Einführung der Mikroelektronik als auch die aus wirtschaftlichen Gründen notwendige Losgröße bei der Produktion hochintegrierter Bausteine“ enorm sei und „das volle Ausschöpfen der Möglichkeiten der internationalen Kooperation und Spezialisierung im Rahmen der sozialistischen ökonomischen Integration erfordert“. SAPMO-BArch, Büro Mittag, vorl. Sig. 17692. 105 Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme. Dresden 2000. 106 Klenke, Olaf: Ist die DDR an der Globalisierung gescheitert? Autarke Wirtschaftspolitik versus internationale Weltwirtschaft – Das Beispiel Mikroelektronik. Frankfurt 2001.

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gewünschten, aber nicht freiverfügbaren Schaltkreis enthielt. Dieser wurde dann Schicht für Schicht abgetragen und analysiert. Das fertige Layout reichte aber für die Herstellung nicht aus. Man brauchte die Technologie und die dazu notwendigen Geräte. Zunächst versuchte die DDR, auf legalem Wege Zugang zu dieser Technologie zu erhalten. Bis 1986 boten sich hier Firmen aus Japan an, wie z. B. Toshiba, da dieses Land formal nicht an die COCOM-Bestimmungen gebunden war.107 Das Unternehmen unterstützte das Kombinat Mikroelektronik Erfurt bereits zu Beginn der 1980er Jahre bei der Produktion des 16-kbit- sowie des 64-kbitSpeichers. 1985 trat das Kombinat an Toshiba mit der Bitte um Lieferung der Fertigungstechnologie für den 256-kbit-Speicherschaltkreis heran. Die Technologie sollte auf den Erfahrungen der 64-kbit-Chips aufbauen. Allerdings beherrschte man diesen Prozess in Erfurt nicht in genügendem Maße, um eine hohe Ausbeuten zu erreichen, was zu erheblichen Problemen bei der Erfüllung des Volkswirtschaftsplans von 1988 führte, da viele Betriebe fest mit dem Einsatz dieses Schaltkreises gerechnet hatten. Außerdem wurden diese Schaltkreise nach der sog. n-MOS-Technologie herstellt. Damit entsprach die darauf aufbauende Fertigung der nächsten Speichergeneration von 256-kbit-Speichern nicht mehr dem neuesten technologischen Stand. International – das gilt auch für Toshiba selbst – fertigte man Mitte der 1980er Jahre bereits 1-Mbit-Chips in der sog. CMOSTechnologie. Auch das ZMD in Dresden, das seit 1986 an das Kombinat CarlZeiss Jena angegliedert war, arbeitete an dieser moderneren Technologie. Damit entstand eine Konkurrenzsituation zwischen dem Kombinat Mikroelektronik, das auf die erprobte Technologie von Toshiba setzte, und dem Kombinat Carl-Zeiss Jena, das auf CMOS setzte. Letztlich wurde das Erfurter Kombinat 1987 jedoch Opfer der Beilegung eines Konfliktes zwischen Japan und den USA um die Verletzung von Embargobestimmungen. Hintergrund war hier, dass eine Tochter des Toshiba-Konzerns über eine norwegische Firma Know-how und Maschinen zur Herstellung von geräuscharmen U-Boot-Antrieben an die Sowjetunion verkauft hatte (Toshiba-Kongsberg-Affäre). Das japanische Ministerium für Internationalen Handel und Industrie (MITI) verbot auf Druck der US-Administration Toshiba daraufhin alle Kontakte mit den RGW-Ländern.108

107 Krakat, Klaus: Probleme der DDR-Industrie im letzten Fünfjahrplanzeitraum (1986-1989/90). In: Kuhrt, Eberhard (Hrsg.): Am Ende des realen Sozialismus. Opladen 1996, Bd. 2, S. 162162. 108 Zur Toshiba-Kongsberg-Affäre siehe: Tuck, Jay / Liebl, Karlheinz (Hrsg.): Direktorat T. Industriespionage des Ostens. Heidelberg 1988, S. 127 ff. Toshiba entschuldigte sich sogar mit einer Großanzeige in der Times für die Embargo-Verletzung. Barkleit, Gerhard: Mikroelektronik in der DDR. SED, Staatsapparat und Staatssicherheit im Wettstreit der Systeme, Dresden 2000, S. 80. Buthmann, Reinhard: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung westlicher Technologien im Bereich der Mikroelektronik. In: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Das Gesicht dem Westen zu [...] DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 279-314.

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Geschichten von Technologieklau und Hightech-Schmuggel ließen sich noch manche erzählen. Tatsache ist, dass die COMECON-Staaten eine Fülle von Know-how illegal aus dem Westen bezogen. Für solche Transaktionen stand ein Netz von eigenen bzw. westlichen Unternehmen bereit. So wurde in einer Studie festgestellt, dass 1987 allein unter der Überwachung des MfS mindestens 44 Transferlinien für elektronische Güter aller Art existierten. Jede Linie bildete einen jeweils eigenständigen Mikrokosmos von Unternehmen und Handelslogistik.109 Insgesamt gelangte ab Mitte der 1980er Jahre ein großer Teil der Ausrüstungen, die für die Herstellung hochintegrierter Schaltkreise notwendig sind, unter Umgehung der westlichen Embargobestimmungen in die DDR. So stammten die zur Produktion des 1-Mbit-Speichers nötigen technologischen Ausrüstungen zu je einem Drittel aus der DDR, der UdSSR und von westlichen Herstellern.110 Außerdem wurden sämtliche Ressourcen für das Mikroelektronikprogramm gebündelt. Die Forschungs- und Produktionskapazitäten verschiedener Industriezweige wurden ebenso herangezogen wie die Institute der Akademie der Wissenschaften sowie die Universitäten und Hochschulen.111 1980 stieg das AMD zum Leitinstitut der Mikroelektronik der DDR auf und hieß nun "Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik" (ZFTM). Während die Entwicklung von Bauelementen, die in die Fertigung überführt werden sollten, meist in den Entwicklungsbereichen der Halbleiterindustrie erfolgte, übernahmen Akademieinstitute und Universitäten viele Aufgaben der Grundlagenforschung.112 Gleichwohl muss betont werden, dass die DDR zu den wenigen Industriestaaten gehörte, die in den 1980er Jahren die Halbleitertechnologie im MegabitBereich zumindest im Labormaßstab beherrschte. Das Kernproblem bestand letztlich darin, dass das hohe wissenschaftlich-technische Niveau nicht in die Produktion und damit in absetzbare Produkte überführt werden konnte. Die politische Führung versuchte indes, die technischen Erfolge in politisches Kapital umzumünzen. Bereits 1988 wurde der erste 1-Megabit-Speicherschaltkreis mit großem Pomp an den Partei- und Staatschef Erich Honecker übergeben.113 Ein Jahr später sollte das mit einem Labormuster eines 32-bit-Prozessors – wie sich später her109 Buthmann, Reinhard: Die Organisationsstruktur zur Beschaffung westlicher Technologien im Bereich der Mikroelektronik. In: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Das Gesicht dem Westen zu [...] DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 279-314, hier S. 303. 110 Kirchner, Otto Bernd: Wafer-Stepper und Megabit-Chip. Die Rolle des Kombinats CarlZeiss-Jena in der Mikroelektronik der DDR. Diss. Universität Stuttgart 2000, S. 103. 111 Buthmann, Reinhard: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms. Berlin 1997, S. 21. 112 Müller, Gerhard: Die Politik der SED zur Herausbildung und Entwicklung der Mikroelektronikindustrie der DDR im Rahmen der ökonomischen Strategie zur Durchsetzung der intensiv erweiterten Reproduktion (1976 bis 1985). Berlin, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Dissertation (B) 1989, S. 125-143. 113 Verpflichtung wurde eingelöst: Kombinat Carl Zeiss Jena übergab 1-Megabit-Speicherschaltkreis. In: Neues Deutschland vom 13.09.1988, S. 1.

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ausstellte war dies auch nur ein Muster des MicroVAX 78032 der Digital Equipment Corporation (DEC), welches Ausgangspunkt eines Reverse Engineerings war – aber die revolutionären Ereignisse spülten im Wendeherbst derartige Erfolgsmeldungen hinweg.114 Übergabe eines Labormusters des ersten und einzigen 32-bit-Prozessors der DDR vor der Partei- und Staatsführung

Quelle: Neues Deutschland Nr. 191 vom 15.08.1989.

Illegaler Technologietransfer und Wirtschaftsentwicklung Der Illegale Technologietransfer hat neben dem Erkenntnisgewinn über die technisch-technologischen Fähigkeiten eines potentiellen Gegners in einem möglichen (bewaffneten) Konflikt oft auch wirtschaftliche Ziele. So lassen sich unter Umständen hohe Entwicklungskosten sparen. Besonderen Nutzen versprechen dual-use-Technologien, die sowohl im militärischen als auch im zivilen Sektor einsetzbar sind. Dazu gehörten in den 1980er Jahren die Mikroelektronik und Computertechnik. Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Nutzen im zivilen 114 Brückner, Dieter / Mämencke, Jochen: Spitzenleistung im Wettbewerb zum 40. Jahrestag der DDR. Erfurter Mikroelektroniker übergaben Muster von 32-bit-Mikroprozessoren. In: Neues Deutschland vom 15.08.1989, S. 1. Diese Leistung fand auch Beachtung in westlichen Fachkreisen, siehe: Krakat, Klaus: DDR-Kombinat entwickelt die erste eigene 32-Bit-CPU. In: Computerwoche Nr. 41 vom 6. 10. 1989, S. 105. Gosch, John: East Germans show off their high-tech Muscle. In: Electronics July 1989, S. 8-9. Ders.: Massive East German effort yields a 32-bit processor. In: ebd. Dezember 1989, S. 36.

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Sektor war aber, dass die Erkenntnisse schnell in die Produktion überführt werden konnte. Und genau dieser Schritt war die Achillesferse der DDR und aller anderen sozialistische Staaten. Über das ostdeutsche Mikroelektronikprogramm entzündete sich bereits in der DDR ein Streit auf höchster Ebene – die sog. Schürer / Mittag-Kontroverse vom Mai 1988. Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, hielt den Aufbau einer eigenen DDR-Mikroelektronik schlichtweg für unbezahlbar und wollte das Projekt abbrechen, während Günter Mittag, Sekretär für Wirtschaft im ZK der SED, gerade darin die Voraussetzung für den Fortbestand der DDR sah.115 In dieser Auseinandersetzung zwischen dem realistischen Blick auf das Machbare und der technokratischen Idee, dass im Westen gestohlene Technologien auch rasch in der DDR eingesetzt werden können, hatte sich zunächst mit Günter Mittag das Primat der Politik durchgesetzt – was aber letztlich den Zusammenbruch der DDR nicht aufhalten konnte. Die Frage, welche Effekte ein intensiver Technologietransfer zu entfalten vermag, wurde auch von Wirtschaftshistorikern diskutiert.116 Jörg Roesler kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass der illegale Technologietransfer unvollständig bzw. unsicher, vor allem aber teuer war.117 Die Beispiele haben gezeigt, dass die Transferwege für westliches Know-how wesentlich durch die Technologiepolitik des Westens bestimmt wurden. Nicht zuletzt deshalb war die Beschaffung von Hightech-Produkten im Westen alles andere als einfach und kostengünstig. Verständlicherweise konnte das MfS oder KoKo, das Firmenkonglomerat von Alexander Schalck-Golodkowski, nur jene Software, Hardware bzw. Komponenten beschaffen, an die ihre Kontaktpersonen im Westen herankamen. Das war aber nicht immer das gesuchte Produkt. Zuweilen 115 Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Vor dem Bankrott der DDR. Dokumente des Politbüros des ZK der SED aus dem Jahre 1988 zum Scheitern der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ (die Schürer / Mittag-Kontroverse). Berlin 1991. Pirker, Theo / Lepsius, M. Rainer / Weinert, Rainer / Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Der Plan als Fiktion und Befehl. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen. Opladen 1995, S. 19-31 (Mittag) und S. 67-120 (Schürer), bes. S. 88 ff. 116 Roesler, Jörg: Auf der Suche nach den Ursachen realsozialistischer Innovationsschwäche. In: Utopie kreativ H. 25/26, Nov. / Dez. 1992, S. 151-159. Klenke Olaf: Ist die DDR an der Globalisierung gescheitert? Autarke Wirtschaftspolitik versus internationale Weltwirtschaft – Das Beispiel Mikroelektronik. Frankfurt 2001. Macrakis, Kristie: Does Effective Espionage Lead to Success in Science and Technology? Lessons from the East German Ministry for State Security. In: Intelligence and National Security 19, 2004, No. 1, S. 52-77. 117 Roesler, Jörg: Unkonzentriert beim „Beschaffen“ und bequem werden beim „Abkupfern“? Das DDR Mikroelektronikprogramm und die begrenzten Möglichkeiten von Industriespionage und illegalem Technologietransfer. In: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Das Gesicht dem Westen zu [...] DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 315-332. Im selben Band auch: Macrakis, Kristie: Führt effektive Spionage zu Erfolgen in Wissenschaft und Technik? In: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Das Gesicht dem Westen zu [...] DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 250-278.

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wurde das falsche Gerät geliefert oder es war fehlerhaft. Als z. B. 1986 eine von KoKo gelieferte VAX 780 im Kombinat Carl Zeiss Jena installiert werden sollte, funktionierte sie nicht einwandfrei. Die Vermutung lag nahe, dass ein westlicher Geheimdienst die Maschine präpariert hatte.118 Service-Leistungen waren unter den gegebenen Umständen selbstverständlich ausgeschlossen. Das investierte Geld war gewöhnlich auch verloren, wenn ein illegaler Transport aufgeflogen war. Nicht zuletzt verliefen die Geräteimporte selten nach Zeitplan, sodass es nur wenig Planungssicherheit gab. Weiterhin, so Roeslers Argument, lagen die Preise beim illegalen Bezug weit über dem normalen Kaufpreis, da Bestechungsgelder gezahlt bzw. sonstige „Mehraufwendungen“ beglichen werden mussten. Auf dem Schwarzmarkt gab es keine Konkurrenz und damit kein Preiskorrektiv. So rechnete man mit Aufschlägen von einem Drittel bis zwei Fünftel des Weltmarktpreises. Hinzu kam – wie schon erwähnt –, dass man keinen Service in Anspruch nehmen konnte. Selbst Maschinen, die nur eine leichten Defekt hatten, mussten unter diesen Bedingungen durch neue ersetzt werden Manchmal kam es vor, dass ein westlicher Hersteller während eines Beschaffungsvorgangs ein Gerät durch eine Neuentwicklung ohne Handelsverbot ersetzte. Da man Beschaffungsprozesse so schnell nicht stoppen konnte, wurde eine Maschine angekauft, die zum Lieferzeitpunkt auf dem offiziellen Markt billiger zu kaufen war. So liefert etwa die KoKo-Firma Intrac Mitte der 1980er Jahre Ausrüstungen für Leiterplattenwerke, die nicht mehr dem Embargo unterlagen. Roesler argumentiert: Hätte das MfS neben Konstruktionsunterlagen auch die COCOM-Listen aus der Pariser Behörde beschafft, hätte man die Importkosten möglicherweise um 30 bis 50 % reduzieren können.119 In die Kosten müssen auch jene Aufwendungen eingerechnet werden, die durch die „Neutralisierung“ der Embargo-Anlagen entstanden. Dabei wurden alle Typenschilder, Gerätebeschreibungen und sonstigen Herkunftshinweise entfernt, um zu verhindern, dass die mit den Geräten arbeitenden Ingenieure Kenntnisse über Hersteller, Lieferanten und illegale Vertriebswege erhielten. Diese Praxis war aus Sicht des MfS wegen des Quellenschutzes unumgänglich, störte und verzögerte jedoch den Einsatz der Geräte erheblich. Nicht zuletzt weist Roesler darauf hin, dass bereits zu DDR-Zeiten von den Beschaffern die geringe Wirksamkeit des Technologietransfers thematisiert wurde, indem sie den Entwicklern vorwarfen, der Zustrom von fehlenden Komponenten aus dem Westen mache bequem. Dabei wird zwar die Leistung des Nachentwickelns völlig verkannt, aber Tatsache bleibt, dass Wissenschaftler und Ingeni118 Kirchner, Otto Bernd, Wafer-Stepper und Megabit-Chip. Die Rolle des Kombinats CarlZeiss-Jena in der Mikroelektronik der DDR, Diss. Universität Stuttgart 2000, S. 129-130. 119 Roesler, Jörg: Unkonzentriert beim "Beschaffen" und Bequem werden beim "Abkupfern"? Das DDR Mikroelektronikprogramm und die begrenzten Möglichkeiten von Industriespionage und illegalem Technologietransfer. In: Herbstritt, Georg / Müller-Enbergs, Helmut (Hrsg.): Das Gesicht dem Westen zu [...] DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland, Bremen 2003, S. 315-332, hier S. 326.

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eure, die sich mit Reverse Engineering beschäftigen, im Nachteil sind. Wenn ein Gerät auf den Markt kommt, arbeitet der Hersteller bereits an der nächsten Generation. Haben die Nachentwickler die Analyse und Produktentwicklung abgeschlossen, ist diese beim Hersteller oft schon in der Markteinführung und die mühsam gewonnenen Ergebnisse sind veraltet. Hinzu kommt: Wer nacherfindet, kann kaum eigene Ideen entwickeln und umsetzen. Viele Wissenschaftler oder Techniker in der DDR dürften also weniger bequem als frustriert gewesen sein. Die entscheidende Frage ist, ob mit illegalem Technologietransfer eine technologische Lücke geschlossen werden kann. Wie bereits ausgeführt, besaß die DDR seit den 1970er Jahren einen technologischen Rückstand im Halbleiterbereich von bis zu zehn Jahren. Letztlich war es auf Grund von Innovationsblockaden im Zentralen Planungssystem sowie der ungenügenden Kooperation im COMECON einerseits und eines verschärften Wirtschaftskriegs von Seiten des Westens andererseits nicht möglich, diesen zu verringern. Vor allem aber gelang es nicht, das Rationalisierungspotential der vorhandenen Elektroniktechnologien zur Wirksamkeit zu bringen, da man an den traditionellen Produktionsstrukturen festhielt. Gegenüber der starken Förderung der Bauelemente-Industrie blieben die Anwendungen in anderen Industriezweigen vernachlässigt. Technologischen Lücken wurden aber nicht nur zwischen Ost und West konstatiert, sondern auch zwischen westeuropäischen Industriestaaten, den USA und Japan. So startete beispielsweise Siemens 1984 das MEGA-Programm, um in 5 Jahren den Rückstand in der Höchstintegration aufzuholen. Die Technologie für den 1-Megabit-Speicher musste Siemens beim Mitbewerber Toshiba einkaufen. Für die Entwicklung des 4-Megabit-Chips kooperierte das Münchner Unternehmen mit seinem Konkurrenten Philips, um die ehrgeizigen Zeitpläne halten zu können. Siemens ging von F&E-Kosten für das MEGA-Projekt über die Laufzeit von 5 Jahren von mehr als 20 Mrd. DM aus. Das BMBF gab 300 Mio. DM Fördermittel dazu.120 Selbst die USA geriet gegenüber der starken Konkurrenz aus Japan ins Hintertreffen. Mitte der 1980er Jahre konnten nur noch zwei amerikanische Chip-Produzenten dem Preisdruck japanischer Firmen wiederstehen. Da die höchstintegrierten Schaltkreise aber strategisch eminent wichtige Produkte waren, wurde 1987 SEMATECH gegründet, ein Zusammenschluss von 14 US-Halbleiterfirmen, und über die Forschungsförderungsorganisation DARPA vom USVerteidigungsministerium mit ca. 400 Mio. Dollar bezuschusst, um die japanische Technologieführerschaft zu brechen.121 120 Beckurts, Karl H.: Technischer Fortschritt – Herausforderung und Erwartung. Vorträge, Aufsätze, Interviews 1980 – 1986, Berlin, München 1986, S. 179-214. Über dieses Projekt wurde auch ausführlich in der Öffentlichkeit berichtet: Deker, Uli: Der MEGA-Chip. Europa nimmt die Herausforderung an. Sowie: „Ich habe keine Angst, daß dieses Projekt mißlingt“. Ein Gespräch mit Prof. Karl Heinz Beckurts, Mitglied des Vorstandes der Siemens AG. In: Bild der Wissenschaft 1985, H. 11, S. 40-75. 121 Mega Projects. European Partnership aim to make powerful microchips. In: Scientific American Vol. 259, No. 4, Oct. 1988, S. 114. Genau ging dabei vor allem um das VHSIC (Very High-Speed Integrated Circuits), einer militärischen Variante der VLSI-Technologie. Sum-

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Angesichts der enormen Ressourcen, die in den westlichen Industriestaaten investiert wurden, war die DDR wirtschaftlich zu schwach, um ein dem MEGAProjekt vergleichbares Programm erfolgreich zu Ende bringen zu können.122 Andererseits bestand im COMECON große Hoffnung, dass wenigstens die DDR in der Lage wäre, die Herausforderung der Höchstintegration zu meistern, um auf militär-strategischem Gebiet dem Westen etwas entgegensetzen zu können.123 Doch die unrealistische Zielsetzung, als kleines Land die führenden Halbleiterhersteller der Welt einzuholen, das westliche Embargo und ungenügende Arbeitsteilung im COMECON bzw. mit der UdSSR führten zum Scheitern des DDRMikroelektronik-Programms.124 Mehr noch, es spricht vieles dafür, dass dieses ehrgeizige Projekt den Kollaps der DDR-Wirtschaft beschleunigt hat.125 Hier wird aber keiner technologischen Erklärung das Wort geredet. Grund dürfte die Summe von mehreren Faktoren gewesen sein: So war es eine Fehlentscheidung der SED-Führung, dieses Programm überhaupt gestartet oder zumindest nicht spätestens Mitte der 1980er Jahre abgebrochen zu haben. Wenn schon im Westen Milliarden investiert werden mussten, trieb der illegale Technologietransfer zur Umgehung des westlichen Embargos die Kosten in der DDR noch ney, Larry W.: VHSIC. A promise of leverage. In: IEEE Spectrum 19, 1982, No. 12, S. 3439. 122 Eine im Auftrag des ZK der SED durchgeführte Studie kommt zu dem Ergebnis: „Ein einmal zugelassener Rückstand ist kaum aufholbar, zumal dafür die Mittel nur begrenzt zur Verfügung stehen und international führende Länder wie die USA und Japan wesentlich mehr Investitionen für die Entwicklung der Mikroelektronik bereitstellen können“. Gleichsam als Menetekel auf die kommenden Ereignisse weist sie darauf hin: „Der Wettlauf mit der Zeit, der Kampf auf ökonomischem Gebiet zwischen beiden Systemen wird stark davon mit entschieden, wer bei der Entwicklung, Produktion und Anwendung von Schlüsseltechnologien an der Spitze stehen wird“. Müller, Gerhard: Die Politik der SED zur Herausbildung und Entwicklung der Mikroelektronikindustrie der DDR im Rahmen der ökonomischen Strategie zur Durchsetzung der intensiv erweiterten Reproduktion (1976 bis 1985). Berlin, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Dissertation (B) 1989, S. 164-165. 123 Wolfgang Biermann, von 1975 bis 1989 Generaldirektor des VEB Carl Zeiss Jena und verantwortlich für das DDR-Megabit-Projekt sagte dazu in einem Interview: „Jeder Megachip eine Interkontinentalrakete – koste es, was es wolle, das ist doch der politische Zusammenhang! Die Sowjetunion konnte die Megachips nicht bauen, und sie hätte uns die Chips auch in Gold und Edelsteinen bezahlt [...]“. In: Pirker, Theo / Lepsius, M. Rainer / Weinert, Rainer / Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Der Plan als Fiktion und Befehl. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen. Opladen 1995, S. 227. 124 Zu diesem Ergebnis kommt eine bereits in der Endphase der DDR erarbeitete Studie: Mikroelektronik in der ehemaligen DDR – 1990. Stand, Probleme, Perspektiven. Stand: August 1990. Hrsg.: Berliner Bank, unter Mitarb. v. Werner Hübner u. Wolfgang Marschall. Berlin 1990. Siehe auch: Ende der Illusion. Eine Studie von DDR-Wissenschaftlern belegt: Die „Elektronisierung der Volkswirtschaft“ ist weitgehend gescheitert. In: Der Spiegel 1990, H. 1, S. 76-77. 125 Dieser Vorwurf wurde bereits kurz nach dem Zusammenbruch der DDR formuliert: Wittich, Evelin: DDR-Mikroelektronik – vom Hoffnungsträger zum Beschleuniger des Niedergangs. In: Utopie kreativ H. 9, 1991, S. 81-87.

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einmal in die Höhe. Offensichtlich konnten die Einsparungen an F&E-Kosten die erhöhten Ausgaben für die Beschaffung und Anpassung von Embargogütern nicht kompensieren. Hinzu kommen systembedingte Innovationschwächen des zentralen Planungssystems im Allgemeinen und jene der DDR im Besonderen, sowie dass ihr – wiederum wegen des Embargos – der Zugang zur internationalen Arbeitsteilung verschlossen blieb. Während Japan und Südkorea es vermochten, die Übernahme westlicher Technologien – einschließlich des aufwendigen und teuren illegalen Technologietransfers – zum Ausgangspunkt zu nehmen, an die Weltspitze vorzustoßen, besaß kein sozialistisches Land die wirtschaftliche Kraft, Innovationprozesse im Gang zu setzen, um damit im Weltmarkt einen Spitzenplatz einzunehmen. Mit dem Zusammenbruch des planwirtschaftlichen Systems hat die Geschichte wohl Lenin Recht gegeben, der auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als entscheidendes Kriterium im Systemwettstreit verwies: „Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das allerwichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung“.126

126 Lenin, W. I., Die große Initiative. In: Lenin Werke Bd. 29, S. 399-424, hier S. 416.

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2.3. Extensives Wachstum: „Noch 1989 befand sich die Volkswirtschaft der DDR bei der Ausschöpfung der Strukturpotentiale der wissenschaftlich-technischen Revolution erst am Anfang“ Der Mitarbeiter des ökonomischen Forschungsinstituts der Staatlichen Plankommission Konrad Wetzker hat in seiner Leipziger Dissertation von 1989 versucht, die „Notwendigkeit dynamischer Strukturveränderungen aus dem Wesen der intensiv erweiterten Reproduktion abzuleiten“.127 Der Versuch gelingt nicht, mit seiner Diagnose der sozialistischen Wirtschaften zeigt Wetzker jedoch auf, warum es in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft nicht zu Innovationen gekommen ist, die den Strukturwandel der Wirtschaft verursachen. Wetzker:128 „Bei der Entwicklung von für die umfassende Intensivierung charakteristischen Strukturen, die durch einen hohen und wachsenden Anteil hochveredelter Erzeugnisse am volkswirtschaftlichen Endprodukt geprägt werden, befinden sich die sozialistischen Länder – in unterschiedlichem Ausmaß – erst am Anfang. Die überdurchschnittliche Ressourcenintensität ihrer Nationaleinkommen ist zu einem wesentlichen Teil strukturbedingt. Diese Tatsache ist sowohl Ausdruck des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte als auch einer noch unzureichenden inneren und äußeren Mobilität der Produktionsfaktoren in Richtung des notwendigen Strukturwandels geschuldet. Die Volkswirtschaft der DDR befindet sich nach einer relativ geringen Strukturdynamik am Übergang zwischen extensiver und intensiver Phase seit Mitte der 70er Jahre in einem Abschnitt einer gewissen Beschleunigung volkswirtschaftlicher Strukturveränderungen, wie er für die intensiv erweiterte Reproduktion typisch ist. Strukturveränderungen haben in der Erhöhung der volkswirtschaftlichen Effektivität ihr Ziel, in der notwendigen Proportionalität eine Schranke und in der Mobilität der Produktionsfaktoren eine wesentliche Voraussetzung. Die Bestimmung der erforderlichen volkswirtschaftlichen Proportionen, Strukturlinien und Strukturveränderungen erfolgt in der DDR wesentlich auf Grundlage der Bilanzen, insbesondere der über 4.000 Bilanzen für Material, Ausrüstungen und Konsumgüter. Wie ist die für die umfassende Intensivierung typische Strukturentwicklung zu definieren? Nach Meinung des Autors muss ihr Wesen darin bestehen, die charakteristische Tendenz der umfassenden Intensivierung, die in der gleichzeitigen Erhöhung der Effizienz des Einsatzes aller drei Produktionsfaktoren besteht, mit zu tragen und zu verstärken. Es konnte von der international anerkannten und weltweit publizierten Erkenntnis ausgegangen werden, dass die Bedeutung von Strukturveränderungen für das

127 Wetzker, Konrad: Die Analyse der Struktur der Volkswirtschaft – reproduktionstheoretische Ausgangspunkte, Analyseverfahren und ihre Anwendung in der zentralen staatlichen Planung, Diss. Leipzig 1989, S. 1. 128 Wortwörtlich ebd., S. 10, 18, 20, 22, 23-29.

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volkswirtschaftliche Wachstum und für das Bestehen im internationalen ökonomischen Wettbewerb in der gegenwärtigen Etappe der wissenschaftlich-technischen Revolution eine neue Dimension erhält. Diese Erkenntnis wurde auf ihre Anerkennung durch die Theorie und ihre Umsetzung durch die Praxis in den sozialistischen Ländern im allgemeinen und in der DDR im konkreten geprüft. Grundlage dafür war eine kritische Aufarbeitung aus der internationalen Literatur bekannter Methoden der volkswirtschaftlichen Strukturanalyse sowie von Ansätzen zu ihrer Anwendung in der Volkswirtschaftsplanung der DDR. Die vorliegenden reproduktionstheoretischen Erkenntnisse in der DDR – insbesondere von STEINITZ – zum Zusammenhang von Entwicklung der Produktionsstruktur und intensiv erweiterter Reproduktion wurden fortgeführt. Das quantitative Ausmaß der (Zweit)Strukturveränderungen ist demnach kein ausschließlicher und ausreichender Indikator für intensiv erweiterte Reproduktion. Die Entwicklungstendenz in der DDR weist nach, dass gerade für die extensive Entwicklungsperiode der 50er Jahre umfangreiche Strukturveränderungen typisch waren, deren Ausmaß die gegenwärtigen Veränderungen wesentlich übersteigt. Die Quellen für die Veränderungen der Produktionsstruktur bildeten vorwiegend zusätzliche Produktionsfaktoren. Solange diese ausreichend zur Verfügung standen, war es möglich, bestimmte Teilgebiete der Volkswirtschaft verhältnismäßig unabhängig voneinander zu entwickeln. Diese Tatsache schlug sich mit entsprechendem quantitativen Stellenwert in Strukturveränderungen nieder. Die Volkswirtschaft der DDR befindet sich bei der Ausschöpfung der Strukturpotentiale der wissenschaftlich-technischen Revolution erst am Anfang.129 Es ist objektiv, dass sich die seit Ende der 1970er Jahre abzeichnende Tendenz zur Beschleunigung der Strukturveränderungen in der Makrostruktur der westlichen Marktwirtschaften nachweisen läßt. Der Trendwechsel hat internationalen Charakter und gilt für die meisten RGWund OECD-Länder, wobei der ‚Inflexionspunkt‘ der Strukturdynamik in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten eintritt bzw. vor allem in den führenden kapitalistischen Ländern bereits eingetreten ist. Auch für die CSSR ist beispielsweise für den laufenden Fünfjahrplan ein absoluter Rückgang der schwarzmetallurgischen Produktion vorgesehen. SATAR sieht das Ziel solcher Veränderungen darin, ‚die Wirtschaft von jenen Zweigen zu befreien, die außerordentlich kosten- und materialintensiv sind, progressive Bereiche zu entwickeln und Bereiche ohne Perspektive zu drosseln‘.130 Nicht berücksichtigt wurden dabei die weniger als 3 % der Bilanzen (Primärund Sekundärrohstoffe), bei denen sich aus objektiven – natürlichen (z. B. DDRErdgas) oder anderen verfügungsseitigen (z. B. Buntmetallschrotte) – Ursachen ein Rückgang des inländischen Aufkommens ergibt.

129 Braun, A.: Wechselbeziehungen zwischen Veränderungen der Produktionsstruktur und der Steigerung der volkswirtschaftlichen Effektivität, in: Wirtschaftswissenschaft, 12/1986, S. 1796-1816. 130 Satar, J.: Rohstoffe in der Intensivierungsstrategie der CSSR, S. 114.

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Autoren wie Aganbegjan,131 Kamaev132 und Bogomolow133 stellen fest, daß in den RGW-Ländern dieser Prozeß noch am Anfang ist und in unterschiedlichem Ausmaß in ihren Produktionsstrukturen noch die Merkmale der extensiven Phase bzw. der Industrialisierung dominieren, d. h. hoher Anteil der Grundstoffindustrie innerhalb der Industrie, relativ geringer Anteil der Hochveredlungsbereiche innerhalb der verarbeitenden Industrie, relatives Zurückbleiben der produktiven Infrastruktur gegenüber der Industrie. Die Ursachen für die in den letzten 15 Jahren (ab 1974) relativ geringere Strukturdynamik tragen für die einzelnen sozialistischen Länder sowohl spezifische als auch allgemeingültige Züge. Der Autor stimmt gleichzeitig Peche und Steinitz zu, dass für die umfassende Intensivierung das entscheidende Kriterium zur Bewertung der Proportionalität sein muss, „inwieweit sie Innovationen und Strukturveränderungen stimuliert“. Dass die Notwendigkeit der Rückentwicklung permanenter Bestandteil der Produktivkraftentwicklung ist, wurde von Marx postuliert. In den ‚Grundrissen‘ heißt es: ‚Es ist nicht nur Teilung der Arbeit, dies Schaffen neuer Produktionszweige, […], sondern das Abstoßen der bestimmten Produktion von sich selbst als Arbeit von neuem Gebrauchswert […]‘. Im Gegensatz zu anderen Industrieländern sind Rückentwicklungen in der Volkswirtschaft der DDR absolute Ausnahmen. So wurde von den ca. 400 Bilanzen der Fünfjahrplannomenklatur nur für reichlich 4 % im Zeitraum 1986/1990 ein absoluter Rückgang der Produktion eingeplant. Ein interessantes Problem ist in diesem Zusammenhang, dass dieser relativ undifferenzierten Entwicklung der Erzeugnis- und Bereichsstruktur eine relativ selektive und z. T. auch restriktive Investigationspolitik gegenübersteht. So erfolgte insbesondere im Zeitraum ab Ende der 70er Jahre bis zur Gegenwart eine starke Konzentration der Investitionskraft im produzierenden Bereich auf einige große ausgewählte Programme. Auf der anderen Seite galt für eine Reihe von Kombinaten in diesem Zeitraum, dass das Investvolumen unter dem der Amortisationen lag, also die einfache Reproduktion der Grundfonds im Prinzip nicht gesichert wurde.134 Dieser strukturpolitisch zunächst normale bzw. sogar objektiv notwendige Sachverhalt wird durch die genannte fehlende Differenzierung in der Produktionsstruktur zur Quelle von Störungen bei den Zulieferungen und von Kostenerhöhungen

131 Aganbegjan, A. G.: Die Grundrichtung der sowjetischen Wirtschaftspolitik, in: Nepszabadsag, 22. Januar 1986, S. 10 (ungarisch). 132 Kamaev, V.: Intensivierung und Qualität des Wirtschaftswachstums, in: Voprosy Ekonomiki, Nr. 3/1985, S. 14-25 (russisch). 133 Bogomolow, O.: Am Wendepunkt, in: Neue Zeit, Nr. 1/1987, S. 20-22. 134 Die Nettoinvestition ist die Bruttoinvestition abzüglich der Ersatzinvestition. Diese Aussage bedeutet, daß es eine Desinvestition, also einen Substanzverzehr gab. Von 1851/54 bis 1955/59 hat es dies im Gewerbe im Deutschen Reich nur in der Weltwirtschaftskrise 1930/34 gegeben (-43,4). Im realen Sozialismus war dies bei einer Reihe von Kombinaten bis 1989/90 die Regel. Hoffmann, Walther G.: Das Wachstum in der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, 1965, S. 143.

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durch die Weiternutzung verschlissener Fonds. Als Konsequenz ergibt sich die Notwendigkeit, durch die differenzierte Festlegung von Strukturlinien auch in der Produktionsstruktur zu bestimmen, wo der Nachholbedarf an Investitionen zu decken ist, bzw. wo die Grundfonds ausgesondert werden können. Letztendlich kann nur so eine Synchronität zwischen Investpolitik und Produktionsstruktur erreicht werden“. Der DDR Ökonom Heinz-Dieter Haustein hat beschrieben, wie die Realität aussah: Weniger produzieren, aber genausoviel bleiben beschäftigt: „Wie kann der ökonomische Druck auf die Einsparung von Arbeit in der Industrie verstärkt werden? Nach 1980 wurden in der DDR erste Erfahrungen mit der Einsparung von Material und Energie gemacht. Das hing unter anderem damit zusammen, daß die Kennziffer Nettoproduktion eine erstrangige Stellung einnahm und durch solche Einsparungen positiv beeinflußt werden konnte. Allerdings muß man beachten, daß dieser Anreiz eine durchaus begrenzte Wirkung hatte, begrenzt vor allem durch den einfachen Zusammenhang, daß zu hohe Einsparungen die Basis für die nächste Planauflage bilden und kein Betrieb und Kombinat daran interessiert ist, sich selbst gewissermaßen wissentlich die Basis für eine künftige normale Planerfüllung zu untergraben. Das gilt nun erst recht für die Arbeitskräfte. Jede Arbeitskräftefreisetzung (anstelle der Gewinnung für andere Arbeitsplätze des gleichen Betriebs) kann sich doch außerordentlich negativ im Hinblick auf die künftige Planauflage und Planerfüllung auswirken. Bei der vorhandenen Knappheit an Arbeitskräften ist es äußerst riskant, eine konsequente Rationalisierungsstrategie im Betrieb oder Kombinat zu betreiben. Außerdem werden Arbeitskräfte und Lohnfonds zentral vorgegeben, und der Betrieb hat keine Möglichkeit, ein bestimmtes Produktionsergebnis mit einer wesentlich anderen Proportion von Nettoproduktion zu Lohn zu erreichen. Die bisherige wirtschaftspolitische Orientierung ist auf Gewinnung von Arbeitskräften für andere Aufgaben in der Industrie selbst gerichtet. Unter diesen Bedingungen gibt es keine nachhaltige Interessiertheit an einer Arbeitskräftefreisetzung über das vorhandene Arbeitskräftegewinnungsregime hinaus. Weniger produzieren mehr, aber genausoviel bleiben beschäftigt! So heißt die ‚goldene Regel‘ des verlangsamten Produktivitätszuwachses. Es ist logisch, daß das auf die Dauer nicht der Modus bleiben kann, wenn eine Beschleunigung des Produktivitätswachstums erreicht werden soll. Er widerspricht auch direkt der Logik der Eigenerwirtschaftung. Wenn man Investitionen selbst erwirtschaften soll, muß man ein hohes Reineinkommen bei gegebener Zielstellung des Nettoprodukts erreichen. Dies aber setzt Lohneinsparungen bzw. Personalkosteneinsparungen (Lohn plus Beitrag für die gesellschaftlichen Fonds) voraus“.135 Die DDR Ökonomen vom Forschungsinstitut der Staatlichen Plankommission heben hervor, dass das Tempo des Verschleißes und der Verrottung nicht aufzuhalten war. „Das unzureichende wissenschaftlich-technische Niveau der Investitionen 135 Haustein, Heinz-Dieter: Die notwendige Beschleunigung des Wachstumstempos der industriellen Arbeitsproduktivität und die Bewertung der lebendigen Arbeit, in: Wirtschaftswissenschaft, 38, 1990, S. 206 f.

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führte in Verbindung mit dem extensiven Kurs ihres Einsatzes im Zeitraum von 1981 bis 1988 dazu, daß die Zahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze die der eingesparten um 18.100 überstieg. Im unzureichenden Niveau der Investitionen ist schließlich auch begründet, daß der Aufwand für die Einsparung eines Arbeitsplatzes in den produzierenden Bereichen von 3,0 Millionen Mark im Zeitraum von 1981 bis 1985 auf 4,8 Millionen Mark im Jahre 1988 ansteigend, ungewöhnlich hoch war. Die Substitution von Arbeit durch Technik wurde immer unbezahlbarer, der Ruf nach mehr Arbeitskräften hielt unvermindert an. Diese wurden freilich vor allem in der Instandhaltung gebraucht. Die Zahl der Beschäftigten in der Instandhaltung hatte sich seit 1975 allein in der Industrie um über 75.000 erhöht und betrug 1988 mehr als 280.000. Insgesamt erforderten die Instandhaltungsaufwendungen 1988 rund 50 Mrd. Mark, darunter 38 Mrd. Mark für Ausrüstungen und 12 Mrd. Mark für Gebäude und bauliche Anlagen, davon 8,2 Mrd. Mark für das Wohnungswesen. Trotzdem konnte der Instandhaltungsbedarf nicht ausreichend gedeckt werden. Das Tempo des Verschleißes und der Verrottung war nicht aufzuhalten. In besonderem Maße wurde die materiell-technische Basis der Forschung mit schwerwiegenden Folgen für ihre Leistungsfähigkeit vernachlässigt. Im Bereich der Akademie der Wissenschaften verringerten sich die durchschnittlichen jährlichen Investitionen je Mitarbeiter von 4.800 Mark in den Jahren 1974/75 auf 4.000 Mark 1976 bis 1979 und 3.300 Mark im Zeitraum 1981 bis 1985. Wie in der Industrie erfolgte dabei eine analoge Konzentration des Potentials auf das der Mikroelektronik. So betrug der Nettowert der Forschungsausrüstungen je Mitarbeiter im Durchschnitt der Akademie 17.000 Mark, in den drei am Mikroelektronikprogramm beteiligten Instituten jedoch 55.000 bis 79.000 Mark. Vieles, was den Forschern führender Industrieländer mit großer Selbstverständlichkeit als Voraussetzung wirklicher Innovationen zur Verfügung steht, blieb DDR-Wissenschaftlern vorenthalten. Modernste Ausrüstungen, wie Hochleistungsröntgenquellen, TunnelRaster-Elektronenmikroskope, akustische Mikroskope oder UHV-Spektrometer fehlten überhaupt oder waren in viel zu geringem Umfang vorhanden, 1986 waren ⅔ der Forschungsausrüstungen der Akademie der Wissenschaften älter als 7 Jahre. Ihr Verschleißgrad hatte sich von 49,4 % im Jahre 1975 auf 69,9 % im Jahre 1987 erhöht“.136 Klaus Krakat zog eine Schlußbilanz der elektronischen Datenverarbeitung in der früheren DDR. Sein Fazit: „Mit der vorliegenden EDV-Schlußbilanz ist beabsichtigt, wesentliche Entwicklungsschritte der EDV-Industrie der früheren DDR auf dem Weg von der zentralen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft aufzuzeigen und einige typische Mängel der Zentralplanwirtschaft und daraus resultierende Umstellungsprobleme herauszustellen. Auf Grund der seit Mitte 1990 anzutreffenden starken Dezentralisierung von Forschungs- und Entwicklungsleistungen sowie von Produktion und Service konnte nicht auf sämtliche Neuorientierungen eingegangen werden. 136 Kusch, Günter / Montag, Rolf / Specht, Günter / Wetzker, Konrad: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 60.

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Bekanntlich war der EDV-Industrie in der früheren DDR unter planwirtschaftlichen Bedingungen primär die strategische Aufgabe zugewiesen worden, den EDV-Bedarf der Wirtschaft zu decken. Sie sollte aber ebenso hochgesteckte Entwicklungsziele und Produktvorhaben ohne Rücksicht auf entstehende Kosten erreichen. Trotz der Einbettung der EDV-Industrie in eine arbeitsteilige Forschung, Entwicklung und Produktion der RGW-Länder, trotz der Zentralisierung wesentlicher Leistungen der EDV-Industrie auf die Kombinate Robotron Dresden und Datenverarbeitung Berlin sowie trotz der dominierenden Stellung der DDR innerhalb der RGW auf dem EDV-Sektor blieb das allgemeine Leistungsniveau bei RechnerHard- und –Software um Jahre hinter dem der führenden westlichen Industrieländer zurück. Zusammenfassend läßt sich bilanzierend feststellen: -

auch im Bereich der EDV gab es keine marktwirtschaftlich orientierte Kostenstruktur, Preise wurden über die Betriebe hinweg von zentralen Leitungsorganen festgelegt, präferiert wurden betriebswirtschaftlich unsinnige Dumpingpreise, um auf westlichen Märkten zu bestehen (Beispiele: Drucker und Schreibmaschinen), Schwächen des Systems der Leitung und Planung führten zu Modernisierungsdefiziten gegenüber westlichen Industrieländern, welche in Einzelfällen 10 Jahre betrugen, systemtypisch war ebenfalls eine mangelnde Produktivität selbst im EDV-Bereich, und nicht zuletzt hatte das zentrale Planungssystem ebenfalls Management-Defizite bei Marketing und Vertrieb auch im Falle der Robotron-Betriebe zur Folge, die sich besonders im Rahmen der Anpassung an die nunmehr geltenden marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen bemerkbar machten.

Derartigen Mängeln stehen jedoch auch positive Tatbestände gegenüber. Hierbei handelt es sich insbesondere um: -

vorhandene und zum Teil moderne Fertigungskapazitäten an günstigen Standorten mit einer bereits vorhandenen bzw. ausbaufähigen Infrastruktur sowie ein hohes Potential an qualifizierten Fachkräften vor allem in den Bereichen Forschung und Entwicklung.

Besonders auf diese Fakten bauen westliche Firmen, welche langfristig mit den ehemaligen VEG kooperieren wollen. Die sich nunmehr strukturierende EDV-Industrie in den neuen Bundesländern mit ihrer breit gefächerten Palette von Aktivitäten bildet zweifellos eine gute Basis für eine Fortentwicklung einer nunmehr gesamtdeutschen Computerindustrie mit der Möglichkeit der Lösung richtungsweisender Aufgaben im europäischen Maßstab und dabei einer Chance für den Aufbau einer EDV-technischen Infrastruktur in den Betrieben“.

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Die Geschichte des VEB Kombinats Robotron, Dresden, 1969-1990 ist kompetent von Gerhard Merkel aufgearbeitet worden.137 Charakteristik der Entwicklungsphasen für die Rechentechnik in der DDR durch Angabe typischer Ressourcen-Kennwerte

137 Prof. Dr. Dr. sc. Techn. Gerhard Merkel, geboren 1929 in Chemnitz. Gewählt zum korr. Mitglied der DAW 1969, berufen zum Honorarprofessor von der TU Dresden 1975 bis 1986 und zum Akademieprofessor ab 1987; Mitglied des Forschungsrates der DDR. Studium an der Ingenieurschule Dresden (1948-1951) und an der Technischen Hochschule Dresden/Feinmechanik (1951-1955). Berufliche Entwicklung: Uhrmacher; Ingenieurschuldozent für Getriebetechnik und Regelungstechnik (1953-1961); im ZIA bzw. idv Abteilungsleiter aufsteigend bis Institutsdirektor (1961-1965); Stellvertreter des Ministers für Elektrotechnik und Elektronik/Sachgebiet Datenverarbeitung (1966-1969). Im VEG Kombinat Robotron tätig als Direktor des GFZ und des VEB Robotron ZFT (1969-1977) sowie Direktor für FuE des Kombinats (1969 bis 1979 und 1983 bis 1985). 1980 bis 1983 Direktor des VEB Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik Dresden (Abberufungen 1983 und 1985 auf Empfehlung der Bezirksbehörde Dresden des Ministeriums für Staatssicherheit mit Billigung der SED-Bezirksleitung Dresden). Danach Direktor des Instituts für Informatik und Rechentechnik der Akademie der Wissenschaften der DDR (1986-1991), Projektleiter bei der WITEGA Forschung GmbH Berlin, Freiberufler, Ruhestand.

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Entwicklung der Beschäftigten für Forschung und Entwicklung (FuE) beim VEB Kombinat Robotron, Dresden, 1970-1989138 Beschäftigte für FuE gesamt davon an Themen Sektor Rechentechnik gesamt davon an Themen an Themen nach Gebieten EDVA-Hardware Kleinrechner-, MikroRechner-Hardware Datenerfassung, Peripherie Software

1970 6.300 4.900

1975 6.340 5.040

1980 8.330 6.342

1985 6.980 5.980

1989 6.310 5.780

3.950 2.940

3.960 3.020

5.050 3.620

4.051 3.160

3.618 2.750

600

600

630

580

372

540 1.310

610 1.300

910 1.250

920 880

960 920

(Betriebssysteme, StandardAnwendersoftware, SoftwareTechnologie)

490

510

830

780

498

Beschäftigte für FuE (d.h. einschl. aller an FuE Mitwirkenden) und davon ausschließlich an FuE-Themen arbeitende Beschäftigte (Personenjahre); 1970-1977 einschl. Potenzial des VEB Kombinat Zentronik

Der Einsatz von flexiblen Fertigungssystemen befand sich in der DDR ganz am Anfang.139 „Die Wirtschaft der DDR aus der Krise zu führen, ihr Stabilität und spürbare Wachstumsimpulse zu verleihen, verlangt auch Nachdenken über Tempo und Qualität des bisherigen Einsatzes moderner Technologien, darunter auch flexibler Fertigungssysteme.140 Gegenwärtig wird noch nicht einmal ein Prozent des Kreises derjenigen Werktätigen von diesen Lösungen erfaßt, für deren Arbeit flexible Fertigungssysteme künftig Relevanz erlangen müssen“.141 138 Merkel, Gerhard: VEB Kombinat Robotron, Dresden, 1969-1990. 139 Miethe, Horst, Ziegenbein Annerose: Sozialpolitische Erfordernisse flexibler Automatisierungslösungen, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 1, S. 49. 140 Flexible Fertigungssysteme, verstanden als flexible Verkettung von mindestens zwei Werkzeugmaschinen, bei denen der gesamte Fertigungsverlauf – bestehend aus mehreren Arbeitsvorgängen und dem Werkstückfluß – in beliebiger Reihenfolge rechnergestützt realisiert wird (Autorenkollektiv, „Flexible Automatisierung – Schlüsseltechnologie für höhere Produktivität und Effektivität“, „Blickpunkt Wirtschaft“, Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1986, S. 16), sind der Grundtrend des Übergangs von einer starren zur flexiblen Automatisierung der Fertigung, und sie werden auch in der DDR bis zur Jahrtausendwende (2000) zu automatisierten Fabriken (CIM) führen. International nimmt die Anwendung dieser vor allem auch für die Produktion von Klein- und Mittelserien geeigneten ressourcensparenden Technologie jährlich um 50 bis 100 Prozent zu. 141 Teich, H.: Arbeitsökonomische Aufgaben bei der Vorbereitung und beim Betreiben von Systemen der flexiblen Automatisierung, Wissenschaftliche Beiträge der Sektion Arbeitswissenschaften der Technischen Universität Dresden, Heft 5, 1988, S. 10.

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Heinz-Dieter Haustein behandelt die Schub- und Bremsfaktoren des technischen Fortschritts. „Den historischen Hintergrund für die Senkungstendenz des Wachstumstempos der Arbeitsproduktivität (WAP), die bekanntlich der alten historischen Kombination der Produktivkräfte, die in den Jahrzehnten etwa seit 1930 bestimmend war. Nach 1973 verstärkte sich die Abschwungtendenz, und nach 1980 ist es nur den USA, Großbritannien und Japan gelungen, wieder eine Beschleunigung, d. h. eine positive Differenz des WAP zu erreichen. Der Rückgang kann aus der Sicht der Produktivkrafttheorie prinzipiell nur auf der Basis der volkswirtschaftlichen Ausbreitung und Nutzung der Ergebnisse einer neuen technischen Revolution, der Durchsetzung der modernen Informationsverarbeitung, gestoppt werden. Aber die Wirkung der Mikroelektronik auf das WAP ist vorläufig noch zu gering. Sie war 1988 erst mit 17,4 % an der gesamten Arbeitszeiteinsparung in der Industrie beteiligt. Daher konnte bisher die Verlangsamungstendenz nicht kompensiert werden. Man muß davon ausgehen, daß das AP-Wachstum stets aus zwei Quellen kommt: 1. aus der Rationalisierung vorhandener Fonds auf der Basis bekannter technischer Prinziplösungen der Vergangenheit; 2. aus der Einführung von Basisinnovationen und der mit ihnen direkt verbundenen Verbesserungsinnovationen. Zur Zeit kommen 83 % der Arbeitseinsparung aus der ersten und 17 % aus der zweiten Quelle. Die erste Quelle hat die Eigenschaft der größten Masse an Einsparungen bei sinkenden Wachstumstempi. Die zweite Quelle kann das letztere erst dann kompensieren und überkompensieren, wenn sie einen wesentlich höheren Anteil erreicht. Aber das Bild der Ursachen für den Rückgang des WAP ist unvollständig. Zunächst muß man feststellen, daß die Zahl der Beschäftigten in der Industrie von 1970 mit 2,86 Mill. auf 3,22 Mill. im Jahr 1987 gestiegen ist. Von 1985 bis 1987 ist ein geringer Rückgang von 5.000 eingetreten. Der Anteil der Beschäftigten der Industrie an den Berufstätigen insgesamt erreichte 1982 mit 40 % einen Maximalwert und geht seitdem sehr langsam zurück. Wenn man die vorrangige Stellung der Industrie bei der Durchsetzung der Schlüsseltechnologien und an internationale Vergleichswerte denkt, ist diese Entwicklung nicht ausreichend. Die Bedürfnisse anderer Wirtschaftszweige mit niedrigerer technischer Ausstattung nach zusätzlichen Arbeitskräften sind erheblich. Innerhalb der Industrie gibt es einen einzigen Zweig, der seit vielen Jahren die AP schneller entwickelt und dabei Arbeitskräfte für andere Zweige freisetzt, das ist die Leichtindustrie, allerdings im Zusammenhang mit ihrem sinkenden Produktionsanteil“.142 „Zum Thema ‚Innovation und Kreislaufbeschleunigung in der Wirtschaft‘ fand im Oktober 1989 anläßlich der wissenschaftlichen Tage der Hochschule für Öko-

142 Haustein, Heinz-Dieter: Die notwendige Beschleunigung des Wachstumstempos der industriellen Arbeitsproduktivität und die Bewertung der lebendigen Arbeit, in: Wirtschaftswissenschaft, 38, 1990, 2, S. 198-200.

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nomie Berlin (HfÖ) eine internationale wissenschaftliche Konferenz statt. Der Beratung lagen als Konferenzmaterial Thesen vor, die von der interdisziplinären Arbeitsgruppe ‚Neuerungsprozesse‘ unter der Leitung von Professor Dr. H.-D. Haustein, Wissenschaftsleiter an der HfÖ, erarbeitet wurden. Die Thesen stützten sich auf Forschungsergebnisse des Zeitraums 1985 bis 1989 der interdisziplinären Arbeitsgruppe sowie auf die daraus entstandenen umfangreichen Studientexte. Das Hauptreferat von Haustein zum Thema ‚Innovation und Kreislauf – doppelte Herausforderung für die Wirtschaft der DDR‘ ging davon aus, daß der Beginn der Forschungsarbeiten 1983 in der klaren Erkenntnis der Umbruchsituation der Produktivkräfte lag, d. h. der Erkenntnis der Erschöpfung der Wachstumsreserven der alten historischen Kombination der Produktivkräfte und der damit verbundenen Verlangsamung des Kapitalumschlags. Auch in der Wirtschaft der DDR sind die Durchlaufzeiten tendenziell immer länger geworden, und längst wurde der Punkt überschritten, an dem die Selbstkostensenkung aus der Fertigungszeitverringerung größer war als der Mehraufwand durch Zyklusverlängerung. Das ist auch ablesbar an der Nichterfüllung sämtlicher Selbstkostensenkungsauflagen seit 1981 in der Industrie der DDR sowie aus dem ständigen Rückgang der realen Selbstkostensenkung seit 1984. Die Bestandsentwicklung schlägt heute in einem solchen Maße zurück auf die Kosten, daß dringend eine neue betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Orientierung notwendig geworden ist. Anschaulich verwies Haustein auf folgende Zahlen: In der Volkswirtschaft der DDR ist die Arbeitszeit je 1.000 M Produktion seit 1950 substantiell reduziert worden, wobei seit 1980 dieser Prozeß stagniert. Gleichzeitig aber ist die Umschlagszeit von etwa 120 Tagen auf 280 Tage gestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt. Die Bruttoproduktion ist von 1950 bis 1988 um das 8,3fache gestiegen und die Bestände um das 18,6fache. Dieses Wachstum erklärt sich aus drei multiplikativen Faktoren nach der Grundformel der Bestandswirtschaft. Die Selbstkosten wuchsen um das 7,1fache, die Zyklusdauer um das 2,1fache und der Wertzuwachskoeffizient um das 1,3fache. Diese Zahlen zeugen vom enormen, nichtoptimalen Wachstum der vertikalen Arbeitsteilung. Haustein erwähnte als Gegenbeispiel dazu die japanische verarbeitende Industrie, in der sich von 1980 bis 1986 die Umschlagszahl auf Basis Nettoproduktion von 3,1 auf 4,1 erhöhte, d. h. jährlich um 4,8 %, während die Produktivität um 3,4% jährlich wuchs. Japan verwirklichte eine Strategie, bei der das Wachstum der Umschlagszahl das Wachstum der Arbeitsproduktivität übertraf. Der Referent schlußfolgerte, daß der Einfluß der sogenannten Schlüsseltechnologien auf den Umschlag der Mittel gegenwärtig in der Industrie der DDR noch sehr gering ist. Er betonte auch, daß es richtig war, bereits 1986 das Konzept abgelehnt zu haben, wonach es genügt, die ‚Schlüsseltechnologien‘ durchzusetzen, um den Kreislauf zu beschleunigen. Die Kritik am Mechanismus der Mangelwirtschaft und der Direktivplanung löste damals die entsprechenden Reaktionen bei der wirtschaftspolitischen Obrigkeit unseres Landes aus. ‚Die weitere Entwicklung hat uns recht gegeben‘ – faßte Haustein zusammen. So ist der Erneuerungsgrad der Industrieproduktion von 12,6 % im Jahre 1980 auf 33 % im Jahre 1988 gestiegen. In der

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gleichen Zeit aber fiel die Umsatzwirksamkeit dieser neuen Erzeugnisse von 463 Mark auf 88 Mark je 1.000 Mark neuer Erzeugnisse. Die neuen Erzeugnisse hatten damit zugleich auch eine immer geringere Umschlagwirkung. Der Einfluß der Mikroelektronik auf den Umschlag wurde von Haustein anhand der Wirkungskaskade Initialzweige, Trägerzweige, Anwendungszweige Produktionsmittel, Anwendungszweige Konsumgüter in 12 Kombinaten untersucht. Die Analyse hat gezeigt, daß die Mikroelektronik und die damit verbundene moderne Informationstechnik volkswirtschaftlich nicht greift. Sie wirkten weder auf die lokalen noch auf die gesellschaftlichen Größen der Arbeitszeiteinsparung oder des Umschlags. Zu den Ursachen für den Rückstand auf diesem Gebiet und das schnelle Wachstum der Mehrbestände zählte Haustein: 1. Das chronische Nichtgleichgewicht von Angebot und Nachfrage und die fluktuierenden Mangelsituationen beeinträchtigten immer wieder den Kreislauf. Sie entstanden aus Mengenauflagen, die mit dem Bedarf nicht übereinstimmten, und aus der Fehllenkung von Ressourcen, aus der Eigenschaft breitflächiger administrativer Bilanzierung, dem Widerspruch zwischen Globalität der Bilanzposition und dem realen Bedarf im Feinsortiment. Meßgröße der Ökonomik des Defizits ist der Strukturkoeffizient der Bestände, d. h. das Verhältnis von Fertigwarenbeständen zu Materialbeständen. 2. Der materielle und der finanzielle Kreislauf stimmen nicht überein. Wenn das Geld in seiner Meßfunktion und in seiner Zirkulationsfunktion beeinträchtigt ist, treten Stockungen des Kreislaufs auf. Eine bestimmte Geldmenge genügt nicht mehr, um die Sache in Bewegung zu setzen. Oft genügt auch nicht eine bestimmte Geldsumme plus Bilanzanteil. Ohne einen weitaus flexibleren Preismechanismus wird dieses Problem nicht lösbar sein. 3. In der Industrie wurden wesentliche materielle Anreize zur Einsparung von Umlaufmitteln bereits vor einigen Jahren eingeführt. Die Wirkung dieser Stimulierung war aber nicht durchgreifend und erschöpfte sich bald. Das hängt mit einer Grundeigenschaft der direktiv-adressierten Planung zusammen. Mit jeder substantiell außergewöhnlichen Einsparung verschlechtert der Betrieb seine Basis für die künftige Planbeauflagung, da bekanntermaßen die Jahresscheibe dominiert. Einzelne ökonomische Hebel sind im System der administrativen Direktivwirtschaft praktisch wenig wirksam. Diese Lektion unserer eigenen Erfahrungen der 60er Jahre haben viele nicht lernen wollen, sie schlossen daraus vielmehr, wir müßten noch mehr dirigieren und agitieren. 4. Die praktizierte Regulierungsweise des Sozialismus hat noch in keinem Lande ein Fundamentalproblem des Wirtschaftens gelöst, für das der Kapitalismus eine für seine Zwecke höchst effektive Lösung in vielen Jahrzehnten entwickelt hat. Es handelt sich um das Verhältnis vom einmaligen zum laufenden Aufwand, um den Zeitfaktor der Wirtschaft, den Kern jeder wirtschaftlichen Innovationslenkung. 5. Umschlagszeiten hängen auch von Informationszeiten ab. Selbst bei einer Informationselastizität der Umschlagszeitveränderung von kleiner als 1 können Verzögerungen in den Informationsprozessen gravierende Folgen für den Umschlag haben. Die Informationsprozesse zu beschleunigen ist aber keine bloße tech-

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nische Aufgabe. Es ist vor allem die wirtschaftliche Selbstregulierung, die die Informationsprozesse wirksamer macht und die enorme Reserve der Eigenmotivation ins Spiel bringt. Wird aber die Selbstregulierung als nicht wünschenswerter Automatismus denunziert, so wird das blockiert, was entscheidend für die Innovation ist. Mit der Selbstregulierung werden die Rückkopplungsschleifen kürzer und wirksamer, werden die von der Volkswirtschaftsplanung gesetzten Randbedingungen und Zielstellungen erst konkret machbar. Aus den genannten Ursachen schlußfolgert Haustein, daß die historische Regulierungsweise der Wirtschaft den Umschlag gravierend beeinflußt. Zur Regulierungsweise gehört dabei der gesamte ökonomische Überbau der Gesellschaft, das System der Stimulierung, die konkrete Organisation der Lernprozesse in der Gesellschaft, das Regime der Akkumulation und das Informationssystem. Haustein sprach von der Notwendigkeit einer ehrlichen Einschätzung der wirklichen Lage. Hierzu sind Offenheit der statistischen Informationen notwendig, um der Gesundbeterei und dem Geschwätz über Intensivierung, dort wo es keine gibt, ein Ende zu bereiten. Der Referent nannte Vorstellungen über eine regulierte Kontraktwirtschaft, ihre Vorzüge vom Standpunkt des Kreislaufs und der Effektivität im Gegensatz zur administrativen Direktivwirtschaft: 1. Der direktiv adressierte Plan kann den realen Interessenausgleich prinzipiell nicht ersetzen, weil diese Aufgabe im voraus weder mathematisch noch ökonomisch lösbar ist. 2. Die Transaktionskosten der regulierten Kontraktwirtschaft sind viel niedriger als die Transaktionskosten der administrativen Direktivwirtschaft. 3. Die regulierte Kontraktwirtschaft bietet ein breites Feld der Interessenartikulation und des Interessenausgleichs, des produktiven Ausgleichens der divergierenden Forderungen. Das sind Ort und Zeit, wo innovative Impulse entstehen. Wenn dieses Feld eingeschränkt wird, werden eben diese Impulse reduziert. 4. Die Bevorzugung der Direktivwirtschaft mit einem enorm ausgeuferten Kennziffernperfektionismus hängt mit der Vorliebe für den administrativen Zentralismus zusammen. Daß der beste Kitt für die gesamtgesellschaftlichen Interessen eine gut funktionierende Waren-Geld- und Marktwirtschaft mit einheitlichen Spielregeln ist, ist manchem noch nicht in den Sinn gekommen“.143 Der Kölner Betriebswirt Erich Gutenberg erklärt den Einfluß der Prozeßgeschwindigkeit (= Kreislaufbeschleunigung) auf den Kapitalbedarf: „Die Untersuchungen über den Einfluß der Prozeßanordnung auf die Höhe und zeitliche Verteilung des Kapitalbedarfs beruhen auf der Voraussetzung, daß die analysierten Prozesse eine bestimmte zeitliche Struktur besitzen. Diese Struktur ist als konstant angenommen, weil sich nur auf diese Weise die untersuchte Beziehung zwischen der

143 Mothes, Birgit: Innovation und Kreislaufbeschleunigung in der Wirtschaft, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 6, S. 915-917.

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zeitlichen Anordnung der Prozesse und dem Kapitalbedarf der Unternehmen isolieren und von anderen Größen, die ebenfalls den Kapital beeinflussen, abgrenzen läßt. Die Untersuchung der Beziehung zwischen Prozeßgeschwindigkeit und Kapitalbedarf erfordert andere Voraussetzungen, insbesondere die Voraussetzung, daß es möglich sein muß, den zeitlichen Ablauf der Prozesse in einer dem Untersuchungszweck entsprechenden Weise zu variieren. Unter Prozeßgeschwindigkeit soll der zeitliche Abstand zwischen zwei oder mehreren Ereignissen verstanden werden, die in einem durch den Betriebszweck bestimmten Zusammenhang miteinander stehen. In diesem Sinne wird hier Prozeßgeschwindigkeit als Prozeßdauer, Prozeßzeit oder Zeitbedarf je Prozeß verstanden. So wird die Geschwindigkeit des Lagerprozesses durch den zeitlichen Abstand zwischen dem Eingang eines Gutes auf dem Lager und seinem Abgang von dem Lager verstanden. Der Ausdruck Geschwindigkeit kann hierbei insofern zu Beanstandungen Anlaß geben, als sich das Gut in der in Frage stehenden Zeit nicht bewegt, ein Differenzieren nach der Zeit also nicht möglich ist. Der physikalische und der betriebswirtschaftliche Geschwindigkeitsbegriff, so wie er hier verstanden wird, unterscheiden sich also voneinander. Zunahme der Prozeßgeschwindigkeit bedeutet in dem angeführten Beispiel lediglich, daß sich der zeitliche Abstand zwischen dem Eingang auf dem Lager und dem Abgang von dem Lager, also die Lagerdauer, verkürzt, Abnahme der Prozeßgeschwindigkeit dagegen, daß sich der zeitliche Abstand zwischen diesen beiden Ereignissen, also die Lagerdauer verlängert“.144 2.4. Die Ursachen des extensiven Wachstums: Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts führt zu hoher Innovationsschwäche. Der zentralbilanzierte Plan war starr und besaß keine Flexibilität für Innovationen Den Forschungsstand der Modernisierungstheorie und der Wachstumstheorie resümiert Johannes Berger so: „Der Modernisierungstheorie ist immer wieder vorgehalten worden, daß sie über die Ursachen der Entwicklung so gut wie nichts zu sagen wisse. Dieser Vorwurf besteht gegenüber ihren ‚klassischen‘ Schriften sicherlich zurecht. Aber er wird in seiner Bedeutung doch beträchtlich relativiert, wenn man sich vor Augen hält, mit welchen komplexen Fragen die entsprechende Forschung sich konfrontiert sieht. Es ist nicht lange her, daß einer der bedeutendsten empirischen Wachstumsforscher, Abramovitz (1993), ‚areas of ignorance‘ bezüglich der Erklärung wirtschaftlichen Wachstums offen eingestanden hat. Diese Unwissenheitszonen sind im Vergleich zu unserem Wissen keineswegs unbedeutend, und es sieht auch nicht so aus, als seien sie im Abnehmen begriffen. Wenn schon die Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung nicht genau bekannt

144 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaft. Dritter Band. Die Finanzen, 1969, S. 44 ff.

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sind, dann steht zu vermuten, daß erst recht über dem komplexen Prozeß der Modernisierung, von dem das Wirtschaftswachstum ja nur eine Komponente ist, der Schleier des Nichtwissens liegt. In seiner ersten, sich mit dem empirischen Studium wirtschaftlichen Wachstums beschäftigenden Arbeit hatte Abramovitz (1956) gezeigt, daß nur ganze 10 Prozent des pro Kopf Wachstums des Sozialprodukts in den Vereinigten Staaten sich durch den Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erklären lassen. Dieses Resultat widersprach so sehr den herrschenden Vorstellungen in Alltag und Wissenschaft (mehr inputs vergrößern den output), daß es eine intensive wissenschaftliche Suche nach den Faktoren auslöste, die die restlichen 90 Prozent erklären könnten. Denison (1962) gelang es, durch die Hinzufügung weiterer Faktoren (z. B. verbesserte Ausrüstung, Qualifizierung der Arbeitskräfte, Bildung Strukturwandel) den nicht erklärten Rest auf 44 Prozent zu drücken. Dieser Rest – das berühmte ‚Residual‘ der empirischen Wachstumsforschung – wurde dem technischen Fortschritt zugerechnet. Der technische Fortschritt läßt sich nicht direkt beobachten. In Wachstumsanalysen wird er berechnet als Differenz zwischen der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität und der Wachstumsrate der mit dem Anteil des Kapitals am Volkseinkommen gewichteten Kapitalintensität. Wie Abramovitz sehr genau sieht, ist letzterer Ausdruck aber nur ein anderer Name für unsere Unkenntnis. ‚Standard growth accounting is based on the notion that the several proximate sources of growth operate independently of one another. The implication of this assumption is that the contribution attributable to each can be added up‘.145 Was nicht durch die Aufsummierung der unmittelbaren bekannten Wachstumsursachen (Arbeit, Kapital etc.) erklärt werden kann, wird als Beitrag des Faktors ‚technischer Fortschritt‘ abgebucht. Im additiven Bezugsrahmen ökonometrischer Modelle können Interaktionen zwischen den Faktoren nicht erfaßt werden. Just in ihnen manifestiert sich aber der technische Fortschritt. Unser Wissen bezüglich dieser Interaktionen, so verstehe ich Abramovitz, steht noch ganz am Anfang. ‚Capital accumulation and the advance of knowledge arising in part from independent or poorly understood sources work together to produce joint effects‘146 – das ist in etwa die Essenz dessen, was sich nach dem derzeitigen Stand unseres Wissens über die Ursachen wirtschaftlichen Wachstums sagen läßt“.147 „Während die ersten beiden Eigenschaften von Modernisierungsprozessen, ihre revolutionäre und komplexe Natur, kaum umstritten sein dürften, wird die dritte Eigenschaft, die Kohärenz der Entwicklung, von den Kritikern der Theorie explizit in Frage gestellt. Eigentlich kontrovers ist jedoch erst Huntingtons viertes Merkmal der Modernisierung: die Globalität des Vorgangs. Darunter wird der Sachverhalt verstanden, daß keine Gesellschaft sich diesem Prozess entziehen kann. „In any event, all societies were at one time traditional; all societies are now either modern

145 Abramovitz, Moses: The Search for the Sources of Growth: Areas of Ignorance, Old and New, in: The Journal of Economic History, vol. 53, 1993, S. 220. 146 Ebd., S. 237. 147 Berger, Johannes: Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt? In: Leviathan, Jg. 1996, S. 53 f.

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or in the process of becoming modern”.148 Wenn eine Gesellschaft den Durchbruch zur Moderne geschafft hat, hat dies Bedeutung für alle anderen Gesellschaften, ob sie das wollen oder nicht.149 In Parsons‘ Lehre von den ‚evolutionären Universalien‘150 ist dieser Sachverhalt auf den Begriff gebracht. Eine evolutionäre Universalie ist eine Innovation, die nicht nur Bedeutung für das System hat, in dem sie zuerst auftritt. Sie wird zur Vorbedingung für jede weitere Entwicklung. Daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie nicht nur einmal auftritt. Systeme, die diese Innovation mitmachen, steigern eben dadurch ihre langfristige Anpassungskapazität. Als evolutionäre Universalien, die (auf der Ebene der Sozialstruktur) den Übergang zur modernen Gesellschaft kennzeichnen, nennt Parsons die bürokratische Verwaltung, Märkte, das Rechtswesen und Demokratie als Grundprinzip der politischen Organisation“.151 „Wachstumsraten sind, ob zu Recht oder Unrecht, der gebräuchlichste Maßstab für die wirtschaftliche Leistung“, so Gregory.152 In den Wachstumstheorien wird zwischen extensiven und intensiven Wachstum unterschieden: „Die sowjetische Wirtschaft war beim Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum gescheitert und nun in einer sinnlosen ‚Tretmühle153 von Reformen‘ gefangen“.154 Die Feststellung, daß die Wirtschaft der Sowjetunion im System der extensiven Wirtschaft gefangen blieb, traf Gertrude E. Schröder bereits 1979.155 Auch die sozialistische DDR und die sozialistischen Volksdemokratien blieben im System des

148 Huntington, Samuel P.: The change to Change. Modernization, Development and Politics, in: Comparative Politics, Bd. 3, S. 289. 149 Bendix, Reinhard: Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln 1971, S. 506: „Der ökonomische und politische Durchbruch, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich vollzog, hat jedes andere Land der Welt in die Situation relativer Rückständigkeit gebracht. Diese Aufteilung der Welt in entwickelte Gesellschaften und Nachzügler ist eines der grundlegenden Elemente der Definition der Modernisierung, die mir vorschwebt“. 150 Parsons, Talcott: Evolutionäre Universalien in der Gesellschaft, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln 1971, S. 55-74. 151 Berger, Johannes: Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt? In: Leviathan, Jg. 1996, S. 49. 152 Gregory, Paul R.: Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian T. H. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 312. 153 Tretmühle, Tretwerk, 1) alte Maschine für Tier- oder Menschenkraft, 2) volkstümliche Bezeichnung für eine dauernd gleiche, nie aufhörende und unleidige Arbeit. 154 Gregory, Paul R.: Der Kalte Krieg, S. 318 f. 155 Schröder, Gertrude E.: The Soviet Economy on a Treadmill of „Reforms“, in: Soviet Economy in a Time of Change. A Compendium of Papers submitted to the Joint Economic Committee, Congress of the United States, Washington 1979.

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extensiven Wachstums gefangen. Dies wird sehr deutlich, wenn man die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in Marktwirtschaften (=Ex-post-Rechnung)156 mit der Ex-ante-Rechnung in den politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften vergleicht.157 Die fundamentalen Unterschiede zwischen der marktwirtschaftlichen Ordnung und der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft werden bei der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) sichtbar. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Ex-post-Rechnung in Marktwirtschaften. Ziel: Ex-post-Analyseinstrument. „Aufgabe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ist die zahlenmäßige Erfassung und Darstellung der ökonomischen Aktivitäten einer Volkswirtschaft in einer abgeschlossenen Wirtschaftsperiode. Die VGR liefert auf diese Weise ein quantitatives Ergebnisbild des wirtschaftlichen Geschehens. Da sie sich stets auf in der Vergangenheit liegende Zeitperioden bezieht, ist die VGR eine Ex-post-Analyse. Die durch die VGR gewonnenen Daten stellen eine wichtige Grundlage für wirtschaftspolitische Entscheidungen dar, bilden die Basis der empirischen makroökonomischen Analyse und dienen der empirischen Überprüfung ökonomischer Theorien“.158 Mit ihren Käufen steuern die Haushalte letztlich die Unternehmen, die die Produktion auf das Kaufkraftverhalten dauernd abstimmen müssen. Die Haushalte geben mit Käufen bzw. Nichtkäufen Signale an die Unternehmen, die Produktion zu erhöhen bzw. einzuschränken, d. h. es findet eine permanente Abstimmung zwischen den Haushalten und den Unternehmen im Wettbewerb statt. Ernst Heuß beschreibt anschaulich die Bedeutung des Wettbewerbs beim technischen Fortschritt. „Technik, Produktion, Markt und seine Organisation usw. sind von Menschen Geschaffenes und werden daher ebenso vom Menschen laufend verändert und umgestaltet. Seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert hat sich dieser Prozeß in den westlichen Industrieländern im marktwirtschaftlichen Rahmen vollzogen. Damit ist er bestimmten Regeln unterworfen, woraus sich erklärt, daß der Prozeß von Kreation und Verbreitung einen gewissen Musterablauf mit spezifisch aufeinanderfolgenden Phasen aufweist. Der Prozeß von Kreierung und Verbreitung ist ein der Marktentwicklung endogener Prozeß und faßt in der Regel vier Stadien, die man mit Experimentierungs- , Expansions-, Ausreifungs- und Stagnationsphase bezeichnen kann. Wie der Name der ersten Phase schon deutlich macht, handelt es sich am Anfang um einen 156 Dorow, Frank: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, Sp. 808-820. Colm, Gerhard: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (I) Theorie, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 390-400. 157 Die Ex-ante-Rechnung wird detailliert beschrieben im Artikel „Gesamtrechnung, volkswirtschaftliche“ in: Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 750-752. „Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung in kapitalistischen (= volkswirtschaftlichen) Ländern ist eine Ex-post-Rechnung (d. h. eine Rechnung nach Ablauf der untersuchten Periode) und bezieht sich im allgemeinen auf ein Jahr. Sie wird vornehmlich in Konten- oder Tabellenform dargestellt“. 158 Paraskewopoulos, Spiridon (Hrsg.): Volkswirtschaftslehre. Grundriß für Studierende, Herne, Berlin 2004, S. 175.

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Vorgang des Suchens, Irrens, Ausprobierens, und zwar so lange, bis ein Produkt entwickelt ist, das auch bei Abnehmern auf Resonanz stößt. Erfindung und Entwicklung des Produktes zur technischen Marktreife und nicht zuletzt Schaffung eines ausbaufähigen Abnehmerkreises bilden die Charakteristika dieser Marktphase. Obgleich in diesem Stadium noch kein eigentlicher Markt existiert, gibt es meistens bereits mehrere Unternehmungen, die im Wettbewerb um den ersten erfolgreichen Vorstoß untereinander stehen. Der Wettbewerb als Prozeß mit vorstoßenden und nachziehenden Wettbewerbern tritt erst in der Expansionsphase in Erscheinung. Das volkswirtschaftliche Wachstum: Eine Erfindung bzw. Innovation kann in ihrer Art einzigartig sein, sie bleibt, solange sie einen Einzelfall darstellt, ohne Bedeutung für die Volkswirtschaft. Es ist daher erst der Wettbewerb, der durch das Nachziehen der Wettbewerber eine Innovation verbreitet und aus einem singulären Phänomen ein allgemeines macht. Soweit es Unternehmer gibt, die bereit sind, neue Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen und nach erfolgreichem Vorstoß Unternehmer da sind, diese Neuerungen aufzugreifen, bleibt auch den anderen Unternehmern keine Wahl, als ihnen zu folgen, so sehr sie es vorziehen würden, am bisherigen festzuhalten. Dieser Zwang, der von einer Minderheit (initiativer Unternehmer) auf die Mehrheit (konservativer Unternehmer) ausgeht, aktiviert menschliche Energien in einem Umfange, wie es von keinem anderen sozialen System bisher bekannt ist“.159 „Da der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Hauptfaktor der Intensivierung ist, bewirkt die rasche und effektive Einführung wissenschaftlich-technischer Neuerungen in die Produktion den Hauptteil der erforderlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität und Aufwandssenkung der laufenden Produktion“.160 Der technische Fortschritt setzt eine Erfindung voraus.161 Eine Erfindung im weiteren Sinn ist „jeder schöpferische Einfall, der zur Gestaltung eines praktisch verwendbaren Gegenstandes (chemische Verbindung, Maschine u. ä.) führt, der vorher noch nicht vorhanden war: im engeren Sinn die Lösung einer technischen Aufgabe durch schöpferische menschliche Tätigkeit, die gegenüber der vorhandenen Technik prinzipiell neu ist und einen technischen Fortschritt darstellt. Für eine Erfindung kann, wenn sie allen vorgeschriebenen Anforderungen genügt, auf Antrag vom Amt für Erfindungs- und Patentwesen der DDR ein Patent erteilt werden (Neuerervorschlag, Vorschlags- und Erfindungswesen)“.162 Erfindung (Invention) geht „häufig Hand in Hand mit der Entdeckung, ist ein Aufdecken bislang unbekannter Zusammenhänge, aus denen sich technische und 159 Heuß, Ernst: Wettbewerb, in: HdWW, 8. Bd., 1988, S. 683 f., 686. 160 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 91: Revolution, wissenschaftlichtechnische. 161 Ott, Alfred E.: Technischer Fortschritt, in: HdSW, 10. Bd., 1959, S. 302 ff. Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt, Überblick. Walter, Helmut: Technischer Fortschritt, I: in der Volkswirtschaft. Brockhoff, Klaus: Technischer Fortschritt, II: im Betrieb, in: HdWW, Bd. 7, 1988, S. 567 ff. 162 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 4, Leipzig 1972, S. 338.

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ökonomische Folgen ergeben können. Erfindung ist die Grundlage jedes technischen Fortschritts. Ohne sie wäre z. B. die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert nicht möglich gewesen. Die Entwicklung der Nachkriegszeit (nach 1945) ist geradezu gekennzeichnet durch wirtschaftlich sinnvolle) technische Erfindungen und neue Güter und Verfahren, die wirtschaftlich genutzt worden sind (Wachstumstheorie, neuere). Die Innovation ist die wirtschaftliche Verwertung der Invention (Forschungsökonomie)“.163 Da der Zeitpunkt der Erfindung unbekannt ist,164 kann die Erfindung nicht prognostiziert werden. Prognosen haben deshalb keinen Direktivcharakter, „treffen keine Entscheidungen, sondern bieten mehrere alternative Varianten an, deren Voraussetzungen und Auswirkungen sie aufzeigen. Da die Erfindung nicht prognostiziert werden konnte, konnte sie im Jahreszentralplan auch nicht bilanziert werden, d. h. der technische Fortschritt war grundsätzlich ausgeschlossen. Der technische Fortschritt war in der Marktwirtschaft endogen,165 d. h. er war systemimmanenter Teil (J. Schumpeter). In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft war der technische Fortschritt exogen,166 d. h. nur außerhalb des bilanzierten Jahreszentralplans realisierbar. Man kann es auch so ausdrücken, daß der technische Fortschritt der Marktwirtschaft systemimmanent und der sozialistischen Zentralplanwirtschaft systemfremd ist. Das bedeutet nicht, daß es in der sozialistischen Zentralplanwirtschaft überhaupt keinen technischen Fortschritt gab. Es existierten sogenannte „Insellösungen“. Es konnte auch eine Branche modernisiert werden, wie z. B. die Mikroelektronik. Dafür wurde dann die Textilindustrie vernachlässigt. Dies führte dann zu den Disproportionalitäten der Wirtschaft im realen Sozialismus. In der Marktwirtschaft erzwang der Wettbewerb eine Anpassung an die innovativ führenden Unternehmen, so daß dann als Resultat die ganze Branche modernisiert wurde. Der technische Fortschritt führte in Marktwirtschaften immer wieder zu Ungleichgewichten, die dann aber durch die Anpasser zu

163 Grüske, Karl-Dieter / Recktenwald, Horst Claus (Hrsg.): Wörterbuch der Volkswirtschaft, 12. Aufl., Stuttgart 1995, S. 295 f. 164 Friedrich, Dieter: Prognose, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp. 589-593. Popper, Karl R. Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften, in: Tepitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Köln, Berlin 1965, S. 113 ff. 165 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 4, Leipzig 1972, S. 262, 427: exogen (griech.): 1. allgemein von außen stammend, durch äußere Ursachen bedingt; endogen (griech.): von innen heraus, durch innere Ursachen entstehend; auf Veranlagung beruhend. 166 Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3. Aufl., München 1997, S. 284: endogen Adj. durch innere Einflüsse entstehend, von innen verursacht. Fachwort, bes. der Medizin, im 19. Jh. mit dem Kompositionsglied -gen gebildet zu griech. éndon ‚innen, drinnen‘, auch ‚zu Hause‘ und ‚hinein‘, sicher unabhängig von griech. endogenés ‚im Hause geboren‘ (bes. von Sklaven). Analog dazu entsteht gleichzeitig das Antonym exogen Adj. ‚durch äußere Einflüssen entstehend, von außen stammend‘, zu griech. exó ‚außen, hinaus‘. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 30, Mannheim 1979, S. 688, 772.

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neuen Gleichgewichten kam.167 Dieser Mechanismus war der Markwirtschaft immanent. Der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft fehlte der Mechanismus, der den technischen Fortschritt in der Marktwirtschaft permanent vorantrieb. Die Innovationsbarrieren der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft sind zusammenfassend von Ulrich Wagner analysiert worden. Sie stimmen mit denen überein, die auf der Ebene der Volkseigenen Betriebe als Teil der sozialistischen Zentralplanung herausgearbeitet wurden. Den technischen Fortschritt kann man nicht zentral planen und deshalb können Kombinate und Betriebe auch keine entsprechenden quantifizierbaren, kontrollierbaren Aufgaben bekommen (=Bilanzanteile). „Die Unmöglichkeit zentraler Planung des technischen Fortschritts (im Weltvergleich) haben insbesondere von Hayek168 und Röpke169 nachgewiesen. Es ist nämlich logisch gar nicht möglich, heute Wissen zu antizipieren, das wir erst später haben werden. Also scheint auch keine Möglichkeit zu bestehen, die Produktion neuer Ideen zentral zu koordinieren. Voraussetzung erfolgreicher zentraler Planung im Zeitalter des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist die totale Transparenz zukünftiger Daten. Über die Unsinnigkeit dieser ‚Voraussetzung‘ wurde bei uns im Zusammenhang mit den Annahmen der Preistheorie bereits ausreichend diskutiert“.170 Da der technische Fortschritt nicht prognostiziert werden konnte, erhielt er auch keine Bilanzanteile und war in der durch Gesetz festgeschriebenen Planperiode nur außerhalb oder gegen den Plan realisierbar. Die politisch naturale Steuerung der sozialistischen Zentralplanwirtschaft erfolgte in Planperioden, in langfristigen Zentralplänen (15 Jahre), in Perspektivplänen (5 Jahre) und in Zentraljahrplänen. Die Grundlagen aller Zentralpläne waren Prognosen über die Entwicklung. Die naturale Zentralplanung wurde nach der Bilanzierungsmethode vorgenommen. Jeder Volkseigene Betrieb erhielt einen naturalen Bilanzanteil, der durch Gesetz festgeschrieben war. Die SED-Nomenklatura legte politisch fest, „welche Proportionen zwischen Investitionsgüter- und Konsumgütersektor bestehen und welche Regionen, Branchen und Sektoren vorrangig entwickelt werden sollten. Mit Hilfe der Bilanzierungsmethode versuchte man dann, den Knappheitsgrad der einzelnen Güter, d. h. die Mengendifferenzen von Bedarf und Aufkommen, sichtbar zu machen.

167 Stackelberg, Heinrich Freiherr von: Marktform und Gleichgewicht, Wien, Berlin 1934. Möller, Hans: v. Stackelberg, Heinrich Freiherr, in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 770-772. 168 Hayek, F. A. v.: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Hayek, F. A. v.: Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 249 ff. 169 Röpke, J.: Die Strategie der Innovation. Eine systemtheoretische Untersuchung der Interaktion von Individuum, Organisation und Markt im Neuerungsprozeß, Tübingen 1977. 170 Wagner, Ulrich: Innovationsprobleme im Wirtschaftssystem der DDR, in: Gutmann, Gernot (Hrsg.): Das Wirtschaftssystem der DDR. Wirtschaftspolitische Gestaltungsprobleme, Stuttgart, New York 1983, S. 312.

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In der Praxis war es aufgrund der Gütervielfalt unmöglich, alle Güter einzeln zu bilanzieren. Daher erfasste der Bilanzierungsprozess nicht einzelne Güter, sondern Güterbündel. Inventionen und Innovationen werden durch ein am extensiven Wachstum orientiertes Planungs- und Leitungssystem behindert: Das Wirtschaftssystem der DDR ist als Rezeption des sowjetischen Systems entstanden. Das sowjetische Wirtschaftssystem wurde zur best- und schnellstmöglichen Nutzung der primär extensiven Wachstumsquellen der UdSSR konzipiert. Dieses System orientierte noch heute ein Land wie die DDR am extensiven Wachstum, obwohl außer durch Konsumverzicht ermöglichte Investitionen kaum Quellen extensiven Wachstums vorhanden wären. Für die Kombinate und Betriebe bringen Neuerungen Risiken, die die Fortführung der alten Produktion mit den bekannten Zulieferern und Abnehmern nicht besitzen. Die gegenwärtige (1983) Organisationsstruktur von Großunternehmungen, Kombinaten, Zuordnungen zu Ministerien und Plankommissionen – insbesondere die durch Erzeugnisgruppen und Zulieferketten geprägten Zuordnungen – sind Reflex der gegenwärtigen Produktionsstruktur aufgrund gegenwärtig produzierter Güterpaletten und gegenwärtiger Produktionsmethoden. Innerhalb dieser Organisationsstruktur entstehen Ressortkompetenzen. Diese würden durch andere Strukturen, andere Produkte und andere Verfahren gestört. In allen Systemen entwickeln Bürokratieleiter aber Strategien, solche ‚Störungen‘ zu verhindern. In zentralverwaltungswirtschaftlichen Systemen gehört dazu auch die Behinderung des Fortschritts einschließlich neuer Problemlösungen, da dies dort in die Zuständigkeit von Bürokratien fällt. Immunisierungsstrategien gegenüber Neuerungen und die Ressortzuständigkeiten dürften Ursache für die geringe Nach- und Mehrfachnutzung von Neuerungen sein: ‚Die ungenügende Mehrfachnutzung wissenschaftlich-technischer Neuerungen ist auch kennzeichnend für die Neuererbewegung, die in der DDR weit verbreitet ist. Nur etwa 2 Prozent des ökonomischen Nutzeffekts aus der Neuererarbeit werden durch die Nachnutzung von Forschungsergebnissen erzielt‘. Das Fazit des sozialistischen Autorenkollektivs lautet dann schlicht: ‚Unserer Ansicht nach verfügen wir zur Zeit noch nicht über einen zuverlässig wirkenden Mechanismus zur systematischen Massenanwendung neuer wissenschaftlich-technischer Ergebnisse‘.171 Der Widerspruch zwischen den für Innovationen notwendigen langfristigen Entscheidungshorizonten und der Orientierung an Jahresvolkswirtschaftsplänen führt zu Innovationshemmnissen: Da Innovationsentscheidungen der längerfristigen Orientierung bedürfen, würden sich als Orientierung die Fünfjahrpläne anbieten. Aber diese Fünfjahrpläne können für die Produktion nicht bestimmend sein, da sie natur- und erfahrungsgemäß schon nach kurzer Zeit unrealistisch geworden

171 Autorenkollektiv: Ökonomische Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution im Sozialismus, Berlin (-Ost) 1976.

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sind. Somit gibt es einen systemimmanenten Widerspruch zwischen Planungserfordernissen für Forschung und Entwicklung und Überleitung auf der einen (längerer Planungshorizont) und der volkswirtschaftlichen Bilanzierung der übrigen Bereiche (Jahresvolkswirtschaftspläne) auf der anderen Seite. Das im zentral geplanten System der DDR notwendige Kennziffernsystem macht es für die Betriebe lohnend, sich gegen Innovationen zu sperren. Ein geringeres Ausmaß von Neuerungen ist für die Betriebe lohnender als ein höheres: Im DDR-System müssen an die Stelle von Marktsignalen, -belohnungen und -sanktionen Kennziffernsysteme treten. Diese Kennziffernsysteme beruhen zwangsläufig auf einem Ist-Soll-Vergleich, weil die Ist-Größen stärker betriebsexogen als -endogen beeinflußt werden. Da die Betriebe ihre Leistungen nur zum geringeren Teil selbst beeinflussen können, müssen die betrieblichen Folgen staatlicher Preisfestsetzungen, Sortimentsauflagen und Investitionsentscheidungen bei den SollGrößen berücksichtigt werden. Die Soll-Größen sind jeweils die von der übergeordneten Behörde in den Betrieb oder das Kombinat gesetzten Erwartungen. Übertrifft die Leistung die Erwartung, dann erhält der Betrieb dafür Belohnungen, untererfüllt der Betrieb, so muß er mit Kontrollen und Sanktionen rechnen. Die bekannte Folge ist das Streben nach ‚weichen Plänen‘. Der Widerstand der Betriebe gegenüber Innovationen dürfte im wesentlichen folgende kennziffernbedingte Gründe haben: - Erstens besteht für die Betriebe die Gefahr realistischer werdender Planauflagen bei Anwendung neuer Technik, da die Planungsbürokratie über die Leistungsfähigkeit einer neuen (in einem Forschungsinstitut oder einem anderen Betrieb entwickelten) Anlage gut Bescheid wissen dürfte. Dies gefährdet weiche Pläne. - Zweitens orientieren die Kennziffernsysteme stärker an durch übergeordnete Instanzen leicht kontrollierbaren Planauflagen. Auflagen über Forschungsergebnisse sind – falls es sich nicht um ‚schöpferische Nacherfindungen‘ handelt – gar nicht zu machen. Auflagen über Innovationen sind schwer zu präzisieren und zu terminieren, weil es sich um die Einführung von etwas Neuem, noch nicht zur Routine gewordenem handelt. Deshalb ist die Konzentration des Betriebes auf die laufende Produktion alter Güter mit altem Verfahren für ihn günstig. - Drittens sind Innovationen langfristig orientiert, Kennziffern aber auf jeweils ein Jahr Bezogen. Aber gerade in den ersten drei Jahren ist der Arbeitsaufwand für die Produktion mit neuer Technik besonders hoch; ‚er liegt oft zwei- bis dreimal so hoch wie bei Erzeugnissen, die seit langem produziert werden. Das führt natürlich dazu, daß sich die Kennziffern verschlechtern und daß der Anteil neuer Erzeugnisse am Gesamtvolumen der Serienproduktion gering bleibt‘. - Viertens läßt sich die Kennziffer ‚Warenproduktion‘ durch Innovationen um so schlechter erfüllen, je effektvoller die Innovation im Hinblick auf Kostensenkungen wirkt. Das System der Preisbildung nach dem Kriterium der Kosten führt dazu, daß Kostensenkungen zu Preissenkungen führen. Diese Preissen-

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kungen mindern die Warenproduktion. Ähnliches gilt für die Kennziffer ‚Gewinn‘. Ein Gewinn läßt sich leichter ‚durch überhöhte Preise, durch den Absatz veralteter eingefahrener Erzeugnisse und ein teures Erzeugnissortiment‘ erzielen als durch Innovationen. Fünftens ist für die Betriebe die Einführung arbeitssparenden technischen Fortschritts nur dann vorteilhaft, wenn die übergeordnete Behörde nicht weiß, daß es sich um einen solchen handelt. Die Löhne sind in der DDR so niedrig, daß sie als Kostenfaktor keine nennenswerte Rolle spielen. Außerdem gehen die geplanten (sprich: genehmigten) Löhne in die geplanten Kosten ein. Eine Senkung der Lohnkosten wird deshalb im nächsten Jahr durch eine entsprechende Erhöhung des Plangewinns und / oder durch eine Senkung des Preises neutralisiert.

Schließlich ist es die Hortung von Arbeitskräften für die Betriebe vorteilhaft, da erstens eine bestimmte Planauflage um so leichter erfüllbar ist, desto mehr Arbeitskräfte der Betrieb hat, zweitens unvorhersehbare Zusatzauflagen mit gehorteten Arbeitskräften leichter erfüllt werden können, drittens Betriebe Arbeitskräfte an andere Betriebe ‚delegieren‘ müssen und viertens ‚Störungen in der materiell-technischen Versorgung […] die Betriebe […] dazu verleiten, mehr als notwendig Arbeitskräfte zu beschäftigen, damit jeweils an den angespanntesten letzten Tagen des Monats der Plan erfüllt werden kann‘. Aus diesen Gründen besteht ein betriebliches Interesse an arbeitssparendem technischen Fortschritt nur, wenn er zur Erhöhung der Arbeitskräftereserven verwendet werden kann. Das setzt voraus, daß übergeordneten Behörden der arbeitssparende Effekt verborgen bleibt, da sie sonst die Auflagen erhöhen oder Arbeitskräfte abziehen könnten“.172 Die Nichtplanbarkeit des technischen Fortschritts (Innovationen) in den politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften ist in der Forschung schon früh erkannt worden. Erik Boettcher und Karl C. Thalheim hatten 1964 in einer Fachtagung „Planungsprobleme im sowjetischen Wirtschaftssystem“ behandelt. „Die Diskussion ging dann zu Fragen der Planung und Meßbarkeit des technischen Fortschritts über. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität wird in der Sowjetwirtschaft als der entscheidende Wachstumsfaktor aufgefaßt, wie dies sowohl im neuen Parteiprogramm als auch im Siebenjahrplan zum Ausdruck kommt. Für ein solches Ziel ist aber der technische Fortschritt von entscheidender Bedeutung. Es gibt aber bisher in der Sowjetwirtschaft keine exakten Maße für die Effizienz der eingesetzten Techniken. Dies kommt in der Nutzeffektsdebatte und bei der Auseinandersetzung mit der Frage des wirtschaftlichen Verschleißes zum Ausdruck. Hier liegt daher eine wichtige Grenze für den weiteren Einsatz neuer Techniken. Außerdem kann die Planbarkeit des technischen Fortschritts grundsätzlich bezweifelt werden. Als Folge dieser Faktoren ist die sowjetische Technik außerhalb gewisser Schwerpunktbereiche wie z. B. der Rüstung, wenig fortgeschritten. Besonders 172 Wagner, Ulrich: Innovationsprobleme, S. 312, 315, 318, 324.

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schwierig werden jedoch diese Fragen, wenn es um solche Probleme wie z. B. die Messung des Nutzeffekts des Bildungsaufwandes geht. Insgesamt müßte man zur Beurteilung der Situation allerdings eine stärkere Verbindung zu den technischen Wissenschaften haben, da es immer um sehr schwierige Detailfragen geht. In der weiteren Diskussion wurden diese Faktoren näher besprochen. Die Schwierigkeit, zukünftige technische Entwicklungen vorauszusehen, wurde aus einem Hinweis auf einen ähnlichen Versuch deutlich, der in den USA gemacht wurde. Man wollte dort unmittelbar vor dem Krieg ungefähr die zukünftige technische Entwicklung abschätzen. Bei einem Vergleich der Ergebnisse dieser Schätzungen mit der tatsächlichen Entwicklung ergibt sich, daß so gut wie keine der heute entscheidenden Techniken vorausgesehen wurde“.173 Werner Beitel resümiert in seiner Dissertation: Die intensive Beschäftigung mit den Problemen des technischen Fortschritts in der Sowjetunion wurde durch die „gegenwärtige wirtschaftliche Situation erzwungen. Konnte das wirtschaftliche Wachstum bis in die 50er Jahre vornehmlich durch die Vermehrung der Produktionsfaktoren unter Verwendung bereits erprobter Techniken erzielt werden, so stößt diese Politik des sogenannten extensiven Wirtschaftswachstums heute auf immer größere Schwierigkeiten, da insbesondere die Beschäftigung der Industrie nicht mehr im gleichen Maße wie bisher erhöht werden kann. Mit der Verknappung des Arbeitskräfteangebots erhöht sich auch für die UdSSR der Zwang zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, um die bisherige Wachstumsrate des Sozialprodukts auch für die Zukunft zu sichern. Das Streben nach einer rationelleren Nutzung der Ressourcen hat zur Wirtschaftsreform des Jahres 1965 und zu einer gewissen Umorientierung der Investitionspolitik geführt, die den Betrieben eine wenn auch nur sehr geringe Verfügungsgewalt über Kapital einräumt. Zur Durchsetzung des technischen Fortschritts bediente man sich in der Vergangenheit administrativer Anweisungen im Rahmen der zentral erstellten Pläne. Man verfügte in den als technisch führend eingestuften Industriezweigen den Bau neuer Betriebe (novoe stroitel’stvo), für deren Ausstattung der neueste Stand der Technik berücksichtigt werden konnte. Während der Fünfjahrpläne vor dem Kriege (1941)174 waren die Neuinvestitionen die dominierende Form der Entwicklung des Produktionsapparates. Die Finanzierung erfolgte über den Staatshaushalt und wurde durch die Umsatzsteuer und durch niedrige Amortisationssätze bei den bereits bestehenden Betrieben gesichert. Die niedrigen Sätze führten zu hohen Gewinnen der Betriebe und der Industrie, die in der Form des freien Restgewinns und der Umsatzsteuer an das Budget abgeführt werden mußten, so daß den Betrieben nur geringe finanzielle Mittel zur Erneuerung des Produktionsapparates zur Verfügung standen.

173 Boettcher, Erik / Thalheim, Karl C. unter Mitwirkung von Klinkmüller, Erich und Knirsch, Peter (Hrsg.): Planungsprobleme im sowjetischen Wirtschaftssystem. Ergebnis einer Fachtagung, Berlin 1964, S. 103. 174 Deutscher Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941.

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Die Folge dieser hier stark vereinfachend skizzierten Politik war eine unausgeglichene technische Struktur der Industrie, gekennzeichnet durch die Existenz völlig veralteter Anlagen neben relativ modernen Betrieben innerhalb der Industriezweige. Im Ganzen existierten Industriezweige mit relativ hohem neben solchen mit niedrigem technischen Niveau. Nur in bevorzugten Bereichen wurde ein hoher technischer Stand erreicht, dafür die Existenz veralteter Technik in anderen Zweigen in Kauf genommen. Das Ergebnis waren ein abnehmender jährlicher Zuwachs der Arbeitsproduktivität und ein stetiges Absinken der Kapitalproduktivität etwa ab der Mitte der 50er Jahre. […] Nach Ansicht maßgebender sowjetischer Autoren läßt sich eine im Detail aussagefähige und gleichzeitig langfristige Prognose gegenwärtig nicht erstellen. Dahingehende Aussagen gehen über eine ungefähre Einschätzung einiger Hauptrichtungen des technischen Fortschritts wie z. B. der Elektrifizierung, Automatisierung, Chemisierung der Produktion nicht hinaus“.175 Dr. Günther Wyschofsky, der von 1966 bis November 1989 Minister für Chemische Industrie war, bestätigt die Analyse, daß der technische Fortschritt in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft exogen, systemfremd war. Wyschofsky: „Das schlimmste Übel war, wenn einer außerhalb dieses Planes eine große Erfindung machte. Das war dann nicht zu verdauen. Plan war Plan. Wenn da zwischen dem Plan von einem Jahr zum anderen irgendetwas Interessantes erfunden wurde: die Leute konnten sich die Hacken ablaufen, die konnten Patente anmelden […] Lepsius: […] das konnte nicht mehr elastisch aufgefangen werden? Wyschofsky: Nein, das konnte nicht mehr eingebunden werden. Aber ich kann Ihnen ein Geheimnis verraten: Ich hatte eine Festlegung durchgesetzt, daß alle Lizenzen, Alle Anlagen, die mit Katalysatoren betrieben werden, – und das sind 80 Prozent der organischen Großsynthese, die auch gut, ausgezeichnet teilweise, bearbeitet worden ist, – egal woher sie gekauft wurden, auch von den Russen, sofort in Leuna nachentwickelt wurden. Dort gab es eine große Katalyseabteilung, die wir sehr stark aufgebaut haben. Teilweise waren die Früchte so schnell, daß ich sie wegen des Lizenzschutzes nicht nutzen konnte. Pirker: Die Entwicklungstempi der einzelnen Chemien sind im Grunde nicht planbar, nicht von der Entwicklung, vom Personal und vom Erfolg her. Dann frage ich mich allerdings, wie das von einer höheren Ebene noch rational kontrolliert und gefördert werden kann? Wyschofsky: Ich gebe Ihnen recht! Die Produktivkräfte solcher wissenschaftsbezogenen Zweige lassen sich nicht in ein solches Modell bringen. Da gibt es doch eine Grundfrage, die die Gesellschaftsphilosophie, unsere jedenfalls, nicht zugab: Es gibt gegenwärtig als Instrument der Entwicklung und Nutzung der Produktivkräfte nur das Kapital und den Markt. 175 Beitel, Werner: Ökonomische Probleme der Realisierung des technischen Fortschritts in der sowjetischen Industrie, Diss. München 1970.

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Pirker: Der Markt ist auch keine Lösung! Wyschofsky: Gegenwärtig gibt es doch nur das Kapital. Und der Sozialismus hat zum einen kein Kapital, keine Kapitalklausel und keine Kapitalform, kein Kapitalverständnis – nichts, nichts, nichts. Und auch keinen Markt, sondern eine Planung, wo am 31. Dezember von Schürer und Baibakow festgelegt worden ist, sie bekommen nächsten Monat 347 Tonnen Lavendelöl und 10.000 Tonnen von etwas anderem. Das kann nicht gehen. Dieses sozialistische Planungssystem generell kann nicht gehen, und in solchen Innovativzweigen erst recht nicht. Und dann kommt noch im eigentlichen Kapitalismus hinzu, daß die Konzerne ausweichen können. Ich habe oft Chefs westlicher Konzerne gefragt: ‚Haben Sie nicht wieder Ärger mit dem Dollarkurs?‘ Da sagten sie, das interessiert uns gar nicht. Wir wissen genau, wieviel Prozent unseres Kapitals auf dollareigenem Boden produziert. Das ist ein Anruf, und in vierzehn Tagen wird umgestellt!“ 176 2.5. Extensiver Primärenergieverbrauch, d. h. kein ressourcensparendes Wachstum in den sozialistischen Ländern Gerd Schirmer vergleicht den Primärenergieverbrauch beim Wirtschaftswachstum zwischen sozialistischen Ländern (UdSSR, DDR) und marktwirtschaftlichen Ländern (USA, BRD) im Zeitraum von 1970 bis 1989. Nur die marktwirtschaftlichen Länder haben ein ressourcensparendes Wachstum.177

176 Es gab keine Macht gegen die Macht. Gespräch mit Dr. Günther Wyschofsky, Berlin, 2.9.1993, in: Pirker, Theo / Lepsius, M. Rainer / Weinert, Rainer / Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 202. 177 Schirmer, Gerd: Effektive Energiebedarfsdeckung – ein grundlegendes Erfordernis ressourcensparendes Wachstum, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 4, S. 518 ff.

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Vergleich des Primärenergieverbrauchs je Einwohner zum Weltdurchschnitt und zwischen ausgewählten Ländern 1970 bis 1986 (in Giga-Joule)1

„Der Anstieg des Primärenergieverbrauchs je Einwohner in der DDR ist vor allem nach 1975 augenscheinlich. Die Ursachen dafür liegen einerseits in der Primärenergiestruktur der DDR begründet. Während 1985 der Anteil der Rohbraunkohle 70,2 Prozent, des Erdöls 12,1 Prozent und des Erdgases 9,1 Prozent am physischen Primärenergieverbrauch betrug, erreichten die Anteile dieser Energieträger in der BRD 10,43 l und 15,4 Prozent. Allein die Anteile fester Brennstoffe – DDR 75,5, BRD 31 Prozent – weisen auf wesentlich ungünstigere Bedingungen der Primärenergienutzung in der DDR hin. Zum anderen aber ist der höhere spezifische Primärenergieverbrauch in der DDR noch ungenügenden technischen Lösungen bei der Primärenergieumwandlung und bei der Energieanwendung geschuldet. Hierfür sind vor allem eine energieintensive Produktionsstruktur, energieintensive Technologien, Grundmittel, technische Konsumgüter und Konsumtionsformen maßgebend. Das sind aber jene Reserven, die bei umfassender Intensivierung erschließbar sind. Da die Einspartechnik vorwiegend in den weniger aufwandsintensiven Prozessen des Maschinenbaus und der Elektrotechnik / Elektronik produziert wird, verringert sich so auch der Anteil der energieintensiven Grundstoffindustrie an der Industrieproduktion, die für die Erzeugung einer Einheit Warenproduktion etwa den 5fachen Energieverbrauch gegenüber der verarbeitenden Industrie beansprucht. Technologische Verbesserungen müssen danach wesentlich schneller als bisher zur Erschließung von Energieeinsparungspotentialen beitragen. Neuartige Techno-

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logien und technologische Kombinationen, die Modernisierung vorhandener Ausrüstungen, aber auch ihre Erneuerung sind hierfür bestimmend. Darüber hinaus sind in der nichtproduzierenden Sphäre Erneuerungen und Modernisierungen der energieverbrauchenden Fonds, besonders in den Haushalten, unerläßlich. Für eine zunehmende Energieökonomie sind folgende Prozesse wesentlich: Erstens geht es darum, den Gesamtwirkungsgrad der eingesetzten Primärenergie zu verbessern. Wenn gegenwärtig die Primärenergie nur in knapp 30 Prozent Nutzenergie umgewandelt wird und das technisch-ökonomisch nutzbare Sekundärenergiepotential178 nur etwa 10 Prozent des Primärenergieverbrauchs der DDR179 beträgt, so deutet das auf erschließbare Reserven hin. Der Einsatz der Wärme-KraftKopplung, die Anwendung von Wärmepumpen sowie die Verwendung von Brüdenwärmen180 tragen dazu bei. Zweitens sind die Prozesse der Rohstoffbereitstellung und -veredlung sehr energieintensiv. Minimierung von Abfällen in allen Stufen ihrer Verarbeitung und Nutzung sowie die umfassende Wiederverwendung von Abfällen und verschlissenen Erzeugnissen als Sekundärrohstoffe, ein höherer Verwertungsgrad industrieller Abprodukte, Halden und Konsumtionsabfälle könnte große Energieeinsparpotentiale erschließen. Die Sekundärrohstoffwirtschaft wird deshalb eine wichtige Säule künftiger Energieeinsparung. Drittens ist die Strategie der Modernisierung der Grundfonds und der technischen Konsumgüter gegenüber ihrem Ersatz durch neue Erzeugnisse eine wichtige Maßnahme zur Energieeinsparung. Untersuchungen zeigen, daß die Modernisierung von Maschinen und anderen technischen Ausrüstungen bis zu 90 Prozent der für die Neuherstellung erforderlichen Energie weniger benötigt. Insbesondere erspart der Austausch alter, verschlissener und energieintensiver Baugruppen durch solche mit höheren Gebrauchseigenschaften Material und Energie, vor allem durch die Verwendung der Mikro- und Leistungselektronik sowie neuer Werkstoffe. Ebenso ist die nach 1990 dominierend vorgesehene Rekonstruktion und Modernisierung von Wohnungen energieökonomisch bedeutsam, weil dafür bis zu 60 Prozent weniger Energie gegenüber dem Neubau benötigt werden. Viertens muß der Ersatz alter energieverbrauchender Fonds durch neue energiesparende Erzeugnisse (auf der Basis der Mikroelektronik, neuer Informationstechnik und Materialien) eine rationellere Energiebereitstellung und -anwendung ermöglichen. Neue Produktions- und Konsumtionsmittel, die dem Zwecke der Energieeinsparung dienen (Kfz-Motoren mit geringerem Kraftstoffverbrauch, Regler für die Fernwärmeversorgung, Haushaltgeräte mit reduziertem spezifischem 178 Unter dem technisch-ökonomisch nutzbaren Sekundärenergiepotential wird jener Anteil der Energieverluste verstanden, der in Abhängigkeit vom wissenschaftlich-technischen Stand vorhandener technischer Lösungen und vom entsprechenden Bedarf ökonomisch nutzbar ist. 179 Ziergiebel, H.: Rationelle Energieanwendung, in: Einheit, 7, 1983, S. 661. 180 Brüden [ndt., zu „Brodem“] m: mit Wasserdampf übersättigtes, nebelartiges WasserdampfLuft-Gemisch. Die Brüden entstehen beim Trocknen von feuchten Stoffen (Braunkohle, Holz, Papier, Getreide) oder beim Eindampfen von Lösungen, z. B. in der Zucker- und Kali-Industrie. Wärmewirtschaftlich werden die Brüden zu Heizungszwecken genutzt.

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Elektroenergieverbrauch, Baumaterialien und Fenster mit hoher Wärmeisolierung), sind wichtige Entwicklungsrichtungen einer rationelleren Energieanwendung. Fünftens ergibt sich eine besondere Notwendigkeit wissenschaftlich-technischer Entwicklung auf dem Gebiet der Meß-, Steuer- und Regelungstechnik. Sie muß der rationellen Energieumwandlung, -verteilung und -anwendung sowie der Messung des Verbrauchs von energieintensiven Medien dienen. Ähnlich der Messung des Verbrauchs von Elektroenergie und Gas sind Wärmemengenmesser, Warmwasser- und Kaltwasserzähler sowie Druckluftmesser Mittel für Energieeinsparungen. Ein besonderer Schwerpunkt der Energieeinsparung ist die Wärmeversorgung, da sie derzeit etwa 30 Prozent des Primärenergieverbrauchs beansprucht. 181 Maßnahmen hierzu sind vor allem Verbesserungen der Wirkungsgrade der Wärmeversorgungsanlagen sowie die weitere Senkung des spezifischen Raumwärmebedarfs, dessen Bestwert bei fernwärmebeheizten Wohnungen im Jahre 1985 etwa das 1,4fache von Frankreich und Österreich betrug. Der Durchschnittswert hingegen ergab das 1,7fache.182 Würde der spezifische Wärmebedarf auf den DDR-Bestwert reduziert, so könnte mit der dadurch eingesparten Wärmemenge ungefähr ein Viertel mehr Wohnungen, das sind etwa 350.000, mit Fernwärme versorgt werden. Maßnahmen, um den spezifischen Wärmebedarf zu verringern, sind vor allem Verbesserungen in der Wärmedämmung, Optimierung der Heizungssysteme, Raumtemperaturregelungen, Abwärmenutzungen sowie der Einsatz von Wärmepumpen in kleinen Wohngebieten. Gleichzeitig ist es erforderlich, wachsende Bedürfnisse, wie Bildung, Kultur und Gesunderhaltung, energiesparend zu befriedigen und damit der Verschwendung entgegenzuwirken. Wenn bei der Bevölkerung der Zuwachs des Kraftstoffverbrauchs eindeutig dominiert, so hat das verschiedene Ursachen. Zum einen ist der Ausstattungsbestand der Haushalte mit Kraftfahrzeugen gestiegen. Hiesige Produkte haben einen sehr hohen spezifischen Kraftstoffverbrauch. Zum anderen ist es das Anliegen der Bevölkerung, sich schnell und bequem zu bewegen. Diesem Anliegen wird durch den öffentlichen Verkehr nicht genügend entsprochen. Während die steigende Ausstattung der Haushalte mit technischen Konsumgütern eine Tendenz zunehmenden Lebensniveaus reflektiert, wirkt ihr zum Teil hoher spezifischer Energieverbrauch dem sogar entgegen, indem die zusätzliche Energiebereitstellung die Umwelt belastet und Mittel bindet, die für andere Prozesse der Bedürfnisbefriedigung nicht verfügbar sind. Verbesserungen kann nur die Industrie bewirken, indem sie neue, energiesparende Konsumgüter bereitstellt sowie – und das wäre die schnellere Lösung – vorhandene technische Konsumgüter modernisiert und dadurch den spezifischen Energieverbrauch verringert. 181 Sandlass, H.: Die Entwicklung der Fernwärmeversorgung in der DDR, in: Energietechnik, 7, 1985, S. 242. 182 Ufer, D.: Gesellschaftlich notwendige Anforderungen an Strukturveränderungen der Energiewirtschaft in den kommenden Jahrzehnten, in: Gesellschaftlich notwendige Anforderungen an die Entwicklung der Energiewirtschaft in den kommenden Jahrzehnten, Nr. 1/1987, S. 5, 19.

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Extensives Verhalten zeigt die Primärenergiequote hingegen bei Bewertung beider Vergleichsgrößen zu effektiven Preisen, da der Primärenergieaufwand schneller steigt als das produzierte Nationaleinkommen. Um so zwingender wird eine größere physische Primärenergieeinsparung“.183 Die Ausführungen von Schirmer zeigen, daß in den sozialistischen Ländern ein extensiver Primärenergieverbrauch dominierte und ein ressourcensparendes Wachstum nicht möglich war. Die abnehmenden Technologieerträge in den politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften UdSSR, DDR und den Volksdemokratien. Wolfgang Zapf hat die „Theorie der abnehmenden Technologieerträge“ in der Festschrift für Karl Brandt formuliert: „Die Theorie der abnehmenden Technologieerträge erklärt die allgemeinen Gründe für die Erschöpfung der Industrietechnologie und untersucht die Chancen der künftigen Produktivitätsentwicklung. Die Vorstellungen von Giarini / Loubergé184 lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß sich heute die lange erfolgreiche Verbindung von Wissenschaft und Technik lockert und damit Wachstum von Wohlfahrt dissoziiert. Die gegenwärtige Stagnation wird nicht in der mangelnden Expansionsfähigkeit des Konsums und auch nicht in den externen Grenzen des Wachstums (Ressourcenmangel, Pollution), sondern in internen Grenzen der modernen Technologie selber gesehen. Noch in den 1960er Jahren bestand die simple Vorstellung, weiteres Wachstum sei eine einfache Funktion steigender Bildungs-, Forschungs- und Entwicklungsaufgaben. Tatsächlich aber operiert die moderne Technologie wie alle anderen Produktionsfaktoren: Ihr Ertrag nimmt mit steigendem Einsatz ab. Selbst wenn neue Produkte und Verfahren entwickelt und neue Rohstoffe erschlossen werden: Die Kosten der Entwicklung, Lagerhaltung und des Marketing übersteigen die Gewinne des technischen Fortschritts. Die ‚Tertiarisierung‘ der Industrie wächst schneller als die ‚Technisierung‘ der Dienstleistungen, d. h. der Anteil der physischen Produktion geht zurück. Die technologischen Vorteile der Skalenökonomie bleiben hinter den Externalitäten zurück, d. h. die negativen Nebenwirkungen der Massenproduktion nehmen überproportional zu. Die steigende Verwundbarkeit technischer Großsysteme erzeugt politischen Widerstand, d. h. Konzentration und Spezialisierung reduzieren die Wohlfahrt, die die Bürger aus weiterem technologischen Fortschritt erwarten können“.185 Giarini / Loubergé resümieren zu Technologie und Produktionsfunktion: „So the diminishing returns of technology are likely to be all the more noticeable where technological progress is slowing down and its productivity is declining.

183 Schirmer, Gerd: Effektive Energiebedarfsdeckung – ein grundlegendes Erfordernis ressourcensparenden Wachstums, in: Wirtschaftswissenschaft 38, 1990, 4, S. 518 ff. 184 Giarini, O. / Loubergé, H.: The Diminishing Returns of Technology, Oxford 1978. 185 Zapf, Wolfgang: Entwicklungsdilemmas und Entwicklungspotentiale in modernen Gesellschaften, in: Enke, Harald / Köhler, Walter / Schulz, Wilfried (Hrsg.): Struktur und Dynamik der Wirtschaft. Beiträge zum 60. Geburtstag von Karl Brandt, Freiburg i. Br. 1983, S. 240.

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In this case, the prospect is one of a slowdown or even a cessation of growth because the mainspring of growth is broken. Growth is not being held back by its external limits, such as the exhaustion of natural resources or pollution on a catastrophic scale. Long before such disasters, internal limits to growth become apparent and impose a more sensible socio-economic system, at the cost of tensions that will be all the more severe in that they were not foreseen”.186 Der Kölner Betriebswirt Erich Gutenberg hat diese Problematik in den “Grundlagen. Die Produktion“ behandelt.187 Empirische Untersuchungen über die Bedeutung des Ertragsgesetzes „weisen jedoch zumindest für größere Wirtschaftseinheiten auf ertragsgesetzliche Verläufe auch in der industriellen Produktion hin“.188 Die Elementarfaktoren Arbeitsleistung, Betriebsmittel (Arbeitsmittel) und Werkstoffe (= Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital) werden in den sozialistischen Betrieben ebenso kombiniert wie in den marktwirtschaftlichen Unternehmungen. „Wir haben also zu fragen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, wenn der Anteil jedes einzelnen Faktors an dem produktiven Gesamteffekt aller Faktoren feststellbar sein soll. Es werden die Beziehungen zwischen Ertrag und Faktoreinsatzmengen analysiert. […] Die Grenzproduktivität stellt an sich nur ein Verhältnis, und zwar das zwischen den beiden Größen Ertragszuwachs und Faktormengenveränderung an der Grenze des Faktoreinsatzes dar. Führt man, wenn auch nur gedanklich, eine infinitesimale Variation der Faktoreinsatzmengen durch, dann erhält man den Grenzertrag, das Grenzprodukt“.189

186 Giarini / Loubergé: The Diminishing, S. 59. 187 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1951, S. 197 ff. 188 Linde, Robert: Produktion II: Produktionsfunktionen, in: HdWW, Bd. 6, 1988, S. 279. 189 Gutenberg, Erich: Die Produktion, S. 211, 213.

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Das Ertragsgesetz:1) Abnehmende Technologieerträge mit seigendem Einsatz der Produktionsfaktoren in den natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften UdSSR, DDR und Volksdemokratien

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„Die drei Ertragskurven erreichen also nacheinander ihr Maximum, zuerst die Grenzertragskurve, und zwar an der Stelle, an der die Gesamtertragskurve ihren Wendepunkt besitzt, also von zunehmenden zu abnehmenden Ertragszuwächsen übergeht; dann die Durchschnittsertragskurve an der Stelle, an welcher der Durchschnittsertrag gleich dem Grenzertrag ist, das ist an der Stelle, an welcher die Gesamtertragskurve von einer vom Ursprung ausgehenden Geraden (Fahrstrahl) tangiert wird; schließlich die Gesamtertragskurve, und zwar an der Stelle, an der der Grenzertrag gleich Null wird. Die Situation in der ersten und vierten Phase wird auf exzeptionelle Disproportionierungen der produktiven Faktoren, in der ersten Phase insbesondere auf verschwenderischen Einsatz des konstanten Faktors (bzw. der konstanten Faktorgruppe) und in der vierten Phase auf verschwenderische Verwendung des variablen Faktors (bzw. der variablen Faktorgruppe) zurückgeführt. Wenn das Ertragsgesetz gilt, dann verhalten sich die Änderungen der Erträge bei Variation der Einsatzmenge eines Faktors oder einer Faktorgruppe bei gleichzeitiger Konstanz der Einsatzmengen eines anderen Faktors oder einer anderen Faktorgruppe, wie die drei geschilderten Ertragskurven anzeigen. Man kann deshalb auch so definieren: Wenn man die Einsatzmenge eines Faktors (einer Faktorgruppe) bei Konstanz der Einsatzmenge eines Faktors (einer Faktorgruppe) sukzessive vermehrt, dann ergeben sich zunächst steigende, dann abnehmende Ertragszuwächse. Nach Erreichen einer bestimmten Faktoreinsatzvermehrung werden die Ertragszuwächse negativ. Oder, in der Formulierung von Edgeworth:190 Das Gesetz abnehmenden Ertrages gilt dann, wenn der Ertragszuwachs, zurückzuführen auf eine zusätzliche Faktormenge, größer ist als der Ertragszuwachs, den eine zweite gleich große Faktormenge verursacht, unter der Voraussetzung, daß die Einsatzmenge eines anderen Faktors konstant bleibt. Das Gesetz zunehmenden Ertrages gilt dann, wenn der Ertragszuwachs, zurückzuführen auf die erste zusätzliche Faktorvermehrung kleiner ist als der Ertragszuwachs, den eine zweite, gleich große Faktoreinsatzvermehrung zur Folge hat“.191 Die Mikroelektronik zeigte die Grenzen des Stalinschen Industrialisierungsmodells auf wie Abel Aganbegyan, der Wirtschaftsberater von Gorbachev, feststellt: „But it was too late. The economic-administrative structure, which had facilitated the rapid development of basic industries, like coal, steel, railways and heavy engineering, had become sclerotic. It was capable of adapting to new technology, especially micro-electronics which required much more sophisticated, flexible forms of management. Planning targets were more and more fictional, while managers increasingly resorted to the black market for essential inputs. Aganbegyan summarises it in this way: ‘Unprecedented stagnation and crisis occurred during the period 1979-82, when production of 40 % of all industrial goods actually fell. Agriculture declined (throughout this period it failed to reach the 1978 output levels). The use of productive resources sharply declined and the rate of growth of all indicators of 190 Edgeworth, F. V.: Collected Papers Relating to Political Economy, Bd. I, London 1921, S. 63. Johnson, Harry G.: Edgeworth, Francis Ysidro (1845-1926), in: HdSW, 3. Bd., 1961, S. 25 f. 191 Gutenberg, Erich: Grundlagen, S. 215 f.

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efficiency in social production slowed down: in effect the productivity of labour did not increase and return on capital investment fell, aggravating the fall in capitaloutput ratio”.192 Der DDR-Ökonom Heinz-Dieter Haustein schreibt dazu: „Als 1973 der Erdölpreis explodierte, freute sich GOSPLAN in Moskau und sah keine Notwendigkeit der Reform. Die zusätzlichen Milliarden Rubel wurden nach wie vor in die alten Industriezweige, in die Schwerindustrie investiert. Die Amerikaner dagegen hatten bereits ihren ersten Mikroprozessor. Im Juni 1985 organisierte ich mit Harry Maier die Internationale Konferenz über Lange Wellen mit Wissenschaftlern der BRD, DDR, USA, UdSSR, Großbritannien, Österreich, Italien, Schweden, Niederlande, Dänemark, Ungarn, Bulgarien, China. Ich hatte schon 1967 die deutschen Patenterteilungen von 1877 bis 1907, 1908 bis 1938 und 1948 bis 1963 analysiert. Bei der Untersuchung der sowjetischen Daten seit 1950 zeigte sich deutlich der Abschwung der dynamischen Effizienz der Industrie und noch kein Aufschwung auf Basis neuer Technologien“.193 Innovationen, insbesondere Kommunikationstechnologie, konnten in der Wirtschaft der Sowjetunion die abnehmenden Technologieerträge nicht auffangen. Es gab keinen Strukturwandel. Die Ökonomen bezeichnen diesen Tatbestand als extensives Wachstum. Stalin lebte in seinem Modell des vorrangigen Wachstums der Produktionsmittelindustrie weiter.

192 Walsh, Lynn: The Economics of Perestroika, in: Militant International Review, No. 37, Summer 1988: Besprechung des Buches „The Challenge“ von Abel Aganbegyan. 193 Haustein, Heinz-Dieter: Erlebniswissenschaft. Wirtschaftswissenschaft in Ost und West aus der Erfahrung eines Ökonomen, August 2011.

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3. Die Ursachen der Mangelwirtschaft: In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft konnte der Konsument nie seine individuelle Präferenzstruktur realisieren Zu den Hauptursachen des Zusammenbruchs der UdSSR zählt Paul R. Gregory die „Unfähigkeit des Systems, die Produktion mit der Nachfrage der Bevölkerung zur Deckung zu bringen“. „Das Ergebnis einer Zunahme der Ressourcen für den Konsum wäre eine zufriedenere Bevölkerung gewesen, die vielleicht effektiver gearbeitet und das Regime stärker unterstützt hätte. Doch das Problem der sowjetischen Verbrauchermärkte bestand nicht wirklich in der Quantität der verfügbaren Ressourcen, sondern in der Unfähigkeit des Systems, die Produktion mit der Nachfrage der Bevölkerung zur Deckung zu bringen. Eine Zunahme der Ressourcen für den Konsum hätte wahrscheinlich zur Produktion von mehr Gütern geführt, die bei den Verbrauchern teilweise auf keine Nachfrage gestoßen wären“.194 In der Sowjetunion wurde die „Konsumgüterversorgung von der großen Mehrheit der Befragten (1983/88) negativ beurteilt, fast die Hälfte stufte sie sogar als äußerst unbefriedigend ein“.195 In der Marktwirtschaft werden Produktion und Nachfrage (Absatz) permanent aufeinander abgestimmt, da das Produktionsprogramm aus dem Absatzplan entwickelt wird. „Typisch für die Marktwirtschaft ist, daß es autonome Unternehmungen gibt, die selber für ihren eigenen Erfolg und Fortbestand zu sorgen haben. Eine Unternehmung, die ihren Fortbestand sichern und darüber hinaus Erfolge in Form finanzieller Überschüsse oder auch in anderer Form erzielen will, ist vor allem darauf angewiesen, daß die von ihr erzeugten Güter auf dem Markt abgenommen werden; erreicht sie dies nicht oder nicht in hinreichendem Maße, so droht ihr der Ruin. Typisch für die Marktwirtschaft ist weiter, daß die Unternehmung auf dem Absatzmarkt dem Wettbewerb anderer Anbieter ausgesetzt ist, die in der gleichen Lage sind. Aus dieser Situation ergibt sich, daß die absatzwirtschaftliche Tätigkeit einer Unternehmung ganz von dem Ziel beherrscht ist, Nachfrage für das eigene Angebot zu finden und zu wecken“.196 „Das Wort Nachfrage pflegt für den Markt eines einzelnen Gutes jene Menge zu bezeichnen, die von einem bestimmten Gut – sei es Sachgut, sei es Dienst oder Leistung – bei einem bestimmten (bekannten oder erwarteten) Preise (in Geldein-

194 Gregory, Paul R.: Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 317. 195 Merl, Stephan: Von Chruschtschows Konsumkonzeption zur Politik des “Little Deal” unter Breschnew, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 306. 196 Hax, Herbert: Absatz, in: HdWW, 1. Bd., 1988, S. 2.

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heiten ausgedrückt) von einem oder vielen Wirtschaftssubjekten gekauft (verlangt, gesucht wird. Als Träger der volkswirtschaftlichen Endnachfrage und der abgeleiteten Nachfrage sind bei genauerer Analyse die einzelnen Wirtschaftssubjekte (Haushalte, Unternehmungen usw.) anzusehen, aus deren individueller Nachfrage sich die Nachfrage auf einem Markt zusammensetzt“.197 „Die Nachfrage des Haushalts hängt bei gegebenem Einkommen und gegebenen Preisen von der individuellen Präferenzstruktur des betrachteten Haushalts ab. Zur Lösung des Effizienzproblems bestimmt der Haushalt diejenigen Konsumaktivitäten, durch deren Realisierung er sich bei gegebener Einkommensrestriktion und Konsumtechnologie die größtmöglichen Mengen von Gütereigenschaften verschaffen kann“.198 Bedarf und Nachfrage. „In der Marktwirtschaft steht dem Wirtschaftssubjekt ein Geldeinkommen pro Wirtschaftsperiode zur Verfügung: es teilt dies neben dem sonstigen Verfügbaren auf die Bedarfe auf, die es im Wege des Kaufes auf dem Markte deckt. Vom Standpunkt der anbietenden Unternehmungen an diesem Markt kann man jene Bedarfe vereinheitlicht und als eine Gesamtheit sehen, als die Nachfrage an diesem Markt. Bedarfe treten also in allen Wirtschaftsformen auf, Nachfragen nur in gewissen. Die Vereinheitlichung von Bedarfen geschieht durch ihre Ausrüstung mit Kaufkraft: den Unternehmungen am Markt tritt für ihr Warenangebot eine Kaufkraftmenge von gewisser Mächtigkeit entgegen. Bedarf und Unternehmung. Im Gegensatz zu den Vorhaben, die sich auf die Nachfrage als das am Markt beobachtbare Ergebnis ökonomischer Erwägungen beziehen, muß die betriebswirtschaftliche Marktforschung gerade ‚von innen‘ her die möglichen Abnehmer gewisser Produkte verstehen, wenn sie die Frage der Unternehmungen, ob und in welchem Umfang ihre Produkte wahrscheinlich gekauft werden, beantworten will. Sie sucht über die Beobachtung der am Markt auftretenden Bedarfe hinaus die Bedürfnisse und die Erwägungen, die Willensbildungen zu erfassen, die zu Kaufentschlüssen führen (motivation research). An der Theorie für diese Bedarfsforschung haben Vershofen, Schäfer, Bergler, Nicklisch, Sandig u. a. mitgearbeitet. Als Exportmarktforschung wendet sich die Marktforschung den Auslandsmärkten zu“.199 Seit der Antike handelte der Fernkaufmann absatzbezogen. Je mehr Arbeitsteilung und Verkehr sich entwickelten, umso mehr war der Produzent auf den Absatz seiner Erzeugnisse angewiesen. Je ausgedehnter aber das Absatzgebiet, umso schwieriger war dasselbe zu übersehen. Produktion und Absatz mußten immer aufeinander abgestimmt werden. Vom Absatz her erhielt der Unternehmer Signale und mußte dann handeln, da sonst das oberste Ziel, der Gewinn, nicht erreicht wurde. Der Gewinn gab immer die Orientierung und den Kompaß für das Han197 Kromphardt, Wilhelm: Nachfrage, in: HdSW, 7. Bd., 1961, S. 497 f. 198 Luckenbach, Helga: Nachfrage des Haushalts, in: HdWW, 5. Bd., 1988, S. 300 f., 309. 199 Stein, Otto: Bedarf und Bedürfnis, in: HdSW, 1. Bd., 1956, S. 712, 716.

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deln. Produktion und Absatz waren in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft nicht aufeinander abgestimmt. Die Produktion wurde im Sozialismus immer ein Jahr im voraus bestimmt. Für alle Konsumbereiche wurde der Pro-Kopf-Bedarf an Lebensmitteln, Kleidung, dauerhaften Konsumgütern, Wohnung, Freizeit und öffentlichen Dienstleistungen200 für mindestens 1 Zentralplanjahr geplant und auch durchgeführt, d. h. der Pro-Kopf-Bedarf der Bevölkerung mußte aggregiert werden, um die zu produzierenden Warenmengen festzulegen. Schon 1951 hatte Kenneth J. Arrow nachgewiesen, daß die Aggregation individueller Präferenzen wissenschaftlich nicht möglich ist.201 „Arrow beweist, daß keine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion existiert, die diesen fünf Bedingungen genügt (Unmöglichkeitstheorem) Im allgemeinen ist somit keine konsistente Aggregation der individuellen Präferenzen möglich“.202 Die fundamentalen Unterschiede zwischen einer Marktwirtschaft und einer politisch gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft sollen an einem Beispiel aufgezeigt werden. Ulbricht betonte „am 10. Juli 1970 in der Bauakademie: Es sei schon eine solche Lage entstanden, daß die Menschen in den kapitalistischen Ländern in der DDR das Beispiel eines Modells des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in Europa sehen. Dies sprach er in Rostock und in der Bauakademie zu einem gleichen Zeitpunkt aus, als in der DDR im Ergebnis seiner Politik ‚überholen ohne einzuholen‘ große Versorgungsschwierigkeiten bei Waren des täglichen Bedarfs auftraten, einschließlich Zahnbürsten und Scheuerlappen“.203 Im Jahreszentralplan der DDR wurde die Produktion von z. B. 100.000 Scheuerlappen festgelegt und so konnten diese Lappen in den Kaufhäusern zum Kauf angeboten werden. War die Gesamtnachfrage größer als die produzierte Menge, waren die Lappen schon vor Jahresende verkauft und die Verkäuferin mußte zu einem Käufer sagen: Haben wir nicht. Wenn in der Marktwirtschaft der Ausverkauf einer Ware drohte, orderte das Kaufhaus beim Unternehmer, der Scheuerlappen produzierte, weitere Scheuerlappen nach und der Unternehmer begann zu produzieren und zu liefern, bevor die letzten Scheuerlappen im Kaufhaus verkauft wurden. So wurde in der Marktwirtschaft immer die Produktion jedes einzelnen Gutes auf die Nachfrage abgestimmt.

200 Merl, Stephan: Von Chruschtschows Konsumkonzeption zur Politik des “Little Deal” unter Breschnew, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 289. 201 Arrow, Kenneth J.: Social Choice and Individual Values, New York, London 1963. 202 Frey, Bruno S. Wohlfahrtsökonomik. III: Wahlverhalten, in: HdWW, 9. Bd., 1988, S. 494 f.: Das Aggregationsproblem: Arrows Unmöglichkeitstheorem. 203 SAPMODY 30/2119: Zur Korrektur der Wirtschaftspolitik Walter Ulbrichts auf der 14. Tagung des ZK der SED 1978, S. 98-123.

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Siegfried Suckut sichtete 45.000 Blätter aus Stasi Akten. Die Akten waren Privatbriefe an die DDR-Regierung.204 Die Briefe reflektieren die Stimmung der DDR-Bürger zur SED-Regierung im Zeitraum zwischen 1964 und 1989.205 Auch hier stand das Modell Sowjetunion Pate. Etwa 10 bis 20 Prozent der sowjetischen Bevölkerung schrieb Briefe an die Machthaber in der Sowjetunion. „Die Briefe schoben systemkonform die Schuld immer auf eine untergeordnete Person, bei der Warenversorgung zum Beispiel auf Handelsangestellte“.206 Das Regime in der Sowjetunion ging mit den Klagen der Bevölkerung über Versorgungsmängel offen um, während in der DDR die Schilderung der Realität der Versorgungsmängel als subversiv angesehen wurde. Die Auswerter im Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung XX, ordneten die kritischen Zuschriften undifferenziert den „Hetzschriften“ zu.207 Hier werden von den 248 Privatbriefen, die Suckut publizierte, einige wiedergegeben, die sich mit dem minderwertigen sozialistischen Geld der DDR und der konvertiblen Hartwährung Deutsche Mark (DM) auseinandersetzen: Februar 1970: Brief mit Absender und Unterschrift aus Meißen an das ZK der SED:208 Der Sozialismus ist doch nicht wirklich zu erwarten, wenn man durch Verwandte im Ausland oder in Westdeutschland aus der DDR gegen drüben eingezahlte harte Währung kaufen kann.209 Dann gibt es sofort einen Wagen, einen Badeofen, Kacheln usw. Die Vermittler sind ausländische Firmen. Was ist das für ein Gestrüpp? August 1970: Handschriftlicher Brief mit Absender und Unterschrift eines Dresdener Altgenossen an Walter Ulbricht:210 Wir Genossen wollen ein einheitliches Deutschland, in dem wir leben und verdienen können und nicht so wie bis jetzt, daß alles nur auf Krampf geht und wir belogen und betrogen werden. Wir brauchen ja uns nur unsere Mark annehmen, mit der können wir uns den Arsch abwischen, weil die im Ausland fast keinen Wert hat. Für die Mark aus Westdeutschland kann man in jedem Staat etwas kaufen, für unsere dagegen nichts. Wir 204 Suckut, Siegfried (Hrsg.): Volkes Stimmen. „Ehrlich, aber deutlich“ – Privatbriefe an die DDR-Regierung, München 2016. 205 Die Stimmungsberichte von Suckut erinnern an: Evans, Richard J. (Hrsg.): Kneipengespräche im Kaiserreich. Die Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892-1914. Reinbek bei Hamburg 1989. 206 Merl, Stephan: Von Chruschtschows Konsumkonzeption zur Politik des „Little deal“ unter Breschnew, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 299 ff. 207 Suckut, Siegfried (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit, Definitionen zur „poltischoperativen Arbeit“, 3. Aufl., Berlin 2001, S. 170-172. 208 Suckut, Siegfried (Hrsg.): Volkes Stimmen, S. 146 f., 149. 209 Über den in Ost-Berlin ansässigen Genex-Vertrieb konnten westliche Auftraggeber in der DDR nur schwer erhältliche höherwertige Konsumgüter, etwa PKW aus DDR-Produktion, zu DM-Preisen bestellen und sie an DDR-Bürger ausliefern lassen, siehe dazu Volze, Armin: Die Devisengeschäfte der DDR. Genex und Intershop, in: Deutschland Archiv, 24. Jg. 1991, S. 1145-1159. 210 Suckut, Siegfried (Hrsg.): Volkes Stimmen, S. 151.

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verstehen es bloß nicht, daß die Leute in Westdeutschland fast das Doppelte verdienen und die Ware trotzdem dort billiger und besser ist. Das liegt aber bloß an unseren „Wasserköpfen“ in der Regierung und die Arschleckerei mit dem Russen, der uns Deutsche nicht leben und sterben läßt und uns, wenn es ginge die Haut vom Körper abziehen möchte. Oktober 1977: Brief mit Absenderangabe aus Altrosenthal an die SED-Bezirksleitung Rostock:211 Liebe Genossen! Als alter Genosse muss ich heute einmal schreiben und die Stimmung des Volkes mitteilen. Das Volk macht sich mit Recht lustig über unsere Politik, indem das Westgeld mehr zählt als unsere eigene DM. Früher haben wir Leute eingesperrt, die fremde Valuta hatten, heute sind diese grosse Leute im Intershop. Der Arbeiter kann hier Ersatzteile und dergleichen mehr bekommen aus unserer Produktion, die es in keinem anderen Laden gibt. Für Erzeugnisse und Genussmittel aus kapitalistischen Ländern würde man es eventuell noch verstehen, wenn auch mit Widerwillen. Kein Wunder, dass die Leute schon sagen: „Der Sparer von heute ist der Verlierer von morgen“. Also das Gegenteil, was einst unser Wilhelm Pieck sagte. Im Westen gibt es alles zu kaufen und obendrein noch Arbeitslose in guter Qualität du bei uns gibt es den „Hammernicht“ und das 32 Jahre nach dem Krieg. Kein Wunder, wenn das Volk murrt und den Sozialismus und Kummunismus verspottet und verhöhnt und schimpfen. Man sagt Kummunismus und Sozialismus heisst für das Volk in Armut leben. Von der Wirtschaftsführung habt Ihr nichts gelernt. Die Kapitalisten verstehen, die Produktion zu leiten, wir nur verwalten mit unproduktiven Kräften. Mai 1978: Anonymer Brief aus Schönebeck an den Staatsratsvorsitzenden:212 Natürlich ist der Bedarf an besseren und guten Waren selbstverständlich und muß auch für den Arbeiter da sein. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus! Es werden Interjopläden [!] eröffnet und andere Läden für teure DDR Mark, wo es alles gibt. Ja aber für wen? Nicht für den Arbeiter nein! Ein Arbeiter kann sich das nicht leisten. Also sind die Läden nur für die Großen, die ein paar tausend Mark verdienen da, und für die, die schon von Westdeutschland mit Waren versorgt werden. Bitte bedenken Sie, es sind noch ein großer Prozentsatz der Bevölkerung die keinen in Westdeutschland haben. Wir können also weder im Interjop, noch in den teuren Laden kaufen gehen, weil es zu teuer ist. So bleibt für den einfachen Arbeiter das Konsumkaufhaus und HO-Kaufhaus und da gibt es ja keine besonderen schönen Sachen. Außerdem ist die Versorgung in den Kleinstädten und Dörfern sehr schlecht. Es werden nur die Bezirksstädte gut beliefert. Man könnte ja so vieles aufzählen, aber das wäre ja so unendlich. Und wir haben ja auch wenig Hoffnung, daß sich etwas ändern wird. Juni 1978: Anonymer Brief an Erich Honecker aus Dresden: 213 Was ist denn nur in der sogenannten DDR los? Wenn man die 8. ZK Tagung liest, könnte man zu der Meinung kommen bei uns sei alles in Ordnung. Aber dem ist ja gar nicht so. In Reden und in der Zeitung 211 Ebd., S. 226 f. 212 Ebd., S. 234 f. 213 Ebd., S. 237-241.

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auf dem Papier ist bei uns immer alles in Ordnung, die Pläne sind alle erfüllt und übererfüllt. Doch zu kaufen gibt es nichts. Sowie 3 Tage warmes Wetter herrscht gibt es nichts mehr zu trinken. Geht man die Berliner Straße in Görlitz hinunter da hängen an den Eingangstüren der Lebensmittelgeschäfte Schilder mit der Aufschrift Getränke ausverkauft. Geliefert wird einmal in der Woche und wenn Dienstags Vormittag Getränke geliefert werden sind sie [am] Nachmittag alle und dann gibt es die ganze Woche nichts mehr. Was sind das für Zustände? Das ist ja wie im Mittelalter, soll das der Sozialismus sein? Dann danken wir recht schön und wünschen uns sofort wieder kapitalistische Handelstätigkeit. Dort passiert so etwas nicht. Wir sind gerade erst von einer Besuchsreise unserer Tochter in Mannheim BRD zurück. Dort gibt es alles in Hülle und Fülle dort kommt es niemals vor das es die ganze Woche nichts zu trinken gibt. Dort gibt es auch Schinken geräuchert und gekocht in jeder beliebigen Menge der bei uns nur für bestimmte Kunden unter dem Ladentisch hervorgeholt wird. Was sind das für Zustände? Ist das der Sozialismus? Da gibt es keine Tomaten keinen Blumenkohl und die Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden. Was sind das für Zustände? Mit unserer DDR geht es immer mehr bergrunter und das nach fast 30 Jahren sogenanntem erfolgreichen Aufbau des Sozialismus. Es ist ein Jammer was die sogenannte Arbeiter und Bauern Macht aus Deutschland gemacht hat. Einen unterernährten und armseligen Staat wo es einfach nichts mehr gibt. 1948 gab es in Görlitz auf der Berliner Straße ein Geschäft wo es Schreibmaschinen zu kaufen gab. Gehen sie mal heute sie können drei Tage in Görlitz herumlaufen, sie finden nicht ein einziges Geschäft welches Schreibmaschinen anbietet. In der BRD gibt es die in jeder Menge und in allen nur denkbaren Ausführungen in der DDR nichts. Die Versorgung mit Fleisch und Wurstwaren ist ebenfalls immer schlechter geworden. Und das bißchen Fleisch und Wurst was wir noch haben, das schleppen uns unsere besten Freunde die Pollaken noch weg. Was ist denn das für ein jämmerliches Staatsgebilde was seinen Bürgern nichts zu bieten vermag als große und lange Reden. Was ist denn das für ein Staat der seine Bürger einmauern muß damit sie ihm nicht davon laufen. Und der an seiner Westgrenze Minenfelder und Selbstschußanlagen und Metallgitterzäune errichten muß nur damit ihm seine Bürger nicht davon laufen. Die Beispiele das es mit unserer Versorgung von Jahr zu Jahr schlechter wird könnten beliebig fortgesetzt werden, es geht immer mehr bergrunter und da stellt man sich hin und faselt auf dem 9. Parteitag vom Kommunismus. Gebe es Gott das wir das nicht auch noch erleben müssen denn dann gibt es überhaupt nichts mehr. Da bekommt jeder im Jahr einen Arbeitsanzug und sonst nichts. Was ist denn das für ein Staat? Der es fertig bringt seinen Bürgern für teures Geld die herrlichsten waren vom absterbenden Kapitalismus anzubieten? Vom Kapitalismus der zum absterben verurteilt ist. Aber seine Konsumgüter die in Aufmachung und Geschmack dem Sozialismus tausendfach überlegen sind, die werden angeboten. Will man etwa damit die Überlegenheit des Sozialismus beweisen, da muß doch jemand schon irre im Kopf sein. Was ist denn das für ein Staat wo es solche schleichenden Preiserhöhungen gibt wie bei uns bei Textilien und Schuhwaren?

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Wir haben beide nur die Mindestrente und heute bekommt man unter 100 M keine Hose oder Jakett mehr. Ist das der Staat der Arbeiter und Bauern? Dann danken wir schön und bereuen es bitter, das wir nicht schon längst abgehauen sind. Die Arbeiter und Bauern Macht sollte sich schämen wenn sie nicht in der Lage ist für eine ausreichende Getränkeversorgung zu sorgen. Im Winter werden die Zeitungen voll geschmiert wie gut sich die Getränkehersteller auf den Sommer vorbereitet haben und sowie es drei Tage warm ist gibt es nichts mehr. Es ist ein wahrer Hohn August 1978: Anonymer Brief an das „Neue Deutschland“:214 Betr.: Einige reale Stellungnahmen zum real existierenden sogenannten Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik! Einkaufsmöglichkeiten für die Klassen, Gruppen, Schichten und die anderen in der DDR noch vorhandenen Menschengruppen: An- und Verkaufsgeschäfte: – für arme Leute, Sozialrentner, Kleinverdiener und die noch vielen anderen sozial und finanziell schlecht gestellten Bürger! Konsum – HO – noch bestehende Privatgeschäfte: – für ganz einfache Normalbürger und Normalverbraucher! Exquisitgeschäfte: – für Neureiche, Emporkömmlinge und Bürger, die vergessen haben, daß auch sie einmal arme Leute, Proleten usw. waren! Sondergeschäfte – Magazine usw.: – für Hohe Partei- und Staatsfunktionäre, die jetzt genau so leben und handeln, wie die altenkapitalistischen Funktionäre – sie erhalten alles, was sie sich wünschen, was sie brauchen und haben wollen. Sammeln Gold-, Kunst- und Wertgegenstände in Kisten, da sie selbst kein Vertrauen zu ihrer real existierenden sozialistischen Geldwährung haben! Intershop – Intershop!? – für Bürger und Funktionäre mit sehr guten Beziehungen und besten Verbindungen zu den Menschen im anderen Teil Deutschlands – im „Goldenen Westen“! Verbindungen über 3. Personen: Opa, Oma, Onkel und Tanten. Betteln bei ihren Bekannten und Verwandten um harte Währung – geben Meldungen über die teure und miese Versorgungslage in der DDR nach Westdeutschland und damit für die kapitalistischen Massenmedien Propagandamittel gegen die DDR und machen große Reklame für die „goldene“ westliche, billige Lebensweise. Sie schädigen damit das Ansehen der DDR in Westdeutschland und in der ganzen kapitalistischen Welt! Der Intershop ist eine Blamage für die Partei- und Staatsführung der DDR und eine Beleidigung der Bürger, die keine Möglichkeit haben, harte Währung zu erhalten. Die Westmark – eine zweite in der DDR geltende Währung! Und dies im real existierenden Sozialismus!? Wie sieht es denn erst in der DDR aus, wenn wir den Kommunismus haben? Nutten und Huren sind die besten Kunden im Intershop, der Staat steckt die harte Währung ein und betätigt sich damit als Zuhälter! All dies ist eine große Blamage für die SED und die Regierung – die sogenannte Arbeiter- und Bauernpartei – die Arbeiter- und Bauernmacht – die „Partei des ganzen Volkes“. Ja, in der SED ist alles möglich und unmögliche „Volk“ der DDR zusammengefaßt – nur sehr wenige wirkliche Arbeiter – Werktätige! 214 Ebd., S. 241 f.

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März 1979: Anonymer Brief an Erich Honecker:215 Genosse Honecker. Wie kommst Du dazu, die Menschen in der DDR so auszunutzen, da war es ja bei dem Ulbricht noch besser, da bekam man wenigstens noch die Ware in guter Qualität. Kauft man heute ein Wäschestück z. B. da bekommt man keine Baumwolle mehr, sondern alles nur in Mischware. Wenn es schon mal was Normales gibt, da muß man schon wieder Überpreis zahlen und so ist es mit allem was man kauft alles ist minderwertige Ware, weil alles in den Westen geht für gute DM. Wielange soll das noch so weiter gehen? Ihr leidet natürlich keine Not und kauft euch alles was das Herz begehrt sogar die Möbel in Westberlin, ja wir sind gut informiert, wenn man so mit dem Arbeiter umgeht, da wollt ihr euch wundern wenn keiner für diesen Staat Interesse zeigt. Wenn ihr wüßtet wie es unter der Allgemeinheit brodelt, aber die Hitlerzeit ist auch mal vorbei gegangen, dann werdet ihr euch noch wundern. Was ist denn in der DDR schon billig, das einzige die Mieten, und das auch nur auf Kosten der Hauswirte, die können für die wenige Miete nichts in Stand setzen, denn von was sollen sie das bezahlen, dadurch sind die Häuser ja auch in solchem schlechtem Zustand. Alles andere ist doch viel teurer als in der Bundesrepublik, obwohl die Löhne erst mal ein Drittel ausmachen. Dann mit den Wucherläden, wie werden die Arbeiter ausgenutzt?? Im Westen bekommt man das für viel weniger Geld und verdient das Dreifache. Warum werden die Preise für Genußmittel nicht mal runtergesetzt, denn die alten Leute können sich doch nicht den teuren Kaffee kaufen und die teure Schokolade. Im Westen ist der Kaffee zum Beispiel schon dreimal runtergegangen, weshalb nicht in der DDR. Die Mehrheit möchte mal in den Genuß von normalen Preisen kommen, und sich Kaffee wie im Westen für sieben DM kaufen können, denn so sind die Preise doch für den Mocca. Warum werden die Preise immer noch nicht an den Westen angepaßt, denn beim Pfund (500 Gramm) 30 Jahre nach dem Krieg würde es ja mal Zeit, das wir normale Zustände bekommen, und auch solche Löhne wie im Westen. Kauft man Möbel, da muß man rumlaufen, obwohl das alles dreimal so viel kostet als wie im Westen, und gibt es schon mal was, dann kommen bei den lieben Verkäuferinnen erst mal die lieben Verwandten und Bekannten dran, alles was knapp ist geht unter dem Ladentisch weg, und die Allgemeinheit macht den Dummen. Sowas gibt es auch nur in der DDR, der Geschäftsmann im Westen ist froh, wenn er an jeden verkaufen kann, und da kann man noch runterhandeln bei Barzahlung. Ein privater Geschäftsmann hat doch viel mehr Interesse am Verkauf als in der DDR, die bekommen ihren Lohn so oder so. Das Fleisch kostet in der DDR genau so viel wie im Westen, nur muß man beim Rindfleisch noch aufpassen, daß man nicht Kängurufleisch bekommt, ja das gibt es! Die Nazis waren große Stromer, aber das System ist in der DDR das gleiche, keiner darf was sagen, sonst wird er abgeholt auf Nimmerwiedersehn. Bei Ihnen kann das Leben ja so weitergehen, denn Sie leiden ja keine Not und haben alles in Überfluß, mit Ihnen meine ich den ganzen Stab der davon profitiert. Hoffentlich werden sich Recht bald Du und Deine Genossen dafür verantworten müssen, was Ihr Euch an der Menschheit versündigt habt. 215 Ebd., S. 252 f.

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Hoffentlich wird es bald mal anders. Ein ehemaliger Genosse von Dir. Januar 1980: Anonymer handschriftlicher Brief eines Lehrers an Erich Honecker:216 Haben wir es wirklich nötig, uns unseren Wohlstand mit der westdeutschen Währung zu erkaufen? Ich kann es einfach nicht verstehen, daß wir es zulassen, daß die Bürger mit Geld aus der BRD einen höheren Lebensstandart [!] erworben haben als unsere fleißigen Bürger unserer sozialistischen DDR? Wie kann die Partei und Regierung es zulassen, daß sehr viele staatliche Leiter und Parteifunktionäre ihren Wohlstand durch Währungen des westlichen Auslandes verbessern. Solche Funktionäre können in ihrer politischen Arbeit kein positives Echo erreichen. Unter Wohlstand verstehe ich zum Beispiel Import von Autos, Garderobe, komplette Wohnzimmer und Badeinrichtungen usw. Februar 1980: Brief eines Cottbuser Bauarbeiterkollektivs an das ZK der SED: 217 Absender: Bauarbeiterkollektiv Cottbus – WGB XIII. Empfänger: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Zentralkommité – Berlin. Werte Genossen! Als Bauarbeiter des größten Baukomplexes in Cottbus müssen wir wieder einmal unsere Sorgen und Beschwerden an Euch richten. Wir sind mit der gegenwärtigen Lage hier nicht mehr einverstanden. Immer mehr Sand kommt in das Getriebe unserer Wirtschaft, die Versorgung wird schlechter, die Preise steigen.  Die Warendecke bei Industriewaren wird immer dünner. Vor dem Fest gab es in unserem Warenhaus Konsument keine Bettwäsche, Frotté-Sachen (Handtücher) keine da. Gab es welche, durften unsere Frauen nur zwei Stück nehmen. Bettwäsche nur einen Bezug oder ein Lagen.  Die Tausend kleinen Dinge werden immer weniger. Das Angebot in den Eisenwarenläden ist mangelhaft. Kaum Schrauben, keine Nägel, keine Bohrer, Mangel an einfachem Werkzeug, keine guten Küchenmesser – nur aus Blech – Spezialwerkzeug für einen Handwerker nicht zu bekommen.  Für die besseren Herrschaften gab es gutes Bier, in den Offizierskasinos, bei den Parteifunktionären war Importbier vorhanden. Für uns Arbeiter nicht mal ein richtiges Pils, nur Dünnbier oder hinter dem Ladentisch für die guten Bekannten.  Gute Fischbüchsen offiziell nicht zu haben. Sardinen aus Marokko trugen das Produktionsjahr 1975 wahrscheinlich Aussonderungen aus den Staatsreserven. Für die Arbeiter gut genug, wenn sie welche bekommen.  Eine Frechheit im Angebot ist der olle Westkaffee Jacobs für 27 Mark. Die Trumpfpralinen zu hohen Preisen. Vor drei Jahren waren sie billiger. Schuhimporte die nichts taugen. Können wir dafür unsere Devisen ausgeben. Entweder gute Ware oder lieber unsere eigenen Produktion die exportiert wird und gut ist.

216 Ebd., S. 268 f. 217 Ebd., S. 270-273.

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 Die Maschinen- und Ersatzteilversorgung ist eine große Pleite. Nicht nur Großmaschinen sondern Kleintechnik erleichtert die Arbeit. Gute kleine Planierraupen aus Bulgarien oder mittelgroße Fiatraupen.  Liefertermin für Werkzeuge laufen bis zum Jahr 1985 das ist ein Hohn. Die Steigerung der Produktivität wird nur auf dem Papier nachgewiesen. Verpflichtungen im Tagebau Jänschwalde zur Einsparung von Stunden bestehen darin, dass die Arbeitszeiten und Pausen eingehalten werden. Der alte deutsche Arbeiterstolz ist tot. Klauen, schieben und drücken ist die Parole. So geht es nicht.  Ihr werdet von den unteren Funktionären nur belogen. Unsere Kritiken werden unterdrückt. Falschmeldungen führen zu falscher Einschätzung an zentraler Stelle.  Meldet Eure Besuche auf Baustellen und in Betrieben nicht an. Fahrt mit hohen Funktionären unangemeldet aufs Land und taucht plötzlich in Betrieben und Einrichtungen und vor allem in der Landwirtschaft auf – Euch würden die Augen aus dem Kopf fallen. Wo Ihr hinkommt nach vorheriger dicker Anmeldung wird alles auf den Kopf gestellt. Alles wird vorbereitet, der letzte Dreck aufgeräumt und Ihr seid geblendet. Traut Euren unteren Funktionären nicht, sie lügen. Wer will sich schon von Euch eine Kritik einhandeln also kommt Schönfärberei.  Mehr Handwerker in allen Fachgebieten zulassen. Aber dafür sorgen, dass [sie] nicht gleich für Investitionen bilanziert werden, sondern Reparaturen ausführen. Dann hören die Schwarzmarktpreise nach Feierabend von den in den Betrieben beschäftigten Arbeitern auf. Maurerstunde 10-12,00 Mark. Bei Schlossern bis 10 Mark. Welcher kleine Mann der keinen handwerklichen Beruf hat kann sich das leisten. Den Handwerksbetrieb begrenzen, nur bis vier Mitarbeiter und dazu höchstens zwei Lehrlinge, wir wollen keine kleinen Kapitalisten sondern mitarbeitende Handwerksmeister. Sie sollen ruhig mehr verdienen als wir Arbeiter, aber nicht in Saus und Braus leben, wenn sie zu groß werden. Jetzt werden alle neu zugelassenen Handwerker gleich für Großbauten eingesetzt und verpflichtet – falsch – nur für Reparaturen zulassen, oder bei den Tischlern für Einzelmöbel oder auch Bautischlerei. Es fehlen dringend Klempner, Brunnenbauer, Dachdecker, Elektriker, Schmiede, kleine Schlossereien, Bäcker, Tischler, Uhrmacher, Buchdrucker, Glasbläser. Es ist bei uns alles zu uniformiert. Nur auf der Leipziger Messe dürfen wir uns mal unsere Leistungen der Wirtschaft ansehen, kaufen können wir nichts, wir haben keine Westmark.  Der Verwaltungsapparat muss um mindestens 40 Prozent abgebaut werden. Sesseldrücker mit Beschäftigungstheorie brauchen wir nicht. Die Statistik ist die größte Lüge, das sehen wir besonders im Baufach. Diese Meldungen, auch von der Gewerkschaft sind meistens frisiert und übertrieben auf der anderen Seite.  Die Kriminalität nimmt zu, in der Zeitung wird nichts veröffentlicht. Dann wundern wir uns über Gerüchte. Nennt öffentlich die Verbrechen, es ist zwar nicht schön, aber die Wahrheit und die Gerüchte hören auf. Unsere Zeitungen sind ein Abklatsch vom Neuen Deutschland, so etwas brauchen wir nicht.

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 Täglich erscheinen neue Produkte – besser alte Produkte mit neuem Namen – die dann teurer sind. Das ist die Lüge von gleichbleibenden Preisen. Die Semmel kann ruhig zehn Pfennig kosten, dann wird nicht so viel weggeworfen.  Die Unterstützung der kinderreichen Familien ist gut. Doch prüft einmal in wieviel Fällen das Geld der Unterstützung versoffen wird oder ein liederliches Leben zu Lasten der Kinder geführt wird. Keine Kommission kümmert sich, alles wird beschönigt.  Eure Kreisfunktionäre kommen in unsere Betrieb und Versammlungen und reden langweiliges zeug auch in unseren Parteiversammlungen – zum Einschlafen. Weniger Versammlungen weniger Sitzungen, damit wir unsere Leiter mal sehen, dann wird die Produktivität echt steigen zum Wohle unserer Wirtschaft, das ist unser Ziel. Genossen, beachtet das, man kann es nicht offen aussprechen, dann wird man örtlich niedergeknüppelt und hat nur Ärger, also klatscht man mit und denkt sich den eignen Teil. Das ist der Krebsschaden in unserer Wirtschaft unter den Arbeitern zum Schaden unserer Republik, auf die wir stolz sind. Genossen, führt eine gesunde Außenpolitik, verschenkt nicht unser Volksvermögen und handelt nicht mit Lumpen aus Afrika, sucht treue Partner oder wisst auch Ihr nicht, mit welchem Schweiß wir alles erarbeiten? Wenn sich das nicht bald ändert fällt bei uns Bauarbeitern der Hammer!! Das kann teuer werden. Wir meinen es ehrlich aber deutlich. gez. : Ein Kollektiv von Bauarbeitern! Juni 1980: Anonymer Brief an Erich Honecker:218 Die DDR ist der größte Scheißstaat auf der ganzen Erde. Euch Schweine an der Spitze müßte man einzeln aufhängen, mit dem Kopf nach unten und Euch durchpeitschen.219 Haltet Ihr denn die Bevölkerung wirklich für so doof, daß sie Euch alles glaubt, Eure sogenannten Fortschritte in den letzten 30 Jahren? Merkt Ihr denn nicht, wie bettelarm die DDR ist, wie leer die Geschäfte sind und wie die Preise gestiegen sind. Seht Ihr denn nicht den Unterschied zwischen der BRD und uns? Wir sind doch keinen Schritt weitergekommen, es fehlt an allem, es gibt nicht die lumpigsten Kleinigkeiten zu kaufen. Die Häuser sind verkommen, weil es kein Material für Reparaturen gibt. Ihr müßtet Euch anderen Staaten gegenüber doch in Grund und Boden schämen. In der Weltgeschichte könnt Ihr herumreisen und die Devisen verbrauchen, könnt Bankette geben für Besucher aus anderen Staaten usw. Durch Eure Fresserei mit den Delikatessen, die gewöhnlich Sterbliche nicht einmal zu sehen bekommen, blendet Ihr die Delegationen aus anderen Ländern. Aber die wissen alle Bescheid, wie erbärmlich es uns hier geht. Seht doch einmal die langen Schlangen vor den Gemüseläden, den Fleischerläden, Bäckerläden usw. usw. Die Delikatläden220

218 Ebd., S. 280-282. 219 Ein ähnliches Bild verwendete wenige Wochen zuvor der Schreiber eines Leserbriefs an die „Sächsische Zeitung“, vgl. Dokument 91. Möglicherweise war es derselbe Absender. 220 In den Delikatläden wurden Waren gehobener DDR-Produktion und aus dem Westen Importiertes zu überhöhten Preisen gegen DDR-Mark angeboten.

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müßten gestürmt und ausgeraubt werden, wer kann sich denn das teure Zeug kaufen? Doch nur die Intelligenz, denen Ihr die Gelder in den Arsch stopft!!! Sie, Herr Honecker, sind doch so dumm, daß Sie nicht mal einen einzigen Satz bilden können, ohne ihn von dem Konzept abzulesen. Wo soll es denn auch herkommen? Und Ihre Frau Gemahlin, die geborene Margot Feist, ist den Hallensern noch als FDJ-Früchtchen wohl bekannt. Und so etwas wird jetzt mit dem DoktorTitel angesprochen. Uns könnt Ihr nichts vormachen. Und als sogenannte Lehrerin hat sie auch keinen Ruhm geerntet, trotz ihrer einigermaßen aussehenden Fratze!! Ihr braucht Euch nicht anzustellen und vergeblich in der Stadt herumzulaufen nach allen möglichen vorhandenen und meistens nicht vorhandenen Dingen!! Oder geht zum Beispiel Frau Sindermann221 in die Stadt und stellt sich nach Tomaten an? Herrn Felfes222 Frau in Halle? Euch ganze Brut müßte man vernichten, mit Stumpf und Stiel! Wenn in der BRD etwas teurer geworden ist, reißt Ihr den Schnabel weit auf, und alle müssen es durch die Zeitung erfahren. Und was ist bei uns? Denkt Ihr denn, sogar der primitivste Rentner ist so dumm und merkt nicht die allmählichen Preiserhöhungen? Kauft Ihr Euch auch Bettwäsche für 240,Mark? Wem gehören denn die herrlichen Bungalows beispielsweise am Müggelsee in Berlin? Doch nur Euch Bonzen?!! Warum werden Ausnahmen gemacht, und einige Parteigenossen können nach der BRD fahren, obwohl sie noch nicht das Rentenalter erreicht haben? Die wollen doch nur abschöpfen drüben, dafür sind Devisen da, alles für das Geld der armen DDR-Bürger“ Oh, Ihr Schweine, Euch müßte man ablösen und ein einziges Deutschland aus zwei Staaten machen, wir verblöden ja hier und werden verblödet hinterm Stacheldraht. Meint Ihr denn, der Herr Fischer,223 ein ehemaliger Schneidergeselle, kann uns in anderen Ländern würdig vertreten? Wir werden doch blamiert nach Strich und Faden. Herrn Sindermann hat es wohl auch in Österreich gefallen? Alles für unser Geld.224 Hoffentlich nimmt der ganze Scheißkram bald ein Ende, sonst passiert noch mal was, die Bevölkerung hier ist nicht so dumm, wie Ihr alle denkt, Ihr seid nämlich die Allerdümmsten. Soll man vor Euch noch Achtung haben, vor Menschen, die unsere DDR regieren? Schade, daß es kein KZ bei uns mehr gibt, da gehört Ihr alle hin. Warum werden denn so viele Menschen bei uns eingesperrt? Weil sie mal den Mund aufgetan haben, daß sie mit den Verhältnissen hier nicht einverstanden sind, mit unserem mistigen Scheißstaat. Die Preise werden von Woche zu Woche erhöht, aber die Gehälter und vor allen Dingen de Renten bleiben die gleichen. Oder könnt Ihr etwa mit 270,- Mark Mindestrente auskommen? Ihr Mistviecher! Hauptsache Ihr lebt in Saus und Braus, veranstaltet Orgien in Euren Wochenendvillen und überfreßt Euch, die anderen können ja sehen, wie sie zurecht kommen. Das nimmt alles kein gutes Ende.

221 Ihr Ehemann, Horst Sindermann, war Mitglied des SED-Politbüros und Präsident der Volkskammer. 222 Werner Felfe war Mitglied des SED-Politbüros und Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle. 223 Oskar Fischer war Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. 224 Ende Mai 1980 hatte eine Volkskammer-Delegation unter der Leitung von Horst Sindermann Österreich besucht.

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Eine Gemeinschaft von unzufriedenen DDR-Bürgern. Die Stimmung in der DDR ist mehr als mies!! Durchschlag von diesem Schreiben Erhält die SED-Bezirksleitung Halle SED-Bezirksleitung Magdeburg SED-Bezirksleitung Rostock SED-Bezirksleitung Erfurt Damit die auch im Bilde sind. Juli 1983: Anonymer Brief an die Regierung der DDR:225 An die Regierung! Ich glaube hier richtig zu sein, um meine Fragen, die nicht wenige sind, hier anzubringen. Gern würde ich meinen Namen und den der Mitschreiber darunter setzen. Aber leider geht das ja nicht. In unserem feinen Staat darf ja kein Mensch seine freie Meinung äußern. Dafür haben wir ja vor einiger Zeit Maulkörbe bekommen.226 Nun fragen wir Sie, Herr Staatsratsvorsitzender! Wann endlich dürfen wir freie Menschen sein? Die Sklavenzeit ist doch längst vorbei! Wie lange muß unser bedauernswertes Volk noch hinter Mauern und Stacheldraht, Wachtürmen und Schußanlagen leben? Haben Sie das von Hitlers KZ übernommen? Steht unser nobler Staat auf so wacklichen Beinen? Unsere Menschen sind sehr verärgert, es stinkt im Lande. Soll es erst soweit kommen wie in Polen? Unsere Leute sollen nur immer mehr arbeiten, aber zu kaufen ist nichts mehr da. Ein Staat, der nicht mal ein Taschentuch im Handel anzubieten hat, ist kein Staat! Sollen wir statt Bettücher das Neue Deutschland untern Arsch nehmen? Dann wollen wir doch so kinderfreundlich sein? Man kann den Kleinen nicht mal bisschen Obst geben, von Schokolade gar nicht zu reden. Was ist das für ein Dreck, was da angeboten wird? Möchten mal sehen, so Sie einkaufen? Wir sind im Sozialismus ein Bettelstaat geworden. Man hat uns alles genommen. Unsere Großväter meinen, dafür haben sie nicht gekämpft und gelitten! Wir wollen die FREIHEIT!!! Es wird höchste Zeit, daß da etwas geschieht! Auch wir wollen die Welt sehen und reisen können in alle Welt! Herr Honecker, fahren Sie in Ihre Heimat,227 gehen Sie einkaufen und bringen Sie uns die Freiheit mit. Mit welchem Recht sperrt man uns eigentlich ein? Schaffen Sie Qualitätswaren in die Läden, daß die Arbeit wieder FREUDE macht. Warum müssen wir für unser gutes Geld Ausschuß und Abfall kaufen? Es ist traurig, aber leider wahr! Möchte man etwas Anständiges kaufen, muß man einen Bettelbrief nach Westdeutschland schreiben. Warum hat man Bettler aus uns gemacht? Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen noch Gefahr! Wir wollen frei sein wie die Väter waren, eher den Tod als in der Knechtschaft leben!228 225 Suckut, Siegfried (Hrsg.): Volkes Stimmen, S. 328 f. 226 Gemeint ist das verschärfte politische Strafrecht. Es stellte die „staatsfeindliche Hetze“ und die „öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ unter Strafe. 227 Honecker stammte aus dem Saarland. 228 Rütli-Schwur aus Friedrich Schiller: Wilhelm Tell.

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Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben, an Deines Volkes Aufersteht! Laß diesen Glauben Dir nicht rauben, trotz allem, allem was geschehn!!!!229 Die Unterzeichneten Maxi, Fritzi, Trixi Juli 1984: Anonyme Postkarte aus Bernau an die „Junge Welt“:230 Hallo, ihr bolschewistischen Schmierfinken!! Wenn man euer Blatt aufschlägt, kann man nur das Kotzen kriegen. Nicht der Westen steckt in der Krise, sondern Euer System und das noch nicht mal nach läppischen 35 Jahren. Pfui Teufel!! Zum Glück gibt es aber noch solche realistischen Sender und Stationen wie RIAS, SFB, ARD und ZDF. Es ist einfach eine Frechheit, wenn die Bevölkerung außerhalb von Berlin, vielleicht einmal in der Woche richtig mit Fleisch versorgt wird. Hauptsache die Herren Funktionäre und Parteibonzen haben genug davon (typische Diktatur der Rotärsche). Sollte es aber einmal knallen, weiß ich was mein erster Schritt sein wird. Der Schritt in Richtung Bundesrepublik, der einzige in die wahrhafte Zukunft. Faßt Euch mal zuerst selbst an die eigene Nase, bevor ihr über den „bösen Westen und Kapitalismus“ berichtet. In Wahrheit lechzt ihr doch nach jeder DMark und US-Dollar!!! Ein folgenschwerer Fehler wurde in meinen Augen 1945 gemacht. Die deutsche Wehrmacht und die Alliierten hätten sich damals vereinigen müssen und den Russen an der Oder abgefangen. Dann wären diese Hinterwäldler jetzt nicht in unserem schönen deutschen Lande!! Jeder dreckige Russe der in Afghanistan durch die heldenhaften Befreiungskämpfer draufgeht, ist für mich eine innerliche Befriedigung, leider noch viel zu wenig! Ein stolzer deutscher Bürger!!! Bis jetzt ist aber noch nicht viel möglich, ist doch klar SED / Selten etwas da – Typischer Personenkult und primitives Regime. Oktober 1989: Anonymer Brief aus Ost-Berlin an das ZK der SED:231 Wir behaupten, daß unserer sozialistischen Leistungsgesellschaft die materielle Motivation fehlt. Für gute Arbeit erhalte ich gutes Geld – ist erst die halbe Wahrheit. Es fehlt der Zusatz, daß ich für gutes Geld auch gute Waren in ausreichender Menge usw. erhalte.

229 Gedicht von Albert Matthai, oft fälschlich Johann Gottlieb Fichte zugeschrieben. 230 Suckut, Siegfried (Hrsg.): Volkes Stimmen, S. 333. 231 Ebd., S. 445.

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4. Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR Von Paul R. Gregory Der Kalte Krieg war ein Wettstreit zwischen zwei wirtschaftlichen und politischen Systemen unter Führung der zwei rivalisierenden Supermächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Er war ein Kampf um Herzen, Köpfe und Verbündete, der meist durch andere Mittel als Krieg ausgefochten wurde. Erfolg und Niederlage wurden weithin daran gemessen, wie viel Prozent der Weltbevölkerung – ob freiwillig oder nicht – unter dem jeweiligen System lebten. Mit dem Eintreten des atomaren Gleichgewichts des Schreckens wurde der Kalte Krieg überwiegend mit nicht miltärischen Mitteln geführt. Beide Seiten hielten genügend militärische Macht aufrecht, um die jeweils andere abzuschrecken. Von der sowjetischen Seite wurde die Grundlage des Kalten Krieges mit dem Prinzip der friedlichen Koexistenz beschrieben, das unter Nikita Chruschtschow aufkam und die Rivalität der zwei Systeme in eine wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Wettstreit verwandelte. Es ist bezeichnend, dass dieses Prinzip Mitte der 1950er Jahre formuliert wurde, in den stürmischen Zeiten des Sputnikschocks und hoher Wachstumsraten in der UdSSR. Die friedliche Koexistenz bedeutete einen Wandel der marxistischen Rhetorik, erzwungen von Entwicklungen im Westen, die zu augenfällig waren, um geleugnet zu werden. Die Hoffnung der frühen Jahre des Bolschewismus, ein sinkender Lebensstandard in den entwickelten kapitalistischen Ländern werde eine sozialistische Revolution auslösen, war verschwunden. Stattdessen sollten die Arbeiter im Westen nun durch die Überlegenheit des sowjetischen Systems gewonnen werden. Der Kalte Krieg fand mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991 ein Ende, das ein eindeutiges Urteil in diesem Wettstreit fällte. In den späten 1950er Jahren wurde in den statistischen Handbüchern der UdSSR behauptet, dass ein Drittel der Weltbevölkerung unter ihrem System lebe. Seit den frühen 1990er Jahren ist dieser Anteil auf einen winzigen Prozentsatz gesunken, sofern wir nicht das heutige China als System sowjetischen Typs werten. Beendete die wirtschaftliche Schwäche der UdSSR den Kalten Krieg? Als Erklärung für den Ausgang des Kalten Krieges wird in der Regel die schwache wirtschaftliche Leistung der Sowjetunion angeführt. Hätte sie die Vereinigten Staaten überholt, dann wäre die Sowjetunion nicht zusammengebrochen und der Kalte Krieg wäre weitergegangen. Wachstumsraten sind, ob zu Recht oder Unrecht, der gebräuchlichste Maßstab für wirtschaftliche Leistung. Schaubild 1 zeigt die sowjetischen Wachstumsraten von 1955 bis 1992. Sie sind als Durchschnittswerte berechnet, um die Darstellung von kurzfristigen Schwankungen zu bereinigen. Wie dem Schaubild zu entnehmen ist, waren die Wachstumsraten bis Ende der 1960er Jahre relativ hoch, bevor sie in den 1970er und 1980er Jahren sanken. Dieser langfristige Abschwung wurde als „Phase der Stagnation“ bekannt und vor allem mit der langen Amtszeit von Leonid Breschnew assoziiert.

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Als Michail Gorbatschow im März 1985 Generalsekretär der Kommunistischen Partei wurde, lag die Wachstumsrate geringfügig über 2 Prozent. Für ein Land, das es zu seinem Hauptziel erklärt hatte, den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber dem Westen einzuholen, war eine solche Rate unbefriedigend. Doch wenngleich alles anderes als zufriedenstellend, bedeutet sie nicht zwangsläufig den Untergang. Sie unterschied sich auch nicht wesentlich von den damaligen Wachstumsraten der kapitalistischen Welt: In den fünf Jahren vor Gorbatschows Aufstieg zur Macht betrug sie in den USA 3 Prozent und in der Europäischen Gemeinschaft schwache 1,6 Prozent. Das langsame Wirtschaftswachstum der UdSSR bedeutete nicht unbedingt ein weiteres Zurückfallen hinter den Westen, sondern lediglich das Scheitern ihres Aufholversuchs. Gorbatschow brachte die Reformen seiner Perestroika in den Jahren 1986 und 1987 auf den Weg. Es gilt festzuhalten, dass der tatsächliche Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft erst eintrat, nachdem diese Reformen durchgeführt worden waren; wie Schaubild 1 zeigt, erfolgte er, als das wirtschaftliche und politische System der UdSSR aufgelöst wurde. Mit dem scharfen Rückgang der Produktionsleistung konnte das System nicht länger aufrechterhalten werden. Unsere kursorische Untersuchung der sowjetischen Wachstumsraten zeigt, dass die Führung der UdSSR durchaus Grund zur Sorge hatte. Das niedrige Wachstum, das Gorbatschow bei seinem Amtsantritt vorfand, hätte allerdings auch ein Szenario des „Durchwurstelns“ erlaubt – wozu es wahrscheinlich gekommen wäre, hätte Gorbatschow nicht eine Änderung des Systems in die Wege geleitet. Für einen zuversichtlichen „Reformer“ wie Gorbatschow nämlich war „Durchwursteln“ keine attraktive Alternative. Schaubild 1: Wachstumsraten der UdSSR (gleitende Durchschnittswerte für jeweils 5 Jahre)

Quellen: Greenslade, Rush: The Real Gross National Product of the USSR, 1950-1975, in: Joint Economic Committee, Soviet Economy in a New Perspective, Washington 1976, S. 7780. Directorate of Intelligence, Handbook of Economic Statistics (Soviet economy section), ausgewählte Jahre.

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Zum wirklichen Kollaps des Systems kam es erst nach der Einführung von Gorbatschows Reformen. Die Wachstumsdaten sprechen dafür, dass der Zusammenbruch durch die Perestroika herbeigeführt wurde und somit selbst verschuldet war – eine Art „Suizid des Systems“. Im Folgenden werde ich erörtern, wie das sowjetische System – politisch und ökonomisch – als langsam wachsende Wirtschaft auf unbestimmte Zeit hätte überleben können. Eine kontrafaktische Geschichte: Das sowjetische Wirtschaftswachstum ohne den Kalten Krieg Ist das nachlassende Wirtschaftswachstum auf den Kalten Krieg zurückzuführen? Wäre das Wirtschaftswachstum bei einem Ausbleiben des Kalten Krieges wesentlich höher gewesen? Anders formuliert: War der Kalte Krieg die „Ursache“ für die „Phase der Stagnation“? Diese Frage ist insofern legitim, als der Kalte Krieg den beteiligten Staaten Kosten aufbürdete, die durchaus ihr Wirtschaftswachstum beeinflussen konnten. Sowohl die Vereinigten Staaten wie die Sowjetunion hatten höhere Verteidigungsausgaben zu schultern, als es ohne den Kalten Krieg der Fall gewesen wäre. Außerdem mussten sie mit Entwicklungshilfe und Subventionen darum konkurrieren, Klientenstaaten zu halten oder neu zu gewinnen. Und schließlich brachten die heißen Kriege in der Peripherie, durch die der eigene Machtbereich ausgeweitet beziehungsweise der des Gegner begrenzt werden sollte, weitere Belastungen für die Sowjetunion mit sich, was insbesondere für ihre demütigende Niederlage in Afghanistan gilt. Die Kosten des Kalten Krieges bestanden für die Sowjetunion vor allem in einem höheren Verteidigungsbudget und der Last, ihr Imperium aufrechtzuerhalten. Aufgrund der sowjetischen Geheimhaltung werden wir die exakte Größe ihres Verteidigungshaushaltes nie erfahren, wobei übereinstimmend davon ausgegangen wird, dass er eine erhebliche Belastung darstellte und gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung wesentlich größer war als der amerikanische, jedoch nicht so groß, wie einige Analysen annahmen. Die Kosten des Imperiums waren beträchtlich und proportional höher als im Falle der Vereinigten Staaten. Um eine kontrafaktische Kalkulation des Wachstums „ohne Kalten Krieg“ durchzuführen, müssen wir zunächst die Verteidigungskosten und die Kosten des Imperiums jeweils als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) kennen. In einem zweiten Schritt müssen wir spekulieren, wie hoch diese Anteile ohne den Kalten Krieg gewesen wären und für welche Zwecke die frei gewordenen Mittel Verwendung gefunden hätten. Und schließlich gilt es abzuschätzen, wie stark der angenommene positive Effekt dieser frei gewordenen Mittel auf das Wirtschaftswachstum gewesen wäre. Folgende Tabelle führt Schätzungen der Verteidigungsausgaben und der Kosten des Imperiums als Anteil am BIP auf.

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Schätzungen der Verteidigungsausgaben und der Kosten des Imperiums (in Prozent des BIP) 1) Spannweite (real)

2) Ohne Kalten Krieg

Verteidigungsausgaben

8-17

3-12

Kosten des Imperiums

6-7

3-4

14-24

6-16

Gesamt

Quellen: Mark Harrison: How much Did the Soviets Really Spend on Defence?, Soviet Industrialization Project, Birmingham, November 2002. Charles Wolf, Jr.: The Costs of the Soviet Empire, in: Science 230 (1985), Heft 4729, S. 1001. Ohne den Kalten Krieg wären die Verteidigungsausgaben meiner Annahme zufolge fünf Prozentpunkte und die Ausgaben für Entwicklungshilfe und Subventionen 3 Prozentpunkte niedriger ausgefallen.

Diese grobe Kalkulation ergibt, dass Ressourcen in der Größenordnung von 6 bis 16 Prozent des BIP für eine anderweitige wirtschaftliche Nutzung verfügbar geworden wären, hätte es keinen Kalten Krieg gegeben. Vermutlich hätte die tatsächliche Einsparung irgendwo zwischen diesen Werten gelegen. Die frei gewordenen Ressourcen hätten für andere staatliche Ausgaben sowie vor allem für Investitionen und den privaten Verbrauch verwendet werden können. Durchschnittliche Verbrauchs- und Investitionsraten in der UdSSR während der Phase der Stagnation (in Prozent des BIP) 1. Reale Werte

Verbrauch Investitionen

55 29

2. Reale Werte plus frei gewordene Ressourcen 58 32

3. Reale Werte plus frei gewordene Ressourcen (Maximum) 63 37

In Spalte 2 werden die durch ein Ausbleiben des Kalten Krieges eingesparten Mittel, die zu gleichen Teilen Verbrauch und Investitionen zugutekommen, mit 6 Prozent, in Spalte 3 mit 16 Prozent des BIP veranschlagt. Die realen Verbrauchs- und Investitionsraten stützen sich auf Directorate of Intelligence, Handbook of Economic Statistics, 1990, CPAS 90–10001, September 1990, S. 66.

Die erste Spalte dieser Tabelle zeigt die tatsächlichen durchschnittlichen Verbrauchs- und Investitionsraten als Anteil am BIP während der Phase der Stagnation: 29 Prozent des sowjetischen BIP wurden investiert, 55 Prozent von den Privathaushalten konsumiert. Die Einsparungen durch ein Ausbleiben des Kalten Krieges hätten es der sowjetischen Führung erlaubt, beide Anteile zu erhöhen. Was die sowjetischen Planer tatsächlich getan hätten, können wir nicht wissen, aber zur Veranschaulichung nehmen wir an, dass sie die eingesparten Mittel jeweils zur Hälfte für Investitionen und den privaten Verbrauch verwendet hätten. Die Spalten 2 und 3 geben die darauf folgenden kontrafaktischen Verbrauchs- und Investitionsraten an. Hätten diese Zuwächse bei Verbrauch und Investitionen deutlich höhere Wachstumsraten erzeugt? Die Auswirkungen erhöhter Investitionen auf das Wirt-

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schaftswachstum können wir durch die Kalkulation veranschaulichen, dass ein Anstieg der Investitionsrate von 3 bis 8 Prozent die Wachstumsrate des Kapitals um ein bis drei Prozentpunkte pro Jahr gesteigert hätte.232 Eine höhere Wachstumsrate des Kapitals hätte wiederum eine höhere Wachstumsrate des BIP bewirkt. Aber in welcher Größenordnung hätte sich dieser Effekt bewegt? Dies führt uns zum Kern des sowjetischen Wachstumsproblems: Ein Wachstum des Kapitals zog nur ein geringes Wachstum des BIP nach sich. Die Daten für die Jahre 1981 bis 1985 zeigen, dass jeder zusätzliche Prozentpunkt Kapitalwachstum das volkswirtschaftliche Gesamtprojekt nur um einen Drittelprozentpunkt wachsen ließ. Folglich hätte selbst der maximale angenommene Gewinn durch ein Ausbleiben des Kalten Krieges die Wachstumsrate des BIP lediglich um einen Prozentpunkt gesteigert, nämlich von 2 auf 3 Prozent. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist selbst dies viel zu hoch angesetzt, da wir den Gewinn mit dem größtmöglichen Wert veranschlagen und davon ausgehen, dass ein höheres Kapitalwachstum nicht ein weiteres Sinken der Kapitalproduktivität zur Folge gehabt hätte. Realistischer wäre daher die Schätzung, dass die Wachstumsrate des BIP um einen halben Prozentpunkt oder weniger gestiegen wäre. Schaubild 2 zeigt die Wachstumsraten des Pro-Kopf-Verbrauchs und der Arbeitsproduktivität von 1950 bis 1990. Die in unserem Szenario angenommene Steigerung des privaten Verbrauchs führt nur dann zu einem höheren Wachstum des BIP, wenn sie eine gesteigerte Arbeitsproduktivität bewirkt. Dei Verschiebung von Ressourcen von der Verteidigung und Aufrechterhaltung des Imperiums zum Konsum bedeutet nur eine Umverteilung des BIP, nicht aber per se seine Zunahme. Über die Beziehung zwischen privatem Verbrauch und Arbeitsproduktivität gibt es kaum einschlägige Literatur; die frühe bolschewistische Führung war jedenfalls davon überzeugt, dass die Arbeitsleistung (und somit die Arbeitsproduktivität) in einem Zusammenhang zum Konsum steht.233 Aufgrund unklarer Kausalitäten ist es sehr schwierig, aus Schaubild 2 die Beziehung zwischen steigendem Pro-Kopf-Verbrauch und Arbeitsproduktivität herauszulesen. Sinkt die Wachstumsrate des BIP aufgrund anderer Faktoren, fallen sowohl der Verbrauch wie die Arbeitsproduktivität. Mit den vorliegenden begrenzten Daten ist es beinahe unmöglich, die verschiedenen Effekte zu entflechten. Zumindest belegen die Daten eine komplexe Beziehung: In drei Perioden (1966-1970, 1980-1985 und 1985-1990) bewegten sich Verbrauch und Arbeitsproduktivität in entgegengesetzten Richtungen (relativ zur vorhergehenden Periode). In zwei Perioden (19611965 und 1970-1975) bewegten sie sich in dieselbe Richtung. Die auffälligste Diskrepanz zeigt sich beim Einsetzen der Phase der Stagnation: Die Verbrauchsrate stieg von weniger als 3 auf beinahe 5 Prozent, während die Arbeitsproduktivität von rund 3,5 auf 2,5 Prozent sank. 232 Diese Kalkulation geht von einem Kapitalkoeffizienten von 3 aus. 233 Gregory, Paul: The Political Economy of Stalinism. New York 2004, Kapitel 4.

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Unsere Schlussfolgerung lautet: Die Auswirkungen eines Anstiegs des Verbrauchs auf die aggregierte Wirtschaftsleistung lassen sich nicht vorhersagen. Er hätte ihr wohl kaum geschadet, sie aber höchstwahrscheinlich auch nicht wesentlich gesteigert. Das Ergebnis einer Zunahme der Ressourcen für den Konsum wäre eine zufriedenere Bevölkerung gewesen, die vielleicht effektiver gearbeitet und das Regime stärker unterstützt hätte. Doch das Problem der sowjetischen Verbrauchermärkte bestand nicht wirklich in der Quantität der verfügbaren Ressourcen, sondern in der Unfähigkeit des Systems, die Produktion mit der Nachfrage der Bevölkerung zur Deckung zu bringen. Eine Zunahme der Ressourcen für den Konsum hätte wahrscheinlich zur Produktion von mehr Gütern geführt, die bei den Verbrauchern teilweise auf keine Nachfrage gestoßen wären. Janos Kornais Theorie des permanenten Mangels zufolge hätte sie mit Sicherheit nicht ein Gleichgewicht auf den Verbrauchermärkten zur Folge gehabt, bei dem die Konsumenten zu festen Preisen kaufen können, was sie tatsächlich wollen.234 Wir vermuten, dass sich die Zugewinne für Konsum und Investitionen mit hoher Wahrscheinlichkeit im unteren Bereich der angegebenen Spannweite bewegt hätten. Denn neues Material aus den Archiven spricht dafür, dass die tatsächlichen sowjetischen Verteidigungsausgaben eher den niedrigeren Schätzungen entsprachen. „In den Kämpfen um das Verteidigungsbudget sah keiner der sowjetischen Amtsträger die Sowjetunion unter einer untragbaren militärischen Last zusammenbrechen“.235 Akzeptiert man diesen Befund, dann hätte ein Ausbleiben des Kalten Krieges das Wachstum nur minimal gefördert – um deutlich weniger als einen halben Prozentpunkt. Diese Kalkulationen legen daher die Annahme nahe, dass das sowjetische Wirtschaftswachstum aus einer Reihe von Gründen in jedem Fall zurückgegangen wäre. So war erstens das Bevölkerungswachstum nicht mehr ausreichend, um eine Zunahme des Arbeitsvolumens zu gewährleisten. Wachstum musste folglich durch die Akkumulation von Kapital erfolgen, doch es wurde immer schwieriger, Arbeit durch Kapital zu ersetzen. Zweitens nahm die Komplexität der Wirtschaft zu, was es den Planern erschwerte, die richtigen Optionen zu wählen. Drittens war es aufgrund von Breschnews „Little Deal“, der an die Stelle der Repression unter Stalin trat, nicht länger möglich, das System auf Zwang und Angst zu gründen.236

234 Kornai, Janos: The Economics of Shortage, Amsterdam 1980. 235 Harrison, Mark: A No-Longer Useful Lie, in: Hoover Digest 2009, Heft 1. 236 Millar, James R.: The Little Deal: Brezhnev's Contribution to Acquisitive Socialism, in: Slavic Review 44 (1985), Heft 4, S. 694-706.

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Schaubild 2: Wachstumsraten des Pro-Kopf-Verbrauchs und der Arbeitsproduktivität 1950-1990

Quellen: Rush Greenslade: The Real Gross National Product of the USSR, 1950-1975, in: Joint Economic Committee, Soviet Economy in a New Perspective, Washington 1976, S. 77-80; Directorate of Intelligence, Handbook of Economic Statistics (Soviet economy section), ausgewählte Jahre.

Viertens waren keine wirksamen Lösungen gefunden worden, um die Planung effizienter zu machen, ungeachtet der Hoffnung auf Verbesserungen durch Computer und Produktionsnormen. Das sowjetische Wachstumsmodell war aus dem einfachen Grund an seine Schranken geraten, dass es nicht länger auf der Grundlage von Kapitalakkumulation voranschreiten konnte, während die Zunahme der Arbeitskräfte kurz davor war, zum Stillstand zu kommen.237 Diese Entwicklungen wurden von westlichen Wirtschaftswissenschaftlern in den 1970er und 1980er Jahren erschöpfend untersucht; viel Neues ist dem meines Erachtens nicht hinzuzufügen. Die sowjetische Wirtschaft war am Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum gescheitert und nun in einer sinnlosen „Tretmühle von Reformen“ gefangen.238

237 Ofer, Gur: Soviet Economic Growth: 1928–1985, in: Journal of Economic Literature 25 (1987), Heft 4, S. 1767-1833. 238 Schroeder, Gertrude E.: The Soviet Economy on a Treadmill of „Reforms“, in: Soviet Economy in a Time of Change. A Compendium of Papers submitted to the Joint Economic Committee, Congress of the United States, Washington 1979.

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Eine zweite kontrafaktische Geschichte: Die Perestroika findet nicht statt Westliche Wissenschaftler und Geheimdienste haben mit großem Aufwand versucht, die sowjetische Wirtschaftsentwicklung vorherzusagen. In keiner ihrer Prognosen wurde ein optimistisches Bild gezeichnet. Es bestand jedoch ein breiter Konsens, dass die Vergangenheit am meisten Aufschluss über die Zukunft biete. Die Sowjetunion würde sich in ihrer „Tretmühle von Reformen“ weiterhin „durchwursteln“, ohne an ihren grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Institutionen mehr als kosmetische Veränderungen vorzunehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte den sowjetischen Sozialismus stillschweigend und schien die sowjetische Lebensweise der westlichen sogar vorzuziehen. Die höheren Konsumstandards im Westen wurden teilweise durch Stabilität, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung und dergleichen mehr als wettgemacht.239 Selbst sowjetische Einwanderer in den Vereinigten Staaten gaben an, dass sie mit dem Lebensstandard in der Sowjetunion zufrieden gewesen seien. 240 Die sowjetischen Bürger blickten mit verhaltenem Optimismus in die Zukunft, wahrscheinlich mehr als ihre Führe. Auch die ideologische Forderung nach einem Ende des sowjetischen Systems wurde nicht erhoben; jede Diskussion über einen Übergang zur Marktwirtschaft blieb bis zum Ende ein Tabu.241 Und der machtvolle militärisch-industrielle Komplex mag zwar befürchtet haben, hinter den Westen zurückzufallen, doch Unterstützung für eine radikale Veränderung war von ihm schwerlich zu erwarten. Die administrativen Kommandosysteme in Kuba und Nordkorea zeigen, wie die kontrafaktische Geschichte der sowjetischen Entwicklung aussieht: Den dortigen Regime gelingt es, durch Repression und loyalitätsstiftende Zuwendungen genügend politische Macht zu erzeugen, um das System aufrechtzuerhalten, wenngleich um den Preis einer extrem niedrigen Wirtschaftsleistung. Diese Systeme haben sich als erstaunlich überlebensfähig erwiesen. Wäre Gorbatschow ein junger und energischer Breschnew und nicht er selbst gewesen, könnte sich die Sowjetunion heute auf dem kubanisch-nordkoreanischen Weg befinden. Politökonomische Theoretiker haben aufgezeigt, dass eine schwache Wirtschaftsleistung die Stabilität undemokratischer Regime sogar erhöhen kann, weil sie die Vergünstigungen, die die Regimeanhänger genießen, umso wertvoller macht. Ebenso kann es der Fall sein, dass kühl kalkulierende Diktatoren eine Modernisierung blockieren, wenn der mit ihr verbundene Wandel ihre politische Rente gefährdet.242 Schlecht verwaltete Diktaturen mit einer miserablen Leistungsbilanz können gleichwohl, wie Nordkorea, Kuba und afrikanische länger zeigen, 239 Shlapentokh, Vladimir: Standard of Living and Popular Discontent, in: Ellman, Michael / Kontorovich, Vladimir (Hrsg.): The Destruction of the Soviet Economic System: An Insiders' History, Armonck, NY 1998, S. 3-34. 240 Millar, James: Politics, Work, and Daily Life in the USSR, New York 1987, S. 33. 241 Shlapentokh: Standard of Living, S. 19 f. 242 Bueno de la Mesquita, Bruce, u. a.: The Logic of Political Survival, Cambride, MA 2005. Lazarev, Valery: Political Labor Market, Government Policy and Stability of a Non-Democratic Regime, in: Journal of Comparative Economics 35 (2007), Heft 3, S. 546-563.

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lange Zeit Bestand haben. Und wie das Beispiel Robert Mugabes in Simbabwe illustriert, können Diktatoren sogar die Wirtschaft ihres Landes in den Ruin treiben und dennoch an der Macht bleiben, solange sie ihren Unterstützern ausreichende Zuwendungen bieten. Der Gorbatschow-Faktor Als Gorbatschow im März 1985 die Macht übernahm, gelangte er zu der Auffassung, dass das sowjetische System während der Phase der Stagnation unter seinen Amtsvorgängern erheblich an Boden verloren habe. Diese Überzeugung veranlasste die neue und unerfahrene sowjetische Führung zu Veränderungen des Systems, denen sich die bisherige Staats- und Parteispitze vehement widersetzt hatte. Allerdings gab sie das politische und ökonomische System nicht aufgrund eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs auf oder weil die Bevölkerung ein anderes gefordert hätte. Sie tat es vielmehr in der falschen Annahme, dass dieses System durch vergleichsweise geringfügige politische und wirtschaftliche Veränderungen zu neuer Kraft gelangen würde. Schaubild 3 zeigt uns, was Gorbatschow sah, als er zum Generalsekretär gewählt wurde. Das Wirtschaftswachstum der UdSSR hatte sich seit den 1970er Jahren beständig verlangsamt. China begann unterdessen seinen phänomenalen wirtschaftlichen Aufstieg, der sich selbst mit Japans damals funktionierender Wachstumsmaschine messen konnte. Schaubild 3: Das Wachstum des sowjetischen BIP im Vergleich

Quelle: Handbook of Economic Statistics, verschiedene Ausgaben.

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Allerdings war das sowjetische Wachstum mit dem der USA vergleichbar und sogar stärker als im Großteil Europas. Beunruhigend war vor allem die anhaltende Niedergangstendenz. In anderen Ländern befanden sich die Wachstumsraten im steten Auf und Ab; tatsächlich gewann das Wirtschaftswachstum im Westen erst nach dem Beginn der Reformen Gorbatschows wieder an Schwung, während die Wachstumsrate in der UdSSR weiter einbrach. Das in den 1950er Jahren aufgekommene Narrativ der wirtschaftlichen Überlegenheit der Sowjetunion war seit Langem verschwunden. Gorbatschow entschied, anders als seine Vorgänger, etwas dagegen zu tun. Gorbatschows „radikaler“ Reformkurs stieß nur auf verhaltenen Protest. Während er mutmaßliche Gegner aus dem Weg schaffte, holte er eine neue Riege von Politikern ins Zentralkomitee. Wer die neue Politik ablehnte, blieb in der Regel still und beugte sich dem Generalsekretär.243 Die administrativen Schaltstellen des Kommandosystems – das Staatskomitee für Planung (Gosplan), das Staatliche Komitee für materiell-technische Versorgung (Gossnab) und der MilitärischIndustrielle Komplex (VPK) – setzten seine Reformdekrete widerspruchslos um, obwohl sie ihnen offenkundig missfielen.244 Da Gorbatschow selbst über keine klare Konzeption verfügte, wandte er sich an die Ökonomen, die sein Reformer Alexander Jakowlew um sich geschart hatte. Von ihnen bekam er das falsche Versprechen zu hören, das administrative Kommandosystem könne durch relativ geringe Anpassungen wie eine wirtschaftliche Öffnung zum Westen, mehr Befugnisse für die Unternehmen und Entmachtung der Reformgegner gerettet werden. Gorbatschow und seine Berater suchten nach einer neuen, verbesserten Form von „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Wäre Gorbatschow bewusst gewesen, dass seine Politik zum Ende des sowjetischen Sozialismus führen und ihn im eigenen Land in Verruf bringen würde, hätte er anders gehandelt. Aber so entmachtete er zunächst mit dem Gesetz über die Staatsunternehmen im Juni 1987 die Ministerien, indem er die Manager der Unternehmen von „Bevormundung“ befreite. Damit wurden genau jene Institutionen getroffen, die tatsächlich die Allokation der Ressourcen leisteten. Da er eine schleichende Sabotage befürchtete, sicherte sich Gorbatschow die Unterstützung der Bevölkerung und der Partei für seine Kampagne gegen die Bürokratie.245 Ein Jahr später schaffte er die Wirtschaftsabteilungen des Zentralkomitees ab – die letzten Vorposten zentralstaatlicher Steuerung und Eingriffe. Ende 1989 funktionierte das alte System nicht mehr – die meisten Entscheidungen wurden inzwischen von den Unternehmen selbst getroffen.246 Zwei Säulen der administrativen 243 Ellman / Kontorovich: Destruction of the Soviet Economic System, Kapitel 2. Boldin, Valery: Ten Years that Shook the World: the Gorbachev Era as Witnessed by his Chief of Staff, New York 1994, Kapitel 2 und 3. 244 Shlapentokh: Standard of Living, S. 22. 245 Ebenda: S. 21. 246 Gregory, Paul: Bureaucrats, Managers and Perestroika: The First Five Years. Results of Surveys of Soviet Managers and Officials, in: NATO (Hrsg.): The Soviet Economy under Gorbachev, Brüssel, 1991, S. 188-202.

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Kommandowirtschaft – die Allokation von Ressourcen durch die Ministerien und die Eingriffsmöglichkeiten der Partei – waren zerstört worden, ohne sie durch ein neues Allokationssystem zu ersetzen. Die Wirtschaft geriet in einen freien Fall. Doch als das Scheitern der Reformen deutlich wurde, verfügten Gorbatschows Reformer über keinen Plan B.247 Gorbatschow war unentschlossen und konnte sich nicht zu der Erkenntnis durchringen, dass der Sozialismus insgesamt aufgegeben werden musste. So blieb es seinem politisch geschickteren Rivalen überlassen, den Sozialismus zugunsten eines Marktsystems abzuschaffen – dem russischen Präsidenten Boris Jelzin. Warum wurden Gorbatschows Reformen nicht sabotiert? Unsere Erzählung bietet indessen keine Erklärung dafür, warum diejenigen, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo hatten, Gorbatschows Reformen nicht ebenso sabotierten wie frühere Reformversuche. Selbst Stalin tobte während seiner schlimmsten Säuberungen über „unfolgsame“ Untergebene und verlangte neue Kommissionen, die die Umsetzung seiner Anweisungen überwachen sollten.248 Einer der begabtesten Politiker der sowjetischen Geschichte, Ministerpräsident Alexei Kossygin, scheiterte mit seinen Reformen vom September 1965 an einer aufsässigen Bürokratie.249 Die Antwort auf unsere Frage ergibt sich aus einem Vergleich dieser Reformen von 1965 mit dem 20 Jahre später initiierten Reformprogramm Gorbatschows. Kossygins Reformen schwächten die Bevormundung der Unternehmen ab, indem ihnen weniger Zielvorgaben gemacht wurden und sie Profite für Sonderprämien und Investitionen behalten durften. An zentraler Planung und strengen Kapitalverkehrskontrollen wurde jedoch nicht gerüttelt, und die anvisierten Prämien waren bescheiden. Kossygins Plan schwächte somit die Macht der Bürokratie, ohne im Gegenzug der Wirtschaft viel zu bieten. Die Planer hatten viel zu verlieren; die Hersteller wenig zu gewinnen. Gorbatschows Reformen schufen im Gegensatz hierzu eine ideale Rentenmaschine. Die Obergrenzen für persönliches Einkommen wurden aufgehoben; Manager durften Kooperativen mit freier Preisgestaltung und unbegrenzter Gewinnerlaubnis gründen; sie konnten sogar für ihre privaten Kleinunternehmen Ausrüstung und Maschinerie der Staatsunternehmen „leasen“. Noch verlockender war, dass die Manager nicht mehr der Autorität der Staatsbank unterstanden, sondern eigene Banken gründen konnten, denen sogar Auslandsgeschäfte – also auch Überweisungen auf ausländische Konten – erlaubt waren. Für die Bürokraten ergab sich eine lukrative Einnahmequelle durch den Verkauf von Lizenzen, Genehmigungen und anderen Einrichtungen des Rentenstaates. Gorbatschows Rentenmaschine war daher für Manager und Bürokraten gleichermaßen attraktiv: Die Bürokraten verfügten über wertvolle Genehmigungen 247 Boldin: Ten Years That Shook the World, S. 117. 248 Gregory: Political Economy of Stalinism. 249 Schroeder, Gertrude: Recent Developments in Soviet Economic Planning and Managerial Incentives, in: Joint Economic Committee (Hrsg.): Soviet Economic Prospects for the Seventies, Washington 1973.

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und Lizenzen, die sie entweder legal oder auf dem Schwarzmarkt verkaufen konnten, während sich für die Manager erstmals die Möglichkeit ergab, ihre Unternehmen und Kontakte für die Anhäufung persönlichen Reichtums zu nutzen. Da es somit viele Nutznießer und wenig Gegner der Reformen gab, verwundert es nicht, dass diese Reformen im Unterschied zu früheren nicht blockiert wurden. Warum hat Gorbatschow nicht China kopiert? Als Gorbatschow die Perestroika auf den Weg brachte, erlebte China die ersten Erfolge der 1979 initiierten Wirtschaftsreformen – am Vorabend von Gorbatschows Amtsantritt erreichte das chinesische Wirtschaftswachstum fast 10 Prozent. Die unter dem Eindruck des rasanten Wachstums in Japan und den vier südostasiatischen Tigerstaaten verabschiedeten chinesischen Reformen verleiteten die neue sowjetische Führung zu dem Gedanken, dass ihre einzige Hoffnung auf ein „Einholen“ des Westens darin bestand, einen neuen Weg einzuschlagen. Es ist ein interessantes Gedankenspiel, ob Gorbatschow das Risiko der Reformen auch eingegangen wäre, hätte es nicht die chinesische Erfolgsgeschichte gegeben. In jedem Fall ähnelten die von Gorbatschow durchgesetzten Reformen zwar grundsätzlich den 1979 unter Deng in China initiierten, aber sie kamen in einer Wirtschaft zur Anwendung, die von riesigen Industrieunternehmen und einer langen Tradition gemeinschaftlicher Landwirtschaft geprägt war. Die anfänglichen Erfolge in China waren weitgehend auf spontane Weise von den unteren Ebenen der Landwirtschaft und des Handels ausgegangen. Bemerkenswert war dabei, dass sie sofort an Tempo gewannen und eine „Übergangsrezession“ so vermieden werden konnte. Gorbatschows Reformökonomen versprachen ebenfalls eine Beschleunigung des Wachstums, sobald die Unternehmen befreit, Kooperativen und Leasing erlaubt und die Wirtschaft zur Außenwelt geöffnet sein würden. Selbstverständlich trat dieses Wachstum nicht ein. Stattdessen ging die Wirtschaft in den freien Fall über. Schlussfolgerungen Im vorliegenden Beitrag wurde argumentiert, dass das nachlassende Wirtschaftswachstum den Zusammenbruch des administrativen Kommandosystems nicht direkt verursacht hat. Die schwache Wirtschaftsleistung war allenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Revolution von oben. Wäre sie stärker gewesen, hätte es gewiss weniger Interesse an einer Reform und weniger Unterstützung für den „radikalen Reformkurs“ gegeben, aber für sich genommen sagt ein niedriges Wirtschaftswachstum noch wenig über die Überlebensfähigkeit eines Systems aus. Viele undemokratische Regime, die sich durch eine schwache Wirtschaftsleistung auszeichnen, können sich dennoch lange an der Macht halten,250 und bis vor kurzer Zeit waren Diktaturen verbreiteter als Demo-

250 Barro, Roberto: Determinants of Democracy, in: Journal of Political Economy 107 (1999), Heft 6, S. 158-183.

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kratien.251 Angespannter als in den 1980er Jahren war die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion in den frühen 1930er Jahren, als sie mit Kollektivierung und Entkulakisierung zu kämpfen hatte, während des Großen Vaterländischen Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als es zu großen Hungersnöten kam. Eine weitere Schlussfolgerung dieses Beitrags lautet, dass der Kalte Krieg nicht die „Ursache“ für das Nachlassen des Wirtschaftswachstums ab den 1970er Jahren war. Wie die kontrafaktische Analyse gezeigt hat, hätte ein plötzliches Ende des Kalten Krieges allenfalls eine minimale und zeitweilige Steigerung der sowjetischen Wachstumsraten bewirkt. Die Phase der Stagnation hatte vielmehr tiefe Wurzeln in den Grundlagen des sowjetischen Systems – in Planwirtschaft, Staatseigentum und der Lenkung durch einen Einparteienstaat.252 5. Stalins Erben und der ökonomische Untergang des SED-Staates Jörg Baberowski253 hat darauf hingewiesen, daß mit Stalins Tod am 5. März 1953 die stalinistische Herrschaftsform noch nicht zu Ende war. Seine Worte gelten nicht nur für die UdSSR, sondern auch für die DDR. „Als Nikita Chruschtschow 1961 Stalins Leiche aus dem Mausoleum entfernen und an der Kremlmauer beisetzen ließ, schien es, als sei die blutige Vergangenheit tatsächlich für immer vergangen. Stalin war zum Verbrecher erklärt und als einbalsamiertes Symbol der Diktatur aus der Öffentlichkeit entfernt worden. Aber die ‚Kinder des XX. Parteitages’ (14.2.-25.2.1956 in Moskau) zweifelten. Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko fand dafür die richtigen Worte. ‚Stalins Erben’ nannte er sein Gedicht, das 1962 in der ‚Prawda’ erschien und den Überlebenden als Warnung dienen sollte. Der Diktator war gestorben, seine Leiche in der Erde vergraben worden. Aber seine Erben lebten noch“. Nein, Stalin ist nicht gestorben. Den Tod hält er für korrigierbar. Wir haben ihn aus dem Mausoleum entfernt, aber wie aus Stalins Erben Stalin entfernen? Manche seiner Erben beschneiden nach ihrem Rücktritt Rosen, aber insgeheim glauben sie, daß der Abschied nur vorübergehend ist. Manche beschimpfen Stalin von den Tribünen herab, aber sie selbst trauern nachts den alten Zeiten nach. Kein Zufall, daß die Erben Stalins heute Herzinfarkte erleiden. Ihnen, den Stützen von damals, 251 Bueno de la Mesquita u. a.: Logic of Political Survival. 252 Gregory, Paul R.: Der Kalte Krieg und der Zusammenbruch der UdSSR, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 4, Hamburg 2010, S. 311-325 (aus dem Englischen von Felix Kurz). 253 Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 508, 510 f.

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gefallen die Zeiten nicht, in denen die Lager leer sind, und statt dessen die Säle, wo man Gedichte hört, überfüllt sind. Meine Heimat hat mir befohlen, mich nicht ruhigzustellen. Möge man mir auch sagen: „Beruhige Dich!“, ruhig kann ich nicht sein. Solange Stalins Erben noch auf der Erde sind, scheint es mir, als sei Stalin noch im Mausoleum geblieben. „21 Genossen machten im Januar 1990 dem ehemaligen SED-Politbüro hinter verschlossenen Türen den Prozeß. Die Mächtigen von gestern übten in Sack und Asche Selbstkritik – und schoben die Schuld für den Untergang des Regimes auf andere. Die Vernehmungsprotokolle hält die PDS bis heute unter Verschluß“.254 Auch Erich Honecker255 gehörte zu Stalins Erben, wie die Aussagen von Siegfried Lorenz und Ingeburg Lange zeigen: Siegfried Lorenz256: „Honecker war ein eindeutiger Vertreter des Stalinschen Modells, das wir seit 1945 hier praktizieren, mit aller Konsequenz“.257 Ingeburg Lange258: „Ich muß sagen, daß es die stalinistischen Strukturen nicht bloß oben gab, die gingen ja bis runter“.259 Der permanente Bruch des DDR-Rechts war Teil des Beitrags von Stalins Erben. Dr. Horst R., Jahrgang 1931, ehemaliger Oberst des „Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)“ äußerte sich dazu in einem Gespräch mit Gisela Karau: „Wenn ich den Unsinn höre vom flächendeckenden Telefonabhören, dazu brauchte man erstmal ein flächendeckendes Telefonnetz. Das war ja nun wirklich nicht vorhanden. Zu meinem Sicherungsbereich gehörten etwa 12.000 Beschäftigte, darunter vielleicht sechseinhalb- bis siebentausend Geheimnisträger, also wenn ich Glück hatte, hab ich zwei bis drei Telefonkontrollen erwischt, mehr war von der Kapazität her nicht möglich. Man konnte ja auch in keinem Strafprozeß bei uns Erkenntnisse aus der operativen Technik verwenden, Ergebnisse der Telefonüberwachung konnten in keinem Prozeß zur Sprache gebracht werden. Das ist 254 DER SPIEGEL 38/1992, „Ich hab an den geglaubt“, S. 86-104. 255 Kleßmann, Christoph: Honecker, Erich (1912-1994), in: DBE, Bd. 4, S. 166. 256 Seit 1967 im Politbüro. Seit 1976 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt. 1989 an Honeckers Sturz beteiligt. Müller-Enbergs, Helmut, Kölling, Andreas: Siegfried Lorenz (geb. 1930), in: Müller-Enbergs, Helmut et al. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? München 2000, S. 537 f. 257 DER SPIEGEL 38/1992, S. 104. 258 Seit 1973 im Politbüro und ZK-Sekretärin für Frauen. Müller-Enbergs, Helmut, Scharnhorst, Anke: Lange, Ingeburg, geb. Rosch (geb. 1927) , in: Müller-Enbergs, Helmut et al. (Hrsg.): Ebd., S. 501. 259 DER SPIEGEL 38/1992, S. 99.

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beim Verfassungsschutz anders. Deren Recht war nicht mein Recht. Ich habe zu deren Recht heute noch einen großen Abstand, wobei ich viele Elemente des Rechtssystems – das hat jetzt mit unserer Arbeit nichts zu tun – viele Elemente dieses Rechtssystems der Bundesrepublik für besser halte als unser Recht. Meine Kritik richtet sich gegen die Rechtsanwendung. Aber man muß sagen, bei uns konnte jeder Kreissekretär in seinem Gebiet das Recht außer Kraft setzen, das war leider so. (Hervorhebung Jürgen Schneider). Diese Möglichkeit gab’s in den alten Bundesländern nicht, ich spreche jetzt nicht von bestechlichen Richtern, sondern von den Rechtsgrundlagen. Man kann, wenn man sich da durchfindet, das ist für einen Nicht-Juristen außerordentlich kompliziert, sein Recht auch weitestgehend erlangen. Daß das nicht passiert, liegt daran, daß die Leute die Möglichkeiten, die das Recht bietet, nicht kennen. Da ich 'ne Rechtsausbildung habe, kann ich mit diesem Recht umgehn. Das war meine erste Korrektur in der kritischen Haltung zur BRD, daß ihr Rechtssystem eine zivilisatorische Errungenschaft ist, muß ich leider so sagen“.260

260 Karau, Gisela: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR, Frankfurt am Main 1992, S. 23.

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XVII. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus als Utopie. Das Scheitern an der wissenschaftlich-technischen Revolution und an der Basisinnovation Kommunikationstechnik führt zum Erstarren in den Strukturen der Schwerindustrie in der Vor-Computer Zeit (1865-1956) 1. Die dogmatisch erstarrte Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus im totalitären SED-Staat 1.1. Die Erstarrung der in einem Dogmensystem kodifizierten Ideologie von K. Marx, F. Engels, W. I. Lenin und J. W. Stalin (= Marxismus-Leninismus-Stalinismus) Von Klaus Hornung Begriffsklärung: Unter Marxismus-Leninismus werden die in der Ära J.W. Stalins (Generalsekretär der KPdSU 1924-1953) in einem Dogmen-System kodifizierten Lehren von Karl Marx, Friedrich Engels, W.I. Lenin und Stalin selbst verstanden.1 Es handelt sich um die „Ideologie des sowjetischen Staates“ (L. Kolakowski) zur Legitimation der stalinistischen Herrschaft, darüber hinaus um die verbindliche Ideologie der kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion, die sich dem Führungsanspruch der KPdSU unterwarfen. In den von ihnen beherrschten Einparteienstaaten war der Marxismus-Leninismus die offizielle) Staatsideologie mit dem Anspruch auf Interpretation und Handlungsanweisung für alle Lebensbereiche und Wissenschaftsgebiete. Die Bezeichnung wurde am 14. Nov. 1938 vom Zentralkomitee der KP SU offiziell beschlossen, als Stalin sich im innerparteilichen Machtkampf endgültig durchgesetzt hatte. Im gleichen Jahr erschien in der Sowjetunion der erste grundlegende Schulungs-Katechismus des Marxismus-Leninismus, der „Kurze Lehrgang“ der „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“, der eine millionenfache Auflage erreichte und für die folgenden 15 Jahre zum verbindlichen Lehrbuch für alle kommunistischen Parteien wurde. Marxismus-Leninismus in der DDR: In dieser Form und in diesem Stadium, auf dem machtpolitischen Höhepunkt der Sowjetunion als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg, wurde der Marxismus-Leninismus auch in der damaligen SBZ und nachmaligen DDR eingeführt, beginnend mit der Proklamation der SED zur „Partei neuen Typs“ nach dem Vorbild der KPdSU am 3. Juli 1948. 1952 erschien der

1

Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, München (3. Aufl.), 1989. Hornung, Klaus: Das totalitäre Zeitalter, Bilanz des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M., Berlin 1993. Kolakowski, Leszek: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung – Entwicklung – Zerfall, 3 Bde., München, Zürich (Neuausgabe) 1989. Leonhard, Wolfgang: Die Dreispaltung des Marxismus, Düsseldorf, Wien 1970. Szezesny, Gerhard (Hrsg.): Marxismus – ernst genommen. Ein Universalsystem auf dem Prüfstand der Wissenschaften, Reinbek 1975.

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„Kurze Lehrgang“ auch in der DDR. 1951 begann bereits die „Bücherei des Marxismus-Leninismus“ (Dietz Verlag, Ost-Berlin) zu erscheinen, um grundlegende Schriften von Marx, Engels und Lenin zu verbreiten. 1959 erschien in der DDR die Übersetzung des sowjetischen Lehrbuchs „Grundlagen des Marxismus-Leninismus“ im Umfang von 800 Seiten, das 1960 dort bereits mit 500.000 Exemplaren verbreitet war als Schulungsmaterial für Parteilehrgänge und Lehrjahre sowie in Schulen und Hochschulen. Mit der zweiten Hochschulreform 1951 wurde der Marxismus-Leninismus als verbindliches Lehrfach für alle Studierenden an den Hochschulen der DDR eingerichtet (Hochschulen).2 Die Wurzeln bei Marx und Engels: Marx und Engels hatten in der Traditionslinie der radikalen Aufklärung und ihres politischen Messianismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage einer radikalen Religionskritik ein Revolutionsprogramm entworfen und den Klassenkampf als Grundtatsache aller Geschichte dargestellt, der schließlich in einer vollentwickelten Industriegesellschaft zur Revolution und Diktatur des Proletariats führen werde. Es war besonders für Marx eigentümlich, daß in ihm der „Empiriker und Analytiker“ eine Personalunion einging mit dem „Geschichtstheologen und revolutionären Propheten“, wobei dieser „der Stärkere ist und oft genug souffliert, was der Wissenschaftler zu rezitieren hat“ (Ernst Topitsch). In ihrem Kern enthalten die Lehren von Marx und Engels eine innerweltliche Erlösungslehre, die aus einer Totaldeutung des Ganges und des Zieles der Geschichte die Heraufführung einer klassen-, eigentums- und herrschaftslosen kommunistischen Zukunftsgesellschaft ableitet, die sie mit der vollendeten „wahren Demokratie“ identifizieren. Schon im Kommunistischen Manifest ist unverhüllt von „despotischen Eingriffen“ der proletarischen Diktatur in das Eigentumsrecht und die bürgerlichen Produktionsverhältnisse die Rede und werden die despotischen Mittel durch das angeblich demokratische und humanistische Endziel, die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, gerechtfertigt. Ebenso wird schon hier der Führungsanspruch der Kommunisten mit der Begründung erhoben, sie seien „der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder“, da sie „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ hätten. Von Marx und Engels wird schließlich auch schon die kommunistische Zukunftsgesellschaft als Überwindung der „Produktionsanarchie“ in der kapitalistischen Klassen- und Warengesellschaft durch eine „gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion“ skizziert, die „problemlos einfach“ sowohl der Befriedigung der „Bedürfnisse der Gesamtheit wie jedes einzelnen“ diene. Sowohl die Ziel-Mittel-Problematik wie die Fragen der politischen Herrschaft und Bürokratie in einer komplexen und kommunistisch organisierten Industriegesellschaft bleiben schon bei Marx und Engels ausgeklammert.

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Wisniewski, Roswitha: Hochschulen und Universitäten, in: Eppelmann, Rainer /Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 1, 1997, S. 377-382.

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Fortführende Interpretation von Lenin: Lenin konnte an den revolutionären Kern der Ideen von Marx und Engels anknüpfen in seiner Absicht, sie für die eigenen revolutionären Ziele unter den Bedingungen des zaristischen Rußland an der Wende vom 19. zum 20. Jh. nutzbar zu machen. Dabei fügte er ihnen drei neue Theorie- und Lehrinhalte hinzu: a) Lenin entwickelte die Lehre von der kommunistischen „Partei netten Typs“ als einer revolutionären Untergrundpartei und Organisation von Berufsrevolutionären mit dem Ziel der Eroberung und anschließenden rücksichtslosen Verteidigung der ungeteilten Monopolmacht in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, einer Organisation mit ideologischer Geschlossenheit, unbedingter Disziplin und einem Führungssystem des „demokratischen Zentralismus“, das den letzteren an die erste Stelle rückte („Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“, 1902). b) Für diese Partei entwarf Lenin eine den russischen Bedingungen entsprechende revolutionäre Strategie und Taktik, durch die das zahlenmäßig schwache Proletariat ein Klassen- und Kampfbündnis mit der großen Mehrheit der Bauern schließen sollte, auch um den Preis zeitweiliger Kompromisse, jedoch ohne Preisgabe des Endzieles der ungeteilten Macht des Proletariats und „seiner Partei“, was die spätere Ausschaltung der Bündnispartner einschloß. („Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, 1905). c) Schließlich konzipierte Lenin eine Strategie des globalen Klassenkampfes des russischen und internationalen Proletariats im Bündnis mit den kolonial abhängigen und ausgebeuteten Völkern gegen den Imperialismus des internationalen Monopol- und Finanzkapitalismus, der die ungerechten imperialistischen Kriege in den „einzig gerechten“ globalen Bürgerkrieg überführen sollte. Hierzu schien der Erste Weltkrieg und die durch ihn mögliche Auslösung der bolschewistischen Revolution in Rußland die Voraussetzungen zu schaffen. („Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, 1917). Stalinistische Interpretation und Kodifizierung: Auf diesen Grundlagen hat sich der Marxismus-Leninismus im Verlauf der 30er Jahre unter entschiedener Einflußnahme Stalins herausgebildet, der an der Legitimierung seiner Position als „Fortsetzer der Sache Lenins“ besonders interessiert sein mußte. Er fügte dem sowjetkommunistischen Dogmenbestand weitere Inhalte hinzu, besonders über die verstärkte „führende Rolle“ der Partei, über ihren Kampf gegen „Abweichungen und Versöhnlertum“, über den „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ und im Zusammenhang damit über die „Verschärfung des Klassenkampfes im Sozialismus“ (Stalinismus).3 In diesen Thesen spiegelt sich der gleichzeitige Kampf Stalins mit seinen innerparteilichen Gegnern um die Alleinherrschaft. Der Marxismus-Leninismus wurde zum Synonym der stalinistischen Interpretation Lenins und der deutschen „Kirchenväter“ Marx und Engels. 1938 unterband das ZK der von Stalin beherrschten KPdSU die Veröffentlichung weiterer Arbeiten über Lenin. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Zeichen einer neuen ideologischen Offensive 3

Fricke, Karl Wilhelm / Pfeiler, Wolfgang: Stalinismus, in: Ebd., Bd. 2, S. 822-828.

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auch die Bezeichnung „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“ häufiger. Durch den XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 sollte dem Personenkult ein Ende gemacht werden durch die „Wiederherstellung der Prinzipien des MarxismusLeninismus“. Aber erst der XXII. Parteitag 1961 erklärte ausdrücklich, daß die „doktrinären Irrtümer“ Stalins im Gegensatz zum Marxismus-Leninismus stünden, eine Auffassung, der sich auch die meisten westlichen Kommunistischen Parteien (mit Ausnahme Albaniens) anschlossen. Eine vertiefte ideologische Auseinandersetzung fand jedoch in den Kommunistischen Parteien nicht statt. Die meisten Dogmen des Marxismus-Leninismus wurden fortgeschleppt, wenn nun auch unter sorgfältiger Verbannung des Namens Stalins. DDR-Interpretation 1985: Dies zeigt auch die relativ späte Darstellung des Marxismus-Leninismus in der DDR im „Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie“ von Alfred Kosing. Der Marxismus-Leninismus wird auch hier dogmatisch-scholastisch als „das einheitliche System der wissenschaftlichen Anschauungen und Theorien von Marx, Engels und Lenin“ skizziert, die die „theoretische Grundlage für die praktische Tätigkeit der kommunistischen und Arbeiterparteien“ bilden, die „Strategie und Taktik des proletarischen Klassenkampfes und des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus“ darstellen und somit „als Mittel zur revolutionären Veränderung der Welt“ dienen. Sodann werden die drei Bestandteile des Marxismus-Leninismus repetiert: der dialektische und historische Materialismus als die „wissenschaftliche Philosophie“ von Marx und Engels (ohne die damit verbundene didaktische Verkürzung der Ideen von Marx zu thematisieren); die marxistische politische Ökonomie, die den Nachweis der „objektiv-gesetzmäßig“ anstehenden Ablösung des Kapitalismus durch die sozialistische Gesellschaftsformation erbringe; schließlich der „Wissenschaftliche Kommunismus“ als theoretische und praktische Anleitung des Kampfes der Arbeiterklasse „um ihre Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung“ sowie „die Gestaltung des Aufbaues des Sozialismus und Kommunismus“. Konventionell geraten auch die Formeln, Lenin habe die Lehre von Marx und Engels „auf der Grundlage neuer Erfahrungen des Kampfes der internationalen Arbeiterbewegung und der nationalen Befreiungsbewegung der Völker schöpferisch weiterentwickelt“ zum „Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen, des Zerfalls des Kolonialismus und des Sieges der nationalen Befreiungsbewegungen, des Übergangs der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus und des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft“. Da diese Formulierungen die Thesen des ZK der KPdSU von 1970 anläßlich des 100. Geburtstags Lenins zitieren, läßt sich hier die erstaunliche Erstarrung des kanonischen Dogmengerüsts des Marxismus-Leninismus wenige Jahre vor dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus erkennen. Daran können auch marginale Zutaten des DDR-Autors nichts ändern wie der Hinweis auf Lenins „Auseinandersetzung mit allen revisionistischen Verfälschungen“ (offensichtlich ein Thema von wachsendem Gewicht zu dieser Zeit) oder die Betonung der „Weiterentwicklung“ des Marxismus-Leninismus „in der theoretischen Arbeit aller marxis-

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tisch-leninistischen Parteien, besonders der KPdSU“, an der auch die SED sich „aktiv und schöpferisch“ beteilige, was mit ideologischen Dokumenten und Materialien ihrer Parteitage begründet wird. Die eigentümliche Neigung zu Formeln, die die eigenen Kampfziele mit einer angeblich „objektiv-gesetzmäßigen“ Lageanalyse zu einem wirklichkeitsfremden Amalgam vermischten, blieb bis zuletzt erhalten. Erst als der letzte Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, zunehmend in – aus der Sicht des Marxismus-Leninismus – „revisionistische“ Bahnen trat, während das Ostberliner Politbüro um so starrer an den alten Linien und Formeln festhielt, auch gegenüber einer sich allmählich formierenden „Gorbatschow-Fraktion“ in der SED, wurde ein Auseinanderdriften der ideologischen Linien in Moskau und Ost-Berlin erkennbar. Revisionismus und Kritik: Inhalt und Anspruch des dogmatischen und herrschaftsapologetischen Marxismus-Leninismus sind nicht unwidersprochen geblieben. Schon früh (1904) hatte Leo Trotzki Lenins Parteitheorie kritisiert mit dem Vorwurf, daraus müsse notwendig die Diktatur der Partei über das Proletariat und dann die des ZK über die Partei und eines allmächtigen Diktators über beide hervorgehen. Die gleiche Entwicklung befürchtete Rosa Luxemburg von dem „rücksichtslosen Zentralismus“ und „blinden Gehorsam“ der Lenin-Partei. Frühe Mitarbeiter Lenins wie Paul Axelrod wandten sich unter dem Eindruck der bolschewistischen Machtergreifung 1917 gegen Lenins Verrat an den elementarsten Grundlagen des Marxismus und seine Errichtung einer „Diktatur über das Proletariat und das Bauerntum“. 1921 wurde der KPD-Vorsitzende Paul Levi aus der Partei ausgeschlossen, weil er sich mit der Losung „leninistische Parteidiktatur oder Sowjetdemokratie der sozialistischen Werktätigen“ des Arbeiter- und Matrosenaufstands von Kronstadt gegen die Partei solidarisiert hatte. Seit dem großen Schisma von 1919 zwischen der Sozialdemokratie West-und Mitteleuropas und der Lenin-Partei und ihrer Kommunistischen Internationale (Komintern) trennten sich die Wege der Verteidigung des politischen Pluralismus und der persönlichen Freiheit dort und der Errichtung einer „staatskapitalistischen Diktatur“ durch Gewalt und Terror hier (Otto Bauer), eine Trennung, die den Sozialdemokraten in der kommunistischen Agitation das Brandmal des „Sozialfaschismus“ eintrug. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, der Stalins Sowjetunion eine erhebliche Macht- und Prestigesteigerung brachte, kreiste die Kritik immer wieder um den zentralen Punkt der Deformation des Sowjetsystems zu bürokratischem Despotismus. Trotzkis Kritik an der „verratenen Revolution“, von den Marxisten-Leninisten als Revisionismus bekämpft, flammte in zahlreichen Variationen immer wieder auf. Nach dem Bruch Tito-Jugoslawiens mit Moskau und der Kominform beschuldigten die jugoslawischen Kommunisten den Stalinismus, Instrument der Rechtfertigung der herrschenden Bürokratie zu sein. und entwickelten das Gegenmodell einer „sozialistischen Demokratie“ mit einer dezentralisierten Arbeiterselbstverwaltung neben der Partei. In Polen wurde schon in den 50er Jahren die Lösung der Parteimacht vom Volk kritisiert und gegen den „exegetischen Talmudismus“ der Monopolpartei ein humanistischer und dezentralisierter demokratischer Sozialismus beschworen, der dem Individuum Raum lassen sollte. In der Tschechoslowakei entwickelte sich

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1967/68 das Modell eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ als Abkehr vom Monopolismus der Partei und ihres rigiden Lenkungs- und Planungsapparats und von einer offiziellen Staatsdoktrin, die die geistig-kulturelle Freiheit und die Rechtssicherheit zerstörte. In den Ländern des Warschauer Pakts wurde die Forderung eines sozialistischen Pluralismus erhoben, wenn nicht überhaupt eines Mehrparteiensystems, wie in Ungarn 1956. Der „Virus“ des Revisionismus entwickelte sich auch in den westeuropäischen Kommunistischen Parteien. In der französischen KP machte deren zeitweiliger Chefideologe und Politbüro-Mitglied Roger Garaudy die „substitutionalistische Fiktion“ der Parteien marxistisch-leninistischen Typs zum Gegenstand seiner Kritik, wonach Partei und Parteiführung stets die wahren Interessen des Proletariats und der Mehrheit verträten und durch ihr ideologisches Rüstzeug darüber auch besser Bescheid wüßten als die betroffenen Menschen selbst, ein Axiom, das schon bei Marx zu finden ist, vor dessen Sakrosanktheit die meisten revisionistischen Kritiker jedoch noch Halt machten. Das galt auch für innerparteiliche Kritiker in der DDR wie etwa Wolfgang Harich. In der Sowjetunion selbst meinten Stalins Nachfolger, die angestauten Probleme durch die Abschiebung der Verantwortung für Fehlentwicklungen auf Stalin und seinen engeren Kreis (dem sie zumeist selbst zugehört hatten), die Kritik an seinem Personenkult4 lösen zu können. Durch Rückgriff auf den von Stalins „Irrtümern“ gereinigten Marxismus-Leninismus und seine Prinzipien der „kollektiven Führung“ und sozialistischen Gesetzlichkeiten5 sollten die Deformationen beseitigt und dem System neue Impulse verliehen werden. Rasch stellte sich indes heraus, daß das von Lenin konzipierte Gesamtsystem zu einer Funktionsfähigkeit auf die Machtkonzentration an der Spitze angewiesen war, wie besonders vom langjährigen Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew (1964-1983), demonstriert wurde, der die Personalunion der Spitzen von Partei und Staat wiederherstellte und repressive Herrschaftsmethoden nach innen und Großmachtimperialismus nach außen erneuerte und sich dabei durchaus innerhalb des Rahmens des Marxismus-Leninismus bewegte. Der Marxismus-Leninismus hatte sich in der dritten Generation inzwischen in einer „konservativen“ und privilegierten Nomenklatur-Klasse inkarniert, die zu Reformen nicht fähig und bereit war, umso mehr, als der letzte Generalsekretär, Michail Gorbatschow (1985-1991), mit seinen Reformansätzen Schritt für Schritt über eine revisionistische „sozialistische Demokratie“ hinausging und systemfremde Elemente einbezog wie das Zurückdrängen der führenden Rolle der Partei (Perestroika), die Stärkung der unabhängigen Intelligenz und ihrer Kritik (Glasnost) und die Überordnung allgemein menschlicher Werte über die Dogmen des Klassenkampfes (Neues Denken). Hatten schon Lenins Doktrin und Praxis die Grundlagen eines totalitären Herrschaftssystems geschaffen, das den Menschen zum Instrument der Partei und ihres Staates machte und auch Sittlichkeit und Moral den Interessen des proletarischen 4

Templin, Wolfgang / Ganger, Jörg-Dieter: Personenkult, in: Ebd., S. 626-632.

5

Schroeder, Friedrich-Christian: Sozialistische Gesetzlichkeit, in: Ebd., S. 759.

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Klassenkampfes, d. h. der Partei und ihrer Führung, unterordnete, so machte Stalin den Marxismus-Leninismus vollends zu einem „umfassenden Schema der bolschewistischen Mythologie“, zu einem „der wichtigsten Instrumente, mit deren Hilfe die Partei die Herrschaft über die Köpfe ausüben und sowohl das kritische Denken als auch die Erinnerung der Gesellschaft an ihre eigene Vergangenheit zerstören sollte“ (L. Kolakowski). Diese Ideologie war nicht nur wegen ihres herrschaftspolitisch instrumentalisierten Inhalts bedeutsam, sondern auch durch die Tatsache, daß es eine höchste Autorität gab, die über ideologische Fragen unwiderruflich entschied, also eine nahezu vollständige Institutionalisierung der Ideologie und damit des geistigen Lebens in der charakteristisch totalitären Einheit von politischer, polizeilicher und ideologisch-theoretischer Autorität, die als solche weder Reform noch schöpferische Neugestaltung zuließ, so daß das System schließlich an seiner ideologischen Erstarrung und ökonomischen Ineffizienz zugrunde ging.6 1.2. Kollektivismus: Das Individuum hat gegenüber dem Gewaltmonopol der sozialistischen Nomenklatura keine Rechte, sondern nur Pflichten Von Manfred Spieker „Der Begriff Kollektivismus (von lat. colligere = zusammenziehen, sammeln) kennzeichnet eine sozialphilosophische Position, die nicht nur einem gesellschaftlichen Kollektiv im Verhältnis zum Einzelmenschen den Vorrang einräumt, sondern den Einzelmenschen nur als Teil dieses Kollektivs gelten läßt, ihm also seine unverfügbare Eigenständigkeit abspricht. Das Kollektiv, dem der Einzelmensch als ein Moment zugeordnet wird, kann die Klasse, der Staat oder die Rasse sein. Die Definition des Kollektivs entscheidet über die Form des Kollektivismus: Kommunismus, Faschismus oder Nationalsozialismus. Gemeinsam sind allen Formen des Kollektivismus die ontologischen Prämissen: nicht der Einzelmensch ist die primäre Realität, sondern das Kollektiv bzw. die Gesamtheit der Relationen zwischen den Menschen. Diese Relationen sind keine akzidentielle, sondern eine konstituierende Wirklichkeit, d. h. dem Individuum kommt unabhängig von diesen Relationen keine Wirklichkeit zu. Auch in ihren politischen Konsequenzen weisen die verschiedenen Formen des Kollektivismus mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen auf: Sie führen unausweichlich in die Tyrannei. Sie respektieren keine Menschenrechte,7 die der Disposition des jeweiligen Kollektivs entzogen wären. Der Einzelmensch hat gegenüber der politischen Gewalt des Kollektivs keine Rechte, sondern nur Pflichten. Da er seine ganze Existenz dem Kollektiv verdankt, hat er sich ihm ohne jeden Anspruch auf Autonomie8 zu unterwerfen. Das Kollektiv wird zum Götzen, dem in der Rechtsordnung, im Bildungssystem und in der Kultur gehuldigt wird. 6

Hornung, Klaus: Marxismus-Leninismus, ebd., Bd. 1, S. 528-535.

7

Hollerbach, Alexander / Luf, Gerhard / Frowein, Jochen Abr. / Huber, Wolfgang: Menschenrechte, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 3, 1995, S. 1104-1118.

8

Oberreuter, Heinrich: Autonomie, in: Ebd., Bd. 1, S. 490-493.

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Der Kollektivismus ist eine Reaktion auf den Individualismus, der das Verhältnis Individuum – Gesellschaft ausschließlich vom Individuum her bestimmte. In seinen ontologischen Prämissen, die nur das Individuum als Substanz gelten lassen und der Gesellschaft keine eigene Wirklichkeit zugestehen. ist der Individualismus genauso das Gegenbild des Kollektivismus wie in seinen politischen Konsequenzen, in deren Mittelpunkt auf Grund der Mißachtung der Sozialnatur des Menschen und des Eigengewichts der Gesellschaft9 die Dominanz der Beati Possidentes oder des machiavellistischen Machtmenschen (N. Machiavelli)10 steht. Die Auseinandersetzung zwischen Individualismus und Kollektivismus läßt sich zwar bis in Platons11 ‚Politeia’ zurückverfolgen, zu einem Drama aber wird sie erst in der Neuzeit. Der auf seine Autonomie pochende Mensch der Aufklärung12 deklariert jede Bindung an einen Schöpfergott und an ein Sittengesetz als Fremdbestimmung. Diese Autonomieerklärung ist die Voraussetzung nicht nur dafür, daß der Mensch sich selbst entdeckt und die Welt erobert, sondern auch dafür, daß er sich in kollektivistischen Ideologien verliert und sich in totalitären Systemen, die aus ihnen hervorgehen, versklavt. Totalitarismus.13 Der Kollektivismus ist mithin der Versuch, das sich selbst verlierende autonome Individuum durch ein vergöttlichtes Kollektiv zu erlösen, es teilhaben zu lassen an dem für unvergänglich erklärten Glanz des Kollektivs. Er setzt nicht nur die Unterordnung der individuellen Bedürfnisse unter die von einem Führer definierten kollektiven Bedürfnisse, sondern die Umerziehung des Menschen voraus. Formen. Die politisch einflußreichen Formen des Kollektivismus im 20. Jh. sind der Kommunismus,14 der Faschismus15 und der Nationalsozialismus.16 Daß dem Kollektivismus in der sozialwissenschaftlichen Literatur gelegentlich auch der Syndikalismus,17 der Etatismus und die Genossenschaftsbewegungen zugezählt werden, ergibt keinen Sinn, weil diese keine philosophischen Bestimmunen des Verhältnisses Individuum – Gesellschaft präjudizieren, also auch keine Dominanz eines Kollektivs über das Individuum voraussetzen. Unter den politisch wirkmächtigen Formen des Konstruktivismus gebührt dem Marxismus18 bzw. Kommunismus auf Grund seiner theoretischen Durchformung

9

Koslowski, Peter (I), Bühl, Walter, L. (II), Autonomie, in: Ebd., Bd. 2, S. 959-973. 10 Münkler, Herfried: Machiavelli, in: Ebd., Bd. 3, S. 977. 11 Jantzen, Jörg: Platon, in: Ebd., Bd. 4, S. 414-423. 12 Hinske, Norbert: Aufklärung, in: Ebd., Bd. 1, S. 390-400. 13 Bracher, Karl, Dietrich: Totalitarismus, in: Ebd., Bd. 5, S. 441-494. 14 Löw, Konrad: Kommunismus, 3. Aufl., S. 592-603. 15 Bracher, Karl, Dietrich: Faschismus, in: Ebd., Bd. 2, S. 544-558. 16 Hildebrand, Klaus / Rückerl, Adalbert: Nationalsozialismus, in: Ebd., Bd. 3, S. 1275-1291. 17 Grosser, Dieter: Syndikalismus, in: Ebd., Bd. 5, S. 408-410. 18 Lobkowicz, Nikolaus / Nolte, Ernst: Marxismus, in: Ebd., Bd. 3, S. 1032-1045.

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und seiner historischen Dauer eine Sonderstellung. Der kommunistische Kollektivismus ist die logische Konsequenz der Philosophie K. Marx’,19 in der der Mensch als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse definiert wird. Sowohl in seiner Entfremdung20 als auch in seiner Emanzipation21 gilt er als Produkt der Gesellschaft. Nur als Gattungswesen, nicht als Individuum gilt er als wahr. In der marxistischen Philosophie des Westens sowie Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens gibt es nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 zwar eine Entwicklung, in der ein Unbehagen an der theoretischen und praktischen Mißachtung des Individuums artikuliert wird. Die Kritik am Kollektivismus und die Entdeckung des Individuums führen nicht nur zu neuen Ansätzen der Anthropologie, sondern zu einem dialogbereiten Aufbruch in weiten Bereichen der marxistischen Philosophie. Die Folgen dieser Entwicklung bleiben jedoch zeitlich und räumlich sehr begrenzt. In der zeitgenössischen marxistischen Philosophie des Ostblocks bleibt die Individualität des Menschen auf eine Funktion der Gesellschaft reduziert. Die Individuen kommen nur als ‚Rohstoff’ für die Erhaltung der Gattung, als Bausteine für die Errichtung des Kommunismus und als Mitglieder einer Klasse,22 niemals aber in ihrem substantiellen und unverfügbaren Eigensein in den Blick. Auch der Sinn des Lebens wird in dieser Perspektive als Funktion der Identifizierung individueller und gesellschaftlicher Interessen definiert. Der einzelne gibt seinem Leben umso mehr Sinn, je mehr er seine individuellen Interessen mit denen der Gesellschaft in Übereinstimmung bringt. Die kollektivistische Bestimmung des Verhältnisses Individuum – Gesellschaft hat Konsequenzen für alle Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. In der Politik wird das Klasseninteresse zur alles beherrschenden Verpflichtung (Klassenkampf).23 Ein Handeln gegen dieses Interesse ist weder unter Berufung auf ein klassenunabhängiges Gemeinwohl noch unter Berufung auf klassenunabhängige Menschenrechte möglich. In jedem Kollektivismus stellt sich das Problem, wer die Interessen des Kollektivs definiert. Im Marxismus-Leninismus lautet die Antwort: die Klasse selbst und ihre Partei, die Avantgarde des Proletariats. Praktisch bedeutet dies, daß die Interessen des Kollektivs durch die Individuen des Politbüros, nicht selten durch einen einzelnen Parteiführer definiert werden. Jede Opposition gegen diese Avantgarde gilt nicht nur als revolutions- und klassenfeindlich, sondern letztlich auch als gegen die ureigenen Interessen der Opponenten gerichtet. Sie mit Gewalt zu unterdrücken, ‚die Gegner der Revolution niederzuhalten, indem Feinde der Arbeiterklasse verhaftet, eingekerkert und unter Umständen sogar physisch liquidiert werden’ (G. Stiehler), ist konsequenterweise nicht nur Klassenpflicht, sondern Dienst an den wohlverstandenen Interessen des Dissidenten. Die

19 Nolte, Ernst: Marx, K. (1818-1883), in: Ebd., Bd. 3, S. 1026-1030. 20 Ottmann, Henning: Entfremdung, Bd. 2, in: Ebd., S. 278-283. 21 Lobkowicz, Nikolaus: Emanzipation, Bd. 2, in: Ebd., S. 241-244. 22 Schmölz, Franz-Martin: Klasse, in: Ebd., Bd. 3, S. 535-538. 23 Schmölz, Franz-Martin: Klassenkampf, in: Ebd., Bd. 3, S. 539-541.

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Verfassungs- und Rechtsordnung akzeptiert keine Menschenrechte, die der Disposition der Avantgarde entzogen würden. Sie garantiert nicht allgemeine Rechte und Freiheiten, ‚sondern Rechte und Freiheiten des Individuums, die sich aus den grundlegenden Zielen und Interessen der Arbeiterklasse in bezug auf die Entwicklung und Festigung der sozialistischen Ordnung ergeben’ (Stiehler). Das Verfassungsrecht hat nicht die Funktion, den Bürger gegen die Übergriffe der Staatsgewalt zu schützen, sondern ihn zu mobilisieren, zu erziehen und zu disziplinieren. In der Wirtschaft bedeutet der marxistische Kollektivismus jede Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Diese Kollektivierung von Industrie, Handel und Landwirtschaft unterscheidet ihn von den anderen Formen des Kollektivismus, die sich mit einer zentralen und umfassenden Interventionsbefugnis des Staates in die Wirtschaft bei Respektierung des Privateigentums begnügen. Für den Marxismus-Leninismus ist der Kollektivbesitz die Voraussetzung für die Aufhebung der Entfremdung des Menschen. Die Kollektivierung bedeutet aber nicht, daß jeder einzelne im Kollektiv über das Eigentum verfügen kann. Die Dispositionsgewalt bleibt wie in der Politik der Avantgarde der kommunistischen Partei vorbehalten. Das gesamte gesellschaftliche Leben unterliegt in jedem kollektivistischen System zentraler Kontrolle. Kollektivismus bedeutet immer geschlossene Gesellschaft, Aufhebung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und Umwandlung der Verbände von Interessenorganisationen ihrer Mitglieder in Transmissionsriemen des Kollektivs zur Durchsetzung des von der Avantgarde definierten Gesamtinteresses. Für diesen Gleichschaltungsversuch bedarf ein kollektivistisches System immer einer großen, schwerfälligen Bürokratie, einer umfangreichen, ständig zu perfektionierenden Technik und nicht zuletzt einer von keiner Gewaltenteilung gebremsten Geheimpolizei. Daß die Uniformierung der Gesellschaft in keinem kollektivistischen System völlig gelingt, ist eine vielfach bestätigte Erfahrung. Einzelne Menschen und Gruppen bewahren sich mehr oder weniger große Nischen, die individuellen Interessen und Entfaltungen Raum geben. Wie groß und sicher solche Nischen sind, hängt nicht nur von der Zivilcourage der Bürger, sondern auch von der Existenz gesellschaftlicher Kräfte ab, die gegen Gleichschaltungsversuche weitgehend immun sind. Den christlichen Kirchen kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. Die katholische Kirche in Polen ist das historisch bedeutendste Beispiel erfolgreicher Verteidigung gesellschaftlicher Freiheit gegen Kollektivierungsanstrengungen einer kommunistischen Partei. Jedes kollektivistische System versucht, durch eine Monopolisierung des Bildungssystems die individuellen Interessen mit denen der Gesellschaft gleichförmig zu machen. Dabei spielen kleine, überschaubare Kollektive nicht nur in der Erziehung und Ausbildung, sondern auch in der Organisation der Arbeit und selbst der Freizeit eine zentrale Rolle. In der Kunst, in der Wissenschaft und in den Medien führt der Kollektivismus ebenfalls zu einer Eliminierung der Freiheit. In jedem kollektivistischen System gibt es die von der politischen Führung zugelassenen und die verpönten Kunstrichtungen, die geförderten und die geächteten wissenschaftlichen Positionen und Disziplinen sowie ein bis in die Sprachregelung hinein zentral gesteuertes Mediensystem.

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In den Internationalen Beziehungen24 sind kollektivistische Systeme schwierige Partner. Sie respektieren das Völkerrecht nur solange, wie es mit ihrem Gesamtinteresse vereinbar ist. Sie verweigern eine kooperative Eingliederung in eine universale Völkergemeinschaft, da sie ihr Kollektiv, im Falle des Marxismus-Leninismus also die Klasse, immer über die universale Völkergemeinschaft stellen. Kollektivistische Systeme agieren in der internationalen Politik mithin wie ‚gigantische Kolossal-Individuen’ (O. v. Nell-Breuning)“.25 1.3. Marxistisches Menschenbild: Die Utopie des Neuen Menschen im realen Sozialismus Von Michael Beintker Die SED betrachtete sich als Vollstreckerin der Marxschen Auffassung, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei und daß es gelte, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen er ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen sei.26 Im marxistischen Menschenbild bündeln sich mehrere Deutungskomponenten. Die materialistische Metaphysik läßt den Menschen als Resultat der gesetzmäßigen Entwicklung der ewigen Materie, als das höchstentwickelte Produkt der Evolution erscheinen (marxistische Philosophie).27 Alle alternativen naturwissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Interpretationsmodelle, die diese Sicht beeinträchtigen können, werden dezidiert abgewiesen. Die gesellschaftstheoretische Perspektive des historischen Materialismus stellt die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in den Vordergrund und bestimmt den Menschen als das Produkt der ihn umgebenden Gesellschaft, als „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Damit ist die Gleichung „neue Gesellschaft gleich neuer Mensch“ vorgegeben. Subjektivität und konkrete Individualität des Menschen wurden betont nicht als solche thematisiert, sondern stets als Derivate des gesellschaftlichen Milieus betrachtet. Angesichts der sozialen Determiniertheit seines Verhaltens war der Mensch essentiell über Art und Charakter seiner sozialen und gesellschaftlichen Interaktion zu definieren. Im Spektrum dieser Interaktion kommt der Arbeit28 eine konstitutive Bedeutung zu: Als animal sociale unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Lebewesen durch das Vermögen zur Arbeit – sie hat auch seine naturgeschichtliche

24 Czempiel, Ernst-Otto: Internationale Beziehungen, in: Ebd., Bd. 3, S. 135-143. 25 Spieker, Manfred: in: Ebd., Bd. 3, S. 570-573. 26 Halder, Alois (I) / Markl, Hubert (II) / Bühl, Walter L. (III): Anthropologie, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 1, 1995, S. 168-186. 27 Wisniewski, Roswitha: Marxistische Philosophie, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günther / Wilms, Dorothee: Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd.1, S. 535-537. 28 Vollmer, Uwe: Arbeit, in: Ebd., S. 78-84.

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Hominisierung ausgelöst (Friedrich Engels) –; folglich muß er in den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozessen Sinn und Erfüllung finden. Dabei wird das Schöpfer- bzw. Selbstschöpfertum des Menschen plakativ hervorgehoben. Diese Prämissen werden wiederum auf die Grundlagen der Doktrin des Klassenkampfes29 gestellt. Der Antagonismus zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft wird immer auch als ideologischer Gegensatz zwischen zwei heterogenen Menschenbildern betrachtet. Eine maßlose Schwarz-Weiß-Zeichnung sieht den Menschen unter der „Herrschaft des Kapitals“ in Entfremdung, Vereinzelung und Verdorbenheit. Demgegenüber bringe erst die sozialistische Gesellschaft seine (ursprünglich guten) Anlagen zu freier, produktiver Entfaltung. Die negativen Eigenschaften des Menschen werden monokausal auf die Unterdrückungssituation zurückgeführt, die – abgesehen von der quasi-kommunistischen Urgesellschaft – in allen vorsozialistischen Gesellschaftsformationen geherrscht und den Menschen unter dem „Wolfsgesetz des Kapitalismus“ zum verzweifelten, egoistischen Einzelgänger disponiert habe. Der kommunistische Mensch könne sich demgegenüber weder selbstsüchtig noch böse verhalten. Das unbestreitbare moralische Versagen der Menschen im DDR-Alltag wurde offiziell als Überbleibsel einer absterbenden Epoche bewertet, dem durch gesellschaftlichen Fortschritt und durch Aufklärungs- und Erziehungsarbeit zu begegnen sei. Da die Frage nach dem Wesen des Menschen als Klassenfrage traktiert wurde, gewann das dekretierte Menschenbild die Position eines Kampfbegriffs in der Auseinandersetzung mit den politischen Systemen des Westens und den im eigenen Machtbereich vermuteten Gegnern. Eine eigenständige anthropologische Forschung, welche nach allgemeinen, systemunabhängigen Determinanten des Menschseins gefragt hätte, wurde bezeichnenderweise verworfen. Die politisch unvoreingenommene Aufhellung der Spezifika der Conditio humana galt als Irrtum bürgerlicher Philosophie und wurde als Rückfall hinter die Marxsche Lehre attackiert. Das hatte schwerwiegende anthropologische Defizite zur Folge. Sie wurden mit der Auskunft verdeckt, daß nur der Marxismus-Leninismus30 alle anthropologischen Fragen wissenschaftlich beantworte und der historische Materialismus auch als die hinreichende philosophische Theorie vom Menschen begriffen werden müsse. Demzufolge galt nur eine parteiliche Deutung des Menschseins als angemessen, fungierte Parteilichkeit31 im Klassenkampf als hervorstechendes Merkmal des neuen Menschen bzw. der sozialistischen Persönlichkeit.32 Die ideologische und politische Umsetzung des marxistischen Menschenbildes erfolgte vorrangig auf dem Feld der Moral und Ethik33 und dem der Bildungspolitik

29 Scheuch, Erwin K.: Klassen und Klassenkampf, in: Ebd., S. 457-463. 30 Hornung, Klaus: Marxismus-Leninismus, in: Lexikon des DDR-Sozialismus, S. 528-535. 31 Ganger, Jörg-Dieter: Parteilichkeit, in: Ebd., S. 622-624. 32 Margedant, Udo: Sozialistische Persönlichkeit, in: Ebd., S. 760-762. 33 Turre, Reinhard: Moral und Ethik, in: Ebd., S. 565-569.

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(Bildungswesen).34 Das Menschenbild und die ihm zugrundeliegenden Theorieelemente des Marxismus-Leninismus wurden als Kategorienschema für die Gewinnung der neuen moralischen Normen gehandhabt, die für die Lebensweise im Sozialismus bzw. auf dem Weg zum Kommunismus Geltung erlangen sollten. Die politischen und weltanschaulichen Werte des Sozialismus waren in alltagsbezogene Verhaltensnormative umzusetzen. Zeitweise wurde unverhüllt der Anspruch erhoben, das moralische Verhalten der Werktätigen zu planen und zu steuern, wobei die SED natürlich auch hier ihre Führungsrolle proklamierte. Die sozialistische Gesellschaft – so hieß es – habe die dafür erforderlichen politischen, ökonomischen und ideologischen Voraussetzungen geschaffen und den Weg zum Kommunismus eröffnet, auf den die Menschheitsentwicklung gesetzmäßig hinlaufe. Man hielt es für erwiesen, daß die von Ausbeutung und Klassenkämpfen freie Zukunftsgesellschaft einen neuen Menschentypus hervorbringe, der sich durch kommunistisches Bewußtsein, höchste Bildung, Schöpferkraft, Harmonie mit der Gesellschaft und den Mitmenschen, moralische Vollkommenheit, materiellen Wohlstand und ein stabiles Glückserleben auszeichnen werde. Dieser Zustand werde bereits im real existierenden Sozialismus angebahnt; der „neue Mensch“ beginne sich hier ebenso auszuprägen, wie er erzieherisch zu formen sei. Der Rückgriff auf die vormarxistischen Traditionen des Humanismus diente sowohl der Legitimation des marxistisch-leninistischen Sendungsbewußtseins als auch seinem Überbietungsanspruch. Stereotyp wurde die Auffassung verfochten, daß erst der Sozialismus als politisches System die komplexe Verwirklichung aller progressiven Menschheitsideale gestatte und die historischen Bedingungen dafür hergestellt habe, daß das humanistische Persönlichkeitsideal erstmals als Massenerscheinung realisiert werde. Im Kontext dieser Hypothesenbildungen gewann die Frage nach dem sozialistischen Menschenbild eine programmatische Bedeutung. In den 50er und 60er Jahren dominierte das neue Menschenbild unmittelbar als ideologischer und propagandistischer Leitbegriff. In der Honecker-Ära wurde es zunehmend durch den Zielgedanken der allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit und ihrer Bewußtseinsbildung ergänzt und abgelöst. Es kam zu einer gewissen Verfeinerung der systemimmanenten weltanschaulichen und politischen Konzeption vom Menschen, keineswegs aber zu deren Revision. Die Tendenz zur Verklärung des sozialistischen Menschen und zu seiner heroischen Stilisierung, wofür sogar Prometheus und Faust ins Feld geführt wurden, behauptete sich durchgängig. Im Unterschied zu den ideologischen Postulaten in der DDR-Philosophie und -Pädagogik und zu den parteiinternen Sprachregelungen lassen sich jedoch bemerkenswerte Differenzierungen, partiell sogar deutliche Problematisierungen, für die Bereiche der Bildenden Kunst35 und der Literatur36 nachweisen.

34 Margedant, Udo: Bildungswesen und Bildungspolitik, in: Ebd., S. 156-164. 35 Muschter, Gabriele: Bildende Kunst, in: Ebd., S. 153-156. 36 Rüther, Günther: Literatur, in: Ebd., S. 517-520.

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Walter Ulbricht verkündete 1958 die Zehn Gebote der sozialistischen Moral und die ihnen zuzuordnenden Kataloge sozialistischer Verhaltensnormen und Handlungswerte (Moral und Ethik). 37 Charakteristisch waren die einseitige Ausrichtung auf Pflichtwerte (sozialistisches Pflichtgefühl) und die Marginalisierung der Selbstentfaltungswerte: Die sozialistische Moral zeichne sich durch die Bereitschaft der Menschen aus, ihre eigenen Interessen hinter die Erfordernisse der Gesamtgesellschaft zurückzustellen. Das Ganze wirkte wie ein Gemisch von postrevolutionärem Pathos und kleinbürgerlichen Ehrenkodizes, das in die alles umgreifenden Parameter der sozialistischen Gesinnung und Überzeugungstreue eingetragen wurde. Schwerwiegende Konsequenzen zeitigten die Normative des sozialistischen Menschenbildes im gesamten Bildungsbereich, wo faktisch jeder DDR-Bürger – mittelbar in der Elternrolle, unmittelbar als Schüler, Lehrling oder Student – dem erzieherischen Leitkonzept der allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit38 ausgesetzt wurde, die fest auf dem Boden der sozialistischen Gemeinschaft zu stehen hatte und untrennbar mit ihr verbunden sein sollte. Die Entwicklung von Kenntnissen, Fähigkeiten, Bewußtseinsinhalten, Überzeugungen und Charaktereigenschaften stand stets unter dem Druck einer allgewaltigen Konformisierung im Namen des vermeintlichen historischen Fortschritts, faktisch: des Herrschaftsanspruchs der SED. In den 70er Jahren wurde die DDR-Pädagogik direkt auf das Ziel der kommunistischen Erziehung verpflichtet. Das von der SED propagierte Menschenbild ist als hochgradig reduktionistisch einzuschätzen. Es basierte auf einer Vielzahl verkehrter Annahmen, die den faktischen Phänomenen gelebten Menschseins nicht Rechnung trugen. Der weltanschauliche Materialismus und die geschichtsphilosophischen Konstruktionen verhinderten systematisch jedes Bewußtsein für die Unverfügbarkeit der Person und ihrer Würde. Daß das politische Handeln zuerst die Freiheit und Integrität der Person zu respektieren habe, wurde als bürgerliches Täuschungsmanöver abgetan. Die geduldige anthropologische Analytik systemunabhängiger Prägungen der Conditio humana wurde als Abstraktion kritisiert, so daß die Frage gar nicht erst aufkommen konnte, ob der grenzenlose Optimismus gegenüber der ideologiekonformen Vervollkommnung des Menschen nicht auf seine massive Überforderung hinauslaufe. Die Ideologie besaß kein Gespür für die Fragilität der menschlichen Existenz und der naturgemäßen Grenzen der menschlichen Handlungsfähigkeit. Durch die Verabsolutierung der sozialen Seite der menschlichen Tätigkeit geriet die konkrete Individualität in den Sog ihrer Vergesellschaftung. Die individuelle Selbstbeziehung der Person stand im Schatten der gesellschaftlich verwalteten Sozialbeziehungen. Folglich wurde der Sozialisation im Kollektiv39 und in der Arbeitswelt eine höhere Bedeutung beigemessen als der Sozialisation in Elternhaus und Familie. Die für das psychosoziale und rechtliche Gleichgewicht der modernen 37 Turre, Reinhard: Moral und Ethik, in: Ebd., S. 565-569. 38 Margedant, Udo: Sozialistische Persönlichkeit, in: Ebd., S. 760-763. 39 Nooke, Günter: Kollektiv, in: Ebd., S. 463-468.

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Gesellschaft grundlegende Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit wurde entdifferenziert: Für Erziehungsfragen war letztendlich immer die SED zuständig. Da die Menschen sich faktisch anders verhielten, als es die Ideologie vorsah, mußten sie ständig belehrt und angeleitet werden. Hinter der Losung „Arbeit mit dem Menschen“ verbarg sich ein umfassender Erziehungsanspruch, so daß es nicht übertrieben war, die DDR-Welt als Erziehungsgesellschaft zu kennzeichnen und der SED die Tendenz zur politisch instrumentalisierten Ethikokratie nachzusagen. Existentielle Lebensfragen, ausgelöst durch die Krisen des Lebens, das Leiden, die Trauer, den Tod, die Verwundbarkeit und Angstbestimmtheit der menschlichen Existenz, wurden zumeist mit Scheinlösungen versehen, die die tatsächliche Last solcher Daseinserfahrungen ignorierten. Die diesbezügliche Erbauungsliteratur suggerierte die Souveränität des neuen Menschen und die Überlegenheit seiner wissenschaftlichen Weltanschauung gegenüber den religiösen Antwortversuchen, die aus der Sicht des systemspezifischen Atheismus40 als antiquiert eingestuft wurden. Gerne wurde die „Geborgenheit“ herausgestellt, die die sozialistische Gesellschaft jedem Bürger vermittle. Die Parole von der „politisch-moralischen Einheit des Volkes“ beschwor eine vom Pluralismus unberührte homogene Welt, die dem Individuum Heimat gibt, wenn es sich nur erwartungsgemäß verhält. Mit derartigen Klischees wurden die faktischen Herrschaftsverhältnisse und der der Bevölkerung auferlegte Zwang zur Anpassung gezielt verschleiert. Zu keiner Zeit ist der hohe Anspruch eingelöst worden, die der „Ausbeutergesellschaft“ zugewiesene Erniedrigung und Verknechtung des Menschen zu überwinden. Der Geburtsfehler des marxistischen Menschenbildes, seine klassenkampftheoretische Positionierung, verhinderte systematisch die Kultivierung des Humanismus, den die SED beerben und qualitativ überbieten wollte. Manipulation und Instrumentalisierung der menschlichen Person waren denkerisch angelegt und politisch gewollt, auch wenn das als Erfüllung humanistischer Ideale deklariert wurde. In einem seiner Gedichte hat Reiner Kunze das Dilemma des marxistischen Menschenbilds treffsicher pointiert: „Im mittelpunkt steht der mensch / nicht der einzelne“. Die Folgen des ideologisch präparierten Menschenbildes und der ihm gewidmeten Politik bekam im DDR-Alltag jeder zu spüren, sei es, daß er sich den Tugendwerten der sozialistischen Persönlichkeit willig (oder unwillig) beugte, sei es, daß er sich dagegen abzuschirmen oder gar aufzulehnen versuchte. Aus dem Menschenbild ergaben sich die Bewertungskriterien für schulische und berufliche Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Es fand seinen Niederschlag in jeder Schülerbeurteilung und in jedem Kadervermerk. Parteilichkeit, linientreues Bewußtsein und die „Ergebenheit“ gegenüber den politischen Optionen der SED wurden mit Karrierechancen honoriert. Wer es hingegen am erforderlichen Klassenstandpunkt und der erwarteten Überzeugungstreue fehlen ließ, wurde behindert und bei Renitenz gemaßregelt. Oft führten schon Kirchenzugehörigkeit oder von der

40 Neubert, Ehrhart: Atheismus, in: Ebd., S. 86-88.

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Militarisierung der Gesellschaft41 abweichende Gewissensentscheidungen zu gravierenden Benachteiligungen. Das Menschenbild des Marxismus-Leninismus forderte die Ausgrenzung aller, die seinen Normativen nicht entsprachen oder gegen sie verstießen. Die sozialistische Praxis entlarvte das Menschenbild der SED als das, was es war: das anmaßende Konstrukt eines politisch operationalisierten, humanistisch verbrämten Antihumanismus.42 1.4. Sozialistische Moral und Ethik: Radikaler Bruch mit der christlichen und philosophischen Tradition in Deutschland Von Reinhard Turre Radikaler Bruch mit der Tradition: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte auch im Osten Deutschlands die Suche nach neuer ethischer Orientierung ein. Die Katastrophe, in die der Nationalsozialismus Deutschland gestürzt hatte, machte offenbar, in welchem Maße die Mehrheit des Volkes durch diese totalitären Ideen verführt worden war. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs mußte nicht nur materiell, sondern auch ideell ein neuer Anfang gemacht werden. Für eine kurze Zeit sah es so aus, als ob man sich an Schulen und Universitäten auf die humanistischen Traditionen besinnen könnte, die sich freilich ihrerseits als wenig widerstandsfähig gegenüber dem nationalsozialistischen Gedankengut erwiesen hatten. Die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit und Wahrheit herrschen, erfüllte die Menschen. Die sowjetische Besatzungsmacht verhinderte aber im Zuge ihrer Entnazifizierung43 auch, daß persönlich integre und zugleich fachlich ausgewiesene Persönlichkeiten, die aus der christlichen oder humanistischen Tradition kamen, in den Bereichen von Kultur (Kulturpolitik)44 und Bildung (Bildungswesen)45 tätig bleiben bzw. tätig werden konnten. Wo solche Persönlichkeiten unmittelbar nach Kriegsende eingesetzt worden waren, wurden sie sehr bald durch Kommunisten oder durch solche ersetzt, die sich dem neuen System gegenüber als besonders entgegenkommend und zuverlässig empfohlen hatten. Einzig die Kirchen46 bildeten eine Ausnahme. Für die übrigen gesellschaftlichen Bereiche kam es zu der tragischen Entwicklung, daß totalitäre Strukturen durch andere ersetzt wurden (Massenorganisationen).47 In der SBZ wurde sehr genau und gezielt mit der christlichen und philosophischen Tradition in Deutschland gebrochen (marxistische Philosophie)48 und diese 41 Eisenfeld, Bernd: Militarisierung der Gesellschaft: Ebd., S. 559-563.. 42 Beintker, Michael: Marxistisches Menschenbild, in: Ebd., S. 537-543. 43 Eckert, Reiner: Entnazifizierung, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 1, 1997, S. 247-251. 44 Jäger, Manfred: Kulturpolitik, in: Ebd., S. 491-496. 45 Margedant, Udo: Bildungswesen und Bildungspolitik, in: Ebd., S. 156-164. 46 Maser, Peter: Kirchen und Kirchenpolitik, ebd., S. 446-455. 47 Eckert, Rainer: Massenorganisationen, ebd., S. 546-550. 48 Wisniewski, Roswitha: Marxistische Philosophie, ebd., S. 535-537.

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als idealistisch und reaktionär abqualifiziert. Man sah in ihr offiziell die bürgerliche Ethik des kapitalistischen Systems, die den Menschen moralisch nur verführt und zum Egoisten macht. Von dem programmatischen Bruch mit der ethischen Tradition wurde freilich das allgemeine ethische Bewußtsein in der Bevölkerung noch nicht erfaßt. Eine Mehrheit blieb weiterhin von christlichem Gedankengut geprägt. Zeitalter des Stalinismus49: In dem Maß wie überkommene ethische Normen als reaktionär verdächtigt wurden, machte die SED-Führung die marxistische Philosophie zum Fundament für neue Verhaltensweisen des fortgeschrittenen Menschen in einer sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft. Abweichungen wurden öffentlich angeklagt und mit Mitteln staatlicher Repression bekämpft. Das sowjetische Vorbild und die Anwendung des Marxismus-Leninismus50 wurden zur bestimmenden und alleinigen Voraussetzung für die Entwicklung auch in Ostdeutschland erklärt. Aus dem philosophischen Ansatz bei Marx, der die Welt verändern wollte, war eine Ideologie geworden, welche die inzwischen herausgebildeten Machtverhältnisse lediglich zu bestätigen hatte. Das führte dazu, daß in Verkennung der nationalen Besonderheiten im gesamten Ostblock sowjetische Vorbilder zu Leitbildern des Handelns erklärt wurden. Stalin wurde als Vollender der Revolution Lenins mit nahezu göttlichen Zügen ausgestattet. Der Kult um seine Person ersetzte den christlichen Heiligenkult. Helden aus der sowjetischen Literatur und Wirklichkeit wurden der Jugend als Vorbild für ihr Handeln dargestellt (Personenkult).51 Die lichtvollen Gestalten aus dem Osten kontrastierten mit den bösen Feinden. Das Freund-Feind-Denken teilte die Welt in das Reich des Guten im Osten und in das Reich des Bösen im Westen (Klassen)52 Wer diesem Denken nicht folgen wollte, mußte Selbstkritik üben, sonst drohte Benachteiligung oder gar Verfolgung. Klassenfeinde wurden auch innerhalb des Landes ausgemacht. Wer sich der totalitären Ideologie nicht beugte, mußte entweder in den Westen gehen oder im Inneren des Systems mit Nachteilen rechnen. Eine spürbare Veränderung nach dem Tode Stalins hat es anders als in Polen und in der Tschechoslowakei in der DDR nicht gegeben, aber ebenso wenig eine Kulturrevolution chinesischer Prägung. Die ungeheuren Verbrechen im stalinistischen System und damit die moralische Diskreditierung des realen Sozialismus wurden offiziell nicht diskutiert. Bevormundung durch die SED: Die Partei hatte immer Recht. Das galt auch für den Bereich der Moral und Ethik. Ihr Ziel war die Ausprägung von sozialistischen Persönlichkeiten,53 die sich dem System anpaßten und in ihm funktionierten. Für die Erziehung der Jugend wurden die zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral zur geltenden Norm erklärt. Diese von Walter Ulbricht 1958 verkündeten Gebote und die ihnen zuzuordnenden Kataloge sozialistischer Verhaltensnormen und Handlungswerte verbanden marxistisch erwünschte Tugenden wie Solidarität 49 Fricke, Karl Wilhelm / Pfeiler, Wolfgang: Stalinismus, ebd., Bd. 2, S. 822-828. 50 Hornung, Klaus: Marxismus-Leninismus, ebd., S. 528-535. 51 Templin, Wolfang, Ganger, Jörg-Dieter: Personenkult, ebd., S. 626-632. 52 Scheuch, Erwin K.: Klassen und Klassenkampf, ebd., S. 457-463. 53 Margedant, Udo: Sozialistische Persönlichkeit, in: Ebd., S. 760-763.

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im internationalen Befreiungskampf, proletarischen Internationalismus, unverbrüchliche Verbundenheit mit dem Sozialismus und hohe Verteidigungsbereitschaft mit subjektbezogenen Alltagstugenden wie der Bereitschaft zu hohen Arbeitsleistungen, Kameradschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft, hoher Disziplin und nicht zuletzt intakter Sexual- und Familienmoral. Auf diese Norm wurden in der Jugendweihe54 junge Menschen öffentlich und feierlich verpflichtet. Dem Jugendweihegelöbnis folgte für Soldaten der Fahneneid und für SED-Mitglieder ein Programm (Schulungswesen)55, das gleichfalls wie ein Katechismus eingeprägt wurde. Auch den Schulungen in den Ausbildungseinrichtungen und Betrieben konnte sich keiner entziehen. Damit war das System ideologischer Bevormundung perfekt. Moral und Ethik im Sozialismus wurden von der Partei definiert und durch ihre Mitglieder auf allen Ebenen durchgesetzt. Wieder war in einem Teil Deutschlands eine Ideologie mit dem Anspruch beherrschend, allein die Wahrheit zu vertreten und von dem Wahn bestimmt, die ganze Gesellschaft formen und alle Menschen für sich gewinnen zu können. Weil dieser ideologische Anspruch mit vielfältigen Unterdrückungsmechanismen56 durchgesetzt wurde, herrschten unterhalb der offiziell verordneten Zustimmung Angst, Heuchelei und Lüge. Schon Kinder und Jugendliche wußten genau, was man als Pflichtübung nach draußen offiziell zu vertreten hatte, damit man für seine persönliche und berufliche Entwicklung keine Schwierigkeiten bekam. Eigene persönliche Wertvorstellungen waren nicht gefragt, wie ja auch die materialistische und atheistische Weltanschauung keine überzeugenden Angebote für die individuellen Fragen wie Liebe, Freundschaft und persönliches Glück bereithielt. Die Maximen der kommunistischen Ideologen waren Werte, die vor allem der Stabilisierung ihres gesellschaftlichen Systems dienen sollten: Solidarität, Kollektivismus, Leistungsbereitschaft, Disziplin, sozialistischer Patriotismus für das Vaterland DDR und proletarischer Internationalismus. Differenzierungen im System: Die Wirkung der massiven ideologischen Beeinflussung auf immer größere Teile der Bevölkerung konnte nicht ausbleiben. Sie gestaltete sich aber anders als die marxistischen Ideologen planten. Bereits Marx unterlag dem fundamentalen Irrtum, daß der Aufbau einer neuen Gesellschaft auch den neuen Menschen hervorbringt (Marxistisches Menschenbild,57 Marxistische Philosophie).58 Die SED-Ideologen mußten irritiert sein, wenn es auch nach dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft neues Fehlverhalten gab, das nicht auf den Klassenfeind zurückzuführen war. Marxistische Soziologen und Psychologen suchten nach Erklärungen und Methoden, wie die Menschen zu gewinnen sind, die der sozialistischen Gesellschaft

54 Neubert, Ehrhart: Jugendweihe, in: Ebd., S. 428-431. 55 Eckert, Rainer: Schulungswesen der SED, in: Ebd., S. 684-686. 56 Fricke, Karl Wilhelm: Unterdrückungsmechanismen, in: Ebd., S. 870-877. 57 Beintker, Michael: Marxistisches Menschenbild, in: Ebd., S. 537-543. 58 Wisniewski, Roswitha: Marxistische Philosophie, in: Ebd., S. 535-577.

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durch Abwanderung nach draußen oder durch Verweigerung im Inneren den Rücken wandten. Selbst Psychotherapeuten wurden in den Dienst der Konsolidierung gestellt. Man fing deshalb auch an, den Dialog mit Menschen anderer weltanschaulicher Überzeugung zu suchen. Vor allem durch die Schriftsteller wurden Themen in das kritische Bewußtsein gerückt, die für die ethische Urteilsbildung wichtig sind und durch die Ideologen und die Propaganda gar nicht wahrgenommen wurden: Leiden und Schmerz in der sozialistischen Gesellschaft, Sterben und Tod, ethische Probleme der modernen Medizin, Lebensgestaltung im Alter. Aber das marxistische System in der DDR selbst blieb eng und ängstlich bedacht auf seine eigene Identität als Verwirklichung der fortschrittlichsten Ideen der deutschen Geschichte. Von den orthodoxen Kräften wurde weiterhin ideologische Abgrenzung – auch gegenüber marxistischen Ansätzen in den osteuropäischen Ländern und im Westen – praktiziert. Die Alltagserfahrung der Bürger in der DDR aber sah ganz anders aus. Ihre ethischen Urteile und moralischen Prinzipien wurden zunehmend durch den Einfluß der westlichen Medien und eine selbständige Auseinandersetzung mit Fragen der Moral und Ethik bestimmt. Gegenwartssituation: Die Menschen in Ostdeutschland haben die Enttäuschungen hinter sich, die zwei totalitäre Systeme mit ihren Heilsversprechungen erzeugt haben. Ihre persönlichen moralischen Anstrengungen für Systeme, die sich zuletzt als unmoralisch erwiesen haben, müssen sie als vergeblich empfinden. Sie haben auch erlebt, daß sie persönlich verführbar waren und aus Angst nicht zu eigenen Überzeugungen gestanden haben. Das Erbe nach fast 60 Jahren diktatorischer Setzung, was angeblich das Gute und was das Böse sei, muß nüchtern gesehen werden. Ein großer Teil der Bürger im Osten ist säkularisiert und materiell eingestellt. Sie stehen dem Nihilismus näher als neuen Heilsbringern, die freilich Erfolg bei kleinen Gruppen haben. In der komplexen und komplizierten Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschland wünschen sich einige sogar die alten Verhältnisse zurück, andere suchen einfache Antworten auf ihre Fragen. Für neue moralische Haltungen müssen einsichtige ethische Begründungen gegeben werden. Noch überzeugender wirken Persönlichkeiten, die bereit sind, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen und sich freiwillig den hilfsbedürftigen Menschen zuwenden.59 1.5. Der Neue Mensch, die sozialistische Persönlichkeit? Das süße Leben der ausbeuterischen und privilegierten SED-Nomenklatura im Kommunismus (Wandlitz) Michael S. Voslensky war bis 1972 Professor in Moskau und hatte engsten Kontakt mit dem Apparat des ZK der KPdSU. Der Zeitzeuge strukturiert seine Analyse der Nomenklatura der Sowjetunion in neun Kapiteln: 59 Turre, Reinhard: Moral und Ethik, in: Ebd., S. 565-569.

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(I) (II) (III) (IV) (V) (VI)

Auch die sowjetische Gesellschaft ist antagonistisch.60 Lenin und Stalin, die Väter der neuen Klasse.61 Die Geburt der herrschenden Klasse.62 Die Nomenklatura, die herrschende Klasse in der Sowjetgesellschaft.63 Die Nomenklatura, die Ausbeuterklasse der Sowjetgesellschaft.64 Die Nomenklatura, die privilegierte Klasse der Sowjetgesellschaft: „Dies ist das süße Leben der Nomenklatura – der herrschenden, ausbeuterischen und privilegierten Klasse der Sowjetgesellschaft:

Wir haben uns davon überzeugt: Für einen Vergleich mit den Lebensbedingungen der höchsten Klasse des bürgerlichen Westens ist sie kein geeignetes Objekt. Das ist nicht verwunderlich; im Kapitalismus sind nicht Privilegien ausschlaggebend, sondern Geld; im Realsozialismus nicht Geld, sondern Privilegien. Diese Privilegien machen die Nomenklatura arrogant und ängstlich zugleich: Sie weiß nur zu gut, welche Gefühle ihre wachsenden Privilegien in der Sowjetbevölkerung hervorrufen. Die Nomenklaturisten beginnen, sich als Herrscher auf Abruf zu fühlen und Angst davor zu haben, was wohl geschehen wird, wenn das alles einmal ein Ende nimmt. Dazu eine Anekdote, die in den siebziger Jahren in Nomenklaturakreisen die Runde machte und den westlichen Korrespondenten als Brežnev-Anekdote serviert wurde, obwohl sie in Moskau über Nomenklaturafunktionäre im allgemeinen erzählt wird: Zu einem Mitarbeiter des ZK der KPdSU kam seine Mutter aus einer Kolchose auf Besuch. Sie lebte im ZK-Luxus in Moskau und in der Datscha, sie wurde mit ‚Kremljovka’-Speisen bewirtet; danach rüstet sie sich eiligst zur Heimreise. ‚Wohin denn, Mutter?’ fragte der Sohn beleidigt. ‚Bleib hier, bei uns ist es doch so schön!’ ‚Schön ist es schon’, antwortete das alte Weiblein, ‚aber gefährlich: Was geschieht, wenn die Roten kommen?’“65 (VII) Die Diktatur der Nomenklatura.66 (VIII) Eine Klasse mit Anspruch auf die Weltherrschaft.67 Im Gefolge der Sowjetunion erhoben die KPD/SED-Führer „Ansprüche“ auf die Westzonen/Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. (IX) Die parasitäre Klasse – die Nomenklatura wie sie wirklich ist.68 60 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion, 3. Aufl., 1985, S. 19 ff. 61 Ebd., S. 53 ff. 62 Ebd., S. 99 ff. 63 Ebd., S. 167 ff. 64 Ebd., S. 223 ff. 65 Ebd., S. 315 ff., 381. 66 Ebd., S. 385 ff. 67 Ebd., S. 475 ff. 68 Ebd., S. 517 ff.

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Die privilegierte Klasse der Sowjetgesellschaft, die Nomenklatura, war auch das Modell für die führenden Repräsentanten des SED-Staates und die anderen sozialistischen Staaten. Es soll nun recherchiert werden, ob die Privilegien der führenden Repräsentanten der sozialistischen Staaten mit dem sozialistischen Menschenbild dem sozialistischen Neuen Menschen übereinstimmten oder nicht. „Lenin wies darauf hin, daß Charakteristika des bürgerlichen Individuums wie Individualismus und Egoismus, Gewinnsucht und Gier nach Besitz oder labile politisch-moralische Haltung nicht in erster Linie persönliche Eigenschaften, sondern soziale Qualitäten eines bestimmten klassenbedingten Persönlichkeitstypus sind“.69 Der Neue sozialistische Mensch sollte nicht mehr die Charakteristika des bürgerlichen Individuums besitzen. Das Menschenbild des Sozialismus ist „klassenbedingt und bringt, in dialektischem Bezug auf die jeweilige Welt-, d. h. Natur- und Gesellschaftsauffassung, das Selbstverständnis der Menschen einer historisch konkreten Epoche zum Ausdruck. Revolutionäre Umwälzungen in der Gesellschaft sind daher auch durch Veränderungen des Menschenbildes gekennzeichnet, was besonders eindrucksvoll beim Übergang von Mittelalter zur Neuzeit (Renaissance) und vom bürgerlichen zum sozialistischen Menschenbild in Erscheinung tritt?“.70 Der Wirtschaftswissenschaftler Gary S. Becker hat die neoklassische Theorie bis zum Extrem weiterentwickelt und dabei Theorien der Liebe, der Religion und der Kriminalität entwickelt. Der Mensch ist nach Becker „im wesentlichen ein homo oeconomicus, der alle Entscheidungen rational trifft und dabei stets bestrebt ist, seinen Nutzen zu maximieren“.71 Becker behauptet, „daß der ökonomische Ansatz einen wertvollen, einheitlichen Bezugsrahmen für das Verständnis allen menschlichen Verhaltens bietet, obwohl ich selbstverständlich zugebe, daß ein Großteil des Verhaltens noch nicht geklärt ist, und das nicht-ökonomische Variable ebenso wie Forschungstechniken und Ergebnisse anderer Wissenschaften wesentlich zum Verständnis menschlichen Verhaltens beitragen. D. h., obwohl der ökonomische Ansatz einen umfassenden Bezugsrahmen bietet, stammen viele wichtige Begriffe und Methoden von anderen Disziplinen und werden auch weiterhin von diesen erbracht werden. Der Kern meines Argumentes ist, daß menschliches Verhalten nicht schizophren ist: einmal auf Maximierung ausgerichtet, einmal nicht; manchmal durch stabile Präferenzen motiviert, manchmal durch unbeständige; manchmal zu einer optimalen Akkumulation von Informationen führend, manchmal nicht. Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen.

69 Grundlagen des historischen Materialismus, S. 779. 70 Menschenbild, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 9, Leipzig 1974, S. 300 f. 71 Heuser, Uwe Jean: Ein Ökonom auf Abwegen, in: DIE ZEIT Nr. 43, 16. Oktober 1992.

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Trifft dieses Argument zu, dann bietet der ökonomische Ansatz einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Analyse menschlichen Handelns, wie ihn Bentham, Comte, Marx und andere seit langem gesucht, aber verfehlt haben“.72 Für seine Forschungen erhielt Gary S. Becker 1992 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Douglass C. North geht in seiner „Theorie institutionellen Wandels“ zwei Grundfragen nach: „1. Es ist wesentlich, genau die Struktur einer Wirtschaftsordnung darzustellen, wenn die Dynamik der Leistung dieser Wirtschaft in sinnvoller Weise untersucht werden soll. 2. Während einige der Veränderungen genau in der von der neoklassischen Theorie vorhergesagten Weise marginal erfolgen werden (d. h., daß Veränderungen der individuellen Kosten und Nutzen automatisch Verhaltensänderungen bewirken werden), wird das bei anderen nicht so sein. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Es läge nicht im Interesse eines einzelnen städtischen Arbeiters, Unruhe zu schüren und sich den Gefahren, die ein solches Vorgehen für Leib und Leben hat, auszusetzen. Das neoklassische Wirtschaftssubjekt würde sich still verhalten und den Aufstand anderen überlassen. Ebenso wenig lohnend wäre es für den Bauern, die Kosten der Organisation einer Petition an die Regierung zur Veränderung von Eigentumsrechten auf sich zu nehmen – oder für die potentiellen Verlierer die Organisation einer entsprechenden Gegenaktion. In jedem Falle würde das Schwarzfahrerdilemma ein anderes Ergebnis nahelegen. Sehen wir uns das Schwarzfahrerproblem genau an. Mancur Olson (1968)73 erweiterte das neoklassische Paradigma, um die Formen von Gruppenverhalten, die in einer neoklassischen Welt vorkommen, berücksichtigen zu können. Er stellte fest, daß es kleine Gruppen gebe, in denen die individuellen Nutzen eines Gruppenhandelns dessen Kosten überstiegen oder in denen einzelne zum Handeln gezwungen werden könnten, und daß es große Gruppen gebe (z. B. Ärztevereinigungen und Gewerkschaften), deren Mitglieder individuelle Vorteile erlangen könnten, die Nichtmitgliedern unerreichbar seien. Er zeigte auch, daß große Gruppen, die zum Zwecke der Herbeiführung von Veränderungen organisiert würden, ihren Mitgliedern aber nicht auch irgendwelche exklusiven Vorteile bieten könnten, eher unstabil seien und verschwänden. Im wesentlichen besagt seine Theorie: Rationale Einzelpersonen werden die Kosten der Teilnahme an der Aktion einer großen Gruppe nicht zu tragen bereit sein, wenn sie die individuellen Vorteile ebenso gut als Schwarzfahrer nützen können. Olsons Untersuchung wirft für den Wirtschaftshistoriker eine grundlegende Frage auf. Die unbefangene alltägliche Beobachtung bestätigt, daß Schwarzfahrerverhalten überall vorkommt. Aber die unbefangene Beobachtung bestätigt 72 Becker, Gary S.: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 2. Aufl., Tübingen 1993, S. 15. 73 Olson, Mancur Jr.: Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 1968.

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ebenso das Vorhandensein unzähliger Fälle, in denen es zu Aktionen großer Gruppen kommt, die eine wesentliche Triebkraft für Veränderungen sind – wobei solche Aktionen jedoch mit neoklassischen Mitteln schlechtweg unerklärbar sind. Der Wirtschaftshistoriker, der sein Modell in neoklassischer Manier konstruierte, hat darin einen grundlegenden Widerspruch eingebaut, denn das neoklassische Modell kann einen guten Teil des in der Geschichte zu beobachtenden Wandels auf keine Weise erklären. Der Marxist zaubert die ganze Frage mit der Behauptung hinweg, Wegbereiter des Strukturwandels seien die Klassen. Diese Behauptung hat natürlich keinerlei Erklärungswert, denn der Marxist ignoriert einfach das Schwarzfahrerproblem, indem er sich dem bemerkenswerten Glaubenssatz verschreibt, daß Menschen ihr individuelles Eigeninteresse hintanstellen werden, um im Interesse einer Klasse zu handeln, und zwar sogar unter erheblichen persönlichen Opfern. Den besten Beweis dafür, daß dies nicht das Standardverhalten ist, erbringen marxistische Aktivisten selbst, die unter Einsatz ungeheurer Energien versuchen, das Proletariat dahin zu bekommen, sich wie eine Klasse zu verhalten. Wir sollten auch bedenken, welche theoretischen Folgen es hat, wenn wir uns einer streng neoklassischen Betrachtung verschreiben, nach der das Schwarzfahrerproblem ein Tätigwerden großer Gruppen verhindern wird. Diese Folgen machen uns gleichzeitig die Erklärungskraft des neoklassischen Modells ebenso wie dessen Beschränkungen deutlich, und zum Schluß dieser Ausführungen will ich kurz auf einige derselben eingehen. 1. Die Erscheinung des Schwarzfahrerproblems erklärt die Stabilität von Staaten im Laufe der Geschichte. Die Kosten, die einem einzelnen im Falle eines Widerstandes gegen die Staatsgewalt erwachsen, führten zu Apathie bzw. zur Hinnahme der Vorschriften des Staates, gleichgültig wie drückend diese auch sein mochten. Ein historisches Gegenstück zu der heute in vielen Demokratien zu beobachtenden geringen Wahlbeteiligung ist in der Vergangenheit die Unfähigkeit der einzelnen, als Klasse zu handeln, und das Unvermögen großer Gruppen, Gesellschaften umzustürzen. Während die Tragweite dieser einfachen Beobachtung von der staatstheoretischen Literatur großteils nicht wirklich erfaßt worden sein dürfte, trägt ihr (freilich unabsichtlich) die riesige marxistische Literatur über Klassenbewußtsein, Klassensolidarität und Ideologie voll Rechnung. Lenin und spätere marxistische Aktivisten waren sich durchaus des sehr realen Problems bewußt, das der Schwarzfahrer für marxistische Theorie und revolutionäre Praxis bedeutete. 2. Institutionelle Neuerungen gehen eher vom Herrscher als von Staatsangehörigen aus, da sich diesen immer das Schwarzfahrerproblem stellt. Der Herrscher wird seinerseits fortfahren, institutionelle Neuerungen einzuführen, um sich an Änderungen der relativen Preise anzupassen, da er kein Schwarzfahrerproblem hat. So würde eine Verschiebung der relativen Knappheit von Boden und Arbeit, welche die Arbeit knapper werden ließe, den Herrscher institutionelle Veränderungen einführen lassen, die seine Renten aus der Arbeit erhöhen würden. An diesen Neuein-

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führungen würde so lange festgehalten werden, als die Opportunitätskosten der Arbeit sich nicht veränderten (d. h., solange sich am potentiellen Wettbewerb seitens anderer Herrscher nichts ändert). 3. Revolutionen werden Palastrevolutionen sein, die von den Agenten des Herrschers, von einem konkurrierenden Herrscher oder von kleinen Elitegruppen (im leninistischen Sinne) durchgeführt werden. 4. Wo der Herrscher der Agent einer Gruppe oder Klasse ist, wird es Vorschriften geben, die seine Nachfolge regeln, um die Möglichkeiten eines gewaltsamen Wechsels oder einer Revolution beim Tode des Herrschers zu minimieren. Wie oben erwähnt, sind gewaltsame Änderungen oder Revolutionen am ehesten von den Agenten des Herrschers zu erwarten. Die angeführten vier Punkte können die Stabilität der Staatsstruktur bzw. die Ursachen für deren Veränderungen im Laufe der Geschichte zu einem guten Teil erklären helfen. Wollten wir jedoch unsere Untersuchung auf Fälle beschränken, in denen sich private Nettogewinne (im engen ökonomischen Sinne) der Prinzipale erkennen und bestimmen lassen, so würden wir damit die Analyse des Strukturwandels des Staates in gravierender Weise behindern. Zur Lösung des Schwarzfahrerproblems müssen wir eine Theorie der Ideologie entwickeln. Da die Reallöhne in den letzten einhundertfünfzig Jahren gestiegen sind und das Arbeiterproletariat längst einen schwindenden Bruchteil des Arbeitskräfteangebots ausmacht, mußte sich die marxistische Ideologie diesem scheinbaren Widerspruch zu Marxens Analyse anpassen. Die Ideologie des Marxismus im Gegensatz zu Marxens eigentlicher Theorie des Mehrwertes und der Reservearmee der Arbeitslosen – versuchte, diese Veränderungen (und das Fehlen eines Klassenbewußtseins in Amerika) zu erklären und gleichzeitig Anhänger in für sie neuen Gruppen zu finden, die insofern für den Marxismus offen waren, als sie die Ungerechtigkeit ihrer eigenen Lage wahrnahmen. Eine flexible Theorie war nötig, um rassische Minderheiten, Frauen und neuerdings die Bewohner der Dritten Welt zu gewinnen. Daraus entstand, wie vorherzusehen, eine Fülle neuer Theorien, mit deren Hilfe solche Gruppen in die marxistische Ideologie eingebunden werden sollten, und, ebenso vorhersehbar, Streitigkeiten unter den Marxisten um die „richtige“ Theorie. Zu den Beschränkungen des Marxschen Modells zählen einerseits das Fehlen einer Theorie, die das Tempo des technischen Wandels erklärt, andererseits die Überbewertung der Technologie auf Kosten anderer Ursachen des Wandels. Marx vernachlässigt etwa die entscheidende Bedeutung des Bevölkerungswachstums in der Geschichte. Begreiflicherweise wollte Marx die Bevölkerungsveränderungen in seinem Modell keine zentrale Rolle spielen lassen; dennoch erhöht der Einbau des Bevölkerungswachstums in ein Marxsches Modell dessen Erklärungskraft erheblich. Mit der Technologie allein läßt sich ein guter Teil des säkularen Wandels einfach nicht erklären – etwa dort, wo sich die Technologie gar nicht wesentlich verändert zu haben scheint, oder dort, wo technischer Wandel zu seiner Verwirklichung keiner grundlegenden organisatorischen Veränderungen bedurfte.

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Zudem ist die Klasse eine viel zu umfangreiche und zu vielfältige Gruppe, um als primäre Handlungseinheit auftreten zu können. Marx gibt dies in seiner lockeren Analyse auch an vielen Stellen zu und erörtert Unterteilungen von Bourgeoisie und Proletariat, aber derlei Erörterungen sind bloß punktueller Art. Das individualistische Kalkül der neoklassischen Theorie ist ein besserer Ausgangspunkt. Eine Aggregation, die von einer Interessengemeinsamkeit ausgeht, läßt eine größere Flexibilität des Modells zu, ohne daß dies seiner Logik Abbruch täte. Die Aggregation kann faktisch bis zur Bildung einer Klasse gehen: wenn etwa die Mitglieder der Meinung sind, sie hingen gleichen gemeinsamen Interessen an. Diese Betonung einer Interessengemeinsamkeit erlaubt es auch, die Konflikte innerhalb einer Klasse zu untersuchen, die tatsachlich einen erstaunlich großen Teil des säkularen Wandels erklären. Weder das marxistische noch das neoklassische Modell vermag jedoch das Schwarzfahrerproblem zu lösen, das im Mittelpunkt jeder Erklärung von Gruppenhandeln stehen muß. Die Stärke der Marxschen Analyse bestand darin, daß sie den Strukturwandel und die Spannung zwischen dem Produktionspotential einer Gesellschaft und der Struktur ihrer Eigentumsrechte in den Mittelpunkt stellte; aber die Betonung der Klassenunterschiede hat vom Konflikt innerhalb einer Klasse, wie er durch eine Wirtschaftsordnung vorgegeben ist, abgelenkt. Der gravierendste Mangel der Marxschen Analyse bestand jedoch darin, daß sie die Probleme der Entfremdung als Folgen des Kapitalismus ansah statt zu erkennen, daß diese Probleme vorgegebene organisatorische Auswirkungen der Zweiten Wirtschaftlichen Revolution sind. Drückebergerei, Opportunismus und externe Effekte nehmen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern genauso überhand wie in kapitalistischen Wirtschaften. Die weit verbreitete Auffassung westlicher Marxisten, daß die Sowjetunion kein sozialistisches Land sei, ist im Grunde eine Verkennung des Wesens der modernen Ordnungskrise“.74 Das süße Leben der ausbeuterischen und privilegierten SED-Nomenklatura im Kommunismus (Wandlitz). „Auch die DDR wies ihn auf, den ‚klassenbedingten Persönlichkeitstyp’. Er gehörte zur Führung von Partei und Staat und wurde auf geradezu klassische Art und Weise durch die Männer des SED-Politbüros verkörpert, beginnend bei der Nummer Eins: Dem DDR-Bürger mit dem Personalausweis A0000001, Generalsekretär Erich Honecker. Jahrelang rätselten selbst mehr oder minder Eingeweihte, ob der schlicht agierende Honecker ein Opfer des Apparats war oder selbst den Kult um seine Person organisierte. Zweimal im Jahr ließ er sich im SED-Zentralorgan ‚Neues Deutschland’ auf drei Dutzend und mehr Fotos zur Eröffnung der Leipziger Messe abfeiern, sein überlanger Titel eines ‚Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik’ mußte tagtäglich bis zum Überdruß in allen Nachrichten verlesen werden, als ob er den Bürgern seines Landes nicht längst geläufig war. 74 North, Douglass C.: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988, S. 10f., 32 f., 54, 63 f., 190.

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In der Tat gab es kaum einen realen Bezug zwischen Volk und Führung. Mauern versperrten nicht nur den Bewegungsraum nach Westen, sondern schirmte auch das Politbüro vor der eigenen Bevölkerung ab. Am Rande der Ortschaft Wandlitz, eine halbe Autostunde vom Berliner Zentrum entfernt, wurde die ‚verbotene Stadt’ errichtet. Der Beschluß vom 31. Mai 1960 sagte aus, daß auf Bedenken des Ministeriums für Staatssicherheit eine Kasernierung unumgänglich sei – aus Sicherheitsgründen. Der Umzug aus den vergleichsweise großbürgerlichen Villen in BerlinPankow muß den Oberen nicht leicht gefallen sein. Über 600 Angestellte sorgten sich am Ende um das Wohl der zwei Dutzend Familien auf dem mehrere Quadratkilometer großen Areal, das in einen inneren und äußeren Sperrkreis eingeteilt war. Im äußeren Sperrkreis wohnten die Angestellten – ausnahmslos bei der Staatssicherheit beschäftigt –, waren Geschäfte, eine Gärtnerei, das Heizhaus, ein eigenes Wasserwerk, die eigene Energiestation und diverse Werkstätten. Die tägliche Fahrt von der ‚Waldsiedlung Wandlitz’ zum ZK-Gebäude und wieder zurück verband ihn ebenso wenig mit dem täglichen Leben seiner Mitbürger, wie die organisierten Betriebsbesichtigungen. Honecker und die Mehrzahl der Führungsmitglieder ahnten wenig von den täglichen Kümmernissen der Bevölkerung. Als das Politbüro 1978 den Beschluß faßte, sich für die täglichen Fahrten Nobelkarossen bei der schwedischen Firma ‚Volvo’ anfertigen zu lassen, reagierte die DDR-Bevölkerung fassungslos: Für viele waren das unverständliche Gesten, erklärte die Führung doch stets, daß sie nur als Gleiche unter Gleichen agierten, Vertreter des Volkes seien. Doch für eben dieses Volk waren Westwaren und jede Form westlichen Lebensstandards weitgehend tabu. Doch es blieb nicht beim Auto. Im Einkaufscenter der Waldsiedlung gab es nach einigen Jahren kaum noch DDR-Güter. Von den täglichen Nahrungsmitteln bis zu den technischen Produkten wurde alles aus dem Westen herangeschafft. Sechs Millionen D-Mark pro Jahr, wies Generalsekretär Honecker seinen Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski an, sollten bereitstehen, um die Wünsche seiner Politbüro-Oberen zu befriedigen – rund eine Viertelmillion Valutamark je Familie. Verwaltet wurde das Geld von Frau Sigrid Schalck-Golodkowski, die wie ihr Ehemann den Dienstrang einer ‚Genossin Oberst’ der Stasi führte. Den Wert zu steigern, kaufte sie im Großhandel kostengünstig ein und konnte damit den SED-Ranghöchsten phantastische Preisangebote unterbreiten. Und die führenden Genossen nutzten die Offerten: Mittag kaufte im Jahr zehn Farbfernseher, auch Sindermann erwarb noch kurz vor Toresschluß in den letzten Wochen vier TV-Geräte. Bezahlt wurde in Wandlitz zum Kurs 1:1. Was Wunder, daß die Genossen in ‚Volvograd’, wie die Siedlung im Volksmund genannt wurde, sich bereits mit der konkreten Gestaltung der kommunistischen Gesellschaft befaßten, waren für sie die irdischen Probleme im Alltag doch bereits gelöst. Die SED-Führung konnte ihre Herrschaft über vier Jahrzehnte aufrechterhalten, weil sie sich auf eine ihr loyal ergebene Schicht von Funktionären in Partei, Staat und Gesellschaft stützen konnte. Die zur Machtausübung notwendige Funktionärsschicht umfaßte etwa 3% der ca. 12 Millionen erwachsenen DDR-Bürger und damit ca. 300.000 bis 400.000 Personen (1989). Als systemtragende Kräfte im engeren

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Sinne des Wortes können die hauptamtlichen SED-Funktionäre (44.000), die Mitglieder und Kandidaten der Bezirks- und Kreisleitungen (21.000), ein Teil der Parteisekretäre (88.000), die etwa 150.000 Funktionäre in Massen- und gesellschaftlichen Organisationen, ein Großteil der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter und der Offiziere von NVA und Volkspolizei (50.0000 bzw. 40.000) sowie etwa 150.000 Funktionäre in Verwaltung und Staatswirtschaft bezeichnet werden. Insgesamt umfasste der von SED-Mitgliedern gestellte Funktionärskörper ca. 1,2 Millionen Personen. Durch ein regional abgestuftes und hierarchisiertes Nomenklatursystem schuf sich die SED-Führung das Instrumentarium, um alle wichtigen Funktionen nach ihrer Maßgabe zu besetzen. Dieses System beinhaltete die Festlegung der Leitungspositionen in Partei, Staat, Wirtschaft und Massenorganisationen und bestimmte die jeweils zuständige Ebene in der Partei sowie den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, die für bestimmte Nomenklaturpositionen ein Vorschlagsrecht hatten und entscheidungsbefugt waren. Die als ‚Kader’ bezeichneten Fach- und Führungskräfte standen auch nach ihrer Berufung auf die vorgesehene Position unter ständiger Beobachtung des Parteiapparates und mußten regelmäßig an speziellen Schulungskursen teilnehmen, in denen ihnen die jeweiligen Vorgaben der Parteiführung vermittelt wurden. Das auf Stalin und die KPdSU zurückgehende Prinzip, ‚Kaderpolitik’ über spezielle Verzeichnisse (Nomenklatur) zu betreiben, bereitete die KPD-Führung schon im Moskauer Exil vor. Mit der Losung Stalins: ‚Nachdem eine richtige politische Linie ausgearbeitet und in der Praxis erprobt ist, sind die Parteikader die entscheidende Kraft der Partei- und Staatsführung’ kehrten die Moskauer Emigranten in das zerstörte Nachkriegsdeutschland zurück, um von Beginn an ihre Macht durch diese spezielle Personalpolitik aufzubauen und zu sichern. Das erste Nomenklatursystem der SBZ / DDR wurde vom Politbüro im März 1949 verabschiedet. Es enthielt alle Positionen im Parteiapparat, in den staatlichen Organen und in den Massenorganisationen, über deren Besetzung Politbüro oder ZK-Sekretariat entschieden. Im Laufe der Jahrzehnte weitete die Parteiführung das Nomenklatursystem horizontal und vertikal aus, bis schließlich, abgesehen von den Kirchen, alle Führungspositionen in Staat und Gesellschaft erfaßt waren. Die Zahl der Nomenklaturkader stieg dementsprechend von ca. 20.000 im Jahre 1951 auf über 300.000 im Jahre 1989. Nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus entschied die jeweils höhere Instanz über den Einsatz von Kadern der ihr untergeordneten Ebene. So entstand ein zwar regional und sektoral abgestuftes, aber dennoch auf die Zentrale fixiertes System. Über die Besetzung der höchsten Positionen entschieden das Politbüro, das Sekretariat des ZK bzw. die Kaderkommission des ZK selbst. Im Jahre 1986 erstreckte sich diese Zuständigkeit auf etwa 10.000 Nomenklatur-Funktionen. Die in der Nomenklatur des Zentralkomitees fixierte Schicht repräsentierte in einem weiten Sinne die Funktions- und Machtelite der DDR. Ausgehend von den Führungspositionen im politischen System läßt sich aus der Nomenklaturstufe I die eigentliche politische Elite bzw. Machtelite der DDR herausfiltern. Sie zählte hiernach ca. 660 Positionen bzw. 520 Personen. Neben den

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Spitzenfunktionären der SED gehörten die obersten Staats- und Sicherheitsfunktionäre sowie die Vorsitzenden der wichtigsten Massenorganisationen und der Blockparteien dazu. Während hierunter noch einzelne, nicht der SED angehörende (folgsame) Spitzenfunktionäre der Blockparteien zu finden waren, stellte ausschließlich die SED den politischen Führungskern, der die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, die ZK-Sekretäre, die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, die Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates, die SEDMitglieder im Präsidium des Ministerrates und den Präsidenten der Volkskammer umfaßte. Es handelte sich 1989 um insgesamt 64 Positionen bzw. 44 Personen. Das Nomenklatursystem war nicht öffentlich bekannt. Der betreffende Kader wußte oftmals nicht, ob und auf welcher Stufe er in das System eingebunden war. Die Parteiführung legte die allgemeinen Kriterien fest, nach denen die jeweiligen Kaderabteilungen zu verfahren hatten. Laut Beschluß des Sekretariats des ZK vom Juni 1977 sollten Nomenklaturkader unter anderem folgende Bedingungen erfüllen: -

Unbedingte Treue zur SED und zum Marxismus-Leninismus; kompromißloser Kampf gegen alle Erscheinungen der bürgerlichen Ideologie; unbedingte Loyalität gegenüber der Sowjetunion; konsequente Erfüllung der Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschuftsund Sozialpolitik; Parteilichkeit, Sachkenntnis, Disziplin, schöpferische Initiative, Bescheidenheit und vorbildliche Haltung in der Arbeit und im Privatleben; Wahrung von Partei- und Staatsgeheimnissen, Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit dem MfS, z. B. bei der Auswahl und Sicherheitsüberprüfung von Reise- bzw. Auslandskadern.

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Nomenklatursystem der DDR75 Nomenklatur

Politbüro

I.

Parteiapparat

Volkseigene Betriebe

Massenorganisationen, andere Parteien - Vorsitzende der anderen vier Parteien (DVD, DBD, CDPD, NDPD) - Vorsitzende u. a. der in der VK vertretenen Massenorganisationen (FDJ, FDGB, Kulturbund, DFG, VdgB) - Präsidenten der wissenschaftl. Akademien

- ZK-Mitglieder - Sekretäre des ZK - 1. Sekretär der Bezirksleitungen - Leiter zentraler Parteiinstitution

- Staatsrat - Ministerrat - Vorsitzender der SPK u. a.

- Abteilungsleiter und Stellvertreter des ZK Apparats - Leitende Mitarbeiter zentraler Parteiinstitutionen - Sekretäre der Bezirksleitungen Parteiorganisatoren in Kombinaten und Großbetrieben - 1. Sekretäre der Kreisleitungen - Leiter der Bezirksparteischule

- Stellvertretender Minister - Stellvertretender Vorsitzender der - SPK Leiter und Stellvertreter zentraler Staatsorgane - Vorsitzende des Rates des Bezirks - Mitglieder der Räte der Bezirke - Leiter der Bezirksinspektion der AB - Vorsitzender des Rates des Kreises

- Generaldirekren der Kombinate - Direktoren wichtiger Großbetriebe - Leiter von Großbaustellen - Vorsitzende der Bezirkswirtschaftsräte

- Stellv. Vorsitzende und Bezirksvorsitzende der anderen vier Parteien - Stellv. Vorsitzende und Bezirksvorsitzende der VK-Massenorganisationen - Vorsitzende andere bedeutender Massenorganisationen z. B. Verbände der Schriftsteller, Journalisten, Bildende Künstler, DTSB, VKSK, Volkssolidarität, KDT - Rektoren von Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen

- Sekretäre der Kreisleitung - Sekretäre von Grundorganisationen aus wichtigen Bereichen - Leiter von Kreis- und Betriebsschulen des Marxismus-Leninismus

- Abteilungsleiter, Sektorenleiter - Leiter von Fachabteilungen - Leiter von Stabsorganen zentraler Staatsorgane - Leiter von ökonomisch selbstständigen Einrichtungen (z. B. Reisebüros, Banken) - Abteilungsleiter der Räte der Bezirke - 1 . Stellv. Vorsit zende des Rates des Kreises - Mitglieder der Räte der Kreise

- Stellvertretende Generaldirektoren - Abteilungsleiter von Kombinaten und wichtigen Großbetrieben - Werkdirektoren und stellvertretende Direktoren mittelgroßer Betriebe (10005000 Beschäftigte) - Leiter von Zweigbetrieben, Hauptbuchhalter, - Stellv. Vorsitzender und Abteilungsleiter des Bezirkswirtschaftsrates

- Mitglieder der Führungsgremien - Fachdirektoren und leitende Mitarbeiter der anderen vier Parteien und politisch wichtiger Massenorganisationen auf Bezirksebene - Stellv. Vorsitzende und Bezirksvorsitzende andere großer Massenorganisationen

- Hauptamtliche Mitarbeiter der Kreisletungen - Sekretäre der Grundorganisationen

- Kreisbaudirektoren - Stadtbaudirektoren - Abteilungsleiter der Räte der Kreise

- Werkdirektoren kleiner Betriebe - Fachdirektoren und Abteilungsleiter mittelgroßer Betriebe

- Leitende Vorsitzende und Mitarbeiter der o. g. Organisationen auf Kreisebene

II.

III.

Staatsapparat

75 Meyer, G.: Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, Tübingen 1991, S. 90.

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Nach diesen Kriterien stand die politische Zuverlässigkeit in der Regel vor der fachlichen Eignung, so daß auf vielen Positionen eher das Mittelmaß als die fachliche Elite dominierte. Die jeweilige Kaderpolitik erfolgte auf der Grundlage von Kaderprogrammen und Kaderentwicklungsplänen. Während erstere die Kaderordnungen der einzelnen Bereiche festlegten, umfaßten die Entwicklungspläne die Qualifizierung und Entwicklung der erfaßten Mitarbeiter für einen gewissen Zeitraum. Hieraus resultierten entsprechende Vorschläge zur Besetzung und zur Veränderung von Nomenklaturpositionen. Nomenklaturkader konnten aus Staats-, Wirtschafts- und gesellschaftlichen Funktionen in den Parteiapparat und umgekehrt versetzt werden. Feste Aufstiegsordnungen existierten nicht. Über soziale und berufliche Karrieren entschied allein die zuständige Parteiinstanz, wobei deren letztlich ausschlaggebende Kriterien bei der Besetzung von Stellen geheim blieben. Die Nomenklaturkader rekrutierten sich aus einem Reservoir von Nachwuchskräften, die schon in jungen Jahren systematisch ausgewählt und auf ihre spätere Position hin vorbereitet wurden. Nach entsprechender Qualifizierung und fortwährenden politisch-ideologischen Loyalitätsnachweisen erfolgte eine Aufnahme dieses Führungsnachwuchses in die sogenannte Kaderreserve. Die Beurteilungen über die politische und fachliche Eignung hielten die jeweiligen Kaderabteilungen in speziellen Kaderakten fest, deren Inhalt dem einzelnen nur punktuell bekannt war. Die Nomenklaturkader genossen (abgestuft) spezielle Privilegien, z. B. eine überdurchschnittliche Entlohnung, eine bessere medizinische Versorgung, Zusatzrenten, Vergünstigungen bei der Wohnungszuteilung und der Versorgung mit knappen Konsumgütern oder auch Vorteile bei der Zulassung der Kinder zu höheren Bildungseinrichtungen. Allerdings waren mit diesen Positionen auch erhebliche Belastungen wie ein Verlust an Freizeit, das Verbot privater Westkontakte oder auch eine intensive Kontrolle durch Partei- und Staatsorgane (teilweise auch durch das MfS) verbunden. Die ‚Kader’ stellten das personelle Rückgrat der SED-Diktatur dar und sicherten deren Überleben. Wer sich nicht mehr einfügte, dem drohten sozialer Abstieg und Ausgrenzung. So folgte diese mehrere hunderttausend Personen umfassende Funktionärsschicht der Parteiführung bis zum Untergang, war aber 1989/90 nicht mehr willens oder fähig, das sozialistische System aktiv zu verteidigen. In der Endphase der DDR hatte sich die in der Bevölkerung anwachsende innere Distanz zum System, die mit erheblichen Zweifeln an Ideologie und Utopie einherging, nun auch in ihren Reihen ausgebreitet“.76 Hannes Bahrmann und Peter-Michael Fritsch schildern den Sumpf, die Privilegien, den Amtsmißbrauch und die Schiebergeschäfte der SED-Nomenklatura. Das Handeln geschah außerhalb und gegen geltendes Recht in der DDR. „Erst nach dem Sturz der SED-Führung kam das ganze Ausmaß ihrer Machtanmaßung ans Tageslicht. Sie hatten sich schlicht einen ganzen Teil des Landes 76

Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 407411.

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eingezäunt, um dort ihrer Jagdleidenschaft zu frönen oder sich vom politischen Stress in gesonderten ‚Erholungsobjekten’ in aller Einsamkeit zu entspannen. Honecker war ein leidenschaftlicher Jäger. Er hielt sich gleich mehrere Geländewagen, mit denen er nach getaner Arbeit schnell eines der nähergelegenen Reviere in der Schorfheide erreichen konnte. Seine Vorliebe galt dem dunkelgrünen Landrover in einer Sonderversion, bei der das erlegte Wild auf dem Heck abgelegt werden konnte. Für komfortablere Pirschfahrten stand der Range Rover und ein Toyota Landcruiser zur Verfügung. Der Leibwächter der Nummer Eins der DDR erinnert sich: ‚Als ich 1975 zum Kommando kam, war das ja alles noch in Ordnung. Da ist er manchmal zusammen mit Günter Mittag im offenen Jagdwagen rausgefahren. Damals waren die beiden immer nur so lange unterwegs, bis hinten im Auto alles voll war mit erlegtem Wild. Doch als dann Mittag Range Rover und Mercedes Geländewagen mit Funk besorgte, da mußten wir vom Personenschutz immer öfter ran und die Aufgabe von Förstern und Treibern übernehmen’. In den letzten Jahren fuhren Honecker, Mittag & Mielke in jeder freien Minute in den Wald. Wie der Leibwächter berichtete, schossen sie dort an manchen Tagen zehn bis 15 kapitale Hirsche. Die Männer vom Wachregiment des MfS bekamen nur noch über Funk die Koordinaten mitgeteilt, wo die Kadaver abzuholen waren. Sie mußten sie dort aufbrechen und in das Schlachthaus bringen, wo die Jäger später ihre Beute betrachteten. Ex-Hauptmann Ralf Ehresmann: ‚Es wurde alles geschossen, was denen vor die Flinte kam. Hätte das ein ordentlicher Jäger gesehen, so hätte der bestimmt sein Gewehr in die Ecke gestellt und sich geschämt’. Der Norden der DDR, besonders die mecklenburgische Seenplatte, gilt als ein ideales Erholungsgebiet, in seiner Abgeschiedenheit einmalig in Europa. Diese Vorzüge wußte auch der SED-Generalsekretär zu schätzen. Rund um das kleine verträumte Dorf Nossentiner Hütte ließ er ein Areal von über 11.000 Hektar einzäunen, das er zur Jagd nutzte. Zentrum des ‚Staatsjagdgebiets Nossentiner Heide’ wurde das ‚Objekt Drewitz’ mit einer Kernfläche von 13,5 Hektar. 1983 begannen hier aufwendige Bauarbeiten, bei denen sechs große Gebäude entstanden. Allein die Kosten für Honeckers Wohnhaus sollen mehrere Millionen Mark betragen haben. Das ,TO 1’ (so das im Sicherheitsjargon der Bewacher genannte Teilobjekt 1, also das Haupthaus) verfügte in zwei Etagen über jeweils fünf Appartements mit jeweils einem Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad, die in gediegenem Luxus ausgestattet wurden. Edelhölzer, importierte Badarmaturen und die Fußbodenheizung vermittelten die gewünschte anheimelnde Atmosphäre. Im Souterrain befanden sich mehrere Saunaräume mit Tauchbecken und das zehnmal zwölf Meter große Schwimmbecken. Für den hohen Gast wurde eigens eine Satelliten-Empfangsanlage installiert. Die marmorne Terrasse gab den Blick frei auf den Alt-Schweriner See, der ‚aus Sicherheitsgründen’ für die Bevölkerung gesperrt war.

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Komplettiert wurde die Anlage mit einem Garagenkomplex für zwölf große Fahrzeuge, einer Waschanlage, einem Pflegestützpunkt und einer eigenen Tankstelle. Den Bau des Ferienobjekts hatte Stasi-Minister Erich Mielke veranlaßt. Persönlich versuchte er, Honecker das neue Domizil schmackhaft zu machen. Doch mit wenig Erfolg, denn in den ersten Jahren kam der Generalsekretär nur ein- oder zweimal ins ‚Objekt Drewitz’. Die Bediensteten hielten das Anwesen aber stets so bereit, daß der Hausherr von einem Moment zum anderen hätte erscheinen können. Ob Erich Mielke dem Namensvetter ein solch pompöses Anwesen nur deshalb organisierte, um das eigene Anwesen zu rechtfertigen, muß eine Vermutung bleiben. Im Uckermärkischen Wolletz im Kreis Angermünde hatte der Staatssicherheitsminister sein Areal abgesteckt. Er jagte im 15.000 Hektar großen Wald, der von einem eigenen Forstwirtschaftsbetrieb des MfS betreut wurde. Mielkes Jagdschloß bestand aus sechs mehrstöckigen Gebäuden mit Sauna, Bettenhaus und Großgaragen. Agenten in eigens für diesen Zweck von Mielke persönlich entworfenen Uniformen mit Lodenmänteln und Jägerhüten sperrten das Anwesen weiträumig gegen die Außenwelt ab. Natürlich war auch der angrenzende See für die Öffentlichkeit unzugänglich. Niemand durfte in den großen Wald zum Pilzesuchen. Hier jagte als persönlicher Gast des Stasi-Chefs auch der Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski. Der Jagd-Narr Mielke schoß ganzjährig, was ihm vor die Flinte kam. Die Geweihe wurden in einer Schau in einer eigens hierfür errichteten riesigen Trophäenhalle ausgestellt. Auch der Ministerpräsident Willi Stoph war ein wilder Schießer. Er spürte das Wild östlich der Müritz im Bezirk Neubrandenburg auf. Sein Domizil schlug er praktischerweise gleich im Naturschutzgebiet auf, das er mit einer nur für die Anfahrt zu seinem Anwesen vorbehaltenen Betonstraße zerteilte. Inmitten von Wald und Moor war hier eine künstliche Parklandschaft entstanden, in deren Mitte sich das Haus des Premiers befand. Ausgedehnte Obstplantagen gehörten ebenso wie Gewächshäuser, eine Schwimmhalle und ein Kühlhallenkomplex zu dem Objekt, das mehr Strom verbrauchte als eine mittlere Kleinstadt. Flugzeugtriebwerke dienten deshalb als Ersatzaggregate. Zehn überdimensionierte Kühltruhen enthielten Köstlichkeiten ausschließlich westlicher Herkunft. Hunderte Flaschen erlesener Spirituosen lagerten in den Kellern. Planungschef Gerhard Schürer liebte die Ostseeküste. Im Rahmen eines LVOObjekts, so die Codebezeichnung für Bauvorhaben der ‚Landesverteidigung’, die ohne Verzug und Rücksicht auf Kosten zu errichten waren, baute hier das Ministerium für Staatssicherheit ein Anwesen für 1,5 Millionen Mark. Vor Baubeginn mußte das Grundwasser abgesenkt und eine riesige Stahlbetonwanne angelegt werden, weil das Haupthaus halt unterkellert werden sollte. Allein dieser Wunsch bedeutete Kosten in Höhe eines ganzen Einfamilienhauses. Nur wenige Kilometer weiter ließ sich Politbüromitglied Hermann Axen auf dem Darß nieder. 1985 wurde das ‚Borner Projekt’ in Rekordzeit verwirklicht: auf

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einer Gesamtfläche von 12.000 Quadratmetern entstanden hier ein Bootshaus, das Haupthaus und weitere Gebäude für die Bediensteten. Die Baukosten sollen 4,5 Millionen betragen haben, Mit diesem Geld hätten zu DDR-Regelpreisen 45 Einfamilien-Häuser errichtet werden können. Das Problem bei der Gewährung von Privilegien für einen herausgehobenen Kreis war, daß sich die Teilnehmer in ungeahnter Schnelligkeit erweiterten und sich so ein System der gegenseitigen Begünstigung herausbildete. Bald blieb es nicht mehr im Kreis der Politbüromitglieder, wurden die nächstniederen Mitwisser abgefunden, zumal, wenn sie sich durch ihre Lokalkenntnis besonderes Wissen erworben hatten. Im Bezirk Rostock mit seiner reizvollen Ostseeküste und den wildreichen Staatsjagdgebieten siedelten sich gleich mehrere Spitzenfunktionäre an. Der frühere SED-Bezirkschef Harry Tisch wußte seinen Heimvorteil besonders zu nutzen. Für Millionenbeträge ließ er sich ein Jagddomizil im Kreis Ribnitz-Damgarten errichten und entspannte bei der Jagd im 100 Hektar großen Jagdgebiet bei Eixen. Sechs Förster waren ausschließlich damit befaßt, dem Gewerkschaftsvorsitzenden gutes Wild vor die Büchse zu treiben. ‚Der Harry kannte kein Gesetz’, erinnert sich Eixens Bürgermeister. ‚Der hat auch in der Schonzeit dazwischen gehalten’. Aber schließlich mußten auch die Ortsgewaltigen versorgt werden. Der SEDBezirkschef und sein enger Vertrauter erhielten von der Gebäudewirtschaft Rostock einen Doppelbungalow zur Nutzung, der durch die Ausreise der Bewohner freigeworden war. Beide Neumieter erwarben für 30 Mark ein 25jähriges Nutzungsrecht (später wurde die zeitliche Begrenzung ganz aufgehoben). Außerdem begann die Gebäudewirtschaft, umfangreiche Baumaßnahmen in Auftrag zu geben. Im Protokoll liest man: 1982: Gestaltung und Plattierung der Gehwege auf dem Grundstück – 4.800 Mark. 1982: Einbau von Nachtspeicheröfen – 9.000 Mark. 1984: Bau einer Doppelgarage 6.700 Mark. 1986: Werterhaltung des Zaunes einschließlich des Eingangstores mit massiv gemauerten Pfeilern – 8.000 Mark. 1986: Dachinstandsetzung – 16.500 Mark. 1986: Errichtung einer Wendeltreppe – 7.800 Mark. 1987: Vergrößerung der Garagen – 2.400 Mark. Kosten insgesamt: 60.200 Mark. Nachdem alle Baumaßnahmen abgeschlossen waren, bot die Stadt den beiden prominenten Lokalgrößen das Haus zum Kauf: Für die rund 550 Kubikmeter umbauten Raum verlangte man ganze 13.200 Mark. Diese Beispiele fanden sich landauf, landab. Das Schema war immer wieder gleich: Es wurden nur jene bevorzugt, die von den Privilegien der Oberen Kenntnis hatten. Vergleichbare Funktionsträger ohne dieses Wissen gingen leer aus. Massiert traten diese Erscheinungen im Zentrum der Macht Berlin zutage. Beispiel ‚Sonderbauvorhaben Achardstraße und Moosbacher Straße’ in Berlin-Kaulsdorf: In den Jahren 1982 bis 1984 entstanden hier 21 Villen im Bungalowstil, die bald das gesteigerte Interesse der Umgegend hervorriefen. Nicht nur, daß hier extrem schnell gebaut wurde, auch die Materialien wurden in westlicher Verpackung angeliefert. Fachkundige Hausbauer sahen auch sofort,

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daß hier offenbar alle sonst strikt gehandhabten Normative keine Rolle spielten. Westliche Gaszentralheizungen, Fliesen, die sonst kaum beschaffbar waren, und erlesene Natursteine ließen schon ahnen, daß hier nicht nach normalem DDR-Standard gebaut wurde. 300 Quadratmeter Wohn- und Nutzfläche, drei Toiletten, mehrere Duschen, eine Sauna, Hobbyräume, Kaminzimmer, vergleichsweise riesige Bäder und geflieste Kellerräume, das kannte man nur aus dem Kino. Als dann auch kostspielige Gartenanlagen gestaltet wurden und man sonst überhaupt nicht bekannten Rollrasen verlegte, wurden erste Fragen bei den Kommunalverantwortlichen laut. Doch die wiegelten ab: Bürger, die Häuser sind für ausländische Vertretungen bestimmt, Diplomaten, Korrespondenten und ähnlich Unantastbare. Wir investieren jetzt zwar Valutamittel, doch die werden durch die hohen Mieten – in West – schnell wieder eingespielt. Damit beruhigte man sogar noch jene, die sich zunächst empörten, daß alle Häuser ausnahmslos einen Telefonanschluß erhielten, obwohl viele in der Gegend schon 10 Jahre und mehr darauf warteten. Nach ihrer Fertigstellung wurden die Häuser bezogen, und es sprach sich bald herum wie ein Lauffeuer: Es waren DDR-Bürger. Empört stellten die Bürger erneut öffentlich Fragen. Die Behörden antworteten: Leider, die ausländischen Vertretungen hatten kein Interesse, sollten sie nun verkommen, die schönen Häuser? Wie sich herausstellte, wurden abermals Mitwisser abgefunden: Mitarbeiter des Bereichs Kommerziellen Koordinierung. Die gesamte Führung des Staates war in diese ausufernden Geschäfte eingespannt. Das Bauministerium beauftragte mit Vorliebe das Spezialbaukombinat Potsdam mit derartigen ‚Sondervorhaben’. Eigentlich sollte es Kasernen und Unterkünfte für die sowjetischen Truppen bauen, doch die anderen Projekte hatten stets Vorrang. Der Verantwortliche Staatssekretär Karl Heinz Martini sagte später vor einem Untersuchungsausschuß aus, daß auch für die Familienmitglieder der SED-Führung luxuriöse Behausungen errichtet wurden, wobei der Staat von vornherein bis zur Hälfte die Kosten übernahm. Frage: Antwort: Frage: Antwort: Frage: Antwort:

‚Wer bezahlte sie? Das Ministerium. Aus welchem Fonds? Aus einem Reservefonds, mit dem Härtefälle, die zum Beispiel durch ungünstige Witterung entstanden, ausgeglichen wurden. Wurden solche Bauten als Härtefälle betrachtet? Es waren für den Betrieb Härtefälle wegen der bestehenden Finanzregelung’“.77

In einem Schreiben an das Politbüromitglied Erich Mielke vom 25. April 1988 werden die zum Einkauf im Ladenkombinat in der Waldsiedlung aufgeführt:

77 Bohrmann, Hannes / Fritsch, Peter-Michael: Sumpf. Privilegien, Amtsmißbrauch, Schiebergeschäfte, Berlin 1990, S. 142-151. Kirschey, Peter: Geschlossene Gesellschaft. Wandlitz Waldsiedlung, Berlin 1990.

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(1) Führende Repräsentanten, die in der Waldsiedlung wohnen (2) Führende Repräsentanten, die nicht in Wandlitz wohnen (3) Verheiratete Kinder der führenden Repräsentanten mit ihren Familienangehörigen (4) Hinterbliebene von führenden Repräsentanten (5) Die Eltern führender Repräsentanten bei Besuchen in Wandlitz (6) Sowjetische Genossen mit ihren Familien und die Botschaft der UdSSR (7) Dienststellen und Objekte, die durch das Ladenkombinat beliefert wurden: Kanzlei des Staatsrates, Groß-Dölln, Grünheide, Seehaus Liebenberg

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Jede Politbüro-Familie erhielt rund 250.000 DM im Jahre bei einem Umrechnungskurs von 1 DM-Ost = 1 DM-West. Die nicht privilegierten DDR-Bürger mußten ihre Ost-Mark in den West-Berliner Wechselstuben zum jeweiligen Kurs umtauschen. „In den Jahren von 1969 bis 1975 verharrten die Kurse unter leichten Schwankungen auf dem Niveau von etwa 27 DM je 100 M. Nach 1975 kam es dann jedoch fast zu permanenten Abwertungen der Mark (Ausnahme 1981). Die Jahresdurchschnittskurse für 100 Mark verringerten sich im Zeitraum von 1975 bis 1989 von 28,19 DM auf 11,94 DM. Als Ursache hierfür ist die wachsende D-Mark-Nachfrage nach der Änderung des Devisengesetzes und der Öffnung der Intershops im Jahre 1974 zu sehen“.78 Freiverkehrsnotierungen für den Sortenkurs DM zu Mark der DDR von 1968 bis 1989 (Jahresdurchschnittskurse) für nicht privilegierte DDR-Bürger. Der Kurs für privilegierte Wandlitz SED-Kader war 1 M-Ost = 1 DM-West

[DM / 100 DM] 30

25

20

15

10

5 4 3 2 1 0 1968

1:1 SED-Politbüro in Wandlitz

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80

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88

Quelle: Deutsche Bundesbank

78 Rüden, Bodo von: Die Rolle der DM in der DDR, Baden-Baden 1991, S. 45.

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Nimmt man einen Wechselkurs von 100 Ost-Mark = 15 West-Mark an sowie ein Jahresverdienst von 12.000 Ost-Mark79 an, dann hätte ein DDR-Bürger 1.666 Mio. Ost-Mark aufwenden müssen, um 250.000 West-Mark wie die Wandlitz-Bewohner zu erhalten. Die 250.000 DM-West, die ein Wandlitz-Bewohner erhielt, entsprechen einer Arbeitszeit von 138,9 Jahren eines DDR-Bürgers. Dies zeigt die Dimension der Privilegien, die die DDR-Führung sich selbst zuschanzte. 2. Die Utopien beim XXII. Parteitag der KPdSU (1961) Bei Karl Marx muß man den Wissenschaftler und den Utopisten, den falschen Propheten,80 unterscheiden. Der 1818 in Trier geborene Marx ging 1843 nach Paris und vollzog dort den „endgültigen Übergang zum Kommunismus“.81 Nach der Niederlage der Revolution von 1848 wechselte Marx nach London, wo er bis zu seinem Tode lebte (1883). Im „Kapital“ (erster Band 1867 in Hamburg) entwickelte Marx die „proletarische politische Ökonomie; und durch seine Analyse und Kritik des Kapitalismus vollzog er eine Umwälzung im politökonomischen Denken der Menschheit. Marx begründete die welthistorische Mission der Arbeiterklasse, die kapitalistische Gesellschaft abzuschaffen und die klassenlose kommunistische Gesellschaft zu errichten.82 Die wissenschaftliche Begründung der Revolution resultierte hauptsächlich aus der Wert- und Mehrwerttheorie, die das Wesen des Kapitalismus enthüllt und dessen Berechtigung für eine bestimmte historische Epoche, also den keineswegs absoluten Charakter dieses System nachweist. Der dritte Band des ‚Kapitals‘ hatte die Einheit von Produktion und Zirkulation, also den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktionsweise zum Inhalt“.83 Gleichermaßen begründete Marx, daß die Kategorien als theoretische Ausdrücke der gesellschaftlichen Verhältnisse genau wie sie von historisch vergänglichem, vorübergehendem Charakter sind.84 Im „Manifest der Kommunistischen Partei“

79 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der 1989 der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (-Ost) 1989, S. 51, 129. 80 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. II., Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 7. Aufl., Tübingen 1992. 81 Müller, Manfred: Karl Marx (geb. 5.5.1818 in Trier, gestorben 14.3.1883 in London, in: Krause, Werner et al. (Hrsg.), Ökonomenlexikon, Berlin (-Ost) 1989, S. 339. 82 Ebd., S. 341. 83 Müller, Manfred: Karl Marx, S. 340 84 Eine ökonomische Kategorie ist ein „politökonomischer Grundbegriff (z. B. Ware, Wert, Kapital, Mehrwert), in dem sich objektive ökonomische Prozesse und Verhältnisse in verallgemeinerter Form widerspiegeln. Ökonomische Kategorien sind historisch bedingt, ihr Inhalt verändert sich mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse, Die Bildung ökonomischer Kategorien als Ergebnis wissenschaftlicher Analysen ist ein wichtiges Mittel, die ökonomischen Erscheinungen in ihrem Wesen zu erkennen und zu richtigen Schlußfolgerungen für die ökonomische Praxis zu kommen. In: Meyers Neues Lexikon, Bd. 7, Leipzig 1973, S. 404.

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wurde zusammenhängend der historische Platz des Kapitalismus und die Berufung der Arbeiterklasse umrissen. Marx traf im „Kapital“ zugleich Aussagen über die Ökonomik der zukünftigen Gesellschaft, die er unmittelbar aus den Feststellungen über das Wesen und den historischen Platz des Kapitalismus ableitete. „Die Oktoberrevolution 1917 in Rußland war, historisch betrachtet, nicht viel anderes als ein Putsch in einem vom Krieg erschöpften Lande. Er hatte Erfolg, weil die von Lenin angeführte Fraktion der Bolschewiki am rücksichtslosesten nach der Macht strebte. Dabei war die schon 1903 geprägte Bezeichnung Bolschewiki (Mehrheitler) von Anfang an irreführend: bis zur Machtergreifung in Rußland bildete Lenins Fraktion unter den russischen Sozialdemokraten eine deutliche Minderheit. Marx und Engels hatten eine proletarische Revolution unter Bedingungen und mit Folgen vorausgesagt, die in Rußland nicht bestanden bzw. in der Sowjetunion nicht eintrafen.85 Die Folge der Oktoberrevolution war, daß für den Marxismus die Sowjetunion eine Vorrangstellung erhielt, die stillschweigend auch von jenen angenommen wurde, die den Marxismus-Leninismus als eine Entstellung der ursprünglichen Lehre ansahen. Lenin. Schon um die Jahrhundertwende wurden unter Marxisten Stimmen laut, der prognostisch-revolutionäre Teil des Marxismus sei eine unhaltbare Spekulation (E. Bernstein).86 Der Marxismus begann sich mit verschiedenen Philosophien der Zeit (Sozialdarwinismus, Neukantianismus) zu verbinden; das revolutionäre Pathos der meisten Marxisten klang in dem Ausmaß ab, in dem die Sozialdemokratie zu einer auf Legalität bedachten Partei wurde. Nur ein kleiner Kreis hielt an den radikalen Prognosen fest. Die Revolution von 1917 gab der Theorie einen neuen Aufschwung, da sie Marx recht zu geben schien, obwohl dieser eine Revolution in Ländern wie England und Frankreich, nicht in einem halbentwickelten Land wie Rußland vorausgesehen hatte. Stalin. Zu einer alle Bereiche des Lebens umfassenden, spätestens seit 1930 in der Sowjetunion unumstrittenen Weltanschauung ist Lenins Version des Marxismus erst unter Stalin geworden: dabei liegt der Akzent auf dem dialektischen Materialismus, also einer materialistischen Ontologie und Naturphilosophie, die allerdings ‚qualitative Sprünge‘ beim Übergang von toter Materie zum Leben und vom Tier zum Menschen zuläßt. Die Dialektik wird teils als Lehre von den allgemeinsten Seinsgesetzen, teils als Methode gedeutet, wobei auf Hegel zurückgehende Elemente zurückgedrängt werden. Der historische Materialismus enthält eine extrem vereinfachte Kodifizierung der Grundzüge von Engels’ Lehre über Geschichte und Gesellschaft, wobei das Schwanken zwischen einem historischen Determinismus und dem revolutionären Elan zwar zum Problem wird, man dieses jedoch meist 85 Rubel, M.: K. Marx. Essai de biographie intellektuelle, Paris 1957. 86 Bernstein, Eduard: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899. Rikli, Erika: Der Revisionismus, Zürich 1936. Kautsky, Benedikt: Bernstein, Eduard (1850-1932), in: HdSW, 2. Bd., 1959, S. 5-7.

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zugunsten des ersteren entscheidet. Hinzu tritt eine als ‚wissenschaftlicher Sozialismus‘ umschriebene Doktrin, die Lenins politische Lehren zusammenfaßt und gelegentlich aktualisiert. In dieser Gestalt wirkt der Marxismus-Leninismus mit geringfügigen Veränderungen bis heute im Machtbereich der Sowjetunion und in den kommunistischen Parteien fort (Kommunismus). Aber wenn der Kommunismus der Sowjetunion unter Stalin zum ‚Sozialismus in einem Lande‘ wurde, d. h. zum Staats- oder National-Sozialismus, so durften das ‚normalfaschistische‘ Regime in Italien und das ‚radikalfaschistische‘ System in Deutschland nur dem weitesten Begriff des Sozialismus subsumiert werden, und auch der Kern der sozialdemokratischen Parteien ging bald in den aktiven oder passiven Widerstand. Doch schon die Tatsache, daß die Kommunisten ab 1935 die Politik des ‚Antifaschismus‘ und der ‚Volksfront‘ inaugurierten und kaum noch von Marxismus oder Sozialismus sprachen, macht es wahrscheinlich, daß die Zwischenkriegszeit mit Recht als die ‚Epoche des Faschismus‘ bezeichnet worden ist. Diese Epoche kam nur dadurch an ihr Ende, daß die marxistische Sowjetunion entgegen allen Denkvoraussetzungen des Marxismus durch die Hauptmächte des Kapitalismus in Stand gesetzt wurde, den militärischen Angriff des militanten AntiMarxismus zurückzuschlagen und schließlich auf den Trümmern von Hitlers Reichskanzlei die rote Fahne aufzupflanzen. Die Geheimrede N. Chruschtschows auf dem XX. Parteikongreß von 1956 stellte unwidersprechlich unter Beweis, daß der ‚stalinistische‘ Despotismus weit von den Vorstellungen der Gründerväter des Marxismus entfernt war, aber Chruschtschows eigenes Regime und dasjenige seiner Nachfolger markierten schwerlich einen überzeugenden Bruch. Die Vermutung mußte auftauchen, daß das sowjetische System sich nicht essentiell von jenen Entwicklungsdiktaturen der ‚Dritten Welt‘ unterschied, die zwar viel marxistisches Vokabular verwendeten, aber doch offensichtlich allenfalls ‚staatssozialistische‘ Regime waren. In diese Denkrichtung bewegten sich auch einige der Denker des ‚Eurokommunismus‘, durch den der westeuropäische Marxismus einen erstaunlichen Frieden mit der parlamentarischen Demokratie und dem Konzept der Gewaltlosigkeit zu schließen schien. Noch klarer war, daß die meisten der im akademischen Leben zu beträchtlichem Einfluß gelangten amerikanischen Marxisten schroff antisowjetisch waren und ihre Sympathie den von der Sowjetunion in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen niedergeworfenen oder unterdrückten Bewegungen wie vor allem der Gewerkschaft ‚Solidarität‘ zuwandten. So konnte am vorläufigen Ende der ‚Via triumphalis‘ in den 80er Jahren die Frage aufgeworfen werden, ob es ‚den Marxismus‘ im Sinne der Gründerväter überhaupt gibt. Fortbestehende Tendenz zum Totalitarismus. Da der Marxismus nur den einen Pol positiv hervorhebt, nämlich die Einheit und Harmonie, und in der Realität nichts anderes zu erzeugen vermocht hat als Systeme der staatlichen Planwirtschaft, kann er auch die eigentlichen Aufgaben der Zukunft nicht erkennen, nämlich die Herstellung eines nicht bloß statischen Gleichgewichts zwischen Regelung und Spontaneität, d. h. zwischen Plan und Markt, zwischen Staaten und überstaatlichen Organisationen, zwischen egalisierenden und differenzierenden Tendenzen. Nach

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menschlichem Ermessen wird nicht eine ‚Lehre‘ zu diesem Zustand führen, der weder Erlösung noch Konfliktlosigkeit bedeutet, sondern nur ein langwieriges und mühsames Sich-Austarieren unterschiedlicher Kräfte, Interessen und Ideologien, die indessen in dem Bewußtsein einer neuen und planetarischen Verantwortung übereinstimmen müßten. In seiner Doppelorientierung auf realen Kampf und angestrebte Harmonie war und ist der Marxismus zwar ein außerordentlich wichtiger Faktor in diesem Prozeß, aber die Fortdauer seiner Tendenz zu Selbstbezogenheit und Totalitarismus wäre keine geringere Gefahr als ein bloßes ‚freies Spiel der Kräfte‘, wie es von einer extremen Form des Liberalismus als Lösung angeboten wird. Marxismus als Pseudoreligion.87 Synkretismen aus Marxismus und Christentum haben in den letzten Jahren heftige innerchristliche Auseinandersetzungen ausgelöst. Sie sind u. a. durch den Umstand zu erklären, daß der Marxismus immer quasi-religiöse Züge aufwies. Weit davon entfernt, wissenschaftlich zu sein (K. Popper), eignet er sich vorzüglich als Religionsersatz für (sozial engagierte) Intellektuelle, die im Christentum bloß eine Vorform wahrer Humanität sehen und dessen Weg in der jüngeren Neuzeit für unbefriedigend halten. Die revolutionäre Eschatologie des Marxismus hält ihre Hoffnung wach, ohne ein ‚Jenseits‘ könnte das ‚Diesseits‘ ganz anders, von sich aus sinnerfüllt sein. Daß die postrevolutionäre Wirklichkeit des Marxismus bisher immer zu einem Alptraum wurde, kann aufgrund der enormen Variabilität des Marxismus jeweils durch den Hinweis wegerklärt werden, man sei nicht dem wahren Marxismus gefolgt. Im Grunde ist der Marxismus eine säkularisierte Heilslehre, ein Konzept der Erlösung des Menschen durch Taten der Menschen“.88 Bei Marx, Lenin, Stalin und ihren Nachfolgern war der utopische Sozialismus das Modell der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft. Ein besonders schönes Beispiel für den utopischen Sozialismus lieferte N. Chruschtschow beim XXII. Parteitag der KPdSU in Moskau (17.-31. August 1961). Beim XXII. Parteitag referierte Nikita Sergejwitsch Chruschtschow über „die Aufgaben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft“. „Der Kommunismus ist die lichte Zukunft der ganzen Menschheit.89 Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft ist zur unmittelbaren praktischen Aufgabe 87 Ottmann, Henning: Entfremdung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 2. Bd., 1995, S. 278-283. Israel, J.: Der Begriff der Entfremdung, Reinbek 1972. „Die Beseitigung der ökonomischen Entfremdung ist die der Entfremdung als eines komplizierten, bewußt gelenkten Prozesses der Entwicklung des Menschen im Sozialismus-Kommunismus“, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 4, Leipzig 1972, S. 287. 88 Lobkowitz, Nikolaus / Nolte, Ernst: Marxismus, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, S. 1032-1045. 89 Die Berliner Mauer wurde gebaut, um das „letzte Schlupfloch über die noch offene Berliner Sektorengrenze zu schließen. Im Juli 1961 war die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft auf 30.415 angestiegen. Insgesamt verließen im Jahre 1961 bis zum 13. August 125.053 DDR-Bewohner ihre Heimat – von der Gründung der DDR im Jahre 1949 bis zum Mauerbau waren es fast 2,7 Mio. Holzweißig, Gunter: Mauerbau, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter /

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des Sowjetvolkes geworden. Das allmähliche Hinüberwachsen des Sozialismus in den Kommunismus ist eine objektive Gesetzmäßigkeit, vorbereitet durch die gesamte vorangegangene Entwicklung der sozialistischen Sowjetgesellschaft. Was ist Kommunismus? Kommunismus ist eine klassenlose Gesellschaftsordnung,90 in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen werden und wo das große Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewußtsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewußt gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem größten Nutzen für das Volk anwenden wird. Hohes kommunistisches Bewußtsein, Arbeitsfreude, Disziplin und Ergebenheit den Interessen der Gesellschaft gegenüber sind unveräußerliche Eigenschaften des Menschen der kommunistischen Gesellschaft. Der Kommunismus gewährleistet dank der schnell fortschreitenden Wissenschaft und Technik eine ununterbrochene Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion und eine hohe Arbeitsproduktivität, rüstet den Menschen mit der vollkommensten und leistungsfähigsten Technik aus, verleiht den Menschen eine ungeahnte Macht über die Natur und ermöglicht es, deren Elementargewalten in immer höherem Maße und immer vollständiger zu lenken. Die planmäßige Organisation der gesamten gesellschaftlichen Wirtschaft erreicht ein höheres Niveau, wobei die wachsenden Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft durch die wirksamste und rationellste Nutzung des materiellen Reichtums und der Ressourcen an Arbeitskräften befriedigt werden. Im Kommunismus verschwinden endgültig die Klassen, die sozialen, ökonomischen, kulturellen und die Lebensweise betreffenden Unterschiede zwischen Stadt und Land; das Dorf erreicht in bezug auf die Entwicklung der Produktivkräfte und den Charakter der Arbeit, die Formen der Produktionsverhältnisse, die Lebensverhältnisse und den Wohlstand der Bevölkerung das Niveau der Stadt. Mit dem Sieg des Kommunismus werden die geistige und die körperliche Arbeit in der Produktionsbetätigung der Menschen organisch miteinander verschmelzen. Die Intel-

Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, Bd. I: A-M, 2. Aufl., Paderborn 1997, S. 550. Nur einige Tage nach dem Bau der Berliner Mauer referierte Chruschtschow beim XXII. Parteitag: „Der Kommunismus ist die lichte Zukunft der ganzen Menschheit“. 90 Schmölz, Franz-Martin: Klasse, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, S. 535-538. Ders.: Klassenkampf, in: Ebd., S. 539-541. Dahrendorf: Konflikt nach dem K., in: Ders., Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, München 1972, S. 73 f. Giddens, A.: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1979.

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ligenz wird aufhören, eine besondere soziale Schicht zu sein, da die körperlich Arbeitenden kulturell und technisch das Niveau der Geistesschaffenden erreichen werden. Somit macht der Kommunismus der Teilung der Gesellschaft in Klassen und soziale Schichten ein Ende, während die bisherige Geschichte der Menschheit, abgesehen von der Urzeit, die Geschichte einer Klassengesellschaft war, wo die Teilung in einander gegenüberstehende Klassen zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, zum Klassenkampf und zum Antagonismus zwischen Nationen und Staaten führte.91 Im Kommunismus werden alle Menschen die gleiche Stellung in der Gesellschaft, das gleiche Verhältnis zu den Produktionsmitteln sowie gleiche Bedingungen der Arbeit und Verteilung haben und aktiv an der Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten teilnehmen. Auf der Grundlage der Einheit der gesellschaftlichen und der persönlichen Interessen werden sich die Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft harmonisch gestalten. Die Forderungen und Wünsche der Menschen werden bei all ihrer Vielfalt ein Ausdruck der gesunden, vernünftigen Bedürfnisse des allseitig entwickelten Menschen sein. Stetigen Fortschritt der Gesellschaft, materielle und kulturelle Güter für jedes Mitglied der Gesellschaft entsprechend seinen wachsenden Bedürfnissen, individuellen Ansprüchen und Neigungen – das bezweckt die kommunistische Produktion. Die Bedürfnisse der Menschen werden aus den gesellschaftlichen Fonds befriedigt werden. Jedes Mitglied der Gesellschaft wird individuelle Konsumgüter als uneingeschränktes Eigentum zu seiner vollen Verfügung erhalten. Die auf der hochorganisierten Produktion und der hochentwickelten Technik beruhende kommunistische Gesellschaft verändert den Charakter der Arbeit, enthebt jedoch die Mitglieder der Gesellschaft keineswegs der Notwendigkeit, zu arbeiten. Das wird durchaus keine Gesellschaft der Anarchie, des Müßiggangs und der Faulheit sein. Jeder wird an der gesellschaftlichen Arbeit teilnehmen und die materiellen und geistigen Schätze der Gesellschaft ständig mehren. Bei allen Mitgliedern der Gesellschaft wird sich infolge des veränderten Charakters der Arbeit und ihrer zunehmenden Technisierung, dank dem hohen Bewußtsein das innere Bedürfnis entwickeln, freiwillig und gemäß ihren Neigungen für -das Gemeinwohl zu arbeiten. Die kommunistische Produktion erfordert einen hohen Grad der Organisiertheit, Exaktheit und Disziplin, der nicht durch Zwang gesichert wird, sondern durch gesellschaftliches Pflichtbewußtsein, durch die gesamte Lebensweise der kommunistischen Gesellschaft. Arbeit und Disziplin werden dem Menschen nicht zur Last fallen; die Arbeit wird aufhören, lediglich Existenzmittel zu sein, und sich in wahres Schöpfertum, in eine Quelle der Freude verwandeln.

91 Westphal, Horst M.: Ausbeutung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 1. Bd., 1995, S. 410-415.

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Der Kommunismus ist eine höhere Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens. Alle Produktionszellen, alle sich selbst verwaltenden Körperschaften werden einander in der planmäßig organisierten Gemeinwirtschaft, im einheitlichen Rhythmus der gesellschaftlichen Arbeit harmonisch ergänzen. Im Kommunismus werden die Nationen sich auf Grund der vollständigen Gemeinsamkeit ihrer wirtschaftlichen, politischen und geistigen Interessen und ihrer brüderlichen Freundschaft und Zusammenarbeit in jeder Hinsicht ständig näherkommen. Der Kommunismus ist eine Ordnung, in der die Fähigkeiten und Talente, die besten sittlichen Eigenschaften des freien Menschen zur Blüte gelangen und voll zur Entfaltung kommen. Die Familienbeziehungen werden frei sein von materieller Berechnung und ganz auf gegenseitiger Liebe und Freundschaft beruhen. Bei der Definition der Hauptaufgaben des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft richtet sich die Partei nach der genialen Formel W. L Lenins: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“. Als Partei des wissenschaftlichen Kommunismus stellt und löst die KPdSU die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus in dem Maße, wie die materiellen und geistigen Voraussetzungen dafür entstehen und heranreifen, stets der Tatsache eingedenk, daß es ebensowenig angeht, notwendige Entwicklungsstufen zu überspringen wie beim Erreichten stehenzubleiben und den Vormarsch aufzuhalten. Die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus werden kontinuierlich in mehreren Etappen gelöst werden. Im nächsten Jahrzehnt (1961-1970) wird die Sowjetunion beim Aufbau der materiell-technischen Basis des Kommunismus die USA – das mächtigste und reichste Land des Kapitalismus – in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung überflügeln; der Wohlstand, das Kulturniveau und das technische Entwicklungsniveau der Werktätigen werden bedeutend steigen; allen wird ein gutes Auskommen gesichert; alle Kollektivwirtschaften und Staatsgüter werden sich in hochproduktive Betriebe mit hohen Einkünften verwandeln; der Bedarf der Sowjetbürger an komfortablen Wohnungen wird im wesentlichen gedeckt werden; die schwere körperliche Arbeit wird verschwinden; die UdSSR wird zum Land mit dem kürzesten Arbeitstag.

Im zweiten Jahrzehnt (1971-1980) wird die materiell-technische Basis des Kommunismus errichtet und für die gesamte Bevölkerung ein Überfluß an materiellen und kulturellen Gütern geschaffen; die Sowjetgesellschaft wird unmittelbar darangehen, das Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen zu verwirklichen, es wird sich der allmähliche Übergang zum einheitlichen Volkseigentum vollziehen. Somit wird in der UdSSR die kommunistische Gesellschaft im wesentlichen aufgebaut sein. Vollendet wird der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in der nachfolgenden Periode. Der majestätische Bau des Kommunismus wird vom Sowjetvolk, von der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Intelligenz in beharrlicher Arbeit errichtet. Je erfolgreicher ihre Arbeit, desto näher rückt das große Ziel: die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft.

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Die Aufgaben der Partei beim wirtschaftlichen Aufbau, bei der Schaffung und Entwicklung der materiell-technischen Basis des Kommunismus. Die ökonomische Hauptaufgabe der Partei und des Sowjetvolkes besteht darin, innerhalb von zwei Jahrzehnten die materiell-technische Basis des Kommunismus zu schaffen, Das bedeutet die völlige Elektrifizierung des Landes und auf dieser Grundlage die Vervollkommnung der Technik, Technologie und Organisation der gesellschaftlichen Produktion in Industrie und Landwirtschaft; Vollmechanisierung sowie eine immer vollständigere Automatisierung der Produktionsprozesse; weitgehende Anwendung der Chemie in der Volkswirtschaft; allseitige Entwicklung neuer, wirtschaftlich effektiver Produktionszweige sowie neuer Energiearten und Werkstoffe; allseitige und rationelle Nutzung der Naturschätze; organische Verbindung der Wissenschaft mit der Produktion, schnellen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt; ein hohes Niveau der Kultur und des technischen Wissens der Werktätigen; eine im Vergleich zu den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern bedeutend höhere Arbeitsproduktivität, wichtigste Voraussetzung für den Sieg der kommunistischen Ordnung. Dann wird die UdSSR über beispiellos mächtige Produktivkräfte verfügen, die höchstentwickelten Länder technisch überflügeln und in bezug auf die Pro-KopfProduktion an die erste Stelle in der Welt vorrücken. Auf dieser Grundlage werden sich die sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen allmählich in kommunistische verwandeln und Industrie und Landwirtschaft werden sich so entwickeln, daß sie imstande sein werden, die Bedürfnisse der Gesellschaft und aller ihrer Bürger reichlich zu befriedigen. Zum Unterschied vom Kapitalismus geht in der sozialistischen Planwirtschaft die Beschleunigung des technischen Fortschritts Hand in Hand mit der Vollbeschäftigung der arbeitsfähigen Bevölkerung. Automatisierung und Vollmechanisierung sind die materielle Grundlage, auf der die sozialistische Arbeit sich allmählich in kommunistische Arbeit umwandelt. Der technische Fortschritt wird eine wesentlich höhere Produktionskultur, eine viel bessere fachliche Schulung und Allgemeinbildung aller Werktätigen verlangen. Die sich fortwährend entwickelnde neue Technik wird dazu benutzt werden, die Arbeitsverhältnisse des sowjetischen Menschen radikal zu verbessern und zu erleichtern, den Arbeitstag zu verkürzen, eine gesunde, vernünftige Lebensführung zu sichern, die schwere körperliche Arbeit und dann auch jede ungelernte Arbeit abzuschaffen. Die materiell-technische Basis wird sich mit dem Vormarsch der Gesellschaft zum vollen Sieg des Kommunismus ununterbrochen entwickeln und vervollkommnen. Der Entwicklungsstand von Wissenschaft, Technik, Mechanisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse wird ständig wachsen. Die Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus wird riesige Investitionen erfordern. Es gilt, diese Investitionsmittel auf die rationellste und wirtschaftlichste Weise zur Erzielung des höchstmöglichen Nutzeffekts und Zeitgewinns zu verwenden. Die Entwicklung der Industrie und ihre Rolle bei der Schaffung der Produktivkräfte des Kommunismus. Die Schaffung der materiell-technischen Grundlage des Kommunismus und die Verwandlung der sowjetischen Industrie in die technisch

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vollkommenste und leistungsfähigste Industrie der Welt erfordert die Entwicklung der Schwerindustrie. Auf ihrer Basis wird die technische Neuausrüstung aller anderen Volkswirtschaftszweige erfolgen: der Landwirtschaft, der Konsumgüterindustrie, des Bauwesens, des Verkehrs- und Fernmeldewesens sowie der Wirtschaftszweige, denen die unmittelbare Betreuung des Menschen obliegt: Handel, Gaststättenwesen, Gesundheitsschutz, Wohnungswesen und Kommunalwirtschaft. In der Sowjetunion ist eine erstklassige Schwerindustrie aufgebaut worden; sie ist die Grundlage des technischen Fortschritts und der wirtschaftlichen Macht des Landes. Die KPdSU wird auch künftig unermüdlich für den Fortschritt der Schwerindustrie sorgen, die die Entwicklung der Produktivkräfte und der Verteidigungsfähigkeit des Landes sichert. In der neuen Entwicklungsperiode der Sowjetunion muß die Schwerindustrie so wachsen, daß sie auf der Basis des technischen Fortschritts das Wachstum der Konsumgüter erzeugenden Volkswirtschaftszweige gewährleistet, damit die Bedürfnisse des Volkes immer voller befriedigt werden. Somit besteht die Hauptaufgabe der Schwerindustrie darin, den Bedarf der Landesverteidigung restlos zu decken und die Lebensbedürfnisse des Menschen, der Sowjetgesellschaft besser und ausgiebiger zu befriedigen. Die Entwicklung des Maschinenbaus im ersten Jahrzehnt wird die Vollmechanisierung der Industrie und Landwirtschaft, des Bau- und Verkehrswesens, der Beund Entladearbeiten sowie der Kommunalwirtschaft mit sich bringen. Die Vollmechanisierung wird die manuelle Arbeit sowohl bei den Haupt- als auch bei den Nebenarbeiten abschaffen. Innerhalb der zwei Jahrzehnte wird eine Vollautomatisierung größten Umfangs stattfinden, wobei immer mehr Abteilungen und ganze Fabriken auf vollautomatischen Betrieb umgestellt werden. Der Übergang zu vollkommensten automatischen Steuerungsanlagen wird sich beschleunigen. In der Produktion, im Forschungswesen, beim Projektieren und Konstruieren, bei der Aufstellung der Pläne, in der Rechnungsführung, Statistik und Verwaltung müssen Kybernetik, elektronische Rechenmaschinen und Steuerungsanlagen weitgehend angewandt werden. Die Riesenausmaße der Investitionsvorhaben erfordern eine schnelle Entwicklung und technische Vervollkommnung der Bauindustrie, eine bedeutende Steigerung der Produktion, Verbesserung der Qualität und Verbilligung der Baustoffe, maximale Verkürzung der Baufristen und Senkung der Baukosten durch konsequente Industrialisierung der Bauarbeiten und Verwendung vorfabrizierter Bauteile. Die KPdSU wird die Bemühungen darauf richten, die Konsumgüterproduktion schnell zu steigern. Die wachsenden Ressourcen der Industrie müssen immer mehr dazu verwandt werden, die Bedürfnisse der Menschen der Sowjetunion allseitig zu befriedigen sowie Dienstleistungsbetriebe und Kulturstätten zu bauen und einzurichten. Neben der beschleunigten Entwicklung aller Zweige der Leicht- und der Nahrungsmittelindustrie werden auch die Betriebe der Schwerindustrie mehr Konsumgüter erzeugen. Elektrischer Strom und Gas werden in größeren Ausmaßen den Haushalten zur Verfügung stehen.

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Alle Mittel des Fernmeldewesens (Post, Rundfunk, Fernsehen, Fernsprecher und Telegraph) werden weiter ausgebaut. Alle Teile des Landes erhalten eine gute und zuverlässige Fernsprech- und Funkverbindung und werden durch ein Netz miteinander verbundener Fernsehsender erfaßt. Die maximale Beschleunigung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts gehört zu den wichtigsten Aufgaben des ganzen Volkes. Um sie zu lösen, muß tagtäglich dafür gekämpft werden. daß neue technische Mittel schneller projektiert und in die Produktion eingeführt werden. Es kommt darauf an, die Initiative der Volkswirtschaftsräte, Betriebe, gesellschaftlichen Organisationen, Wissenschaftler, Ingenieure, Konstrukteure, Arbeiter und Kolchosbauern bei der Entwicklung und Anwendung neuer technischer Vervollkommnungen mit allen Mitteln zu fördern. Von erstrangiger Bedeutung ist es, die auf die Entwicklung des Erfindungs- und Vorschlagswesens abzielende Massenbewegung der Betriebe, Abteilungen, Brigaden und Neuerer, die die Erzeugung modernster technischer Mittel meistern und diese sachkundig zu nutzen wissen, materiell und moralisch zu fördern. Entwicklung der Landwirtschaft und der gesellschaftlichen Beziehungen im Lande. Eine unerläßliche Voraussetzung der Errichtung des Kommunismus ist neben einer mächtigen Industrie der Aufbau einer blühenden, allseitig entwickelten und hochproduktiven Landwirtschaft. Die Partei organisiert einen mächtigen Aufschwung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft, der es gestatten wird, zwei eng miteinander verknüpfte Kardinalaufgaben zu lösen: a) einen Überfluß an hochwertigen Nahrungsmitteln für die Bevölkerung und Rohstoffen für die Industrie herbeizuführen; b) den allmählichen Übergang des sowjetischen Dorfes zu kommunistischen Gesellschaftsbeziehungen zu sichern und die Unterschiede zwischen Stadt und Land im wesentlichen aufzuheben. Der wichtigste Weg, auf dem der Aufstieg der Landwirtschaft herbeigeführt und die Befriedigung des wachsenden Bedarfs des Landes an Agrarprodukten gesichert werden kann, ist die allseitige Mechanisierung und konsequente Intensivierung: In allen Kollektivwirtschaften und auf allen Staatsgütern ist auf der Basis der Wissenschaft und der fortschrittlichen Erfahrungen eine hohe Kultur des Ackerbaus und der Viehwirtschaft, eine bedeutende Steigerung der Hektarerträge aller Kulturen und eine Vergrößerung der Produktion je Hektar bei maximaler Ersparnis von Arbeit und Mitteln zu sichern. Auf dieser Grundlage muß eine ununterbrochene Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen erzielt werden. Die Schaffung eines Überflusses an Agrarprodukten. Um den Bedarf der gesamten Bevölkerung und der Volkswirtschaft an Agrarprodukten voll zu decken, kommt es darauf an, die Gesamtproduktion der Landwirtschaft innerhalb von 10 Jahren etwa auf das Zweieinhalbfache und innerhalb von 20 Jahren auf das Dreieinhalbfache zu bringen. Die landwirtschaftliche Produktion muß schneller wachsen als die immer größere Nachfrage nach ihren Erzeugnissen. Die Sowjetunion wird im ersten Jahrzehnt die Vereinigten Staaten von Amerika in bezug auf die ProKopf-Produktion der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse überholen.

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Die Kollektivwirtschaften und Staatsgüter auf dem Weg zum Kommunismus, die Umgestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen auf dem Lande. Ökonomisch beruht die Entwicklung der Kollektivwirtschaften und Staatsgüter auf dem stetigen Wachstum und der besten Nutzung ihrer Produktivkräfte, auf der Verbesserung der Organisation ihrer Produktion und ihrer Wirtschaftsmethoden, auf der unablässigen Steigerung der Arbeitsproduktivität und auf der strikten Wahrung des Prinzips: für gute Arbeit, für bessere Ergebnisse wird mehr bezahlt. Davon ausgehend, werden die Kollektivwirtschaften und Staatsgüter, was ihre Produktionsverhältnisse, den Charakter der Arbeit sowie den Wohlstand und die Kultur der Werktätigen betrifft, immer mehr zu Betrieben kommunistischen Typus. Mit der weiteren Entwicklung der Produktion in den Kollektivwirtschaften und auf den Staatsgütern, mit der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Beziehungen in ihnen wird die Landwirtschaft eine höhere Stufe erreichen, von der aus der Übergang zu kommunistischen Formen der Produktion und Verteilung möglich wird. Ihren ökonomischen Verhältnissen nach werden die Kollektivwirtschaften sich schließlich nicht mehr von den landwirtschaftlichen Betrieben unterscheiden, die Volkseigentum sind. Sie werden sich in hochentwickelte mechanisierte Betriebe verwandeln. Dank der hohen Arbeitsproduktivität werden alle Kollektivwirtschaften eine große wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben und die Kolchosbauern in jeder Hinsicht versorgt sein; alles, was sie brauchen, werden sie aus der gesellschaftlichen Wirtschaft der Kolchose erhalten. Ihnen werden Speisehallen, Bäckereien, Wäschereien, Kinderkrippen und -gärten, Klubs, Bibliotheken und Sportanlagen zur Verfügung stehen. Die Arbeit der Kollektivbauern wird ebenso bezahlt werden wie in den Betrieben, die Volkseigentum sind; sie kommen auf Kolchosund Staatskosten in den Genuß sämtlicher Sozialleistungen (Renten, Urlaub usw.). Allmählich werden sich die Kolchosdörfer in größere Ortschaften von städtischem Typus mit modern eingerichteten Wohnhäusern, kommunalen und sonstigen Dienstleistungsbetrieben, Kulturstätten und Einrichtungen des Gesundheitsschutzes verwandeln. In letzter Instanz wird zwischen den kulturellen und sozialen Lebensverhältnissen der Dorfbevölkerung und denen der Stadtbevölkerung kein Unterschied mehr bestehen. Die Aufhebung der sozialen, ökonomischen, kulturellen und die Lebensweise betreffenden Unterschiede zwischen Stadt und Land wird zu den größten Ergebnissen des kommunistischen Aufbaus gehören. Die Leitung der Volkswirtschaft und die Planung. Die Schaffung der materielltechnischen Basis des Kommunismus erfordert eine ständige Vervollkommnung der wirtschaftlichen Leitung. Alle für die Planung und Leitung der Wirtschaft zuständigen Stellen haben das Hauptaugenmerk auf die rationellste und wirksamste Nutzung der Material-, Arbeits- und Finanzressourcen sowie der Naturschätze und auf die Vermeidung überflüssiger Unkosten zu lenken. In der Entwicklung der Volkswirtschaft ist streng auf die richtigen Proportionen zu achten und rechtzeitig wirtschaftlichen Disproportionen vorzubeugen, wobei für genügende Wirtschaftsreserven zu sorgen ist, die die Voraussetzung für ein

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beständiges schnelles Tempo der ökonomischen Entwicklung, ein reibungsloses Funktionieren der Betriebe und ein ständiges Wachstum des Volkswohlstands sind. Die Partei legt größten Wert darauf, daß der Nutzeffekt der investierten Mittel gesteigert und die vorteilhafteste und wirtschaftlichste Zweckbestimmung der Investitionsvorhaben gesichert, daß überall die höchstmögliche Produktionssteigerung je investiertem Rubel wie auch die Verkürzung der Fristen, in denen sich die Investitionen bezahlt machen, gewährleistet wird. Die Struktur der Investitionen ist ständig zu verbessern und der Anteil der Ausrüstungen und Maschinen zu steigern. Die systematische Verbesserung der Qualität der Produktion ist ein unerläßliches Gebot der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Betriebe müssen Erzeugnisse von viel höherer Qualität liefern als die besten kapitalistischen Unternehmungen. Dazu bedarf es eines ausgedehnten Systems von Maßnahmen, einschließlich der gesellschaftlichen Kontrolle; die qualitativen Kennziffern müssen in der Planung sowie in der Beurteilung der betrieblichen Leistungen und im sozialistischen Wettbewerb eine größere Rolle spielen. Der kommunistische Aufbau setzt eine allseitige Entwicklung der demokratischen Grundlagen der Verwaltung voraus, wobei die zentralisierte staatliche Leitung der Volkswirtschaft zu festigen und zu vervollkommnen ist. Im Rahmen des einheitlichen Volkswirtschaftsplans werden die wirtschaftliche Selbständigkeit und die Rechte der örtlichen Organe und der Betriebe auch weiter ausgebaut werden, in der Planung müssen die von unten – angefangen von den Betrieben – kommenden Pläne und Vorschläge eine immer größere Rolle spielen. Die zentralisierte planmäßige Leitung ist vor allem darauf auszurichten, daß die wichtigsten Kennziffern der Volkswirtschaftspläne unter maximaler Berücksichtigung der von unten kommenden Vorschläge ausgearbeitet werden und die Einhaltung dieser Kennziffern sichergestellt wird; daß die von den örtlichen Stellen ausgearbeiteten Pläne aufeinander abgestimmt werden; daß die wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften sowie die besten Erfahrungen Allgemeingut werden; daß auf dem Gebiet des technischen Fortschritts, der Investitionen, der Standortverteilung der Produktion, der Löhne, der Preise und der Finanzen nach einheitlichen staatlichen Richtlinien vorgegangen und ein einheitliches System der Rechnungsführung und Statistik angewandt wird. Die Aufgaben der Partei bei der Hebung des Volkswohlstands. Das Sowjetvolk hat in heroischer Arbeit eine mächtige und allseitig entwickelte Wirtschaft geschaffen. Jetzt bestehen alle Möglichkeiten, den Wohlstand der gesamten Bevölkerung – der Arbeiter, Bauern und Geistesschaffenden – schnell zu heben. Die KPdSU stellt sich eine Aufgabe von weltgeschichtlicher Bedeutung: in der Sowjetunion einen Lebensstandard zu sichern, der höher ist als in jedem beliebigen kapitalistischen Land. Diese Aufgabe wird gelöst durch Erhöhung der individuellen Bezahlung der Arbeitenden nach Menge und Qualität der Arbeit bei gleichzeitiger Senkung der Einzelhandelspreise und Abschaffung der Steuern, die die Bevölkerung zu entrichten hat.

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Der Wohlstand der Sowjetmenschen wird selbst bei gleichem Durchschnittseinkommen der Bevölkerung größer sein als in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern, weil das Nationaleinkommen in der Sowjetunion unter den Mitgliedern der Gesellschaft gerecht verteilt wird und es keine parasitären Klassen gibt, die sich in den bürgerlichen Staaten durch Plünderung von Millionen Werktätigen riesige Schätze aneignen und sie vergeuden. Zugleich werden die persönlichen Bedürfnisse mit dem Vormarsch zum Kommunismus immer mehr aus den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds befriedigt, die schneller wachsen werden als das individuelle Entgelt nach der Leistung. Der Übergang zur kommunistischen Verteilung wird vollendet, nachdem sich das Prinzip der Verteilung nach der Leistung restlos erschöpft haben wird, d. h. nachdem ein Überfluß an materiellen und kulturellen Gütern eingetreten und die Arbeit für alle Mitglieder der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis geworden sein wird. Sicherung eines hohen Stands der Einkünfte und des Konsums für die gesamte Bevölkerung. Das Nationaleinkommen der UdSSR wird in den nächsten 10 Jahren fast auf das Zweieinhalbfache und in 20 Jahren rund auf das Fünffache steigen. Das Realeinkommen pro Kopf der Bevölkerung wird sich innerhalb von 20 Jahren auf mehr als das Dreieinhalbfache heben. In den kommenden 10 Jahren werden die Realeinkünfte der Arbeiter und Angestellten (einschließlich der gesellschaftlichen Fonds) im Durchschnitt pro Beschäftigten fast auf das Doppelte und in 20 Jahren ungefähr auf das Drei- bis Dreieinhalbfache steigen. Schon im nächsten Jahrzehnt werden die Realeinkünfte der verhältnismäßig niedrig bezahlten Arbeiter und Angestellten so erhöht, daß es im Lande keine minderbezahlten Kategorien von Arbeitern und Angestellten mehr geben wird. Die Realeinkünfte der Arbeiter und Angestellten, die Mindestlöhne und -gehälter beziehen, werden in dieser Periode unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Fonds rund auf das Dreifache wachsen. Im zweiten Jahrzehnt wird ein Überfluß an materiellen und kulturellen Gütern für die gesamte Bevölkerung erzielt werden; damit werden die materiellen Voraussetzungen dafür geschaffen, in der darauffolgenden Periode den Übergang zum kommunistischen Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen zu vollenden. Lösung des Wohnungsproblems und Verbesserung der Lebensverhältnisse. Die KPdSU stellt die Aufgabe, das akuteste Problem der Hebung des Wohlstands des Sowjetvolkes, das Wohnungsproblem, zu lösen. Im Ergebnis des zweiten Jahrzehnts wird jede Familie, einschließlich der jungen Ehepaare, eine Wohnung mit allem Komfort haben, die den Erfordernissen der Hygiene und Kultur entspricht. Die Bauernhäuser vom alten Typus werden im wesentlichen durch neue, moderne Häuser abgelöst oder dort, wo es möglich ist, so umgebaut, daß sie den nötigen Komfort erhalten. Im zweiten Jahrzehnt wird die Benutzung der Wohnungen für alle Bürger allmählich unentgeltlich. Verkürzung der Arbeitszeit und weitere Verbesserung der Arbeitsbedingungen. In den bevorstehenden 10 Jahren vollzieht sich der Übergang zum Sechsstundentag bei einem freien Tag in der Woche oder zur 34- bis 36-Stunden-Woche bei zwei

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freien Tagen, und unter Tage sowie in gesundheitsschädlichen Betrieben zum Fünfstundentag bzw. zur 30-Stunden-Woche (Fünftagewoche). Im zweiten Jahrzehnt beginnt auf Grund der entsprechenden Steigerung der Arbeitsproduktivität der Übergang zu einer noch kürzeren Arbeitswoche. Somit wird die Sowjetunion zum Lande mit dem kürzesten und zugleich produktivsten und höchstbezahlten Arbeitstag. Bedeutend verlängert wird die Freizeit der Werktätigen, so daß sich zusätzliche Möglichkeiten für die Erhöhung ihres kulturell-technischen Entwicklungsstandes ergeben. Der Arbeitstag wird verkürzt, der bezahlte Jahresurlaub der Werktätigen verlängert. Nach und nach wird der Mindesturlaub aller Arbeiter und Angestellten auf drei Wochen und im weiteren auf einen Monat verlängert. Auch die Kolchosbauern werden mit der Zeit bezahlten Urlaub bekommen. Sorge um die Gesundheit und Verlängerung des Lebens. Der sozialistische Staat ist der einzige, der für den Schutz und die ständige Verbesserung der Gesundheit seiner ganzen Bevölkerung sorgt. Ermöglicht wird das durch ein System sozialökonomischer und medizinischer Maßnahmen. Es wird ein großangelegtes Programm ausgeführt, um Krankheiten vorzubeugen und ihre Zahl radikal zu verringern, die ansteckenden Massenkrankheiten abzuschaffen und das Leben noch mehr zu verlängern. Verbesserung der Lebensverhältnisse der Familie und der Lage der Frau. Unterhalt von Kindern und Arbeitsunfähigen auf Kosten der Gesellschaft. Die Überreste der ungleichen Stellung der Frau im täglichen Leben sind völlig zu beseitigen und alle sozialen und sonstigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich eine glückliche Mutterschaft vereinbaren läßt mit einer immer aktiveren, schöpferischen Beteiligung der Frau an der gesellschaftlichen Arbeit und am Leben der Gesellschaft, mit wissenschaftlichen Studien und künstlerischer Tätigkeit. Frauen muß verhältnismäßig leichtere und zugleich ausreichend bezahlte Arbeit zugewiesen werden. Der Schwangerschaftsurlaub wird verlängert werden. Die nötigen Voraussetzungen sind zu schaffen, um der Frau einen Teil der Haushaltsarbeit abzunehmen und diese zu erleichtern, wobei Möglichkeiten zu schaffen sind, bei denen an die Stelle dieser Arbeit gesellschaftliche Formen zur Befriedigung der materiellen und sonstigen Bedürfnisse der Familie treten. Dazu müssen vervollkommnete und billige Haushaltsmaschinen und -vorrichtungen sowie elektrische Geräte weite Verbreitung finden; in den nächsten Jahren wird der Bedarf der Bevölkerung an Dienstleistungsbetrieben völlig befriedigt werden. Somit wird der Sowjetstaat der ganzen Welt ein Beispiel wirklich vollständiger und umfassender Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen geben. Der Lebensstandard der Sowjetmenschen wird um so schneller wachsen, je schneller sich die Produktivkräfte des Landes entwickeln und die Arbeitsproduktivität steigt, je breiter sich die schöpferische Energie des Sowjetvolkes entfaltet. Dieses Programm kann unter Verhältnissen des Friedens erfolgreich verwirklicht werden.

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Die Aufgaben der Partei auf dem Gebiet des staatlichen Aufbaus und bei der weiteren Entwicklung der sozialistischen Demokratie. Die in der sozialistischen Revolution geborene Diktatur des Proletariats hat dadurch, daß sie den Sieg des Sozialismus in der UdSSR sicherte, eine weltgeschichtliche Rolle gespielt. Gleichzeitig hat sie sich während des Aufbaus des Sozialismus selbst verändert. Im Zusammenhang mit der Abschaffung der Ausbeuterklassen ist die Funktion der Niederhaltung ihres Widerstands abgestorben. Eine allseitige Entwicklung haben die Hauptfunktionen des sozialistischen Staates erfahren: die wirtschaftlich-organisatorische sowie die kulturell-erzieherische Funktion. Der sozialistische Staat ist in eine neue Phase eingetreten. Das Hinüberwachsen des Staates in die Volksorganisation der Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft hat begonnen. Die proletarische Demokratie ist immer mehr zur sozialistischen Demokratie des ganzen Volkes geworden. Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse in der Geschichte, die sich nicht das Ziel setzt, ihre Macht zu verewigen. Nachdem die Diktatur des Proletariats den vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus – der ersten Phase des Kommunismus – und den Übergang der Gesellschaft zum umfassenden Aufbau des Kommunismus gesichert hat, ist ihre historische Mission erfüllt, und vom Standpunkt der Aufgaben der inneren Entwicklung in der UdSSR ist sie nicht mehr notwendig. Der Staat, der als Staat der Diktatur entstand, ist nun ein Staat des gesamten Volkes, ein Organ, das den Interessen und dem Willen des gesamten Volkes Ausdruck verleiht. Da die Arbeiterklasse die fortgeschrittenste und bestorganisierte Kraft der Sowjetgesellschaft ist, spielt sie auch während des umfassenden kommunistischen Aufbaus die führende Rolle. Die Ausübung ihrer Funktion als Leiter der Gesellschaft wird die Arbeiterklasse beenden, wenn der Kommunismus erbaut ist, wenn die Klassen verschwunden sind. Die Partei geht davon aus, daß die Diktatur der Arbeiterklasse früher aufhört, notwendig zu sein, als der Staat abstirbt. Der Staat, der eine Organisation des gesamten Volkes ist, wird bis zum völligen Sieg des Kommunismus fortgestehen. Im Einklang mit dem Volkswillen ist er berufen, die Schaffung der materiell-technischen Basis, des Kommunismus, die Umwandlung der sozialistischen Beziehungen in kommunistische zu organisieren, das Maß der Arbeit und des Konsums zu kontrollieren, die Erhöhung des Wohlstands, die Rechte und Freiheiten der Sowjetbürger, sowie die sozialistische Rechtsordnung und das sozialistische Eigentum, die Volksmassen im Geiste bewußter Disziplin und kommunistischen Verhaltens zur Arbeit zu erziehen, die Verteidigung und die Sicherheit des Landes zuverlässig zu garantieren, die brüderliche Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern zu entwickeln, den Weltfrieden zu schützen und normale Beziehungen zu allen Ländern zu unterhalten. Die allseitige Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie, die aktive Beteiligung aller Bürger an der Staatsverwaltung und an der Leitung des Wirtschafts- und Kulturaufbaus, die Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates und die Verstärkung der Volkskontrolle über seine Tätigkeit bilden die Hauptrichtung, in der sich das sozialistische Staatswesen während des Aufbaus des Kom-

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munismus entwickelt. Im Zuge der weiteren Entwicklung der sozialistischen Demokratie werden sich die Organe der Staatsgewalt allmählich in Organe der gesellschaftlichen Selbstverwaltung verwandeln. Das Leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus, das die richtige Verbindung der zentralisierten Führung mit einer maximalen Entwicklung der Initiative der örtlichen Organe, mit dem Ausbau der Rechte der Unionsrepubliken, mit der Steigerung der schöpferischen Aktivität der Massen sichert, wird eine noch stärkere Entwicklung erfahren. Es ist notwendig, die Disziplin zu festigen, die Tätigkeit aller Teile des Verwaltungsapparates tagtäglich zu kontrollieren, die Durchführung der Beschlüsse und die Einhaltung der sowjetischen Gesetze zu prüfen sowie die Verantwortung eines jeden Funktionärs für ihre strikte und rechtzeitige Verwirklichung zu erhöhen. Die Sowjets und die Entwicklung der demokratischen Grundsätze der Staatsverwaltung. Die KPdSU legt großen Wert auf die Verbesserung der Tätigkeit des Staatsapparates, von dem in vieler Hinsicht die richtige Nutzung aller Ressourcen des Landes sowie die rechtzeitige Lösung der Probleme der kulturellen und sozialen Betreuung der Werktätigen abhängt. Der sowjetische Verwaltungsapparat muß einfach, qualifiziert, billig und operativ sein, ohne jeden Bürokratismus, Formalismus und Amtsschimmel. Ein wichtiges Mittel zur Lösung dieser Aufgabe ist die ständige staatliche und gesellschaftliche Kontrolle. Im Sinne der Weisungen Lenins müssen Organe tätig sein, die sowohl an der Spitze als auch an Ort und Stelle die staatliche Kontrolle mit gesellschaftlicher Inspektion verbinden. Die Partei betrachtet die Volkskontrollinspektionen als ein wirksames Werkzeug, durch das die breiten Volksmassen zur Verwaltung der Staatsgeschäfte und zur Kontrolle über die strikte Einhaltung der Gesetze herangezogen werden, als ein Werkzeug zur Vervollkommnung des Staatsapparates, zur Ausmerzung des Bürokratismus und zur rechtzeitigen Durchführung der Vorschläge der Werktätigen. Der Apparat des sozialistischen Staates dient dem Volke und ist dem Volk rechenschaftspflichtig. Pflichtvergessenheit und Amtsmißbräuche sind entschieden zu unterbinden und ungeachtet der Person streng zu ahnden. Es ist Pflicht der Sowjetmenschen, die Gesetzlichkeit und die Rechtsordnung zu schützen, gegenüber Mißbrauch unduldsam zu sein und diesen zu bekämpfen. Die Partei hält es für notwendig, die demokratischen Grundsätze in der Verwaltung weiter auszubauen. Das Prinzip der Wählbarkeit und Rechenschaftslegung vor den Vertretungsorganen und Wählern ist allmählich auf alle führenden Funktionäre der Staatsorgane auszudehnen. Es ist darauf Kurs zu nehmen, daß der staatliche Angestelltenapparat eingeschränkt wird, daß immer breitere Massen Übung in der Verwaltung erhalten und die Tätigkeit in diesem Apparat letztlich aufhört, ein besonderer Beruf zu sein. Der Übergang zum Kommunismus bedeutet die allseitige Entwicklung der Freiheit der Persönlichkeit und der Rechte der Sowjetbürger. Der Sozialismus hat den Werktätigen die größten Rechte und Freiheiten gewährt. Der Kommunismus bringt den Werktätigen neue große Rechte und Möglichkeiten.

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Die Partei stellt die Aufgabe, die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit; die Ausmerzung jeglicher Verletzung der Rechtsordnung sowie die Beseitigung der Kriminalität und alle ihrer Ursachen zu sichern. Die Rechtsprechung wird in der UdSSR in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz ausgeübt. Sie beruht auf wahrhaft demokratischen Grundlagen: der Wählbarkeit und Rechenschaftspflicht der Richter und Volksbeisitzer, dem Recht ihrer vorfristigen Abberufung, der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen sowie der Teilnahme gesellschaftlicher Ankläger und Verteidiger an den Prozessen, wobei sich die Untersuchungs- und Voruntersuchungsorgane strengstens nach den Gesetzen zu richten und alle Prozeßbestimmungen strikt einzuhalten haben. Die demokratischen Grundlagen der Rechtsprechung werden sich entwickeln und vervollkommnen. In einer Gesellschaft, die den Kommunismus aufbaut, ist kein Platz für Rechtsverstöße und Kriminalität. Solange aber Fälle von Kriminalität vorkommen, sind gegen Personen, die für die Gesellschaft gefährliche Verbrechen begehen, die Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens verletzen und am ehrlichen Arbeitsleben nicht teilnehmen wollen, strenge Strafmaßnahmen anzuwenden. Das Hauptaugenmerk ist auf die Verhütung von Verbrechen zu richten. Der wachsende Wohlstand, das steigende Kulturniveau und Bewußtsein der Werktätigen schaffen alle Voraussetzungen, um die Kriminalität zu beseitigen, um als Endergebnis die strafrechtliche Ahndung durch Maßnahmen der gesellschaftlichen Einwirkung und Erziehung zu ersetzen. Unter den Bedingungen des Sozialismus kann jeder, der von den Bahnen der ehrlichen Arbeit abgeglitten ist, zu nützlicher Tätigkeit zurückkehren. Das ganze System der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen erzieht die Werktätigen dazu, ihre Pflichten freiwillig und gewissenhaft zu erfüllen, und führt dazu, daß sich die Rechte mit den Pflichten organisch zu einheitlichen Normen des kommunistischen Gemeinschaftslebens verbinden. Die Stärkung der Streitkräfte und der Verteidigungsfähigkeit der Sowjetunion. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion behauptet und verteidigt, einmütig vom ganzen Sowjetvolk unterstützt, unerschütterlich die Errungenschaften des Sozialismus und die Sache des Weltfriedens und kämpft unablässig für die endgültige Erlösung der Menschheit von Aggressionskriegen. Das Leninsche Prinzip der friedlichen Koexistenz war und bleibt Hauptprinzip der Außenpolitik des Sowjetstaates. Die Sowjetunion strebt beharrlich nach Verwirklichung ihrer Vorschläge auf allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle. Die imperialistischen Staaten weigern sich jedoch hartnäckig, diese Vorschläge anzunehmen, und erweitern ihre Streitkräfte intensiv. Sie wollen sich nicht mit dem Bestehen des sozialistischen Weltsystems abfinden und machen keinen Hehl aus ihren wahnwitzigen Plänen, die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten durch einen Krieg zu beseitigen. Das verpflichtet die Kommunistische Partei, die Streitkräfte, die Staatssicherheitsorgane und alle Völker der UdSSR, den aggressiven Ränken der Friedensfeinde gegenüber ständige Wachsamkeit zu wahren,

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stets auf der Wacht für die friedliche Arbeit, in ständiger Bereitschaft zur bewaffneten Verteidigung der Heimat zu sein. Die Partei geht davon aus, daß, solange der Imperialismus bestehen bleibt, auch die Gefahr von Aggressionskriegen bleibt. Die KPdSU betrachtet den Schutz des sozialistischen Vaterlandes, die Festigung der Verteidigung der UdSSR und der Macht der sowjetischen Streitkräfte als die heilige Pflicht der Partei, des ganzen Sowjetvolkes, als wichtigste Funktion des sozialistischen Staates. Die Sowjetunion betrachtet es als ihre internationale Pflicht, zusammen mit den anderen sozialistischen Ländern den zuverlässigen Schutz und die Sicherheit des gesamten sozialistischen Lagers zu gewährleisten. Vom Standpunkt der inneren Verhältnisse aus braucht die Sowjetunion keine Armee mehr. Da jedoch die vom imperialistischen Lager ausgehende Kriegsgefahr bestehen bleibt und die vollständige und allgemeine Abrüstung nicht verwirklicht ist, hält die KPdSU es für notwendig, die Verteidigungsmacht des Sowjetstaates, die Kampfbereitschaft seiner Streitkräfte auf einem Niveau zu halten, das die entschiedene und vollständige Zerschmetterung jedes Feindes sichert, der es wagt, seinen Arm gegen unsere Sowjetheimat zu erheben. Der Sowjetstaat wird dafür Sorge tragen, daß seine Streitkräfte machtvoll sind und über die modernsten Mittel zur Verteidigung der Heimat wie Atom- und thermonukleare Wagen sowie Raketen aller Reichweiten verfügen, daß sie alle Arten von Kriegstechnik und Waffen auf der gebotenen Höhe halten. Die Partei erzieht die Kommunisten, alle Sowjetmenschen im Geiste ständiger Bereitschaft zum Schutz des sozialistischen Vaterlands, im Geiste der Liebe zu ihrer Armee. Der Schutz des Vaterlands, der Dienst in den sowjetischen Streitkräften ist eine hohe und ehrenvolle Pflicht des Staatsbürgers der Sowjetunion. Die KPdSU tut alles, damit die sowjetischen Streitkräfte ein exakter, gut eingespielter Organismus sind, damit sie gut organisiert sind, eine straffe Disziplin haben, die Aufgaben, die ihnen die Partei, die Regierung und das Volk stellen, musterhaft erfüllen und jederzeit bereit sind, imperialistischen Aggressoren eine vernichtende Abfuhr zu erteilen. Eines der wichtigsten Prinzipien des Aufbaus der sowjetischen Streitkräfte ist die ungeteilte Befehlsgewalt des Vorgesetzten. Die Partei wird unermüdlich dafür sorgen, dem Kommunismus rückhaltlos ergebene Kader von Kommandeuren und politischen Funktionären der Armee und der Flotte auszubilden, die sich aus den besten Vertretern des Sowjetvolkes rekrutieren. Die Aufgaben der Partei auf dem Gebiet der Ideologie, Erziehung, Bildung, Wissenschaft und Kultur. Die Sowjetgesellschaft hat bei der sozialistischen Erziehung der Massen, bei der Heranbildung aktiver Baumeister des Sozialismus große Erfolge erzielt. Doch auch nach dem Sieg der sozialistischen Ordnung erhalten sich im Bewußtsein und Verhalten der Menschen Überreste des Kapitalismus, die die Vorwärtsbewegung der Gesellschaft hemmen. Die ideologische Arbeit wird im Kampf für den Sieg des Kommunismus zu einem immer mächtigeren Faktor. Je höher die Bewußtheit der Mitglieder der Gesellschaft, desto vollständiger und umfassender entfaltet sich ihre schöpferische

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Aktivität bei der Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus, bei der Entwicklung der kommunistischen Arbeitsformen und der neuen Beziehungen zwischen den Menschen, desto rascher und erfolgreicher werden also die Aufgaben des kommunistischen Aufbaus gelöst. Für ausschlaggebend in der ideologischen Arbeit in der jetzigen Etappe erachtet die Partei die Erziehung aller Werktätigen im Geiste hoher Ideentreue und der Hingabe an den Kommunismus, der kommunistischen Einstellung zur Arbeit und zur gesellschaftlichen Wirtschaft, die vollständige Überwindung der Überbleibsel bürgerlicher Ansichten und Sitten, die allseitige harmonische Entwicklung der Persönlichkeit, die Schaffung eines wahren Reichtums der geistigen Kultur. Besondere Bedeutung mißt die Partei der Erziehung der heranwachsenden Generation bei. Der neue Mensch formt sich durch seine aktive Teilnahme am Aufbau des Kommunismus, durch Entwicklung der kommunistischen Prinzipien im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sowie unter dem Einfluß des gesamten Systems der Erziehungsarbeit der Partei, des Staates und der gesellschaftlichen Organisationen, in dem Presse, Funk, Film und Fernsehen eine große Rolle spielen. Bei der Schaffung kommunistischer Formen der Organisation der Gesellschaft wird sich die kommunistische Gesinnung im Leben, in der Arbeit, in den menschlichen Beziehungen immer stärker und beharrlicher durchsetzen, ebenso die Fähigkeit, die Errungenschaften des Kommunismus auf vernünftige Weise zu genießen. Die gemeinsame, planmäßig organisierte Arbeit der Mitglieder der Gesellschaft, ihre tagtägliche Beteiligung an der Verwaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten, die Entwicklung kommunistischer Beziehungen kameradschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung führen dazu, daß sich das Bewußtsein der Menschen im Geiste des Kollektivismus, der Arbeitsliebe und des Humanismus verändert. Die Hebung des kommunistischen Bewußtseins der Werktätigen trägt zum weiteren ideologisch-politischen Zusammenschluß der Arbeiter, Kolchosbauern und der Intelligenz bei und fördert ihr allmähliches Verschmelzen zum einheitlichen Kollektiv der Werktätigen der kommunistischen Gesellschaft. Die Partei stellt folgende Aufgaben: Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung des kommunistischen Bewußtseins:  Formulierung einer wissenschaftlichen Weltanschauung  Erziehung zur Arbeit  Entwicklung und Sieg der kommunistischen Moral. Beim Übergang zum Kommunismus spielen die ethischen Prinzipien im Leben der Gesellschaft eine immer größere Rolle, die Wirkungssphäre des moralischen Faktors erweitert sich, und dementsprechend schrumpft die Sphäre, in der die Beziehungen zwischen den Menschen administrativ geregelt werden. Die Partei wird alle Formen der bewußten Selbstdisziplin der Staatsbürger fördern, die die Grundregeln des kommunistischen Gemeinschaftslebens verankern und entwickeln.

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Die Kommunisten lehnen die Klassenmoral der Ausbeuter ab, sie stellen verderbten, egoistischen Ansichten und Sitten der alten Welt die kommunistische Moral entgegen, die gerechteste und hochsinnigste Moral, die den Interessen und Idealen der gesamten werktätigen Menschheit Ausdruck verleiht. Die einfachen Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit, die unter der Ausbeuterherrschaft bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder schamlos mit Füßen getreten wurden, werden im Kommunismus zu unumstößlichen Lebensregeln für die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen wie auch für die Beziehungen zwischen den Völkern. Zur kommunistischen Moral gehören die allgemeinmenschlichen moralischen Normen, die von den Volksmassen im Laufe der Jahrtausende im Kampf gegen soziale Knechtschaft und sittliche Laster entwickelt wurden. Besonders große Bedeutung hat für die sittliche Entwicklung der Gesellschaft die revolutionäre Moral der Arbeiterklasse. Beim Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus bereichert sich die kommunistische Moral durch neue Grundsätze, durch einen neuen Inhalt. Nach Ansicht der Partei enthält der Sittenkodex der Erbauer des Kommunismus folgende ethische Prinzipien:92  Treue zur Sache des Kommunismus, Liebe zur sozialistischen Heimat, zu den Ländern des Sozialismus;  gewissenhafte Arbeit zum Wohle der Gesellschaft: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen;  Sorge eines jeden für die Erhaltung und Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums; hohes gesellschaftliches Pflichtbewußtsein, Unduldsamkeit bei Verstößen gegen die gesellschaftlichen Interessen;  Kollektivgeist und kameradschaftliche Hilfe: Einer für alle, alle für einen;  humanes Verhalten und gegenseitige Achtung der Menschen: Der Mensch ist des Menschen Freund, Kamerad und Bruder;  Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe, sittliche Sauberkeit, Schlichtheit und Bescheidenheit im gesellschaftlichen wie im persönlichen Leben;  gegenseitige Achtung in der Familie, Sorge für die Erziehung der Kinder;  Unversöhnlichkeit gegenüber Ungerechtigkeit, Schmarotzertum, Unehrlichkeit und Strebertum;  Freundschaft und Brüderlichkeit aller Völker der UdSSR; Unduldsamkeit gegenüber nationalem Zwist und Rassenhader;  Unversöhnlichkeit gegenüber den Feinden des Kommunismus, des Friedens und der Völkerfreiheit;  brüderliche Solidarität mit den Werktätigen aller Länder, mit allen Völkern. 92 Ulbrichts 10 Gebote und Honeckers sozialistische Persönlichkeit. Margedant, Udo: Sozialistische Persönlichkeit, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 2, N-Z, 1997, S. 760-763. Hanke, Irma: Vom neuen Menschen zur sozialistischen Persönlichkeit. Zum Menschenbild der SED, in: Deutschland Archiv, 9. fg., Mai 1976, S. 492-515. Eichhorn, Wolfgang /Ley, Hermann / Löther, Rolf (Hrsg.): Das Menschenbild der marxistisch-leninistischen Philosophie. Beiträge, Berlin (-Ost) 1969.

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Entwicklung des proletarischen Internationalismus und des sozialistischen Patriotismus. Allseitige und harmonische Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Während des Überganges zum Kommunismus ergeben sich immer mehr Möglichkeiten, einen neuen Menschen zu erziehen,93 der geistigen Reichtum, moralische Sauberkeit und körperliche Vollkommenheit harmonisch in sich vereint. Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus im Bewußtsein und Verhalten der Menschen. Die Partei betrachtet den Kampf gegen Erscheinungen der bürgerlichen und Moral, gegen die Überreste der Eigentümermentalität, gegen Aberglauben und Vorurteile als Bestandteil der kommunistischen Erziehung. Entlarvung der bürgerlichen Ideologie. Friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung bedeutet nicht, daß der ideologische Kampf eingestellt wird. Die Kommunistische Partei wird auch fernerhin das volksfeindliche, reaktionäre Wesen des Kapitalismus enthüllen und jeden Versuch, die kapitalistische Ordnung zu beschönigen, anprangern.

Die Partei wird systematisch die großen Vorzüge des Sozialismus und Kommunismus gegenüber propagieren. Aufgaben auf dem Gebiet der Volksbildung. Der Übergang zum Kommunismus setzt die Erziehung und Heranbildung kommunistisch bewußter und hochgebildeter Menschen voraus, die körperliche wie auch geistige Arbeit leisten und sich aktiv auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens und der Staatsverwaltung, der Wissenschaft und Kultur betätigen können. Aufgaben auf dem Gebiet der Wissenschaft. Der Fortschritt der Wissenschaft und Technik unter den Verhältnissen des sozialistischen Wirtschaftssystems ermöglicht es, die Schätze und Kräfte der Natur am wirksamsten im Interesse des Volkes zu nutzen, neue Arten der Energie zu entdecken und neue Werkstoffe zu schaffen, Methoden zur Beeinflussung der klimatischen Verhältnisse zu entwickeln und den Kosmos zu erschließen. Die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse wird für ein mächtiges Wachstum der gesellschaftlichen Produktivkräfte zum entscheidenden Faktor. Die Entwicklung der Wissenschaft und die Anwendung ihrer Errungenschaften in der Volkswirtschaft bleibt auch weiterhin Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit der Partei. Am wichtigsten sind folgende Aufgaben:  Entwicklung der theoretischen Forschungen.  Die Vereinigung von Wissenschaft und Produktion. Das Unterpfand einer fruchtbaren Entwicklung der Wissenschaft ist ihre unlösliche Verbundenheit mit dem schöpferischen Werk des Volkes, mit der Praxis des kommunistischen Aufbaus. 93 Bulgakow, Michail: Das hündische Herz. Eine fürchterliche Geschichte, Frankfurt a. M. 2016, zuerst 1925.

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Es ist für die sowjetischen Gelehrten eine Sache der Ehre, die vorgeschobenen Stellungen, die die Sowjetwissenschaft in wichtigsten Zweigen errungen hat, immer zu halten und auf allen Hauptgebieten die führende Position in der internationalen Wissenschaft einzunehmen. Aufgaben auf dem Gebiet des Kulturaufbaus, der Literatur und Kunst. Die kulturelle Entwicklung in der Periode des umfassenden Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft wird die abschließende Etappe der großen Kulturrevolution sein. In dieser Etappe werden alle notwendigen ideologischen und kulturellen Voraussetzungen für den Sieg des Kommunismus geschaffen.  Allseitige Entwicklung des kulturellen Lebens der Gesellschaft.  Erhöhung der erzieherischen Rolle von Literatur und Kunst.  Ausbau der internationalen kulturellen Verbindungen. Der Aufbau des Kommunismus in der UdSSR und die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder. Die KPdSU betrachtet den Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion als Bestandteil des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft durch die Völker des ganzen sozialistischen Weltsystems. Da sich die sozialistischen Revolutionen nicht gleichzeitig vollziehen und die wirtschaftliche wie auch die kulturelle Entwicklung in den einzelnen Ländern nicht die gleiche ist, geht auch die Vollendung des sozialistischen Aufbaus und der Eintritt dieser Länder in die Periode des umfassenden kommunistischen Aufbaus nicht gleichzeitig vor sich. Die Entwicklung der sozialistischen Staaten im Rahmen des einheitlichen Weltsystems des Sozialismus, die Ausnutzung der Gesetzmäßigkeiten und Vorteile dieses Systems ermöglichen es ihnen jedoch, die Fristen des sozialistischen Aufbaus abzukürzen, und eröffnen ihnen die Perspektive ihres mehr oder minder gleichzeitigen Übergangs zum Kommunismus innerhalb derselben geschichtlichen Epoche. Das Land, das als erstes zum Kommunismus geht, erleichtert und beschleunigt den Vormarsch des ganzen sozialistischen Weltsystems zum Kommunismus. Mit dem Aufbau des Kommunismus bahnen die Völker der Sowjetunion der ganzen Menschheit unerforschte Wege, sie prüfen an Hand der eigenen Erfahrung die Richtigkeit dieser Wege, ermitteln die Schwierigkeiten, finden die Mittel, sie zu überwinden, und wählen die besten Formen und Methoden des kommunistischen Aufbaus aus. Die sozialistische Ordnung schafft die Voraussetzungen für die Beseitigung des vom Kapitalismus hinterlassenen wirtschaftlichen und kulturellen Abstands zwischen den Ländern, für eine raschere Entwicklung der unter dem Kapitalismus wirtschaftlich zurückgebliebenen Staaten und für die ständige Hebung ihrer Wirtschaft und Kultur, für den Ausgleich des allgemeinen Entwicklungsniveaus der Länder des sozialistischen Lagers. Gewährleistet wird dies durch die Vorzüge des sozialistischen Wirtschaftssystems, durch Gleichberechtigung in den Wirtschaftsbeziehungen; durch gegenseitige Hilfe und Übermittlung von Erfahrungen, insbesondere durch gegenseitigen Austausch der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, durch die Koordinierung der Forschungen; durch gemeinsamen Bau von Industrieobjekten, durch Zusammenarbeit bei der Gewinnung von Naturschätzen. Die

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allseitige brüderliche Zusammenarbeit ist nutzbringend für jedes sozialistische Land und für das gesamte Weltsystem des Sozialismus. Die KPdSU und das Sowjetvolk werden alles tun was möglich ist, um alle Völker der sozialistischen Gemeinschaft beim Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus zu unterstützen. Die Partei in der Periode des umfassenden kommunistischen Aufbaus. Durch den Sieg des Sozialismus in der UdSSR und die Festigung der Einheit der Sowjetgesellschaft ist die Kommunistische Partei der Arbeiterklasse zur Avantgarde des Sowjetvolkes, zur Partei des ganzen Volkes geworden, hat sie ihren richtungweisenden Einfluß auf alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens verstärkt. Die Partei ist das Hirn, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche, des Sowjetvolkes, das gewaltige revolutionäre Umgestaltungen vollbringt. Sie schaut mit scharfem Blick in die Zukunft, weist dem Volk die wissenschaftlich fundierten Wege des Fortschritts, weckt in den Massen gigantische Energien und führt sie zur Lösung grandioser Aufgaben. Die unerschütterliche ideologische und organisatorische Geschlossenheit der Partei ist die Hauptquelle ihrer Unbesiegbarkeit, das Unterpfand für die erfolgreiche Lösung der großen Aufgaben des kommunistischen Aufbaus. Das ist das Programm der Arbeiten zum Aufbau des Kommunismus, das die Kommunistische Partei der Sowjetunion umreißt. Der Aufbau des Kommunismus in der UdSSR wird der größte Sieg der Menschheit in all den Jahrhunderten ihrer Geschichte sein. Jeder neue Schritt zu den strahlenden Höhen des Kommunismus begeistert die werktätigen Massen aller Länder, ist eine gewaltige moralische Unterstützung des Kampfes aller Völker um ihre Befreiung vom sozialen und nationalen Joch und beschleunigt den Triumph der Ideen des Marxismus-Leninismus im Weltmaßstab. Sobald das Sowjetvolk die Errungenschaften des Kommunismus genießt, werden neue Hunderte Millionen Menschen in der Welt sagen: ‚Wir sind für den Kommunismus!‘ Nicht durch Krieg mit anderen Ländern, sondern durch das Beispiel einer vollkommeneren Organisation der Gesellschaft, durch den Aufschwung der Produktivkräfte, durch Schaffung all dessen, was der Mensch braucht, um in Glück und Wohlstand zu leben, gewinnen die Ideen des Kommunismus die Hirne und Herzen der Volksmassen. Die Kräfte des gesellschaftlichen Fortschritts werden sich unausbleiblich in allen Ländern mehren, und das wird eine Hilfe für die Erbauer des Kommunismus in der Sowjetunion sein. Die Partei geht von dem marxistisch-leninistischen Leitsatz aus: Das Volk ist der Schöpfer der Geschichte, die Errichtung des Kommunismus ist das Werk seiner Hände, seiner Tatkraft, seines Geistes. Der Sieg des Kommunismus hängt von den Menschen ab, für sie wird er errichtet. Jeder Sowjetmensch bringt durch seine Arbeit den Triumph des Kommunismus näher. Die Erfolge des kommunistischen Aufbaus verheißen allen ein Leben in Überfluß und Freude, sie vergrößern weiter die Macht, die Ehre und den Ruhm der Sowjetheimat.

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Die Partei ist davon überzeugt, daß die Sowjetmenschen im neuen Programm der KPdSU ihre ureigene heilige Sache, das höchste Ziel ihres Lebens und das Banner des gesamten Volkes im Kampf für den Aufbau des Kommunismus erblicken werden. Die Partei läßt an alle Kommunisten, an das ganze Sowjetvolk – an die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Kolchosbauern und Kolchosbäuerinnen, an die Vertreter der geistigen Arbeit – den Ruf ergehen, alle Kräfte daranzusetzen, daß die im Programm vorgesehenen historischen Aufgaben erfolgreich gelöst werden. UNTER DER ERPROBTEN FÜHRUNG DER KOMMUNISTISCHEN PARTEI, UNTER DEM BANNER DES MARXISMUS-LENINISMUS HAT DAS SOWJETVOLK DEN SOZIALISMUS AUFGEBAUT. UNTER DER FÜHRUNG DER PARTEI, UNTER DEM BANNER DES MARXISMUS-LENINISMUS WIRD DAS SOWJETVOLK DIE KOMMUNISTISCHE GESELLSCHAFT ERRICHTEN. DIE PARTEI VERKÜNDET FEIERLICH: DIE HEUTIGE GENERATION DER SOWJETMENSCHEN WIRD IM KOMMUNISMUS LEBEN!“94

Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus. „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus hervorgebracht hat“.95 Die Utopien von Chruschtschow werden nur verständlich, wenn er fest daran glaubte, was Lenin 1913 konstatierte. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus (= Philosophie) hatte in den sozialistischen Ländern „eine systemkonstituierende Bedeutung. Jede Abweichung von der offiziellen Linie betont das gesamte Gebäude von Staat und Gesellschaft. Dementsprechend heißt es ohne Umschweife in dem Vorwort des Wörterbuchs:96 ‚Anlage, Aufbau und Darstellungsweise des philosophischen Wörterbuchs sind bewußt gegen jede Erscheinungsform des überkommenen wie des gegenwärtigen Revisionismus gerichtet. Dergestalt ‚wird in ihm gewollt jede Anschauung verworfen, die auf einen ‚Pluralismus‘ des Marxismus, auf reine ‚Konvergenz‘ mit der bürgerlichen Ideologie oder auf die Unabhängigkeit der marxistisch-leninistischen Philosophie vom konkreten Prozeß der Gestaltung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse abzielt‘. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus (= Philosophie) wird damit operativ zu einem Instrument des politischen Kampfes. Betreut wurde das Wörterbuch von dem in erster Linie als Kybernetiker bekannten Georg Klaus (gestorben 1974) und dem Philosophiehistoriker Manfred Buhr“. 97 94 Einheit. Sonderheft: August 1961, S. 41-91. 95 Lenin, W. I.: Werke, Bd. 19, Berlin (-Ost) 1967, S. 3. Erstveröffentlichung 1913. 96 Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg.: Klaus, Georg und Buhr, Manfred. 10. Neubearbeitete und erweiterte Ausgabe, 3 Bände, Reinbek b. Hamburg 1975. 97 Schenk, Guntram von: Philosophie als Funktion der DDR-Politik, in: Deutschland Archiv, 9. fg., 1976, S. 80-84. Dr. Guntram von Schenk war 1976 Referent der SPD-Bundesfraktion in Bonn.

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Die Auseinandersetzungen über die Bedeutung der wissenschaftlich-technischen Revolution wurden in der DDR vorwiegend in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ geführt. Nur im ersten Augenblick ist es irritierend, daß wirtschaftliche Probleme in der Philosophie diskutiert werden. Hauptvertreter der „Philosophie“ waren in der DDR Georg Klaus (1912-1974) und der 1927 geb. Manfred Buhr. Beide waren im Lexikon „Wer war wer in der DDR“ als „Philosophen“ bezeichnet. Dies ist falsch, denn beide waren Ideologen des MarxismusLeninismus-Stalinismus. Klaus war Mitherausgeber des „Philosophischen Wörterbuchs“ (Leipzig 1964 f.), mit Manfred Buhr, und des „Wörterbuchs der Kybernetik“ (1967 f.), mit Heinz Liebscher. Hauptsächliche Forschungsgebiete: Philosophische Fragen der Mathematik, Kybernetik und Semiotik, Geschichte der Philosophie, Logik, Erkenntnistheorie und Methodologie und deren Einbindung in die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus.98 Der 1927 geborene Manfred Buhr „wirkte an exponierter Stelle mit an der Durchsetzung der ideolog. Hegemonialansprüche der SED-Führung über das philosophischen Leben in der DDR sowie an der ideologischen und institutionellen Ausgrenzung nonkonformistischer marxistischer Strömungen, so der Philosoph Ernst Blochs, des kritischen Marxismus u. a. m.: 1980/81 war er als Instituts-Direktor neben Herbert Hörz maßgeblich beteiligt an der Maßregelung der Gruppe um Peter Ruben: Mitautor und -Herausgeber mehrerer Standardpubl. der DDRPhilos., u. a.: Philosoph. Wörterbuch. Leipzig, 1964; Marxist. Philosoph. Lehrbuch, 1967; seit 1971 Hrsg. der Schriftenreihe ‚Zur Kritik der bürgerl. Ideol.‘. (mehr als 100 Bde.)“.99 Das Etikett „Philosoph“ trifft bei Klaus und Buhr nicht zu. Dies wird auch deutlich, wenn man sich die Aufgaben der Philosophie und der Wissenschaft näher ansieht. Zu den Aufgaben der Philosophie schreibt Krings: „Philosophie hat auch selten eine Orientierungsfunktion, die im menschlichen Leben allgemein Sache der Religionen ist, heute auch sog. Weltanschauungen oder Ideologien zufällt. Doch eben im Hinblick auf diese Orientierungsinstanzen kann die Philosophie als Religions- oder Ideologiekritik Bedeutung gewinnen“.100 Die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus war keine Wissenschaft, denn Wissenschaft bezeichnet „die Fähigkeit, Wissen durch Beweisverfahren (Folgern, Messen, Quellenkunde) zu sichern und auszubauen, einzelne Gebiete voneinander abzugrenzen und das Wissen von ihnen nach ‚innerwissenschaftlichen‘ ‚Kriterien‘ (Allgemeingültigkeit, Systematisierbarkeit, Verifikation) zu einem einheitlichen Zusammenhang zusammenzuschließen – zur Wissenschaft als

98 Rau Hans-Christoph / Müller-Enbergs, Helmut: Klaus, Georg (1912-1974), in: Müller-Enbergs, Helmut / Wielgohs, Jan / Hoffmann, Dieter (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Bonn 2001, S. 430 f. 99 Wielgohs, Jan: Buhr, Manfred: Ebd., S. 122 f. 100 Krings, Hermann: Philosophie, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, S. 390.

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Grundbegriff, der sich (analog mit ‚Landschaft‘, ‚Bürgerschaft‘, ‚Gesellschaft‘) unter Einebnung geschichtl. überlieferter Wissensformen in der europäischen Neuzeit herausbildet. Die genannten Kriterien sind Merkmale eines einheitlichen Begriffs von Wissenschaft, der Wertvorstellungen verhaftet ist, die den Grundzug des gegenwärtigen (‚wissenschaftlichen‘) Zeitalters ausmachen (G. Funke / E. Scheibe, 1983, S. 24) Sie könnten leicht durch andere Merkmale ergänzt werden“.101 Das Erkenntnisziel von Klaus und Buhr war nicht die Wahrheit. Das Erkenntnisobjekt waren Marx, Engels, Lenin und Stalin sowie die Äußerungen der KPdSU, an die sich Klaus und Buhr im Gefolge der Äußerungen der SED-Parteitage anschlossen.102 Die Ideologie des Marxismus-Leninismus war fester Bestandteil des Grundlagenstudiums an allen Universitäten. Stalins Name fiel nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 weg. Aber Stalins Ausführungen zur Vervollkommnung der Ideologie des Marxismus-Leninismus blieben integraler Bestandteil der Ideologie an den Schulen und Hochschulen. Ein Student aus den neuen Bundesländern sprach mich nach einer Vorlesung an der Universität Bamberg, wo ich die Ideologie des Marxismus-Leninismus-Stalinismus behandelte, an und sagte mir, daß man in der DDR die versuchte Ideologieindoktrinierung „Rotlichtbestrahlung“ genannt habe, d. h., man ließ die Infrarotbehandlung über sich ergehen und gab bei der Prüfung die Antworten, die die Lehrer als „richtig“ angesehen hatten. Die Ideologie sollte erhärten, daß sich die SED auf dem „richtigen“ Weg zum Endziel des Kommunismus, befand. Wenn man die Parteitage der KPdSU und der SED analysiert, so kristallisiert sich ein Zick-Zack Kurs heraus. Eine Generallinie hat es nie gegeben. Die Parteitage der KPdSU und der SED hatten bei der politischen Schwerpunktsetzung, diese aus westlichen Marktwirtschaften übernommen oder verheißen utopische Ziele. Diese wurden von den Staats-Ideologen als Fortsetzung des Marxismus-Leninismus-Stalinismus deklariert. Mit der orakelnden Philosophie von Marx und Lenin konnte jeder Zick-Zack Kurs der Parteitage der KPdSU, der SED und der anderen sozialistischen/kommunistischen Parteien mit Marx – Lenin – Stalin als „schöpferische Fortsetzung“ oder „Vervollkommnung“ etikettiert werden.103

101 Riedel, Manfred: Wissenschaft, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, S. 1090. 102 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 10, Leipzig 1974, S. 619 f. 103 Schneider, Jürgen: „Marxistisch-leninistische Wirtschaftswissenschaften“ nach sowjetischem Modell an den Hochschulen der SBZ/DDR: Legitimation und Propaganda für die Parteitage der SED, in: Gerhard, Hans-Jürgen (Hrsg.): Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Bd. 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 214-265.

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3. Ist der ideologische Überbau des Marxismus-Leninismus-Stalinismus mit der wissenschaftlich-technischen Revolution kompatibel? 3.1. Der ideologische Überbau des Marxismus-Leninismus-Stalinismus „Der Sozialismus / Kommunismus ist eine Lehre, eine Organisation, eine Verhaltensweise und eine Haltung, die von äußerstem Monismus und Totalitarismus gekennzeichnet sind. Mit Monismus ist die Tatsache gemeint, daß er auf ein Ziel, eine Art des Lehrens, eine Autorität und eine Methode ausgerichtet ist, mit Totalitarismus die Tatsache, daß er alles und jedes diesem Einen unterordnet. Der Kommunismus ist erstens extrem monistisch: es gibt nur ein Ziel, das wert ist, erreicht zu werden – nämlich das von der Eschatologie beschriebene. Alle anderen Werte und Ziele mögen als Mittel, niemals als Endzwecke betrachtet werden. Es gibt nur eine einzige wahre Lehre, nämlich die, die in der sozialistischen-kommunistischen Philosophie enthalten ist; alles andere ist vollständig falsch. Es gibt nur eine einzige Gruppe von Menschen, die wissend ist und den Willen hat zu tun, was getan werden muß – die sozialistisch-kommunistische Partei, alles und jedes ist nur insoweit gut oder schlecht, als es der Partei dient. Es gibt nur eine einzige richtige Methode, die Ziele der Partei zu erreichen: nämlich die in der sozialistischkommunistischen Methodologie und von der kommunistischen Partei vorgeschriebene Methode; alle anderen Methoden sind vollkommen falsch. Darüberhinaus gibt es keinen Mittelweg zwischen dem Guten, Wahren und Wertvollen, das dem Sozialismus / Kommunismus zu eigen ist, und dem Falschen, Bösen und Schlechten. Zweitens ist der Sozialismus / Kommunismus extrem totalitär: er umfaßt in einer überaus kategorischen und absoluten Weise alles ohne eine einzige Ausnahme. Die Partei ist im Besitz der absoluten Wahrheit und kann niemals irren: sie ist die Verkörperung des Absoluten; niemandem ist weder erlaubt zu zweifeln, noch der Partei zu widersprechen. Der Partei hat blind gehorcht zu werden: in irgendeiner Weise nicht zu gehorchen ist verbrecherisch. Das Ziel der Partei ist es, alles zu beherrschen. Das ist zuerst einmal im geographischen Sinne des Wortes wahr, d. h. die Partei hat alle Länder ohne Ausnahme zu beherrschen – sie soll die Weltherrschaft ausüben. Zweitens stimmt es in einem tieferen Sinne: die Parteiherrschaft erstreckt sich auf alles – politische Probleme, Recht, Nationalitätenfragen, Wirtschaft, geistiges Leben, Kunst und Wissenschaft, Religion und die privatesten Angelegenheiten des Menschen sind alle der Herrschaft der Partei unterworfen und entsprechend der kommunistischen Lehre umgeformt. Darüberhinaus wird alles das, dem Prinzip des Monismus entsprechend, beständig als Werkzeug für die Ziele des Kommunismus betrachtet. Es gibt viele Hauptanziehungskräfte, an die der Sozialismus-Kommunismus appelliert. Die Anziehungskräfte zerfallen in zwei Hauptgruppen: a) die falschen Anziehungskräfte, die sich auf eine verfälschte Schau der Natur des Sozialismus-Kommunismus gründen, und b) die echten Anziehungskräfte, die

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entweder aus seiner wahren Natur stammen, oder wenigstens daraus, was die Sozialisten-Kommunisten dafür halten. Die falschen Anziehungskräfte des Kommunismus. Entsprechend dem Hauptprinzip sozialistisch-kommunistischer Moral, daß ‚alles, was den Zielen der Partei dient, gut und moralisch ist‘, stellen seine Parteigänger den Sozialismus-Kommunismus als übereinstimmend mit den Sehnsüchten der Menschen dar, die sie für ihre Sache zu gewinnen suchen, selbst wenn das ein völlig verfälschtes Bild des Sozialismus-Kommunismus mit sich bringt. Ein Beispiel ist der Appell an nationalistische Gefühle, der überall reichlich gebraucht wird, speziell aber in Ländern, die nach Unabhängigkeit von fremder Herrschaft streben. Ein anderes Beispiel ist der dauernde Appell an das Bestreben der Arbeiter, ihre Situation zu verbessern. Ein drittes liefert der Appell an die Wünsche der Bauern nach mehr Grund und Boden von den großen Gutsherrschaften. Der Kommunismus hat mit solchen Bestrebungen nichts gemein: er sorgt weder für die Freiheit der Völker, noch kümmert er sich um die Verbesserungen der äußeren Lebensbedingungen der Arbeiter; insbesondere aber nimmt er dem Bauern den Boden, den dieser besitzt, weg. Und doch benutzen die Kommunisten all diese Anziehungskräfte und erzielen bemerkenswerte Erfolge mit ihnen. Die echten Anziehungskräfte des Sozialismus-Kommunismus. Aber selbst wenn wir von solch falschen Anziehungskräften absehen und uns darauf beschränken, was sich auf die wahre Natur des Kommunismus gründet, so müssen wir sagen, daß noch nie in der Geschichte eine Bewegung den verschiedensten tiefen Sehnsüchten der Menschen so mächtige und viele Anziehungskräfte dargeboten hat. So appelliert der Kommunismus an den mächtigen Impuls, Anschauungen, Glaube und Handlungen nach einer absoluten Autorität, nach einem Dogma auszurichten. Er appelliert an den nicht weniger mächtigen Wunsch, die menschlichen Beziehungen zu verbessern. Er appelliert an den prometheischen Drang, die Welt mittels eigener Kraft umzugestalten. Er nutzt den Glauben an die Wissenschaft und ihren Wert aus. Er verlangt Heldentum und Opfer, was schon immer eine große Anziehungskraft auf den Menschen ausgeübt hat. Aber er appelliert auch an den Verdruß über die gegenwärtigen Zustände und bietet die Möglichkeit, sie vollständig zu zerstören. Deshalb ist es kein Wunder, daß er so viele Anhänger in den verschiedensten Klassen und Völkern gewonnen hat. Das dringende Verlangen nach einer absoluten Glaubensgrundlage, nach etwas, was dem Leben einen klaren Sinn und dem Denken eine feste Basis zu geben vermag, ist allen Menschen eigen und wird gewöhnlich durch die Religionen befriedigt. Aber wo auch immer die Religion nicht mehr lebenskräftig genug ist, befinden sich die Menschen in einem geistigen Vakuum, das schwer für sie zu ertragen ist. In dieses Vakuum dringt der Kommunismus mit einem extrem dogmatischen und absolutistischen Glauben ein, erklärt alles, gibt dem Leben einen klaren Sinn, rechtfertigt das Handeln und unterdrückt die unsagbare Ungewißheit. Das erklärt auch, warum so viele Intellektuelle Kommunisten geworden sind: die Intellektuellen sind oft vollkommene Skeptiker und haben ein besonders feines Gespür für jenes Vakuum.

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Die Sehnsucht nach besseren menschlichen Beziehungen, nach Unterdrückung der Ungerechtigkeit, nach Hilfe für die Armen und Schwachen ist eines der tiefsten menschlichen Verlange. Es ist in den meisten großen Religionen verkörpert und wurde ihre treibende Hauptkraft; so im Buddhismus, im Christentum und im Islam. Der Kommunismus appelliert nun genau an diese Sehnsucht in seiner Eschatologie: er bietet das Ideal vollständiger Gleichheit, Wohlstand und Glück für jeden Menschen – er predigt ebenso die Abschaffung aller Ungerechtigkeiten und Verächtlichmachung. Gleichzeitig appelliert der Kommunismus an das prometheische Streben im Menschen: er lehrt, daß eine Besserung von einer vollständigen Umformung der Welt und sogar des Menschen begleitet und vorbereitet sein muß, die mit Hilfe mutiger Taten des Menschen selbst durchzuführen ist. Dieses Ideal spricht besonders die Jugend an, der der Kommunismus das Leben als ein großes Abenteuer vor Augen stellt, als einen gigantischen Kampf gegen die ganze Welt, um sie zu verbessern. Der rationalistische Sinn des modernen Menschen wird vom ‚wissenschaftlichen’ Charakter des Kommunismus angesprochen: er entwirft ein System, das sich auf Vernunft und Planung gründet, ein System, in welchem alles wissenschaftlich erarbeitet und von wissenschaftlichen Kenntnissen geleitet sein wird. Nun sind die Ergebnisse der modernen Wissenschaft so erstaunlich und ihr Prestige ist so groß, daß diese Haltung eine andere machtvolle Anziehungskraft auf den Sinn des gegenwärtigen Menschen ausübt, besonders aber auf die Intellektuellen. All das ist darüber hinaus einerseits mit einem Appell an den heldenhaften Opfermut verbunden, der tiefe Gefühle des Menschen anspricht – andererseits an das Ressentiment, welches in verschieden großem Ausmaß in jedem Menschen vorhanden ist. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Lage in der Gesellschaft bekommt auf diese Weise einen Deckmantel edler moralischer Ideen und wird so vielfach zur unwiderstehlichen Kraft zugunsten des Kommunismus“.104 Fizer analysierte den Einfluß des Marxismus-Leninismus auf Literatur und Kunst am Beispiel von Literatur und Literaturwissenschaft, der bildenden Künste im allgemeinen, der Architektur und der Musik, sowie die Wissenschaft am Beispiel von Linguistik, Psychologie und Biologie. Die Ausführungen von Fizer gelten auch für die politische Ökonomie des Sozialismus.105 Der Einfluß des ideologischen Überbaus des Marxismus-Leninismus-Stalinismus auf Wissenschaft, Kunst und die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft wird bei der Diskussion um die technisch-wissenschaftliche Revolution deutlich. Der XXII. Parteitag der KPdSU erklärte die Wissenschaft zur „unmittelbaren Produktivkraft“. Alle Zentralplanwirtschaften der sozialistischen Länder waren po-

104 Bocheński, Joseph M.: Die formale Struktur des Kommunismus, in: Bocheński, Joseph M. / Niemeyer, Gerhart (Hrsg.): Handbuch des Weltkommunismus, Freiburg München 1958, S. 1316. 105 Fizer, John: Literatur, Kunst und Wissenschaft, in: ebd., S. 477-516.

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litisch natural gesteuert. Politisch bedeutet, daß der zum Dogma erstarrte Marxismus-Leninismus-Stalinismus den Überbau bildete. Dabei besaß die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ein Monopol bei der Interpretation des Überbaus. Die Interpretation war verbindlich für alle Bruderparteien auch außerhalb des sozialistischen Lagers. Die Parteitage der SED waren nach denen der KPdSU, so daß die Übernahme der Generallinie der KPdSU für die SED unproblematisch war. Im Programm und vierten Statut der SED von 1963 war das Unterordnungsverhältnis der SED zur KPdSU und der Sowjetunion formuliert worden. In der Verfassungsrevision von 1974 war die DDR ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern, der „für immer und unwiderruflich mit der UdSSR verbündet“ ist. Wissenschaft und Kunst sind ein Teil des ideologischen Überbaus im Marxismus-Leninismus-Stalinismus. 3.2. Die wissenschaftlich-technische Revolution im Wettbewerb zwischen der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft (=Sozialismus) und der Marktwirtschaft (= Kapitalismus) Von Clemens Burrichter, Eckart Förtsch, Hans-Joachim Müller Als im Jahre 1959 Ernst Topitsch sich mit der Frage nach dem „Wert wissenschaftlichen Erkennens“ beschäftigte, stellte er fest: „Nun hat die wissenschaftlichtechnische Revolution des jüngsten Abschnittes der Menschheitsgeschichte unstreitig zu einer tiefgreifenden Veränderung der tatsächlichen Lebensverhältnisse, aber auch der werthaft-weltanschaulichen Formen der Welt- und Selbstinterpretation des Menschen geführt […] Der Prozeß der Umgestaltung unseres Lebens durch die Wissenschaft und Technik ist als Phase der Menschheitsentwicklung nur etwa mit der Seßhaftwerdung oder allenfalls mit der Entstehung des Staates zu vergleichen“. Für die damalige Situation fügte Topitsch noch an, „daß die wissenschaftlich-technische Revolution für die deutsche Bildungsschicht ein traumatisches Erlebnis bedeutet, mit dem sie bis heute innerlich nicht fertig geworden ist“.106 Es ist die Frage, ob nach mehr als 15 Jahren nicht eben zaghafter Diskussionen und Kontroversen in Ost und West dieses Trauma inzwischen abgearbeitet werden konnte. Wir wollen einige Aspekte zur Beantwortung dieser Frage beitragen und zeigen, welche Interpretationsprobleme in den beiden deutschen Gesellschaftssystemen mit dem Aufkommen der wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) entstanden, wie sie erkannt wurden und wie man in den Theorie-Diskussionen auf sie reagierte. Dabei wollen und können wir weder eine Begriffsgeschichte noch eine Analyse des Realvorgangs der WTR geben. Vielmehr konzentrieren wir uns – mit dem erforderlichen Mut zur Lücke – auf drei Schwerpunkte: -

das Problem der zweckrationalen bzw. wertrationalen Bewältigung der WTR (I.)

106 Topitsch, Ernst: Vom Wert wissenschaftlichen Erkennens, in ders.: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 279 ff. (der hier herangezogene Beitrag erschien zuerst 1959).

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einige komplexe Kriterien und Charakteristika der WTR (II.) WTR als Kategorie für den Systemwettstreit (III.)

(I.): In den fünfziger Jahren, als in der Bundesrepublik die Diskussionen zur Automation und deren soziale Folgen ihren Höhepunkt bereits überschritten hatten107, wurde das Thema in der Ostberliner Deutschen Zeitschrift für Philosophie – zunächst primär polemisch – aufgegriffen. Horst Jacob zum Beispiel108 warf „rechten sozialdemokratischen und bürgerlichen Theoretikern“ vor, sie würden mit dem Begriff „zweite industrielle Revolution […] eine unwissenschaftliche Analogie zur industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts“ entwickeln. Dem hielt er entgegen: „Der gegenwärtige Prozeß qualitativer Veränderungen der Produktionstechnik hat aber trotz der in den kapitalistischen und in den sozialistischen Ländern qualitativ unterschiedlichen gesellschaftlichen Aspekte auch Gemeinsames. Dieses Gemeinsame liegt aber nicht auf gesellschaftlichem, sondern einzig und allein auf technischem Gebiet. Es sind dies die für den Kapitalismus und den Sozialismus gemeinsamen technischen Probleme und Aufgaben der beginnenden Vollautomatisierung und der Nutzbarmachung und Anwendung der Kernenergie in der Produktion, denn in beiden Fällen handelt es sich in gleicher Weise um eine qualitative Veränderung, um eine Revolutionierung der Produktionstechnik. Unabhängig vom Charakter der bestehenden Produktionsverhältnisse führt diese Revolutionierung der Produktionstechnik zu einer qualitativen Veränderung der Produktionsinstrumente und -verfahren und damit auch der Produktivkräfte als Ganzes, und demgemäß kennzeichnen wir diesen Prozeß als eine technische Revolution“.109 Dieser Beitrag wurde in der DDR heftig diskutiert.110 Vor allem Kurt Tessmann, der für die DDR wohl die erste größere Untersuchung zu Problemen der „technisch-wissenschaftlichen Revolution“ vorlegte111, setzte sich mit Jacobs These vom sozio-ökonomisch unabhängigen Verlauf der technischen Revolution kritisch auseinander. Vor dem Hintergrund der Erwartung, die Bundesrepublik könne durch die „Einführung der neuesten Produktionstechnik und die maximale Verwendung aller Ergebnisse der Natur- und Gesellschaftswissenschaften“ bis zum Jahre 1965 in der industriellen Pro-Kopf-Produktion überholt werden112, argumentierte Tessmann von den begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten kapitalistischer 107 Pollock, Friedrich: Automation Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen, Frankfurt / Main 1956. An den sehr intensiven Diskussionen beteiligten sich – z. T. initiierend – Gewerkschaften und politische Parteien ebenso wie Sozialwissenschaftler. 108 Jacob, Horst: Gibt es eine zweite industrielle Revolution?, in DZfPh 4/1958, S. 517 ff. 109 Ebd., S. 542/3. 110 Philosophische Diskussion zum Thema „Mensch und Technik“, in DZfPh 1/1959, S. 1.431. Der Berichterstatter (Horst Jacob) teilt u. a. mit: „Dabei wurde betont, daß demgemäß in Zukunft in marxistischen Publikationen der Begriff im Original ‚zweite industrielle Revolution‘ nicht mehr verwendet werden soll“. 111 Tessmann, Kurt: Probleme der technisch-wissenschaftlichen Revolution, Reihe „Unser Weltbild“ Nr. 16, Berlin (Ost) 1962. 112 Ders., „Vom Wesen des technischen Fortschritts in der Gegenwart“, in DZfPh 5-6/1959. S. 743.

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Gesellschaften her. Mit der Automatisierung der Produktion, so Tessmann, setzen revolutionäre Prozesse ein, die auf eine neue Qualität der gesellschaftlichen Produktion drängen. Damit würden im Kapitalismus ständig neue Konflikte geschaffen, „die nach Überwindung der ihr zugrundeliegenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse drängen“; die objektiven Grenzen der kapitalistischen Produktion hemmen deshalb das Entwicklungstempo des technischen Fortschritts.113 Dem Unvermögen des Kapitalismus, eine „Vollautomatisierung im gesamtgesellschaftlichen Maßstab“ durchzuführen, stellt Tessmann die Möglichkeiten der sozialistischen Gesellschaft gegenüber, zur „Komplexautomatisierung der Produktion in allen Zweigen der sozialistischen Volkswirtschaft“ überzugehen.114 Beide Gesellschaftssysteme sehen sich also vor die Notwendigkeit gestellt, die Ergebnisse von Wissenschaft und Technik auf dem Sektor der Produktion zu nutzen. Damit entstehen Probleme – nach Tessmann aber gesellschaftsspezifische und nur solche. Für das sozialistische Gesellschaftssystem reduziert sich die Problemsicht auf die Stellung des Menschen im veränderten Produktionsprozeß, konkret auf die Erarbeitung neuer Berufsbilder und die Notwendigkeit einer höheren und Mehrfachqualifikation Die Spezifik der Situation und der Mitte der 50er Jahre geführten Diskussionen in der Bundesrepublik zum ähnlichen Tatbestand war hingegen dadurch bestimmt, daß von seiten der Gewerkschaften und der politischen Parteien nicht nur über die Notwendigkeit einer angemesseneren Qualifikation und Ausbildung gehandelt wurde. Vielmehr waren auch andere Themen wie Arbeitsplatzprobleme, Freizeitfragen, Fragen der sozialen Mobilität und dergleichen Gegenstand der Diskussion; die Folgewirkungen der Automatisierung wurden somit nicht nur unter Aspekten der Effizienzsteigerung des Produktionsprozesses gesehen, sondern in einen sozialpolitisch breiteren Kontext gestellt. Die argumentative Lösungssuche wurde nicht ausschließlich unter dem Vorzeichen der optimalen Nutzung der Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik im Arbeitsprozeß, sondern auch im Hinblick auf die Situation der im Produktionsprozeß Tätigen geführt.115 Die Reaktion in den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen auf den Prozeß der Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses bestand also zunächst darin, daß in beiden Systemen116 das stärkere und umfassendere Wirksamwerden des wissenschaftlich-technischen Fortschritts über die Automation thematisiert wurde. Dabei ist für die DDR eine rigide Zweckrationalität zu konstatieren: Im Sinne einer Steigerung der Arbeitsproduktivität wurde die Nutzung der durch – vornehmlich – Natur- und Technikwissenschaften zur Verfügung gestellten Möglichkeiten als Problem und Forderung an das Individuum, an den im Produktionsprozeß Tätigen weitergeleitet. Seine noch ungenügende Qualifikation galt als Hemmnis für die von 113 Ebd., S. 744/5. 114 Ebd., S 745. 115 Damit soll nicht gesagt sein, daß die Ergebnisse der Diskussionen und Kontroversen zu zufriedenstellenden und ausreichenden Maßnahmen geführt haben. 116 Gewisse Phasenverschiebungen aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsstandes können in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben.

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den Wissenschaften bereits ermöglichten Steigerungsraten. Die in der Bundesrepublik behandelten Folgeprobleme der Automation für das Individuum erlangten in dieser Phase der DDR-Diskussion noch keine prinzipielle Bedeutung.117 Aber auch für die Bundesrepublik kann die Behandlung der Automation als soziales Problem für die damalige Phase nur als zweckrational bezeichnet werden. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wurde mit dem Produktionsprozeß und primär nur mit diesem zum Zwecke der Wachstumssteigerung verknüpft. Die auftauchenden Folgeprobleme galten als Folgen der produktiven Zwecksetzung. Selbst dort, wo Möglichkeiten und Folgen des Fortschritts im nichtproduktiven Bereich – z. B. im Bereich der Massenkommunikation – auftauchten, wurden sie im Sinne bisheriger Ziele und Zwecke eingeordnet118 und erreichten die sozialpolitischen Erörterungen in der Öffentlichkeit nur peripher und punktuell. Mit Beginn der 60er Jahre konstatieren wir für den Diskussionsverlauf in beiden Staaten eine jeweils einschneidende Zäsur. Für die DDR war dies der XXII. Parteitag der KPdSU im Jahre 1961, auf dem die Wissenschaft zur „unmittelbaren Produktivkraft“ erklärt wurde.119 Etwa zur selben Zeit veröffentlichte Helmut Schelsky seinen Aufsatz „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“ und eröffnete damit die sogenannte „Technokratie“-Diskussion in der Bundesrepublik.120 So ungleichgewichtig beide Ereignisse waren (und so problematisch es erscheinen mag, sie in einen Zusammenhang zu bringen) – beide gaben der Diskussion eine jeweils neue Richtung und Qualität. Wenn bis dahin in der DDR unter dem Rubrum „technische Revolution“ allein die Folgen der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Produktionsprozeß gesehen worden waren, so wurde damit auch Wissenschaft statisch, als Gegebenes verstanden. Zwar wurden auch die Wissenschaften unter politisch-sozialen und kognitiven Leistungsdruck gestellt, aber man sah keine Veranlassung, den sozialen Stellenwert und die Funktion von Wissenschaft prinzipiell zu problematisieren. Mit der Einordnung der Wissenschaft als „unmittelbare Produktivkraft“ wurde nun ein gesellschaftstheoretischer Sprung vollzogen, der ihrem neuartigen Stellenwert auch theoretisch gerecht werden sollte. Dabei waren sicherlich nicht nur die Kenntnisse vom exponentiellen Wachstum der Wissenschaften (Solla Price, Dobrow) ausschlaggebend, sondern auch und gerade

117 Daß in der DDR mit dem Begriff der „Ausbildung und Qualifizierung“ nicht nur der berufsbezogene Aspekt gemeint ist, braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden. Einen sehr interessanten Hinweis gibt hierzu Wolfgang J. Görlich, Geist und Macht in der DDR. Olten 1968, S. 66 ff. 118 Vereinzelte – zumeist sozialphilosophische – Hinweise auf die Auswirkungen der Technik (Freyer) oder der Wissenschaften insgesamt (Topitsch) auf das werthaft-weltanschauliche Grundgerüst unserer Gesellschaft erreichten die öffentliche Diskussion damals noch nicht. 119 Die Aufgaben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft, in: Einheit Sonderheft August 1961, S. 48: „Die Wissenschaft wird in vollem Maße zu einer unmittelbaren Produktivkraft“. 120 Helmut Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Revolution. Köln / Opladen 1962, erneut veröffentlicht in Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf / Köln 1965.

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die Erfahrung ihres Funktionswandels. Mit dieser neuen Verortung wurde Wissenschaft aus dem Überbaugefüge herausgelöst und dem Bereich der Basis gesellschaftlicher Wirkkräfte zugeordnet. Damit wurde der Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft (insbesondere: Produktion) als ein Problem gefaßt, das auch unter wertrationalen Gesichtspunkten zur Diskussion anstand. Ohne eine politische Steuerung, sozusagen aus der Entwicklung der Wissenschaften selbst heraus, forderte der bereits in den Anfängen faktisch und „spontan“ vollzogene Funktionswandel dazu auf, dieses Teilsystem im Gefüge der Gesellschaftstheorie neu zu bestimmen (Görlich, Kosel). Auch in der Bundesrepublik wurde die zunächst zweckrationale Diskussion zu Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erweitert: mit der Technokratie-Diskussion wurde die Demokratietheorie in die Überlegungen zur Funktion der Wissenschaften zentral mit einbezogen. Mehr noch: die Schärfe der nun auch wertrationalen Auseinandersetzungen wurde gerade aus der pluralistischen Interpretation der Demokratietheorie gespeist (die Kontroversen in der Zeitschrift „Atomzeitalter“ im Jahre 1961), die nunmehr auf die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Ebene getragen wurde. Hier – so meinen wir – liegen die Anfänge eines heute noch geführten Disputs, der inzwischen unter dem Thema „soziale Relevanz der Wissenschaften“ die Gemüter erregt und die Öffentlichkeit erreicht hat. Den je unterschiedlichen Vergesellschaftungsprozeß der Wissenschaften in der Bundesrepublik und in der DDR, durch sie selbst und ihre Wirkung auf die Gesellschaft provoziert, hat Nikolaus Lobkowitz für diese Phase der Diskussion treffend charakterisiert: „Westliche Gelehrte halten die Vorstellung von der Parteilichkeit in der Philosophie (aber auch in den übrigen Wissenschaften) gewöhnlich für falsch; der marxistisch-leninistischen Konzeption von einer politisch engagierten Wissenschaft stellt man eine Wissenschaft entgegen, die die Wahrheit sucht und nur die Wahrheit und in keiner Weise an ein politisches Glaubensbekenntnis oder eine politische Bewegung gebunden ist. Westliche Gelehrte machen sich nur äußerst selten klar, wie fragwürdig ihre Position ist und wie schwierig es ist, sie gegen die kommunistische Anschuldigung zu verteidigen, daß nämlich diese angeblich losgelöste Objektivität nur eine eigenartige und besonders eigensinnige Form der bürgerlichen Parteilichkeit ist“.121 Dem Trend zu einer „Vergesellschaftung der Wissenschaft“ korrespondiert heute eine „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“.122 Wir gehen davon aus, daß diese Tendenz für die Situation hochindustrialisierter Gesellschaften durchgängig kennzeichnend ist, sich ihnen als Herausforderung zur zweck- und wertrationalen Diskussion stellt. Daraus folgern Konsequenzen, vor die sich alle Gesellschaften dieses Entwicklungsstandes gestellt sehen. Es sind jetzt nicht nur die Wissenschaf-

121 In: Moderne Welt 2/1966, zit. nach J. W. Görlich: Geist und Macht in der DDR, Olten 1968, S. 66 ff. 122 Moser, Simon, in: Hans Lenk (Hrsg.): Technokratie als Ideologie, Stuttgart / Berlin 1973. S. 173.

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ten herausgefordert, ihr Verhältnis zur Gesellschaft zu durchdenken; auch die Gesellschaften und damit der ihnen zugrundeliegende jeweilige Norm- und Wertgehalt sind in diese Reflexion mit einbezogen, um dem veränderten Zustand gerecht zu werden. Auch für die DDR stellt sich dieses Problem, wiewohl bisher die wertrationale Dimension der Diskussionen weitgehend ausgeklammert wurde. Nach der Erklärung der Wissenschaft zur „unmittelbaren Produktivkraft“ wurde in der philosophischen Diskussion der DDR zunächst die Produktivkrafttheorie ganz allgemein aufgegriffen. Der Forderung, die Produktivkräfte in der gegenwärtigen Umbruchsituation auf dem Hintergrund der Produktivkrafttheorie konkreter zu untersuchen (Tessmann), wurde erst allmählich entsprochen. Die Präzisierung der Theorie von der Produktivkraft Wissenschaft hatte parallel zur Ablösung instrumentaler Wissenschaftsbegriffe zu erfolgen, die etwa in Formulierungen zum Ausdruck kamen wie: „daß die Wissenschaft in der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft ein Mittel zur rationellen Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung insgesamt wird“.123 Erst 1963 wird dann – im Zuge der mit dem NÖSPL eingeleiteten Reform- und Modernisierungsphase – eine neue Problemsicht deutlich. Der Begriff der wissenschaftlich-technischen Revolution – noch nicht offizialisiert – taucht von Zeit zu Zeit auf und wird im Zusammenhang mit der Produktivkrafttheorie diskutiert.124 In dieser Zeit finden auch an den verschiedensten Universitäten Konferenzen, Kolloquien und Tagungen zum Thema Produktivkraft Wissenschaft statt. Allerdings deuten die Tagungsberichte darauf hin, daß sich die Referenten in der Regel noch sehr schwer tun, diese neue Klassifizierung der Wissenschaft innerhalb der Gesellschaftstheorie präzise zu beschreiben.125 Der Philosophiekongreß 1965 macht dann bereits deutlich, wie die Diskussion zur Produktivkrafttheorie allmählich gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Diskussion im Hinblick auf die WTR – bzw. seinerzeit noch technische Revolution – zurücktritt. Diskutiert werden „Wesen und historischer Platz der technischen Revolution“, die „Rolle der Wissenschaft und des Menschen in der technischen Revolution“ (nur in dieser Sektion wurden Fragen der Produktivkrafttheorie im Zusammenhang mit Wissenschaftsentwicklung diskutiert), „sozialistisches Menschenbild und technische Revolution“, „Probleme der Leitung und Planung der technischen Revolution“, „methodologische Probleme der modernen Wissenschaften“, „philosophische Probleme einzelner Wissenschaften“. Nachdem also zunächst über die Produktivkrafttheorie die Funktion von Wissenschaft weiterhin verengt auf den Produktions- und Arbeitsprozeß gesehen wurde, stellen sich im Verlauf der nächsten Jahre stärker die gesamtgesellschaftlichen Sichtweisen ein. Es ist wiederum Kurt Tessmann, der 1967 in einem Beitrag diesen Zusammenhang thematisiert und die Frage nach dem Verhältnis von „WTR und System des Sozialismus“ stellt. Es 123 Stoljarow, Vitali: Kommunismus und Wissenschaft, in. DZfPh 12/1961, S. 1419. 124 Eichhorn, W.: Die Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution auf den Menschen als Produktivkraft, in: DZfPh 6/1963, S. 563 ff. 125 Zum Beispiel Welsch, F.: Produktivkraft Wissenschaft, in: DZfPh 7/1963, S. 882 ff.; Hofmann, W.: Kolloquium über Produktivkraft Wissenschaft, in: DZfPh 11/1963, S. 1.415 ff.

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dürfte nicht uninteressant sein, daß er in diesem Aufsatz noch positiv auf das interdisziplinäre Unternehmen in der Tschechoslowakei verweist, wo, aufgrund der Komplexität und gesamtgesellschaftlichen Wirksamkeit der WTR, in einem größeren Wissenschaftlerteam die Fragen des Wirksamwerdens der wissenschaftlichtechnischen Revolution genauer untersucht wurden.126 In der Tat wurde in der ČSSR – im Unterschied zur DDR – vom Richta-Team die Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlich-technischer Revolution und Sozialismus durchaus offen und breit angegangen. Die wertrationale Herausforderung wurde angenommen. Wie bekannt, gelangte dieses Forscherteam schließlich im sogenannten „Richta-Report“ zu der Auffassung, daß die gesellschaftstheoretische Konzeption des Sozialismus / Kommunismus aufgrund der durch die wissenschaftlich-technische Revolution gegebenen Bedingungen grundsätzlich und neu durchdacht werden müsse.127 Hier, so meinen wir, ist thematisiert worden, daß aufgrund und mit der wertrationalen Diskussion und Analyse der Bedingungen und Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution die vom Marxismus-Leninismus und von der etablierten Gesellschaftsordnung gesetzten Grenzen der theoretischen Reflexion und Weiterentwicklung durchbrochen werden müssen; in der DDR galt (und gilt) seit 1968 dieser Ansatz als „revisionistisch“. Wenn in der DDR heute die Strategie lautet, die Vorzüge des Sozialismus mit den Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution organisch und optimal zu verbinden, so ist damit noch nicht angezeigt, daß die von der WTR her notwendige wertrationale Diskussion in ihren ganzen Konsequenzen geführt würde. Genauer ausgedrückt bedeutet dies: Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Diskussionen in der DDR zeigt, daß die wertrationale Bewältigung des Prozesses der Vergesellschaftung der Wissenschaften durchaus in Angriff genommen wird und im Bereich der Wissenschaftstheorie intensiv diskutiert wird. Andererseits jedoch wird der Bereich der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und damit auch der Politik weiterhin unter primär zweckrationalen Aspekten gesehen und gehandhabt. Die Diskussionen in der Bundesrepublik sind dagegen anders zu werten. Die Auseinandersetzungen zur „Vergesellschaftung der Wissenschaften“ haben einen eindeutig gesellschaftstheoretischen Bezug. Bis in den Bereich der wissenschaftsund erkenntnistheoretischen Kontroversen wird die Frage nach der „sozialen Relevanz“ von Wissenschaft behandelt: Die Technokratie-Diskussion ist durch eine allgemein gesellschaftstheoretische abgelöst worden128, in der die Funktion von Wissenschaft unter gesamtgesellschaftlichen Aspekten zentral behandelt wird. Und 126 Tessmann, K.: Die wissenschaftlich-technische Revolution und das System des Sozialismus, in: DZfPh 3/1967, S. 291 ff. 127 Richta-Report: Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technischwissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt / M. 1971. Hierzu auch der rüde Verriß von Kurt Tessmann: Wissenschaftlich-technische Revolution und philosophischer Revisionismus, in: DZfPh 10/1969, S. 1240 ff. 128 Daele, Wolfgang v. d. / Weingart, Peter: Resistenz und Rezeptivität der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 2/1975, S. 146 ff.; Radnitzky, Gerard: Der Praxisbezug der Forschung,

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auch die „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ – zunächst primär pragmatisch angegangen und zweckrational diskutiert – wird inzwischen gesellschaftstheoretisch und wertrational behandelt. Gerade vor dem Hintergrund der Umweltproblematik werden jüngst immer wieder Forderungen nach einer „Wertforschung“ erhoben, die deutlich von einer zweckrationalen Sichtweise abgehoben werden.129 (II.): Im folgenden sollen die das Konzept WTR in marxistisch-leninistischer Sicht ausmachenden und explizierenden Grundannahmen knapp referiert werden. Dabei sind Gemeinsamkeiten und Besonderheiten dieses Ansatzes im Verhältnis zu nichtmarxistischen Sichtweisen des aktuellen Zusammenhangs Wissenschaft – Technik – Gesellschaft herauszuarbeiten. Auch in diesem Zusammenhang wird auf das Verhältnis von Zweckrationalität und Wertrationalität einzugehen sein. Die marxistisch-leninistischen Vertreter des Konzepts der „wissenschaftlichtechnischen Revolution“ beziehen sich hauptsächlich auf zwei eng miteinander verflochtene Prozesse: a) Revolution in den Wissenschaften, d. h. Entdeckung von Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten, die sich mit herkömmlichen Theorien nicht mehr erklären lassen, sowie die Anwendung gänzlich neuer Forschungsmethoden und vor allem technischer Forschungsinstrumente; b) Revolution durch die Wissenschaften, die deren qualitativ veränderte Rolle und Funktion in hochentwickelten Industriegesellschaften bezeichnet.130 Insbesondere nach dem VIII. Parteitag der SED wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß WTR nicht die derzeitige Gesamtentwicklung von Wissenschaft und Technik, sondern deren qualitativ neue Momente und soziale Folgewirkungen meint. Die eher quantitativen Veränderungen im wissenschaftlich-technischen Bereich hingegen sollten unter den Begriff wissenschaftlich-technischer Fortschritt subsumiert werden.131 Wenn also nicht sämtliche, sondern nur die qualitativ neuen Entwicklungstendenzen und gesellschaftlichen Wirkungen von Wissenschaft und Technik als Basis für das Konzept WTR gelten sollen, dann stellt sich die Frage,

in: Studium Generale 23/1970, S. 817 ff.; Memorandum zur Förderung der Wissenschaftsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Essen 1973; Texte zur Technokratiediskussion, hrsg. von Claus Koch und Dieter Senghaas, Frankfurt / M. 1970. 129 Klages, Helmut: Werte als Objekt der Zukunftsforschung, in: Die Fragen der Europäischen Zukunftsforschung, Manuskript, Berlin 1975. 130 Autorenkollektiv: Die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution, Berlin (-Ost) 1972, S. 111 ff. 131 U. Neuhäußer-Wespy auf die von Kurt Hager im Verlauf des 2. ZK-Plenums im September 1971 vorgenommene Abgrenzung des Begriffs „wissenschaftlich-technische Revolution“ gegenüber dem „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“, Ulrich Neuhäußer-Wespy: Aktuelle Probleme der wissenschaftlich-technischen-Revolution in der Gesellschaftspolitik der SED, in: Wissenschaft in der DDR – Beiträge zur Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsentwicklung nach dem VIII. Parteitag, hrsg. vom Institut für Gesellschaft und Wissenschaft Erlangen, Köln 1973.

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inwieweit zur Bestimmung dieser qualitativen Besonderheiten geeignete und ausreichend exakte Kriterien vorhanden sind. Eine präzisierte und systematisierte Merkmalsreihe zur Kennzeichnung des Phänomens WTR ist bislang noch nicht entwickelt worden. Meist werden lediglich einige Grundrichtungen und hervorstechende Beispiele der aktuellen Entwicklung von Wissenschaft und Technik dargestellt, die sowohl wissenschaftsintern als auch gesellschaftlich – hier in erster Linie ökonomisch – zu einem tiefgreifenden und weitreichenden Wandel geführt haben. In der Regel bezieht man sich auf einige theoretisch wie praktisch gleichermaßen bedeutsame Forschungsgebiete wie Elektro- und Atomenergie, Elektronik, Festkörperphysik und Molekularbiologie132, ohne daß die den revolutionierenden Charakter dieser heterogenen Forschungsrichtungen ausmachenden Besonderheiten hinreichend deduziert werden. Ein Ansatz in dieser Richtung findet sich bei Gudoznik, der als besondere Qualität derzeitiger Wissenschaft das Eindringen in die den beobachtbaren physikalischchemischen und biologischen Erscheinungen zugrundeliegenden Prozesse hervorhebt. Dadurch ergebe sich die Möglichkeit der gezielten Steuerung und Regelung dieser elementaren Prozesse und Zusammenhänge.133 Die zunehmende Erfassung und Beherrschung der Grundprozesse der belebten und unbelebten Natur wird ermöglicht zum einen durch die Weiterentwicklung der methodologischen Basis; dies kann als ein erstes Merkmal heutiger Wissenschaft gelten. Denn einmal ist die in den exakten Erfahrungswissenschaften auf den Modus des Experiments, also auf das Isolieren und Kontrollieren von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gerichtete Forschungslogik wesentlich verfeinert worden.134 Durch das Aufdecken intervenierender Variablen und den wissenschaftlichen Forschungsprozeß beeinflussender Störgrößen lassen sich die im Hinblick auf die Erkenntnis und Steuerung empirisch vorhandener Kausalprozesse relevanten Parameter exakter ermitteln. Die Verfeinerung vorhandener und Einführung zusätzlicher Objektivierungskriterien in den Erfahrungswissenschaften ist also im Hinblick auf die praktische Nutzung und insbesondere technische Anwendung ihrer Erkenntnisse unmittelbar bedeutsam. Zum anderen – dies als zweites Merkmal – ist der rapide und folgenreiche Erkenntniszuwachs heutiger Wissenschaft wesentlich mit auf die Anwendung neuentwickelter technischer Apparaturen im Forschungsprozeß zurückzuführen, die damit zu einem integralen Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses werden. Während die erkenntnistheoretisch-methodologischen Besonderheiten heutiger Wissenschaft aus marxistisch-leninistischer Sicht bislang kaum diskutiert werden, finden sich verschiedene Hinweise auf die wachsende Bedeutung der technisch-industriellen Komponente des Forschungsprozesses. Marachow z. B. hebt

132 Autorenkollektiv, a, a, O. (Anm. 25), S. 204 ff. 133 Gudoznik, G. S.: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Berlin (-Ost) 1974, S. 231 ff. 134 So wurde z. B. im Rahmen der Relativitätstheorie und Quantenphysik die Beeinflussung raumzeitlicher Aussagen und Messungen durch den Beobachter bzw. das Meßgerät erkannt. Heisenberg, Werner: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Stuttgart 1973, S. 47.

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hervor, daß eine Reihe naturwissenschaftlicher Experimente nur mehr mit Hilfe gewaltiger, hochkomplexer Untersuchungsanlagen vorgenommen werden kann, deren Herstellung allein aufgrund des gegenwärtigen technisch-produktiven Entwicklungsstandes möglich wurde. Außerdem weisen wissenschaftliche Großforschungseinrichtungen häufig selbst industriemäßige Dimensionen und Strukturen auf.135 In Umrissen zeichnet sich auch ein neues Verhältnis der SED zu den Mitträgern des „sozialistischen Mehrparteiensystems“ ab. Die Bedeutung der Massenorganisationen, vor allem des FDGB, wird unterstrichen, die anderen Parteien der DDR werden demgegenüber vernachlässigt. Alles in allem wird dieses Programm der neuen Sachlichkeit keine westdeutschen Intellektuellen auf die Straßen treiben. Es ist auch kein Modell für eine westeuropäische Arbeiterpartei. Statt intellektueller Kühnheit regiert nüchterne Stückwerkstechnologie. Es ist ein Regierungsprogramm, das auf die nächstliegende Zukunft einer konservativen Leistungsgesellschaft autoritär-kommunistischen Typs gerichtet ist. Der staatsmonopolistische Sozialismus der Ära Honecker in den Grenzen Preußens und Sachsens wurde festgeschrieben. Ulbricht hatte es 1963 leichter. Er konnte Kapitel des sowjetischen Parteiprogramms von 1961 einfach kopieren. Honecker mußte das obsolet gewordene Papier seines Vorgängers von 1963 aus der Diskussion ziehen, ohne einen vollwertigen Ersatz dafür liefern zu können. Seinen Mitarbeitern ist das erste Programm der SED-Geschichte offenbar so peinlich, daß heute, wenn die Traditionslinien deutscher kommunistischer Programmatik gezogen werden, zwar das sozialdemokratische Programm von 1891, nicht aber das SED-Programm von 1963 erwähnt wird. Das in die Augen springende Theorie-Defizit des neuen SED-Programms mag mit der unklaren Situation in der sowjetischen Parteiführung und dem damit zusammenhängenden theoretischen Immobilismus der KPdSU-Ideologen zu erklären sein. Vielleicht ist es auch darauf zurückzuführen, daß weder die sowjetische noch die theoretisch hochgebildete SED-Elite einig sind in der Einschätzung der neuen Weltsituation und ihrer Rückwirkungen auf das sozialistische Lager.136 Die unmittelbare technische Bedeutung wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts ergibt sich für die WTR-Theoretiker aus der Kompliziertheit der Prozesse und Aufgaben, mit denen es Technik gegenwärtig zu tun hat. Die vielfältigen und miteinander verflochtenen Elemente und Wirkungsbedingungen technischer Apparaturen lassen sich nicht mehr durch trial-and-error-Verfahren erfassen und verbessern. Demgemäß sind die nur mehr schwer überschaubaren Strukturen und Wirkprinzipien technischer Großsysteme selbst zum Gegenstand einer eigenständigen Forschungsrichtung – der Technikwissenschaft – geworden.

135 Marachow, W. G.: Struktur und Entwicklung der Produktivkräfte in der sozialistischen Gesellschaft, Berlin (-Ost) 1972, S. 240; Weinberg, Alvin M.: Probleme der Großforschung, Frankfurt a. M. 1970. 136 Ebd., S. 117-144.

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Die historisch neue Qualität des Gesamtkomplexes Wissenschaft-Technik manifestiert sich für die maßgebenden WTR-Theoretiker in UdSSR und DDR vor allem in der Automatisierung von Produktionsprozessen, also in der Übertragung ihrer Kontrolle und Steuerung auf technische Systeme. Der Prozeß der Automatisierung wird sogar als zentraler Kern- und Ausgangspunkt der WTR gesehen. Die einschlägigen Diskussionsbeiträge und Argumente sind, wie wir gesehen haben, hauptsächlich konzentriert auf die Effektivierung bzw. den Ersatz der Produktionsfunktionen durch technische Systeme. Die gesellschaftlichen Bezüge und Konsequenzen des technisch-ökonomischen Wandels bleiben in der vorwiegend zweckrationalen Argumentation weitgehend ausgespart.137 Noch tiefere wertmäßige Probleme wirft die Möglichkeit auf, fundamentale biologische, physikalische und chemische Prozesse mit Hilfe von Wissenschaft und Technik zu steuern und qualitativ zu verändern. Wenn nämlich die naturgegebenen Bedingungen und Prozesse als prinzipiell veränderbar erscheinen, dann kehrt sich tendenziell ihr Verhältnis zu den Zielen und Mitteln des Produktionsprozesses um. Natürliche Bedingungen und Prozesse treten dann nicht mehr als unabhängige Variablen im Produktionsprozeß auf, sondern gelten als durch diesen veränderbar. Damit tritt allerdings die Gefahr auf, „die Natur als unmittelbares Existenzmittel des Menschen als seinen eigenen ‚unorganischen Leib‘ zu zerstören“.138 Angesichts dieser neuen Situation kann Technik nicht mehr allein unter zweckrationalen Gesichtspunkten als Instrument der Effektivierung der Produktion gesehen und weiterentwickelt werden. Erforderlich werden vielmehr ein Überdenken und eine Neubestimmung der normativen und wertmäßigen Grundentscheidungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses insgesamt. Indem aber die damit aufgeworfenen essentiellen Fragen als durch die sozialistische Umgestaltung der Produktionsverhältnisse grundsätzlich gelöst gesetzt werden139, bleiben die normativ-werthaften Aspekte heutiger Technik im Rahmen des marxistisch-leninistischen WTRKonzepts weitgehend ausgeblendet. Ähnlich bedeutet auch die Einschränkung der gesellschaftlichen Reichweite von Wissenschaft auf ihre Funktion als „unmittelbare Produktivkraft“ eine weitgehende Verkürzung auf ihre technisch-ökonomischen Aspekte und Wirkungen. Die Kennzeichnung von Wissenschaft als „unmittelbare Produktivkraft“ bezieht sich auf ihren direkten Einfluß auf die verschiedenen Komponenten des Produktionsprozesses: auf den Produzenten durch Erhöhung seiner Qualifizierung und Erweiterung seiner Kenntnisse; durch die Schaffung neuer, in hohem Maße verwissenschaftlichter Techniken auf die Produktionsmittel; durch die wissenschaftlich stimulierte Veränderung der Rohstoff- und Energiebasis (z. B. durch Herstellung synthetischer Stoffe) auf den Arbeitsgegenstand. Hauptmerkmal der Rolle von Wissenschaft als einer unmittelbaren Produktivkraft sei allerdings ihre völlige Trennung von der unmittelbaren Arbeit durch die 137 Autorenkollektiv: Die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution, Berlin (-Ost) 1972, S. 137 ff. 138 Gudoznik, G. S.: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Berlin (-Ost) 1974, S. 238. 139 Ebd., S. 274 f.

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Vergegenständlichung ihrer Erkenntnisse in automatisierten, d. h. unabhängig vom Arbeitssubjekt operierenden Produktionsanlagen.140 Die Begriffsbestimmung von Wissenschaft als unmittelbarer Produktivkraft weist mithin Inkonsistenzen auf. Denn zum einen wird ja gerade auf die wachsende Verbindung von Wissenschaft und lebendiger Arbeit (z. B. über den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Höherqualifizierung der Produzierenden) hingewiesen, zum anderen aber unter Bezug auf die Automatisierung die Trennung von vergegenständlichter Wissenschaft und lebendiger Arbeit als Hauptcharakteristikum bezeichnet. Schwerer fällt demgegenüber ins Gewicht, daß die Identifizierung von Wissenschaft als Produktivkraft gleichzeitig als Grundbestimmung ihrer derzeitigen gesellschaftlichen Bedeutung und Reichweite fungiert. Gewiß ist Wissenschaft in allen hochentwickelten Industriegesellschaften von besonderer technisch-ökonomischer Relevanz. Denn Produktivitätssteigerungen lassen sich, da sowohl Kapitalausstattung als auch Arbeitskräftepotential nur im beschränkten Umfang noch erweitert werden können, im wesentlichen nur mehr mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Innovationen erreichen. Der Einfluß von Wissenschaft und Technik auf das wirtschaftliche Wachstum realisiert sich dabei in systemspezifisch unterschiedlicher Weise: Während unter marktwirtschaftlichen Bedingungen produktionsrelevante Neuerkenntnisse gleichsam aus der Wissenschaft „herausgesaugt“ werden, werden Innovationen in zentralwirtschaftlichen Systemen eher durch ein „Hineinpumpen“ in den Produktionsbereich wirksam.141 Es läßt sich aber die ökonomische Funktion von Wissenschaft gegenwärtig nicht mehr nur instrumentell als Mittel der Produktivitätserhöhung begreifen. Denn die vielfältigen negativen Nebenwirkungen und ressourcenmäßigen Beschränkungen des herkömmlichen, auf rein quantitative Steigerung ökonomischen Outputs gerichteten Wirtschaftswachstums und damit die Notwendigkeit der Veränderung bestehender Ziele und institutioneller Rahmenbedingungen des Wirtschaftens wurden in erster Linie von Wissenschaft erkannt und bewußt gemacht. Auch in der Produktivkraftdiskussion taucht durchaus die Forderung auf, die Folgeprobleme eines durch Wissenschaft und Technik beschleunigten ökonomischen Wachstums stärker zum Gegenstand wissenschaftlicher und wissenschaftstheoretischer Analysen zu machen.142 Die dahinterstehende, oben angedeutete Problematik, daß die aktuelle Entwicklungsdynamik von Wissenschaft und Technik zum Überdenken der traditionellen ökonomischen und gesellschaftlichen Ziele und Grundstrukturen in allen hochentwickelten Industriegesellschaften zwingt, wird allerdings von Marxisten-Leninisten nicht thematisiert.

140 Autorenkollektiv: Die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Revolution, Berlin (-Ost) 1972, S. 194 u. S. 197/198. 141 Buchholz, Arnold: Wissenschaftlich-technische Revolution und Wettbewerb der Systeme, in: Osteuropa 5/1972, S. 378. 142 Seickert, Heinz: Produktivkraft Wissenschaft im Sozialismus, Berlin (-Ost) 1973, S. 279.

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Die an den Konzepten „wissenschaftlich-technische Revolution“ und „unmittelbare Produktivkraft“ orientierte Bestimmung des veränderten gesellschaftlichen Stellenwerts von Wissenschaft beschränkt sich also in sozialistischen Ländern im wesentlichen auf den Nachweis ihres Funktionszuwachses als Instrument technisch-ökonomischer Effektivierung, ohne daß die darüber hinausreichenden Wirkungen und problematisierenden Momente von Wissenschaft ausreichend mitberücksichtigt würden. Demgegenüber vertreten und belegen verschiedene nichtmarxistische Autoren die These von einem gesamtgesellschaftlichen Wirksamwerden von Wissenschaft. Das bedeutet, Wissenschaft verändert bzw. problematisiert gegenwärtig die verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereiche bis hin zu den gesamtgesellschaftlichen Grundnormen und Grundstrukturen. Wissenschaftliche Ergebnisse wandeln sowohl herkömmliche Deutungen und Sichtweisen der Individuen und Gruppen als auch institutionalisierte Praktiken von Herrschaftsausübung, Bildung, Erziehung etc.143 Bezieht man den Diskussionsstand der marxistisch-leninistischen WTR-Theorie auf die zentralen (und in Ost und West thematisierten) Gegenwartsprobleme, dann läßt sich resümierend feststellen: Der mit der WTR für alle hochindustrialisierten Gesellschaften gegebenen Herausforderung ist nicht mehr mit dem Raster vorhandener ordnungspolitischer Prämissen angemessen zu begegnen. Die durch WTR entstandenen und entstehenden Probleme sind von allen Beteiligten sowohl zweckrational als auch insbesondere wertrational anzugehen. (III.): Von hier aus ist der Zusammenhang zwischen WTR als theoretischer Kategorie innerhalb einer Gesellschaftsperspektive und praktisch-politischen Aspekten einer transnationalen resp. internationalen Zusammenarbeit gegeben. Er ist – in einer ersten Näherung – bereits in der Erklärungsfunktion der marxistisch-leninistischen WTR-Theorie evident: indem mit der Signatur WTR Prozesse beschrieben werden, die in modernen Gesellschaften unterschiedlichen Typs an- und ablaufen, schließen die einschlägigen Analysen immer auch Charakterisierungen von Sozialismus und Kapitalismus ein. Sodann wird WTR mit aktuellen politischen Prozessen wie Koexistenz, internationalem Klassenkampf etc. in Beziehung gesetzt. Die WTR-Theorie erhält eine strategische Funktion, indem sie gesellschaftliche Prozesse als Hauptfeld der Systemauseinandersetzung abbildet.144 Hierbei wird in der DDR, wie wir gesehen haben, nicht immer konsistent argumentiert. Zwar gilt WTR 143 Albert, Hans: Konstruktion und Kritik, Hamburg 1972. Bell, Daniel: The coming of postindustrial society, New York 1973. Klages, Helmut: Die unruhige Gesellschaft, München 1975. Touraine, Alain: Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt / M. 1972. 144 Allerdings auch hier vor allem zweckrational: „Der Sieg wird letztlich jener Gesellschaftsordnung zufallen, die die Errungenschaften der fortgeschrittensten Wissenschaft und Technik zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur ständig besseren Befriedigung der selbst in Wandlung und Entwicklung begriffenen materiellen und geistig-kulturellen Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft nützen kann“. Kröber, Günter / Leitko, Hubert: Wissenschaft, Stellung, Funktion und Organisation in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, Berlin (-Ost) 1975, S. 5.

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als ein Ursachenkomplex internationaler Zusammenarbeit, doch müssen die WTRAnalysen gleichzeitig als Begründung für praktische, vor allem politisch-ideologisch motivierte Restriktionen und als Immunisierungsstrategie für die sozialistische Ordnung herhalten. Anders ausgedrückt: die dritte Funktion der WTR-Theorie, die sozial und politisch innovative, wird in einer sehr eigentümlichen Weise zur Anwendung gebracht. Sie reklamiert die dynamischen Entwicklungsmöglichkeiten für den Sozialismus, hält diesen aber analytisch konstant gegenüber dem Kapitalismus, gegenüber der Produktivkräfteentwicklung und gegenüber den Kooperationsbeziehungen. Dies findet einen Ausdruck etwa in der Maxime, die (vor allem ökonomischen) Vorteile der internationalen Arbeitsteilung und Zusammenarbeit für den Aufbau des Sozialismus / Kommunismus zu nutzen und die (politischen) Nachteile als sozialismusfeindlich zu deklarieren. Somit wird der Systemwettbewerb weder theoretisch noch politisch offengehalten; er wird letztendlich durch den Sozialismus, nicht aber durch WTR bestimmt gesehen. Wenn wir hingegen versuchen wollen, solche Begrenzungen zu durchstoßen, haben wir von der WTR als Determinante auszugehen. Von hier aus gerät das Verhältnis von gesellschaftlichen Prozessen und Problemen zu etablierten Normen und Strukturen in den Blick. Um es mit Richta zu sagen: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen des Wettbewerbs der beiden Systeme stellt die wissenschaftlich-technische Revolution einen Prozeß dar, der überall (!) die Schwächen aufdeckt und der sich gegen jeden (!) wendet, der nicht schritthalten oder nicht rechtzeitig gleichzuziehen vermag“.145 Das kann nur heißen: der „Entscheidungskampf um den Sozialismus“ (Richta) ist heute auch dadurch zu führen, daß dieser sich qualitativen Wandlungen unterzieht – und dies nicht nur im Bereich des wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Fortschritts, sondern auch im System der gesellschaftlichen Leitung146 und im Bereich normativer Grundprämissen. Dies aber, so scheint uns, ist im Theoretischen nur dann zu leisten, wenn nicht nur kapitalistische, sondern auch real-sozialistische Produktionsverhältnisse und Überbaumerkmale als (eben auch begrenzende) Bedingungen der sich qualitativ wandelnden Produktivkräfte problematisiert werden.147 In der innergesellschaftlichen Praxis der DDR sollte dies dann Ent-

145 Richta-Report: Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technischwissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt / M. 1971, S. 77. Mittlerweile hat Richta seinen Report quasi widerrufen. 146 Konkret z. B. die Forderung an die Partei, „den Horizont der lediglich am Klassenkampfproblem (und die im engen Sinne machtpolitische Struktur) orientierten Formen zu sprengen“, Richta-Report, S. 334. 147 Vielleicht nach der von Marx 1846 (Werke Bd. 4, Berlin (-Ost) 1959, S. 548) ausgesprochenen Empfehlung „Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs (commerce) und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung […] eine entspre-

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sprechungen finden. Ein Indiz hierfür können Weiterentwicklungen von vorhandenen Ansätzen sein, etwa im Übergang von einer vorwiegend politisch-voluntaristischen zu einer auch wissenschaftsgeleiteten Forschungspolitik der Produktivkraft Wissenschaft spezifische Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen, spezifische – d. h. wissenschafts- und problemadäquate – Mechanismen der Wissenschaftsplanung zu etablieren und so den Wissensproduzenten Artikulations-und Partizipationschancen zu geben148, die den betrieblichen Warenproduzenten fehlen. Wenn man so will, kann man darin den auch für die DDR faktischen Aufstieg der Wissenschaften in den Rang eines primären gesellschaftlichen Teilsystems sehen, das „aufgrund eigener Komplexität und Dynamik die gesellschaftliche Entwicklung führt und anderen Teilsystemen den Bereich ihrer Möglichkeiten vorzeichnet“.149 Von hier aus werden an die politische Führung der DDR und an den etablierten Sozialismus noch erhebliche Verarbeitungsprobleme zukommen. Das muß allerdings weder Technokratie noch „Liquidation“ des Sozialismus durch Wissenschaft bedeuten, wie manche in Ost und West offenbar befürchten.150 Vielmehr ist damit lediglich gemeint, daß WTR-Prozesse und „Errungenschaften des Sozialismus“ nur dann wirklich „organisch verbunden“ werden können, wenn auch letztere nicht mehr bloß in der Vermittlung durch eine Partei realisiert werden, deren Theorie, Gesellschaftsbild und Herrschaftslegitimation aus der Vor-WTR-Phase resultieren.151 Es sieht jedenfalls so aus, als sei – vor allem ab 1971 – die Produktivkraft Wissenschaft vom politischen System der DDR nicht mehr nur instrumental handhabbar, als wirke sie auch auf die sozialistischen Produktionsverhältnisse ein. Das hat Konsequenzen – wenigstens theoretisch und langfristig – auch für politische Strategien und Verhaltensweisen nach außen. Die Frage nach der Beseitigung selbstauferlegter Fesseln im Theoretischen wie im Praktischen soll in unserem Zusammenhang vor allem an die Systemauseinandersetzung gestellt werden, wie die DDR sie sieht und realisieren möchte. Auch hierfür reicht der Blick auf gegebene Restriktionen allein nicht mehr aus. Obwohl chende Gesellschaft (société civile). Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung (état politique), die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist“. 148 Förtsch, Eckart: Forschungspolitik in der DDR, ABG 1/1976, Erlangen. 149 Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung, Opladen 1972, S. 227. 150 So z. B. Rilling, Rainer: Theorie und Soziologie der Wissenschaft. Zur Entwicklung in BRD und DDR, Frankfurt / Main 1975, S. 160 ff. 151 So wird in der DDR nicht gefragt. Doch wird auf einer anderen Ebene gar nicht so unähnlich argumentiert, so etwa wenn gewarnt wird vor der „Gefahr, die durch eine zu enge Bindung der Wissenschaft an die gegebene Produktionsstruktur für die volkswirtschaftliche Effektivitätsentwicklung entsteht“. Maier, Harry: „Probleme der Beschleunigung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts im Sozialismus“, in: Wirtschaftswissenschaft 4/1973, S. 513. Erinnert sei auch an die diversen Warnungen vor administrativer, bürokratischer, wissenschaftlich nicht fundierter Wissenschaftsleitung; ferner an die vielen Plädoyers, die wissenschaftsinterne Planungs-, Organisations- und Verwertungs-Interessen gegenüber der Politik zum Ausdruck bringen etc.

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die Tendenz dominiert, die diversen Probleme von den etablierten Strukturen und Ordnungsvorstellungen her zu perzipieren und zu lösen, ist doch unverkennbar, daß hier auch differenzierter argumentiert wird. Daß gerade WTR-Analysen und -Argumente dabei eine – sei es ursächliche, sei es flankierende – Rolle spielen, ist wohl keine zufällige Koinzidenz. Demgegenüber sollten stereotype Wortfiguren – etwa: der Kapitalismus sei zur völligen Integration und Nutzung der WTR ungeeigneter als der Sozialismus – nicht überbewertet werden. Weit wichtiger erscheint uns der Umstand, daß von manchen Autoren anerkannt wird, daß westliche Industrieländer hinsichtlich vieler Indikatoren, mit denen der Stand der WTR gemessen werden kann (z. B. Automatisierungsgrad, Arbeitsproduktivität, Mitwirkung der Problembetroffenen in Politik und Wirtschaft, Humanisierung des Arbeitslebens), den sozialistischen Ländern voraus und Vorbild sind. Allerdings ist auch in dieser Frage unverkennbar, daß man sich zweckrational mit Indikatoren und Phänomenen befaßt, nicht aber mit den Implikationen. An Positionen, die den Zusammenhang von WTR und internationaler Zusammenarbeit thematisieren, lassen sich mindestens unterscheiden: 1. Es werden objektive Problemlagen als globale, d. h. weltweit existierende und durch WTR verursachte ausgemacht (Ernährungsprobleme, Spanne zwischen entwickelten und Entwicklungsländern, Bevölkerungswachstum, Rohstoff- und Energieproblem, Umweltproblem etc.).152 Sowohl Problemgenese – die Zusammenarbeit „ergibt sich in gewisser Weise zwangsläufig aus der stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte im Ergebnis des schnellen Voranschreitens von Wissenschaft und Technik mit allen ihren komplizierten Problemen“153 – als auch Problemlösung werden auf gemeinsame Situationen und Notwendigkeiten zurückgeführt. Die Probleme gelten als grenzüberschreitende, das bedeutet, daß sie „nicht im Rahmen einzelner Staaten oder im Maßstab der Staaten eines gesellschaftlichen Systems allein angegangen bzw. gelöst werden können“.154 2. Parallel zu dieser Argumentation, die vorrangig auf „Probleme der heutigen Zivilisation“155 abhebt, ist von „objektiven ökonomischen Gründen“ einer internationalen Zusammenarbeit in Verbindung mit einer „Internationalisierung“ der Produktivkräfte und des Wirtschaftslebens die Rede. Hierbei werden vor allem die wirtschaftlichen Interessen und Motive sowohl sozialistischer als auch kapitalistischer Länder untersucht; Ergebnis: es gibt „eine Anzahl von übereinstimmenden Interessen“, und diese Anzahl wächst.156 Angesichts der Problemlagen und den Interessen gemäß gewinnt die Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Tech-

152 Wissenschaft und globale Probleme der Gegenwart, in: Gesellschaftswissenschaften (Zeitschrift der Sektion Gesellschaftswissenschaften der AdW der UdSSR) 3/1975. S. 179 ff. 153 Schwabe, Ernst-Otto: Nicht Schlußpunkt – sondern Auftakt, in: Die Wirtschaft 16/1975, S. 2 f. 154 Nitz, Jürgen: Zum Charakter ökonomischer Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern, in: IPW-Berichte 10/1975, S. 17. 155 Maier, Lutz: Der Kapitalismus und die heutige Weiterentwicklung – neue Tendenzen und Erscheinungen, in: IPW-Berichte 11/1975, S. 6. 156 Nitz, Jürgen: a. a. O. (Anm. 50, 52).

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nik und im ökonomischen Bereich neue Dimensionen, Formen und Methoden: gemeinsame Aufgabenstellung und Problembearbeitung in Forschung157, Verlagerung der Kooperation von der Zirkulations- in die Produktionssphäre, gemeinsame Realisierung von Projekten, Institutionalisierung, Komplexität, Langfristigkeit etc.158 3. Schließlich wird die Zusammenarbeit an strukturellen Analogien festgemacht: die beiden Systeme haben nicht nur einen Set gemeinsamer Interessen, sondern auch WTR-bedingte technisch-organisatorische Gemeinsamkeiten vor allem im Produktionssektor.159 Im Hinblick auf bestimmte Folgewirkungen der WTR können sozialistische Länder vom Kapitalismus lernen (z. B. Arbeitsplatz-Gestaltung, Verbesserung der Produktionsbedingungen und der Sicherheitstechnik, Beseitigung übermäßiger psychophysischer Belastungen).160 Eine vierte Position, die der professionellen Abgrenzer, kann hier außer Betracht bleiben. Sucht man für die referierten Argumentationskomplexe einen gemeinsamen Nenner, so bietet sich das Interesse an der Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums und an der Beseitigung negativer Wachstumsfolgen an. Funktion, Inhalte und Formen der Ost-West-Beziehungen werden dadurch maßgeblich bestimmt, und damit wird auch die gängige Zirkelargumentation – Entspannung als Grundlage der Zusammenarbeit, Zusammenarbeit als Voraussetzung und Triebkraft der Entspannung – durchbrochen. Dies findet einen Ausdruck etwa darin, daß in den ökonomischen Beziehungen zwischen West und Ost eine „dritte Etappe“, die der wissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Kooperation, begonnen worden ist161: wer will, kann auch anhand der KSZE-Texte (einschließlich der 1972/73 vorgelegten Vorschläge von Staaten und Staatengruppen) feststellen, daß die formulierten Gebiete etwa in Wissenschaft und Technik durchaus nicht nur solche Projekte und Gegenstände betreffen, an denen nur RGW-Länder interessiert wären. Indes ist mit solchen Aktivitäten und Indizien nur ein bestimmter Bezug zur WTR gegeben. Er bringt zum Ausdruck, daß angesichts der Problemstellungen in durch die WTR geprägten Gesellschaften Verhaltensweisen und Verkehrsformen wie Autarkie-Politik, politisch motivierte Embargo-Aktionen etc. mehr und mehr dysfunktional werden. Doch dominieren in Theorie und Praxis noch immer die begrenzenden Bedingungen. So wie beispielsweise DDR-intern der Reproduktionsprozeß, die Herrschaftsstruktur und der „harte Kern“ der Ideologie gegenüber WTR

157 Wissenschaft und globale Probleme, a. a. O. (Anm. 50). 158 Freiberg, Paul / Nitz, Jürgen: Formen und Perspektiven der Wirtschaftsbeziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten, in: IPW-Berichte 11/1975, S. 16 ff. 159 Filipec, J. / Löwe, B. P. / Richta, R.: Sozialismus – Imperialismus – wissenschaftlich-technische Revolution, Berlin (-Ost) 1974; die „analogen Erscheinungen“ werden hier, wie es die Regel ist, in „grundsätzlich divergierende Trends“ eingepaßt. 160 Die wissenschaftlich-technische Revolution als wichtigster Abschnitt des Wettbewerbs der zwei Systeme, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 2/1976, S. 203 ff. 161 Amerongen, Otto Wolff von, in: Giersch, Herbert (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen einer Verbesserung des Ost-West-Handels und der Ost-West-Kooperation, Tübingen 1974, S. 67 ff.

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konstant gehalten werden, so wird auch in den WTZ-Beziehungen generell verfahren. Wir denken hier weniger an Klassenkampferklärungen und -praktiken als vielmehr an die mangelnde Bereitschaft sozialistischer Länder, Beziehungen um die zu lösenden Probleme herum differenziert und auch unter dem Aspekt der Eigendynamik der Problembearbeitung zu organisieren und dabei etablierte Strukturen und Verfahren in Frage zu stellen. Das beginnt bei ordnungsbedingten Schwierigkeiten mit Gemeinschaftsproduktionen in der Wirtschaft und hört bei Diversionsängsten vor sozialwissenschaftlicher Kooperation auf. Daß Klassenkampf, Verfestigung von Ordnungen und die Lösung konkreter Probleme (die die Gesellschaften unterschiedlichen Typs penetrieren und die ja auch nicht „national“ entstanden sind) nicht in Zweck-Mittel-Relation gesetzt werden können, muß erst noch gelernt werden. Der inzwischen erreichte Typ der Kooperation, die jedenfalls tendenziell, „sich als begrenzte kollektive Problemlösung im Rahmen systemspezifischer Interessenpolitik vollzieht“ und deren Funktion die „wechselseitige Nutzenmaximierung“ ist162, ist noch stark vom Politischen her geprägt. Dies sichert zwar der Kooperation z. B. in Wissenschaft und Technik entsprechende Aufmerksamkeitswerte und auch eine hochrangige Anbindung und Absicherung.163 Doch birgt die „etatozentrische“164 Sichtweise die Gefahr nicht nur der Formalisierung zum Zweck der Abwehr und Restriktion, sondern auch der Überlagerung und Verwischung der eigentlichen WTZ-Probleme und Gegenstände. Darin eingeschlossen ist die Möglichkeit, daß der Aspekt verlorengeht, daß WTR-förmige Kooperation auch einen Beitrag zum politischen und sozialen Wandel zu leisten vermag: nicht nur in dem Sinne, daß durch eine „erhöhte Transaktionsfrequenz“ „neue standardisierte Prozeduren zur Kooperation und Konfliktlösung“ entstehen, sondern mehr noch in dem Sinne, „widersprüchliche Wertsysteme, die die Kumulierung der Konflikte fördern, durch die Regelung von Knappheitsproblemen zu unterlaufen“.165 Dieses „unterlaufen“ kann heute nicht mehr und nicht weniger heißen als „gemeinsame Kriterien für die planvolle Weiterentwicklung der einzelgesellschaftlichen Produktivkräfte unter dem Gesichtspunkt der internationalen Arbeitsteilung zu erarbeiten“.166 Damit schon könnten – bei hinreichend weitgefaßtem Produktivkraft-Begriff wie z. B. in Karl Korschs Marx-Interpretation – die oben genannten WTR-Merkmale für die

162 Brock, Lothar: Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperationspolitik, in: Beilage zu Das Parlament B 36/1973, S. 38. 163 So interpretiert Henning Eikenberg: „Die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit Osteuropa“, ebd., S. 21 ff., das Interesse sozialistischer Länder an der staatsvertraglichen Regelung der WTZ. 164 Nye, Joseph S. / Keohane, Robert O.: Transnationale Beziehungen und Weltpolitik, in: Haftendorn, Helga (Hrsg.): Theorie der internationalen Politik, Hamburg 1975, S. 69 ff. 165 Zellentin, Gerda: Intersystemare Kooperation und Frieden in Europa, in: Beilage zu Das Parlament B 36/1973, S. 31 ff. 166 Brock, Lothar: Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperationspolitik, in: Beilage zu Das Parlament B 36/1973, S. 32.

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Ost-West-Zusammenarbeit fruchtbar gemacht werden. Und umgekehrt: die Zusammenarbeit kann aus der noch bestehenden politischen und ökonomischen Verengung167 herausgeführt werden. Damit erst ist der Zusammenhang von WTR und WTZ stringent und konsistent hergestellt: wenn Wissenschaft inner- und intergesellschaftlich nicht nur in Technik und Wirtschaft praktisch wird, sondern auch als Instanz der Problemperzeption und Problembearbeitung in den internationalen politischen und gesellschaftlichen Beziehungen. Im Sinne eines „multistabilen Systems“ der Beziehungen (G. Zellentin) können dadurch die bestehenden Konfliktfelder (Ideologie, Politik, Wettrüsten etc.) kompensiert und vielleicht sogar einmal beeinflußt werden. (IV).) Wir haben aus der inzwischen unübersehbaren Literatur zur WTR einige uns wesentliche Aspekte herausgehoben und diskutiert. Insbesondere im Hinblick auf die Systemauseinandersetzung mit der DDR sind für uns vor diesem Hintergrund einige Schlußfolgerungen evident: Der dialektische Prozeß der „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ und der „Vergesellschaftung der Wissenschaft“ erscheint in den Diskussionen ungleichgewichtig. Während die neue Verortung der Wissenschaften (ihre Vergesellschaftung) nicht nur zweckrational, sondern innerhalb der wissenschaftstheoretischen Erörterungen teilweise auch wertrational angegangen wird, wird der Prozeß der „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ unter pragmatischen und Effizienzaspekten – ideologisch programmiert – auf den Produktionsprozeß verengt. Der komplexe Prozeß der zunehmenden Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlichen Daseinsbereiche und die damit intendierten normativen Aspekte bleiben ausgeblendet. Die aus der zugrundeliegenden Dialektik notwendige wertrationale Diskussion der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft wird nicht geführt. Der globale und damit nicht mehr auf dysfunktionale ordnungspolitische Prämissen zu reduzierende Charakter einer Reihe qualitativ neuer, im Zuge der WTR entstandener Probleme wird zwar durchaus erkannt. Auch wird gesehen, daß Wissenschaft in allen hochentwickelten Industriegesellschaften bei der Lösung dieser Probleme vorrangige Bedeutung erhält. Dies zeigt sich u. a. auch in dem verstärkten Bemühen um internationale Wissenschaftskooperation, das von einer Einschätzung des Verwissenschaftlichungsprozesses gleichermaßen als systemübergreifendes Phänomen wie als wesentliches Moment der Systemkonkurrenz ausgeht. Der struktursprengende oder zumindest strukturkritische Charakter der gesellschaftlichen Folgewirkungen der WTR kommt hingegen nicht in Sicht. Die durch den derzeitigen Verwissenschaftlichungsprozeß in wachsendem Maße problematisierten gesellschaftlichen Grundnormen und bestehenden Wertentscheidungen werden im Rahmen der WTR-Theorie analytisch und gesellschaftspolitisch konstant gesetzt. Das bedeutet, die aktuellen Probleme des Verwissenschaftlichungsprozesses wer-

167 Z. B.: „In der Epoche der wissenschaftlich-technischen Revolution kann kein einziges Land seine Wirtschaft effektiv entwickeln, ohne die in Wissenschaft, Technik und Produktion erzielten Weltleistungen zu nutzen“, Adreew, Wladislaw, in: Giersch, H., a. a. O., S. 94.

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den auf eine zweckrational handhabbare Dimension verkürzt, ihre werthaften Komponenten dagegen im Sinne der bestehenden politisch-ideologischen Grundentscheidungen interpretiert und auf diese Weise ihrer wertrationalen Brisanz neutralisiert. Es kann dann nicht überraschen, wenn diese „interne“ Sichtweise auch den Blick auf die gesellschaftsexterne Situation determiniert. Wenn die WTR ein Prozeß ist, der die zweck- und wertrationale Diskussion verlangt, dann ist im Konzept einer „friedlichen Koexistenz“ die Verweigerung der „ideologischen Koexistenz“ ein Anachronismus. Die Interdependenz der Problemlagen hochentwickelter Gesellschaften verlangt ein ausgewogenes Verhältnis von zweck- und wertrationaler Diskussion über die die beiden Systeme tangierenden Entwicklungsprobleme. „Ideologische Koexistenz“ meint dann die auch und insbesondere wertrationale Diskussion und Auseinandersetzung zwischen den Systemen auch über die jeweiligen normativen Prämissen vor dem Hintergrund der Herausforderungen durch die WTR. Insofern wird nicht das Gesellschaftssystem als „Sieger“ (Kröber / Laitko) aus dieser neuartigen Auseinandersetzung hervorgehen, das seine Wissenschaft ins tradierte System hineinzwängt, sondern dasjenige, das sich bewußt der normativen Auseinandersetzung und entsprechenden Problemlösungen stellt.168 3.3 Das Parteiprogramm der Honecker-Ära war tief verankert im dogmatisch erstarrten Marxismus-Leninismus-Stalinismus und zielte vorwiegend auf die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse Von Fred Oldenburg Die Überraschung ist ausgeblieben. Die programmatischen Worte des künftigen Generalsekretärs sind beileibe keine Sensation. Auch der Parteiname, auf Sozialismus und Deutschland gezielt, blieb erhalten. Fraglich ist, wie viele Jahre das bis ins „nächste Jahrtausend“ hineinreichende Programm überdauern wird. Im Juli 1972 hatte eine von Erich Honecker geleitete Parteikommission, der das gesamte Politbüro angehörte, die Aufgabe übernommen, das erste Programm und das vierte Statut der SED von 1963 „im Lichte der Beschlüsse des VIII. Parteitages“ zu überarbeiten. Die Entwürfe wurden zweimal im vergangenen Jahr behandelt, aber vom Zentralkomitee nicht endgültig verabschiedet. Erst 6 Wochen nach der letzten (16.) ZK-Tagung veröffentlichte „Neues Deutschland“ auf insgesamt 21 Zeitungsseiten die Entwürfe - des neuen Parteiprogramms der SED (am 14. Januar) - der Direktive des IX. Parteitages für den neuen Fünfjahrplan 1976-1980 (am 15. Januar)169, 168 Burrichter, Clemens / Förtsch, Eckart / Müller, Hans-Joachim: Die wissenschaftlich-technische Revolution – Kriterien und Konsequenzen, in: Deutschland Archiv, 9. Jg., Mai 1976, S. 516529. 169 Oldenburg, Fred: Zur 16. Tagung des Zentralkomitees der SED, in: Deutschland Archiv, 9. Jg., 1976, S. 2-7.

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- des neuen Statuts der SED (am 16. Januar). Nun soll über diese Entwürfe diskutiert werden, Änderungsvorschläge können bis zum 20. April eingereicht werden. Den endgültigen Wortlaut beschließt der IX. Parteitag, der vom 18.-22. Mai 1976 im dann fertiggestellten neuen Palast der Republik am alten Berliner Lustgarten tagen wird. Die späte Publikation ist bedauerlich. Schon im Dezember vergangenen Jahres hatten die Rechenschaftslegungen und Wahlen in allen SED-Parteigruppen und zwei Dritteln der Abteilungsorganisationen stattgefunden. Wenn das 16. ZK-Plenum, das Ende November 1975 getagt hat, die Entwürfe nicht nur „behandelt“, sondern (wie das beim ersten Programm im Oktober 1962 durch das 17. ZK-Plenum geschah) auch schon beschlossen hätte, dann wäre die Diskussion darüber schon in den ersten Versammlungen zu den Parteiwahlen möglich gewesen. Diese Gelegenheit, Basis-Demokratie zu üben, wurde versäumt. So bleibt der Verdacht, daß ein Teil der Parteiführung mit Formulierungen in den Entwürfen nicht einverstanden war und sich deshalb an das Zentralkomitee wandte. Das erforderte nochmalige Veränderungen, die die Publikation verzögerten. An den ursprünglichen Auftrag, die Parteidokumente im Lichte des VIII. Parteitages zu überarbeiten, hielt sich die Kommission nur beim Statut, das vor allem in der politischen Einleitung starke Veränderungen aufweist. Das Programm dagegen wurde nicht überarbeitet, sondern völlig neu geschrieben, es ist nach dem Programm des VI. Parteitages von 1963 nun das zweite Parteiprogramm der SED. Deutschlandpolitik und nationale Frage: Löschung aller gesamtdeutschen Bezüge. Die hervorstechendste Neuerung ist die peinliche Löschung aller gesamtdeutschen Bezüge sowohl im Programm als auch im Statut. Trotz vielfältiger Wendungen in der Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der SBZ / DDR in den vierziger und fünfziger Jahren waren alle früheren Parteistatuten der SED und, nach den „Grundsätzen und Zielen“ von 1946, auch ihr erstes Parteiprogramm von 1963 auf ganz Deutschland gezielt. Zu einer Zeit, als Westdeutschland sich auf die westeuropäische Einigung orientierte, blühte in der DDR das nationale Pathos. Die SED verstand sich als Partei der „nationalen Einheit und der nationalen Würde“, sie war von der „historischen Mission“ durchdrungen, durch den umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDR die Grundlagen und das Vorbild für den Sieg des Sozialismus auch in der Bundesrepublik zu schaffen. Auch die Verfassung von 1968 war noch „getragen von der Verantwortung, der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen“, und die DDR wurde darin als „sozialistischer Staat deutscher Nation“ definiert. Eine wirkliche Veränderung der Prioritäten, und zwar in Richtung Ostintegration, trat erst nach der Ablösung Ulbrichts im Frühjahr 1971 ein. Ihren deutlichsten Ausdruck fand sie in der Verfassungsrevision vom Oktober 1974. Im neuen Text der Verfassung ist die DDR ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“, der „für immer und unwiderruflich mit der UdSSR verbündet“ ist. Eine gewisse Variation erfuhr diese Position im Dezember 1974, als Honecker auf dem 13. ZK-Plenum den verwirrten DDRBürgern „sozialistischer Nation“ wenigstens eine „deutsche Nationalität“ zugestand. In dieser Zeit – vielleicht als Ergebnis der Diskussionen an der Parteibasis,

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vielleicht auf den Rat der Bruderparteien – ist vermutlich die Entscheidung gefallen, den Parteinamen „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ nicht zu verändern. Sowohl diese Entscheidung als auch der mehrfache Hinweis auf die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung und der revolutionären Sozialdemokratie im neuen Programm läßt die Endgültigkeit der Option der deutschen Kommunisten für eine kleinstdeutsche Lösung weiter im Zwielicht. Im Programm ist zwar stets von der sozialistischen Nation die Rede, die sich in der DDR entwickele, doch schließt das nicht aus, daß später einmal behauptet wird, dies sei eben die sozialistische Kernnation des ganzen Deutschland gewesen. Auf die bürgerlich kapitalistische Restnation in der Bundesrepublik wird überhaupt nicht eingegangen. Die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland sollen sich auf der Basis der friedlichen Koexistenz entwickeln, genau wie die zu allen anderen kapitalistischen Staaten. Trotzdem fällt auf, daß die Bundesrepublik wie kein anderer kapitalistischer Staat gesondert angesprochen wird. Reste deutsch-deutscher Sonderbeziehungen, die das Programm nur in bezug auf West-Berlin gelten lassen will, gibt es ja auch immer noch im Parteiapparat der SED: Ableger wie die SEW und die westdeutsche DKP werden finanziert und angeleitet von der Westabteilung des ZK der SED; und diese untersteht bis heute nicht dem ZK-Sekretär für internationale Verbindungen. Die Dialektik von Nationalem und Internationalem ist eben doch recht kompliziert. Blockpolitik und internationaler Kommunismus. Die gleiche Problematik schimmert auch in den Programmteilen durch, die sich mit der sozialistischen Staatengemeinschaft und dem Verhältnis zur kommunistischen Weltbewegung beschäftigen. Schon im Programm von 1963 war das Unterordnungsverhältnis der SED zur KPdSU und der Sowjetunion formuliert worden. Es findet sich auch im neuen Programm, ist hier aber ideologisch schlüssiger begründet. Im übrigen sind alle wesentlichen Formulierungen über das Verhältnis DDR / Sowjetunion aus der neuen Verfassung der DDR und auch aus dem neuen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion vom vergangenem Jahr eingearbeitet worden. Die Parteitage waren das höchste Organ der marxistisch-leninistisch-stalinistischen Parteien im Sozialismus. Sie arbeiteten die Grundlinien der Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft heraus.

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Parteitage der SED

Parteitag I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Zeit 21. – 22.4.1946 20. – 24.9.1947 20. – 24.7.1950 30.3 – 6.4.1954 10. – 16.7.1958 15. – 21.1.1963 17. – 22.4.1967 15. – 19.6.1971

Im ideologischen Teil des Statuts fällt besonders auf, daß der Kampf gegen Dogmatismus und Sektierertum ersatzlos gestrichen, dagegen der Kampf gegen Antikommunismus, Antisowjetismus und Nationalismus neu aufgenommen wurde. Hier drückt sich die Sorge vor einer neuerlichen Spaltung der sowjetgeführten kommunistischen Weltbewegung aus, als deren „Abteilung“ sich die SED versteht, wie es in Programm und Statut jetzt heißen soll,170 je mehr die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Block Eingang in das Prinzip des „sozialistischen Internationalismus“ fand und zum Hemmschuh für die westeuropäischen Parteien wurde, um so umstrittener ist die Allgemeingültigkeit der Erfahrungen der KPdSU bei der Ergreifung und Sicherung der Macht. Das Prinzip des „sozialistischen Internationalismus“, mit dem auch die Invasion in die ČSSR gerechtfertigt worden war, taucht interessanterweise im neuen SED-Programm nicht mehr auf. Statt dessen wird wieder das einheitliche internationalistische Prinzip beschworen, nämlich das des „proletarischen Internationalismus“, das die Interessenunterschiede regierender und noch nicht regierender kommunistischer Parteien ideologisch überdecken soll. Sozialistisch wird in Zukunft nur noch der Patriotismus sein. Zweifelhaft bleibt, ob damit der zunehmende Widerspruch zwischen dem auf die Annäherung der sozialistischen Nationen gerichteten Prozeß der Integration Osteuropas und den das Leninistische Dogma in Frage stellenden Parteien Südeuropas aufgehoben werden kann. Einschätzung der westlichen marktwirtschaftlichen (= Kapitalismus) kapitalistischen Welt. Altes wie neues Programm sehen im Kapitalismus einen sterbenden Patienten, der durch nichts mehr kuriert werden kann. Und doch sind die Unterschiede der Syndromanalyse beträchtlich. In Anlehnung an sowjetische und ostdeutsche Diskussionen Ende der fünfziger Jahre war man auch in Ost-Berlin zu der Erkenntnis gekommen, daß die Produktivkräfte des Kapitalismus, insbesondere auch die übernationalen Organisationsformen westlicher Wirtschaftsverbände, durchaus wachstumsorientiert und expansiv zu sein vermögen. Das neue SED-Programm erlaubt nur noch den internationalen Monopolgiganten und Konzernen forcierte Wachstumschancen. Insgesamt ist die negative Einschätzung westlichen 170 Landon, Louis: Kommt das europäische Schisma? Zur Vorbereitung der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien, in: Deutschland Archiv, 9. Jg., Februar 1976, S. 153-164.

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Wirtschaftswachstums wesentlich eindeutiger als 13 Jahre zuvor. Die Perspektive demokratischer Gesellschaften wird äußerst düster ausgemalt, was im außenpolitischen Bereich früher oder später Konsequenzen haben dürfte. Kein Wunder, daß der im Programm von 1963 mehrfach betonte Wettstreit zwischen Ost und West im Zusammenhang mit dem Prinzip der friedlichen Koexistenz nun vollends in den Hintergrund getreten ist. Die klassenkämpferische Note dieses auch außenpolitisch ambivalenten Prinzips ist wesentlich ausgeprägter. Offensichtlich will die SEDFührung ihr Publikum schon jetzt auf „jähe Wendungen“ in der internationalen Politik vorbereiten, vor denen sie seit längerem warnt. Trotz vorherrschender Entspannung und dem Eintreten für militärische Abrüstung ist besonders im Statut der Aspekt der Landesverteidigung noch ausgeweitet worden. Auffällig ist, daß die mit so viel Verve betriebene Europäische Sicherheitskonferenz (KSZE) im Parteiprogramm mit keinem Wort und keiner Konsequenz erwähnt wird.171 Vielmehr taucht der alte Plan eines europäischen kollektiven Sicherheitssystems wieder auf. Den westlichen Demokratien wird die sozialistische Gemeinschaft als Modell für die „künftige Weltgemeinschaft freier und gleichberechtigter Völker“ entgegengehalten. Leider wird gar nichts über die künftige institutionelle Ausgestaltung des innerhalb der sozialistischen Staaten geltenden „qualitativ neuen Typs“ zwischenstaatlicher Beziehungen ausgesagt. So bleibt auch das Vorbild einer künftigen Weltgemeinschaft im Dunkeln. Übrig bleibt die Gewißheit, „daß alle Länder der Erde unausweichlich zum Sozialismus und Kommunismus“ nach den allgemeingültigen Gesetzen des sowjetischen Modells gelangen werden. Auf der Folie des weitergehenden internationalen Prinzips der friedlichen Koexistenz sollen die progressiven politischen Kräfte die sich verschärfenden Widersprüche im Kapitalismus benutzen, um die „Herrschaft des Monopolkapitals“ zu brechen und eine antimonopolistische Demokratie errichten. Diese soll den Weg zum Sozialismus öffnen. Anders als 1963 sind, wohl wegen der innerdeutschen Konsequenzen, jegliche Einheitsfront-Gedanken ausgemerzt. Die Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie wird nicht mehr im gesellschaftspolitischen, sondern im instrumental-außenpolitischen Bereich gesehen. Gesellschaftspolitik: Weiterer Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Niemand kann der Honecker-Führung vorwerfen, sie habe sich einer pathetischen Sprache bedient, ein Vorwurf, der Ulbrichts Programm anhaftete. Das neue Programm, nur noch halb so lang wie das erste, trägt die Handschrift des Pragmatikers Erich Honecker. Es fehlt der große Schwung, das Beflügeltsein durch die Utopie. Zukunftsvisionen werden klein geschrieben, wenn es darum geht, zugleich mit dem weiteren Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft „grundlegende Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus“ zu schaffen. Formationstheoretiker und Historiker werden enttäuscht sein. Es gibt keine Zeitangaben, keine näheren Beschreibungen von Etappen und Phasen. Die 171 Kusnezow, Wladlen: Der XXV. Parteitag und Westeuropa, in: Deutschland Archiv, 9. Jg., S. 366-369.

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grundlegende Veränderung der Gesellschaft, die noch während des allmählichen Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus vor sich gehen müßte, findet in diesem Programm nicht statt. Es zielt vorwiegend auf die Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und vermeidet alle Experimente, die Staat und Gesellschaft in Frage stellen könnten. Probleme wie die Überwindung der existentiellen Bedrohung des Menschen, der Abbau von „unbefragter Macht“ kommen nicht vor. Lediglich längst bekannte Formeln vom wirtschaftlichen Wachstum, von organisierter Mitwirkung, von der Annäherung von Stadt und Land – vorwiegend als Ergebnis der industriezweigmäßigen Entwicklung der Landwirtschaft – sowie von geistiger und körperlicher Arbeit kann man repetieren. Brennende Probleme auf dem Wege zum Kommunismus wie die Weiterexistenz der genossenschaftlichen Betriebsformen, des sozialistischen Mehrparteiensystems und des Lohnsystems bleiben ausgespart. Programm und Statut zielen nicht auf den „neuen Menschen“ in seiner kreativen Totalität, sondern auf den Arbeitsbürger in einer Leistungsgesellschaft.172 Dies ist für alle beruhigend, die genug „Revolutionen von oben“ erlebt haben und nach den ersten Monaten Honeckerscher Machtübernahme die Strenge administrativer Maßnahmen, verbunden mit einer stringenteren Klassendifferenzierung, über sich ergehen ließen. Sie können aufatmen: Im Vordergrund stehen nicht totale Veränderungen, sondern das preußische Ethos ehrlicher Arbeit, Ehe und Familie, deren Sinn und Glück die Kinder sind, sowie der „Kampf gegen Egoismus und Raffgier […] gegen unwürdiges Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht“. Honeckers sozialistische Lebensweise ist eher noch spießiger geraten als Ulbrichts 10 Gebote der sozialistischen Moral. Verheißen wird Belohnung für Wohlverhalten, langsame aber stetige Verbesserung der Versorgung bei stabilen Preisen und soziale Sicherheit. Im Vordergrund steht nach wie vor seit 1971 die Wohnungsbaupolitik bis zum Jahre 1990, die Sorge um die älteren Menschen, die Eingliederung Kranker. Kommunistische Reformpolitik strebt längeren Urlaub und die Vierzig-Stunden-Woche an. Die vom VIII. Parteitag beschlossene Hauptaufgabe und die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik lassen „die schrittweise Verbesserung des Lebensniveaus aller Werktätigen“ erhoffen. Eine gewisse Spannung besteht zwischen dem wieder unterstrichenen Leistungsprinzip als „Grundprinzip der Verteilung im Sozialismus“, das auch forthin konsequent durchgesetzt werden soll, d. h. eine „leistungsorientierte Lohnpolitik“, die auch für die Ulbricht-Ära typisch war, und der zweifellos ernst gemeinten Politik „der Minderung sozialer Unterschiede“. Die SEDWirtschaftsstrategen wollen die unteren Lohngruppen weiter stärker anheben und die gesellschaftlichen Fonds für die Verbesserung des Gesundheits- und Sozialwesens, Volksbildung, Kultur und Sport durch hohe Mittelzuführungen schneller als die Lohn- und Prämienfonds wachsen lassen. Die Parteiführung wird zumindest propagandistisch bereit sein, den bisher im Schatten der Gesellschaft stehenden Gruppen, auch sozialen Randgruppen, größere

172 Hanke, Irma: Vom Neuen Menschen zur sozialistischen Persönlichkeit. Zum Menschenbild der SED, in: Deutschland Archiv, 9. Jg., Mai 1976, S. 492-515.

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Aufmerksamkeit zuzuwenden. Gerade die integrative Wirkung solcher Reformpolitik sollte hier nicht unterschätzt werden. Die Führungsrolle der SED. Als Abteilung der internationalen Arbeiterbewegung betont die SED den Charakter eines „freiwilligen Kampfbundes Gleichgesinnter“. Neben fortschrittlichsten Angehörigen der Arbeiterklasse, der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz erlaubt sie jetzt auch anderen Werktätigen den Beitritt zum „bewußten und organisierten Vortrupp“ der sozialistischen DDR. Freiwilligkeit, Öffnung und klare Kompetenzabgrenzung sollen ein moderneres Image schaffen. Nunmehr erlaubt das Statut sogar wieder, was auch bis 1954 auf dem Papier stand: den Austritt aus der Staatspartei. Auch das vorbereitete Programm der tschechoslowakischen Reformkommunisten kannte unter Punkt 16 die Möglichkeit des Austritts, doch wurde dieses Statut niemals wirksam. Von den geltenden Parteistatuten erlauben jeweils unter Punkt 8, auch die der polnischen und der ungarischen Partei den Austritt, doch beschreiben sie ausführlich die Modalitäten. Im Parteistatut der SED ist davon nichts zu lesen. Längst ist die kommunistische SED zweifellos keine Marginalgruppe mit Ordenscharakter mehr, doch bisher waren die Ausgeschlossenen auch Ausgestoßene der DDR-Gesellschaft. Sollte dies nun selbst bei Parteiaustritten anders werden, verlöre die Parteiherrschaft einen weiteren Teil ihrer totalitären Züge. Wiedereingeführt wurde für den ersten Mann der Partei auch das Amt des Generalsekretärs, das Ulbricht von 1950 bis 1953 innehatte. Diese protokollarische Aufwertung Honeckers könnte eine Angleichung an das sowjetische Beispiel sein, eine weitere Konsequenz des Freundschaftsvertrages vom Oktober 1975 mit der Sowjetunion. Doch nennen sich auch der rumänische, der tschechoslowakische und der nordkoreanische Parteichef „Generalsekretär“. Zweifellos manifestiert sich in dieser Neuerung aber die gefestigte Position des Ulbricht-Nachfolgers. Wichtiger ist die Umkehrung der Prioritäten in der Präambel des neuen Programms. Wo 1963 mit Ulbrichtschem Pathos das neue Zeitalter des Sozialismus verkündet und beschrieben wurde, steht jetzt in neun knappen Absätzen die Begründung für die Führungsrolle der SED. Das hat praktische Konsequenzen. Schon die Statutenänderungen des VIII. Parteitages hatten die Kontrollrechte der Partei auch formell auf die Institutionen der Wissenschaft, der Volksbildung und der Kultur direkt ausgedehnt. Mit dem 5. Statut wächst die Führungsrolle der Partei weiter. Nunmehr haben die Parteiorganisationen auch in den Ministerien sowie anderen zentralen und örtlichen Staatsorganen das „Recht“ der direkten Kontrolle über die Aktivitäten der Apparate bei der „Verwirklichung der Beschlüsse von Partei und Regierung bei der Einhaltung der sozialistischen Rechtsnormen“. Offensichtlich hat die nach dem Vorbild der Sowjetunion vorgenommene personelle Trennung von Staat und Partei theoretische Diskussionen ausgelöst. Es mußte klargestellt werden, wer Herr im Haus der Ministerien ist: die Parteiorganisation und ihr erster Mann. Somit wurde der Primat der Partei in einer zuvor theoretisch nicht akzeptierten Form festgeschrieben. Das könnte Kompetenzstreitigkeiten vermeiden, aber auch ein Hinweis darauf sein, daß in Zukunft an der Funktionsteilung festgehalten wird. Um Kompetenzstreitigkeiten bei der Anleitung unterer Parteiorgane zu vermeiden, hat das neue Statut festgelegt, daß nachgeordnete Organisationen nur noch

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von der nächsthöheren Parteileitung Weisungen erhalten. Bis jetzt konnte praktisch die Bezirksleitung direkt mit jeder Grundorganisation in Kontakt treten und die Kreisleitungen ausschalten. 3.4. Der Richta-Report (1968): Mit Stalins Industrialisierungsmodell ist kein evolutionärer Übergang zur wissenschaftlich-technischen-Revolution möglich. Damit war der Zusammenbruch aller sozialistischen Länder 1989/91 determiniert. Im Richta-Report (1968) der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften wurden erstmals die Ursachen, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion, der DDR und aller anderen sozialistischen Länder 1989/91 führten, wissenschaftlich herausgearbeitet. Er ist ein einzigartiges Dokument und ehrt alle Mitglieder der Akademie, die in diesem Bericht aus Verantwortung nach- und vorgedacht haben. Zunächst wird das politische Umfeld skizziert, in dem der Richta-Report 1968 entstand. Die Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau (14.2-25.2.1956) blieb in der ČSSR in verbalen Beteuerungen stecken, da weder die stalinistische Führungsschicht ausgewechselt wurde noch die Opfer der Säuberungen rehabilitiert wurden. Entstalinisierung, „Prager Frühling“ und Einmarsch der Warschauer-PaktTruppen (1960-1968). Im Zeichen einer immer stärker spürbaren Wirtschaftskrise und wachsender Unruhe unter Intellektuellen sowie in der Slowakei werden 1962/1963 erste Zugeständnisse der Staats- und Parteiführung spürbar: Ablösung des Ministerpräsidenten Široký, erste Rehabilitierungen. Anbahnung einer Wirtschaftsform (Ota Šik - *1919): unter Beibehaltung des Staatseigentums an Produktionsmitteln wird eine stärkere Verlagerung auf die Planung innerhalb der Betriebe und ein Wirksamwerden von Marktmechanismen („Ware-Geld-Beziehungen“) in einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ angestrebt. – Die wachsende „Weltaufgeschlossenheit“ unter den tschechoslowakischen Intellektuellen (kulturelle und wissenschaftliche Kontakte mit „dem Westen“) erregt ab Mitte der sechziger Jahre das Mißtrauen der Führungsgruppe Novotnýs, die diesen Tendenzen jedoch relativ viel Spielraum läßt. Juni 1967

Auf dem tschechoslowakischen Schriftstellerkongreß werden scharfe Angriffe gegen die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zustände und gegen die Parteiführung laut.

31. Okt.

Die Polizei sprengt eine Protestdemonstration von Studenten.

8./9. Dezember

Geheimbesuch des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew in Prag; dieser gibt Unterstützung Novotnýs auf.

5. Jan. 1968

Novotný wird vom ZK der KPČ als Erster Sekretär der Partei abgelöst; Nachfolger wird der slowakische Parteisekretär Alexander Dubček (*1921). Beginn des „Prager Frühlings“.

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März

Wachsende Intensität der öffentlichen Diskussion, steigende Informationsfreiheit.

30. März

Wahl des Generals Ludvík Svoboda (*1895, †1979) zum neuen Staatspräsidenten.

5. April

Das ZK-Plenum der KPČ verabschiedet ein Aktionsprogramm, das durch Demokratisierung einen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ ermöglichen und das Machtmonopol der KPČ beschneiden will.

8. April

Ernennung einer neuen Regierung unter Oldřich Černík 1921).

24. April

In einer Regierungserklärung werden Reformmaßnahmen eingeleitet: Aufhebung der Zensur, Rehabilitierung, von Opfern der Verfolgung, Erweiterung von Reisemöglichkeiten und Wirtschaftsreform. Der sich in den Reformmonaten (März bis Juli) steigernde Druck von außen läßt die Reformen nicht ungehindert vorankommen: Mehrere Gipfelkonferenzen der Partei- und Staatsspitzen von UdSSR, DDR, Polen, Bulgarien und Ungarn und Konsultationen im Rahmen des Warschauer Pakts lassen ein militärisches Eingreifen in der ČSSR befürchten.

Mai/Juni

Stabsmanöver des Warschauer Pakts in der ČSSR.

27. Juni

Ein „Manifest der 2.000 Worte“ wird in Prag publiziert. Darin äußern sich ein Verlangen nach konsequenten Reformen, aber auch Befürchtungen für die Zukunft.

7. Juli

Eine neue Propagandakampagne gegen den Prager Kurs seitens der UdSSR; Warschauer Brief der fünf „harten“ WarschauerPakt-Staaten mit der Warnung vor Konterrevolution in der ČSSR.

29. Juli- 2. Aug.

Die dauernde Anwesenheit von Manöverabteilungen der Warschauer Pakt-Truppen im Lande und das Gipfeltreffen von Čierna (Ostslowakei) zeigen den kritischen Ernst der Lage, die sich jedoch in den ersten Augusttagen zu entspannen scheint. Demonstrative Massenunterstützung des Reformkurses.

20./21. Aug.

In der Nacht beginnen Truppen der UdSSR, Polens, der DDR, Ungarns und Bulgariens, das Staatsgebiet der ČSSR zu besetzen; Prag wird durch Luftlandetruppen eingenommen. Als Grund für den Einmarsch in die ČSSR wird ein „Hilferuf“ anonymer „Persönlichkeiten der Partei und des Staates“ wegen drohender Konterrevolution genannt. Die tschechoslowakische Führung ruft dazu auf, keinen Widerstand zu leisten, und protestiert gegen die Verletzung der Staatssouveränität. Zusammentritt

1336

des ZK der KPČ, der Nationalversammlung und des 14. Parteitags, zu dem bereits Delegierte gewählt worden sind; er tagt unter konspirativen Bedingungen. Passiver Widerstand der Bevölkerung; Generalstreik; Rundfunk und Presse im Untergrund. 26. Aug.

Die nach Moskau verbrachte tschechoslowakische Führung erklärt sich nach tagelangen Verhandlungen zu „Vereinbarungen“ bereit: Zurücknahme der Reformen, Ungültigkeitserklärung des 14. Parteitags, Wiedereinführung der Zensur, Stationierung sowjetischer Truppen. Dagegen wird auf sowjetischer Seite der Vorwurf der „Konterrevolution“ und die „Hilferuf“-These nicht weiter bestätigt.

14./15.Okt.

Stationierungsvertrag über dauernde Anwesenheit sowjetischer Truppen.

28. Okt.

Verfassungsreform: Die ČSSR wird föderalisiert (Gliedstaaten: Tschechische und Slowakische sozialistische Republiken: ČSSR und SSR). Nationalgesetz.

1988

Protestkundgebungen zum Jahrestag der Invasion 1968. Neue Bürgerrechtsgruppen.

1989

„Bürgerforum“ aus 12 Oppositionsgruppen gegründet.

24. Nov.

Massendemonstration in Prag (19. Nov.). Rücktritt der Führung der KPČ (24. Nov.). Generalstreik. Bundesversammlung streicht Führungsrolle der KPC aus der Verfassung.

Dez.

Mehrheitlich nichtkommunistisches Kabinett (10. Dez.). Dubček wird Parlaments-, Václav Havel (*1936) Staatspräsident (28./29. Dez.).

1990

Die ersten sowjetischen Truppen verlassen das Land (26. Feb.).

20. April

„Tschechische und Slowakische Föderative Republik“ (ČSFR) als Staatsname.

8./9. Juni

Parlamentswahlen: Sieg des Bürgerforums.

5. Juli

Havel als Staatspräsident bestätigt.

24. Nov.

Kommunalwahlen: Bürgerforum mit 35,6 % vor den Kommunisten (17,4 %).173

173 Alle Angaben zur ČSSR aus: Der Große Ploetz. Auszug aus der Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 31. Aufl., Freiburg, Würzburg 1991, S. 993., 1400-.402, 16, 34.

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Was im „Großen Ploetz“ als „Anbahnung einer Wirtschaftsreform“ unter Beibehaltung des Staatseigentums an Produktionsmitteln umschrieben wird, ist der Hilferuf von Wissenschaftlern der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, die die universale Wandlung der gesamten Produktivkräfte im Gefolge der wissenschaftlich-technischen-Revolution für den Systemwettbewerb zwischen der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft (= Sozialismus) klar erkannten und für die jeweiligen Systeme analysierten. Wenn auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die im Richta-Report von der Akademie der Wissenschaften der Tschechoslowakei vorgelegt wurden, nicht zu radikalen Reformen führten, zeigen die Analysen den Rückstand bei der wissenschaftlich-technischenRevolution, der bereits 1965 gegenüber den westlichen Marktwirtschaften nicht nur uneinholbar war, sondern sich noch vergrößerte und zum Zusammenbruch aller sozialistischen Länder 1989/91 führte. Radikale Reformen waren 1968 aus politischen Gründen ausgeschlossen und erst nach dem Zusammenbruch 1989/91 möglich. Auf dem XXII Parteitag der KPdSU 1961 wurde die Wissenschaft zur „unmittelbaren Produktivkraft“ erklärt. In allen sozialistischen Ländern war dies das Startsignal, um sich mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer Bedeutung zu beschäftigen. Der Richta174-Report: Im Vorwort zum Richta-Report ging der Vorsitzende der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Akademiemitglied F. Šorms, auf die Entstehungsgeschichte des Richta-Reports ein. „Die unerhört dynamische Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis in den letzten Jahren nimmt – ebenso wie die stürmische Entfaltung der materiellen Basis des menschlichen Lebens – die Form qualitativer revolutionärer Umwälzungen an, die in Zukunft den Charakter der Zivilisation verändern und den Bemühungen um eine neue Gesellschaft ungeheure Möglichkeiten öffnen können. Aus diesen Gründen sehen wir uns vor die dringliche Notwendigkeit einer komplexen wissenschaftlichen Einsicht in das Wesen der wissenschaftlichen und technischen Revolution unserer Zeit, ihre sozialen und menschlichen Voraussetzungen und Folgen gestellt. 174 Radovan Richta wurde 1923 in Prag geboren. Er studierte zunächst Naturwissenschaften und danach Geisteswissenschaften an der Karls-Universität. Ab 1954 arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften in Prag. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn widmete sich Radovan Richta der Analyse der Weltanschauungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ab 1958 befaßte er sich intensiv mit den Problemen der gegenwärtigen wissenschaftlichen Revolution. Für seine wissenschaftliche Tätigkeit bekam Radovan Richta den K. Gottwald-Preis. Der marxistische Philosoph Radovan Richta analysiert mit einem interdisziplinären Team die Entwicklungsphasen der kapitalistischen Produktionsweise und reflektiert dabei besonders auf die sozialen und menschlichen Zusammenhänge der neuen wissenschaftlich-technischen-Revolution. Dieser Text gibt zum erstenmal empirisch abgesicherte Antworten auf die bisher immer nur spekulativ formulierten Fragen und Prognosen über den Spätkapitalismus. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen veröffentlichte er: Der Mensch und die Technik in der gegenwärtigen Revolution, Prag 1963. Der Kommunismus und die Veränderungen des Lebens, Prag 1962.

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Im Jahre 1965 begann unsere Forschung diese Probleme im Bereich verschiedener Wissenschaftsfächer zu verfolgen. Die Aufgabe wurde einem aus Fachleuten mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen zusammengesetzten, dem Philosophischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften unterstellten und von Dr. R. Richta (der sich bereits längere Zeit mit dieser Problematik befaßte) geleiteten Forschungsteam anvertraut. Die Arbeit war ursprünglich als kurzgefaßtes Gutachten über dringliche gesellschaftstheoretische, mit der stürmischen Entfaltung der Wissenschaft und Technik unserer Gegenwart verbundene Fragen in Angriff genommen worden. Nach einer umfassenden Analyse wurde jedoch eine viel anspruchsvollere und weit mehr zukunftsweisende Konzeption gutgeheißen und ausgearbeitet, die ein nach Möglichkeit synthetisches Bild der wissenschaftlichen und technischen Revolution vor dem Hintergrund des Wettstreits zweier Gesellschaftssysteme anstrebte und zugleich bemüht war, eine Methode der Lösung der damit zusammenhängenden sozialen und menschlichen Probleme aufzuzeigen. Obwohl diese Aufgabe sich als sehr schwierig erwies nicht zuletzt weil man ihr bis dahin nicht genug Aufmerksamkeit zugewandt hatte, haben sich die Autoren ihrer mit Erfolg entledigt. Das Resultat ihrer Arbeit, das nunmehr als ein Ganzes der Öffentlichkeit vorliegt, enthält nicht nur eine komplexe Zusammenfassung dieser modernen und außerordentlich komplizierten Problematik, sondern auch ganz neue, optimistische Ausblicke auf die Möglichkeiten der weiteren Entwicklung der Gesellschaft. Es ist allerdings durchaus begreiflich, wenn die Arbeit auch einige offene Probleme zeigt, die weiter zu verfolgen und zu lösen sein werden. Sehr wertvoll ist, daß die Studie eine kollektive Arbeit darstellt. Sie liefert den Beweis, daß Teamwork auch im Bereich der Gesellschaftswissenschaften eine sehr nützliche Arbeitsweise ist, und es wäre sicher zweckmäßig, sie auch bei der Behandlung anderer komplexer Fragen anzuwenden. Die Studie wurde in den wissenschaftlichen Organen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften und in den leitenden Institutionen des Landes begutachtet. Auf Grund dessen kam schließlich der Beschluß zustande, sie für die weiteren theoretischen und praktischen Bemühungen unserer Gesellschaft um Klarstellung der Perspektiven des Landes auszuwerten, einer Gesellschaft, die sich auf den nicht gerade leichten und in vieler Hinsicht noch unbegangenen Weg des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus begeben hat und aktiv an der Suche nach neuen menschlichen Varianten einer technisch hochentwickelten Zivilisation teilnimmt. Die neue Konzeption der Studie und die darin enthaltenen originellen Gedanken öffnen den Weg für die weitere wissenschaftliche Arbeit an dieser Problematik, die sich in den kommenden Jahren zweifellos erfolgreich entfalten wird“.175 Die Verantwortung und die Konzeption des Richta-Reports werden in der Einführung beschrieben.

175 Richta, Radovan und Kollektiv (Hrsg.): Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen-Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt a. M. 1971, S. 13 f.

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Zur Einführung: Über den Sinn der Wandlungen „Wir unterbreiten dem Leser hiermit eine Studie von ungewohnter Form: am besten ließe sie sich vielleicht als wissenschaftliche Hypothese, als Projekt einer theoretischen Analyse der sozialen und menschlichen Zusammenhänge der wissenschaftlich-technischen Revolution bezeichnen. Sie wurde von einem mehrere Disziplinen umfassenden Forschungsteam ausgearbeitet, das sich aus Fachleuten auf verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten zusammensetzte (Philosophie, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, politische Wissenschaften, Historiographie, Medizin, Theorie der Architektur und des Lebensmilieus sowie technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen usw.); die Autoren sind in einer Reihe von Instituten der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, an Hochschulen und in anderen Institutionen der ČSSR tätig. Die prinzipielle Schwierigkeit, der sich unser Team gegenübersah, bestand im gewaltigen Ausmaß und in der inneren Verknüpfung der gegenwärtig vor sich gehenden Veränderungen in den Grundlagen der Zivilisation und Hand in Hand damit auch in der Stellung des Menschen in der Welt seiner eigenen phantastischen Schöpfungen. Gegenwärtig existiert in der Welt keine allgemein akzeptierte, zufriedenstellende theoretische Erklärung der im Bereich der Produktivkräfte zustande kommenden Umschwünge – und um so weniger ihrer gesellschaftlichen und menschlichen Zusammenhänge. Die unübersehbare Flut von Literatur über die Technik und den ‚menschlichen Faktor‘ etc. auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften in den USA und Westeuropa bringt zwar eine Unmenge Material, aber oft ist sie außerstande, bis zum Wesen der Zivilisationsprozesse unserer Zeit vorzudringen. Dabei sind einige europäische Autoren der Meinung, daß ein theoretisches Konzept die Grenzen einer bestimmten, wenngleich modifizierten ‚Industriegesellschaft’ nicht überschreiten sollte176; andere – sofern sie gewisse Marxsche Gedanken reflektieren – verstehen die gegenwärtige Entwicklung der Produktivkräfte als eine solche; in den Grenzen der zweiten – u. U. der dritten – ‚industriellen Revolution’177. Dieser hoffnungsvollere Ausgangspunkt gibt uns jedoch vom analytischen Gesichtspunkt aus nicht die Möglichkeit, die Merkmale beider Epochen den mit ihren unterschiedlichen inneren Bindungen und Gesetzmäßigkeiten deutlich genug voneinander zu scheiden: der Epoche der Industrierevolution, die der sich entfaltende Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert einleitete, und der gegenwärtigen Epoche der wissenschaftlichen Revolution, die unserer Überzeugung nach durch ihre innere Logik in den großen historischen Umrissen mit Vorbereitung und Geburt des Kommunismus verbunden ist; einige Autoren gelangen zur Erkenntnis eines Umbruchs im Spiegel der 176 Schelsky, H.: Die sozialen Folgen der Automatisierung, Düsseldorf-Köln 1957. Aron, R.: Dixhuit leçons sur la société industrielle, Paris 1962. 177 Pollock, F.: Automation. Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen, Frankfurt a. M. 1957 und 1964; analog in den Arbeiten G. Friedmanns: La crise du Progrès, esquisse d’Histoire des idées, Paris 1963; Le travail en miettes, Paris 1956; oder bei R. W. F. Crossmann, W.: Automation, Skill and Manpower Predictions, Seminar-Referat im Brookings Institute, 1965, u. a. o.

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Branchenstruktur der Arbeit, wie er sich in den Begriffen einer ‚postindustriellen‘, ‚Tertiär‘-Zivilisation äußert178; hier kehrt die tatsächliche Breite der Probleme jedoch gewöhnlich in Gestalt unbeantworteter Fragen über Situation und Zukunft des Menschen in einem Zeitalter, das durchaus zu Recht mit der Wissenschaft und Technik verbunden wird. Demgegenüber lassen die amerikanischen Autoren, die sich der relativ fortschrittlichsten technischen Empirie befleißigen, oft den theoretischen Fond für eine Charakteristik des Wesens der Umwälzungen in der Struktur der Produktivkräfte und in den sozialen und anthropologischen Dimensionen vermissen, so daß ihre Darstellung den Charakter interessanter Analysen weitreichender Automatisierungsprozesse179 oder einer breiten Aufzählung technischer Neuheiten180 oder wertvoller Studien über das Wirtschaftswachstum181, über die sozialen Beziehungen182, die Zukunft in einer kybernetischen Zivilisation183 haben. Auch hier macht sich jedoch immer mehr die Erkenntnis jener revolutionären Umwälzung geltend, die schon N. Wiener ankündigte184 und die ihren ausgeprägtesten Ausdruck in der bekannten Feststellung des Manifests ‚The Triple Revolution‘185 erhalten hat – nämlich, daß die gegenwärtigen Veränderungen in der materiellen Grundlage des menschlichen Lebens (die ‚kybernetische Revolution‘) eine neue Qualität gewinnen, die Grenzen der heutigen Industriezivilisation und die Möglichkeiten des kapitalistischen Industriesystems zu sprengen. Die Fragezeichen jedoch, die der offizielle Bericht der ‚Nationalen Kommission für Technologie, Automatisierung und technischen Fortschritt‘ im Jahre 1966 in seiner Polemik gegen das Manifest ‚The Triple Revolution‘186 über die Feststellung setzte, daß ‚die Welt eine wissenschaftliche- und technische Revolution erlebt‘, verweisen darauf, daß eine Theorie, die nicht mit dem Begriff der Produktivkräfte operiert, angesichts der

178 Fourastié, J.: Le Grand Espoir du XXe siècle, Progrès technique, progrès économique, progrès social, Paris 1958. Clark, C.: Conditions of Economic Progress, London 1941. Dumazedier, J.: Vers une civilisation du loisir?, Paris 1962, u. a. 179 Diebold, J.: Automation. The Advent of the Automatic Factory, Princeton 1952 und weitere Arbeiten dieses Initiators einer wissenschaftlichen Erforschung der Automatisierung. 180 Bright, J. R.: Opportunity and Threat in Technological Change in Harvard Business Review 6/1963. 181 Z. B. die Arbeiten R. M. Solows u. a. 182 Studien von Mills, Riesman, Galbraith, Harrington u. a. 183 Drucker, P. F.: Americas Next Twenty Years, New York 1955. In dieser Hinsicht wird zahlreiches Sachmaterial von den in den USA tätigen Spezialistenstäben gesammelt, wie z. B. von der „Kommission für das Jahr 2000“, die von der amerikanischen Akademie der Wissenschaften und Künste ins Leben gerufen wurde und von D. Bell geleitet wird, oder von den Gruppen „Resources for the Future“, „Tempo“, „Rand-Corporation“ usw. 184 Wiener, N.: The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society, Boston 1950. 185 The Triple Revolution. Complete Text of the Ad Hoc Committee’s Controversial Manifests, New York 1964 – ein von einer Reihe bekannter Fachleute unterschriebenes Manifest, unter dessen Signaturen sich L. Pauling, H. S. Hughes, G. Mydral, B. B. Seligman, R. Theobald, J. W. Ward u. a. befinden. 186 Technology and the American Economy, Washington 1966.

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Umwälzungen in deren Struktur und Dynamik notwendig in Schwierigkeiten der Konzeption gerät. So oder so verstärkt sich im Westen von Tag zu Tag das fieberhafte Bemühen, das Wesen der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer sozialen und menschlichen Zusammenhänge theoretisch zu erfassen. Man hat eine Menge Konferenzen abgehalten, die Zahl der erschienenen Sammelbände zu diesen Themen übertrifft die einer ganzen Reihe der frequentiertesten Wissenschaftsfächer; Parlamente, Regierungen, Sonderkommissionen, wissenschaftliche Gesellschaften, Universitäten und tausende Spezialisten behandeln die Sache. In einer Reihe von Ländern fehlen langfristige, 5-10jährige Forschungsprogramme mit Millionendotationen nicht, Programme, die sicher nichtalltägliche ‚intellektuelle Quellen‘ ganzer Universitäten und Forschungsteams in Anspruch nehmen.187 Planungs- und Prognose-Institutionen arbeiten bemerkenswerte breitangelegte Konzeptionen über die Konsequenzen des Fortschritts von Wissenschaft und Technik in den nächsten 2030 Jahren aus.188 Es werden Versuche unternommen, die Erwägung über die Zukunft im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution auf eine breite wissenschaftliche Basis zu stellen.189 Trotz all dem wird sich der Beobachter dieses theoretischen Treibens kaum des Eindrucks erwehren, daß das Wesen der zivilisatorischen Umwälzungen, die wir heute erleben, nur teilweise, nebelhaft und in den seltsamsten Spiegelungen über dem geistigen Horizont der Zeit in Erscheinung tritt. Die Gesellschaftswissenschaften blieben in den sozialistischen Ländern eine Zeitlang in diesen Problembereichen zurück: vor allem was die empirischen Untersuchungen betrifft, und sodann auch bezüglich der theoretischen Synthesen – was begreiflicherweise eine praktische progressive Orientierung in den modernen zivilisatorischen Prozessen erschwert. Seit den fünfziger Jahren, da einige marxistische Denker190 den Versuch unternahmen, den Strom der Zivilisationswandlungen in den Begriff ‚wissenschaftlich-technische Revolution‘ zu fassen, greift in dieses zeitgenössische Forscherbemühen intensiv der Marxismus ein. Wesentlich war, daß sich unser interdisziplinäres Team auf die im Programm der KPdSU enthaltenen Anfänge einer marxistischen Theorie der wissenschaftlich-technischen-Revolution stützen konnte; es nahm mehrere bemerkenswerte Äußerungen sowjetischer Wissenschaftler191, Konferenzen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR über 187 Siehe z. B. das zehnjährige Harvard-Programm „Technik und Gesellschaft“, das im Jahre 1964 auf Grund einer Initiative von IBM in Angriff genommen wurde; ähnlich das Seminar der Columbia-Universität Technology and Social Change (ed. Ginzberg), New York, London 1964. 188 Davon sind die Publikationen der „Gruppe 1915“ in Frankreich (Réflexion pour 1985, ed. P. Massé, Documentation Française, Levallois-Perret) zweifellos die bedeutsamsten und am eingehendsten bearbeiteten. 189 Z. B. die Serie der Zeitschrift New Scientist: The World in 1984 (ed. N. Calder), die Publikationsreihe: Weg ins neue Jahrtausend (R. Jungk und H. J. Mundt), u. a. 190 Bernal, J. D. / Perlo, V. / Strumilin, S. G. u. a. 191 Keloyš, M. V.: Sovetskaja nauka i strojitelstvo kommunizma, in Pravda vom 13. 6. 1961; von Trapeznikov, V. A.: Avtomatika i čelovečestvo, in: Ekonomiceskaja gazeta vom 29. 6. 1960; Gedanken des Akademiemitglieds P. Kapica, von Millionščikov, Berg u. a.

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sozialökonomische Probleme des technischen Fortschritts192 im Jahre 1961 und über Probleme der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen-Revolution im Jahre 1964193, sowie zahlreiche anderer sowjetischer Autoren wahr.194 Desgleichen wurden die Beiträge deutscher Fachleute berücksichtigt195, ebenso wie der Versuch einer Konzeption der wissenschaftlich-technischen Revolution, der dem philosophischen Kongreß in Berlin (1965) unterbreitet wurde.196 Sodann Arbeiten polnischer Wachstumstheoretiker197, jugoslawischer Philosophen und Soziologen198, sowie ungarischer, rumänischer und anderer Fachleute199. Eine solide Basis für die Beurteilung einer Reihe von Fragen der wissenschaftlich-technischen Revolution liefert das Studium einer Reihe von Marxisten aus der ganzen Welt; vor allem J. D. Bernals, des eigentlichen Urhebers des Terminus ‚wissenschaftlich-technische Revolution‘200 und eines der Begründer der ‚Wissenschaft von der Wissenschaft‘. Bemerkenswerte Gedanken haben wir bei italienischen und französischen Wirtschaftswissenschaftlern gefunden.201 Und es ist gewiß kein Zufall, daß der besondere Sinn für den Zusammenhang zwischen der wissenschaftlich-technischen Revolution und den Problemen des Menschen die gesamte marxistische Philosophie des Menschen zu einer der ergiebigsten Quellen unserer Untersuchung gemacht hat202, ebenso wie die Arbeiten derjenigen, die sich auf diese oder jene Weise zur Philosophie des Menschen bekennen203 oder um ihre Anwendung in der Kritik der gegenwärtigen Zivilisation bemüht sind: 192 Socialno-okonomiceskije problemy techničeskogo progressa, Moskava 1961. 193 Problemy sovremennoj naučno-techničeskoj revoljucii (Konferenzmaterialien) in: Voprosy istorii, jestestvoznanija i techniki, 19/1965. 194 Kredrov, Dobrov, Meléčenko, Zvorykin, Osipov, Majzel, Sucharcin u. a. 195 Kosel, G.: Produktivkraft, Wissenschaft, Berlin (-Ost) 1957. Tessmann, K.: Probleme der technisch-wissenschaftlichen Revolution, Berlin (-Ost) 1962 u. a. Sachse, E.: Automatisierung und Arbeitskraft, Berlin (-Ost) 1959. Herlitius, E.: Historischer Materialismus und technische Revolution. Probleme und Aufgehen in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 4/196. 196 Die marxistisch-leninistische Philosophie und die technische Revolution, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderheft 1965. 197 Vor allem Arbeiten von Kalecki, Flakierski, Chrupek u. a. (siehe Teorie wzrostu ekonomicznego a wspolczensy kapitalizm, Warschau 1962). 198 Supek, Markovič, Vranicki, Petrovič. 199 Agoston, Janossy, Roman, Suchodolski, usw. 200 Bernal, J. D.: Science and History, London 1955, und World without War, London 1958; die Voraussage der wissenschaftliche-technischen Revolution war jedoch eigentlich schon in Bernals Arbeit Social Function of Science, London 1939, enthalten; in seiner Studie After Twentyfive Years konnte Bernal schreiben: „In dem Buch The Social Function of History war die wissenschaftlich-technische Revolution unserer Zeit eine bloße Voraussage; heute ist sie eine Tatsache, die jeder anerkennt [...]“ (The Science of Science, ed. Goldsmith-Mackay, London 1966, S. 285). 201 Grossin, Vincent / Labini, Barjonet / Dobb, Longo / Dickinson, Lilley, u. a. 202 Garaudy, R.: Perspectives dʼhomme, Paris 1959. Schaff, A.: Marksizm a jednotka ludska, Warschau 1965, u. a. 203 Fromm, E. / Marcuse, H. u. a.

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Auf dieser Grundlage war es möglich und notwendig, den Versuch einer selbständigen Konzeption des Wesens der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer gesellschaftlichen und menschlichen Zusammenhänge zu unternehmen.204 Die vorliegende Auffassung nimmt Ausgang von der Marxschen Kritik des Kapitalismus und der Industriezivilisation, einer Kritik, die die revolutionären Aufgaben nie auf bloße Veränderungen in den Produktionsverhältnissen beschränkte, sondern die Überwindung des gesamten historischen Stadiums der vom Kapitalismus hervorgebrachten Industriezivilisation als Einheit strukturaler Umwälzungen in den Produktionsverhältnissen (Beseitigung des Klassengegensatzes und Verwirklichung von Beziehungen gegenseitiger Zusammenarbeit und sodann wechselseitiger Entfaltung der Fähigkeiten der Menschen) und zugleich von Strukturveränderungen der Produktivkräfte (Umschwung der Stellung des Menschen in der Welt der Produktivkräfte) verstand – und somit im Vorhinein jene Wandlungen implizierte, die wir heute als wissenschaftlich-technische Revolution bezeichnen und als wesentlichen Bestandteil der kommunistischen Veränderungen auffassen. Die aus dem Sozialismus resultierenden Erfahrungen haben bestätigt, daß das Niveau der Produktivkräfte der Gesellschaft viel tiefergreifende soziale und menschliche Folgen hat, als es die von den anfänglichen Aufgaben der Revolution und den Bedingungen der sozialistischen Industrialisierung abgeleitete Theorie zuließ. Die elementare Sendung des ganzen sozialistischen Entwicklungsabschnitts scheint in diesem Sinne die Freilegung und Entfaltung der wirtschaftlichen, sozialen, psychischen, menschlichen Bedingungen für eine Herausbildung der progressivsten Produktivkräfte, für die Revolutionierung der Zivilisationsbasis des menschlichen Lebens zu sein. Man darf die Produktivkräfte allerdings nicht in jenem engen und unhistorischen Schema erblicken wollen, das sich unter den Eindruck der Industrialisierung stabilisierte (und im großen und ganzen diesen Bedingungen entsprach) – nämlich sie lediglich als Summe der Arbeitsmittel und Arbeitskräfte auffassen – sondern in breiten Marxschen Sinne als reiche und variable Vielzahl von Produktivkräften des menschlichen Lebens – somit einschließlich der gesellschaftlichen Kombination und der Wissenschaft, der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen und der Na-

204 Die Arbeit erleichterte uns die Tatsache, daß in verschiedenen Bereichen schon seit den fünfziger Jahren in der Tschechoslowakei verschiedene Aspekte der wissenschaftlich-technischen Revolution untersucht wurden. Siehe z. B. Aurhan, B.: Automatizace a její ekonomický vyznám – Die Automatisierung und ihre ökonomische Bedeutung, Prag 1959; Ekoonmické a siciální podminky a důsledky automatizace v kapitalismu a sozialismu – Die ökonomischen und sozialen Bedingungen und Folgen der Automatisierung im Kapitalismus und Sozialismus – (E. Vopička), Prag 1958. Kutta, F.: Uloba automatizace v technickém rozvoji a její ekonomické a socialní důsledky – Die Rolle der Automatisierung in der technischen Entwicklung und ihre ökonomischen und sozialen Folgen – (1959) u. a. m. Bezüglich einer Allgemeinkonzeption der wissenschaftlich-technischen Revolution siehe Richta, R. :Človék a technika v revoluci našich dnů – Mensch und Technik in der Revolution unserer Tage, Prag 1963, sowie sein Referat auf der 1961 in Liblice abgehaltenen Konferenz über die grundlegenden theoretischen Fragen des Sozialismus und Kommunismus.

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turkräfte, die er sich angeeignet hat. Jede rationale Integration, jede Geltendmachung der Wissenschaft im Leben der Gesellschaft, jeder Schritt in der Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten fällt in der modernen Zivilisation als Neuanschluß einer weiteren Produktivkraft des menschlichen Lebens ins Gewicht. Der Sozialismus könnte nicht den Sieg davontragen, wenn die Vorteile einer vom Klassengegensatz befreiten Gesellschaftsstruktur nicht in eben jener Aufgeschlossenheit und Sensitivität gegenüber diesen neuen Dimensionen des Zivilisationswachstums offenbar würden: in der Art und Weise des Herangehens, in den Motiven und Triebkräften der wissenschaftlich-technischen Revolution. Was bei näherer Untersuchung diesem Weg am meisten überrascht, ist nicht die Tatsache, daß nicht einmal etwas so grundlegendes wie die Logik der verstofflichten menschlichen Arbeit im Verhältnis zum Menschen eindeutig und immer gleich bleibt. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Im Prozeß der Umgestaltung der Welt und der Selbstgestaltung des Menschen, einem Prozeß, der die Wesensgrundlage der Geschichte darstellt, treten in dieser Hinsicht überraschende Umwandlungen auf. Das Studium gesellschaftlicher und menschlicher Zusammenhänge der in den Produktivkräften vor sich gehenden Veränderungen führt auf allen Seiten zur Schlußfolgerung, daß in der modernen Zivilisationsbasis eine gewisse innere Scheidelinie des Wachsturns existiert, hinter der sich die grundlegenden Bindungen und Proportionen der zivilisatorischen Entwicklung umkehren – vor allem was die Stellung des Menschen betrifft. Was unterhalb dieser Linie unmöglich schien, erweist sich darüber als gesetzmäßige Notwendigkeit und vice versa: alte, bewährte Bahnen verwandeln sich jenseits dieser Scheidelinie oft in Rückständigkeit und Nachzüglertum. Diese Tatsache hat allerdings weitreichende gesellschaftliche Bedeutungen. Die vorliegende Konzeption folgt den erwähnten Umwandlungen im Bestreben, sich sie in ihrer reinen theoretischen Form anzueignen, indem sie von einer Reihe von Umständen absieht. Sie faßt sie zum analytischen Kontrast der Industrieund wissenschaftlich-technischen Revolution zusammen – zweier grundlegender Zivilisationsprozesse, die mit unterschiedlichen Bedingungen des gesellschaftlichen und menschlichen Lebens verbunden sind. Praktisch wird der Übergang von der Industrierevolution zur wissenschaftlich-technischen Revolution natürlich durch eine verfließende, allmähliche Bewegung und durch eine Reihe von Teilumwälzungen vermittelt. In der empirischen Wirklichkeit, an der Oberfläche des Lebens begegnen wir heute der resultierenden Projektion beider Typen der Umgestaltung der Welt und der Selbstgestaltung des Menschen: die Industrierevolution hat das Lebensprofil in den wirtschaftlich entwickelten Ländern geformt und bestimmt es bisher zu einem beträchtlichen Grad; die wissenschaftlich-technische Revolution beginnt jedoch von dieser Basis aus in die entschiedensten Lebensbereiche einzudringen, womit sie über die erstgenannte hinausgreift und sie wandelt. Obwohl beide historischen Zivilisationsprozesse aneinander anknüpfen und ineinander übergehen, sind sie ihrem inneren Wesen nach verschieden und stellen oft – vor allem, was die gesellschaftlichen und menschlichen Zusammenhänge betrifft – sogar Gegensätze dar. Auf diese Weise setzt sich die gegenwärtige Entwicklung

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der Zivilisation aus einander überkreuzenden, überdeckenden oder kompensierenden Vorgängen zusammen; darüber hinaus unterliegt sie Disparitäten zwischen den erreichten Stufen der Wissenschaft und Technik und dem Stand der Gesellschaftssysteme. Damit hängt auch das Geheimnisvolle und Undurchsichtige zusammen, das sie kennzeichnet. Es scheint, daß unter diesen Umständen der einzige Weg zur begrifflichen Erfassung der Wandlungen in der Zivilisationsbasis der ist, theoretische Modelle auszuarbeiten, die ‚reine‘ Typen der Struktur und Dynamik der Produktivkräfte darstellen, sowie die spezifisch sozialen und menschlichen Bindungen einer jeden von ihnen zu studieren. Es dürfte eben jene Unfähigkeit sein, die beiden verschiedenen grundlegenden Vorgänge, die die Empirie unserer Tage zustandekommen lassen, zu analysieren und begrifflich zu erfassen, jene Unfähigkeit, die heute eine gewisse Unentschiedenheit und einen Mangel an Exaktheit der Gesellschaftswissenschaft angesichts der gegenwärtigen Zivilisation und ihrer Perspektiven verursacht. Die Überschreitung der Scheidelinie der modernen Zivilisation, die immer mehr zu unserem täglichen Los wird, stellt außerordentliche Ansprüche an unser Vermögen, neue Methoden und ungewohnte Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, ohne die wir die Dimensionen, Gesetzmäßigkeiten und Formen, die die Geschichtsbewegung zusammen mit der wissenschaftlich-technischen Revolution, der wir entgegengehen, hinzunimmt, nicht verstehen können. Der Sozialismus öffnet hier unabsehbare Möglichkeiten, aber zugleich absolviert er seine größte geschichtliche Prüfung. Alles läßt darauf schließen, daß das Verstehen dieser Fragen die Antwort auf eine Reihe äußerst bedeutsamer aktueller Probleme der sozialistischen Entwicklung in sich birgt, die mancherorts in der Welt Überraschung hervorgerufen haben. Im Licht dieser Tat sticht insbesondere die kategorische Notwendigkeit tiefgreifender Reformen hervor, die neue ökonomische Leitungssysteme einleiten. Auf diese Weise wird das Bedürfnis einer neuen, untraditionellen Orientierung in der Entfaltung der Produktivkräfte offenbar. Es zeigt sich, daß die kommunistischen Veränderungen durch tiefe, langfristige, stetige Strukturumwälzungen innerhalb der Produktivkräfte bedingt sind. Vor diesem Hintergrund machen sich die neue Stellung der Wissenschaft im Leben der Gesellschaft und die sich anbahnende Überführung des revolutionären Pathos in neue Bereiche ausgeprägt geltend. Es treten neue Bedeutungen des Wirtschaftens mit den menschlichen Fähigkeiten, neue Voraussetzungen für die Herausbildung eines sozialistischen Lebensstils, das wachsende Bedürfnis einer Lösung des schwierigen Problems der Teilnahme an der Zivilisation, der Entfaltung demokratischer Formen des gesellschaftlichen Lebens usw. auf den Plan. Das Gefühl, das uns bei unserer Arbeit ständig begleitete und das wir gern dem Leser weitervermitteln würden, läßt sich in folgende Worte fassen: unsere Zeit kann nur derjenige verstehen, der den Sinn der großen, außergewöhnlichen Wandlungen zu begreifen vermag. Unser Team hielt es für seine Pflicht, offen und in scharfen Umrissen auf die neuen Probleme hinzuweisen und angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution den Bedarf neuer Lösungen aufzuzeigen. In der kurzen verfügbaren Zeit .

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war es allerdings nicht möglich, die vorliegende Konzeption allseitig zu behandeln, sondern nur eine Arbeit in Angriff zu nehmen, die langfristige, viele Jahre währende und zahlreiche Fachgebiete umfassende Forschungen erfordert und selbst nur deren Einleitung darstellt. Auf dieser Stufe der Erkenntnis können begreiflicherweise keine detaillierten und endgültigen Schlußfolgerungen gezogen werden, was praktische und vor allem spezielle Fragen betrifft; hier liegt noch ein ganzes Feld applizierter Forschung und praktischen Entscheidens vor uns. Wir fügen darum unserer Studie nur einige Anregungen für allfällige Erwägungen zur Praxis bei. Die Arbeit wurde auf Grund eines Beschlusses des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und des Präsidiums der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften sowie einer Initiative des Vorsitzenden der Akademie der Wissenschaften F. Šorms konzipiert. In verschiedenen Etagen wurde eine Vielzahl von Spezialisten der Wissenschaft, Technik und Praxis konsultiert, darunter vor allem Mitarbeiter der Tschechoslowakischen und Slowakischen Akademie der Wissenschaften der Karlsuniversität, der Tschechischen und Slowakischen Technischen Hochschule, der Wirtschaftshochschule, der Hochschule für Politik, der Abteilungen für Schulwesen und Wissenschaft, für Ideologie und für Staatswirtschaft des ZK der KPČ, der Staatlichen Kommission für Technik, der Staatlichen Plankommission, der Staatlichen Kommission für Leitung und Organisation, des Ministeriums für Schulwesen und Kultur, des Ministeriums für Gesundheitswesen, des Statistischen Amtes, des Amtes für Patente und Erfindungen, des Instituts für die Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, der Tschechoslowakischen wissenschaftlich-technischen Gesellschaft, der Zentralstelle für wissenschaftliche und technische Informationen des Tschechoslowakischen Forschungsinstituts der Arbeit, des Tschechoslowakischen Forschungsinstituts für das Lebensniveau, des Forschungsinstituts für Volkswirtschaftsplanung, sowie einer Reihe von Betrieben, Forschungsinstituten u. a. Außer den Mitgliedern des interdisziplinären Teams haben zu den einzelnen Problemen schriftliche Unterlagen geliefert: Dr. M. Dýma, CSc., Dr. J. Kubalek, Prof. Dr. V. Tlusty, Ing. M. Zahrádka und weitere. Bei der Verarbeitung des statistischen Materials haben Ing. J. Coufalíková, A. Verner u. a. mit Hand angelegt; die bibliographischen Daten hat Dr. J. Orlický bearbeitet; M. Havlíčková und M. Mráčková haben sich der organisatorischen Aufgaben angenommen. Ihnen allein sind wir für Anregungen, Rat und Hilfe zu Dank verpflichtet.205 Das Autorenkollektiv (46 Wissenschaftler).206

205 Ebd., S. 15-24. 206 Zu dem Autorenkollektiv gehörte auch Milan Prucha vom Philosophischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Auf Einladung von Prucha hielt ich um 1991 einen Vortrag an der Karls-Universität Prag. Schneider, Jürgen: The Decay of the Socialist Centrally Plannes Economies: The Example of the German Democratic Republic (GDR), in: Feldenkirchen, Wilfrid / Schönert-Röhlk, Frauke / Schulz, Günther (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, 1. Teilbd., Stuttgart 1995, S. 377-399.

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Der Richta-Report: Zum Charakter der wissenschaftlich-technischen Revolution. Wandlung der Struktur und Dynamik der Produktivkräfte des menschlichen Lebens. Worin besteht das Wesen dieser Umwälzungen und wodurch unterscheiden sie sich vom bisherigen Fortschritt der Zivilisation? Die industrielle Revolution als Ausgangspunkt. Die Zivilisation, die in den verflossenen 150-200 Jahren entstand und deren Grenze wir heute erreicht haben, stützt sich auf die fabrikmäßige industrielle Massenerzeugung, die die Dominante der gesamten Volkswirtschaft darstellt und dem menschlichen Leben ihren Charakter aufgeprägt hat. Maschinen, Maschinenaggregate, Fließbänder – und daneben ganze Armeen von Arbeitern, die sie bedienen, wobei ein jeder sich auf dem engsten Abschnitt der gesamten kombinierten Tätigkeit geltend macht – das ist das grundlegende Produktionselement dieser industriell hochentwickelten Gesellschaft. [...] Die sich unaufhörlich entwickelnde Maschine – das war der grundlegende Vermittler, der aktive Nerv der industriellen Produktivkräfte. Die Arbeitsmaschine, die die Operationen der menschlichen Hand zerlegte und übernahm; die Bewegungsmaschine, die den Menschen vom Antrieb ausschaltete; vermittelnde Transmissionen, so waren – in aller Kürze – die Komponenten und Stufen beschaffen, aus denen sich das menschliche Prinzip rekrutierte: Zergliederung komplizierter, ursprünglich handwerklicher Arbeitsvorgänge in abstrakte, einfache Elemente, in denen sodann die entscheidenden ausführenden Operationen ein Mechanismus übernahm, während dem Menschen nur dessen Bedienung blieb. Ausgangspunkt der industriellen Revolution war die Arbeitsmaschine (erste Industrierevolution); ihre massenhafte Verbreitung wurde jedoch erst durch ihre Verbindung mit der Bewegungsmaschine ermöglicht, wie sie die Dampfmaschine darstellte (zweite Industrierevolution), durch die Entwicklung von Transmissionselementen, Fließbändern, Transporteinrichtungen und vor allem der elektrischen Kraftübertragung (die wir als dritte Industrierevolution bezeichnen könnten); damit ist die eigentliche Entwicklung der industriellen Basis unserer Zivilisation im wesentlichen abgeschlossen. Die industrielle Revolution hat den Produktionsprozeß von den Maßstäben und dem Rhythmus der individuellen Handarbeit befreit. Die Industrialisierung, die die Produktionsbasis der Epoche der industriellen Revolution darstellte, hat diese Struktur der Produktivkräfte in der Fabrik zur Allgemeingeltung erhoben; in ihren stofflichen Formen ist diese Struktur veränderlich, aber in ihrem inneren Zwiespalt von Mechanismus und Arbeitskraft stabil. Das Wesen der wissenschaftlich-technischen Revolution. In den verflossenen Jahrzehrten begann eine jähe Entfaltung der Wissenschaft und Technik, diesen Kreis der industriellen Revolution zu durchbrechen; sie bringt eine neue Struktur und Dynamik der Produktivkräfte des menschlichen Lebens hervor. a) Die Arbeitsmittel sprengen nunmehr infolge ihrer Entwicklung den Rahmen der mechanischen Maschinen; sie nehmen Funktionen an, die sie im Grunde zu einem ganzen eigenständigen Produktionskomplex machen; die Veränderungen in

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der modernen Technik reichen auf diese Weise über den Horizont der Umwälzungen im Bereich der Produktionsinstrumente hinaus. b) Der Fortschritt bemächtigt sich nunmehr weitgehend auch des Arbeitsgegenstand – eines Jahrtausende hindurch stabilisierten Materialkreises, in dem die Industrierevolution höchstens die Proportionen verändert hat (Eisen, Holz, landwirtschaftliche Rohstoffe usw.) c) In Bewegung gerät der gesamte jahrhundertelang unveränderliche ‚subjektive Aspekt‘ der Produktion; Schritt für Schritt fallen alle unmittelbaren Produktionsfunktionen fort, die die einfache Arbeitskraft ausübte; die Technik schaltet den Menschen aus seinen unmittelbar ausübenden, bedienenden, operativen und schließlich auch aus den regulierenden Funktionen innerhalb der unmittelbaren Produktion aus. d) In den Produktionsprozeß dringen auf breiter Front neue gesellschaftliche Produktivkräfte ein, vor allem die Wissenschaft und ihre technologische Applikation, und mit ihr ihre Basis: die soziale Integration und schließlich die Entfaltung der menschlichen Kräfte, die hinter aller schöpferischen Tätigkeit steht. Was das Spezifische der sich anbahnenden Bewegung bestimmt, was ihr eine neue Dimension verleiht und sie zur wissenschaftlich-technischen Revolution macht, ist somit zunächst die Tatsache, daß sie zu einer universalen Wandlung der gesamten Produktivkräfte führt, daß sie deren ganze elementare Struktur in Bewegung versetzt – und damit prinzipiell die Stellung des Menschen verändert. Alles läßt darauf schließen, daß es sich hier nicht mehr lediglich um die unablässige Entwicklung eines der objektiven Faktoren der Produktivkräfte (nämlich des Arbeitsmittels) wie bei der Industrialisierung oder um die einmalige Einführung dieser oder jener neuen Produktion handelt, die Aufsehen erregt, das Zivilisationsniveau anhebt und um die es wieder still wird. Hier geht es im Gegenteil um eine unaufhörliche und sich beschleunigende Bewegung, einen Strom grundlegender Wandlungen sämtlicher Produktivkräfte der objektiven wie der subjektiven Faktoren der Produktion menschlichen Lebens. Der Ansturm der Technik schaltet die begrenzten physischen und geistigen Kräfte des Menschen innerhalb der unmittelbaren Produktion aus, so daß diese nunmehr zur inneren technischen Einheit gedeiht, zur Grundlage der Selbstbewegung der Produktion wird. Die wissenschaftlich-technische Revolution knüpft dort an, wo die analytische Zergliederung der Arbeit in ihre einfachsten Elemente aufhörte (in diesem Sinne führte sie die komplexe Mechanisierung zur letzten Konsequenz); die ihr eigene Methode ist jedoch im Gegenteil die Synthese des vom Menschen eingesetzten, von ihm adoptierten – und daher lenkbaren – natur-technischen Prozesses, der Sieg des automatischen Prinzips im breiten Sinn des Wortes (auf welcher konkreten technischen Basis auch immer). Zwischen den Menschen und die Natur schiebt sich hier nicht mehr nur das Werkzeug oder das Arbeitsmittel, sondern der ganze eigenständige technische Produktionsprozeß, in dem so oder so die Interaktion des Mittels und des Gegenstands synthetisiert ist und der eine innere Modellstruktur und -dynamik erhält.

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Der eigentliche Ausgangspunkt der automatischen Erzeugung ist nicht mehr die einzelne Maschine, sondern der gesamte ununterbrochen mechanisierte Produktionsprozeß: Die kontinuierlichen Erzeugungen in der Energetik, Chemie, Metallurgie, bei der Herstellung von Zement, die massenweise Fließbandproduktion in der verarbeitenden Industrie ebenso wie die Standardprozesse in der Administration – das ist der Boden, in dem das automatische Prinzip am schnellsten Wurzeln schlägt. Der Mensch wird hier neben den unmittelbaren Produktionsprozeß (Fertigungsprozeß) gestellt, während er zuvor sein unmittelbarer Hauptfaktor war. Die einfache Arbeitskraft des Menschen kann mit der Leistungsfähigkeit der technischen Komponenten der Produktion nicht konkurrieren: die durchschnittliche physische Kapazität der menschlichen Arbeitskraft erreicht kaum 20 Watt, die Geschwindigkeit des Reagierens der Sinne beträgt etwa 1/10 Sekunde, das mechanische Gedächtnis ist begrenzt und wenig zuverlässig. Nur mit dem Umfang seiner schöpferischen Fähigkeiten und mit seiner Aufgeschlossenheit gegenüber einer Kultivierung steht der Mensch hoch über seinen gewaltigsten Schöpfungen. Die traditionelle Verwendung des Menschen als bloß einfacher unqualifizierter Arbeitskraft wird deshalb notwendig auf einem Abschnitt nach dem andern zu einer Bremse der Produktivkräfte und zur unwirtschaftlichen Verschwendung menschlicher Fähigkeiten. In dem Maß, wie der Mensch die Erzeugnisse seiner früheren Tätigkeit als Naturkräfte wirken läßt und wie somit aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß seine einfache Arbeitskraft schwindet, schaltet sich eine viel mächtigere Kraft der menschlichen Gemeinschaft in die Produktion ein – die Wissenschaft als unmittelbare Produktivkraft, die auf der Basis einer gesamtgesellschaftlichen Kombination wirksam ist. Der unmittelbare Produktionsprozeß hört in diesem Sinne auf, Arbeitsprozeß zu sein; an Stelle der einfachen Arbeit tritt als dessen tragender Pfeiler das ‚Naturverständnis des Menschen‘ in Erscheinung, das zugleich eine Aneignung ‚seiner eignen allgemeinen Produktivkraft‘ ist – d. h. die Wissenschaft, das ‚akkumulierte Wissen der Gesellschaft‘. In den gegenwärtigen Umwälzungen der Produktion dringt die Wissenschaft in den gesamten Erzeugungsvorgang ein, wird nach und nach zur zentralen Produktivkraft der Gesellschaft und auch praktisch zum ‚entscheidenden Faktor‘ des Wachstums der Produktivkräfte. 207 Je mehr der Mensch aufhört, das zu tun, was er seine Schöpfungen für sich machen lassen kann, desto mehr öffnen sich ihm Räume, die ihm ohne die Basis seines eigenen Schaffens unzugänglich bleiben würden. Die Einheit technologischer, Rohstoff- und energetischer Umwälzungen. Ihrem Charakter nach hat die wissenschaftlich-technische Revolution eine viel breitere Skala von Möglichkeiten, in Erscheinung zu treten, als dies bei der industriellen Revolution der Fall war. Wenn wir hier im weiteren Sinn des Wortes vom automa-

207 Programm der KPdSU, in Material XXII s jezda KPSS, Moskau 1961, S. 415.

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tischen Prinzip (Überführung der Produktion auf einen vom Menschen beherrschten natürlich-technischen Prozeß) sprechen, haben wir eine Reihe seiner Komponenten vor Augen: a) Die Kybernetisierung ist eine klassische Methode. Automatisierungseinrichtungen sind als Mittel innerer Selbstbewegung in den höchstentwickelten mechanischen Systemen zustande gekommen: Ihre Keimzelle stellen die technischen Fühlergeräte (‚künstliche Sinnesorgane‘) dar, die die Reste einer operativen menschlichen Bedienung ausschalten und lediglich eine Regulierung der entsprechenden Anlagekomplexe notwendig machen. Wenn diese Mittel sich des gesamten Maschinensystems bemächtigen, verwandeln sich die Knotenpunkte der Kontrolle und der selbstständigen Zielsuchlenkung zu einem System technischer Reflexion (einem ‚Nervensystem‘), das eine rückwirkende Schaltung garantiert und nur noch der äußeren Lenkung mittels besonderer Apparaturen (Leitpulte) bzw. einer Programmierung, bedarf: es verlagert die Funktionen des Menschen an den Rand des unmittelbaren Fertigungsprozesses. Ihre dritte und höchste Stufe erreicht Automatisierung, wenn sich der ununterbrochenen Produktion in ihrem gesamten Umfang als neue innere Dominante der Rechenautomat (das ‚Elektronenhirn‘) bemächtigt, eine Anlage, die die Informationskomplexe ganzer Werkstätten, Betriebe und Kombinate auswertet und deren technisierten Prozeß vereinheitlicht; dadurch verdrängt sie die menschliche Tätigkeit aus der unmittelbaren Produktion überhaupt in die vorproduktiven Stufen, die Vorbereitung der Technik, Forschung, Wissenschaft und in die Sphäre der sozialen Vorsorge. b) Die Chemisierung ist eine weitere charakteristische Form. c) Die Realisierung automatischer Erzeugungsprinzipien stellt hohe Anforderungen an die Energiequellen: die Produktion elektrischer Energie nimmt in der UdSSR alle 10 Jahre dreifach, in den USA um das Doppelte zu; der Trend ist hier exponentiell, die klassischen Quellen genügen offenbar nicht. Es scheint, daß die Nutzung der Kernenergie heute die Ansprüche des universalen Wachstums der technischen Produktivkräfte zu befriedigen und unerschöpfliche Energie zu liefern vermag, aus Quellen, die zudem auf Grund des automatischen Prinzips erschlossen werden, das hier eine Notwendigkeit darstellt. Umwälzungen in der ‚subjektiven Komponente‘ der Produktion und in der Stellung des Menschen in der Zivilisation. Ihrem Wesen nach ist die Automatisierung und der gegenwärtige technische Fortschritt überhaupt nicht nur eine Fortsetzung oder Ergänzung der Mechanisierung, sondern im Gegenteil ein höheres Prinzip des Fortschritts in der Produktion. Was den ‚menschlichen Faktor‘ betrifft, haben die industrielle und die wissenschaftlich-technische Revolution geradezu entgegengesetzte Wirkungen. Die Mechanisierung gliedert die ursprünglich handwerkliche Arbeit auf, führt die Arbeitsteilung zu ihrer letzten Konsequenz, macht die einfache, monotone Anwendung der Arbeitskraft (eines jeden auf einem eng bemessenen Abschnitt) zur

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Grundlage aller modernen Industrie. Je mehr die Industrialisierung und die ihr entsprechende Fabriktechnik fortschreitet, desto abstrakter wird die menschliche Arbeit, desto größere Armeen von Arbeitern der einfachen Handgriffe werden in sie hineingezogen und desto bedrohlicher klaffen die Disparitäten dieser Zivilisation auseinander. Die Automatisierung in ihrer Konsequenz – d. h. als Modell verstanden (wir sehen vorläufig von der Tatsache ab, daß bei nur teilweiser Automatisierung auf der anderen Seite die Menge einfacher Hilfstätigkeit wachsen kann), gebietet dieser Tendenz Einhalt und kehrt sie um. Sie schaltet die Masse einfacher Arbeit der Hilfsund sodann auch der Maschinenbedienungskräfte aus, ebenso wie die der traditionellen Beamten u. a. – verschiedenen Schätzungen zufolge potentiell bis zu 8090 %. Sie ersetzt sie zunächst durch neue Typen von Arbeiterprofessionen am Rand der unmittelbaren Produktion (Einsteller, Instandhalter usw.), die vorwiegend eine weitere Skala und einen höheren Gehalt an wissenschaftlichen Elementen in der Arbeit aufweisen: ihr Anteil steigt in fortschrittlichen Produktionen und in Betriebsabschnitten, die von der Automatisierung erfaßt sind, über 50 %. In groben Umrissen kann vorausgesetzt werden, daß in den kommenden Jahrzehnten in der unmittelbaren Produktion die Zahl der Einsteller, Instandhalter, Laboranten u. ä. überwiegen wird (Einfluß der teilweisen Automatisierung im Zusammenhang mit der relativ noch geringen Vollkommenheit und Zuverlässigkeit der inneren Bindung automatischer Systeme); später (zusammen mit der Komplettierung der Automatik und Strukturveränderungen) wird ihr Anteil weitgehend dem der Techniker, Ingenieure u. ä. Platz machen. Immer deutlicher kommt eine dauerhafte Tendenz um Ausdruck: die Umschichtung der Grundmasse menschlicher Arbeit in die Phase der Produktionsvorbereitung, der technischen Leitung, Projektierung und Konstruktion, der Forschung und Entwicklung usw. Am Ausgang des Jahrhunderts wird die Produktion in den fortgeschrittensten Ländern heutigen Einschätzungen zufolge aufhören können, ein Arbeitsprozeß im derzeitigen Sinn des Wortes (d. h. im Sinne der einfachen aufgegliederten Arbeit) zu sein; ein beträchtlicher und ständig wachsender Teil der mit der Beschaffung der zum Leben notwendigen Mittel verbundenen menschlichen Tätigkeit kann den Charakter einer ingenieurtechnischen (oder vielmehr dieser entsprechenden bzw. gleichgestellten) Tätigkeit annehmen. Wie man sieht, ist die wissenschaftlich-technische Revolution wesenhaft mit der Umwandlung der grundlegenden Schicht der menschlichen Tätigkeit verbunden, mit der neuen Position des Menschen in der Welt der Produktivkräfte – und damit zugleich mit der neuen Situation des Menschen überhaupt. Diese weitgehende gesellschaftlich-menschliche Wandlung gehört zur Grunddimension der wissenschaftlich-technischen Revolution; ihr Wesen läßt sich offenbar überhaupt nicht erfassen, wenn wir sie als bloße Umwälzung innerhalb der Technik verstehen. Wenn wir jedoch den tiefgreifenden Gesichtspunkt der Wandlungen in der Struktur und Dynamik der Produktivkräfte und insbesondere in der Position des Menschen in der Welt der Produktivkräfte in Betracht ziehen, wird der revolutionäre Charakter der kommenden Veränderungen in scharf umrissenen, nachweisbaren Formen sichtbar.

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Anders als zur Zeit der Industrialisierung, da das Anwachsen der Produktion vom steigenden Beschäftigungsgrad in den Industrieproduktionsbranchen begleitet wurde, lassen schon die Anfänge der wissenschaftlich-technischen Revolution die entgegengesetzte Tendenz erkennen: die Produktion wächst, ohne daß das Quantum der in dem Fertigungsprozeß angewandten Arbeit zunehmen würde, im Gegenteil, bei (bisher mäßiger, aber stetiger) Abnahme oder Verkürzung der traditionellen unmittelbaren produktiven Arbeit. Mit anderen Worten: die Wissenschaft wird nunmehr zur grundlegenden Variablen im System der Volkswirtschaft und zur entscheidenden Größe des Zivilisationswachstums überhaupt. Es treten Merkmale einer neuen Dynamik, eines neuen (‚Postindustrial-‘) Typus des Wachstums auf, der sich auf die ständig vor sich gehenden Strukturwandlungen der Produktivkräfte stützt, in denen nicht die wachsende Quantität der Produktionsmittel und Arbeitskräfte entscheidet, sondern ihre sich verändernde Qualität, der Grad der Nutzung neuer Produktivkräfte. Hier kommen die intensiven Wachstumselemente zustande, hier entspringt die innerlich mit dem Einsetzen der wissenschaftlich-technischen Revolution verbundene Beschleunigung. Das gegenwärtige ökonomische Wachstum ist allerdings die resultierende Summe dieser beiden Tendenzen. Wenn unter seinen Quellen das Wachstum des Fonds der Arbeit und der Reserven an Produktionsmitteln (des Kapitals) überwiegt, wenn die Wirtschaftsentfaltung in entscheidendem Maß durch das Anwachsen des Kapitals (‚Kapitel und Arbeit‘) gewährleistet wird – und das sind die charakteristischen Bedingungen der Epoche der Industrialisierung –, dann können wir von einem extensiven Wachstumstypus sprechen. Dort hingegen, wo unter den Quellen die Qualität und die Nutzungsrate des Fonds ‚Kapital und Arbeit‘ das Übergewicht gewinnen – also Faktoren, die sich aus dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt im weit gefaßten Sinn, aus den Strukturwandlungen der Produktivkräfte ergeben –, dort kommt es zu einem intensiven ökonomischen Wachstum mit neuen und eigenartigen inneren Gesetzmäßigkeiten und Bedeutungen. Es ist allerdings klar, daß eine grundlegende Wandlung der Wachstumstypen erst auf einer ganz bestimmten, verhältnismäßig hohen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erfolgen kann, im Grunde erst, wenn die Industrialisierung des Landes durchgeführt ist. Die Versuche einer Klassifizierung der Quellen des Wirtschaftswachstums führen uns zur Schlußfolgerung, daß noch am Anfang des 20. Jahrhunderts an die 70 % wirtschaftlichen Wachstums (Daten der USA) von den extensiven Faktoren abhängig waren; gegenwärtig sind wiederum etwa 70 % des Wachstums (in den USA ebenso wie in den westeuropäischen Ländern mit dem schnellsten Wirtschaftswachstum) den intensiven Faktoren zuzuschreiben, die mit der Anwendung der Wissenschaft, der neuen Technik, mit der Rationalisierung der Organisation und Leitung, der Steigerung der Qualifikation u. ä. zusammenhängen. Die letzten Jahrzehnte lassen sogar schon die historische Beglaubigung der Tatsache zu, daß das intensive Wachstum zu überwiegen beginnt – in eben dem Maß, wie er seiner Vollendung entgegengeht und wie die wissenschaftlich-technische Revolution zu Wort kommt.

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Die neuen Dimensionen des Zivilisationswachstums. Zusammen mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und den von ihr bestimmten Veränderungen in den ökonomischen Wachstumsmodellen erscheinen auf einer gewissen Stufe sämtliche Gesetzmäßigkeiten und Proportionen der Gesellschaftsentwicklung in einem neuen Licht. Das gilt vor allem vom Verhältnis zwischen Wissenschaft, Technik und unmittelbarer Produktion; man kann sagen, daß diese Bindungen von einer bestimmten Scheidelinie des Wachstums an einen ähnlich richtungweisenden Charakter erkennen lassen, wie ihn zur Zeit der Industrialisierung das Verhältnis zwischen der I. und II. Gruppe der unmittelbaren Produktion gewann. Zum Entwicklungsgesetz der Produktivkräfte wird unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution die höhere Priorität, d. h. der Vorsprung der Wissenschaft vor der Technik und der Technik vor der unmittelbaren Produktion. So wie es der Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, M. V. Keldyš 1961 formulierte: ‚In der neuen historischen Situation [...] ist es notwendig, daß unsere Technik schneller wächst und sich entfaltet als die Schwerindustrie, und daß die Naturwissenschaften, die die prinzipielle Basis jedes technischen Fortschritts bilden und die Hauptquelle der tiefsten technischen Ideen vorstellen, ihren Vorsprung vor dem Entwicklungstempo der Technik halten‘. Wir begegnen hier einer neuen Relation, die die Industrierevolution nicht kannte und die die strikte Voraussetzung des intensiven Wachstums darstellt: zur Bedingung wird die ständige Einsatzfähigkeit einer solchen Forschungskapazität, eines solchen Vorrats wissenschaftlicher Erkenntnisse, der es gestattet, mit immerwährendem (und ständig wachsendem) Vorsprung neue, effektivere technologische, organisatorische u. ä. Lösungen zur Geltung zu bringen und auf diese Weise das Anwachsen der Kapitalkoeffizienten und der Zunahme der Akkumulationsrate zu verhindern. Nur so können die enormen Kosten, die die gegenwärtigen Umwälzungen in der technischen Produktionsbasis verursachen, kompensiert und in Gewinn verwandelt werden. Vom Standpunkt der Schaffung und Vermehrung der gesellschaftlichen Produktivkräfte kann in diesem Fall (jenseits einer gewissen Grenze und in einer gewissen Proportion) die Entfaltung der Wissenschaft und Forschung viel bedeutsamer sein als die Erweiterung der unmittelbaren Produktion: die Strukturveränderungen der Technik, die Modernisierung, Rationalisierung der Leitung, Entfaltung der Bildung, der Sorge für den Menschen u. a. können eine viel durchdringendere Wirkung haben als der Bau neuer Fabrikendes bisherigen Niveaus und die Hinzunahme traditioneller Arbeitskräfte. Diese Bindungen entstehen zusammen mit der wissenschaftlich-technischen Revolution. Unterhalb einer gewissen Grenze der Produktivkräfte (und damit auch der Anhäufung von Kapital) wäre für das weitere Wachstum stets eine Konzentration sämtlicher Mittel in die unmittelbare Produktion vorteilhafter. Oberhalb dieser Scheidelinie verändert sich die Situation zu ihrem geraden Gegenteil. Dieser merkwürdige Bruch geht durch unsere ganze heutige Zeit, um überall die stabilisierten Verhältnisse umzustürzen. Wir haben uns zur Zeit der Industrialisierung daran gewöhnt, daß die Menge der in die Erweiterung des Netzes der Betriebe investierten Mittel Maßstab des Wirtschaftswachstums ist. Aber nun zeigt es sich, daß jenseits einer gewissen

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Grenzlinie und in gewissen Proportionen mehr die Menge der aus der unmittelbaren Produktion freigemachten und der vorproduktiven Phase sowie den sozialen Belangen der Menschen zugewiesenen Mittel zu entscheiden beginnt. Bisher hing der Fortschritt der Zivilisation vom Wachstum des Kapitals und der Einschaltung immer größerer Massen an Arbeitskräften in die Industrie ab, heute hingegen ist die Ausschaltung von Arbeitskräften aus der Industrieproduktion durch die Technik und die ‚Freisetzung von Kapital‘ ein Merkmal wachsender Produktivkräfte. Die Beschränkung des Verbrauchs der Massen auf den Bereich der Reproduktion der Arbeitskraft war früher Bedingung allgemeinen Wachstums, heute erscheint sie als sein Hindernis; und an ihre Stelle tritt als ebenso unerläßliche Bedingung des zeitgenössischen Wachstums ein bestimmtes Maß erweiterten Verbrauchs (sogar desjenigen der Massen), usw. usf. In dieser Situation macht sich mit aller Schärfe die dringliche Notwendigkeit einer wissenschaftlichen, dynamischen Orientierung unter den Bedingungen der Entfaltung der Produktivkräfte geltend. Hier wurzelt der schnelle Erfolg der ‚Wachstumstheorien‘ in unserer Zeit. Die wissenschaftlich-technische Revolution und die Entwicklung des Sozialismus. Die Marxsche Kritik des Kapitalismus zielte unmittelbar auf die Veränderung der Produktionsverhältnisse ab, auf die Beseitigung des kapitalistischen Eigentums und der Ausbeutung des Menschen; aber niemals beschränkte sie sich auf die so begrenzten Probleme; sie stellte im Gegenteil eine Kritik der gesamten Industriezivilisation dar, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, sie drang bis zu den tiefsten Schichten des Zivilisationsprozesses vor, sie bezog sich auf die ganze bisherige Art und Weise, sich die Natur und die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu eigen zu machen, auf die bisherige Selbstrealisierung des Menschen, auf der das kapitalistische Eigentum fußte; sie faßte die Überwindung dieser Epoche als revolutionäre Veränderung der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte auf, sie sah die Bildung einer neuen Zivilisationsbasis des menschlichen Lebens voraus – und somit auf jene Prozesse, die wir heute wissenschaftlich-technische Revolution nennen, und zwar als wesentlichen Bestandteil in der Zukunftsperspektive zu erwartender kommunistischer Veränderungen. Die Lösung der Industriezivilisation und die Beseitigung der von ihr hervorgerufenen Gegensätze ist keine Errungenschaft der sozialistischen Produktionsverhältnisse, die durch Umwälzungen im Bereich der Macht und des Besitzes zustande kamen, und kann es auch nicht sein. Als wirklich entscheidend kann allein die Tatsache gelten, daß die großen Probleme der industriellen Zivilisationsbasis auf dem Boden des Sozialismus lösbar werden, allerdings auf dem Weg (und unter der Voraussetzung) einer völligen Umwandlung der gesamten Struktur der Produktivkräfte, der gesamten Zivilisationsgrundlage des menschlichen Lebens. Zum Unterschied von der Industrialisierung, die ursprünglich die produktionstechnische Basis des Sozialismus innerhalb von Grenzen formt, die ziemlich beschränkte Entfaltung der menschlichen Kräfte gestatten, stellt die wissenschaftlichtechnische Revolution jenen Zivilisationsprozeß dar, der eine unaufhörliche und allgemeine Entfaltung der Fähigkeiten und Kräfte jedes Menschen nicht nur ermög-

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licht, sondern geradezu erfordert – und entspricht somit den Ansprüchen des kommunistischen Lebens. Der Logik der Dinge entsprechend erhält (vom Gesichtspunkt tieferer Modell-Zusammenhänge aus) also gerade die sozialistische und zum Kommunismus übergehende Gesellschaft die Chance, die wissenschaftlich-technische Revolution bis in die letzten Konsequenzen zu verwirklichen. Und im Gegenteil: für eine Gesellschaft, die zum Kommunismus hinzielt und ‚deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jeden Individuums ist‘, muß die schrittweise Überwindung des traditionellen Industriesystems und des ihm entsprechenden Wachstumsmodells sowie der ‚Übergang‘ zur wissenschaftlich-technischen Revolution verbindlich sein. Auf Grund ihrer allgemeinen Zusammenhänge und ihrer inneren Logik ist die wissenschaftlich-technische Revolution ein sozialer Prozeß – so wie auch die industrielle Revolution ein sozialer Prozeß war. Die wissenschaftlich-technische Revolution ist jedoch in ihrer Gesamtheit noch in einem anderen und tieferen Sinn ein sozialer Prozeß; in der Zeit der Industrialisierung gründete sich die Zivilisationsbewegung praktisch primär auf die Entwicklung der Arbeitsmittel – auf die Selbstaufwertung und Akkumulation des Kapitals und auf die Reduktion der Masse unmittelbarer Produzenten zu abstrakten Arbeitskräften. Eine grundlegende Begrenzung stellte bei dieser Zivilisation die Unmöglichkeit oder Unfähigkeit dar, den ‚subjektiven Aspekt‘ der Produktion – die menschlichen Kräfte und damit auch die Technik in vollem Maß zu revolutionieren. Die wissenschaftlich-technische Revolution hingegen gründet, wie wir aus verschiedenen Anzeichen und ihrer Zusammenfassung zu einem theoretischen Modell schließen können, den Lauf der Zivilisation auf die Bewegung auf beiden Seiten: wenn sie radikale Eingriffe in die technischen Komponenten erfordert, so erfordert sie ebenso radikale und radikalere Veränderungen, eine ebenso aktive und aktivere Entwicklung auch der Gesellschaft und des Menschen – und dies in sämtlichen Dimensionen des Lebens: a) Sie ist unzweifelhaft mit der Perspektive einer Umwandlung der grundlegenden Masse Arbeit verbunden, dieser tiefsten Schicht des menschlichen Lebens in der bisherigen Zivilisation, die die Bedingungen und die Art und Weise der Umwandlung der Welt und der Selbstverwirklichung des Menschen bestimmt – was zugleich einer wesentlichen Strukturveränderung des ‚Gesamtarbeiters‘ und einer Lageveränderung der verschiedenen Bereiche menschlicher Tätigkeit entspricht. b) Dasselbe hat von der Arbeitsteilung zu gelten: die immer breitere Anwendung der Wissenschaft und die fortschreitende Restriktion der einfachen Arbeit weist auf neue technische Möglichkeiten einer Überwindung der fixierten Arbeitsteilung hin, vor allem des Gegensatzes zwischen der ausübenden und leitenden, der physischen und geistigen Arbeit – was einerseits die Beseitigung der Intelligenz als besonderer, exklusiver Schicht, andererseits eine entscheidende Veränderung des Charakters der Arbeiterklasse und einen tiefen Eingriff in die Beziehung zwischen dem Menschen und der Profession überhaupt bedeuten würde.

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c) Die Industrierevolution hat die Mehrzahl der europäischen Völker einst in Arbeiter verwandelt, um sie einander abhängig zu machen und ihre zwiespältige, klassenmäßig-soziale Struktur über die Welt zu verbreiten. Die von den ihrer Zeit entsprechenden gesellschaftlichen Bremsklötzen befreite wissenschaftlich-technische Revolution strebt in ihren Gesamtperspektiven offensichtlich der Realisierung einer neuen, klassenlosen und voll beweglichen Sozialstruktur zu, deren Wesensgrundlage die gegenseitige Entfaltung des Menschen durch den Menschen ist. d) Die beginnenden technischen Umwälzungen deuten eine fühlbare Wandlung in der Position der Wissenschaft, Bildung und Kultur überhaupt an: während in den vergangenen Jahrhunderten die Kultur ihre Sendung eigentlich nur am Rand des menschlichen Lebens in der Gesellschaft erfüllte, außerhalb der Hauptströmung des Zivilisationsprozesses, rückt sie nunmehr im Gegenteil als entscheidender Faktor in den Mittelpunkt des Geschehens. Die wissenschaftlich-technischen Revolution korrespondiert so mit einer Kulturrevolution von bisher ungekannter Bedeutung und Ausdehnung. e) Die wissenschaftlich-technische Revolution ist offenbar nicht zu verwirklichen, wenn die gegenwärtige Grenze des menschlichen Lebens nicht in ständige Bewegung versetzt wird: nicht nur in bezug auf das Lebensniveau, sondern darüber hinaus auf das Niveau des Lebens. Sein Bewegungszyklus könnte nicht zum Abschluß gelangen, ohne auf einer bestimmten Stufe in eine allgemeine Kultivierung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen zu münden – in Technik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Sorge um den Menschen. Angesichts dieser Tendenzen stellt sich die unabweisbare Frage: welche Gesellschaftsordnung wird unter welchen Bedingungen imstande sein, diese Zivilisationsprozesse zu verwirklichen? Die Marktwirtschaft (= Kapitalismus) kann offensichtlich ähnliche Veränderungen akzeptieren, sich ihrer bedienen und sogar relativ schnell in einem gewissen Umfang, in einer bestimmten Zone vorantreiben: in einzelnen Werkstätten, Werkabteilungen, Betrieben und möglicherweise auch Branchen und Sektoren – solange der Prozeß nicht einen kritischen Punkt überschritten hat bzw. von anderen Umständen überdeckt oder kompensiert wird; solange die neuen Elemente in die alte Struktur eingegliedert oder in die alten Grenzen eingeschlossen, in die alten Geleise gelenkt werden können; solange sie z. T. in deformierter Gestalt entwickelt werden usw. Aber wird es in den Kräften dieses konfliktreichen Systems gesellschaftlicher Verhältnisse sein, die Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution jenseits dieser Grenze zu meistern? Es darf vorausgesetzt werden, daß die marktwirtschaftliche Basis, auf der sich die wissenschaftlich-technische Revolution in ihrem Anfangsstadium geltend macht, sich in entscheidenden Punkten, sobald der Prozeß großen Umfang hat, als zu eng erweist: eine Reihe von Kollisionen, die bis an den Rand einer Katastrophe führen, kann vom historischen Gesichtspunkt aus in dieser Hinsicht als unausweichlich gelten.

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Grundsätzlich stellt den Boden, auf dem sich die wissenschaftlich-technische Revolution in voller Breite entfalten kann, der Sozialismus und Kommunismus dar.208 Die Richtigkeit dieser These – und zugleich die Reife der sozialistischen Gesellschaft – muß die Praxis erweisen; zweifellos handelt es sich auf diesem Boden um eine äußerst schwierige Aufgabe. Die Industrialisierung der Tschechoslowakei in den fünfziger Jahren hatte ausgeprägten extensiven Charakter. Bei Aufgliederung des Wachstums der Masse Netto-Produktion (in den Jahren 1950-1964 durchschnittlich um fast 6 %) treten unter den Quellen zu 80 % extensive Faktoren in Erscheinung – vor allem Kapitalerweiterung (bei der Industrie zu etwa 30 % auch das Steigen der Beschäftigtenzahl), während der Anteil der intensiven Faktoren unter 20 % bleibt: davon sind nur etwa 6 % auf neue Technik zurückzuführen; der verhältnismäßig große Beitrag des Qualifikationswachstums wurde zum Großteil durch den negativen Einfluß organisatorischer Faktoren, des Leitungssystems paralysiert. Unter diesen Bedingungen blieben die aus den neuen Produktionspotenzen, die sich aus der sozialen Revolution ergaben, d. h. aus Sozialisierung, breiter Applikation der Wissenschaft, Entfaltung der menschlichen Kräfte, resultierenden Akzelerationsmöglichkeiten (abgesehen von den ersten, leicht zu mobilisierenden Reserven) weitgehend ungenutzt. Die Bewegung der Produktivität der gesellschaftlichen Gesamtarbeit trug gleichfalls ausgeprägte Merkmale extensiver Industrialisierung und war unbefriedigend. Von den beiden Komponenten, aus denen sich die Produktivität der Summe der gesellschaftlichen Arbeit zusammensetzt, stieg in den Jahren 1935-1966 die Produktivität der Arbeitenden (lebendige Arbeit) in der unmittelbaren Produktion jährlich um 4,2 % (zwei Drittel des Produktionszuwachses). In der Industrie wuchs sie um 3,9 % und beteiligte sich so mit nur einem knappen Drittel am Wachstum der reinen Produktion. Die Effektivität der Produktionsfonds (materialisierte Arbeit) hingegen sank jährlich um 1,0 % (in der Industrie um 0,2 %) – wobei die Effektivität der Maschinen und Einrichtungen infolge ungenügender Modernisierung und technischer Entfaltung besonders empfindlich absank – so daß die globale Effektivität der Gesamtquellen der gesellschaftlichen Arbeit im Grunde unverändert blieb. Der ‚Kapitalkoeffizient‘, der einige Jahre lang eine Tendenz zum Sinken zeigte, stieg in diesem Zeitabschnitt schließlich fühlbar an, die Effektivität der Investitionen begann eine deutlich sinkende Tendenz aufzuweisen. Die graphischen Kurvenlinien, die sich zur Bewegung der Produktivität des Niveaus der gemeinschaftlichen Arbeit zusammenschließen, lassen demnach mehr oder weniger erkennen, daß zumindest seit 1958-1959 die Quellen der extensiven Entwicklung erschöpft sind, daß die Industrialisierung an ihre Decke stößt, was die Notwendigkeit signalisiert, weitere Investitionen von Mitteln und Kräften nach dem traditionellen Schema auf die unbedingt notwendigen Entwicklungskapazitäten zu

208 „Die Produktionsverhältnisse des Kapitalismus sind für die wissenschaftlich-technische Revolution jedoch allzu eng bemessen. Verwirklichen und im Interesse der Gemeinschaft nutzen kann diese Revolution allein der Sozialismus“ (Programm der KPdSU, XXII. Parteitag der KPdSU: XXII, sjezd Kommunisticeskoj partii Sovetskogo Sojrza III, S. 247, Moskau 1962).

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begrenzen und die Effektivität dieser Art und Weise einer Vermehrung der Produktivkräfte im Vergleich zu den neuen Möglichkeiten zu überprüfen, die mit qualitativen Veränderungen verbunden sind, mit der vorrangigen Geltendmachung der Wissenschaft als Produktivkraft, mit der neuen Technik, mit der Modernisierung der Produktion sowie mit der allseitigen Freisetzung schöpferischer Kräfte des Menschen. Die Statistik weist gleichfalls die typische Industrialisierungsgliederung und -dynamik der Investitionen nach, die dem Vorsprung der Wissenschaft vor der Technik und der Technik vor der Industrieproduktion direkt entgegengesetzt ist, jenen Vorsprung, den wir als grundlegende Voraussetzung der wissenschaftlichtechnischen Revolution bezeichnet haben (‚Keldyš-Proportion‘): von 1955 bis 1962 sind beim Ausbau der Industrie die Bauinvestitionen mehr gewachsen als diejenigen in Maschinen und Technik und diese wieder mehr als solche in Wissenschaft und Forschung; erst 1964 kann man progressivere Proportionen des Investitionszuwachses feststellen, wenn auch auf schmälerer Basis. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der letzten Jahre, die durch Überforderungen der Maschinen entstandenen Disproportionen sind im wesentlichen wahrscheinlich Merkmal einer viel tieferliegenden Tatsache: der Unmöglichkeit, die Industrialisierungsmethoden und -proportionen weiterhin dem Gesetz der Trägheit folgen zu lassen; somit der aktuellen Gegenwart eben jener Scheidelinie, jenseits der die Entfaltung der Produktivkräfte nicht mehr mit den bisherigen Methoden zu bewältigen ist, sondern nur durch den Übergang zur wissenschaftlich-technischen Revolution. In einer Reihe von Wirtschaftszweigen (Landwirtschaft, Bauwesen u. a.) und auch in einzelnen Landstrichen (Slowakei) wird die Industrialisierung allerdings noch fortgeführt werden müssen, aber es wird insgesamt die Orientierung auf die wissenschaftlich-technische Revolution entscheidend sein. Dieser Prozeß kann sich auf folgende Maßnahmen stützen: a) technische Modernisierung in der gesamten Volkswirtschaft, insbesondere komplexe Mechanisierung und Automatisierung, Chemisierung und Strukturverschiebungen in Richtung zu progressiven Erzeugungen; b) Ausschaltung einfacher unqualifizierter Arbeitskräfte überall dort, wo dafür die technischen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen vorhanden sind, und eine viel effektivere Nutzung, Aufwertung der menschlichen Arbeit; c) Entfaltung von Sphären, die die schöpferischen Kräfte des Menschen freisetzen, die Anwendung der Wissenschaft im gesamten Leben der Gesellschaft fördern und auf diese Weise die Reserven für eine qualitative Wendung in der Wachstumsorientierung entstehen lassen. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß das bisherige Leitungssystem sowie die mit ihm verknüpften theoretischen Vorstellungen, die unter anderen Bedingungen zustande kamen, nicht imstande waren und nicht imstande sind, jenen Wendepunkt zwischen der Industrialisierung und der an sie anknüpfenden wissenschaftlich-technischen Revolution festzuhalten und zu beherrschen, da Investitionen in qualitative Wandlungen der Produktivkräfte und in die Faktoren intensiven Wachstums, in

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Modernisierung, neue Technik, Entfaltung der Wissenschaft, Bildungsarbeit und Qualifikation, in den Bereich der Sorge für den Menschen, in sein Arbeits- und Lebensmilieu, in die Verkürzung der Arbeitszeit usw. vom Standpunkt der Schaffung von Produktivkräften und Ökonomie der Zeit vorteilhafter werden als der Bau weiterer traditioneller Industrieanlagen. Sein Resultat ist eine Verspätung der Inangriffnahme der wissenschaftlichtechnischen Revolution, die sich immer fühlbarer macht; ihre Hauptströmungen kommen im Leben des Landes erst im frühesten Anfangsstadium vor, in niederen Vorstufen und in verschiedener Richtung im Experimentalstadium. Sie haben bisher die grundlegenden Richtungen und Proportionen der Gesellschaftsentwicklung noch nicht näher berührt. Obwohl die Tschechoslowakei es mit dem Umfang ihrer Produktion traditioneller Industrieerzeugnisse mit den am höchsten entwickelten Ländern der Welt aufnehmen kann,209 bleibt sie in der Entwicklung der Struktur (und sodann auch der Dynamik) der Produktivkräfte, in den progressiven Wandlungen, die heute entscheidende Bedeutung gewinnen, beträchtlich zurück. Die einzelnen Komplexe, Werkstätten, Betriebe der Tschechoslowakei sind zwar verhältnismäßig stark technisiert, der durchschnittliche Automatisierungsgrad ist jedoch relativ niedrig. Dazu kommt, daß die Grund- (Maschinenbau-) Industrie sich zu 70 % auf die Stück- und Kleinserienerzeugung stützt, so daß die Automatisierung in einer Reihe von Fällen ein kompliziertes Zwischenglied erfordert: entweder eine Übergangsperiode, um die Mechanisierung zu komplettieren und die Massen- und Serienfertigung zu steigern, oder den Übergang zu neuer Technologie auf Grund hochentwickelter, elastischer Formen der Automatisierung, Programmsteuerung, des Baukastensystems u. ä. Vom Umfang dieser Probleme zeugt die Tatsache, daß die Maschinen-technologischen Einrichtungen in der ČSSR etwa 3-6mal weniger Automatisierungselemente aufweisen als in der USA.210 Besonders schwerwiegend ist die Verspätung in den höchsten Automatisierungsformen – mit Hilfe kybernetischer Systeme und in der Anwendung von Computertechnik überhaupt. Mit der Zahl installierter Computer ist die Tschechoslowakei tief unter dem Durchschnitt der bedeutenderen technisch führenden Länder geblieben.211

209 Mit ihrer Stahlproduktion pro Kopf der Bevölkerung befand sich die ČSSR im Jahre 1965 auf der Stufe der USA und der BRD, vor Großbritannien und Frankreich; mit der Gesamterzeugung primärer Energie hinter den USA und vor Großbritannien, der BRD, Schweden und Frankreich usw. „Statistische Grundzahlen der EWG 1966“, „Monthly Bulletin of Statistics“, UNO, 3/1967. 210 Die Erzeugung von Automatisierungsmitteln, elektronischen Einrichtungen und elektronischen Elementen ist mit ihrem Anteil an der gesamten Industrieproduktion und an der Maschinenbauproduktion relativ 2-3mal niedriger als in den fortgeschrittensten Ländern (siehe Riha, L: Ekonomicka efektivnost védeckotechnického pokroku – Die ökonomische Effektivität des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, Prag 1965, S. 17 u. a.). 211 Im Jahre 1965 kamen auf 1 Million Einwohner in der ČSSR nicht ganz 4 Computer, d. i. 40mal weniger als in den USA und 7,12-mal weniger als in Schweden, der BRD, Frankreich und England. Trotz der starken Zunahme der Computer im Jahre 1966 und den geplanten weiteren Aktionen wird es eine Reihe von Jahren dauern, bevor diese Verspätung ausgeglichen wird.

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Trotz dem hohen Stand und den wissenschaftlichen Errungenschaften der modernen Chemie und dem im großen und ganzen schnellen Aufschwung der Chemieindustrie im letzten Jahrzehnt, macht der Anteil dieses progressiven Zweigs an der Industrieproduktion der ČSSR nur 8,5 % aus (und der Zuwachs zeigt Retardierungstendenzen), während er in einer Reihe technisch hochentwickelter Länder fast doppelt so hoch ist. Die Produktion von Plaststoffen beträgt in der ČSSR pro Kopf etwa ein Drittel im Vergleich zu den Spitzenländern (USA oder BRD).212 Die Struktur der Brennstoff- und Energiebilanz der Tschechoslowakei stützt sich bisher zu 83 % auf feste Brennstoffe (gegenüber 40-70 % in den technisch höchstentwickelten Ländern); nur allmählich wächst der Anteil der flüssigen und Gasbrennstoffe, und es fehlt auch eine entsprechende industrielle Nutzung der Kernenergie (mit der in bedeutenderem Maßstab erst in den 70er Jahren gerechnet wird); das entwertet zu einem großen Teil das hohe Niveau der primären Energiequellen der ČSSR; es bildet einen unverhältnismäßig hohen Anteil Arbeit in der Förderindustrie.213 Mit ähnlichen Problemen haben sich auch andere Bereiche auseinanderzusetzen, die für die Inangriffnahme der wissenschaftlich-technischen Revolution entscheidend sind. In den vom Industrialisierungsschema außer Acht gelassenen Volkswirtschaftszweigen (Dienstleistungen, Verkehr, Kommunikationsmittel usw.) ist das Nachhinken der Technik oft geradezu alarmierend. Mit Hinblick auf die tschechoslowakische Technik gestellten hohen Ansprüche ist auch ihre Qualität unbefriedigend.214 Schwerfälligkeit, Störungsanfälligkeit – all das hat außer materiellen Schäden zur Folge, daß es das Prestige der Technik in der Öffentlichkeit und die Tradition kultivierter Produktion untergräbt, auf die sich die Position der Tschechoslowakei in der internationalen Arbeitsteilung stützt. Die Kybernetik stellt heute die einzige überhaupt mögliche Basis moderner Leitung und Planung dar, Voraussagen, Programmierung u. a. stehen allen Versuchen einer direkten äußeren Regulierung der Dinge fern. Sie stützen sich auf die Systemanwendung von Regulierungsprinzipien, sie fußen auf der indirekten Leitung. Schon N. Wiener hat darauf hingewiesen, daß die gegenwärtige Zivilisation allseits das klassische Leibnizsche Weltbild aufgibt, in dem alle Ereignisse nach den Regeln des Industriemechanismus im Vorhinein bestimmt und eindeutig sind. Man kann die Gesellschaft nicht mehr wie eine Maschine oder wie einen Komplex von Maschinen lenken, die nach den Laplaceschen Gesetzen arbeiten. Jeder Versuch in dieser Richtung muß das leitende Streben in Machtlosigkeit und unaufhörliche Selbsttäuschung, die Absichten der Direktiven in ihr Gegenteil verwandeln. 212 Die Textilindustrie in der ČSSR arbeitet mit einem vierfach niedrigeren Anteil an synthetischen Stoffen als diejenige Frankreichs oder Japans; auf 1ha Ackerland wird zweimal weniger Kunstdünger verbraucht als in der BRD oder in Belgien. 213 Der Anteil der Förderindustrie an der Struktur der Produktion und Arbeit ist in der ČSSR einer der höchsten der Welt. 214 Im Jahre 1964 erreichten der durchgeführten Untersuchung zufolge 36 % aller Erzeugnisse das technische Weltniveau oder sie übertrafen es, 37 % der Erzeugnisse hinkten hinter ihm nach und 27 % waren gänzlich veraltet.

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Die modernen Produktions- und Gesellschaftssysteme müßten zu einem Chaos werden ohne die Anwendung eines Systems ‚selbstständiger Prozesse‘, deren Vermittler die verschiedensten Zivilisationsinstrumente sind, wie Markt, Warenformen, Geld, demokratische Prinzipien, Rechtsnormen, moralische Regeln usw. Die gesamte Zivilisation fußt von Anfang an eigentlich auf der Konstituierung dieser selbsttätigen Regulatoren. Ihr System wird nunmehr komplettiert und baut innere Verbindungen aus, wandelt sich. Auf der heutigen Entwicklungsstufe der zivilisierten Gesellschaft ist es daher nicht möglich, was immer ohne bewußte Inanspruchnahme (und damit auch Einhaltung) dieser Regulatoren und Regeln zu leiten – wenigstens solange die Bedingungen für die Beseitigung nicht gegeben sind. Die Leitung und Planung kann nicht mehr in Form direktiver Eingriffe in den Lauf einzelner Dinge bestehen, sondern muß sich durch die weit wirksamere Beherrschung und Anwendung dieser Regulatoren, in der Modellierung von ‚Spielregeln‘ realisieren, deren selbsttätiges Funktionieren dann zum Ziel führt – oder vielmehr die Ziele und Subjektivitäten in der gewünschten Richtung formt. Anstelle der direktiven Regulierung von Dingen und Menschen als Dingen tritt hier die wissenschaftliche Operation mit Regulierungsprinzipien in Erscheinung. In der ersten Etappe, im Zusammenhang mit Revolution und Industrialisierung, waren die sozialistischen Länder bestrebt, sich aus der Macht des Kapitalelements zu befreien, indem sie das System innerbetrieblicher Leitung zu allgemeiner Geltung erhoben, d. h. versuchten, die sozialistische Gesellschaft wie ein einziges riesiges Industrieunternehmen zu organisieren 215 – allerdings ohne Kapitalisten. Sie verbanden es mit der administrativen Verwaltung, mit der Macht in den Händen der Arbeiterklasse, einer Macht, die gleichfalls auf Grund der direkten Direktive ausgeübt wurde, weil man meist nicht auf die alten ökonomischen und sozialen Regeln Rücksicht nehmen konnte und neue erst nach und nach ausgearbeitet wurden. So geschah es, daß die direktive Art und Weise überhandnahm und zum Allgemeingut wurde;216 sie schloß eigentlich die ökonomischen Mittel aus und suspendierte viele Normen und Regeln des gesellschaftlichen Lebens (wie die formal demokratischen Rechtsnormen u. a.). Mit der Vollendung des Industrialisierungsprozesses mußte diese Methode direktiver Leitung auf unüberwindliche 215 In einigen Arbeiten (beispielsweise in dem bekannten Beitrag Über Autorität, K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 18) verwendet F. Engels in seiner Polemik mit den Anarchisten ähnliche Formulierungen, allerdings im Bewußtsein, daß es sich keineswegs um das Ideal einer neuen Gesellschaft, sondern um einen notwendigen Durchgangspunkt auf dem Weg von der alten zur neuen Gesellschaft handelt. Die Vorstellung, daß eine Verallgemeinerung der industriellen Leitung (mittels direkter Anweisungen) bereits die Beseitigung der elementaren Mächte über den Köpfen der Menschen und die Inthronisierung menschlicher Macht bedeutet, vergißt, daß gerade in der industriellen Direktive (auch nach Beseitigung des Klassenantagonismus) der Gegensatz von Leitenden und Geleiteten, Schöpfern und Ausführenden materialisiert bleibt, ein Gegensatz, der hier von den Verhältnissen eingesetzt wurde, aus denen diese Leitungsform hervorgegangen ist. 216 M. Weber folgerte daraus, daß das industrielle Management und die Fabrikdisziplin eigentlich primäre Prinzipien sind, auf denen der Sozialismus überhaupt fußt, und daß die Bürokratie demnach sein unausweichliches Schicksal darstellt.

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Schranken stoßen, jenseits welcher sie nur zu Absurditäten führt und führen kann. In einer Zeit allgemeiner Bewegung der ganzen Lebensgrundlagen ist es nämlich nicht möglich, zu leiten, indem man direkt über jede einzelne Veränderung entscheidet. Die bisherigen Zivilisationsinstrumente (wie die Markt-Geld-Beziehungen oder demokratischen Formen) können nicht überwunden werden, wenn man sie nicht anwendet, sich sie aneignet und damit ihren Charakter eines gesellschaftlichen Elements verändert. Automatisch verlaufende Prozesse lassen sich in der modernen Zivilisation nicht beseitigen: Man kann sie entweder zielbewußt applizieren, objektiv modellieren und so indirekt (wie jeden Automaten) steuern, d. h. planmäßige Ergebnisse erzielen – oder durch unaufhörliche subjektivistische Eimischungen, durch Dirigieren, Vorschreiben, Erzwingen oder Verbieten ihnen die wirklich zum Opfer fallen, in der blinden Illusion, daß damit die ‚elementare Entwicklung beseitigt werde‘. Alles hängt davon ab, ob es dem Sozialismus gelingt, ein System von Zivilisationsregulatoren, -mitteln und -regeln auszuarbeiten, die nicht nur die ökonomischen, sondern auch die sozialen, politischen, psychologischen und kulturellen Bedingungen eines Wachstums der Aktivität des Menschen und seiner sozialistischen Orientierung regulieren würden, um planmäßig Zugänge zur wissenschaftlich-technischen Revolution zu öffnen. Das Modellieren ökonomischer Motivierungen, die Gestaltung eines sozialistischen Lebensstils, das Wachrufen demokratischer Initiative, die Schaffung eines kollektiven Verstands usw. – alle diese Formen einer indirekten Leitung bedeuten zugleich eine Stärkung der Subjektivität der leitenden Komponenten, die den Bedingungen des Übergangs zur wissenschaftlich-technischen Revolution entspricht. Denn die zielbewußte Subjektivität der Gesellschaft ist keine fertige Voraussetzung, die seit langem nur darauf wartet, zur Geltung gebracht zu werden, sondern ein in Ausarbeitung begriffenes und immer wieder neu entstehendes Produkt, das nur aus der höchsten Entfaltung der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Formen der sozialistischen Gesellschaft hervortritt. Die Steuerung der modernen sozialistischen Gesellschaft gestaltet sich vor allem zu einem Problem schöpferischer Selbstregulierung. In verschiedenen Ländern sind die einzelnen Kennzeichen oder Strömungen der wissenschaftlich-technischen Revolution gewöhnlich in unterschiedliche Zeitabschnitte situiert. Die Analyse der ökonomischen Daten führt eine Reihe von Forschern zu der Ansicht, daß wir in den USA den Anfängen der wissenschaftlichtechnischen Revolution schon zwischen den beiden Weltkriegen im Zusammenhang mit Anzeichen intensiven Wachstums begegnen; die Daten über die Sozialstruktur lassen jedoch vielmehr auf einen späteren Beginn schließen. In den entwickelten europäischen Ländern können wir technischen und ökonomischen Indikatoren zufolge die Anfänge der wissenschaftlich-technischen Revolution erst in die 50er und 60er Jahre situieren. In der UdSSR machten sich manche vorbereitende Komponenten der wissenschaftlich-technischen Revolution – vor allem im Bereich der Wissenschaft – in den 50er Jahren bemerkbar, während das ökonomische Gesamtwachstum vorwiegend noch Industrialisierungscharakter hatte. So wäre der Allgemeinbeginn der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Welt in eine

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breite Zone um die Jahrhundertmitte von den 20er bis zu den 60er Jahren zu datieren. Ein weit rationaleres Ergebnis erhalten wir jedoch, wenn wir dem Prozeß nach dem vorgeschlagenen Modell der inneren Logik der wissenschaftlich-technischen Revolution folgen: in ihrer Entwicklung durchläuft sie nämlich eine Reihe von Vorstufen, vorbereitenden Phasen, Zeitabschnitten, in denen ihre Elemente sich im Gleichgewicht mit den Industrialisierungstrends befinden, Zeiten, in denen sie zu überwiegen beginnen und solche, in denen sie schließlich den Sieg davontragen. Zu den Vorstufen der wissenschaftlich-technischen Revolution gehört die große Revolution in der Wissenschaft, deren erste Signale von den schnell aufeinander folgenden Entdeckungen der wissenschaftlichen Forschung ausgingen, einer Forschung, die seit der Jahrhundertwende ein umwälzendes Potential auf dem Gebiet der Kernphysik, der Makromolekularchemie, der Kybernetik, der Biologie, Soziologie usw. anhäuft. Diese Reihe geht noch heute weiter, ist bei weitem nicht abgeschlossen, aber sie strebt immer deutlicher zu einer radikalen Umwandlung der Wissenschaft überhaupt, nicht nur in deren äußerer Wirkung, sondern ebenso – und in Verbindung damit – in ihrer inneren Konstitution, in der neuen Auffassung der Dialektik des Objekts und Subjekts, im Verhalten gegenüber der Wirklichkeit und der Wissenschaft selbst. Dieser Zeitabschnitt reicht jedoch weit in die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts zurück. In seinem Verlauf existieren die neuen Entdeckungen zunächst neben der traditionellen Industriebasis. Später finden sie nach und nach in die Produktion Eingang, bemächtigen sich mancher ihrer Methoden und Glieder, inzwischen jedoch noch nicht durch die qualitative Umwandlung der Produktionstechnik, sondern mehr durch Vermittlung bestimmter Elemente der Produktionsorganisation, gegebenenfalls durch Vermittlung eines beschleunigten Wachstums der Qualifikation der Kader außerhalb der unmittelbaren Produktion – war bei der Nutzbarmachung traditioneller technischer Prinzipien, der Mechanisierung und der beträchtlichen Zahl unqualifizierter Arbeitskräfte. Festen Boden unter den Füßen haben die Anfänge der wissenschaftlich-technischen Revolution allerdings erst dann, wenn sich die entscheidende Rolle der Wissenschaft in der Struktur der Produktivkräfte in den technischen Produktionsapparat, in die Zivilisationsbasis projiziert, wenn sich die wissenschaftliche Revolution mit der technischen verbindet und beginnt, das Anwachsen der Masse einfacher Arbeitender zu ersetzen, so daß die technologischen, Rohstoff- und Energieumwälzungen zusammen mit solchen in der Organisation und Bildung das Profil des ökonomischen Wachstums für die Dauer zum intensiven Modell umkehren. Nur dann darf man technische Umwälzungen für einen ständigen Prozeß halten, der die innere Logik der wissenschaftlich-technischen Revolution mit Möglichkeiten einer eigenen Fortsetzung eröffnet. In dieser Phase erhält die wissenschaftlich-technische Revolution den Charakter eines gesellschaftlichen Prozesses, aber zunächst beeinflußt sie nur das Wachstum der Ökonomik, erfaßt noch nicht die entscheidende Masse existierender Arbeit, verändert somit nicht die eigentliche industrielle Gesellschaftsstruktur, sondern läßt vielmehr neben und über diesen Elementen eine neue

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Struktur entstehen. In diesen Grenzen können die Anfangsphasen der wissenschaftlich-technischen Revolution unabhängig von der Gesellschaftsordnung verlaufen – es genügt ein günstiges Klima für Innovationen, mögen ihm welche Motive immer zugrundeliegen. Die Zeit von den fünfziger Jahren bis heute darf man mit Recht als die erwähnte Phase betrachten und sie als diejenige der Anfänge der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Welt bezeichnen. Es wäre jedoch unsinnig, zu erwarten, daß dieser Prozeß eindeutig, glatt, ohne Stockungen und Windungen ablaufen wird. Die wissenschaftlich-technische Revolution ist keine Angelegenheit einiger weniger Jahre. Sie stellt einen ungeheuren historischen Umwälzungsprozeß in Maßstäben von Jahrzehnten und in einem bestimmten Sinn auch von Jahrhunderten dar, einen Prozeß, den man nur mit den drei größten historischen Wendepunkten vergleichen kann, die die Menschheit auf ihrem Weg zunächst von der Barbarei zur Zivilisation, sodann zur Bodenkultur, zur landwirtschaftlichen Zivilisation und schließlich zum Industriesystem absolviert hat – und auch dieser Vergleich hält hier nicht stand, wenn wir das Wesen der sich abzeichnenden Wandlungen in Betracht ziehen. Wenn wir jeden wissenschaftlichen und technischen Fortschritt mit der wissenschaftlich-technischen Revolution verwechseln, kann es scheinen, daß dieser Prozeß überall – auch bei uns in der Tschechoslowakei – voll in Gang gekommen ist und daß man nur auf seine Resultate zu warten braucht. Die von uns durchgeführte Analyse bezeugt eindeutig, daß die Tschechoslowakei, ebenso wie eine Reihe anderer Industrieländer, sich heute in der Etappe des Suchens von Zugangsmöglichkeiten zur wissenschaftlich-technischen Revolution befinden und daß dies keine Angelegenheit einiger weniger Jahre, sondern eines ganzen Zeitabschnitts sein wird, dessen Dauer ohne tiefere Analyse nicht seriös zu bestimmen ist. Man kann überhaupt nur vor der vulgären Vorstellung warnen, die die wissenschaftlich-technische Revolution – diesen objektiven historischen Prozeß – als Kampagne auffaßt, die man binnen einer im Vorhinein bestimmten Frist absolvieren kann. Andererseits wäre es ein ebenso schicksalhafter Fehler, wenn sich die Kräfte des Landes nicht heute schon auf die langfristige, ausdauernde Suche nach sämtlichen Wegen konzentrieren würden, die es ermöglichen, das Land möglichst schnell und intensiv der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Welt einzugliedern. Es ist wahrscheinlich, daß die wissenschaftlich-technische Revolution in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten in den fortgeschrittensten Ländern eine alles beherrschende Dynamik entwickeln und auf diese Weise abermals in eine neue Etappe eintreten wird – sofern sie den günstigen gesellschaftlichen Boden vorfindet – während sie dort, wo es ihn nicht gibt, in heftigen Konflikt mit diesen Grenzen geraten muß. Um die Jahrhundertwende wird sich die moderne Automatentechnik offenbar der Mehrzahl der Produktionsvorgänge bemächtigen und einen bereits stark fühlbaren Teil operativer menschlicher Arbeit aus dem unmittelbaren Fertigungsprozeß ausschalten; kybernetische Einrichtungen werden den Großteil der geläufigen ausübenden Tätigkeit ersetzen; die Atomtechnik wird praktisch unbegrenzte Energiequellen mit sich bringen. Veränderungen dieser Art kommen jedoch

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schon einer grundlegenden Wandlung der Zivilisationsbasis des menschlichen Lebens gleich. Erst auf dieser Stufe ihrer Entwicklung werden die Umwandlungen in der Struktur und Dynamik der Produktivkräfte mit voller Kraft auf die Natur der Industriearbeit Einfluß nehmen und in diesem Zusammenhang unausweichlich die Frage einer adäquaten sozialen Struktur; einer sozialen Ordnung stellen. Von diesem Standpunkt aus ist die Periodisation der wissenschaftlich-technischen Revolution viel komplizierter und in gewisser Hinsicht verkehrt; ihre Voraussetzungen sind nämlich an die soziale Revolution gebunden, die seit dem Oktober 1917 verläuft, und ihre volle Entwicklung ist durch grundsätzliche soziale Umwandlungen bedingt, die bisher in einem bedeutenden Teil der Welt nicht vorhanden sind. Wenn wir uns nicht auf Spekulationen einlassen sollen, können wir inzwischen kaum abschätzen, welche Fristen diese entscheidende Etappe der wissenschaftlichtechnischen Revolution erfordern wird. Es ist jedoch fast sicher, daß bereits in ihrem Verlauf und alsbald in knapper Folge danach eine weitere Schicht und eine weitere Etappe auf den Plan treten wird, die mit den Akzelerationseffekten dieser Veränderungen auf die Entwicklung des Menschen und seiner Kräfte, mit der Umkehrung der Mehrzahl der stabilisierten Proportionen, Formen und Vorstellungen des zeitgenössischen Lebens zusammenhängen wird. Je mehr wir uns solchermaßen auf den künftigen eigentlichen Boden der wissenschaftlich-technischen Revolution begeben, desto vieldeutiger ist der Ausgang dieser Prozesse, desto mehr bisher unbekannte Varianten schließt er ein. Bisher ist die Frage, welchen Einfluß diese Etappen der Zivilisationswandlungen auf die Periodisierung der modernen Geschichte haben und haben werden, noch nicht befriedigend beantwortet worden. Nur so viel ist klar, daß die wissenschaftlich-technische Revolution zur elementaren Tatsache des Zivilisationsprozesses des zwanzigsten Jahrhunderts wird. Wir haben gesagt, daß die Entfaltung der Wissenschaft und Technik und der modernen Produktivkräfte eine ganze Skala sozialer Probleme eingeleitet hat, daß es ohne Wissenschaft und Technik die derzeitigen menschlichen Probleme nicht gäbe. Wir müssen nunmehr hinzufügen: es gäbe auch keine menschliche Lösung dieser Probleme. Nutzung und Auswertung der Wissenschaft und Technik auf Grund einer die gesamte Gesellschaft umfassenden Einheit, Entfaltung eines wirksamen Interesses aller am Produktivitätswachstum der gesellschaftlichen Arbeit, zielbewußter Einsatz moderner Technik, Schaffung, von Bedingungen dafür, daß alle menschlichen Fähigkeiten entstehen und zur Geltung kommen können – das sind die eigentlichen Reserven und einzigen Garantien eines Sieges neuer gesellschaftlicher Prinzipien unter den heutigen Zivilisationsbedingungen. Mit ihnen steht und fällt der Sozialismus und Kommunismus: alle müssen wissen, daß die neue Gesellschaft ohne die wissenschaftlich-technische Revolution unausweichlich untergehen müßte – ohne Rücksicht auf schöne Wünsche, festen Willen und die besten Absichten. Wenn der Charakter der Produktivkräfte bisher das ist, worin sich der Sozialismus und der Kapitalismus relativ am wenigsten unterscheiden, so verweisen die Perspektiven der wissenschaftlich-technischen Revolution darauf, daß gerade sie

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der Prozeß ist, in dem sich der Gegensatz zwischen den beiden Welten zuspitzen wird, um so oder so eine Lösung zu finden. Denn sie ist es, die die gesamtgesellschaftliche Einheit praktisch zu Wort kommen läßt, die den Fortschritt der Wissenschaft und die Entfaltung des Menschen als spezifische neue Zivilisationskräfte der sozialen Revolution ermöglicht. Und andererseits macht es erst dieses Niveau der Produktivkräfte des menschlichen Lebens möglich, neue Beziehungen zwischen den Menschen und eine neue Auffassung des menschlichen Lebens zu realer Geltung zu bringen. Wir stehen heute auf dem Boden der historisch entstandenen Industriezivilisation, aber zugleich beginnen wir ihre Grenzen zu verlassen und der unbekannten Zivilisation der Zukunft zuzustreben. Auf diesem komplizierten Scheideweg muß sich eine Bewegung, die die Welt für den Menschen umgestalten will, auf den oszillierenden Indikator der Wissenschaft und auf die Fähigkeit schöpferischen Denkens verlassen“.217 Der Richta-Report stellt eine hohe wissenschaftliche Analyse der wissenschaftlich-technischen Revolution dar. Das Stalinsche Industrialisierungsmodell schloß einen evolutionären Übergang der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft in die wissenschaftlich-technische Revolution aus.218 Die Grenzen des extensiven Wachstums waren in der ČSSR bereits 1958/59 erreicht. Die Sowjetunion, die DDR und alle anderen sozialistischen Länder blieben im extensiven Wachstum stecken. Ein intensives Wachstum war in den politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften nicht möglich. Dies führte zu „Rückständigkeit und Nachzüglertum“219 und damit war der Zusammenbruch aller sozialistischen Länder 1989/91 determiniert. Die wissenschaftlich-technische Revolution war nur in sich selbst regulierenden Systemen möglich, d. h. in Unternehmen der Marktwirtschaft. Nur offene und sich selbst regulierende und steuernde Einheiten sind für evolutionäre Übergänge geeignet. Auch dies wurde im RichtaReport klar erkannt.

217 Ebd., S. 14, 28 f., 31, 38, 46, 59, 62-65, 10 4, 106, 277 f. 218 Waldmann, Peter: Anpassung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 1. Bd., 1995, S. 161-165. 219 Richta-Report, S. 21.

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XVIII. Funktionsmechanismus und Regeln in der Marktwirtschaft. Politische Willkür als Regel in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft 1. Funktionsmechanismus und Regeln in der Marktwirtschaft Von Helmut Leipold Einige Schlaglichter zur aktuellen Kritik der Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft ist im jahrzehntelangen Wettstreit der Wirtschaftssysteme gegenüber den politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften sowohl in Deutschland als auch weltweit eindeutig als Gewinner hervorgegangen. Über den Ausgang des Wettstreits herrschte unter der Mehrheit der Ökonomen seit der Diskussion über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer rationalen Wirtschaftsrechnung ohne Märkte und Geldpreise in den 1920er Jahren weitgehend Übereinstimmung. Der Austausch und die Verteilung der Güter über Märkte in Verbindung mit dem Privateigentum und der Privatinitiative sind unerlässliche Vorbedingungen für selbstverantwortliches und unternehmerisches Verhalten und vor allem für elementare Menschenrechte wie z. B. Vertrags-, Berufs-, Gewerbe-, Reise-, Vereinigungs-, Eigentums-, Rede- und Konsumfreiheit. Eine staatlich und sozialistisch organisierte Planwirtschaft kann systeminhärent keinen Freiraum für diese Rechte und Freiheiten gewähren. Für ihre Funktionsweise bedarf sie konkreter Regeln in Form konkreter Ge- und Verbote, die von den zentralen Machtinstanzen willkürlich gesetzt und von untergeordneten Verwaltungsinstanzen kontrolliert und fallweise ausgelegt werden. Insofern war und ist die Konzeption der zentralen Planung in Verbindung mit dem Kollektiveigentum an Produktionsmitteln in arbeitsteiligen und digital vernetzten Großgesellschaften als geradezu archaisches gesellschaftliches Ordnungsmodell zu bewerten. Die grundlegenden Defizite werden in diesem Band am Beispiel der sozialistischen Planwirtschaft in der ehemaligen DDR aufgezeigt und überzeugend belegt. Diese Ordnungskonzeption hatte gegenüber freien, demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften von Anfang an keine Erfolgschancen. Umso mehr verwundert es, dass das marktwirtschaftliche Wirtschaftssystem in jüngster Zeit weltweit wieder zunehmend in Verruf geraten ist. Die Marktwirtschaft wird unter den Stichworten Neoliberalismus, Turbo- oder Finanzkapitalismus von Politikern sowohl linker als auch wertkonservativer Provenienz, von Intellektuellen und Kirchenvertretern und von einem breiten Teil der Bevölkerung als eigentlicher Sündenbock der aktuellen Finanz-, Währungs- und Staatsschuldenkrise ausgemacht. Schlaglichtartig formuliert, wird sie für die ungezügelte Profitgier der Manager, für die weltweit entfesselnde Macht der Finanz- und Gütermärkte, für die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, damit für die sich ausweitende Ungleichheit zwischen Reich und Arm und die zunehmende Erosion sozialer und ökologischer Standards verantwortlich gemacht.1 Obwohl 1

Zu geläufigen Kritikpunkten am Neoliberalismus: Butterwege, Christoph / Lösch, Bettina / Ptak, Ralf: Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl., Wiesbaden, 2008.

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diese Schuldzuweisung eine längere Tradition hat, überrascht doch ihre verbreitete Akzeptanz gerade in Deutschland. Denn hier erfreute sich der Ordoliberalismus als geistiger Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft in der Nachkriegszeit des Wirtschaftswunders einer breiten Wertschätzung in Politik und Gesellschaft. Wenn auch der Einfluss der ordnungspolitischen Prinzipien auf die praktische Wirtschafts- und Sozialpolitik seit Mitte der 1960er Jahre an Bedeutung verloren hat, behielt das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft dennoch einen hohen Akzeptanzwert. Der aktuell beobachtbare Meinungsumschwung lässt sich deshalb nur durch ein verzerrtes Verständnis des Neoliberalismus erklären, das ihn mit seiner angloamerikanischen Variante identifiziert.2 Als einflussreichster Repräsentant dieser Variante gelten Milton Friedmann und die weiteren Vertreter der Chicago-Schule. Deren neoliberales Programm lässt sich stichwortartig mit den wirtschaftspolitischen Postulaten der Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und Stabilisierung charakterisieren. Liberalisierung steht für den Abbau von Handelsschranken und den freien Verkehr und Austausch von Gütern und Kapital, Deregulierung für die Beseitigung von Marktzutrittsschranken und Sonderregelungen für spezifische Branchen, damit für die Öffnung von Märkten, Privatisierung für die Überführung öffentlich-staatlicher Unternehmen in Privateigentum und Stabilisierung für das Postulat eines stabilen Geldwertes durch die Geldpolitik und ausgeglichener Staatsbudgets durch die Begrenzung der Staatsverschuldung. Diese Postulate, die in den frühen 1980er Jahren in systematischer Form zuerst in den USA („Reagonomics“) und in Großbritannien („Thatcherismus“), danach dann in industriell aufstrebenden Ländern sowie in den sozialistischen Transformationsländern umgesetzt wurden, bildeten den Anstoß und zugleich das Leitbild für die rasante Entfaltung der weltweiten Verflechtung der Güter- und Kapitalmärkte. Die mit der Globalisierung verbundenen oder befürchteten wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Folgewirkungen mussten eine kritische Gegenbewegung auf den Plan rufen, die ihre Einwände und Forderungen mehr oder weniger lautstark in den Medien zum Ausdruck brachte. Der engere Kreis der Globalisierungskritiker blieb jedoch begrenzt. Mit dem Beginn der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise haben sich die Verhältnisse dramatisch verändert. Die aktuelle Kritik am Neoliberalismus nahm nahtlos die früher formulierten Kritikpunkte auf und versteht sich als Fortsetzung der Globalisierungskritik mit leicht modifizierten Argumenten. Auffallend ist die Gleichheit der Schlagworte, mit denen die Kritik vorgetragen wird. Hier wie dort ist die Rede vom Marktradikalismus, vom Turbo- oder Kasinokapitalismus, von der Abzockermentalität der Bankmanager, vom ruinösen Wettbewerb der Staaten und Standorte um Direktinvestitionen, wodurch der Abbau sozialer Leistungen, der Steuereinnahmen, der Löhne und der ökologischen Standards begünstigt, ja erzwungen werde und die 2

Zu den Unterschieden zwischen dem Neoliberalismus deutscher und angloamerikanischer Prägung: Renner, Andreas: Die zwei „Neoliberalismen“, in: Fragen nach der Freiheit, Heft 26, 2000, S. X. Leipold, Helmut: Kulturvergleichende Institutionenökonomik. Studien zur kulturellen, institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung, Stuttgart, 2006.

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Regierungen zum reinen Handlanger der Großkonzerne und der spekulativen Kapitalinteressen degenerierten. Schließlich ist die Rede von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und damit von deren zunehmender Amerikanisierung oder „Mc-Donaldisierung“. Auch wenn einige kritischen Argumente gegen die überzogene Deregulierung einzelner Märkte und Branchen akzeptabel erscheinen sucht man vergebens bei den Kritikern nach einer realistischen Reformalternative. Sie lässt sich stichwortartig auf die simple Forderung zurückführen „Weniger Markt - Mehr Staat!“. Bei dieser Forderung bleibt unklar, welche privat vereinbarten sozialen oder wirtschaftlichen Beziehungen erlaubt oder untersagt werden sollen und nach welchen Prinzipien und Regeln sie staatlich reguliert oder organisiert werden sollen. Dabei wird negiert, dass das eigentliche Problem nicht private Tauschbedingungen und deren Konditionen sondern vielmehr die dabei geltenden und praktizierten Regeln und Abhängigkeitsbedingungen für faire Austauschverhältnisse sind. Das Problem zwischen Markt und d. h. stets autonom vereinbarten Austauschbeziehungen und Staat, und d. h. stets verbindlich regulierten oder organisierten Beziehungen reduziert sich deshalb auf die Frage nach der Geltung, der Fairness und der Qualität der Regelgeltung und der Regelkontrolle. Für die Beantwortung dieser Frage ist eine Rückbesinnung auf die ordoliberale Theorie immer noch sehr aufschlussreich. Zur aktuellen Relevanz der ordnungspolitischen Prinzipien. Die Kernbotschaft der ordoliberalen Theorie lässt sich plakativ formuliert auf die Forderung reduzieren, dass Märkte eines verlässlich geltenden und gelebten Regelwerks bedürfen. Es gibt also nicht „die“ Marktwirtschaft, sondern verschiedene Varianten der Marktwirtschaft, die je nach der Beschaffenheit der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Spielregeln die Funktionsweise und die Ergebnisse des wirtschaftlichen Austauschhandelns bestimmen. Wie bei den verbreiteten Ball- oder Kartenspielen sind die Spielregeln und deren Einhaltung und Kontrollen auch in der Wirtschaft maßgeblich für Verlauf und die Ergebnisse des Wettstreits. Mit der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft haben deren geistige Väter eine eigenständige Konzeption für eine produktive und sozial gerechte Balance zwischen individueller Freiheit auf dem Markt und sozialem Ausgleich durch den Staat entwickelt, die sich als erfolgreiche und konsensfähige Ordnung erwiesen und bewährt hat. Bleibt abschließend zu fragen, welche Aufschlüsse die ordoliberalen Prinzipien sowohl für die Erklärung als auch die Überwindung der aktuellen Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise liefern können. Handelt es sich um eine überholte oder aber zeitgemäße Diagnose und Therapie? Auf den ersten Blick mögen viele die ordoliberale Ordnungstheorie als zeitbezogene, von den traumatischen Weimarer Erfahrungen geprägte Denkrichtung empfinden und bewerten.3. Dieser Eindruck ist jedoch voreilig und oberflächlich. Denn ungeachtet der nur aus den 3

Haselbach, Dieter: Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft: Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden Baden, 1991.

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Zeitumständen verständlichen Begrifflichkeiten hatten die geistigen Väter des Ordoliberalismus ähnliche, wenngleich sehr viel schwierigere Probleme im Blick, wie sie sich aktuell auf globaler Ebene stellen. Ihre tiefgründige Reflektion sowohl der Ursachen als auch der Wege zur Überwindung der Gesellschafts- und Wirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren bleibt deshalb lehrreich. Dazu gehört die Einsicht, dass Märkte und speziell global verflochtene Märkte kein sich automatisch selbstregulierendes System, sondern ein fragiles Gebilde sind, dessen Funktionsweise von der Qualität der moralischen und rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt. Wie die aktuellen Erfahrungen belegen, kann das überzogene kurzfristige Streben nach exzessiven Gewinnen und Einkommen und nach einer Abwälzung der Risiken auf anonyme dritte Personen, notfalls auf die Steuerzahler, nicht nur zum Zusammenbruch der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Ordnung führen. Deshalb sind die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft nicht müde geworden, das Gewissen dafür zu schärfen, dass Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Pflichtbewusstsein, Gemeinsinn und Bürgerengagement unentbehrliche Tugenden der wechselseitig vorteilhaften gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kooperation zu sein haben. In der aktuellen Krise ist die Rückbesinnung auf die von Eucken eingeforderte Mahnung geboten: „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen“.4 Gerade dieses elementare Postulat wurde im Banken- und Finanzsystem durch raffinierte Praktiken zunehmend ausgehebelt. Dadurch wurden Finanzpyramiden ohne ein solides Fundament aufgebaut, die sich mehr und mehr von der realwirtschaftlichen Entwicklung abkoppelten. Die den diversen neuen Finanzprodukten zugrunde liegende These, verbriefte Schulden seien für sich Werte, die man handeln könne und müsse, hat sich als Illusion erwiesen. Damit wird auch die einflussreiche These effizienter Finanzmärkte in Frage gestellt, dass in einer Welt rational handelnder Akteure alle Informationen bestmöglich genutzt werden und eine Regulierung überflüssig, ja unproduktiv sei. Gerade diesen rationalistischen Optimismus bezüglich der Effizienz und Selbstregulierung des Marktes bildete ein zentraler Kritikpunkt der neoliberalen Theoretiker deutscher Prägung. Diese konnten auf Grund ihrer eigenständigen Krisendiagnose auch nicht darauf vertrauen, dass die Marktakteure aus den Fehlentwicklungen ihre Lehre ziehen und man damit zur Tagesordnung übergehen könne. Staat dessen postulierten sie die Notwendigkeit einer staatlich zu ordnenden wettbewerblichen Marktwirtschaft. Die ungebrochene Relevanz der ordoliberalen Botschaft kommt in der „Berliner Rede“ des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler vom 24.3.2009 am klarsten zum Ausdruck. Seine Analyse der Krisenursachen fällt weitgehend dekkungsgleich mit der ordoliberalen Diagnose der Krise der frühen 1930er Jahren aus. Das gilt noch mehr für seine Botschaft zur Überwindung der aktuellen Krise. Weil sich das Vertrauen in die deregulierten Finanzmärkte sich nicht bewährt habe, kommt er zu der Schlussfolgerung: „Es braucht einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt und für ihre Durchsetzung sorgt. Denn Marktwirtschaft lebt vom Wettbewerb und von der Begrenzung wirtschaftlicher Macht. 4

Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen, 1952.

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Sie lebt von Verantwortung und persönlicher Haftung für das eigene Tun. […] Die Krise zeigt uns: Schrankenlose Freiheit birgt Zerstörung. Der Markt braucht Regeln und Moral“.5 Die neue Dimension der Herausforderung bestehe darin, dass die weltweit verflochtenen Märkte auch weltweit vereinbarte und interkulturell konsensfähige Regeln und geteilte Wertvorstellungen benötigten – womit er die aktuelle Hauptaufgabe für das ordnungsökonomische Forschungsprogramm skizzierte. Denn in der zunehmend vernetzten Weltwirtschaft konkurrieren verschiedene kulturelle und religiöse Wertegemeinschaften mit je eigenen Moralvorstellungen und es existieren keine „starken“ supranationalen Institutionen, die gemeinsam akzeptierte Regeln setzen und kontrollieren könnten. Daher ist für global vernetzte Märkte eine neue Balance zwischen der Freiheit auf dem Markt und dem sozialen Ausgleich gefordert. Dafür können die ordnungspolitischen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft nach wie vor eine richtungsweisende Kompassfunktion liefern. 2. Zur Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Sanktionssysteme: Auslese durch Sanierung und Insolvenzen Das Konkursrecht als ein Teil der westlichen Rechtstradition begleitete die „kommerzielle Revolution (950-1350)“.6 „In Wirklichkeit bot die neue Rechtswissenschaft des 11. und 12. Jahrhunderts einen Rahmen für die Institutionalisierung und Systematisierung der Handelsbeziehungen in Übereinstimmung mit neuen Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen. Ohne die neuen juristischen Einrichtungen wie den veräußerlichen Wechsel und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, ohne die Reform der veralteten Handelsgepflogenheiten der Vergangenheit, ohne Handelsgerichte und Handelsgesetzgebung hätten die anderen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse nach Veränderung keine Wirkungsmöglichkeit gehabt. Die kommerzielle Revolution trug also zur Entstehung des Handelsrechts bei, dieses aber auch zur kommerziellen Revolution. Es gab ja eine revolutionäre Veränderung nicht nur des Handels, sondern der ganzen Gesellschaft; in dieser Gesamtveränderung hatte das Handelsrecht, wie auch das Feudal- und das Gutsrecht, seine Ursprünge, und von ihr stammt, wie bei diesen, seine Prägung. Im späten 11., 12. und frühen 13. Jahrhundert erlangte das westliche Handelsrecht den Charakter eines integrierten Systems von Grundsätzen, Begriffen, Vorschriften und Verfahren. Die verschiedenen Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit den Handelsbeziehungen wurden bewußt aufgefaßt als Bestandteile eines ganzen Rechtskorpus, der lex mercatoria. In dieser Zeit wurde u. a. ein Konkursrecht entwickelt, das die Existenz eines hochentwickelten Systems des Handelskredits berücksichtigte; der Frachtbrief 5

Köhler, Horst: Der Markt braucht Regeln und Moral, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 71 vom 25.3.2009, S. 8.

6

Lopez, Robert S.: The Commercial Revolution of the Middle Ages, 950-1350, Englewood Cliffs, New York 1971, speziell Kap. 3.

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und andere Transportdokumente wurden entwickelt; […] Für das entwickelte System des Handelskredits, das im Westen im späten 11. und im 12. Jahrhundert geschaffen wurde, war ein Konkursrecht wesentlich, das einerseits die Sicherheitsinteressen der Kreditgeber berücksichtigte, andererseits aber für die Schuldner nicht ruinös war. Das germanische Recht war mit dem bankrotten Schuldner besonders hart umgegangen; die Gläubiger konnten ihm alles nehmen, was er hatte, sogar in seinem Hause wohnen, seine Diener in Anspruch nehmen und seine Vorräte aufzehren. Das römische Recht Justinians dagegen verfuhr mit dem bankrotten Schuldner sehr menschlich, schützte aber die Gläubiger nur schlecht. 7 Das westliche Konkursrecht vom 12. Jahrhundert an schlug einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen ein. Es ließ eine Haftungsbegrenzung der Schuldner zu und verlieh gleichzeitig den abgesicherten Gläubigern Vorrechte. Nach Levin Goldschmidt8 bildete das Konkursrecht dieser Zeit eine eigenständige und sehr einflußreiche9 Periode der europäischen Rechtsentwicklung“. „Die führenden italienischen Stadtrechte (13.-16. Jh.), die Ordonnance de commerce 1673, der Code de commerce von 1807 und zahlreiche ihnen nachgebildete Gesetze haben das Konkursrecht als Teil des Handelsrechts entwickelt“. Begriff und grundsätzliche Bedeutung des Konkurses. „Steht einmal fest, daß ein Schuldner seine Verbindlichkeiten nicht mehr erfüllen kann, dann fordert die Billigkeit, daß jeder Gläubiger zu seinem Teile den Verlust mittrage. Fortab darf weder die Willkür des Schuldners noch der Zufall des früheren Gläubigerzugriffes für die Schuldenbereinigung maßgebend sein. Vielmehr gilt es nun, die Haftung des Zahlungsunfähigen im Wege einer gemeinsamen und grundsätzlich gleichmäßigen Befriedigung aller seiner persönlichen Gläubiger zu verwirklichen, wäre es auch gegen den Willen des Schuldners. In einer Zwangsbefriedigung solcher Art liegt die Hauptaufgabe des Konkurses“.10 Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 trat die Reichskonkursordnung am 1.10.1879 in Kraft, die den Konkurs einheitlich für Kaufleute und Nichtkaufleute regelte.11 Die Reichskonkursordnung führte auch zu einer einheitlichen Statistik der Konkurse als Bestandteil der Reichsjustizstatistik.12

7

Der letzte römische Kaiser Justinian I. (482-565) auf dem oströmischen Kaiserthron hat als Leitlinie die römische Staatsidee mit dem Ziel der Restauration der ostgermanischen Mittelmeerreiche. 534: Überragende Leistung ist die Kodifikation des römischen Rechts unter Leitung von Tribonian (später „Corpus iuris civilis“) in lateinischer Sprache: Codex Iustinianus, Digesten bzw. Pandekten und Institutionen, ergänzt durch griechische Novellen.

8

Goldschmidt, Levin: Universalgeschichte des Handelsrechts, I, Stuttgart 1891, S. 306.

9

Berman, Harold J.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt am Main 1991, S. 530 f., 551, 555.

10 Jaeger, E.: Konkurs, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 5. Bd., Jena 1923, S. 833 f. 11 Ebd., S. 834. 12 Fluch, Kurt: Konkurs, in: Niklisch, H. (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 2. Aufl., 2. Bd., Stuttgart 1939, Sp. 595.

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Um 1960 fielen im Bundesgebiet und in Westberlin jährlich rund 5.000 Erwerbsunternehmen „dem wirtschaftlichen Ausleseprozeß zum Opfer“.13 Rinklin analysierte die vergleichsfähigen und die konkursreifen Unternehmungen und versuchte daraus eine Typologie notleidender Unternehmungen abzuleiten. „Als Fazit der Untersuchung kann festgehalten werden, daß Insolvenzen vor allem aus innerbetrieblichen Fehlern entstehen. Einflüsse aus dem zwischen- und überbetrieblichen Bereich können zwar insolvenzverursachend wirken, sind aber meistens verbunden mit größeren innerbetrieblichen Schwachstellen. Einer Insolvenz vorzubeugen ist daher primär Aufgabe der Betriebsführung. Überbetriebliche Stellen – Förderungsinstitutionen oder staatliche Instanzen – bieten zwei grundlegende Ansatzstellen zur Insolvenzprophylaxe: Einmal können sie auf die Unternehmer selbst einwirken, ihre Information und ihre Qualifikation zu verbessern, zum anderen, und das trifft vor allem für die staatlichen Stellen zu, müssen die politischen Einflüsse in ausgewogener Dosierung den Nährboden für eine gesunde Betriebsentwicklung schaffen“.14 Die Unternehmenszusammenbrüche wurden mehrheitlich durch ein Fehlverhalten der Betriebsführung verursacht, d. h. durch Führungsfehler.15 Unternehmenszusammenbrüche spielten bis zur ruckartigen Steigerung der Öl- und Rohstoffpreise bis 1973/74 in der ökonomischen Diskussion kaum Beachtung. Da 1974 auch die Löhne in der Industrie – in der Elektroindustrie um 18 % – und im öffentlichen Dienst gewaltig stiegen, wurden Wirtschaftswissenschaftler aufmerksam. Von 1973 bis 1975 erhöhte sich die Zahl der Insolvenzen sprunghaft um 73,8 v. H. auf 6.953. In Fachpublikationen, vor allem in der Wirtschaftspresse, wurden verstärkt die Grüne und die wirtschaftspolitischen Konsequenzen der Insolvenztätigkeit diskutiert. „Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland beruht auf dem Prinzip, durch Erhaltung der leistungsstärkeren und durch Ausscheiden der leistungsschwächeren Unternehmen eine optimale Form der Konsumentenversorgung anzustreben. Insolvenzen können […] über ihre selektierende Wirkung letztlich auch Ausdruck für die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft sein“.16 Die Sanktionsmechanismen, zu denen insbesondere der Wettbewerb zählt, erzwingen ein Handeln im gesamtwirtschaftlichen Interesse und sie stehen nicht zur Disposition von einzelnen Wirtschaftseinheiten.17

13 Rinklin, Theo Hansjörg: Die vergleichsfähige und die konkursreife Untersuchung. Versuch einer Typologie notleidender Unternehmungen, Stuttgart 1960. 14 Ebd., S. 232. 15 Ebd., S. 226. 16 Klein-Blenkers, F. (Hrsg.): Insolvenzursachen mittelständischer Betriebe, 3. Aufl., Informationen zur Mittelstandsforschung, 1976/16, S. 1. 17 Rohde, Carsten: Auslese durch Insolvenzen – Zur Funktionsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Sanktionssysteme –, Göttingen 1979, S. 1 ff. Stüdemann, Klaus: Konkurs und Vergleich, in: Grochla, Erwin / Wittmann, Waldemar (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 2190-2198.

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Das Sanktionssystem in der Marktwirtschaft. Wesentlicher (dezentralisierter und entpersonifizierter) Sanktionsmechanismus einer Marktwirtschaft ist der Wettbewerb: „[…] ein Ordnungsprinzip der gesellschaftlichen Produktion, das durch eine funktionsgerechte Selektion zu einer ständigen Verbesserung der Organisationsformen und der Produktionstechnik führt“.18 Objekt des Sanktionssystems ist die Unternehmung. „1976 wurde der ehemals zweitgrößte Registrierkassenhersteller der Welt, die Anker-Werke AG, Bielefeld, liquidiert. Grund: Eine Schuldenbelastung von 185 Mio. DM hatte alle Sanierungsbemühungen scheitern lassen. Ursache des Zusammenbruchs war die verfehlte Produktpolitik eines Managements, das die auf elektronische Kassenterminals gerichteten Signale des Marktes nicht erkannte. Noch 1966 war man bei Anker der Meinung, daß es falsch sei, anzunehmen, ‚die Mechanik würde durch die Elektronik verdrängt oder auch nur in ihrer Bedeutung gemindert‘. Während Konkurrenten (etwa die National Cash Register Company, NCR) den Trend zur Elektronik vollzogen und neue Anbieter (wie Singer, Nixdorf) in die ‚AnkerDomäne‘, das Registrier-Kassen-Geschäft, mit elektronischen Anlagen eindrangen, wurden in Bielefeld, von halbherzigen Versuchen abgesehen, weiter mechanische Geräte produziert. Konsequenz: sinkende Auftragsbestände, ein schrumpfender Gewinn, ein steigender Verschuldungsgrad und schließlich 1974 ein Bilanzverlust von 39,4 Mio. DM“.19 Untersuchungen zeigen, daß mangelnde Qualifikation der Geschäftsleitung eine der Hauptursachen von Insolvenzen ist. Die Liquidation als Auslese sogenannter Grenzanbieter. „In einer Wettbewerbswirtschaft wird die Liquidation von Unternehmen identifiziert mit einem Prozeß der ‚Reinigung‘ (‚Katharsis‘). Wenn der Wettbewerb funktioniert, so wird argumentiert, führt er zum Ausscheiden des ‚untüchtigen Wirtes‘. ‚Es wird durch ihn also eine stete Auslese der unbedacht und unzweckmäßig handelnden Unternehmer vorgenommen‘. In diesem Sinne wird man unter einem Auslese- oder Selektionsprozeß das Ausscheiden von ‚unfähigen‘ Unternehmen aus dem Markt verstehen dürfen. Damit wird die Auslese explizit als Folge eines unternehmerischen Fehlverhaltens angesehen, welches das Aktionspotential des Unternehmens übersteigt und auch nicht durch Fremdhilfe kompensiert wird. Der Selektionsprozeß setzt mithin dort an, wo eine Unternehmung subjektiv als nicht sanierungs18 Ottel, F.: Unternehmerische Grenzen des Marktes, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 33. Jg. (1963), S. 534. „Das Wesen des Marktes liegt darin, daß es sich hier um einen Prozeß handelt, in dessen Verlauf die Teilnehmer sich gegenseitig an ihren Handlungen orientieren […] Der Markt entscheidet über Erfolg und Mißerfolg und zwingt die Erfolglosen zur Revision ihrer Pläne. Dadurch wird der Marktprozeß zum Ausleseprozeß der jeweils Erfolgreichen“. Lachmann, L. M.: Marktwirtschaft und Modellkonstruktionen, in: Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. XVII, 1966, S. 274. 19 Morner, P.: Kassensturz längst überfällig, in: Manager-Magazin, 12 (1972), S. 27 ff. Die Ankerwerke AG ist nun doch pleite, in: Handelsblatt v. 27.9.1976. Im Anker-Konkurs ist keine Quote zu erwarten, in: Handelsblatt v. 8.10.1976. NCR sagt der Registrierkasse adieu, in: Handelsblatt v. 26.3.1976.

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würdig angesehen, ihr also die Sanierungsfähigkeit aberkannt wird. […] Die Sanierung notleidender Unternehmen ist eine weitere Konsequenz und zugleich Funktion des marktwirtschaftlichen Sanktionssystems“.20 Rohde, der die Insolvenzen analysierte, faßt zusammen: „Generell wird man die Sanierung von Unternehmen als Aufgabe der Privatwirtschaft ansehen müssen. Eine volkswirtschaftliche Sanierungswürdigkeit liegt nur dann vor, -

wenn erwartet werden kann, daß die gesamten Umwidmungskosten für alle freigesetzten Arbeitskräfte, vermindert um die Sanierungskosten des Staates, den zeitlich diskontierten Ertrag einer durch Faktorumwidmung in Zukunft erreichbaren Erhöhung der Grenzprodukte übersteigen.

-

wenn er Marktaustritt des notleidenden Unternehmens zu einer Erhöhung des Grades der Unternehmenskonzentration führen würde, der Wettbewerbsbeschränkungen erwarten läßt oder

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wenn im Interessenkonflikt zwischen allokativer und wettbewerbspolitischer Sanierungswürdigkeit die gesamtwirtschaftlichen Vorteile der Erreichung eines dieser Ziele den Preis im Sinne der Verletzung anderer Ziele mehr als kompensiert.

Eine weitere und abschließende Aufgabe des Sanktionssystems besteht in der Selektion jener Unternehmen, die zu einer Kompensation der Sanktionsimpulse nicht befähigt waren und die im Kalkül der Träger der Sanierungspolitik als nicht sanierungswürdig angesehen wurden. Dieser ‚Reinigungsprozeß‘, die Auslese von Grenzunternehmen, die mithin nicht die zentrale Aufgabe des Sanktionssystems, sondern nur eine von dreien, und sie ist nicht der Inhalt des Sanktionsprozesses, sondern nur dessen letzte Konsequenz. Gleichwohl hat die Selektion von Unternehmen eine besondere Bedeutung im Sanktionssystem. An ihr läßt sich nämlich zeigen, wieweit der Sanktionsprozeß seine Aufgabe, Grenzanbieter zu liquidieren, erfüllt und wieweit damit das gesamte System (noch) ‚funktioniert‘ oder (schon) ‚gestört‘ ist. Die Charakterisierung des Grenzunternehmens und die Überprüfung, ob die Insolvenzen in der Realität dieser Norm genügen oder von ihr abweichen, liefert die Antwort auf die einleitend gestellte Frage nach der Bedeutung steigender Insolvenzen in der Bundesrepublik Deutschland: Auslese oder Störung des Sanktionssystems?“21 Zybon weist auf die Sanierung als gesamtwirtschaftliches Problem hin.22 20 Rohde, Carsten: Auslese durch Insolvenzen, S. 67, 108 f. 21 Ebd., S. 199. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Die Praxis der Konkursabwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1978. 22 Kolbeck, Rosemarie: Finanzierung. III: Vorgänge, 6. Sanierung, in: HdWW, 3. Bd., 1988, S. 76-81. Emmerich, H.: Die Sanierung. Mannheim 1930. Schmalenbach, E.: Die Aktiengesellschaft. 7. A., Köln u. Opladen 1950. Hilker, W.: Die Sanierung des notleidenden Betriebes, Köln 1952. Schmitt, F. A. / Schmitt, F.: Rationelle Sanierung, Berlin 1955. Wobmann, W.: Unternehmenswirtschaftliche Betrachtungen zur Sanierung und zum Sanierungsgewinn. Diss., Bern 1957. Beckmann, L. / Pausenberger, E.: Gründungen, Umwandlungen, Fusionen,

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„Das Wohlergehen von Unternehmen ist auch gesamtwirtschaftlich von Belang. Nicht gelungene Sanierungen von ‚erkrankten‘ Unternehmen haben nicht nur einzelwirtschaftliche Schäden (Schuldner, Gläubiger) zur Folge, sondern in ihrer Gesamtheit auch gesamtwirtschaftliche Schäden. Ziffernmäßig erfassen lassen sich diese Schäden zum Teil anhand von Konkursen: jährlich ca. 4.-5.000 (für 1974 sogar 7.300) Fälle mit einer Schuldensumme von 1,2-2 Mrd. DM; da die Quote seit Jahren zwischen 4 und 7 % schwankt, ist die Schuldensumme fast identisch mit den Schäden. Hinzu kommen nicht gelungene Sanierungen mit freiwilligem Ausscheiden aus dem Wirtschaftsprozeß: allein 10.000 Handelsunternehmen scheiden jährlich aus; aus anderen Wirtschaftszweigen sind zuverlässige Zahlen nicht bekannt. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Sanierungen wird gelegentlich auch daran erkennbar, daß der Staat Bürgschaften übernimmt. Die Sanierungsbedürftigkeit äußert sich durchweg informell durch zwei Indikatoren: anhaltende Störung des finanziellen Gleichgewichts (Liquidität, betriebliche) und/oder Störung des Erfolgsniveaus (geringere als branchenübliche Gewinne; Pendeln um die Gewinnschwelle; Verluste). Offene und Stille Sanierung: Nur die wenigsten Fälle spielen sich in der Öffentlichkeit ab. Verursacht werden sie vor allem durch die bereits genannten Vorschriften im AktG und GmbHG. Spektakuläre Fälle von Sanierungen (etwa BWM 1958; Henschel und Krupp 1968) sind sehr selten. Die Nichtöffentlichkeit von Sanierungen (‚stille‘ Sanierung) ist weit häufiger anzutreffen; meistens begünstigt sie den Erfolg der Sanierungsbemühungen. Sanierungsursachen: Um eine Sanierung überhaupt zu ermöglichen, müssen die Ursachen der Sanierungsbedürftigkeit schonungslos erforscht werden, der höheren Objektivität wegen am besten durch Unternehmensfremde. Die Ursachen können interner und/oder externer Art sein. Man kann diese Ursachen auch als fehlerhafte betriebliche Strukturen verstehen. a) Unternehmensinterne Ursachen: Gründungsfehler (Standort; evtl. auch Rechtsform; Betriebsgröße); Fehlschätzungen von beschaffungs- und Absatzmöglichkeiten; Sortimentsgestaltung (Spezialisierung bzw. Diversifikation); fehlerhafte betriebliche Produktionsabläufe; fehlerhafte Absatzorganisation; Unterkapitalisierung; Fehlinvestitionen; Leitungsfehler. b) Unternehmensexterne Ursachen: Konkurse von Geschäftspartnern; unvorhersehbar rascher technischer Fortschritt; Nachfrageverschiebungen (Substitutionsgüter; Geschmacks- und Modewandel); (welt-)politische Bewegungen; Währungsumstellungen; Produktionsverbote bzw. -reglementierungen; steuerrechtliche und andere gesetzliche Einflüsse (etwa Umweltschutz); Konzentration bei Wettbewerbern. Sanierungen, Wiesbaden 1961. Pausenberger, E.: Die finanzielle Sanierung. In: Finanzierungshandbuch, hrsg. v. Janberg, H., Wiesbaden 1964. Bise, W.: Sanierung und Steuer. In: Steuerberaterjahrbuch 1964/65, Köln 1965. Linhardt, H.: Finanzierung und Sanierung, Herne und Berlin 1968.

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Sanierungsziele: Generelle Ziele sind gewöhnlich Wiedergewinnung des finanziellen Gleichgewichts und/oder Wiedererreichen der Gewinnzone. Partielle Ziele sind Beseitigung der Ursachen bzw. Bereinigung, Verbesserung der als fehlerhaft befundenen betrieblichen Strukturen. Auch teilweise Stilllegungen (Betriebsstilllegung) müssen in Betracht gezogen werden. Völlige Auflösung (Konkurs und Vergleich; Liquidation) ist zwar nicht auszuschließen, dürfte aber nur der Grenzfall sein“.23 Liquidation: „Der Begriff der Liquidation wurde im 17. Jh. in Deutschland aus dem italienischen Wort ‚liquidazione‘ übernommen. Im engeren Sinne bedeutet er in dieser Sprache noch heute Ausverkauf, im weiteren Sinne Auflösung. Betriebswirtschaftlich heißt Liquidation im allgemeinen Sprachgebrauch die Auflösung einer Unternehmung unter Zurückzahlung des Fremdkapitals und Auszahlung des übrigbleibenden Eigenkapitals an die Inhaber bzw. die Anfallberechtigten“.24 Die Abwicklung (Liquidation) war Teil des Ausleseprozesses in der Marktwirtschaft. „Die Abwicklung hat die Aufgabe, nach Auflösung einer Handelsgesellschaft die persönlichen und vermögensrechtlichen Bindungen der Gesellschafter zu lösen, um so die Vollbeendigung der Gesellschaft herbeizuführen. Abwicklung von Personengesellschaften. Die Abwicklung nach §§ 145 ff. HGB erfolgt lediglich im Interesse der Gesellschafter. Abwicklung von Kapitalgesellschaften: AG oder KGaA: Abwicklung findet nach Auflösung statt, wenn nicht Konkurs über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet ist (§§ 205-215 AktG)“.25 „Abwicklungsbilanz: Handelsrechtlich: Als Eröffnungsbilanz die Grundlage für die Tätigkeit der Abwickler und gleichzeitig der Ausgangspunkt für die nach Beendigung der Abwicklung zu erstellende Rechnung. Als Schlußbilanz soll sie die Vermögensverteilung vorbereiten“.26 In der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der SBZ / DDR spielte Geld keine Rolle bei der Steuerung der Wirtschaft. Dies zeigen die Fachausdrücke „Konkurs“, „Liquidation“, „Abwicklung“27 und „Sanierung“.

23 Zybon, Adolf: Sanierung, in: Grochla, Erwin / Wittmann, Waldemar (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 3495-3500. 24 Bellinger, Bernhard: Liquidation, in: Grochla, Erwin / Wittmann, Waldemar (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 2509. 25 Abwicklung (Liquidation), in: Dr. Gablers Wirtschafts-Lexikon, 1. Bd., 4. Aufl., Wiesbaden 1961, Sp. 65-67. 26 Ebd., 67 f. Le Coutre, W.: Konkursbilanzen, in: Niklisch, H. (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre, 3. Bd., Stuttgart 1927. 27 Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1978, S. 40 f.

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In der DDR war „fast nur noch der Nachlaß-Konkurs von praktischer Bedeutung, der bei überschuldetem Nachlaß Verstorbener oder für tot erklärter Bürger zulässig“.28 Die „Liquidität der sozialistischen Betriebe ist durch die Planung des volkswirtschaftlichen und betrieblichen Reproduktionsprozesses prinzipiell gesichert“.29 „Sanierung sind organisatorische und finanzielle Maßnahmen zur Wiederherstellung von Verhältnissen, die die Rentabilität kapitalistischer Unternehmen ermöglichen“.30 Die Aufgabe der Treuhandanstalt bestand im Privatisieren, Sanieren und Stillegen (Konkurs). Alle diese Maßnahmen gehörten zum marktwirtschaftlichen Sanktionssystem und waren in der langen Evolution seit der „kommerziellen Revolution“ (950-1350) geschaffen worden. Kein einziges marktwirtschaftliches Sanktionssystem ist speziell neu für die Treuhand geschaffen worden.31 In der SBZ / DDR existierte keine Auslese durch Sanierung und Insolvenzen. Da der Volkseigene Betrieb eine Bestandsgarantie besaß, egal wie er wirtschaftete, akkumulierten sich in der politisch natural gesteuerten Zentralplanwirtschaft die Risiken. Das Gesamtrisiko der Volkseigenen Betriebe wurde immer größer und führte letztlich zum Zusammenbruch 1989/90.

28 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 7, Leipzig 1973, S. 704. Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 250. 29 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 426 f. 30 Ökonomisches Lexikon Q-Z, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1980, S. 118. 31 Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990.

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3. Die sozialistische Zentralplanwirtschaft im realen Sozialismus wurde politisch natural gesteuert und war eine Wirtschaft ohne Theorie und Regeln Der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland „geht nicht darauf aus, den Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen, sondern nur in bestimmten Beziehungen. Der Pluralismus, aus der Sicht eines ganzheitlichen, geschlossenen Staatsideals anarchischer Verfall, erweist sich aus der Sicht individueller Freiheit als deren Lebensbedingung, als Ordnungsprinzip wider Willen. Die Rückkehr zur ganzheitlichen, geschlossenen Staatlichkeit, die der totalitäre Staat des 20. Jahrhunderts anstrebt, ist Rückfall in die Barbarei, Zerstörung der politischen Zivilisation von mehr als zwei Jahrtausenden. Nichtidentität des Staates mit Religion, Kultur, Wirtschaft. Der moderne Staat als solcher hat keine Religion. Seine verfassungsrechtliche Identität liegt nicht in der Religion, sondern in der Freiheit der Religion. Die Religion ist nicht das staatlich Allgemeine, sondern das Besondere der Gesellschaft, für den Staat aber, unter säkularem Aspekt, als soziales Faktum beachtlich. Ebensowenig wie eine Staatsreligion (Staatskirchen und Staatsreligionen) kann es in der freiheitlichen Verfassung eine Staatskultur und eine Staatswirtschaft geben, obwohl sich der Verfassungsstaat bewußt als Kulturstaat und als Sozialstaat versteht und nicht umhin kann, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu machen. Er setzt die kulturellen und wirtschaftlichen Potenzen voraus und respektiert ihre Freiheit als vorgegeben, wenn er im Rahmen seiner begrenzten Befugnisse anregt, fördert, rechtliche Rahmenbedingungen schafft und auch wenn er um des Gemeinwohls willen in das Marktgeschehen interveniert und dessen Resultate nach seinen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit korrigiert. Der Verfassungsstaat kann nur äußere Legalität erzwingen und nur vertretbare Leistungen rechtlich organisieren, nicht aber Intuition, Kreativität, Wagnis, Moralität, also die eigentlichen Lebenskräfte der Kultur und der Wirtschaft. Ihrer Eigengesetzlichkeit kann er sich auch nicht entziehen, wenn er selbst kulturelle Einrichtungen wie Schulen, Museen oder Wirtschaftsunternehmen wie Banken, Post, Bahn betreibt. So herrscht in der staatlichen Universität das Gesetz autonomer Wissenschaft. Der Staat respektiert ihre Freiheit und garantiert ihre organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen“.32 In der freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie ist die Wirtschaft grundsätzlich vom Staat getrennt, was sich in der Politik dieses Staates niederschlägt. „Die Verwirklichung des Gemeinwohls33 ist oberstes Ziel aller Politik, der Staat sein 32 Isensee, Josef: Staat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 5. Bd., 1995, Sp. 152 f. 33 Schwan, Alexander: Gemeinwohl aus politikwissenschaftlicher Sicht. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Bd. 2, Freiburg / Basel / Wien 1995, Sp. 895: Gemeinwohl – nach E. Fraenkels bereits klassisch gewordener Formulierung – erst die „Resultate“, die „sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den

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oberster Garant, der – auf Recht, Macht und Gewaltmonopol gestützt – als oberste Verklammerung der Gesellschaft (Staat und Gesellschaft) die irdische Wohlfahrt in der bestmöglichen Weise gewährleistet. Staatliche Macht muß einheitlich, umfassend, souverän sein, ist aber weder unbeschränkt noch absolut. Sie muß das Eigenleben des einzelnen und die nichtstaatlichen Lebensbereiche ebenso respektieren wie das Lebensrecht anderer Völker; sie muß schließlich offen sein für jene Ordnung, die über allen Staaten steht. Politik in einer pluralistischen Gesellschaft ist nur auf dem Boden des Rechts möglich“.34 Die Wirtschaftswissenschaften „sind die Disziplinen, deren Erkenntnis- und Erfahrungsobjekt das Phänomen der Wirtschaft ist, also die zweckrationale Überwindung der Güterknappheit“.35 Der Marxismus-Leninismus-Stalinismus „kehrt sich radikal von der republikanischen Tradition ab. Der Staat gilt ihm als a priori gemeinwohl-unfähig, weil er verfangen ist in dem unversöhnlichen Klassengegensatz; er ist Unterdrückungsinstrument der jeweils herrschenden Klasse, daher notwendig parteilich. Damit leugnet er eine Bedingung der Möglichkeit von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, zumal von Gleichheit vor dem Gesetz“.36 Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft war Teil des sozialistischen Staates. „Zu den wichtigsten Grundlagen, zum Inhalt und zu den Aufgaben der sozialistischen Staatsmacht zählen: die sozialistischen Produktionsverhältnisse und die sich entwickelnden Produktivkräfte der sozialistischen Gesellschaft; die Leitung der gesellschaftlichen, insbesondere der wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Entwicklung durch die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei“.37 Politik und Politische Ökonomie des sozialistischen Staates zeigen, daß die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft integraler Bestandteil des sozialistischen Staates war. Politik: „Organisierter Kampf der Klassen und ihrer Parteien sowie der Staaten, Pakte und Weltsysteme um die Durchsetzung ihrer Ziele. Dieser Kampf erfolgt auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens; im Mittelpunkt der Politik steht der Kampf um die Staatsmacht, um den Sturz der Macht der feindlichen Klassen bzw. um die Erhaltung und Festigung der eigenen Herrschaft. Teilnahme an Staatsangelegenheiten, Verwaltung des Staates, Bestimmung von Formen, Aufgaben und Inhalt der Tätigkeit des Staates. (Lenin)“.38 Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird“. 34 Meier, Hans / Vogel, Bernhard: Politik, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., 4. Bd., 1995, Sp. 437. 35 Grüske, Karl-Dieter / Recktenwald, Horst Claus (Hrsg.): Wörterbuch der Wirtschaft, 12. Aufl., Stuttgart 1995, S. 705. 36 Isensee, Josef: Staat, Sp. 142. 37 Staat: in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 13, Leipzig 1976, S. 86. 38 Politik, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1975, S. 49.

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Politische Ökonomie: Im weiteren Sinn die Wissenschaft „von Gesetzen der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der materiellen Güter auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft. Wissenschaft von den in einer bestimmten Produktionsweise wirkenden ökonomischen Gesetzen“. Die politische Ökonomie des Sozialismus „ist die Wissenschaft von den ökonomischen Gesetzen und der rationellsten Organisation der Produktion und des Austausches in der auf dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln und der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten beruhenden sozialistischen Gesellschaft“.39 Es existierte nie eine Theorie der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft. Die Willkür, im sozialistischen Fachjargon Subjektivismus40 und Voluntarismus41 war die Regel. „Im Sozialismus war alles möglich“, so Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission.42 4. Politische Willkür (Voluntarismus, Subjektivismus) als Regel in der politisch naturalen Steuerung der sozialistischen Zentralplanwirtschaft Anthony Downs führt „zum Begriff der Rationalität in der ökonomischen Theorie“ aus: „Die Wirtschaftstheoretiker haben Entscheidungen fast immer so betrachtet, als würden sie von vollkommen rationalen Individuen getroffen. Irgendeine solche Vereinfachung ist notwendig, wenn man Verhalten voraussagen will. Denn Entscheidungen, die willkürlich getroffen werden oder miteinander in keinerlei Beziehung stehen, bilden keine erfaßbare Ordnung. Aber nur dann, wenn menschliche Handlungsweisen irgendwelche Ordnungsmuster aufweisen, kann man überhaupt Vorhersagen über sie erhoffen oder ihre wechselseitigen Beziehungen analysieren. Daher müssen die Wirtschaftstheoretiker annehmen, daß irgendeine Strukturierung des Verhaltens stattfindet“.43 Damit wird ein Grundproblem bei der politisch naturalen sozialistischen Zentralplanwirtschaft angesprochen. Es gibt keine Kriterien für die politischen Entscheidungen (= Direktiven), sie sind willkürlich und bilden keine erfaßbare Ordnung. Was Günther Wagenlehner über die Politökonomen der Sowjetunion feststellt, gilt auch uneingeschränkt für die Politökonomen der SBZ/DDR: „Für die sowjetischen Wirtschaftstheoretiker sind die Grundlagen des Sowjetsystems unantastbar. Ihr äußerstes Zugeständnis ist die Kritik an einigen Erscheinungen in diesem System. Durch diese Grundeinstellung berauben sie sich der Möglichkeit, ih-

39 Ebd., S. 50. 40 Subjektivismus, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 13, Leipzig 1976, S. 293. 41 Voluntarismus, in: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1976, S. 610. 42 Wir waren die Rechner, immer verpönt. Gespräch mit Dr. Gerhard Schürer und Siegfried Wenzel, Berlin, 25.2.1993 und 21.5.1993, in: Pirker, Theo et al.: Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 67-120. 43 Downs, Anthony: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968, S. 4.

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re eigene Wirtschaftsform richtig zu beurteilen; aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, wenn sie nicht den Mythos der geschichtlichen Notwendigkeit des Sowjetsystems zerstören wollen. … Die Sowjets sind zu Gefangenen ihrer eigenen Vorstellungen geworden. Die sowjetische Wissenschaft ist in dem Glauben an den Sieg des Kommunismus verpflichtet, an dem nicht gerüttelt werden darf. Wenn man das voraussetzt, ist es nicht verwunderlich, daß die sowjetische Darstellung der sozialistischen Wirtschaftsform ein Konglomerat von Phrasen, Fälschungen und Irrtümern ist. Die sowjetische Wissenschaft soll (und kann) ihre Wirtschaftsform nicht kritisieren, sondern sie muß sie rechtfertigen“.44 Bereits Anfang der sechziger Jahre wies Karl C. Thalheim nach: „Die offizielle politökonomische Theorie behauptet zwar die Existenz des ‚Geistes der planmäßigen proportionalen Entwicklung’ der sozialistischen Wirtschaft; die Erfahrungen, die sowohl in der Sowjetunion als auch in der Sowjetzone gemacht worden sind, stehen jedoch zu dieser Behauptung in krassem Widerspruch“.45 Horst Ebel kritisierte Stalins „objektive ökonomische Gesetze“ des Sozialismus: „Er (Stalin) verzichtete auf den Beweis, die Objektivität war für ihn a priori vorhanden. Und weil diese da war, ergab sich daraus nicht nur die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus, sondern war die Formulierung dieser Grundgesetze zugleich die Zerschlagung der unwissenschaftlichen bürgerlichen Theorie“.46 Alle von Stalin erfundenen „ökonomischen Gesetze“ berühren nicht die eigentliche ökonomische Realität. Sie waren Fiktionen und Appelle der Parteiführung.47 Stalins „Gesetz der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft“48 ist nur in einer stationären Wirtschaft (Pareto, Barone), also in einer Wirtschaft ohne technischen Fortschritt möglich.49 Stalin und im Anschluß daran die „Politische Ökonomie des Sozialismus“ postulierten jedoch eine „höchstentwickelte Technik“, die jedoch das Gleichgewicht immer wieder stört (Schumpeter). Der Träger des technischen Fortschritts, der Unternehmer, war von der KPD/SED als Klassenfeind liquidiert worden. Die „höchstentwickelte Technik“ war ein Produkt der Parteitagsbeschlüsse der SED.50 „Wenn die sozialistische Zentralplanwirtschaft eine höhere Produktivität als der Kapitalismus haben wollte, dann mußte in den Parteitagsbeschlüssen, in den sozialistischen Zentralplänen mehr Sachverstand zentral

44 Wagenlehner, Günther: Das sowjetische Wirtschaftssystem und Karl Marx, Köln, Berlin 1960, S. 9 f. 45 Thalheim, Karl C.: Die Wirtschaft der Sowjetzone in Krise und Umbau, Berlin 1964, S. 21. 46 Ebel, Horst: Abrechnung – Das Scheitern der ökonomischen Theorie und Praxis des „realen Sozialismus“, Berlin 1990, S. 77. 47 Ebd., S. 77. 48 Stalin, Josef W.: Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, S. 1016. 49 Schneider, Jürgen: „Marxistisch-leninistische Wirtschaftswissenschaften“ nach sowjetischem Modell an den Hochschulen der SBZ / DDR, S. 250. 50 Ebel, Horst: Abrechnung – Das Scheitern der ökonomischen Theorie und Praxis des „realen Sozialismus“, S. 84.

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vorhanden sein als die Millionen Unternehmer in der Marktwirtschaft hatten. Das Politbüro der SED hätte eine permanente Offenbarung haben müssen, eine irreale Vorstellung“.51 Ebel betont zu Recht, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der sozialistischen Zentralplanung ein Störfaktor ist.52 Der russische Dissident Michael S. Voslensky nennt das von Stalin formulierte „ökonomische Grundgesetz des Sozialismus“ die „phantastischste Behauptung in der offiziellen Politökonomie des realen Sozialismus.53 Nach seiner Auffassung besteht das wahre Grundgesetz des Realsozialismus im Bestreben der herrschenden Nomenklaturaklasse, durch wirtschaftliche Maßnahmen die maximale Sicherung und Verbreitung ihrer Macht zu garantieren“.54 Die Verstaatlichung der Produktionsmittel bedeutete, daß die Nomenklatura der SED dem Arbeiter den „Mehrwert“ zur eigenen Herrschaftsausübung entzog. Im Herbst 1989 bildete das Politbüro der SED eine Kommission, „die die Ursachen und die persönlichen Verantwortlichkeiten für die gegenwärtige ökonomische Situation in der DDR untersucht“.55 Der Bericht der Kontrollkommission vom 21. November 1989 führte u. a. aus: „Seit Beginn der 70er Jahre hat die DDR über ihre Verhältnisse gelebt. […] Den Beschlüssen des IX. Parteitages wurden nicht realisierbare Zielstellungen und Wunschträume zugrunde gelegt. Dies führte zu sozialpolitischen Maßnahmen, die nicht durch eigene wirtschaftliche Leistungen erwirtschaftet waren. […] Im Ergebnis der groben Verletzung der ökonomischen Gesetze wurde die Struktur- und Verschuldungspolitik nicht mehr beherrscht. […] Alle wesentlichen ökonomischen Gleichgewichte der Wirtschaft wurden durcheinander gebracht“.56 Der Bericht spricht von „subjektivistischen Entscheidungen in der Investitionspolitik, die in der Endkonsequenz zu weiteren Disproportionen im gesamtvolkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß führten“,57

51 Schneider, Jürgen: „Marxistisch-leninistische Wirtschaftswissenschaften“ nach sowjetischem Modell an den Hochschulen der SBZ / DDR, S. 250 f. 52 Ebel, Horst: Abrechnung – Das Scheitern der ökonomischen Theorie und Praxis des „realen Sozialismus“, S. 84. 53 Michael S. Voslensky, Nomenklatura, S. 242 f.: „Als phantastischste Behauptung in der offiziellen ‚Politökonomie des Sozialismus‘ kann das von Stalin formulierte ‚Ökonomische Grundgesetz des Sozialismus‘ angesehen werden. Es besteht angeblich in der ‚Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch ununterbrochenes Wachstum und stetige Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchstentwickelten Technik‘. – Nun ist es allgemein bekannt: Eben dort, wo der Realsozialismus gesiegt hat, sinkt die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, und zwar je radikaler der Sieg, desto tiefer ist der Fall. Die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft ist mit Sicherheit nicht das ökonomische Grundgesetz des Realsozialismus“. 54 Schneider, Gernot: Wirtschaftswunder DDR. Anspruch und Realität, Köln 1988, S. 46. 55 Janson, Carl-Heinz: Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, Düsseldorf, Wien, New York 1991, S. 256. 56 Ebd., S. 256, 259. 57 Ebd., S. 257.

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vom „praktizierten Voluntarismus“58 und vom „ausgeklügelten System der Schönfärberei von Berichten, Analysen und Veröffentlichungen in den Medien“.59 Nach kommunistischem Brauch wurde die „Hauptschuld- und -verantwortung“ auf Personen, Erich Honecker und Günter Mittag, abgewälzt“.60 CarlHeinz Janson sieht den Mangel des Berichtes darin, „daß er nicht zu den tieferen Ursachen vorstößt, nämlich zur Auseinandersetzung mit der stalinistischen Verzerrung des Wirtschaftssystems, und daß er nicht aufdeckt, wie die subjektiven Mängel der führenden Genossen durch dieses System ihre verhängnisvolle Wirkung entfalten konnten“.61 „Der Bericht der Kontrollkommission zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die Verfasser des Berichtes gläubige Kommunisten/Sozialisten waren und daß der Glaube an ‚objektive Gesetze des Sozialismus’ von der SBZ/DDR bis zum Kollaps der DDR (1989) anhielt“.62 1990 richtete Ulrich Sommerfeld eine Zuschrift an die Zeitschrift „Wirtschaftswissenschaft“: „Objektive Prozesse und Erfordernisse haben sich als stärker erwiesen als subjektive Vorstellungen und subjektives Wollen. Der Versuch, spezielle sozialistische Gesetze und Gesetzmäßigkeiten zu formulieren, führte in eine Sackgasse“.63 Die Generallinie der ökonomischen Politik der SED-Führung war ein „theorieloser Zickzack-Kurs“.64 Die güterwirtschaftlich gelenkte sozialistische Zentralplanwirtschaft der DDR war theorielos, hatte kein Ordnungssystem und führte zu willkürlichen Entscheidungen. Zu der Entwicklung in Sowjet-Rußland – deren Grundlagen von den sozialistischen Ländern übernommen wurden – stellt Georg Halm bereits 1929 fest: „[…] daß die Mißerfolge in Sowjet-Rußland viel weniger auf Fehler in der Diktatur der proletarischen Minderheit zurückzuführen sind, als auf die prinzipielle Systemlosigkeit der sozialistischen Wirtschaft“.65 Der Erfinder der „ökonomischen Gesetze des Sozialismus“, J. W. Stalin, wurde nach 1956 nicht mehr zitiert. Die Gesetze jedoch wurden auf allen Parteitagen und in allen sozialistischen Lehrbüchern weiter propagiert. Der tiefe sozialistischkommunistische Glaube an die „ökonomischen Gesetze“ hielt von Ulbricht über Honecker bis zum Ende der DDR ungebrochen an. Walter Ulbricht brachte es fer-

58 Ebd., S. 260. 59 Ebd., S. 261. 60 Ebd., S. 261. 61 Ebd., S. 262. 62 Schneider, Jürgen: „Marxistisch-leninistische Wirtschaftswissenschaften“ nach sowjetischem Modell an den Hochschulen der SBZ / DDR. Legitimation und Propaganda für die Parteitage der SED, S. 214-265 (229). 63 Sommerfeld, Ulrich: Weltwirtschaftliche Transformation und gesamteuropäische Kooperation, in: Wirtschaftswissenschaft, 38, 1990, S. 1670. 64 Schneider, Jürgen: „Marxistisch-leninistische Wirtschaftswissenschaften“ nach sowjetischem Modell an den Hochschulen der SBZ / DDR, S. 257. 65 Halm, Georg: Ist der Sozialismus wirtschaftlich möglich?, Berlin 1929, S. 41.

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tig, im Vorwort zur „Politischen Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“ (Berlin-Ost, 1969) auf 13 Seiten 44-mal die „ökonomischen Gesetze des Sozialismus“ zu erwähnen. Gleichzeitig gibt Ulbricht zu, daß das ökonomische Grundgesetz noch nicht aufgedeckt werden konnte. „Wir, die wir von Marx’, Engels’ und Lenins Erkenntnissen sowie von den Erfahrungen der Sowjetunion ausgehend diese Revolution vollzogen haben und die neue, sozialistische Gesellschaftsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik errichten, stehen nicht nur vor der Aufgabe, das ökonomische Bewegungsgesetz des Sozialismus, das heißt das ökonomische Grundgesetz, unter den Bedingungen der DDR aufzudecken, zu analysieren und seinen Bewegungsmechanismus zu beherrschen, und zwar unter Ausnutzung der Erfahrungen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder“. 66 In der Richtlinie für die Reform der Wirtschaftslenkung in der DDR 1963 hieß es: „Bislang gibt es keinen wissenschaftlich begründeten Perspektivplan. … Die bisherige Art und Weise der Planung und Leitung unserer Volkswirtschaft sichert ungenügend den erforderlichen Nutzeffekt der Wirtschaftstätigkeit als der entscheidenden Voraussetzung einer schnellen und proportionalen Entwicklung der Produktivkräfte. Sie ist nicht mehr für die Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus geeignet, führt zu Reibungsverlusten und Verletzungen der ökonomischen Gesetze und bremst damit unsere ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung. … Die Schwächen des bisherigen Systems der Planung und Leitung führten zu einem fehlerhaften Kreislauf“. 67 Fritz Behrens,68 der wegen seiner Auffassungen von Walter Ulbricht auf der Babelsberger Konferenz (April 1958) angegriffen wurde, formuliert: „[…] Ein ob-

66 Ulbricht, Walter (Hrsg.): Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR, Berlin (-Ost) 1969, S. 6. 67 „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“, (Beschluß des Präsidiums des Ministerrates) vom 11. Juli 1963, in: GBl. der DDR, II, Nr. 64, S. 453-498, hier Anlage 1, S. 482/483. In: Gutmann, Gernot: In der Wirtschaftsordnung der DDR angelegte Blockaden und Effizienzhindernisse für die Prozesse der Modernisierung, des Strukturwandels und des Wirtschaftswachstums. In: Kuhrt, Eberhard et. al. (Hrsg.), Die Endzeit der DDR-Wirtschaft – Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Opladen 1999, S. 182, 183. 68 Mollnau, Karl A.: Normdurchsetzung in der SBZ/DDR (1945-1958). Beschlußchronik der KPD/SED-Führungszentrale nebst kommentierter Auswahlbibliographie, in: Heinz Mohnhaupt, Hans-Andreas Schönfeldt (Hrsg.): Sowjetische Besatzungszone in Deutschland – Deutsche Demokratische Republik (1945-1960), Frankfurt a. Main 1997, S. 365. 16. Juni 1957: „Der Wirtschaftswissenschaftler Fritz Behrens und zwei seiner Mitarbeiter werden von der Zentralen Parteikontrollkommission mit Parteistrafen wegen Revisionismus und mangelnder Wachsamkeit belegt. Behrens wird besonders zur Last gelegt, daß er einen seiner Assistenten zu Prof. Fritz Baade nach Kiel geschickt habe, ‚um die Quellen zu ermitteln, aus denen Prof. Baade die von ihm angegebenen 72 Milliarden Reparationsleistungen der DDR errechnet hat‘. Behrens ist von seinen Funktionen in der Akademie der Wissenschaften und als Leiter des Staatlichen Zentralamtes für Statistik sofort zu entbinden“.

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jektives Gesetz der planmäßigen Entwicklung der Wirtschaft existiert so wenig wie ein objektives Gesetz ihrer proportionalen Entwicklung“.69 Bei den „ökonomischen Gesetzen“ des Sozialismus handelt es sich um ideologisch verbrämte Gemeinplätze, um Leersätze. Karl R. Popper kritisierte in seinem Werk die Hegelsche Dialektik, auf der der historische und der dialektische Materialismus aufbauten. Die Theorien von Hegel und Marx seien von Grund auf falsch.70 Marx’ Denken führe in eine „geschlossene Gesellschaft“. Diese sei dadurch gekennzeichnet, daß sie sozusagen am Reißbrett von „kommunistischen Funktionären“ geplant werde, die sich im Besitz angeblich „wissenschaftlicher Erkenntnisse über die objektiven Interessen“ der Unterworfenen glaubten. Die „geschlossene Gesellschaft“ sei also eine totalitäre Diktatur. In seiner Schrift „Das Elend des Historizismus“71 kritisierte Popper die Vorstellung des historischen Materialismus, daß Geschichte zielgerichtet verlaufe, daß bestimmte Muster in ihr durch bestimmte darauf folgende Muster begründet würden, daß die vermeintlich „objektive Erkenntnis“ dieser Grundmuster Prognosen des Geschichtsverlaufs und normative Aussagen darüber erlaube, wie er zu beeinflussen sei. Insgesamt sei der historische und dialektische Materialismus aber keineswegs wissenschaftlich, da er nicht falsifizierbar sei. In einem Abschnitt „Die Wissenschaft und die Zukunft“ führt von Mises aus: „Die Voraussage, deren die Nationalökonomie fähig ist, bezieht sich auf die Wirkungen künftigen Handelns. Sie kann nichts darüber sagen, wie gehandelt werden wird. Über die Zukunft der Gesellschaft und der menschlichen Kultur und über den Gang der künftigen Ereignisse können wir durch praxeologische und nationalökonomische Erkenntnis nicht unterrichtet werden. Keine Wissenschaft kann die Frage beantworten, ob wir am Anfange neuer ungeahnter Kulturfortschritte stehen oder am Anfange eines Rückfalls in die Barbarei. Wissenschaftliche Voraussicht ist eben nicht Prophetie. Voraussagen ist nicht Wahrsagen. Dieser Tatbestand mag manchen enttäuschen und ihn die Bedeutung der praxeologischen und nationalökonomischen Erkenntnis geringschätzen lassen. Doch der Mensch hat sich damit abzufinden, dass dem Denken und Forschen seines Geistes Schranken gezogen sind. Was die Zukunft birgt, wird uns immer unbekannt bleiben. Es kann gar nicht anders sein. Denn wüssten wir im Voraus, was die Zukunft unabänderlich bringt, dann könnten wir nicht mehr handeln“.72 Auch Georg Halm stellt fest: „Was in Zukunft wirtschaftlich möglich sein wird, kann niemand voraussehen“.73

69 Behrens, Fritz: Abschied von der sozialen Utopie, Berlin 1992, S. 138 f. 70 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Falsche Propheten Hegel, Marx und die Folgen, 8. Aufl. Tübingen 2003. 71 Popper, Karl R.: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1957. 72 Mises, Ludwig von: Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Genf 1940, S, 750. 73 Halm, Georg: Ist der Sozialismus wirtschaftlich möglich?, S. 45.

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Im klaren Gegensatz zum sozialistisch-kommunistischen Glauben der SEDFunktionäre an die „ökonomischen Gesetze“ und dem unabdingbaren, zwangsläufigen Eintritt der als „Gesetz“ formulierten Thesen, Zielvorstellungen und Appelle, entwickelte Friedrich August von Hayek eine Theorie der kulturellen Evolution. Nach von Hayek sind die Regeln, auf denen das menschliche Handeln und Zusammenleben beruht, in einem evolutorischen „trial and error“ Prozeß geformt worden, den von Hayek in seiner Theorie der kulturellen Evolution darlegt.74 Für Hayek ist die kulturelle Evolution ein Prozeß unablässiger Anpassung an unvorhersehbare Ereignisse, an zufällige Umstände, die nicht vorhergesagt werden können.75 „Insofern ist es wichtig, von Anfang an eine Vorstellung zu vermeiden, die sich aus der ‚verhängnisvollen Anmaßung’ […] ergibt: nämlich den Gedanken, die Fähigkeit zur Erwerbung von Fertigkeiten leite sich aus der Vernunft her. Es ist vielmehr umgekehrt: Unsere Vernunft ist ebenso sehr das Ergebnis eines evolutorischen Ausleseprozesses wie unsere Moral“.76 so Hayek. So kennt die biologische Evolutionstheorie ebenso wenig wie die kulturelle Evolutionstheorie so etwas wie „Gesetze der Evolution“ oder „zwangsläufige Gesetze historischer Entwicklung“ im Sinne von Gesetzen, die für Stufen oder Phasen gelten, welche die Produkte der Evolution notwendigerweise durchmessen müssen, und die die Vorhersage zukünftiger Entwicklungen ermöglichen. Jene Philosophen, die wie Marx und Auguste Comte behaupten, daß Forschungen Entwicklungsgesetze aufdecken können, die die Vorhersage unumgänglicher zukünftiger Entwicklungen ermöglichen, irren.77 „Was die Sozialisten fordern, sind nicht moralische Schlußfolgerungen aus den Traditionen, aus denen die erweiterte Ordnung entstand, welche erst den Zivilisationsprozeß möglich machte. Im Gegenteil, sie bemühen sich, diese Traditionen durch ein rational geplantes Moralsystem zu ersetzen. […] Sie nehmen an, daß die Menschen, die im Stande gewesen waren, irgendein System von Regeln zur Koordination ihrer Bemühungen hervorzubringen, auch im Stande sein müssen, ein noch besseres und befriedigenderes System zu entwerfen“.78 Von Hayek stellt sich gegen die Annahme eines allwissenden ökonomischen Menschen. Für ihn sind Menschen zielbewußte, allerdings unvollkommene Akteure mit begrenzter Informationsverarbeitungskapazität, die Fehler machen und 74 Hayek, Friedrich A. von: Individualism and Economic Order, London 1948. (deutsch): Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Salzburg, 2. Aufl. 1976. Ders.: The Constitution of Liberty, London 1960. (deutsch) Die Verfassung der Freiheit, Tübingen, 3. Aufl. 1991. 75 Hayek, Friedrich A. von: Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen 1996, S. 23. 76 Ebd., S. 18. 77 Ebd., S. 23. 78 Ebd., S. 3 f. In dem Zusammenhang formuliert von Hayek: „Die kollektivistische Wirtschaftsplanung, von der man früher gewöhnlich annahm, sie erfordere die Nationalisierung der Mittel der ‚Produktion, Verteilung und des Tausches’, führt unweigerlich zu totalitärer Tyrannei“. Hayek, Friedrich A. von: Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus, Tübingen 1977, S. 46.

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lernen können. Von Hayek wendet sich sowohl gegen die „Annahme eines streng rationalen Verhaltens“ bzw. gegen die Annahme eines allwissenden Akteurs als auch gegen die Annahme des notwendigerweise wohltätigen und gutmütigen Menschen.79 Den „Sozialingenieuren“, die eine Gesellschaft auf dem Reißbrett entwerfen wollen, warf von Hayek die „Anmaßung von Wissen“ vor. Damit grenzt sich von Hayek – wie auch von Mises – vom kollektivistischen Menschenbild ab. Für die Funktionsfähigkeit des evolutorischen Prozesses ist nicht entscheidend, daß der experimentelle Input ungeplant ist, sondern daß diese Inputs sich im Wettbewerbsprozeß bewähren müssen. 80 Eine solche Bewährung ist u. a. gegeben, wenn „die Leute einer Ausbeutung dadurch entkommen können, daß sie mit den Füßen abstimmen“.81 Inwieweit die positiven Eigenschaften eines evolutorischen Wettbewerbsprozesses genutzt werden können, hängt von Hayek zufolge im Wesentlichen davon ab, ob neben der Geistes- bzw. Meinungsfreiheit insbesondere die Handlungsfreiheit der Menschen garantiert wird. Die Individuen müssen in der Lage sein, ihre eigenen Ziele erreichen zu können.82 Von Hayeks eigentliche Hauptthese lautet: Selbst unter der Annahme, daß eine Gruppe von Fachleuten, die mit den besten Computern ausgestattet ist, in der Lage wäre, das beste verfügbare wissenschaftliche Wissen und die Informationen zu sammeln und zu verarbeiten, würde das wirtschaftliche Problem – die Verwertung des praktischen Wissens – in einer Planwirtschaft nicht gelöst.83 Das ökonomische Kalkül, d. h. die Verwertung dezentralen Wissens in der Gesellschaft kann – so von Hayek – nur durch das Preissystem gelöst werden.84 Das Preissystem vollbringt eine Koordinationsleistung, die kein anderer Mechanismus erbringen kann. Der Markt und der Preismechanismus sorgen als „Entdeckungsverfahren“85 permanent für Innovationen und Informationsverarbeitung. Mit von Hayeks Worten ausgedrückt ist es ein „Mechanismus zur Vermittlung von Informationen“,86 der eine unglaubliche Wirtschaftlichkeit im Hinblick auf die Ausnützung von Wissen aufweist. In der güterwirtschaftlich gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR wurde der Wettbewerb ausgeschaltet; damit fehlt auch die Funktion des

79 Hayek, Friedrich A. von: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1948/2. Aufl. 1976, S. 22 f. und Holl, Christopher: Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen. Von Hayeks Institutionenökonomik und deren Weiterentwicklung, Tübingen 2004, S. 69 f. 80 Holl, Christopher: Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen, S. 104. 81 Hayek, Friedrich A. von: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1948/2. Aufl. 1976, S. 32. 82 Hayek, Friedrich A. von: Liberalismus, Tübingen 1979, S. 43. 83 Hayek, Friedrich A. von: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, S. 106 f. 84 Ebd., S. 111. 85 Hayek, Friedrich A. von: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kieler Vorträge, Neue Folge 56, Kiel 1968. 86 Hayek, Friedrich A. von: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, S. 115.

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Wettbewerbes als Entdeckungs- und Koordinationsverfahren von Informationen und Wissen. Ohne die „Anziehungskraft des Gewinnes“ – ohne eine entsprechende Ausgestaltung von Verfügungsrechten – kommt es in einer sozialistischen Wirtschaft kaum zu riskanten Unternehmungen und damit auch kaum zur Generierung neuen Wissens.87 Der Kern von Voluntarismus und Subjektivismus sind die objektiven Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft und auf diesen erkannten Gesetzmäßigkeiten gründet das wissenschaftliche Handeln der marxistisch-leninistischen Parteien.88 „Unter Gesetzmäßigkeiten ist der Ablauf von Prozessen bzw. Zuständen gemäß den ihnen innewohnenden Gesetzen zu verstehen. Die Gesetzmäßigkeit umfaßt eine Gesamtheit von Gesetzen, die im Wirken der Gesetze nicht immer offen zutage treten. Unter dem objektiven Charakter eines Gesetzes versteht man seine Existenz und Wirkung unabhängig vom Bewußtsein, vom Willen und den Wünschen der Menschen. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Wissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis geht der philosophische Materialismus davon aus, daß die Dinge und Erscheinungen der Wirklichkeit nicht nur in einem materiellen, sondern auch in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehen. … Die Möglichkeit der Ausnutzung und Beherrschung der objektiven gesellschaftlichen Gesetze im Interesse der Menschen ist deshalb nicht nur eine Frage ihrer richtigen Erkenntnis, sondern auch der Schaffung entsprechender objektiver gesellschaftlicher Verhältnisse, sozialistischer und kommunistischer Verhältnisse“.89 Sozialismus und Kommunismus folgen dem Kapitalismus. Sie sind „die beiden Entwicklungsphasen oder qualitativen Entwicklungsstufen der einheitlichen kommunistischen Gesellschaftsformation, welche die kapitalistische Gesell-

87 Hayek, Friedrich A. von: Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, S. 225 und Holl, Christopher: Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen, S. 126 f. 88 Rumjanzew, A. F. et al.: Politische Ökonomie des Sozialismus. Übersetzung aus dem Russischen, Berlin (-Ost) 1973, S. 24. „Bei normaler Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft ist es völlig ausgeschlossen, daß die Wirtschaftspolitik des Staates zu den Gesetzen der ökonomischen Entwicklung in Widerspruch gerät. In Einzelfällen können jedoch Situationen entstehen, die mit der Ignorierung oder nicht ausreichenden Berücksichtigung der objektiven Bedingungen und Erfordernissen der sozialistischen Ökonomik zusammenhängen“. – Zu Subjektivismus und ökonomischen Voluntarismus kann es kommen, wenn die objektiven Grenzen und Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik des Staates nicht richtig be-griffen werden. Der Eintritt der Gesellschaft in das ‚Reich der Freiheit’ bedeutet nicht, daß sie von der Notwendigkeit frei wäre, die ökonomischen Gesetze zu berücksichtigen. – Die KPdSU hat entschieden den Subjektivismus und den Voluntarismus in der Wirtschaftspolitik verurteilt. „Die theoretische Erkenntnis der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens und seiner Haupttendenzen“, betonte L. I. Breshnew im Rechenschaftsbericht an den XXIV. Parteitag der KPdSU, „ermöglicht es der Partei, den Verlauf der gesellschaftlichen Prozesse vorauszusehen, einen richtigen politischen Kurs auszuarbeiten, Fehler und subjektivistische Entscheidungen zu vermeiden“. Breshnew, L. I.: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin (-Ost), 1971, S. 137. 89 Buhr, Manfred / Kosing, Alfred (Hrsg.): Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, Berlin (-Ost) 1974, S. 122 f.

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schaftsformation gesetzmäßig ablöst. Die revolutionäre Ablösung des Kapitalismus und der Aufbau des Sozialismus und Kommunismus ist die historische Mission der Arbeiterklasse, die diese unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei im Bündnis mit den werktätigen Bauern und allen anderen werktätigen Schichten erfüllen muß“.90 Die SED war der Vortrupp der historischen Mission und daraus bezog die Partei ihre Legitimation und nicht aus freien Wahlen. Voluntarismus ist eine „Bezeichnung für eine Richtung der idealistischen Philosophie, die den Willen als das Primäre, Grundlegende und Bestimmende in der Welt betrachtet und aus diesem sowohl die Entwicklung in Natur und Gesellschaft als auch das gesamte Verhalten der Menschen erklärt. … Der Voluntarismus leugnet die objektive Gesetzmäßigkeit in Natur und Gesellschaft und hält das Erkennen für einen vom Willen bestimmten irrationalen Vorgang. Der Voluntarismus ist eine Form des Irrationalismus. Als sozialpolitische Theorie und praktische Haltung in der Politik mißachtet der Voluntarismus die materiellen Existenzbedingungen des gesellschaftlichen Lebens und die objektiven Gesetzmäßigkeiten; er leugnet die Möglichkeit wissenschaftlich begründeten Handelns, das sich auf die erkannten Gesetzmäßigkeiten stützt, und führt damit das praktische Handeln der Menschen auf subjektive Willkür, spontane Willensentscheidungen, revolutionären Elan usw. zurück. In der Konsequenz führt er zu einer Politik der Willkür und des Abenteurertums. Der Voluntarismus ist in jeder Beziehung absolut unvereinbar mit dem Marxismus-Leninismus und der Politik der marxistisch-leninistischen Partei, die deshalb einen entschiedenen Kampf gegen alle Erscheinungsformen und Tendenzen des Voluntarismus führt“.91 Subjektivismus ist eine „Bezeichnung für eine theoretische Auffassung und praktische Haltung, welche das Subjekt und seine Aktivität verabsolutiert und dadurch die objektive Beschaffenheit und Gesetzmäßigkeit der materiellen Welt teilweise oder völlig ignoriert; der Subjektivismus ist eng mit dem Idealismus verbunden. In der Erkenntnis führt der Subjektivismus zur Verzerrung und Mißachtung der objektiven Wahrheit, zu unbegründeten, einseitigen Urteilen; im praktischen Handeln führt er zu Willkür und Voluntarismus und endet zwangsläufig mit Mißerfolgen. Der Subjektivismus findet seine theoretische Grundlage in einer idealistischen Übersteigerung der aktiven Rolle des Subjekts, das von den materiellen Bedingungen seiner Existenz und seiner Tätigkeit getrennt und außerhalb der objektiven Gesetzmäßigkeit betrachtet wird“.92 Neben den „ökonomischen Gesetzen des Sozialismus“ findet man in den Elaboraten zur sozialistischen Politökonomie Zitate von Marx, Engels, Lenin und Di-

90 Ebd., S. 260: Sozialismus und Kommunismus. 91 Ebd., S. 292 f. 92 Manfred Buhr / Kosing, Alfred: Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, Berlin (-Ost) 1974, S. 275.

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rektiven der Parteitage der KPdSU und denen der SED. Der Inhalt der politischen Ökonomie besteht insgesamt aus einem Sammelsurium, einem Mischmasch von Behauptungen, Leerformeln, Losungen, Verheißungen und wissenschaftlich verbrämten Aussagen. Dieses Konglomerat, das Gemisch aus verschiedenen Dingen, wird von den fiktiven „ökonomischen Gesetzen des Sozialismus“ zusammengehalten. Diese Elaborate, oft von einem Autorenkollektiv, besitzen keinen ökonomischen Gehalt und sind wissenschaftlich wertlos. 1953, siebzig Jahre nach dem Tod von Karl Marx (1818-1883), erschien erstmalig die „Wirtschaftswissenschaft“, die führende Monatszeitschrift der DDR zu theoretischen und praktischen Problemen der marxistischen Wirtschaftswissenschaft, insbesondere der politischen Ökonomie des Sozialismus und der Zweigökonomiken. Sie ist Forum der wissenschaftlichen Diskussion über neue Forschungsergebnisse. Die Wirtschaftswissenschaft behandelt ferner Hauptfragen der politischen Ökonomie des Kapitalismus“.93 Die Beiträge in dieser Zeitschrift bestätigen die Richtigkeit „der Parteitage der KPDSU und der SED“ als Fortführung des Marxismus-Leninismus-Stalinismus. Die Nichtexistenz der ökonomischen Gesetze des Sozialismus führte dazu, daß der Wirtschaftspolitik des „realen Sozialismus“ Voluntarismus, Subjektivismus und Willkür immanent waren. Die Willkür war systemimmanent und unabhängig von Personen. Wenn Günter Schabowski seinem Buch den Titel gab „Wir haben fast alles falsch gemacht“, so war das Falschmachen eine Folge der systemimmanenten Konstruktionsfehler des Sozialismus. Der Zusammenbruch des realen Sozialismus in der DDR 1989/90 war nicht eine Folge von Fehlern der Akteure, sondern eine Folge davon, daß es in der totalitären DDR keine Regeln, keine Richtschnur gab. In der Wirtschaft des „realen Sozialismus“ der DDR konnte willkürlich gehandelt werden. Die Orientierungslosigkeit – Ludwig von Mises „ohne Bussole“ – war der sozialistischen marktlosen Zentralplanwirtschaft immanent. Es konnte nie festgestellt werden, ob ökonomisch richtig oder falsch gehandelt wurde.

93 Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 15, Leipzig 1977, S. 263.

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5. Die Grenzen der Kontrolle. Das statistische Informationssystem und das Versagen zentralistischer Planwirtschaft in der DDR94 Von Markus Güttler Einleitung: Das Scheitern der zentralistischen Planwirtschaft in der DDR wird seit 1989/90 aus ebenso vielfältigen wie unterschiedlichen Perspektiven heraus zu erklären versucht. Ökonomische, historische, gesellschaftswissenschaftliche und nicht zuletzt politische Sichtweisen versuchen, zu Erklärungen für Innovationsträgheit, Ineffizienz, mangelnden Sachverstand, den ‚Grauen Markt‘, die Mangelwirtschaft oder technologische Rückständigkeit zu kommen. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der DDR stärker anhand ihrer Entscheidungsstrukturen und -modelle, das heißt gleichsam aus ihrer eigenen Logik heraus, zu betrachten und danach zu fragen, inwieweit sich hieraus Anhaltspunkte gewinnen lassen, die das Funktionieren wie auch das Scheitern der zentralistischen Planwirtschaft à la DDR erhellen können. Die Staats- und Parteiführung der DDR schuf sich mit dem Informationssystem der Staatlichen Statistik seit den fünfziger Jahren schrittweise ein hocheffizientes Instrument zur Unterstützung der für die Planung und Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft notwendigen Entscheidungs- und Lenkungsprozesse. Dieses Informationssystem und die Entscheidungsstrukturen und -modelle, zu deren Unterstützung es konzipiert worden war, sollen im folgenden einer näheren Untersuchung unterzogen werden, um aus dieser Perspektive nach den Möglichkeiten und Grenzen der politischen Steuerung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems der DDR zu fragen. Die Grenzen der Kontrolle, die hierbei sichtbar werden, lassen sich bei näherer Betrachtung jedoch nicht ausschließlich als Spezifika der DDR oder ihres Gesellschaftssystems interpretieren. Vielmehr bleibt die Frage, ob es sich nicht auch um Begrenzung handelt, die allen komplexen Entscheidungsstrukturen von Wirtschaft und Gesellschaft in der entstehenden Informationsgesellschaft immanent sind. Durch die Wiedervereinigung bot sich die Möglichkeit, anhand des statistischen Informationssystems der DDR den Versuch zu begutachten, die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft einer Industrienation mit Hilfe eines Informationssystems zur Entscheidungsunterstützung zu planen und zu leiten. Da es sich hierbei um ein ausgesprochen komplexes Unterfangen handelte, das die Verarbeitung großer Datenmengen erforderte, ist dieses Beispiel von hohem Aussagewert für die historische, ökonomische und gesellschaftswissenschaftliche ebenso wie für die informatische Forschung. Auch hinsichtlich der Quellenlage bietet sich das statistische Informationssystem der DDR für eine Untersuchung an. Durch das jähe Ende der DDR waren 94 Bessel, Richard / Jessen, Ralph (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 253-271.

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nach der Wende die meisten relevanten Unterlagen noch verfügbar und viele der an der Informationsgewinnung und -nutzung beteiligten Personen konnten befragt werden. Gleichzeitig wurde die Untersuchung aber nicht mehr durch die Schutzbedürfnisse des Betreibers behindert, wie es bei einem im Einsatz befindlichen Informationssystem zweifellos der Fall gewesen wäre. Es konnten daher nicht nur eine Vielzahl interner Dokumente der Partei- und Staatsführung sowie der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik ausgewertet, sondern in zahlreichen persönlichen Gesprächen auch die Aussagen und Eindrücke früherer Mitarbeiter der staatlichen Statistik und der Wirtschaftsleitung für die Untersuchung herangezogen werden. Zunächst soll die Rolle der staatlichen Statistik im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der DDR beschrieben werden. Anhand des in den siebziger und achtziger Jahren erreichten Standes werden dann Aufbau, Funktionsweise und Aufgaben des statistischen Informationssystems vorgestellt. Auf dieser Grundlage werden schließlich zwei Thesen zum Scheitern der zentralistischen Planwirtschaft in der DDR formuliert und versucht, diese mittels theoretischer Überlegungen und praktischer Beispiele empirisch zu überprüfen.95 5.1. Die Rolle der staatlichen Statistik in der DDR Um den Aufbau des Systems der staatlichen Statistik in der DDR zu verstehen, ist es erforderlich, die grundsätzlichen politischen, sozialen und ideologischen Prämissen zu kennen, unter denen es arbeitete. Die Untersuchung erfordert zunächst eine begriffliche Abgrenzung. In der DDR unterschied man zwischen dem Bereich der mathematischen Statistik als einem Gebiet der Mathematik einerseits und der „Rechnungsführung und Statistik“ andererseits, die ein Teilgebiet der sozialistischen Gesellschaftswissenschaften war. Die Notwendigkeit der „Rechnungsführung und Statistik“ leitete sich unmittelbar aus den Lehren des Marxismus-Leninismus und insbesondere der Politischen Ökonomie ab. Ihre Anwendung ermöglichte erst die Kontrolle, die seit Lenin als wichtigstes Instrument zur Steuerung der sozialistischen Gesellschaft galt. Die Trennung von der mathematischen Statistik war somit grundsätzlicher Natur und wurde in Wissenschaft und Anwendung organisatorisch und personell festgeschrieben. Das System der staatlichen Statistik sollte die „Rechnungsführung und Statistik“ in die Praxis umsetzen. Diese spezifisch ideologische Sicht von Statistik bildete die tatsächliche Grundlage für die Arbeit und Organisation der statistischen Organe. Im Paragraph 1 der 95 Der begrenzte Rahmen dieses Beitrags erlaubt es selbstverständlich nicht, das Problem in allen seinen Facetten auszubreiten. Im Interesse einer breiten Leserschaft wurde zudem auf eine Reihe informatik-spezifischer Ausführungen und Präzisierungen verzichtet. Der interessierte Leser sei daher auf meine detaillierte Darstellung verwiesen: Markus Güttler: Die Datenverarbeitung im statistischen Informationssystem der DDR. Ein Beitrag zur deutschen Vereinigung und zur Geschichte der Informatik, Technische Universität Berlin, Forschungsberichte des Fachbereichs Informatik, Bericht 1990-36, Berlin 1990. Ders.: Das statistische Informationssystem der DDR. Ein Beispiel für die Grenzen computergestützter Entscheidungsunterstützung, Technische Universität Berlin, Forschungsberichte des Fachbereichs Informatik, Bericht 1992-2, Berlin 1992.

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Verordnung über „Rechnungsführung und Statistik“ vom 11.7.1985 wird diese definiert als „das einheitliche System der Erfassung, Verarbeitung, Speicherung, Berichterstattung und Auswertung der für die Leitung, Planung, wirtschaftliche Rechnungsführung und Kontrolle notwendigen zahlenmäßigen Informationen der Volkswirtschaft entsprechend der beschlossenen Hauptaufgabe in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. In diesem Sinne als notwendig galten alle Informationen über „Erscheinungen und Prozesse, die den Charakter von gesellschaftlichen Massenerscheinungen tragen“.96 Der „Rechnungsführung und Statistik“ im Betrieb und auf gesamtwirtschaftlicher Ebene kamen daher außerordentlich zahlreiche Aufgaben zu.97 Hierzu gehörten die Erfassung, Verarbeitung und Analyse der Zusammenhänge und Verflechtungen des Reproduktionsprozesses in allen Bereichen der Gesellschaft ebenso wie der Nachweis über Nutzung und Mehrung des sozialistischen Eigentums. Weiterhin sollte sie die Grundlagen für die wirtschaftliche Rechnungsführung schaffen und damit der Leistungsbewertung der Kombinate, Betriebe und Einrichtungen, aber auch der Werktätigen dienen. Soziale und demographische Prozesse sollte sie ebenso erfassen, verarbeiten und analysieren, wie auch vorausschauende Informationen über die Bevölkerungsentwicklung, die Ernteerträge, den Nutzen von Wissenschaft und Technik, die Produktion, den Export und den Verbrauch der Bevölkerung liefern. Als besonderes Merkmal der „Rechnungsführung und Statistik“ galt ihre Parteilichkeit, die sich unmittelbar aus ihrer ideologischen Fundierung ableitete. Parteilichkeit bedeutete hierbei, das „entscheidende Informationssystem der sozialistischen Gesellschaft“ zu sein.98 Die so verstandene Statistik diente nicht zuletzt der gezielten Information der Werktätigen. Jeder sollte wissen, „wie und wieviel man arbeiten muß“99, aber auch, wie sich Betrieb und Kombinat entwickelten und ihre Aufgaben erfüllten. „Rechnungsführung und Statistik“ waren Grundlagen für die monatliche Rechenschaftslegung der Betriebsdirektoren vor den Werktätigen und sollten die „Wahrnehmung der Eigentümerfunktion“ durch die Werktätigen gewährleisten und damit die „sozialistische Demokratie“ entfalten helfen. Die Staatliche „Zentralverwaltung für Statistik“ (SZS) als Organ der „Rechnungsführung und Statistik“ nahm somit ideologisch fundierte Aufgaben wahr, durch die sie zentrale Bedeutung für das sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem erlangte. Das Statistische Informationssystem stellte das wichtigste, wenn auch nicht das einzige Informationssystem der DDR-Führung dar. Zusätzlich unterhielten sowohl die Staatliche Plankommission, das Büro des Politbüros und der Ministerrat ebenso wie das Ministerium für Staatssicherheit eigene Berichtssysteme zur wirtschaftlichen Lage und zum aktuellen Stand der Planerfüllung in

96 Donda, Arno: Statistik. Die Wirtschaft, Berlin (-Ost) 1986, S. 1. 97 Ebd., S. 5. 98 Ebd., S. 2. 99 Ebd., S. 15.

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Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Informationssysteme waren indes auf die spezifischen Fragestellungen der jeweiligen Organe und insbesondere ihrer Leiter zugeschnitten und stellten weniger Abbildungen von Wirtschaft und Gesellschaft dar, als daß sie punktuelle Informationsbedürfnisse befriedigen sollten. Hinsichtlich Umfang, Vollständigkeit und Richtigkeit muß das statistische Informationssystem der SZS als Hauptinformationslieferant der Partei- und Staatsführung angesehen werden. 5.2. Das statistische Informationssystem der DDR. Aufbau, Funktionsweise und Aufgaben Anhand des Ablaufs des statistischen Berichtsverkehrs zum Zwecke der Planabrechnung soll zunächst der Aufbau des statistischen Informationssystems überblicksartig dargestellt werden, bevor wir uns einigen detaillierten Betrachtungen zuwenden. Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf den ab Beginn der siebziger Jahre erreichten Entwicklungsstand.100 Das System der statistischen Berichterstattung in der DDR folgte in seiner Gliederung der Verwaltungshierarchie von der Zentrale über die Bezirke bis hin zu den Kreisen. Die Zentralstelle der SZS in Berlin unterstand unmittelbar dem Ministerrat und war für die gesamtstaatliche Leitung von „Rechnungsführung und Statistik“ zuständig. Sie erhielt ihre Planvorgaben für das zentralisierte Berichtswesen durch die „Wirtschaftsleitenden Organe“, das heißt die Ministerien und die Staatliche Plankommission, und legte in Zusammenarbeit mit diesen die Richtlinien für die Berichterstattung fest. Die Berichtsverpflichtungen der Kombinate, Betriebe und sonstigen Einrichtungen sowie die Planvorgaben gelangten über die Ministerien und von dort weiter über Kombinate und Betriebe an die per Gesetz zur Berichterstattung verpflichteten Adressaten. Pro Monat wurden seit den siebziger Jahren ca. 250 Berichterstattungen mit insgesamt etwa 200.000 verschiedenen „Kennziffern“ (das heißt Kenngrößen zur zahlenmäßigen Abbildungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zusammenhänge) durchgeführt.101 Zu den Inhalten der Berichtspflichten, die beispielsweise ein Industriebetrieb zu erfüllen hatte, gehörten die geldwerten Kenngrößen der Produktion wie die Industrielle Warenproduktion, seit 1984 die Nettoproduktion, die Produktion für Bevölkerung und Export, die Modernisierung und Qualität der Produktion, die Auswirkungen von Preisänderungen auf das Betriebsergebnis, die Vorschauinformationen für die Kombinate bezüglich Produktion und Export für den

100 Zur Entwicklungsgeschichte des statistischen Informationssystems, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, vgl. Güttler: Datenverarbeitung, S. 11 ff. Soweit es sich bei den Quellen zu diesem Abschnitt um mündliche Auskünfte ehemaliger Mitarbeiter der SZS handelt, sind diese nicht gesondert ausgewiesen. 101 Siehe hierzu und zum folgenden: Übersicht der Berichterstattungen des zentralisierten Berichtswesens 1989, Ministerrat der DDR, SZS, Abteilung Planung / Koordinierung / Kontrolle, 1988.

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Folgemonat, die Rückstände in der Planerfüllung und ihre Aufholung, Rationalisierungsmaßnahmen, der Anlagenbau, Neuentwicklungen, Export und RGW-Integration, Energie- und Wasserverbrauch, die Schlüsseltechnologien und ihre Wirksamkeit sowie die Investitions- und Finanzrechnung und die Eigenerwirtschaftung von Geldmitteln. Hinzu kam die Materialrechnung, welche die Abrechnung sämtlicher verwendeter Materialien und ihre ökonomische Nutzung (Materialökonomie) umfaßte. Der Bereich Wissenschaft und Technik betraf die Erfüllung des gleichnamigen Planes, alle Investitionen und ihren Nutzen unter besonderer Berücksichtigung der EDV, den Einsatz, die Kosten und den Nutzen von Neuerwerbungen, die Ergebnisse der Standardisierung im Betrieb und den Einsatz von automatisierten Fertigungssystemen. Die Abrechnung der Grundmittel erstreckte sich von Bruttowert und Verschleiß über Zu- und Abgang sowie Altersstruktur und Niveau bis zu Kapazitäten und vertraglichen Bindungen. Als weiterer wichtiger Bereich kamen die Meldung über sämtliche Arbeitskräfte, ihren Einsatz, ihre Arbeitsbedingungen, Löhne und Ausfallzeiten, die Zusammensetzung der Belegschaft, ihre Berufsbildung und Weiterqualifizierung und insbesondere über Rationalisierungsmaßnahmen und die damit verbundene Gewinnung wertvoller Arbeitskraft hinzu. Erwähnenswert sind schließlich die Kennziffern der „Sekundärrohstofferfassung“ im Bereich Materialökonomie. Die monatliche Erfassung des Rücklaufs von metallischen und nichtmetallischen Rohstoffen aus dem Recyclingprozeß in die Produktion belegt die konsequente Nutzung dieser Rohstoffquelle. Die Plan- und Berichtsdaten wurden von den Berichtspflichtigen in die standardisierten Formblätter der SZS eingetragenen und zu den gesetzlich festgelegten Terminen bei den Kreisstellen der SZS abgeliefert. Nach einer ersten Überprüfung auf Vollständigkeit gelangten die Formblätter von dort zur jeweiligen Bezirksstelle. Die Weitergabe der Formblätter wurde Ende der achtziger Jahre durch PC-gestützte Erfassung der Berichtsdaten auf Disketten in den Kreisstellen ergänzt, die an die Bezirksstelle übermittelt und im dortigen Rechenzentrum auf Magnetbänder umgesetzt wurden. Den Beleg für die ordnungsgemäße Abwicklung der Berichterstattung bildeten jedoch auch weiterhin die schriftlichen Dokumente. Die Verarbeitungszentren der Bezirke waren in der Regel an Bezirksstellen der Verwaltung für Statistik angeschlossen. Dort erfolgten der erste maschinelle Korrekturlauf der Berichtsdaten und die Erstellung der Magnetbänder für die Weitergabe an die Zentralstelle. Die Daten wurden zumeist durch den Transport der Datenträger und nur bei eiligen Berichten über das handvermittelte Datennetz übermittelt. Der Zentralverwaltung für Statistik in Berlin stand mit dem „Datenverarbeitungszentrum Statistik“ ein spezielles Rechenzentrum ausschließlich für die statistischen Auswertungen und Analysen zur Verfügung. Dort fand ein zweiter Korrekturlauf statt. Nach der Freigabe der Daten durch die Zentralstelle wurden diese in die Zentrale Datenbank der staatlichen Statistik eingespeichert, ausgewertet und ausgedruckt. Auf der Grundlage der Datenbank und der Ausdrucke wurden die statistischen Analysen für die DDR durchgeführt und Datenbasen für die gleichartigen Bezirksdatenbanken erstellt. Diese Datenbanken sollten den Informationsbedarf der Partei- und Staatsorgane auf Bezirks- und Kreisebene befriedigen. Für jede Arbeits-

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phase innerhalb des Berichtswesens existierten Verordnungen, Beschlüsse, Richtlinien und Anweisungen, welche die einzelnen Verarbeitungsschritte peinlich genau festlegten, um die Ordnungsmäßigkeit und damit die Kontrollierbarkeit der statistischen Datenerfassung und -verarbeitung sicherzustellen. Die Ergebnisse der statistischen Analyse wurden an die zuständigen Partei- und Staatsorgane (Ministerrat, Zentralkomitee, Ministerien) weitergegeben. Diese erstellten Zusammenfassungen statistischer Berichte für die Partei- und Staatsführung. Welche Informationen schließlich im „Statistischen Jahrbuch“, im kurz gefaßten „Statistischen Taschenbuch“ oder auf dem Umweg über die Parteiorganisationen, die Volksvertreter, die Dokumente der Partei und die Reden führender Repräsentanten an die Öffentlichkeit gelangten, wurde erst hier auf oberster Ebene entschieden.102 Das Schaubild auf der folgenden Seite stellt die Struktur des Systems der staatlichen Statistik im Überblick dar. In der beschriebenen Weise liefen die statistischen Berichte für die Planabrechnung und Plankontrolle ab. Sie stellten die Hauptaufgabe der staatlichen Statistik dar, die somit in erster Linie als gesamtstaatliche Buchhaltung fungierte. Neben dem zentralisierten Berichtswesen zur Bereitstellung der Planerfüllungsinformationen für die zentrale Leitung bestand das fachliche Berichtswesen103, das als Ergänzung spezifische Fragen eines Wirtschaftsbereiches oder -zweiges bzw. eines Territoriums beantworten sollte. Fachliche Berichterstattungen konnten von Ministern, den Leitern zentraler Staatsorgane, den Vorsitzenden der Bezirksräte oder Generaldirektoren von Kombinaten veranlaßt werden. Zur Vorbereitung der Berichterstattungen definierte die SZS statistische Kennziffern und Begriffe sowie die zugrundeliegenden volkswirtschaftlichen Systematiken und Nomenklaturen, die sie in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Plankommission, den zuständigen zentralen Staatsorganen und dem Minister der Finanzen erarbeitete. Außerdem standardisierte sie die Formblätter, in welche die Betriebe die festgelegten Berichtsdaten einzutragen hatten, und vereinheitlichte die Vordrucke für die interne „Rechnungsführung und Statistik“.104 Eine weitere, nach westlichem Verständnis untypische Funktion kam der SZS als Kontroll- und Revisionsorgan zur Sicherung der ordnungsgemäßen, das heißt „vollständigen, wahrheitsgemäßen, termingerechten und rationellen“ Erfassung der Berichtsdaten zu. Zu diesem Zweck war sie zu Betriebsprüfungen und zur Durchführung von Ordnungsstrafverfahren berechtigt.105 Die staatliche Zentralverwaltung für Statistik (SZS) und das Informationssystem der DDR. Selbstverständlich erfüllte die staatliche Statistik der DDR auch alle statistiktypischen Aufgaben, wie die Durchführung der Volks-, Berufe-, Wohnraum- und 102 Donda, S. 19. 103 VO über Rechnungsführung und Statistik vom 11.7.1985 (GBl., 1985, Teil I, Nr. 23, S. 261). 104 Ebd., §§ 9 u. 10. 105 AO über Ordnungsmäßigkeit und Datenschutz in Rechnungsführung und Statistik vom 6.8.1985 (GBl., 1985, Teil I, Nr. 23, S. 267).

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Gebäudezählungen, sowie die regelmäßigen repräsentativen Befragungen zur Statistik des Haushaltsbudgets, der Einkommensstichprobe und der Zeitbudgeterhebung und natürlich die Führung von Statistiken zur Bevölkerungsentwicklung.106 Um ein Bild vom Umfang der Datenerhebung und -verarbeitung im statistischen Informationssystem zu vermitteln, seien hier einige Zahlen genannt. Unter die Berichtspflicht fielen etwa 23.000 Betriebe, die monatlich in ca. 250 Berichterstattungen ihre Planerfüllungsstände zu melden hatten. Entsprechend der „Einheitlichen Kennziffersystematik“107 und der Übersicht der Berichterstattungen des zentralisierten Berichtswesens108 ergab dies für die einzelnen Betriebe bis zu 8.000 verschiedene Kennziffern pro Monat. Die staatliche Statistik benötigte daher umfangreiche Datenverarbeitungskapazitäten zur Bewältigung dieser Datenmenge. Der Wunsch nach einem verzögerungsfreien Informationsfluß im statistischen Informationssystem trug Mitte der siebziger Jahre ganz wesentlich dazu bei, daß die Entscheidung zum Aufbau der landesweiten EDV-Struktur zugunsten territorial-orientierter Rechenzentren fiel und somit der Organisation der staatlichen Statistik folgte. Auf diese Weise wurde ein leistungsfähiges Informationssystem geschaffen, das die Versorgung der Parteiund Staatsführung sowie der wirtschaftsleitenden Organe mit den jeweils aktuellen Planerfüllungsständen innerhalb kürzester Zeit ermöglichte. Kurzinformationen über voraussichtliche Planerfüllung des laufenden Monats lagen Ministerrat und Wirtschaftsleitenden Organen innerhalb von ein bis zwei Werktagen nach Ende einer Dekade vor. Die monatlichen Hauptergebnisse der Planerfüllung standen am dritten Werktag nach Monatsende zur Verfügung und bis zum vierten Werktag wurden sie durch textliche Einschätzungen der Situation und Abschätzungen für die Planerfüllung des Folgemonats ergänzt. Der monatliche Gesamtbericht inklusive Texten, Grafiken, Tabellen, wirtschaftlichen Querschnittsfragen und der vorschauenden Einschätzung der beiden kommenden Monate sowie 15 entsprechende Bezirks- und ca. 220 Kreisberichte wurde schließlich bis zum sechsten Werktag fertiggestellt. Als Ursache für die hohe Geschwindigkeit, mit der das statistische Informationssystem die Ergebnisse bereitstellte, lassen sich vor allem eine Reihe technischorganisatorischer Methoden anführen. Hierzu gehörte, daß man in Statistik und Wirtschaft die weitestgehende Standardisierung und Normierung aller Arbeitsunterlagen und -abläufe durchsetzte. Diese Bemühungen reichten bis auf die Ebene der Betriebe hinab. Die tiefe Gliederung der DDR-Statistik bis auf Kreisebene ermöglichte des weiteren die durchgängige Betreuung der Datenerhebung durch ausgebildete Statistiker. Formale und inhaltliche Fehler konnten dadurch frühzeitig erkannt und korrigiert werden. Ebenso von Bedeutung war das hohe Niveau der Softwaretechnik in der DDR, die trotz der nach westlichen Maßstäben rückständigen 106 Güttler: Datenverarbeitung, S. 60 ff. 107 Einheitliche Kennziffernsystematik – EKS – SZS, Abteilung Volkswirtschaftliche Systematisierungen, 1989. 108 Übersicht der Berichterstattungen des zentralisierten Berichtswesens 1989, Ministerrat der DDR, SZS, Abteilung Planung / Koordination / Kontrolle, 1988.

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Hardwareausstattung sehr effiziente Datenverarbeitungskonzepte und Computerprogramme realisierte. 5.3. Das statistische Informationssystem und das Scheitern der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung in der DDR Insgesamt war die Datenverarbeitung im statistischen Informationssystem der DDR sehr effizient. Zudem hatte man eine Reihe recht bemerkenswerter organisatorischer und software-technischer Lösungen gefunden, welche die schnelle Verarbeitung und Bereitstellung der umfangreichen Datenmengen sicherstellten. Der staatlichen Statistik der DDR stand daher ein Informationssystem zur Verfügung, das hinsichtlich Verarbeitungsgeschwindigkeit und -kapazität in den westeuropäischen Ländern nicht seinesgleichen hatte. Damit stellt sich die Frage, was dazu führte, daß Planung und Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft auf der Grundlage dieses Informationssystems offensichtlich fehlschlugen. Inwieweit diese Ursachen in der Konzeption des statistischen Informationssystems zu suchen sind, soll im folgenden anhand von zwei Thesen aufgezeigt werden: Erstens: Die Menge der benötigten relevanten Informationen für Planung und Leitung, die auf der Basis des statistischen Informationssystems gewonnen wurden, war zu groß, um sie noch zentral auswerten und entsprechend umsetzen zu können. Durch die somit notwendige Aggregierung der Berichtsinformationen, welche die Beherrschbarkeit des Informationsangebots für die zentralen Entscheidungsträger sicherstellen sollte, gingen spezifische Detailinformationen in erheblichem Umfang verloren. Das so vermittelte Modell der Volkswirtschaft und der gesellschaftlichen Entwicklung war daher, obwohl es auf korrekten mathematischen Methoden basierte, unvollständig, unrealistisch und folglich falsch. Zweitens: Das Informations- und Entscheidungsmodell für die Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung, das dem statistischen Informationssystem zugrunde lag, berücksichtigte die besonderen Eigenschaften von Information, subjektrelativ, zweckorientiert und kontextabhängig zu sein, nicht in ausreichendem Maße. Mögliche Interessenkonflikte zwischen den Beteiligten, Machtungleichgewichte und damit fehlende Akzeptanz hinsichtlich des Zwecks der Informationsverarbeitung gingen nicht in erforderlichem Maße in die Konzeption des Informations- und Entscheidungsmodells ein. Der Einsatz eines computergestützten Informationssystems konnte dieses Problem nicht beheben, sondern verdeckte es eher durch technische Perfektion. Die Beherrschbarkeit von Informationsmengen ist mehr als nur ein technisches Problem, da Datenbewältigung durch Computer und Informationsbewältigung durch menschliche Entscheidungsträger zwei ganz verschiedene Voraussetzungen für das Funktionieren von Informationssystemen sind. Das heißt, die menschlichen Verarbeitungskapazitäten sind innerhalb des Entscheidungsmodells und bei der Konzeption eines Informationssystems ebenso zu berücksichtigen, wie dies bei der

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Organisation der Datenverarbeitung für die Computeranlagen ganz selbstverständlich geschieht. Zum einen zeigen zahlreiche Beispiele aus den Informationsverarbeitungs- und Entscheidungsprozessen, die sich anhand von internen Unterlagen der SZS und des ZK der SED sowie von publizierten Arbeiten, Gesetzen und Verordnungen wie aus vielen persönlichen Gesprächen rekonstruieren lassen, daß die ungeheure Informationsmenge, die für die Planung und Leitung einer ganzen Volkswirtschaft und Gesellschaft erforderlich gewesen wäre, nicht mehr zu bewältigen war. Als Konsequenz hieraus wurde auf der Basis extrem vereinfachter Modelle gearbeitet und entschieden, welche die Wirklichkeit nur unzureichend oder sogar falsch wiedergaben. Die Folge war, daß zahlreiche Fehlentscheidungen aufgrund unvollständiger Informationen getroffen wurden, obwohl die relevanten Daten vom technischen Standpunkt her verfügbar waren. Beispiele hierfür finden sich z. B. bei der Einführung der CAD/CAM-Technik in den Betrieben, bei der Exportplanung und bei der Kontrolle der Berichtspflichtigen durch die SZS, um nur einige zu nennen. Zum anderen läßt sich diese Problematik auch anhand von mathematisch / informationstheoretischen Überlegungen verdeutlichen. Zu diesem Zweck schätzte ich die Menge der für die zentrale Partei- und Staatsführung relevanten Informationen, aufbauend auf der Analyse des verwendeten Entscheidungsmodells, indem ich zunächst die Informationen bestimmte, welche die DDR-Führung als entscheidungsrelevant ansah, unabhängig davon, wie bedeutend oder unbedeutend jede einzelne davon war. Ein Umstand, der diese Sichtweise erleichtert, liegt in dem „Grundsatz der Mensurabilität“ (das heißt der zahlenmäßigen Meßbarkeit) begründet, der in der „Rechnungsführung und Statistik“ der DDR galt.109 Die zur Planung und Leitung benötigten Informationen mußten demnach in Zahlenwerte umsetzbar sein, um als Basis der „Rechnungsführung und Statistik“ dienen zu können. Welche Informationen und welches Wissen auch immer für den Planungs- und Leitungsprozeß von Bedeutung waren, sie wurden zunächst zahlenmäßig abgebildet, um sie statistisch fassen zu können. Die monatlichen statistischen Berichte, die aufgrund der Ende der achtziger Jahre gültigen Systematiken durchgeführt wurden, enthielten demnach ca. 45 Millionen Bit Information, die für die zentrale Partei- und Staatsführung entscheidungsrelevant waren.110 Die statistischen Informationen, welche die zentrale Führung tatsächlich auszuwerten in der Lage war, enthielten demgegenüber nur noch

109 Waschkau, Hans: Gegenstand, Aufgaben und Methodologie von Rechnungsführung und Statistik der Volkswirtschaft. Hochschule für Ökonomie ‚Bruno Leuschner‘, Sektion Wirtschaftsinformatik, Forschungsinformation (= Beiträge zur Anwendung statistischer Verfahren in der Ökonomie, 10) 13 (1988), Heft 5, Berlin 1988, S. 92. 110 Einheitliche Kennziffernsystematik – EKS –, SZS, Abteilung Volkswirtschaftliche Systematisierungen, 1989, sowie Übersicht der Berichterstattungen des zentralisierten Berichtswesens 1989, Ministerrat der DDR, SZS, Abteilung Planung / Koordinierung / Kontrolle, 1988.

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ca. 48.000 Bit Information.111 Unter Auswertung von Information sei hierbei verstanden, daß die verantwortlichen Entscheidungsträger oder -gremien diese Information zur Kenntnis nahmen und sie in ihre Entscheidung und die Wahl der Mittel zu deren Durchsetzung einbezogen. Das heißt, eine Information ist demnach erst dann tatsächlich ausgewertet, wenn sie in den Entscheidungsprozeß Eingang gefunden hat. Die zentrale Partei- und Staatsführung entschied folglich aufgrund einer Informationsbasis, die nur etwa ein Promille der als entscheidungsrelevant definierten Informationsmenge umfaßte. Um noch einmal zu untermauern, daß die abgeschätzten ca. 45 Millionen Bit Information für die zentrale Planung und Leitung tatsächlich als entscheidungsrelevant anzusehen sind und nicht etwa überflüssigen Ballast darstellten, sei hier auf folgenden Umstand hingewiesen. Die Kennziffernbestände unterlagen über die Jahre der ständigen Überwachung hinsichtlich ihrer ökonomischen Notwendigkeit. So läßt sich zum Beispiel anhand der Forschungsinformationen, welche die Hochschule für Ökonomie regelmäßig herausgab112, nachvollziehen, daß die Verbesserung und Straffung der statistischen Berichterstattung von Seiten der Wissenschaft, der Statistik und der übrigen mit Wirtschaftsfragen befaßten Staatsorgane ständig diskutiert wurden. Gerade weil das System der Planwirtschaft im Ostblock als Ideal die möglichst vollständige Erfassung aller ökonomischen und sozialen Informationen anstrebte113, wurde intensiv an der Vermeidung unnützen Aufwandes gearbeitet. Die ungeheure Datenmenge, die mittels des statistischen Informationssystems erfaßt wurde, war somit nicht Ausdruck eines aufgeblähten Apparates oder sinnloser Sammelwut, sondern die unmittelbare Konsequenz der marxistisch-leninistischen Sicht der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie es zu einer derartigen Reduktion der relevanten Information kommen konnte, da doch eine Modellbildung anhand nur jeweils eines Bit Information von Tausend eine sehr grobe Vereinfachung der Zusammenhänge bedeutete. Eine Erklärung hierfür findet sich in der Theorie der Da-

111 Die Dekadeninformationen über die Plandurchführung in der Industrie, im Bau- und Verkehrswesen, im Außenhandel, in der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft und bei der Versorgung der Bevölkerung per 10. und 20.12.1988, Ministerrat der DDR, SZS, in: Archiv des Statistischen Bundesamtes, Zweigstelle Berlin Alexanderplatz, Zugangsnr. 012016 und 012017; Information über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1988 Monat Dezember, Ministerrat der DDR, SZS, 9.1.1989, in: ebd., Zugangsnr. 012887; Volkswirtschaftlicher Vergleich der Ergebnisse 1988 und des Planes 1989 für wichtige Leistungs- und Effektivitätskennziffern der Kombinate und Bezirksbauämter, SZS, 1989; Vorschauinformationen der Generaldirektoren der zentralgeleiteten Kombinate der Industrie und des Bauwesens, Stand 6.12.1988, Ministerrat der DDR, SZS, Archiv des Statistischen Bundesamtes, Zweigstelle Berlin Alexanderplatz, Zugangsnr. 012013. 112 Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“, Forschungsinformation der Sektion Wirtschaftsinformatik. 113 Apel, Erich / Mittag, Günter: Planmäßige Wirtschaftsführung und ökonomische Hebel, Berlin (-Ost) 1964.

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tenaggregation, wonach erst durch diese „eine für volkswirtschaftliche Entscheidungen notwendige Komplexität der Aussagen herbeigeführt wird“.114 Zwar wurde auch in der DDR der mit der Aggregation verbundene Verlust an spezifischer Information gesehen, die „umfassendere Erkenntnis“, die komplexe Kennziffernsysteme über die ökonomischen Erscheinungen liefern sollten, galt aber auch im Hinblick auf „Ursachenanalyse und Vorschau“ als der bedeutendere Informationsgehalt der statistischen Daten.115 In den Veröffentlichungen sowohl der Wissenschaftler und Statistiker als auch der Wirtschaftsleiter wurde der Informationsgewinn durch die höhere Komplexität aggregierter Kennziffern stets besonders betont. Betrachtet man jedoch das gesamte mögliche Repertoire statistischer Auswertungen, so kommt man zu dem Schluß, daß Aggregation zwar Aussagen zu Tage fördern kann, die sich aus der bloßen Betrachtung von Mikrodaten nicht erschließen lassen, daß dies die dort enthaltene Information aber unter gar keinen Umständen überflüssig macht. In meinen Augen tut sich hier weit eher die Diskrepanz zwischen den theoretischen Postulaten des Marxismus-Leninismus einerseits und den menschlichen Möglichkeiten zur Verarbeitung komplexer Information andererseits auf. Diese Problematik läßt sich am ehesten veranschaulichen, indem man die ermittelten Informationsmengen mit der Verarbeitungskapazität des Menschen vergleicht.116 Rund 45 Mio. Bit je Monat entsprechen einer Bearbeitungszeit von etwa 26 „Manntagen“ bei 24 Stunden Arbeitszeit pro Tag. Bei der Planung und Leitung von Wirtschaft und Gesellschaft mußte gewonnene Information noch in entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden. Dies erfordert aber weitaus mehr Zeit als die reine Informationserfassung und -verarbeitung. Dem Statistiknutzer auf der Ebene der Wirtschaftsleitung standen aber, so das Ergebnis der von mir geführten Gespräche, im Rahmen seiner Tätigkeit nicht mehr als etwa acht Stunden pro Monat für die ausschließliche Beschäftigung mit den statistischen Berichten zur Verfügung. Ein zentrales Gremium zur Verarbeitung der gesamten Berichtsinformationen hätte demnach etwa 7.800 Personen umfassen müssen – jede von ihnen mit entsprechender Entscheidungsbefugnis ausgestattet –, um die ca. 45 Mio. Bit tatsächlich umzusetzen. Die Frage nach der Koordinierung einer derartig großen Zahl von Menschen sei hier gar nicht erst weiter diskutiert. Ganz offensichtlich war also die Aggregation der Informationen weniger eine Tugend als vielmehr einfach unumgänglich. Setzt man die gesamte entscheidungsrelevante Berichtsinformation auf den Leiter eines einzelnen Betriebes um, so kommt man zu dem Ergebnis, daß der Informationsbedarf auf Betriebsebene noch von einem Leiter beherrschbar, für eine zentrale Staatsführung aber nicht mehr zu bewältigen war. In der Praxis der DDR

114 Lexikon Rechnungsführung und Statistik. Die Wirtschaft, Berlin (-Ost) 1986, S. 17. 115 Waschkau, S. 100-102. 116 Raisbeck, Gordon: Informationstheorie. Eine Einführung für Naturwissenschaftler und Ingenieure, München 1970, sowie Griffith / White: Modern Chess Openings, überarbeitet von Reuben Fine, Philadelphia 1939.

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ging aber jede konzeptionelle Leitungs- und Planungsentscheidung von der zentralen Führungsspitze aus, während bereits ab der Ministerebene in erster Linie ausgeführt und diese Entscheidungen umgesetzt wurden. Wie grundsätzlich die Beschränkung von Entscheidungsbefugnissen auf die wenigen Mitglieder der Führungsriege war, läßt sich an einer Aussage von Günter Mittag im SPIEGEL-Gespräch erkennen: „Nach dem Sturz Ulbrichts wurde ich politisch zurückgestuft und in den Ministerrat zur operativen Arbeit versetzt, von politisch konzeptioneller Arbeit verbannt“.117 Das System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft und Gesellschaft führte kurz gesagt zu einem Informationsbedarf, dem eine zentrale Leitung einfach nicht gewachsen war. Zur Aggregation und Reduktion relevanter Information auf Führungsebene sind noch einige Anmerkungen zu machen. Die von der SZS gelieferten Informationen wurden nämlich für die Teile der zentralen Partei- und Staatsspitze, die nicht ausschließlich wirtschaftliche Aufgaben wahrnahmen, nochmals zusammengefaßt. Berichte dieser Art waren mir leider nicht zugänglich, aber aus verschiedenen Gesprächen ergibt sich folgendes Bild: Dem Verwaltungsapparat des Zentralkomitees der SED wurde ein monatlicher Bericht von etwa 30 Seiten Umfang, das entspricht in diesem Fall etwa 1.000-1.500 Bit Informationen, zugeleitet. Aus diesen 30 Seiten ging dann ein Bericht von 9 bis 12 Seiten für den zentralen Zirkel der Partei- und Staatsspitze hervor. Diese 9 bis 12 Seiten enthielten eine eher aufgelockerte Darstellung der Volkswirtschaft, im Sprachgebrauch der Statistiker „Blindenschrift“ genannt. Hinzu kamen für diesen Kreis Informationen vom Ministerrat, vom Büro des Politbüros und vom Ministerium für Staatssicherheit, die jedoch eher die Form von ergänzenden Berichten besaßen und zudem hinsichtlich ihrer Datengrundlage als eher fragwürdig gelten müssen, da sie nicht direkt auf Daten des statistischen Berichtswesens basierten. Es läßt sich also feststellen, daß, abgesehen von der unmittelbaren Wirtschaftsführung um Mittag, die Informationsbasis der zentralen Führungsspitze für ökonomische Entscheidungen weitaus geringer war als die ca. 48.000 Bit, die in den Führungsinformationen enthalten waren. Vor diesem Hintergrund läßt sich vielleicht auch die Verärgerung von Günter Mittag verstehen, der er im Gespräch mit dem SPIEGEL Ausdruck verlieh: „Was mit der Wirtschaft los ist, darüber wollten die meisten der anderen [Politbüromitglieder, d. Verf.] sowieso immer besser Bescheid wissen als ich. Das Thema war ein Tummelfeld für alle“.118 Es gibt ganz offensichtlich Entscheidungsprozesse, die derart komplex sind, daß man sie informationell nicht mehr beherrschen kann. Folglich müßte das Entscheidungsmodell einer grundlegenden Veränderung unterzogen werden, um die Komplexität und Fülle der Information für jeden einzelnen Entscheidungsträger wieder auf ein nutzbares Maß zu reduzieren. Im Herrschaftssystem der SED war dies ausgeschlossen. Als zweite Ursache für das Scheitern der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung in der DDR, die in der Konzeption des statistischen Informationssystems be117 Spiegel-Gespräch mit Günter Mittag, in: Der Spiegel 45 (1991), Nr. 37, 9.9.1991, S. 96. 118 Ebd., S. 93.

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gründet lag, war die ungenügende Berücksichtigung von Subjekt, Zweck und Kontext der Informationsgewinnung im verwendeten Informations- und Entscheidungsmodell genannt worden. Am Beispiel des statistischen Informationssystems läßt sich sehr genau studieren, was geschieht, wenn Informationen in einem Subjekt-Zweck-Kontext-Zusammenhang gewonnen werden, der mit der Zielsetzung des Systems oder aber den realen Interessenlagen der Beteiligten nicht übereinstimmt, und in Entscheidungen einbezogen werden. Ziel des statistischen Berichtswesens war die Gewinnung der Informationen, die ein vollständiges und wahrheitsgemäßes Bild von Volkswirtschaft und Gesellschaft widerspiegeln sollten. In der Praxis zeigte sich jedoch, daß Einzelinteressen der Betriebe, Kombinate und Wirtschaftsbereiche, aber auch der Partei- und Staatsführung diesem Ziel entgegenstanden. Wenn hinter der Erfüllung einer Planauflage nicht auch ein ökonomischer Zwang stand, ließ sich diese Auflage auch über mehr oder weniger umfangreiche Manipulationen der Berichtsdaten oder durch das Erreichen einer Planabsenkung erfüllen. Ebenso waren auch die zentralen Entscheidungsträger versucht, von der eigenen Planung oder politischen Überzeugung abweichenden Informationen eher durch deren Unterdrückung oder Veränderung zu begegnen.119 Des weiteren zeigte sich aber auch, daß die Kennziffernsystematiken oder die Art und Weise, wie wirtschaftliche Zusammenhänge auf ihrer Grundlage interpretiert wurden, mit den realen Verhältnissen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht immer übereinstimmten. Beispielsweise kontrollierte man die Durchführung von Investitionsmaßnahmen anhand einer Vielzahl von Kennziffern, während der tatsächliche wirtschaftliche Erfolg der Investitionen nicht abgerechnet wurde. Die Preisentwicklung in den Kreisen wurde seit den sechziger Jahren nicht mehr aufgezeichnet, so daß diese wichtige Information über die gesamtwirtschaftliche Lage ungenutzt blieb, da sie im Sinne einer sich zum Kommunismus entwickelnden Gesellschaft als unerheblich galt. Die orthodox-sozialistische Sicht der Volkswirtschaft als einer Art Naturalwirtschaft, zu der immer wieder einflußreiche Mitglieder der DDR-Führung tendierten, führte dazu, daß eine Kennziffer wie die „Industrielle Warenproduktion“, die den Geldwert der Leistungen auf dem industriellen Sektor erfaßte, ohne dem Nutzen den Aufwand gegenüberzustellen, über Jahre als eine Hauptkennziffer galt, während ökonomisch aussagekräftigere Informationen, die sich aus anderen Kennziffern hätten gewinnen lassen (z. B.: Nettoproduktion, Nettogewinn, Material- und Selbstkosten, Arbeitsproduktivität, Durchschnittslohn), häufig unberücksichtigt blieben.120 Ein weiteres Beispiel für die Verletzung der Subjekt-Zweck-Kontext-Abhängigkeit von Informationen war die Abrechnung des Bestandes an Leitungs- und Verwaltungspersonal in den Betrieben. Ursprünglich eine Information von vorwiegend analytischer Bedeutung, wurde sie ab 1986 zu einem Kernstück der sozialis-

119 Beispiele für derartige Manipulationen finden sich in Güttler: Datenverarbeitung und ders., Informationssystem. 120 Güttler: Informationssystem, S. 91 ff.

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tischen Rationalisierung erhoben. Hatten zuvor bloß einige Spezialisten für die Arbeitskräfterechnung diese Berichtsinformation ausgewertet, so stellte sie jetzt einen wichtigen Gradmesser für die Steigerung der Arbeitsproduktivität dar, der von der Partei und Staatsführung straff kontrolliert wurde. Subjekt, Zweck und Kontext der Information hatten sich also grundlegend gewandelt und es war ein neues Spannungsfeld zwischen den Berichtspflichtigen und der Führung entstanden. Konsequent wäre es gewesen, diese neue Situation im Entscheidungsmodell zu berücksichtigen, was jedoch unterblieb. Die Informationen über den Bestand an leitendem Personal und seine Reduzierung wurden im wesentlichen unverändert gewonnen und ausgewertet. Die Folge war, daß die Kontrollen der Planerfüllung weitgehend ins Leere liefen und das gesamte Rationalisierungsprogramm schließlich erfolglos blieb.121 Aus informatischer Sicht sind unsere Beispiele in verschiedener Hinsicht von Interesse. Zum einen zeigen sie, daß die Konzeption eines Informationssystems zur Entscheidungsunterstützung nicht an der Schnittstelle von Mensch und Maschine enden kann. Information läßt sich nur in ihrer Kontextabhängigkeit begreifen. Ein Informationssystem muß folglich auf einem stimmigen Informations- und Entscheidungsmodell basieren. Hinsichtlich der Entscheidungsunterstützung in Wirtschaft und Politik wird diese Modellbildung entscheidend von den Interessenlagen der Beteiligten, das heißt von gesellschaftlichen Spannungsfeldern bestimmt. Anhand der Untersuchung des statistischen Informationssystems der DDR läßt sich erkennen, daß eine falsche Modellbildung fast unweigerlich dazu führt, daß die gewonnene Information ihren Wert für den Entscheidungsprozeß verliert. Die technisch / organisatorische Struktur des Informationssystems hatte dabei auf diese Problematik im Grunde genommen keinen Einfluß. Eher hat es den Anschein, als hätte die technische Perfektion der Informationsgewinnung die Beziehung der Entscheidungsträger zu den realen Vorgängen in Wirtschaft und Gesellschaft unterbrochen, so daß die Widersprüche zwischen Entscheidungsmodell und gebildeter Wirklichkeit bisweilen nicht mehr erkennbar waren. Dazu paßt die gesprächsweise kolportierte Anekdote, daß auch die Partei- und Staatsführung Mängel in der Konsumgüterversorgung nicht etwa anhand der statistischen Informationen, sondern aus der unmittelbaren Erfahrung heraus erfaßte, daß es bestimmte Erzeugnisse in den Geschäften nicht zu kaufen gab. Diese augenscheinliche, persönliche Erfahrung war für die Entscheidungsträger aus dem Zahlenmaterial offenbar nicht zu gewinnen. Jedoch nicht genug damit, daß die technisch / organisatorische Struktur des Informationssystems trotz seiner hohen Perfektion keine Lösung für gesellschaftliche Probleme bescherte, auch die Unterdrückung von Interessenkonflikten durch umfangreiche Kontrollen und entsprechende Strafandrohungen gelang auf diese Weise nicht. Die verschiedenen Möglichkeiten, welche die Berichtspflichtigen immer wieder fanden, sich der Kontrolle zu entziehen, belegen dies sehr anschaulich. Da das Entscheidungsmodell von anderen Interessenlagen ausging, als sie tatsächlich

121 Ebd., S. 80 ff.

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existierten, war die technische Durchführung der Informationsgewinnung zur Entscheidungsunterstützung nur noch zweitrangig. Die Information hatte für den Entscheidungsprozeß, so wie er ablief, keinen Wert. Welche Folgerungen lassen sich hieraus ziehen? Das Entscheidungsmodell muß die relevanten gesellschaftlichen Spannungsfelder beinhalten, damit überhaupt die für die Entscheidungsfindung relevante Information gewonnen werden kann. Dies setzt aber in jedem Fall voraus, daß sich der Entscheidungsträger darüber im Klaren ist, was er über welche Zusammenhänge wissen will.122 Informationsgewinnung „auf Vorrat“ ohne Kenntnis der zugehörigen Subjekt-Zweck-Kontext-Situation ist daher völlig wertlos. Des weiteren hat zwischen Entscheidungsträger und Betroffenen hinsichtlich Subjekt, Zweck und Kontext der Informationsgewinnung insoweit ein Konsens zu bestehen, daß diese von allen Seiten akzeptiert werden. Anderenfalls entsteht aus der Informationsgewinnung heraus der nächste Interessenkonflikt, den das Entscheidungsmodell eben nicht berücksichtigt. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, bringt der Einsatz eines Informationssystems den gewünschten Erfolg. Somit läßt sich nun auch die Frage beantworten, ob ein statisches Entscheidungsmodell im gesellschaftlichen Bereich sinnvoll ist. Aufgrund der zuvor beschriebenen Abhängigkeit der Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen Spannungsfeldern muß man mit „Nein“ antworten. Interessenkonflikte können ständig neu entstehen oder vergehen, gesellschaftliche Spannungsfelder sind einem stetigen Wandel unterworfen. Die SED-Diktatur aber lebte von der Fiktion einer prinzipiellen Interessenharmonie zwischen Partei, Staat und Gesellschaft genauso wie von der totalitären Utopie, eine hochkomplexe Industriegesellschaft ließe sich durch ein allwissendes und alles entscheidendes Zentrum rational steuern. Auch die Mobilisierung aller technischen und organisatorischen Ressourcen konnte nicht verhindern, daß das allmächtige Politbüro aufgrund dieser falschen Voraussetzungen in einer informationellen Sackgasse landete.123 Die politisch natural gesteuerte Zentralplanwirtschaft war eine Großorganisation von höchster Komplexität.124 Eine Organisationstheorie dafür hat es nie gegeben. „Besteht nun aber nicht die Chance, Ergebnisse der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie für die Gestaltung einer konkreten Zentralverwaltungswirtschaft nutzbar zu machen? Das Wirtschaftssystem der DDR existiert als Wirtschaftssystem einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs unter den Regeln einer (im instrumentellen Sinne zu verstehenden) Großorganisation von höchster Komplexität. Daher müßte eigentlich möglich sein, organisationstheoretisch gewonnene Aussagen unmittelbar in Handlungsanweisungen für jene politischen Entscheidungsgremien (Politbüro, ZK u. a.) umzusetzen, die die Kompetenz haben, die 122 Steinmüller, Wilhelm: Eine sozialwissenschaftliche Konzeption der Informationswissenschaft (Informationstechnologie und Informationsrecht I), in: Nachrichten für Dokumentation 32 (1981), Nr.2. 123 Ende des Beitrages von Markus Güttler. 124 Grochla, Erwin: Einführung in die Organisationstheorie, Stuttgart 1978, S. 236.

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Gestaltung der institutionellen Arrangements zu beschließen, die die Informations- , Entscheidungs- und Anreizstrukturen beeinflussen. Dieser auf den ersten Blick plausibel erscheinende Ausweg erweist sich jedoch bei intensiverem Studium der organisationstheoretischen Literatur als derzeit kaum begehbar. Eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Beiträge der Organisationstheorie läßt schnell erkennen, daß es ‚die‘ Organisationstheorie nicht gibt und daß die verschiedenen Ansätze kaum praxeologische Aussagen auf der Basis hohen Informationsgehalts und hohen Bestätigungsgrads der ihnen zugrunde liegenden Theorien enthalten. ‚Das Fehlen eines Systems derartiger Aussagen in der Organisationstheorie erklärt sich u. a. aus der Tatsache, daß die organisationstheoretischen Beiträge noch weitgehend einzelne organisatorische Probleme oder Probleme mit einem geringen Komplexitätsgrad relativ isoliert betrachten und erforschen. Die dadurch entstehende enorme Vielfalt sowohl inhaltlich als auch methodisch und begrifflich verschiedenartiger Aussagen muß zwangsläufig zu der […] Forderung nach inhaltlicher und methodischer Integration führen. Nur mit derart integrativen Orientierungen erscheint es in Zukunft möglich, zu einem geschlossenen System praktisch verwendbarer Aussagen zu gelangen. […] Die holistische Ausrichtung ordnungspolitischer Gestaltung. Selbst dann, wenn es der volkswirtschaftlichen oder betriebswirtschaftlichen Forschung geglückt wäre, einen hinreichend großen Bestand praxeologisch verwertbarer theoretischer Aussagen über die Funktionsweise von Großorganisationen höchster Komplexität zu erarbeiten, ist nicht sicher, ob diese von der politischen Führung der DDR zweckentsprechend zur ordnungspolitischen Gestaltung genutzt würden. Solche Zweifel sind deswegen erlaubt, weil Wirtschaftspolitik in Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs trotz der beobachtbaren Vielfalt gelegentlich sogar konzeptionslos wirkender und einander widersprechender Detailmaßnahmen und -veränderungen letztlich prinzipiell holistisch orientiert ist. Die hinter dieser Wirtschaftspolitik stehende historizistisch-marxistische Philosophie und Weltanschauung ist von der Vorstellung geprägt, soziale Strukturen seien nicht als Kombinationen ihrer Teile und Glieder zu erklären, da die soziale Gruppe mehr sei als die Summe ihrer Mitglieder und mehr als die Summe der Beziehungen zwischen diesen.125 Wenn aber bestehende soziale Strukturen nicht als Kombination ihrer Glieder erklärt werden können, dann gilt das auch für neu zu bildende. Diese Auffassung begünstigt eine Methode des Sozialexperiments, durch welches die Gesellschaft als Ganzes nach einem festen Gesamtplan gestaltet werden soll. In diese Vorstellung von einem Gesamtplan haben sich auch alle wirtschaftspolitischen Experimente einzuordnen. Diese Vorgehensweise steht im Gegensatz zu solchem ordnungspolitischem Experimentieren, das man mit Popper als ‚Stückwerktechnologie‘ bezeichnen kann.126 Der stückwerktechnologisch arbeitende Wirtschafspolitiker versucht, wirtschaftliche Institutionen in Kenntnis der Tatsache zu gestalten, daß nur eine Minderheit solcher Institutionen bewußt planbar und daß deren Mehr125 Popper, K. R.: Das Elend des Histozismus, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 14 ff. 126 Ebd., S. 51 ff.

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zahl ungeplantes Resultat spontanen menschlichen Handelns ist. Er wird daher versuchen, seine Ziele durch kleine Schritte zu realisieren und dabei stets die erwarteten Ergebnisse der Gestaltungsbemühungen mit den sich tatsächlich einstellenden zu vergleichen, Nebenwirkungen zu registrieren und sie im nächsten Schritt zu berücksichtigen. Im wesentlichen Gegensatz zum holistisch orientierten Wirtschaftspolitiker wird er keine Reformen von solcher Komplexität unternehmen, daß es unmöglich wird, Ursachen und Wirkungen zu entwirren. Während der Stückwerkingenieur sein Problem angehen kann, ohne in einen Gesamtplan der Gestaltung gesellschaftlichen Lebens eingebunden zu sein und ohne sich bezüglich der Reichweite seiner Reform festzulegen, kann der Holist dies nicht tun, ‚[…] denn er hat von vornherein entschieden, daß eine vollständige Umformung der Gesellschaft möglich und notwendig ist. Diese Tatsache hat weitreichende Konsequenzen. Aus ihr entsteht beim Utopisten ein Vorurteil gegen bestimmte soziologische Hypothesen, welche die Wirksamkeit der Institutionen begrenzen, z. B. gegen die […] Hypothese über die Unsicherheit, die auf den personalen Faktor, den Faktor Mensch, zurückzuführen ist […]. Andererseits zwingen die Probleme, die mit der Unsicherheit des menschlichen Faktors zusammenhängen, den Utopisten, ob er nun will oder nicht, zu dem Versuch, den menschlichen Faktor mit Hilfe von Institutionen unter Kontrolle zu bringen. Er muß dann sein Programm so erweitern, daß es nicht nur die planmäßige Umgestaltung der Gesellschaft, sondern auch die Umgestaltung des Menschen umfaßt‘.127 Diese holistische Einstellung zur Analyse und zur Gestaltung sozialen Lebens dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, daß wirtschaftspolitische Experimente in Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs nicht selten den Charakter weitreichender, weite Teile der Wirtschaft umspannender Großexperimente haben, für die gilt, ‚[…] daß sie nur insofern Experimente genannt werden können, als dieser Ausdruck, ein Unternehmen bedeutet, dessen Ausgang ungewiß ist, aber nicht in dem Sinne, in dem ein Experiment ein Mittel ist, das gestattet, durch den Vergleich der erreichten mit den erwarteten Resultaten Wissen zu gewinnen‘.“ 128 129

127 Ebd., S. 56. 128 Ebd., S. 68. 129 Gutmann, Gernot: Die Wirtschaftsordnung im Reformexperiment – Bemerkungen aus theoretischer Sicht, in: Gutmann, Gernot (Hrsg.): Das Wirtschaftssystem der DDR. Wirtschaftspolitische Gestaltungsprobleme, 1983, S. 17 f.

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XIX. Bilanz der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente. Geldwirtschaft und Naturalwirtschaft. Evolutionäre Universalien 1. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der DDR bis 1989 Von Udo Ludwig Primat der Politik in der Wirtschaftslenkung mit Zentralplan Das Experiment Staatssozialismus auf deutschem Boden ist Geschichte. Das Herrschaftssystem ist im Jahr 1989 unter dem Druck der Massen auf friedlichem Wege zusammengebrochen. Die Revolutionäre von einst mussten zur Kenntnis nehmen, dass eine politische Krise nicht nur Voraussetzung für die eigene Machtergreifung war, sondern sich gegen sie selbst richten und sie stürzen kann. Angewandt auf das Ende des Staatssozialismus, bedeutete die von seinem Begründer, W. I. Lenin, vorgenommene Analyse einer revolutionären Situation: Die Herrschenden im staatssozialistischen System konnten nicht mehr wie sie wollten und die Beherrschten wollten nicht mehr wie sie konnten.1 Schließlich wurde das System im März 1990 auf demokratischem Wege abgewählt. Der Staatssozialismus war als Gegenentwurf zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung gestartet und sollte seine Überlegenheit an Leistung und Wohlstand bezeugen. Er ist am Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gescheitert. Warum blieb aber die Wirklichkeit hinter dem Anspruch zurück? Sind die Ursachen subjektiver Natur oder sind sie in den Fundamentalfaktoren des Systems begründet? Für den nicht geringen Einfluss der an den Schalthebeln der Macht stehenden Personen spricht die Tatsache, dass im Staatssozialismus als oberste Maxime das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie galt.2 Die Unterordnung jeglicher demokratischer Kontrolle unter die Zentralgewalt öffnete Tür und Tor für Wunschdenken der Politiker, die subjektive Überschätzung der eigenen Kräfte, Realitätsverlust, Willkür und den Ausschluss Andersdenkender aus der Führung bis zu deren physischer Vernichtung. Daran hat es auch in der Geschichte der DDR weder unter der Herrschaft der Partei- und Staatsführer Walter Ulbricht noch Erich Honecker gemangelt.3 Da sich der Zusammenbruch des Systems aber 1

Im Original heißt es: „Erst dann, wenn die 'Unterschichten' das Alte nicht mehr wollen und die 'Oberschichten' in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen“. In: Lenin, W. I.: Der „linke Radikalismus“. Die Kinderkrankheit im Kommunismus, Werke Band 31, Berlin (-Ost) 1959, S.71.

2

Im „Primat der Politik“ sah Lenin nicht nur einen Bestandteil des „Abc des Marxismus“, sondern auch das Gegenstück zu der von seinen Widersachern Trotzki und Bucharin vertretenen „Produktionsdemokratie“. Er schrieb: „Die Politik hat notwendigerweise das Primat gegenüber der Ökonomik. Anders argumentieren heißt das Abc des Marxismus vergessen“. Lenin, W. I.: „Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis und Bucharins“, in: Lenin, W. I.:Werke Band 32, Berlin (-Ost) 1972, S. 73.

3

Leonhardt, Wolfgang: Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955. Stern, Carola: Ulbricht. Eine politische Biografie, Köln, Berlin 1964. Gniffke, Erich W.: Jahre mit Ulbricht, Köln 1966. Herrnstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die

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nicht auf einzelne Länder beschränkte, ist der Blick auf die Fundamentalfaktoren und ihr Zusammenwirken zu richten: das politische Machtmonopol einer Kaderpartei, deren vermeintlicher Wissensvorsprung über den Gang der auf den Kommunismus hinsteuernden objektiven Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, die darauf gegründete Abschaffung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln und die Lenkung der Wirtschaft mit einem Zentralplan. Der Markt als Ort zur Koordination und Regulierung der Wirtschaftsaktivitäten wurde ausgeschaltet und damit ging eine wesentliche Informationsquelle für die wirtschaftliche Verteilung der Ressourcen verloren. Die allumfassend staatlich festgesetzten Preise erfüllten in wachsendem Maße weder ihre Funktion als objektiver Maßstab der Werte, noch lenkten sie die Ressourcen in die von Investoren und Verbrauchern gewollten Verwendungen. Ihre Funktion ging an Institutionen über, die den Macht- und Gestaltungsanspruch der Kaderpartei und deren Führung in der Realität durchsetzten. Die Wirtschaft wurde zum Gefangenen der Politik und deren bürokratischer Instanzen, und mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel ging zugleich das kreative Potential des privaten Unternehmertums verloren. Die Analyse des Systemversagens liegt im Schnittpunkt mehrerer Wissenschaftsdisziplinen. Für einen Volkswirt steht die gesamtwirtschaftliche Leistung im Mittelpunkt. Einzelne Defizite des Systems, wie die Nichterfüllung der Wirtschaftspläne und der Verlust an objektiven Maßstäben des Wirtschaftens sind schon sehr früh anhand der Beobachtungen des Wirtschaftsgeschehens in den Anfangsjahren der UdSSR4 und der DDR5 benannt worden. Indes es fehlte der praktische Beleg für das Scheitern dieser Wirtschaftsordnung in ihrer Totalität. Schließlich existierte sie sieben Jahrzehnte in der UdSSR und vier Jahrzehnte in der DDR und anderen Staaten Mittel- und Osteuropas. Nach ihrem Untergang stellen sich die Fragen schärfer im Systemzusammenhang. Der Aufsatz ist wie folgt gegliedert: Zunächst werden die Grundzüge des Industrialisierungsmodells der DDR als Ausgangspunkt und Kernstück der Wirtschaftsstrategie dargelegt. Daran schließt sich die Darstellung der wechselvollen Geschichte des Konsums gegenüber der Produktion an. Es folgt die Analyse des extensiven und intensiven Wachstumstyps der Wirtschaft und des Systemversagens beim gewollten, aber nicht gelungenen Übergang zum intensiven Wirtschaftswachstum. Sodann werden die Konsequenzen daraus für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in das Blickfeld genommen. Abschließend wird das Leistungsniveau der Gesamtwirtschaft im letzten Jahrzehnt der DDR mit dem

Geschichte des 17. Juni 1953, Reinbek bei Hamburg 1990. Schirdewan, Karl: Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994. Lippmann, Heinz: Honecker. Porträt eines Nachfolgers, Köln 1971. 4

Die Praxis der Zentralplanung in Russland und ihre wirtschaftlichen Folgen wurden sehr früh einer kritischen Bewertung unterzogen. Brutzkus, Boris: Der Fünfjahresplan und seine Erfüllung, Leipzig 1932.

5

Gleitze, Bruno: Die Produktionswirtschaft der DDR im Wettbewerb mit der westlichen Industriewelt. In: Die DDR nach 25 Jahren. Hg. von Gleitze, Bruno. Ludz, Peter Christian / Merkel, Konrad / Pleyer, Klemens / Thalheim, Karl. C.: Berlin 1975, S. 13 ff.

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Stand in der früheren Bundesrepublik Deutschland verglichen und ein Fazit gezogen. Aufbau einer autarken Wirtschaft Das Stalinsche Industrialisierungsmodell der vorrangigen Entwicklung der Schwerindustrie und seine Folgen für die entwickelte Industriewirtschaft. Am Ende des verheerenden zweiten Weltkriegs war Deutschland politisch in vier Besatzungszonen geteilt, das Produktionspotential stark zerstört und von Demontagen durch die Siegermächte, Entnahmen aus der laufenden Produktion, Abzug von Spezialisten, hohen Besatzungskosten sowie anderen Reparationsleistungen geschwächt. Der einst voll ausgebildete, arbeitsteilig funktionierende Wirtschaftskörper war durch die alliierten Militärregierungen zerrissen, die Wiederherstellung der Einheit durch die gegensätzlichen Interessen der westlichen Siegermächte und der Sowjetunion auf lange Zeit von der politischen Agenda verschwunden. Für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) blieb eine „Rumpfwirtschaft“.6 Die früheren Bezugsquellen der für eine Industriewirtschaft maßgeblichen Rohstoffe Steinkohle, Eisen und Stahl lagen vor allem in den westlichen Besatzungszonen; die Metallverarbeiter in der sowjetischen Zone waren von ihnen abgeschnitten. Hier lagerten weniger als 1 % der Vorkommen an Steinkohle im Gebiet des Deutschen Reichs von 1937, nur 7,5 % der Vorräte an Eisenerz, aber fast die Hälfte der Vorräte an Braunkohle.7 Ende des Krieges betrug die Produktion an den ausschlaggebenden Rohstoffen bzw. Produktionsgütern in Prozent der gesamtdeutschen Erzeugung bei Steinkohle 2,3 %, bei Roheisen 1,3 % und bei Rohstahl 6,6 %. Es bestand ein ungeheures Missverhältnis zwischen der Grundstoffindustrie und der Verarbeitenden Industrie. Insgesamt lag der Anteil der Industrieproduktion bei einem Viertel.8 Als durch die Berlin-Blockade 1948/49 die Anzeichen für den Beginn des Kalten Krieges zwischen den Siegermächten und die Gründung zweier Staaten in Deutschland die Aussichten für die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit in einem überschaubaren Zeitraum schwanden, stand die Entscheidung über den Weg zur Überwindung der Disproportionen in der Produktionswirtschaft der SBZ bzw. DDR auf der Tagesordnung: Eingliederung in die internationale Arbeitsteilung oder Aufbau einer eigenen, alle Schlüsselzweige umfassenden Produktion.9 Das Ergebnis war politisch durch die Herrschaftsverhältnisse in der Partei- und Staatsführung und deren sowjetische

6

Karlsch, Reiner: Allein bezahlt?, Berlin 1993, S. 55 ff.

7

Gleitze, Bruno: Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956, S. 220.

8

Gleitze, Bruno: Die Wirtschaftsstruktur der Sowjetzone und ihre gegenwärtigen sozial- und wirtschaftsrechtlichen Tendenzen, Bonn 1951, S. 4.

9

In der Zeit des alles beherrschenden Dogmatismus unter den Politökonomen der DDR in den 1950er Jahren war es wohl allein Kohlmey, der eine solche Alternative in Erwägung gezogen hatte. Kohlmey, Gunther: Spaltungsdisproportionen und Außenhandel, in: Wirtschaftswissenschaft, 1/1958, S. 51 ff.

1412

Berater10 vorbestimmt: die Durchsetzung des Stalinschen Industrialisierungsmodells. Das Stalinsche Industrialisierungsmodell beinhaltet „eine solche Entwicklung der Großindustrie und in erster Linie der Schwerindustrie, die für die Umgestaltung der gesamten Volkswirtschaft auf der Grundlage der modernen maschinellen Technik, für den Sieg der sozialistischen Wirtschaftsformen, die technisch-ökonomische Unabhängigkeit des Landes von der kapitalistischen Umwelt und seine Verteidigungsbereitschaft notwendig ist“.11 Es war für die Entwicklung der rückständigen russischen Wirtschaft aus der Zarenzeit zu einem modernen Industriestaat konzipiert und mit den ersten beiden Fünfjahrplänen von 1928 bis 1937 praktiziert worden. Abweichend vom bis dahin vorherrschenden historischen Muster der Industrialisierung in den seiner Zeit führenden Ländern setzte die Industrialisierung nicht bei der Herstellung von Konsumgütern sondern von Produktionsmitteln an. So wurde das Industrialisierungsprogramm in der Frühzeit der UdSSR in historisch kurzer Frist und unter großen menschlichen Opfern ausgeführt.12 Ungeachtet der besonderen historischen Umstände in Russland, wurde es später in den Rang eines allgemeingültigen Prinzips sozialistischer Industrialisierung erhoben.13 In der Sowjetischen Besatzungszone hatten zwar die Zerstörungen durch den zweiten Weltkrieg, die Demontagen und die Entnahmen aus der laufenden Produktion durch die Siegermacht zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden das Produktionspotential geschwächt, aber von einer technisch und wirtschaftlich rückständigen Wirtschaft, die erst einmal die Industrialisierung gemäß dem Stalinschen Modell nachholen müsse, konnte keine Rede sein. Weil Bodenschätze fehlten, waren zwar einige Zweige der Grundstoffindustrie schwach entwickelt, es existierte aber ein leistungsfähiger Maschinen- und Fahrzeugbau. Trotzdem stand von Anfang an der Aufbau einer eigenen Schwerindustrie im Mittelpunkt der Pla10 Zur Stellung der sowjetischen Berater Schneider, Jürgen: Das Modell Sowjetunion für die Transformation der Wirtschaft in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ) durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949, in: Von der sozialistischen Zentralplanwirtschaft der SBZ / DDR zur Sozialen Marktwirtschaft in den Neuen Bundesländern (Arbeitstitel), Dresden 2017 (im Erscheinen). 11 Politische Ökonomie. Lehrbuch. Nach der dritten, überarbeiteten, russischen Ausgabe, Berlin (-Ost) 1959, S. 419. 12 Der Entscheidung über den einzuschlagenden Weg der Industrialisierung des rückständigen Landes war in der UdSSR eine intensive Debatte in den 1920er Jahren vorausgegangen, an der sich auch namhafte Persönlichkeiten wie Bucharin und Trotzki beteiligten. Letztlich setzte sich Stalins Version durch, wie das folgende Zitat aus dem Jahr 1926 belegt: „Nicht jede beliebige Entwicklung der Industrie bedeutet Industrialisierung. Den Schwerpunkt der Industrialisierung, ihre Grundlage bildet die Entwicklung der Schwerindustrie (Brennstoffe, Metall und dergleichen), die Entwicklung letzten Endes der Produktion von Produktionsmitteln, die Entwicklung eines eigenen Maschinenbaus“. Stalin, J. W.: Über die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion und die Politik der Partei, in Stalin, J. W.: Werke, Bd. 8, Berlin 1952, S.107. 13 Roesler, Jörg: Sozialistische Industrialisierung, in : Handbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin (-Ost) 1981, S. 1020 ff.

1413

nungen. Dies belegen nicht nur die Richtlinien der ersten Fünfjahrpläne,14 sondern vor allem auch die Konzentration der Investitionen auf die Grundstoffindustrie und den Schwermaschinenbau. In Mitteldeutschland wurden neue Braunkohlenlagerstätten erschlossen, eine Großkokerei und neue Elektrizitätswerke errichtet. Die verbliebenen Werke der mitteldeutschen Eisen- und Stahlindustrie in Brandenburg (Havel), in Calbe, Döhlen, Freital, Gröditz, Hennigsdorf, Riesa, Thale und Unterwellenborn wurden ausgebaut und rekonstruiert. In Fürstenberg (Oder) wurde ein völlig neues Eisen- und Stahlwerk an einem Standort errichtet, der weder über eigene Erzlagerstätten noch über die zur Verhüttung erforderlichen Kohlevorkommen verfügte. Unwirtschaftliche Kostenbelastungen für die Beschaffung der Roh- und Betriebsstoffe und deren Transport über weite Entfernungen waren die Folge.15 In den Städten an der Ostsee war zur Erfüllung der Reparationszahlungen auf geheimen Befehl der SMAD bereits 1946 ein großes Schiffbauprogramm in Gang gesetzt worden.16 Anlagen für den Bau von Elektromaschinen und von Ausrüstungen für die chemische Industrie wurden neu errichtet sowie neue Chemieanlagen in Betrieb genommen. Auf den Großbaustellen des ersten Fünfjahrplans wurden Arbeitskräfte aus allen Teilen des Landes zusammengezogen. Die Entwicklung verlief allerdings nicht problemlos. Im Jahr 1953 wurde ein „Neuer Kurs“ beschlossen, mit dem nach Stalins Tod unter dem Druck der neuen Machthaber in Moskau und der Arbeiterunruhen in der DDR am 17. Juni 1953 das schwerindustriell dominierte Aufbauprogramm zwar vorübergehend zurückgenommen, letztlich aber nur zeitlich gestreckt wurde. Die Investitionen in die Schwerindustrie wurden gekürzt, verschoben oder ganz gestrichen.17 Besonders hart trafen die Einschnitte die Eisen- und Stahlindustrie. Die Anlageinvestitionen gingen 1954 um fast ein Drittel und 1955 weiter, sogar um reichlich 40 % zurück. Diese Branche erreichte im ganzen Jahrzehnt nie wieder das Investitionsniveau 14 Im 1951 beschlossenen ersten Fünfjahrplan heißt es dazu: „Durch den Neu- und Ausbau der Produktionskapazitäten in der Metallurgie, im Schwermaschinenbau und in der chemischen Industrie ist eine weitgehende Unabhängigkeit unserer Volkswirtschaft von dem kapitalistischen Ausland sicherzustellen“. Ein Plan zum besseren Leben, Berlin (-Ost) 1951, S. 7. Noch deutlicher wurden die Prioritäten im zweiten Fünfjahrplan: „Die vorrangige Entwicklung der Grundstoffindustrie, vor allem der Kohle-, Energie- und Chemieproduktion ist zu sichern“ und weiter „Der Maschinenbau hat in erster Linie die erforderlichen Ausrüstungen für die Entwicklung der Grundstoffindustrie, insbesondere für Kohle und Energie, zu liefern. Die Produktion von Tagebaugroßgeräten, Ausrüstungen für die Brikettfabriken, Energiemaschinen, Stahlkonstruktionen und anderen wichtigen Schwermaschinenbauerzeugnissen ist dementsprechend zu erhöhen“. Gesetzblatt der DDR Teil I, Nr. 5/1958, S. 42. 15 Die Eisen- und Stahlindustrie der DDR musste laut regierungsamtlicher, unveröffentlichter Unterlagen von Beginn an subventioniert werden. Unger, Stefan: Eisen und Stahl für den Sozialismus, Berlin 2000, S. 237 f. 16 Karlsch, a.a.O., S.178 f. 17 Fritz Schenk, ehemaliger Mitarbeiter des Planungschefs der DDR, Bruno Leuschner, berichtete später von Scheinoperationen. Schenk, Fritz: Das rote Wirtschaftswunder, Stuttgart 1969, S. 57.

1414

von 1953 und verlor ihre Vorrangstellung in der Wirtschaftspolitik für alle Zeiten.18 An ihre Stelle trat als Schwerpunktbranche die Energie- und Brennstoffindustrie. Der Bereich Kohle und Energie verschlang ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahren jährlich fast die Hälfte aller Industrieinvestitionen. Zusammen mit der Eisen- und Stahlindustrie sowie der chemischen Industrie einschließlich Kokerei und Mineralölverarbeitung beliefen sich in diesem Zeitraum die Investitionen in der anlagenintensiven Grundstoffindustrie insgesamt auf drei Viertel aller Industrieinvestitionen. Nimmt man noch den Maschinen- und Fahrzeugbau hinzu, so beanspruchte die Schwerindustrie nach 1950 sogar reichlich vier Fünftel der Industrieinvestitionen (Tabelle 1). Auch außerhalb der Industrie, wie z. B. zum Aufbau eigener Streitkräfte und für den Schulbau wurden hohe Investitionen beansprucht.

18 Unger, a. a. O., S. 212.

1415

Tabelle 1: Anlageinvestitionen in der Industrie der DDR 1950 bis 1960

Jahr

Industrie insgesamt

1951

43,0

58,3

1952

21,8

31,5

1953

17,4

16,6

1954

-5,7

-7,2

Grundstoffind.

ElektroSchwerindustrie technik Maschi- FahrSumme u. a. nenbau zeugbau Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % 45,4

47,1

56,3

64,7

6,2

5,6

27,5

-17,4

-17,0

12,3

-21,3

-21,0

-8,5

Leichtindustrie

Lebensmittelindustrie

-10,1

-18,1

29,0

-31,8

-11,6

-2,2

185,3

-1,9

-12,7

-1,2

64,9

1955

9,7

4,7

29,7

28,5

6,7

-1,2

30,0

26,5

1956

30,5

29,9

57,8

65,5

32,9

135,0

2,5

8,6

1957

3,8

13,0

29,8

-59,8

10,3

-10,6

-19,5

-48,3

1958

7,9

8,2

10,0

-26,0

7,7

5,6

10,5

11,3

1959

24,4

19,4

15,5

119,4

20,4

63,8

51,7

37,2

1960

14,7

14,6

2,2

25,5

13,9

20,6

22,4

8,4

Anteil an Industrie in % 1950

100,0

65,2

7,4

5,4

78,1

2,7

10,0

9,2

1951

100,0

72,2

7,6

5,6

85,3

3,1

6,3

5,3

1952

100,0

77,9

6,6

4,8

89,3

3,3

3,5

3,8

1953

100,0

77,4

4,6

3,4

85,4

2,8

8,6

3,2

1954

100,0

76,2

3,9

2,9

82,9

2,5

9,0

5,6

1955

100,0

72,7

4,6

3,3

80,6

2,3

10,7

6,4

1956

100,0

72,4

5,5

4,2

82,1

4,1

8,4

5,3

1957

100,0

78,7

6,9

1,6

87,3

3,6

6,5

2,7

1958

100,0

78,9

7,1

1,1

87,1

3,5

6,6

2,7

1959

100,0

75,7

6,5

2,0

84,3

4,6

8,1

3,0

1960

100,0

75,7

5,8

2,2

83,7

4,8

8,6

2,9

Legende: Grundstoffindustrie: Bergbau, Steine-Erden-Industrie; Energie- und Wasserversorgung; Kokerei, Mineralölverarbeitung; Chemische Industrie; Herst. und Bearbeitung von Metallen, Herst. von Metallerzeugnissen; Elektrotechnik: Büromaschinen, Elektrotechnik, Feinmechanik, Optik; Leichtindustrie: Textil-, Bekleidungs- und Ledergewerbe; Holzgewerbe (einschl. Möbel); Gummiund Kunststoffwarenindustrie; Papier-, Verlags- und Druckgewerbe; Herst. von Musikinstrumenten, Spiel- und Schmuckwaren, Sportgeräten.

Quelle:

Eigene Berechnungen auf Basis Heske, Gerhard: Wertschöpfung, Erwerbstätigkeit und Investitionen in der Industrie Ostdeutschlands, 1950-2000: Daten, Methoden, Vergleiche. HSR Vol. 38, 4/2013, Köln 2013, S. 195 ff.

Die Investitionen in die Industriezweige, die vorrangig Konsumgüter für die vom Krieg ausgezehrte und von dessen Folgen gezeichnete Bevölkerung produzierten, waren gering. In die Leicht- und Lebensmittelindustrie floss jährlich weniger als ein Fünftel aller Industrieinvestitionen. Ihr Anteil ging bis Ende der 1950er Jahre auf rund ein Zehntel zurück. Mit der Komplettierung der Branchenstruktur wurde nicht nur ein technisches Anliegen verfolgt. Mit ihr wurde gleichzeitig der staatliche Sektor in der Industrie

1416

ausgebaut.19 Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurde mehr und mehr zurückgedrängt. Die DDR erhielt sich allerdings bis zum Jahre 1972 eine institutionelle Besonderheit: Privatbetriebe mit staatlicher Beteiligung. Die verbliebenen etwa 10 000 Privatbetriebe und Betriebe mit staatlicher Beteiligung wurden nach dem Machtantritt Erich Honeckers auf Anraten der Führung der KPdSU im Jahr 1972 verstaatlicht. Außenhandel im Dienste der Autarkiebestrebungen Das Stalinsche Industrialisierungsmodell eines Landes umfasst die Entwicklung eines von der Schwerindustrie dominierten, bis zur Leicht- und Lebensmittelindustrie reichenden, breit gefächerten Branchenprofils, mit dem ein hoher Grad an Selbstversorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft sowie dessen militärische Verteidigungsfähigkeit gesichert werden können. Solange die neue Wirtschaftsordnung nur in einem einzelnen Land existierte, und die UdSSR sich in den frühen Jahren während des Bürgerkries und der Interventionskriege gegen Angriffe von Innen und Außen verteidigen musste, erwies sich eine solche Entwicklungsstrategie nicht nur für die 1920er Jahre sondern auch danach, angesichts der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehenden Kriegsgefahr, als tragbar, sondern auch als überlebenswichtig. Zudem verfügte das Land über alle Voraussetzungen für den Aufbau einer strukturell voll ausgeprägten Volkswirtschaft und Industrie: ein weites, reichlich mit Naturschätzen ausgestattetes Territorium und einen großen Binnenmarkt mit zahlreicher Bevölkerung. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs breitete sich die staatssozialistische Wirtschaftsordnung im Herrschaftsbereich der UdSSR auf eine ganze Reihe kleiner mittel- und osteuropäischer Staaten mit unterschiedlichem ökonomischen Entwicklungsstand aus. Neben der industriell hochentwickelten DDR und der Tschechoslowakei gehörten dazu die noch agrarisch geprägten europäischen Länder Albanien, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Sollte hier die Industrialisierung dem gleichen Muster wie in der UdSSR folgen und sie die Errichtung unabhängiger nationaler Volkswirtschaften mit einer von der Schwerindustrie dominierten Industriestruktur zum Ziel haben? Obwohl der Staatssozialismus bald eine ganze Ländergruppe umspannte und seine wirtschaftliche Selbständigkeit mit einer allseitig entwickelten Industrie in ihrer Gesamtheit, wenn auch nicht in jedem einzelnen Land, gewährleistet werden konnte, folgten die politischen Entscheidungsträger in diesen Ländern für die Aufbaujahre der neuen Ordnung nach der Beseitigung der Kriegsschäden wie in der DDR dem Stalinschen Industrialisierungsmodell.20 Die Politik entschied sich gegen die Gesetze der Ökonomie: Klei19 Mühlfriedel, Wolfgang; Wießner, Klaus: Die Geschichte der Industrie der DDR bis 1965, Berlin (-Ost) 1989. 20 In dem 1962 angenommenen Grundsatzdokument wird „die Entwicklung der Schwerindustrie und ihres Kernstücks des Maschinenbaus“ für alle aufholenden Volkswirtschaften festgeschrieben und eine „Mehrzweigstruktur der Volkswirtschaft" gefordert, „die die Industrie und Landwirtschaft, die extraktiven und verarbeitenden Zweige, die Produktion von Produktionsmitteln und von Konsumtionsmitteln zu einem optimalen Komplex verbindet“. Grund-

1417

ne Länder können keine allseitig entwickelte Industrie auf wirtschaftliche Weise entwickeln! Die Ressourcen sind zu knapp, um auf allen Gebieten effizient zu produzieren und die Inlandsmärkte sind zu klein, um Massenproduktionen aufzunehmen. Solche Einsichten gerieten erst viel später und deutlich eingeschränkt in ihrer ökonomischen Wirkung auf die politische Agenda. Alternative Überlegungen, die den Vorrang der Entwicklung der Schwerindustrie in Frage stellten, waren noch Anfang der 1960er Jahre zurückgewiesen worden.21 Zunächst wurden in allen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs viele neue Industriezweige parallel aufgebaut.22 Die damit verbundenen Ineffizienzen kleiner Losgrößen auf der einen Seite und Produktionsüberschüssen auf der anderen Seite wurden zwar Anfang der 1960er Jahre zur Kenntnis genommen.23 Mit dem Aufbau komplexer nationaler Produktionsstrukturen waren jedoch neue Pfadabhängigkeiten der Entwicklung begründet worden, die in den folgenden Jahren den Möglichkeiten der Spezialisierung und Kooperation zwischen den Ländern innerhalb des Wirtschaftsblocks ihren Stempel aufdrückten. So wurde die in der DDR hochsubventionierte Metallerzeugung im Zuge der einsetzenden wirtschaftlichen Integration nicht wesentlich weiter ausgebaut, ihr Bestand zog aber kostenintensive Investitionen zur Modernisierung des Produktionsapparates und der Produktpalette nach sich. Der über den Außenhandel zwischen den Ländern des gemeinsamen Wirtschaftsblocks vermittelte Warenaustausch auf Basis der historisch gegebenen und neu entstandenen nationalen Produktionszweige wurde mit fortschreitender Eingliederung in die Arbeitsteilung zwischen ihnen allmählich um die Koordination der Produktionspläne erweitert. Die anfängliche Spezialisierung auf Endprodukte wurde vertieft um die Spezialisierung der Fertigung von Baugruppen, Komplettierungsteilen und Zubehör. Einen Schwerpunkt bildete hier der Maschinenbau.24 Die Forderung nach Stärkung der wirtschaftlichen Selbständigkeit jedes einzelnen Landes wurde zwar offiziell nie aufgegeben, mit der zunehmenden wirtschaftlichen Integration innerhalb der Staatengemeinschaft verlor sie jedoch blockintern prinzipien der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung“, in: Freundschaft, Zusammenarbeit, Beistand. Grundsatzverträge zwischen den sozialistischen Staaten, Berlin 1968, S. 292, 297. 21 So wurde der von Huber diskutierte Vorschlag einer „passiven Industrialisierung“, die auf die jeweiligen Stärken der nationalen Wirtschaft setzt, als „unmarxistisch und daher unwissenschaftlich“ abqualifiziert. Huber, Gerhard: Bestimmung des ökonomischen Entwicklungsniveaus eines sozialistischen Landes, in: Wirtschaftswissenschaft, Heft 4/1963, S. 552 f. und die Kritik daran in Form eines redaktionellen Artikels in derselben Zeitschrift , Heft 11/1963, S. 1720. 22 Schultz, Helga: Die sozialistische Industrialisierung - toter Hund oder Erkenntnismittel?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1999/2, S. 110 ff.; Laschke, Michael: Grundzüge der sozialistischen Industrialisierung in den europäischen Mitgliedsländern des RGW, Berlin (-Ost) 1981, S. 35 ff. 23 Autorenkollektiv: RGW − DDR. 25 Jahre Zusammenarbeit, Berlin (-Ost) 1974, S. 131. 24 Ebenda S. 132, S. 175.

1418

an Bedeutung. In den 1970er Jahren rückte auch die Wahl von Produktionsstandorten nach internationalen Standortkriterien innerhalb des Wirtschaftsblocks auf die Agenda bis hin zu grenzüberschreitenden Faktorwanderungen zur Erschließung von Lagerstätten und zum Aufbau gemeinsamer Produktionsbetriebe der staatssozialistischen Länder.25 Das Autarkiestreben konzentrierte sich von da an auf die Bewahrung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Wirtschaftsblocks als Ganzes und jedes einzelnen Landes vom kapitalistischen Ausland.26 Gestützt auf die Stalinsche These vom Zerfall des einheitlichen Weltmarktes in "zwei parallele Weltmärkte, die [...] einander gegenüberstehen", sollte sich der Handel mit den kapitalistischen Ländern allmählich erübrigen.27 Die nationalen Industrialisierungsprogramme der sozialistischen Länder würden dazu führen, dass diese Länder "nicht auf die Einfuhr von Waren aus den kapitalistischen Ländern angewiesen" sein werden.28 Erst Jahre nach dem Tode von Stalin regte sich unter den Volkswirten Widerspruch.29 Allerdings sah die Wirtschaftspolitik den Außenhandel und hier insbesondere den Export vorrangig als ein Mittel ("notwendiges Übel") an, um die Einfuhren zu bezahlen, auf die letztlich wegen fehlender Rohstoffe und moderner Technologien nicht verzichtet werden konnte. Zur Umsetzung der Autarkiebestrebungen konnten die staatssozialistischen Länder auf die Einrichtung des Außenhandels- und Valutamonopols zurückgreifen. Ursprünglich sollte es "die wirtschaftliche Unabhängigkeit" eines sozialistischen Landes "von der kapitalistischen Umwelt" sichern und den "Binnenmarkt vor dem Eindringen des Auslandskapital, vor dem verheerenden Einfluss der Wirtschaftskrisen und der Anarchie des kapitalistischen Weltmarkts" bewahren.30 Mit der Ausbreitung des staatssozialistischen Systems auf die mittelosteuropäischen Länder und darüber hinaus kam als Aufgabe des Monopols die aus den na25 Kohlmey, Gunther: Vergesellschaftung und Integration im Sozialismus, Berlin (-Ost) 1973, S. 158 ff. 26 Im Kapitel zu den Grundprinzipien der wirtschaftlichen Integration der Mitgliedsländer des RGW heißt es: "Die weitere Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration fördern das Wachstum der ökonomischen Macht des sozialistischen Weltsystems und die Stärkung der Volkswirtschaft jedes einzelnen Landes und sind ein wichtiger Faktor für die Festigung seiner Einheit und Überlegenheit über den Kapitalismus". Komplexprogramm für die weitere Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW, in: Grunddokumente des RGW, Berlin (-Ost) 1978, S. 49. 27 Stalin, J.: Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin (-Ost) 1952, S. 31. 28 Ebenda S. 32. 29 Der angesehene ungarische Ökonomen Vajda sah im Befolgen der Stalinschen These nicht nur einen Verzicht auf die Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung, sondern auch eine dahinter verborgene "Autarkie der Befriedigung der Bedürfnisse", die in das „Primat der Einfuhr“ im Außenhandel gipfelte und der Ausfuhr lediglich eine Rolle zur Deckung der Einfuhr zuwies. Vgl. Imre Vajda, Grundfragen der Entwicklung des sozialistischen Außenhandels, in: Wirtschaftswissenschaft 7/1963, S. 1058. 30 Politische Ökonomie. Lehrbuch, 1. Auflage, Berlin (-Ost) 1955, S. 584.

1419

tionalen Machtzentren geleitete Organisation der Zusammenarbeit zwischen diesen Ländern hinzu.31 In der DDR wurden die wirtschaftlichen Transaktionen mit dem Ausland im Ministerium für Außenhandel (bis 1967 Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel, von 1967 bis 1974 Ministerium für Außenwirtschaft) zentralisiert und über fachlich spezialisierte Außenhandelsbetriebe abgewickelt. Bezeichnenderweise wurde streng getrennt zwischen den Betrieben, die für den Außenhandel gemäß Plan (Planhandel) zuständig waren, der in der Regel in physischen Einheiten aufgestellt und abgearbeitet wurde, und solchen, die außerplanmäßige Auslandsgeschäfte betrieben. Letztere gehörten zum sogenannten Bereich "Kommerzielle Koordinierung", der Mitte der 1960er Jahre gegründet wurde und unter Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski vorrangig Devisenerträge zu erwirtschaften hatte.32 Mit der institutionellen Trennung der Handelsfunktion von der Produktion wurde zugleich der Grundstein für die Abkoppelung der unmittelbaren Güterproduzenten vom Wettbewerb auf den internationalen Märkten gelegt. Informationsverluste und Rückstände in der Produkt- und Verfahrensentwicklung waren die Folge, die sich besonders in der Phase der Beschleunigung des technischen Fortschritts in den 1960er Jahren negativ bemerkbar machten und zu drastischen technologischen Rückständen führten. Mehr noch: Das Außenhandels- und das Valutamonopol schufen die Möglichkeit, die Güterpreise zwischen der Binnenwirtschaft und den Weltmärkten voneinander zu entkoppeln und die Preissetzung im Inland in den Dienst der jeweiligen nationalen Wirtschaftsziele zu stellen.33 Die Binnenpreise verloren weitgehend ihre Bedeutung als Maßstab der Werte. Spätere Versuche, diesen Maßstab durch Preisreformen im Inland zurückzugewinnen, gingen nicht über die Stufe der Erzeuger hinaus und wurden durch die Politik stabiler Verbraucherpreise in ihrer Wirkung ausgebremst. Im Gefolge der Turbulenzen auf den internationalen Erdöl- und Rohstoffmärkten erhöhte sich zwar seit Mitte der 1970er Jahre der Einfluss der Weltmarktpreise auf die Erzeugerpreise im Inland, er blieb jedoch weiterhin deutlich hinter dem inländischer Kostenfaktoren zurück.34

31 Autorenkollektiv, Sozialistische Außenwirtschaft, Berlin (-Ost) 1976, S. 271. 32 Judt, Matthias: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski - Mythos und Realität, Berlin 2013, S. 44. 33 Die Preise im Warenaustausch zwischen den Ländern des eigenen Wirtschaftsblocks wurden auf Beschluss der Ratstagungen des RGW bzw. seines Exekutivkomitees vertraglich auf Basis der Preise auf den westlichen Hauptwarenmärkten festgelegt. Die Anpassung an Preisänderungen erfolgte in den 1960er Jahren im Abstand von fünf Jahren, ab 1976 jährlich auf Basis gleitender Fünfjahresdurchschnitte. 34 So resultierte laut interner Berechnung des Preisamtes die Steigerung der Erzeugerpreise für Industrie- und Agrargüter, Bauleistungen und Verkehrstarife in der DDR in den Jahren 1970 bis 1987 nur zu 18 % aus dem Kostenanstieg für Importe an Energieträgern, Roh- und Werkstoffen. Der Löwenanteil mit zwei Dritteln entfiel auf die Kostensteigerung bei der Gewinnung einheimischer Energieträger (Braunkohle), Roh- und Werkstoffe.

1420

Für die rohstoffarme "Rumpfwirtschaft", die der DDR nach der Spaltung Deutschlands geblieben war, war die von Stalin propagierte Strategie der Selbstversorgung wirklichkeitsfremd und letztlich zum Scheitern verurteilt. Das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit vom Ausland traf trotz der forcierten Entwicklung der Schwerindustrie allein schon wegen fehlender Bodenschätze und Vorprodukte für die entwickelte Industriewirtschaft der DDR auf enge Grenzen. Die politische und militärische Integration der DDR in den Herrschaftsbereich der UdSSR,35 der einsetzende Kalte Krieg und verschiedene Wirtschaftsembargos gegen die sozialistischen Länder zogen allerdings sehr früh eine Neuausrichtung des Außenhandels nach sich.36 Die Handelsströme aus dem und in das Gebiet der DDR, die vor der deutschen Teilung innerhalb des Reichsgebiets und mit den westlichen Industrieländern geflossen waren, wurden zugunsten der sogenannten Staatshandelsländer, insbesondere mit der UdSSR, umgeleitet. So rückte die UdSSR zur wichtigsten Bezugsquelle von Warenimporten − insbesondere im Roh- und Brennstoffbereich − und als einflussreiches Zielland für die Exporte − vor allem der chemischen Industrie und des Maschinen- und Fahrzeugbaus − auf. Die Schwerpunkte der Produktionsentnahmen der UdSSR in der sowjetisch besetzten Zone nach dem Krieg in Form von Reparationszahlungen wurden zu Exportverpflichtungen mit einer hohen Abhängigkeit der DDR vom Absatzmarkt in der UdSSR. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit schien damit generell nicht in Gefahr zu geraten, solange sich die neuen Abhängigkeiten innerhalb desselben Wirtschaftssystems auf derselben ordnungsökonomischen Grundlage, mit einheitlichen Macht- und Organisationsstrukturen und einheitlicher politischer und ökonomischer Orientierung bewegten.

35 Die DDR war 1950 dem 1949 gegründeten "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)", der Wirtschaftsgemeinschaft der sozialistischen Länder (im Westen "COMECON" genannt), und 1955 dem unter sowjetischer Führung stehenden militärischen Bündnis der sozialistischen Länder, dem "Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand", beigetreten. 36 So wurden im Zuge der Abriegelung der Zufahrtswege von und nach Berlin (West) die Lieferungen in die Sowjetische Besatzungszone über den innerdeutschen Handel 1948/49 vorübergehend eingestellt. Im Jahr 1960 drohte die Regierung der Bundesrepublik mit der Kündigung des innerdeutschen Handelsabkommens. Auf die damit zu erwartenden Versorgungsengpässe der Wirtschaft reagierte die Politik mit Maßnahmen zur „Störfreimachung“. Die ostdeutsche Industrie musste sich darauf einstellen, den möglichen Produktionsausfall durch Eigenleistung oder Importe aus der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern soweit es ging zu kompensieren.

1421

Tabelle 2: Außenhandel und innerdeutscher Handel der DDR 1950, 1955 und 1960 Warenausfuhr Jahr

Ausland Intrahandel

Extrahandel

Innerdeutsch. Handel

Wareneinfuhr Ausland Summe

Intrahandel

Extrahandel

Innerdeutsch. Handel

Summe

Anteile in % 1950

68,2

12,3

19,5

100,0

75,9

11,2

12,9

100,0

1955

73,6

15,8

10,7

100,0

70,6

18,2

11,2

100,0

1960

75,7

13,3

11,0

100,0

73,9

16,6

9,5

100,0

Umsatz 1950 = 100 1955

339,5

404,7

172,0

314,8

232,4

406,9

215,6

249,7

1960

598,6

587,1

303,3

539,5

450,0

685,1

339,6

462,0

1960

176,3

145,1

176,4

168,4

157,5

185,0

Umsatz 1955 = 100 171,4

193,7

Legende: Intrahandel: Handel mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern; Extrahandel: Handel mit übrigem Ausland; Innerdeutscher Handel: Handel mit der BRD und Berlin (West)

Quelle:

Statistische Jahrbücher der DDR 1955 bis 1960/61; eigene Berechnungen.

Bereits im Jahr 1950 wickelte die DDR die grenzüberschreitenden Warenströme hauptsächlich mit ihren Handelspartnern im sowjetischen Einflussbereich ab (Intrahandel). Im Export lag der Anteil bei zwei Dritteln, im Import bei drei Vierteln des Umsatzes. Innerhalb des folgenden Jahrzehnts erhöhte sich der Export im Intrahandel mit den sozialistischen Partnerländern auf das 6-fache, im Import auf das 4,5-fache (Tabelle 2). Der Anteil lag 1960 bei jeweils drei Vierteln. Der Zuwachs des innerdeutschen Handels blieb hinter dieser Dynamik weit zurück, so dass im Jahr 1960 nur noch rund 10 % der Ausfuhr und der Einfuhr mit der Bundesrepublik und Berlin (West) getätigt worden sind. Die Gewichte außerhalb des Wirtschaftsblocks verschoben sich zugunsten des Handels mit dem übrigen Ausland.

1422

Tabelle 3: Ausfuhr-Einfuhr-Saldo im Außenhandel und innerdeutschen Handel der DDR für Erzeugnisgruppen der Schwerindustrie 1951 bis 1955 Millionen Rubel Erzeugnishauptgruppe

1951

1952

1953

1954

1955

Intrahandel Extrahandel Innerdt. Handel

–273,3 98,4 2,2

–438,3 147,6 22,5

–538,1 100,0 63,7

–603,0 103,0 83,2

–618,3 106,0 117,9

Insgesamt Intrahandel Extrahandel Innerdt. Handel

–172,7 –255,0 –57,9 –26,5

–268,2 –287,1 –76,3 –29,4

–374,4 –394,7 –80,2 –51,1

–416,8 –457,9 –35,2 –89,8

–394,4 –495,6 –65,1 –100,7

Chemische Erzeugnisse

Insgesamt Intrahandel Extrahandel Innerdt. Handel

–339,4 327,3 –9,3 4,7

–392,8 313,3 –5,6 –9,1

–526,0 307,9 1,6 31,2

–582,9 454,7 40,3 46,7

–661,4 414,1 91,3 62,2

Schwermaschinen

Insgesamt Intrahandel Extrahandel Innerdt. Handel

322,7 233,8 –3,7 –8,3

298,6 270,0 1,1 –10,9

340,7 726,3 –1,2 –10,5

541,7 883,1 4,1 –9,4

567,6 655,2 15,7 –5,9

Allgemeine Maschinen

Insgesamt Intrahandel Extrahandel Innerdt. Handel

221,8 342,7 35,0 –0,3

260,2 430,5 31,9 0,1

714,6 666,9 20,8 5,4

877,8 640,2 30,5 3,7

665,0 513,0 43,3 –1,4

Fahrzeuge (ohne Schiffe)

Insgesamt Intrahandel Extrahandel Innerdt. Handel

377,4 73,8 10,3 –0,8

462,5 30,3 15,5 –1,3

693,1 62,6 30,1 –0,3

674,4 350,6 46,7 –1,3

554,9 351,8 37,8 –1,6

83,3

44,5

92,4

396,0

388,0

Bergbauerzeugnisse Metalle u. Erzeugnisse der Metallbeund -verarbeitung

Region

Insgesamt

Legende: Intrahandel: Handel mit der UdSSR und den anderen staatssozialistischen Ländern; Extrahandel: Handel mit übrigem Ausland; Innerdeutscher Handel: Handel mit der BRD und Berlin (West)

Quelle:

Statistische Jahrbücher der DDR 1955, S. 244; eigene Berechnungen.

Die Warenstruktur des Außenhandels wurde von der Industrialisierungsstrategie geprägt. Der Ausbau der Schwerindustrie zog im Grundstoffbereich infolge der geringen Ausstattung des Wirtschaftsraums der DDR mit Rohstoffen zunehmend Importe von Bergbauerzeugnissen, insbesondere von Metallerzen und Steinkohle, nach sich. Der Bedarf an Eisen und Stahl konnte trotz des forcierten Aufbaus einer eigenen Hüttenindustrie nicht gedeckt werden und die Engpässe wurden durch hohe Importe ausgeglichen. Der Einfuhrüberschuss bei Metallen und Erzeugnissen der Be- und Verarbeitung von Metallen war beträchtlich und erstreckte sich auf die Bezüge aus allen drei Herkunftsgebieten. Hauptsächlich kamen die Lieferungen aus der UdSSR und den anderen staatssozialistischen Ländern (Tabelle 3).

1423

Strukturpolitik im Zugzwang des technischen Fortschritts Mit dem Aufbau der Schwerindustrie gemäß Stalins Industrialisierungsmodell war die Eigenversorgung mit Braunkohle und die Stromerzeugung auf Braunkohlenbasis gewährleistet. Die DDR verfügte über eine eigene, wenn auch unterdimensionierte Eisen- und Stahlindustrie, die chemische Industrie war ausgebaut und der Maschinenbau um schwere Anlagenbauer ergänzt worden. Mit dem Schiffbau war ein neuer Industriezweig entstanden. Das waren die Anfänge. Sie legten aber auch die Pfade für die Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten fest. Während die Massenproduktion metallischer Grundstoffe nicht weiter im Blickfeld stand, hier ging es künftig um die Erzeugung höherwertiger Produkte der zweiten Verarbeitungsstufe, behielten der Kohlebergbau und die Energieerzeugung sowie die chemische Industrie ihre Vorrangstellung. Um Engpässe in der Stromversorgung zu vermeiden, waren 1954 und 1957 Kohle- und Energieprogramme zur Erweiterung des Energieangebots beschlossen worden. Im Jahr 1958 folgte das Chemieprogramm.37 Neue Förderkapazitäten für Rohbraunkohle, neue Brikettfabriken und Kraftwerke auf Braunkohlenbasis, die Errichtung neuer Chemieanlagen zogen den Ausbau des Schwermaschinenbaus nach sich. Angesichts des technischen Rückstandes in vielen Zweigen der Volkswirtschaft setzte die Partei- und Staatsführung zugleich auf die Rekonstruktion der Hauptzweige der Industrie nach dem fortgeschrittenen Stand von Wissenschaft und Technik. So bekamen der Maschinenbau und die Elektrotechnik neue Aufgaben zugewiesen, um Produktionsmittel für die Mechanisierung und Automatisierung der Produktionsprozesse herzustellen. Absoluter Vorrang wurde hier dem Zweig Mess-, Steuer- und Regelungstechnik eingeräumt. Die mit dem weiteren Ausbau der Schwerindustrie und der Rekonstruktion der Industrie verbundenen Investitionen trieben die Anforderungen an die Bauwirtschaft hoch, zumal auch ein Wohnungs- und Städtebauprogramm auf den Weg gebracht worden war.38 In Erkenntnis des technologischen Rückstandes genügte die Rekonstruktion der Wirtschaftszweige nach dem fortgeschrittenen Stand von Wissenschaft und Technik dem Anspruch der Partei- und Staatsführung bald nicht mehr und sie setzte für die zweite Hälfte der 1960er Jahre auf die Gestaltung einer „hocheffektiven Struktur der Volkswirtschaft“. Dazu sind die Investitionen vorrangig in die Zweige der Volkswirtschaft gelenkt worden, die als „Schrittmacher der wissenschaftlich-technischen Revolution“ galten. Die Mittel und Kräfte sind insbesondere in die Elektrotechnik und Elektronik, den wissenschaftlichen Gerätebau sowie in Zweige des Maschinenbaus geflossen. Dazu wurden „strukturbestimmende“ Erzeugnisse und Zweige festgelegt. Ihr Anteil am Investitionsvolumen war kein Bagatellposten. Er betrug im Jahr 1970 in der chemischen Industrie 55 %, im Be37 Der Kohlebergbau, die Energiegewinnung auf Braunkohlenbasis und der Ausbau der chemischen Industrie gingen mit großen Umweltbelastungen einher, die in diesem Aufsatz aus Platzgründen nicht weiter verfolgt werden können. 38 Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965, in: Gesetzblatt der DDR I, 1959 Nr. 56.

1424

reich Elektrotechnik/Elektronik 60 % und im Verarbeitungsmaschinen- und Fahrzeugbau 50 %.39 Herausgehoben war die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung „vorrangig in Großbetrieben, und zwar für die Vorbereitung, Planung und Leitung der Produktion, zur Steuerung technologischer Prozesse, für die Lösung wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Aufgaben [...] sowie für die Berechnung und Bilanzierung“ der Pläne.40 Die Grundstoffindustrien gerieten aber nicht aus dem Blickfeld. Die Investitionsschwerpunkte wurden zugunsten innovativer Produkte und Verfahren verschoben. In der Energiewirtschaft wurde die Kohleförderung zunächst nicht weiter ausgebaut.41 Der Bau eines Kernkraftwerkes zur Energiegewinnung wurde eingeleitet. Vorangetrieben wurde der Einsatz flüssiger und gasförmiger Energieträger. Vorrang erhielt der Ausbau der Petrochemie. In Schwedt wurde einer Erdölraffinerie errichtet. In der Eisen- und Stahlindustrie wurde der Ausbau der zweiten Verarbeitungsstufe mit dem Bau eines Kaltwalzwerkes in Eisenhüttenstadt fortgesetzt. Tabelle 4: Struktur der Anlageinvestitionen in der Volkswirtschaft der DDR seit 1970 Anteile an Insgesamt in % 1970

1975

1980

1985

1989

Land- und Forstwirtschaft Energie- und Brennstoffindustrie, Wasserwirtschaft

13,8

12,4

10,3

7,9

8,5

12,8

14,9

15,7

17,3

16,5

Chemische Industrie

10,3

7,6

9,3

11,1

7,6

Maschinen- und Fahrzeugbau

8,0

7,5

8,7

9,7

13,6

Elektrotechnik/Elektronik/Gerätebau

4,6

2,4

3,6

3,9

8,0

Leicht-, Textil-, Lebensmittelindustrie

8,3

10,0

7,6

8,6

8,6

Verkehr und Nachrichten

8,9

10,5

8,6

9,1

7,5

Wohnungsneubau

7,4

9,8

11,5

14,1

11,0

25,8

24,7

24,6

18,4

18,8

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

Sonstige Volkswirtschaft Insgesamt

Quellen: Statistisches Jahrbuch der DDR, Berlin 1990, S. 15, 113, 114; eigene Berechnungen.

Mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker rückte Anfang der 1970er Jahre die Rationalisierung der Produktion in den Mittelpunkt der Industriepolitik. Infolge der Kapazitätsengpässe erhielt die Eigenproduktion von Rationalisierungsmitteln einen hohen Stellenwert. Die Investitionen wurden vorrangig in Rationalisierungsvorhaben in der chemischen Industrie, der Eisen- und Stahlindust39 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik: Bericht über die Produktion und Verwendung des Nationaleinkommens und einige Probleme der volkswirtschaftlichen Effektivität im Jahr 1970, dem letzten Jahr des Perspektivplans 1966 bis 1970, Berlin (-Ost) 1971, S. 54. 40 Gesetz über den Perspektivplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965, in: Gesetzblatt der DDR I, 1967 Nr. 8, S. 66 f. 41 Vgl. Riesner, Wilhelm: Die Energiewirtschaft in Ostdeutschland. Ein Rückblick auf die letzten 60 Jahre, in: eBWK Bd. 61 (2009), Nr. 12, S. 2.

1425

rie, des Maschinenbaus gelenkt. In der Leichtindustrie wurden die Kapazitäten zur Herstellung industrieller Konsumgüter erweitert. In der Energiewirtschaft standen erneut die Verringerung der Energiedefizite durch die Erhöhung der Förderkapazität von Braunkohle sowie die Inbetriebnahme neuer Kraftwerke im Mittelpunkt. Im Zusammenhang mit den steigenden Energie- und Rohstoffpreisen sollte der Import von Heizöl abgelöst werden. Die tiefere Spaltung von Erdöl trat auf die Tagesordnung. Der Mitteleinsatz zum Aufbau einer eigenen mikroelektronischen Industrie sowie das Wohnungsbauprogramms führten zu weiteren Verschiebungen der Investitionsstruktur. Auf die Energie- und Brennstoffindustrie entfiel weiterhin der Löwenanteil an den Anlageinvestitionen (Tabelle 4). Auch der Wohnungsbau absorbierte beträchtliche Summen. In den letzten Jahren der DDR wurde auch der Fahrzeugbau mit Investitionszuführungen bedacht. Die Programme zur Importablösung und zur Entwicklung der Mikroelektronik verschlangen Milliardenbeträge in zweistelliger Größe. Neue Investitionsschwerpunkte entstanden auch aus dem Einbezug der DDR in die blockinterne internationale Arbeitsteilung. So wurden gemeinsame Investitionsprojekte zwischen interessierten RGW-Ländern durchgeführt, wenn sie die wirtschaftliche Kraft eines einzelnen Landes überstiegen. Meist handelte es sich um die Errichtung industrieller Großprojekte, die der besseren Versorgung mit Energieträgern und Rohstoffen dienten. So beteiligte sich die DDR in der UdSSR am Aufschluss einer Gaskondensatlagerstätte in Sibirien, dem Bau von Erdöl- und Erdgasleitungen sowie der Errichtung einer Eisenerzaufbereitungsanlage. Die Investitionskredite der beteiligten Länder wurden in der Regel durch Warenlieferungen aus den neuen Produktionskapazitäten beglichen.42 Im 1971 verabschiedeten „Komplexprogramm für die weitere Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW“ wurden Schwerpunkte für die Spezialisierung und Kooperation in der Energie- und Brennstoffindustrie, der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Nichteisenindustrie, dem Maschinen- und Fahrzeugbau, der elektronischen Industrie und dem Gerätebau, der chemischen Industrie sowie der Zellstoff- und Papierindustrie, der Leichtindustrie, der Glas- und keramischen Industrie, der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie sowie im Transport- und Bauwesen festgelegt.43 Die Nutzung der Spezialisierungs- und Kooperationsvorteile hat Investitionen der beteiligten Länder beim Ausbau von Produktionskapazitäten in den einen Zweigen verstärkt, in anderen aber erspart. Für eine Saldierung zwischen den Zugewinnen und den Einsparungen fehlen hier aber die Daten. Mit dem Erbe des Stalinschen Industrialisierungsmodells trat die DDR später in den Vereinigungsprozess ein, und zwar mit einem hohen Anteil von Altindustrien.

42 Werner, Klaus: Die Integration der DDR-Wirtschaft im RGW und der Zusammenbruch der Ostmärkte, in: Herausforderung Ostdeutschland. Fünf Jahre Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, herausgegeben von Pohl, Rüdiger, Berlin 1995, S. 54 f. 43 Komplexprogramm, a. a. O., S. 102 - 134.

1426

Späte Besinnung auf das letztliche Ziel der Produktion Bei aller Bedeutung der Produktion von Produktionsmitteln für den wirtschaftlichen Aufbau, sie konnten und sollten nicht das Endziel der Produktion sein. Schließlich hatte Karl Marx, der intellektuelle Wegbereiter der neuen Gesellschaft, ganz allgemein „die Produktion als Ausgangspunkt und die Konsumtion als Endpunkt“ des Wirtschaftskreislaufs erkannt und als Vorlage mitgegeben.44 Auf Dauer ließ sich eine spürbare Verbesserung der Lebenslage auch nicht aufschieben. Zwar waren im Umfeld des „Neuen Kurses“ einige ursprünglich für die Schwerindustrie vorgesehen Investitionen vorübergehend in die verbrauchsnahen Industrien umgelenkt worden. Das erwies sich aber als eine taktische Maßnahme. Der „Neue Kurs“ wurde 1955 offiziell zu Grabe getragen. Eine vorrangige Entwicklung der Konsumgüterindustrie brandmarkte Ulbricht als falschen Kurs: „Wir hatten niemals die Absicht, einen solchen falschen Kurs einzuschlagen und werden ihn niemals einschlagen“.45 Die Schwerindustrie behielt ihre Vorrangstellung in den 1950er und 1960er Jahren bei und dies bedeutete angesichts der Begrenztheit der Ressourcen eine geringe Zuweisung an Investitionen zur Entwicklung der Leicht-, Textil- und Lebensmittelindustrie. In wirtschaftshistorischen Untersuchungen wird die unterschiedliche Stellung der Produktion von Produktionsmitteln und Konsumgütern im Industrialisierungsprozess in der Regel anhand von Niveau- und Wachstumsrelationen zwischen den Zweigen der Schwerindustrie und der Leicht-, Textil- und Lebensmittelindustrie analysiert.46 Solche Berechnungsansätze sind unscharf und haben den Nachteil, dass unter dem Dach der Hauptproduktion eines Zweiges erfassungstechnisch nicht nur die zweigtypische Fertigung sondern auch viele nichttypische Erzeugungen vereint werden. Außerdem lässt sich bei Produkten, die sowohl für investive als auch für konsumtive Zwecke verwendet werden können, nicht auf die tatsächliche Verwendung schließen. Abhilfe schafft hier ein alternatives Messkonzept, bei dem genau diese Unterscheidung getroffen wird. Dies ist der Fall bei der Einteilung der Gesamtproduktion gemäß der Analyse des Wirtschaftskreislaufs von Marx in die Abteilungen I (Produktionsmittel) und II (Konsumtionsmittel). Solche Angaben hat die amtliche Statistik der DDR intern ermittelt, aber niemals veröffentlicht. Die Produkte der Abteilung I werden nochmals unterteilt in Kapitalgüter (Arbeitsmittel) und Produktionsgüter (Arbeitsgegenstände). Diese Angaben vermitteln ein genaueres Bild der Produktionsschwerpunkte und ihrer Veränderung in der Zeit. 47 44 Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857 - 1858, Berlin (-Ost), 1953, S. 10. 45 Ulbricht, Walter: Zur sozialistischen Entwicklung der Volkswirtschaft seit 1945, Berlin (-Ost) 1959, S. 476. 46 Hofmann, Walter G.: Stadien und Typen der Industrialisierung, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 103 (1969 II). 47 Hier ist daran zu erinnern, dass die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in der DDR einem Konzept des Wirtschaftskreislaufs folgten, in dessen Zentrum die Produktion, Distribution, Zirkulation und Verwendung von Sachgütern steht. Die methodischen Unterschiede zum

1427

Abbildung 1 zeigt die herausragende Bedeutung der Herstellung von Produktionsmitteln bei der Umsetzung der Industrialisierungsstrategie in den 1950er und 1960er Jahren und die Nachrangigkeit der Produktion von Konsumgütern für den täglichen und gehobenen Bedarf selbst im Gefolge des 1953 eingeschlagenen „Neuen Kurses“ der Wirtschaftspolitik. Auch die 1958 eingeleiteten, aber bald aufgegebenen Maßnahmen, „Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch bei den meisten industriellen Konsumgütern und Lebensmitteln bis Ende 1961 einzuholen und zu überholen“48 führten nur vorübergehend zu einem Anziehen der Konsumgüterproduktion. Insgesamt nahm die Produktion von Konsumtionsmitteln weiterhin langsamer zu als die von Produktionsmitteln. Erst infolge des von Honecker mit der Betonung der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vollzogenen Strategiewechsels hin zur unmittelbaren Verbesserung der Lebenslage rückte die Versorgung mit Konsumgütern in den Vordergrund. Preiserhöhungen für "Waren des Grundbedarfs, Tarife und Dienstleistungen für die Bevölkerung" wurden dabei rigoros ausgeschlossen.49 In den 1970er Jahren stiegen Produktion und Verbrauch von Konsumtionsmitteln aus eigener Produktion und Importen schneller als der von Kapitalgütern. In den 1980er Jahren blieb auch das Wachstum der Produktion von Produktionsgütern hinter dem der Konsumtionsmittel zurück. Der Wohnungsbau50 wurde forciert und mehr Konsumgüter des Grund- und des gehobenen Bedarfs wurden bereitgestellt. Wegen der Kapazitätsengpässe in den Konsumgüterindustrien wurden zudem ab 1983 die Produktionsmittel herstellenden Industriekombinate beauflagt, mindestens 5 % ihrer Produktion der Herstellung von Konsumgütern zu widmen.

westlichen Gesamtrechnungssystem (SNA) wirken sich auch auf die statistische Abgrenzung zwischen der Produktion von Produktionsmitteln (Kapital- und Produktionsgüter) und Konsumtionsmitteln in der amtlichen DDR-Statistik aus. Im Vergleich zum Berechnungskonzept des Bruttoinlandsprodukts wird einerseits der Anteil der Konsumtionsmittel überhöht ausgewiesen, da er auch die für den Einsatz im Dienstleistungsbereich bestimmten Produktionsmittel (Produktions- und Investitionsgüter) umfasst. Andererseits geht der konsumtive Verbrauch von Dienstleistungen, die außerhalb von Handel und Verkehr entstehen, nur zu seinem Materialwert in die Berechnung der Konsumtionsmittel ein. Infolge der Unterentwicklung der gewerblichen Dienstleistungszweige in der DDR hält sich jedoch dieser Informationsverlust in engen Grenzen. Zu dem ursprünglichen Erfassungskonzept Bartel, Wilfried; Karbstein, Werner; Schmidt, Wolfgang: Statistik des Nationaleinkommens. Berechnungsmethoden, Bilanzierung und Analyse, Berlin (-Ost) 1971, S. 94 ff. 48

Gesetz über den Siebenjahrplan, a.a.O. S. 704. 49 Gesetz über den Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971-1975, in: Gesetzblatt der DDR Teil I, Berlin 1971, S175. 50 Abweichend von der Nationaleinkommensrechnung sind in der Abbildung die Investitionen in den Wohnungsbau und in soziale Einrichtungen Bestandteil der Konsumtionsmittel.

1428

Abbildung 1: Zusammensetzung des Bruttoprodukts der DDR nach Güterabteilungen Produktion

Inländische Verwendung 1955=100

280

280

260

260

240

240

220

220

200

200

180

180

160

160

140

140

120

120

100

100

80

80 1955

1957

1959

1961

1963

1965

1955

1957

1959

1961

1963

1965

1960

1962

1964

1966

1968

1970

1960=100 220

220

200

200

180

180

160

160

140

140

120

120

100

100

80

80 1960

1962

1964

1966

1968

1970

1970=100 180

180

160

160

140

140

120

120

100

100

80

80 1970

1972

1974

1976

1978

1980

1970

1972

1974

1976

1978

1980

1980=100 130

130

120

120

110

110

100

100 90

Kapitalgüter Produktionsgüter Konsumtionsmittel

Kapitalgüter Produktionsgüter Konsumtionsmittel

80 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

90 80 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Quellen: Staatliche Zentralverwaltung für Statistik: Statistisches Jahrbuch des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und des Nationaleinkommens der DDR, Berlin (-Ost), verschiedene Jahrgänge; eigene Berechnung und Darstellung.

1429

Messung, Typen und Tendenzen des Wirtschaftswachstums in der DDR Die wirtschaftliche Leistung eines Landes wird seit den 1990er Jahren weltweit im Bruttoinlandsprodukt gemessen.51 Diese Kennzahl gab es bis 1989 in der amtlichen Statistik der DDR und den meisten Zentralplanwirtschaften nicht. Stattdessen diente eine andere Größe als Ausdruck der gesamtwirtschaftlichen Leistung, das Nationaleinkommen.52 Seine Berechnung beruhte auf einem eng abgegrenzten Produktionskonzept und deckte die wirtschaftliche Leistung nur so weit ab, wie sie mit der Herstellung von Sachgütern, deren Distribution, Zirkulation und Verbrauch verbunden war. Dazu gehörten im Kern die wirtschaftlichen Transaktionen der Land- und Forstwirtschaft, des produzierenden Gewerbes, aber auch des Bereichs Handel und Verkehr, über den die produzierten Sachgüter zu den Verbrauchern gelangen. Allen anderen unternehmensnahen wie verbrauchernahen Dienstleistungsbereichen wurde jegliche Wertschöpfung abgesprochen; sie zählten zu den Verbrauchern der produzierten Sachgüter.53 Das Nationaleinkommen der amtlichen DDR-Statistik und das Inlandsprodukt sind damit inhaltlich und größenmäßig nicht miteinander vergleichbar. In den Zeiten der deutschen Teilung hat es nicht an Versuchen von westlichen Wirtschaftsforschern gefehlt, für die DDR ein Bruttoinlandsprodukt zu ermitteln.54 Diese Versuche blieben unvollständig, da der Zugang zu den erforderlichen Ausgangsdaten nicht hinreichend gegeben war. Erst mit dem Ende der DDR änderte sich die Datensituation grundlegend. Noch im Jahr 1990 veröffentlichte das Statistische Amt der DDR eigene Berechnungen des Bruttoinlandsprodukts für die 1980er Jahre.55 Die DFG legte ein Forschungsprogramm auf, mit dem ex post auch Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen für die DDR nach bundesdeutschem Muster aufgestellt werden konnten. Ergebnisse liegen seit dem Jahr 2000 in der Standardform einer Dreiseitenrechnung für die Entstehung, Verteilung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts in Mark der DDR und zu laufenden Preisen für die 1970er und 1980er Jahre vor.56 Die Angaben wurden später in D-Mark bzw. Euro zu den auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach der deutschdeutschen Währungsunion entstandenen Markt- und administrierten Preisen um-

51 Bis dahin stand in den westlichen Systemen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (SNA) das Bruttosozialprodukt im Zentrum der Leistungsrechnung. 52 Ein Nationaleinkommen gibt es seit seiner Revision im Jahr 1995 auch im Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen. Es bezeichnet jedoch andere Inhalte als in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der DDR. 53 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Statistisches Jahrbuch der DDR, verschiedene Jahrgänge bis 1989. Berlin (-Ost), Abschnitt Nationaleinkommen. 54 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DDR-Wirtschaft. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1971, S. 94 ff. 55 Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, Berlin 1990, S. 107 ff. 56 Entstehung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts 1970 bis 1989 (DFG-Projekt), in: Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 33. Hg. vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 2000.

1430

bewertet und bis zum Jahr 1950 zurückgerechnet.57 Darüber hinaus gibt es einen nichtamtlichen Berechnungsansatz des Bruttoinlandsprodukts der DDR, der bereits kurz nach der deutschen Vereinigung veröffentlicht wurde58, dem es jedoch für aussagefähige Analysen an der erforderlichen Transparenz mangelt. Insbesondere ist der Übergang der Berechnungen von den Angaben in der Binnenwährung der DDR zur D-Mark strittig.59 Für die im Folgenden dargestellten analytischen Untersuchungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der DDR erwiesen sich diese Zeitreihen zudem als wenig plausibel und brauchbar. Leider hat dieser Ansatz trotz Vorbehalten in den 1990er Jahren Eingang in einige wirtschaftshistorische Untersuchungen zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft im zwanzigsten Jahrhundert gefunden.60 Legt man die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts aus dem DFG-Projekt und seiner Fortführung zugrunde, so treten die neuralgischen Punkte in der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR sowie der Verlust an Wachstumsdynamik in den letzten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz deutlich hervor. Der Aufstand am 17. Juni 1953 ging mit Arbeitsniederlegungen und Produktionsausfällen einher; das führte zu einem Wachstumseinbruch. Die vorübergehende wirtschaftspolitische Umsteuerung auf die Erhöhung des Lebensstandards (Neuer Kurs) setzte Wachstumsimpulse. Die forcierte Industrialisierung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre stärkte das Wachstum, die Abwanderung in den Westen belastete es. 57 Heske, Gerhard: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. DDR 1950 1989. Daten, Methoden, Vergleiche, HSR-Supplement-Heft 21, Köln: ZHSF 2009. Hier erfolgte der Übergang der Angaben von Mark der DDR in D-Mark in Anlehnung an die Methode des Preisvergleichs für Waren und Dienstleistungen aus DDR-Produktion zum Zeitpunkt der deutschen Währungsunion. Zur Methode vgl. Ludwig, Udo; Stäglin, Reiner; Stahmer, Carsten: Verflechtungsanalysen für die Volkswirtschaft der DDR am Vorabend der deutschen Vereinigung. In: DIW-Beiträge zur Strukturforschung Heft 163, Berlin 1996, S. 24 ff. 58

Merkel, Wilma; Wahl, Stefanie: Das geplünderte Deutschland - Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949 bis 1989, Bonn 1991.

59

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird in Mark der DDR angegeben und dann anhand zeitvariabler Koeffizienten in D-Mark umgerechnet. Insbesondere fehlt eine solide Begründung für die zahlenmäßige Ableitung der Umrechnungskoeffizienten der Währungen. Mehr noch: Die Experten in den statistischen Ämtern sind im allgemeinen wegen der unvollständigen Ausgangsinformationen darauf angewiesen, sich dem wahren Wert des BIP über seine Entstehungs-, Verteilungs- und Verwendungskomponenten anzunähern. Dies scheint hier nicht erfolgt zu sein. Während der Niveauvergleich der Ergebnisse für ein Stichjahr eine statistisch vertretbare Abweichung zwischen dem von Merkel/Wahl ermittelten BIP in DDR-Mark und der nach statistischen Standardverfahren berechneten Größe im DFG-Projekt ergab, offenbart die Umrechnung in DM-Preise große Unterschiede. Die Umrechnungskoeffizienten orientieren sich vermutlich an den internen Wechselkursen (sogenannte Richtungskoeffizienten) im Außenhandel zwischen der DDR und der BRD. Wechselkurse sind jedoch laut OECD untauglich für solche Vergleiche, da sie das im BIP der betreffenden Länder enthaltene reale Volumen der Waren und Dienstleistungen nicht widerspiegeln. Generell wird bei Verwendung von Wechselkursen das reale BIP von Niedrigeinkommensländern unterzeichnet.

60

Ritschel, Albrecht; Spoerer, Mark: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901 - 1995. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1997/2, Berlin 1997, S. 47.

1431

Die Unruhen in Polen und Ungarn 1956 führten zu Liefer- und Produktionsausfällen. Nach der Abschottung durch den Mauerbau setzte eine Konsolidierungsphase ein, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit den Wirtschaftsreformen ab dem Jahr 1963 die Rückkehr auf einen hohen Wachstumspfad ermöglichte. Abbildung 2: Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der DDR im historischen Kontext Veränderung gegenüber Vorjahr in % Ära Ulbricht 14,0

Aufstand 17. Juni 1953

Wirtschaftsreform 1963-1969

12,0 10,0

Ära Honecker Rezentralisierung der Wirtschaftslenkung 1970-1989

Unruhen in Polen und Ungarn Mauerbau 13. 08.1961

8,0

"Prager Frühling"

Sozialpolit. Programm

Mauerfall Nov. 1989 Zahlungsbilanzkrise 1982

6,0 4,0 2,0

Neuer Kurs 1953-1955

Abschluss Kollektivierung Landwirtschaft

Letzte Verstaatlichungswelle

0,0 1951 1953 1955 1957 1959 1961 1963 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989

Quellen: Eigene Berechnungen und Darstellung auf der Datenbasis von Heske, Gerhard: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. DDR 1950 - 1989. Daten, Methoden, Vergleiche, HSR-Supplement-Heft 21, Köln: ZHSF 2009, S. 248.

Mit dem Abbruch der Reformen und der Renaissance administrativer Planungsmethoden bereits Anfang der 1970er Jahre schwächte sich der Wachstumspfad ab. Die Rezentralisierung der Wirtschaftslenkung erreichte Ende der 1970er Jahre ihren organisatorischen Höhepunkt als die Industriebetriebe in einer zweiten Welle zu großen Kombinaten zusammengeschlossen wurden, die quasi als Branchenmonopolisten fungierten. Nach dem Machtantritt Honeckers begann 1972 die letzte Verstaatlichungswelle der privaten Betriebe. Die Betriebe wurden aber in der Regel nicht geschlossen, sondern wechselten den Eigentümer und produzierten weiter. Mit der Realisierung des sozialpolitischen Programms unter Honecker beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum noch einmal, aber nur vorübergehend. Der Politikansatz zur Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit infolge der kreditfinanzierten Verbesserung des Wohlstandsniveaus und der Preissteigerungen auf den Bezugsmärkten von Öl und Gas trugen zur Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zu Beginn der 1980er Jahre bei und untergruben seine künftigen Quellen. Extensives und intensives Wirtschaftswachstum Das Produktionswachstum kann nach verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert werden. In der Regel wird in Anlehnung an die beiden grundlegenden Produktionsfaktoren zwischen arbeits- und kapitalsparendem Wachstum unterschie-

1432

den. Verdeckt wird bei dieser Typologie das Verhältnis zwischen der über die zentrale Planung eher lenkbaren quantitativen Veränderung der Faktoreinsätze (extensive Komponente) und deren zentral weniger beeinflussbaren Wirkungsgrade (intensive Komponente). Diese Unterscheidung ist aber wichtig, wenn auf die Bedeutung qualitativer Wachstumsquellen abgestellt wird. Hier kann auf die Anwendung der Methode des „Growth Accounting“ zurückgegriffen werden: das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts lässt sich in drei Faktoren zerlegen: den Beitrag des Faktors Arbeit, den Beitrag des Faktors Kapital und eine Restgröße, das sogenannte Solow-Residuum, das auch als totale Faktorproduktivität (TFP) bezeichnet wird. Dieser Modellansatz bietet den methodischen Vorteil, auf einzelne Faktoren begrenzte partialanalytische Erklärungsansätze, wie sie vor allem in den frühen Jahren der Untersuchung von wirtschaftlichen Wachstumsprozessen häufig anzutreffen waren, in einer Totalanalyse zu vereinen. Die Beiträge aus der Veränderung des mengenmäßigen Einsatzes an Arbeit und Kapital lassen sich hier zur extensiven Komponente des Produktionswachstums zusammenführen, d. h. zur Zunahme der wirtschaftlichen Leistung bei unterstellter gleichbleibender Produktivität der beiden Faktoren.61 Das Residuum erfasst dagegen jenen Teil des Zuwachses an Bruttoinlandsprodukt, der sich nicht auf die mengenmäßige Veränderungen des zu seiner Erwirtschaftung aufgewandten Kapital- und Arbeitseinsatz zurückführen lässt. Es bringt damit die Wachstumswirkung aller nicht im Umfang des Kapital- und Arbeitseinsatzes erfassten Faktoren zum Ausdruck, wie der Qualität der Faktoren Arbeit und Kapital – gemessen beim Faktor Arbeit beispielsweise als Humankapital –, der Kombination der Produktionsfaktoren miteinander, der Organisation und Koordination der Produktionsprozesse, der Einführung neuer Produkte und Verfahren und vieles andere mehr, aber auch statistische Messfehler. In der Summe ergeben diese Faktoren daher zumindest eine Orientierungsgröße für die technologisch, organisatorisch und institutionell begründete Effizienzsteigerung der Produktion insgesamt, ohne dass eine Zurechenbarkeit im Einzelnen erfolgt. Das Residuum zeigt im Grunde genommen die Wirkung der intensiveren Nutzung und Kombination der beiden grundlegenden Produktionsfaktoren, ist daher ein Indikator für den Anteil der Steigerung der Systemeffizienz und bildet damit die intensive (qualitative) Wachstumskomponente ab. Errechnet als Residuum, enthält sie auch die Ergebnisse der Anstrengungen zur Einsparung beim Vorleistungsverbrauch sowie zur

61 Für die Zusammenfügung der Wachstumsbeiträge der Faktoren wird auf deren Produktionselastizitäten zurückgegriffen. Dazu werden bei empirischen Untersuchungen in der Regel die Anteile der Entlohnung der Faktorleistungen am Nettoinlandsprodukt verwendet. Für die DDR beliefen sie sich in den 1970er und 1980er Jahren auf 0,45 für den Faktor Arbeit und 0,55 für den Faktor Kapital. Die OECD empfiehlt, für Deutschland über den gesamten Zeitraum 1960 bis 2003 den Wert 0,65 für den Faktor Arbeit und 0,35 für den Faktor Kapital anzusetzen. Die Auswirkungen dieses alternativen Berechnungsansatzes sind zwar wegen der Verschiebung des Schwergewichts zahlenmäßig groß, ändern aber nichts an den grundsätzlichen Ergebnissen zur Identifizierung der vorherrschenden Wachstumstypen in einzelnen Perioden.

1433

Wiederherstellung des bestehenden Kapitalstocks auf produktiverem als ursprünglichem Niveau. Einsatz der Faktoren Arbeit und Kapital Der Einsatz des Faktors Arbeit hat über den gesamten Zeitraum der Existenz der DDR trotz sinkender Anzahl der Einwohner sowie Personen im erwerbsfähigen Alter zugenommen und der Kapitalstock wurde kräftig ausgebaut. Im Jahr 1989 lebten 16,6 Millionen Personen auf dem Gebiet der DDR und davon gingen 9,7 Millionen einer Erwerbstätigkeit nach. Gegenüber dem Jahr 1950 bedeutete dies einen Rückgang der Einwohnerzahl um knapp 10 %, aber einen Anstieg der Anzahl der Erwerbstätigen um fast 17 % (Tabelle 5). Dieser Zuwachs beruhte vor allem auf dem gesteigerten Einbezug von Frauen in das Erwerbsleben. Im Jahr 1989 standen 43 % mehr Frauen im Erwerbsleben als 1950. Die Beschäftigung von Männern war dagegen bis Anfang der 1970er Jahre rückläufig, ehe sie am Ende der DDR fast wieder den Stand von 1950 erreichte. Tabelle 5: Einwohner, Erwerbstätige und Kapitalstock in der DDR Veränderung gegenüber Vorzeitraum in %

1955/50 1960/55 1965/60 1970/65 1975/70 1980/75 1985/80 1988/85 1989/88 1989/50 1

Insgsamt1 –2,41 –3,92 –1,28 0,22 –1,22 –0,67 –0,56 0,13 –0,31 -9,65

Einwohner Männer –1,75 –3,21 0,01 1,15 –0,36 0,31 0,29 1,04 0,04 -2,52

Frauen –2,94 –4,49 –2,34 –0,55 –1,96 –1,52 –1,30 –0,68 –0,63 -15,33

Insgesamt 1,45 –0,01 0,21 3,06 2,98 5,28 2,72 0,97 –0,77 16,88

Erwerbstätige Männer2 Frauen2 –5,24 11,48 –1,77 2,24 –2,86 3,97 –0,07 6,63 0,23 5,92 4,71 5,86 4,01 1,42 1,72 0,21 –0,71 –0,85 -0,38 42,76

Kapitalstock3 10,40 15,22 25,66 22,25 30,06 27,32 24,27 11,52 3,62 364,70

Mittlere Bevölkerung. – 2 Schätzung des Autors. – 3 Durchschnittlicher Grundmittelbestand (Preise 1986).

Quellen: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, a.a.O. S. 1, 16; Statistisches Bundesamt: Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 14, S. 19.

Das Produktionspotential wurde bis zum Mauerbau nicht allein aus demografischen Gründen, sondern auch durch die Abwanderung von Personen und namhaften Firmen aus vielen Produktionszweigen geschwächt. So gingen dem Wirtschaftsgebiet Facharbeiter, Akademiker und Unternehmertum auf lange Zeit verloren. Der Verknappung des Arbeitsangebots wurde mit einer Vielzahl politischer Entscheidungen gegengesteuert. Sozialpolitische Maßnahmen wie der Ausbau der öffentlichen und betrieblichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung, die bezahlte Freistellung an einem Arbeitstag pro Monat (sogenannter Haushaltstag), die Flexibilisierung der betrieblichen Arbeitszeiten erleichterten vor allem den Frauen

1434

den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ihr Beschäftigungsgrad näherte sich immer mehr dem der Männer an. Nach der Abschottung der DDR im Jahr 1961 durch den Bau der Berliner Mauer kamen demografische Faktoren voll zum Durchbruch. Die Zahl der Geburten sank ständig und die der Gestorbenen überwog die Zugänge. In den Jahren von 1966 bis 1970 ist die Zahl der Beschäftigten trotz des Rückgangs der Einwohnerzahl im erwerbsfähigen Alter aufgrund des weiter gewachsenen Beschäftigungsgrades gestiegen. Arbeitszeitverkürzungen infolge der schrittweisen Einführung der 5-Tage-Arbeitswoche in den Jahren 1966 und 1967 und der Erhöhung des Mindesturlaubs wurden allerdings weitgehend durch die Zunahme von Überstunden im Zusammenhang mit der Aufholung von Planrückständen kompensiert. Tabelle 6: Erwerbstätige im staatlichen und genossenschaftlichen Sektor der Volkswirtschaft der DDR nach dem Ausbildungsstand Personen je 1 000 Erwerbstätige Ausbildungsabschluss

1970

Insgesamt darunter mit: Hochschulabschluss Fachschulabschluss Meisterabschluss Facharbeiterabschluss

647

Insgesamt darunter mit: Hochschulabschluss Fachschulabschluss Meisterabschluss Facharbeiterabschluss Quelle:

39 68 … 480

1975 1980 1985 Erwerbstätige insgesamt 755 837 883

1989 903

75 134 39 602

81 141 42 606

533

55 67 86 121 35 37 531 577 Weibliche Erwerbstätige 660 775

844

877

22 51 … 394

35 75 7 491

58 168 10 579

67 185 12 585

47 140 8 546

Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, a.a.O. S. 138.

Zugleich wurden Maßnahmen eingeleitet, das Bildungs- und Qualifikationsniveau der Beschäftigten anzuheben. Im Jahr 1965 wurde die zehnklassige polytechnische Oberschule eingeführt. Mit der Hochschulreform in den Jahren 1968/69 wurden die Zulassungen zum Studium an Universitäten, Hoch- und Fachschulen erhöht; in der Ausbildung von Lehrlingen wurden die schulische Bildung und die berufspraktische Ausbildung besser aufeinander abgestimmt. Während im Jahr 1970 von 1000 Beschäftigten erst 647 auf eine abgeschlossene Berufsausbildung verweisen konnten, waren es 1980 bereits 837. Noch rasanter war der Anstieg des Ausbildungsstandes der weiblichen Beschäftigten in diesem Zeitraum von 533 auf 775 Personen. In den folgenden Jahren setzte sich die Anhebung des Ausbildungsstandes fort, wenn auch in geringerem Tempo (Tabelle 6).

1435

Einsatz des Faktors Sachkapital Der Kapitalstock ist früh durch kräftige Investitionen während der ersten Fünfjahrpläne in den 1950er Jahren vor allem in der Industrie erweitert worden (Kapazitätseffekt). Er stieg schneller als die Anzahl der Erwerbstätigen, so dass sich die Kapitalintensität der Arbeitsplätze und der Produktion deutlich erhöhte. In den Nachkriegsjahren galt es zunächst die zerstörten Produktionsanlagen wieder herzurichten und die Vertriebenen in den Produktionsprozess einzugliedern. So stiegen bis Mitte der 1950er Jahre sowohl die Beschäftigung als auch der Kapitalstock in moderaten Tempi. Danach setzte ein längerer, vor allem durch die Abwanderung großer Bevölkerungsteile verursachter Rückgang der Anzahl der männlichen Erwerbstätigen ein. Zugleich beschleunigte sich der Ausbau des Kapitalstocks infolge der Aktivierung der großen Investitionsprojekte der 1950er Jahre, so dass die Kapitalintensität stärker als zuvor zunahm. Tabelle 7: Verschleißgrad des Kapitalstocks in der DDR-Wirtschaft Anteil der kumulierten Abschreibungen am Bestand in % Bereich

1975 Insgesamt Land- u. Forstwirtschaft 36,8 Industrie 42,2 Produz. Handwerk (ohne Bauhandwerk) 31,9 Bauwirtschaft 41,5 Verkehr u. Nachrichtenübermittlung 48,8 Handel 37,5 Wohnungswirtschaft 43,0 Bildungswesen 41,4 Gesundheits- u. Sozialwesen 52,5 Ausrüstungen Land- u. Forstwirtschaft 49,8 Industrie 47,3 Produz. Handwerk (ohne Bauhandwerk) 32,3 Bauwirtschaft 52,9 Verkehr u. Nachrichtenübermittlung 49,6 Handel 49,9 Wohnungswirtschaft 34,5 Bildungswesen 54,4 Gesundheits- u. Sozialwesen 60,1 Quelle:

1980

1985

1989

38,4 43,5 43,3 41,4 48,5 36,5 43,9 40,0 50,4

42,0 44,6 49,3 47,9 50,8 39,4 43,3 37,0 45,4

43,3 46,7 54,3 51,2 51,3 41,6 42,0 35,8 45,0

56,7 50,8 46,7 56,4 49,7 49,2 39,3 62,9 60,7

63,0 52,7 55,0 67,2 54,5 54,7 40,8 67,2 63,1

60,8 54,2 61,3 68,6 54,5 56,5 47,3 65,7 60,8

Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, a.a.O., S. 120 f.

Mit der Grenzschließung im Jahr 1961 wurde zwar die Abwanderung gestoppt. Der Beschäftigungsrückgang setzte sich jedoch bis 1963 fort und wurde erst mit dem Eintritt zahlenmäßig stärkerer Jahrgänge und der Mobilisierung immer neuer Bevölkerungsschichten, insbesondere der Frauen, zur Arbeitsaufnahme beendet.

1436

Der Aufwuchs des Kapitalstocks seit Mitte der 1960er Jahre war im Ergebnis der hohen Investitionen beträchtlich. Die Steigerung um rund ein Viertel innerhalb von fünf Jahren scheint aus Sicht des Growth-Accounting-Modells auf eine vorrangige Bedeutung der extensiven Komponenten des Wirtschaftswachstums hinzudeuten. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, war die damit verbundene Steigerung der Kapitalintensität jedoch mit noch kräftigeren Produktivitätsgewinnen, also einem schnelleren Anstieg der totalen Faktorproduktivität, verbunden. In späteren Jahren gelang das nicht mehr. Die Entwicklungsreihe der Größe des Kapitalstocks verhüllt zugleich eine Besonderheit in qualitativer Hinsicht, nämlich seinen Modernitätsgrad und die altersmäßige Zusammensetzung des Kapitalstocks. Sein Umfang erhöht sich auch dann, wenn die Aussonderung abgeschriebener, veralteter unproduktiver Anlagen unterlassen wird, wie das insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren am hohen Verschleißgrad der Anlagen deutlich zu sehen ist. So war der Ausrüstungsbestand in allen großen Wirtschaftsbereichen 1989 zu mehr als der Hälfte abgeschrieben (Tabelle 7). Dieser Zustand kam nicht von ungefähr, sondern war systemimmanent. Die Konzentration der Investitionstätigkeit auf sogenannte strukturbestimmende Zweige und Projekte seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und insbesondere in den 1970er Jahren auf die erneute Wende in der Energiegewinnung zurück zur Braunkohle, die Entwicklung einer eigenen Mikroelektronikindustrie sowie den Wohnungsbau hat immer wieder zur Vernachlässigung der Investitionsanstrengungen in anderen Wirtschaftszweigen geführt. In vielen Bereichen reichte es nicht einmal für Ersatzinvestitionen. Zur Erfüllung ihrer Produktionspläne waren die Betriebe deshalb gezwungen, veraltete Anlagen weit über ihre Nutzungsdauer im Bestand zu halten. Infolgedessen sind die kräftigen quantitativen Zuwächse des Kapitalstocks nicht gleichzusetzen mit einer entsprechenden Erweiterung der Produktionskapazitäten. Die wahre Leistungsfähigkeit wird überschätzt und der Anteil dieser extensiven Komponente am Wirtschaftswachstum in den 1970er und 1980er Jahren vom Modell ein stückweit überzeichnet. Spätestens seit 1973 dürfte diese Ungenauigkeit jedoch die folgende grundlegende Aussage zum Verhältnis der Wachstumsquellen nicht in Frage stellen. Totale Faktorproduktivität Wachstumsperioden kann man für analytische Zwecke nach Höhe und Verlauf der Zuwachsraten der wirtschaftlichen Leistung, nach politischen Schlüsselentscheidungen, nach demografischen und anderen Faktoren voneinander abgrenzen. In der Regel richten sie sich allerdings nicht nach den Dekaden oder Fünfjahresabschnitten des Kalenders. Zusätzlich zum zeitlichen Wechsel zwischen extensivem und intensivem Wachstumstyp werden im Folgenden Unterperioden in Abhängigkeit von der Entwicklungstendenz des Engpassfaktors Arbeit gebildet.

1437

Für die Zeit bis zur Grenzschließung wuchs die Wirtschaft der DDR auf intensive Art und Weise (Tabelle 8).62 Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts beruhte vorwiegend auf dem Anstieg der totalen Faktorproduktivität. Der Anteil extensiver Quellen war gering, obwohl das Arbeitsangebot infolge des Zustroms der aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Vertriebenen groß war. Nach dem Kriegsende musste die Wirtschaft mit einem aus den Trümmern geborgenen und durch die Reparationen dezimierten unvollständigen Produktionsapparat auskommen und in Gang gehalten werden. Hier genügten oft kleine Anstöße durch Investitionen, um noch bestehende Lücken in den technologischen Produktionsabläufen zu schließen. Die Produktion zog in solchen Fällen sprunghaft an, obwohl sich die Ausstattung der Arbeitsplätze mit Maschinen und Anlagen nur wenig erhöhte. Im Ergebnis legte die totale Faktorproduktivität von Arbeit und Kapital kräftig zu. Zusätzlich übte die Verknappung des Arbeitskräfteangebots durch die überhand nehmende Abwanderung seit Mitte der 1950er Jahre einen starken Zwang zur Intensivierung der Produktion aus. Dieses Ergebnis überrascht nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit fiel einerseits mit der leicht rückläufigen Beschäftigung eine extensive Wachstumsquelle aus und andererseits trugen die großen Investitionsprogramme im ersten und zweiten Fünfjahrplan zur Erweiterung der anderen extensiven Wachstumsquelle, des Kapitalstocks, bei. Diese gegenläufigen Entwicklungen standen in einem solchen quantitativen Verhältnis zueinander, dass die Kapitalintensität der Arbeitsplätze deutlich erhöht wurde und dieses Produktivitätspotential weiterhin in hohes Wachstum der wirtschaftlichen Leistung umgesetzt werden konnte. Die Steuerung der Wirtschaft über Zentralpläne half in dieser Entwicklungsphase, mit großen wirtschaftlichen Aufbauprojekten die Verluste aus dem zweiten Weltkrieg mehr als auszugleichen und einen kräftigen Wachstumskurs einzuschlagen. Der technische Fortschritt hatte erst wenig Fahrt aufgenommen und schnell konnte an den bekannten hohen Stand der Technik angeknüpft werden. Dank des Zugriffs auf personelle, materielle und finanzielle Ressourcen entfaltete die zentrale Planung gewisse Vorzüge bei nachholender Modernisierung. Seit der Abschottung der DDR durch den Bau der Berliner Mauer gelang es nicht mehr, das Produktivitätspotential für hohe Wachstumsraten der wirtschaftlichen Leistung zu mobilisieren. Der Beschäftigungsrückgang lief 1963 aus, der Kapitalstock expandierte weiterhin mit hohen Raten. Die Wachstumsschwäche der Produktion Anfang der 1960er Jahre signalisiert aber, dass die extensiven Wachstumsquellen in hohem Maße in Anspruch genommen worden sind und kaum noch große Wachstumsbeiträge aus Produktivitätssteigerungen resultierten. Seit 1964 stieg die Erwerbstätigkeit und der 1963 eingeleitete Umbau des Lenkungssystems, der Übergang zum sogenannten „Neuen Ökonomischen System 62 Dieses Ergebnis überrascht, da der Intensitätsaspekt des Wachstums in den Analysen jener Zeit keine Erwähnung fand. Erst im Laufe der 1960er Jahre gelangt er auf die Agenda, als der Produktionsapparat kräftig ausgebaut worden war, die Verknappung des Arbeitsangebots die wirtschaftliche Leistung spürbar beeinträchtigte und insbesondere die Steigerung des Beschäftigungsgrades der Männer auf natürliche Grenzen stieß.

1438

der Planung und Leitung“ und seinen bis 1969 erfolgten Modifikationen im „Ökonomischen System des Sozialismus“ begann, seine gesamtwirtschaftlichen Wirkungen zu entfalten. Der Zentralplan wurde um dezentrale wirtschaftliche Anreizsysteme für die Betriebe ergänzt. Mit einer Reform der Industriepreise und der Umbewertung des Anlagevermögens sollten dazu die wahren Kostenverhältnisse aufgezeigt werden. Die Erwirtschaftung von Gewinn rückte in das Zentrum der Leistungsbewertung der Betriebe vor. Allerdings behielt die bis dahin praktizierte Planungs- und Bewertungsgröße Bruttoproduktion ihren Platz. So gerieten die Betriebsleiter mit der Erweiterung ihrer Entscheidungsspielräume in Zielkonflikte mit den Mengenauflagen des Zentralplans. In der Folge traten Verwerfungen im Wirtschaftsgefüge auf, der Wirtschaftskreislauf wurde gestört. Nicht unerheblich trug dazu allerdings auch die Planung mit der Konzentration der zentral gelenkten Investitionen auf sogenannte strukturbestimmende Vorhaben und die damit verbundene Vernachlässigung der Modernisierung in anderen Bereichen bei. Es kam zur Entwicklung wirtschaftlicher Ungleichgewichte vor allem zwischen Zulieferindustrien und Finalproduzenten, zwischen Energiebedarf und Energieerzeugung, zwischen Industrie und Verkehrswirtschaft.63 Die Wirksamkeit der Wirtschaftsreformen blieb zwar ob ihrer Halbherzigkeit und tatsächlicher Fehlentwicklungen hinter den Erwartungen zurück, die Analyse der gesamtwirtschaftlichen Daten signalisiert jedoch, dass es gelang, bis Ende der 1960er Jahre die Tendenz zur Extensivierung der Produktion im Zuge der Wirtschaftsreform einzudämmen. Der intensive Wachstumstyp gewann vorübergehend wieder Oberhand. Das Übergewicht blieb jedoch gering, da die Großvorhaben zur technologischen Modernisierung eine starke Erweiterungskomponente an Arbeit und Kapital aufwiesen und beträchtliche Mittel in die Rekonstruktion von Stadtzentren flossen. Tabelle 8: Wachstumsquellen des Bruttoinlandsprodukts der DDR Jahresdurchschnittliche Wachstumsraten in %

Periode 1951-1956 1957-1960 1961-1963 1964-1969 1970-1972 1973-1979 1980-1983 1984-1989 Quelle:

Bruttoinlandsprodukt

Extensive Intensive Quellen Quellen Beiträge in Punkten

7,83 5,61 3,04 5,02 4,98 3,67 2,80 2,64

1,24 1,65 2,56 2,49 2,92 3,33 2,89 2,18

6,58 3,96 0,48 2,53 2,06 0,34 –0,09 0,46

Partielle Produktivitäten Arbeit

Kapital

Kapitalintensität

7,55 5,63 3,12 4,56 4,42 2,68 2,13 2,50

5,66 2,52 –1,61 0,82 0,10 –1,52 –1,84 –1,16

1,79 3,04 4,80 3,71 4,32 4,26 4,04 3,69

Eigene Berechnungen.

63 In internen Analysen wird bei vielen Zuliefererzeugnissen beklagt, dass der allein durch die strukturbestimmenden Vorhaben gesetzte Bedarf über den Produktionsmöglichkeiten lag.

1439

Zu Beginn der 1970er Jahre blieb das Wachstumstempo kräftig, die Investitionen in die Schwerpunktbereiche trieben die Nachfrage noch an. Allerdings erhöhte sich infolge der Aktivierung der Investitionen auch der Kapitalstock, und zwar in einem solchen Maße, dass die extensiven Faktoren wieder Überhand gewannen. Der Zentralplan mit seinen Mengenvorgaben stand wieder im Zentrum der Wirtschaftslenkung. Trotz drakonischer Maßnahmen zur Intensivierung der Produktion mit Auflagen zur Einsparung von Material, Energie und Arbeitszeit, nahm das Gegenteil der gewollten Wirkungen Fahrt auf. So blieb es auch in den Folgejahren. Im Verlauf der 1970er Jahre trat die DDR in eine Phase der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ein, die bis zu ihrem Ende anhielt. Die Konzentration der Mittel auf Großprojekte zur Importablösung (z. B. Heizölprogramm), zur erneuten Forcierung der Energiegewinnung auf Braunkohlenbasis, das Mikroelektronikprogramm und die Förderung weiterer Schlüsseltechnologien trugen zwar zur Stärkung des Produktionspotentials bei, wie auch das Wohnungsbauprogramm. Die Anhebung des Wohlstandes auf Kredit - vor allem für mehr Einfuhren von Konsumgütern aus dem westlichen Ausland - drückte jedoch die Wachstumsaussichten. So erhöhte sich zwar nach dem von Honecker bei seinem Machtantritt verfügten Strategiewechsel bis Mitte der 1980er Jahre der Kapitalstock zur Erbringung von Dienstleistungen vor allem im Wohnungswesen sowie im Gesundheits- und Sozialwesen drastisch, das Wirtschaftswachstum wurde damit aber vorrangig durch die Erweiterung der extensiven Quellen gespeist. Anfang der 1980er Jahre beruhte es im Umfeld der drakonischen Maßnahmen zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit der DDR gegenüber dem westlichen Ausland sogar ausschließlich darauf. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität legte trotz weiterhin kräftig zunehmender Kapitalausstattung der Arbeitsplätze eine nur halb so schnelle Gangart wie davor ein. Der Rückgang der Kapitalproduktivität setzte sich fort. Obwohl das Mikroelektronikprogramm voran kam und die Entwicklung anderer Schlüsseltechnologien forciert wurde, blieb der technische Fortschritt in der Breite der Wirtschaft zurück und hemmte die weitere Steigerung der Produktion. Die für den Aufbau der mikroelektronischen Industrie und den Robotereinsatz notwendige Zuweisung der Ressourcen konnte zwar über den Zentralplan geregelt werden, die Diffusion der Ergebnisse scheiterte jedoch am fehlenden wirtschaftlichen Interesse der Betriebe. Die Umsetzung des in der neuen Technik verkörperten Potentials blieb zurück. Hier musste die Zentralplanwirtschaft mit ihren hierarchischen Strukturen scheitern, weil die erforderlichen vielfältigen dezentralen Suchprozesse über den Markt ausgeschaltet blieben. Anderenfalls hätte das Machtmonopol der Kaderpartei und ihrer Führung aufgegeben werden müssen, eine Konsequenz, die der sogenannte Richta-Report bereits Ende der 1960er Jahre gezogen hatte.64

64

Richta-Report: Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der technischwissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt am Main 1971, S. 272 ff.

1440

Diese Ergebnisse zeigen, dass nachholende Modernisierungen einer Volkswirtschaft mit Zentralplänen forciert werden können. Bei bekanntem Stand der Technik kann die Vielseitigkeit von großen wirtschaftlichen Aufbau- und Forschungsprojekten, die Abstimmung der arbeitsteiligen Verflechtungen zwischen den Beteiligten über zentral geplante Größen gesteuert werden. Die Vorstöße in technisches Neuland und die Diffusion neuer Produkte und Verfahren verlangen jedoch nach Akteuren, die selbständig auf eigene Verantwortung handeln dürfen und nicht eingezwängt sind in die Erfüllung zentral vorgegebener Mengengrößen. Wettlauf zwischen Produktion und Konsum. Bedeutung des Außenhandels Für die DDR hatte der Außenhandel herausragende Bedeutung. Das Land war arm an Rohstoffen. Zwar verfügte das Gebiet über eines der größten Vorkommen in der Welt an Braunkohle und größere Lagerstätten an Kali- und Steinsalzen, aber darüber hinaus wurden nur noch Uranerz für das Atomprogramm der UdSSR und Kupfererz mit geringem Metallgehalt in nennenswerter Höhe abgebaut. Für die Versorgung der Wirtschaft und der Einwohner war die DDR auf umfangreiche Importe an Roh- und Brennstoffen sowie Agrarerzeugnissen angewiesen, aber auch auf die Einfuhr von Halbfabrikaten und anderen Vorprodukten, Maschinen und Geräten, Fahrzeugen und Konsumgütern, die aus Kapazitäts- oder technologischen Gründen nicht produziert werden konnten. Im Gegenzug mussten zum Ausgleich der Handelsbilanz hohe Warenexporte geleistet werden. Im Zuge der Eingliederung der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR in den Einflussbereich der UdSSR hatten sich ihre Auslandsmärkte im Vergleich zur Situation vor dem zweiten Weltkrieg bereits Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre massiv zugunsten der mittel- und osteuropäischen Länder verschoben (Tabelle 2).65 Der Handel tendierte zu einer „komplementären Austauschstruktur“66 mit der Hegemonialmacht UdSSR im Zentrum des systemeigenen Wirtschaftsblocks. Die DDR deckte den größten Teil ihres Rohstoff- und Energiebedarfs durch Importe aus den Ländern Mittel- und Osteuropas ab. Zwei Drittel der Importe aus der UdSSR bestanden aus Energieträgern, Rohstoffen und Materialgütern. Die eisenschaffende Industrie der DDR war auf die Importe von Eisenerz aus der UdSSR, von Steinkohle sowie Koks sowohl aus der UdSSR als auch aus Polen angewiesen. Die Energieversorger und die chemische Industrie griffen auf Erdöl- und Erdgaslieferungen aus der UdSSR zurück. Im Gegenzug war die DDR ein wichtiger Lieferant von Investitions- und Konsumgütern in die mittel- und osteuropäischen Länder. Entsprechend den blockinternen Spezialisierungsmustern der Produktion bezog die UdSSR in hohem Maße Erzeugnisse des Schwermaschinen- und Anlagenbaus, Schiffe und Schienenfahrzeuge, Erzeugnisse der Luft- und Kältetechnik, Ausrüstungen und Maschinen für die Landwirt65 In der Nachkriegszeit sah die Außenhandelspolitik die Rolle des Exports vorwiegend in der Sicherung notwendiger Importe. 66 Ahrens, Ralf: Gegenseitige Wirtschaftshilfe? Die DDR im RGW − Strukturen und handelspolitische Strategien 1963 - 1976, Köln, Weimar, Berlin 2000, S. 350.

1441

schaft aus der DDR. Für die entsprechenden Industriezweige bedeutete das Exportquoten zwischen einem Viertel und der Hälfte der Produktionskapazität.67 Umfang und Struktur der Lieferungen wurden in bilateralen Handelsabkommen zentral festgelegt. Ähnliches galt für die Preise im Außenhandel, die anhand der Entwicklungen auf den internationalen Hauptwarenmärkten bestimmt wurden.68 Ebenso waren die Währungen der Partnerländer über ein festes Verhältnis gegenüber dem sogenannten Transferrubel auf längere Zeit fixiert. Nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank setzte die DDR in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre knapp zwei Drittel ihrer Exportgüter im Intrahandel mit Ländern aus ihrem Wirtschaftsblock („Sozialistischen Wirtschaftsgebiet“) ab.69 Darunter absorbierte die UdSSR in den 1980er Jahren rund 55 %, das war reichlich ein Drittel des gesamten Warenexports der DDR. Die starke Konzentration auf wenige Großkunden gestattete Fertigungen in großen Serien und die Realisierung von Kostenvorteilen, bedeutete aber zugleich eine hohe Abhängigkeit von den Abnehmern und vertiefte die Abschottung von den Gütermärkten in der westlichen Welt. Der systembedingte Vorrang der Ostmärkte war zugleich ein wesentlicher Grund für den zunehmenden Rückstand bei Technologie, Qualität und Kosten gegenüber den Anbietern aus westlichen Industrieländern.

67 Werner, a. a. O., S. 56 f. 68 Siehe auch Fußnote 33. 69

Deutsche Bundesbank, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Frankfurt am Main 1999, S. 22, 33.

1442

Tabelle 9: Inlandsverwendung und Außenbeitrag des Bruttoinlandsprodukts der DDR seit 1970 Angaben in % zum Bruttoinlandsprodukt

Jahr

Bruttoinlandsprodukt

Inländische Verwendung Insgesamt

Konsum

1970

100,0

104,5

1972

100,0

1975

100,0

1978

Nachrichtlich:

Investitionen

Außenbeitrag

Export

Import

78,3

26,3

-4,5

13,1

17,7

104,1

79,8

24,3

-4,1

14,5

18,6

103,5

78,8

24,6

-3,5

16,5

20,0

100,0

103,5

77,7

25,8

-3,5

17,8

21,3

1979

100,0

102,4

78,2

24,2

-2,4

19,1

21,5

1980

100,0

102,6

78,0

24,6

-2,6

19,4

22,0

1981

100,0

101,0

77,3

23,7

-1,0

20,4

21,5

1982

100,0

98,4

77,1

21,3

1,6

22,3

20,8

1983

100,0

96,7

75,5

21,2

3,3

24,8

21,6

1984

100,0

96,0

75,0

21,1

4,0

23,7

19,8

1985

100,0

96,0

74,3

21,7

4,0

23,7

19,7

1986

100,0

95,9

74,0

21,9

4,1

23,8

19,6

1987

100,0

96,4

74,2

22,2

3,6

23,6

20,1

1988

100,0

97,4

74,2

23,2

2,6

22,6

20,0

1989

100,0

97,2

74,5

22,6

2,8

22,6

19,8

Quelle:

Eigene Berechnungen auf der Basis von Heske, Gerhard: Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland 1970 - 2000, HSR Supplement/Beiheft Nr. 17, Köln 2005, Nr. 17, S. 230.

Im Handel der DDR mit Ländern außerhalb des eigenen Wirtschaftsblocks („Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet“), zu dem auch der innerdeutsche Handel gehörte, hatten seit dem Mauerbau der Import von technologisch hochwertigen Industriegütern zur Modernisierung der Produktion und die Einfuhr von Agrarprodukten einen festen Platz. Hier schlugen sich aber auch die wechselnden Prioritäten in der Wirtschaftspolitik nieder. Es gab Phasen, in denen − wie Anfang der 1960er Jahre − auf dem Boden der Autarkiebestrebungen die Wirtschaft „störungsfrei“ von Importen aus dem Westen gehalten werden sollte, Zeiten, in denen der Import von Maschinen und Anlagen zur Modernisierung der Produktion im Vordergrund stand, und Abschnitte, in denen die Einfuhr in erster Linie von Konsumgütern die Versorgungslage im Inland verbessern sollte. Im Gegenzug lieferte die DDR Erdölprodukte, Erzeugnisse des Maschinenbaus und der Elektrotechnik sowie Konsumgüter. Der Handel der DDR mit den westlichen Industrieländern, darunter mit der alten Bundesrepublik, wurde zu Marktpreisen in konvertibler Währung abgewickelt. Mit der Beschleunigung des technischen Fortschritts auf den westlichen Märkten blieb das technische Niveau der exportierten Industrieprodukte zurück, hohe Erlöse konnten nicht mehr erzielt werden, so dass es der DDR immer schwerer fiel,

1443

die Gegenleistung für die Importe zu erbringen. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Industriegüter aus der DDR im Handel mit den westlichen Industrieländern sank vor allem in den 1980er Jahren rapide. Die Mark der DDR war zwar als typische Binnenwährung nicht konvertibel und amtliche Wechselkurse fehlten. Intern musste jedoch das Verhältnis zwischen den inländischen Produktionskosten und den Valutaerlösen festgelegt werden, um die Produktion und die Finanzierung der betrieblichen Abläufe aufeinander abzustimmen. Dieses Verhältnis ist laut den internen Berechnungen der amtlichen Statistik der DDR bereits in den 1950er Jahren gesunken. Für den Erlös einer DMark im Außenhandel mussten 1960 bereits Güter für 1,50 Mark aus der inländischen Produktion aufgewendet werden.70 Am Ende der DDR hatte sich dieser Gegenwert in Mark der DDR im Schnitt auf 4,40 Mark der DDR erhöht.71 Dies entsprach einer Abwertung der DDR-Mark gegenüber der D-Mark um rund zwei Drittel gegenüber 1960. Dieser Verlust an Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel schränkte zugleich die Verfügbarkeit der eigenen Wirtschaftsleistung für den Konsum und Investitionen im Inland spürbar ein. Die Kluft zwischen den Inlands- und Auslandspreisen bedeuten aber auch, dass die geläufigen Darstellungen zur Abhängigkeit der DDR vom Außenhandel in der Binnenwährung in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn auf die in D-Mark bewerteten Transaktionen zurückgegriffen wird. Dann schmilzt die Bedeutung des Außenhandels für die Wirtschaft der DDR kräftig. Die Exporte und Importe in Relation zum Bruttoinlandsprodukt bewegen sich nicht mehr im Bereich von 50 %, sondern nur um knapp ein Viertel (Tabelle 9). Verbrauchen über die Produktionsmöglichkeiten Mit dem Versagen des Systems beim Übergang zum intensiven Wachstumstyp versiegten die eigenen Quellen der DDR zur Wohlstandssteigerung. Der von Honecker nach seinem Machtantritt 1971 unter der Losung „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vollzogene Prioritätenwechsel hin zu mehr Wohlstand fand zwar viel Zuspruch und das Lebensniveau erhöhte sich zunächst spürbar. Jedoch wurde mit der wachsenden Konsumorientierung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schon früh der Schlussstein für den späteren Niedergang der DDR gesetzt. Der Verbrauch an Konsum- und Investitionsgütern im Inland überstieg von 1972 an im gesamten Jahrzehnt die Produktion (Tabelle 9 und Abbildung 3) und damit der Import den Export. Da die eigenen Produktionsmöglichkeiten zur Verbesserung des Angebots an Konsumgütern nicht ausreichten, wurden die Importe vor allem aus dem westlichen Ausland in einem Ausmaß erhöht, dass die Han70

Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Bericht über die Entwicklung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und des Nationaleinkommens im Jahr 1963, Berlin (-Ost) 1964, Blatt 17.

71

Bei dieser Angabe handelt es sich um den sogenannten Richtungskoeffizienten, mit dem die im Westhandel erzielten Erlöse in ausländischen Währungen den Exportbetrieben in Mark der DDR gutgeschrieben worden sind. Im Schnitt entsprach er dem inländischen Produktionsaufwand pro Einheit Exporterlös in D-Mark.

1444

delsbilanz von 1975 bis 1980 ins Defizit geriet. Bis dahin hatten die Wirtschaftsstrategien im Einklang mit dem Autarkiegebot, die Unabhängigkeit vom westlichen Weltmarkt zu sichern, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht unter Kontrolle gehalten. Auch wenn der schon früh einsetzende Wertverfall der Mark im Handel mit konvertiblen Währungen die DDR gezwungen hatte, ständig steigende Produktionsmengen im Inland zur Devisenerwirtschaftung aufzubringen. Abbildung 3: Produktion und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts der DDR 1970 bis 1989 in Mio. Mark der DDR zu jeweiligen Preisen 350.000 Staatskonsum 300.000

Bruttoinlandsprodukt1

Privater Konsum Bruttoinvestitionen

250.000 200.000 150.000 100.000 50.000 0 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

1

Für die Jahre 1971, 1973, 1974 und 1977 liegen keine Daten vor, Angaben geschätzt.

Quellen: Statistisches Bundesamt 2000 (DFG-Projekt); eigene Berechnungen und Darstellung.

Mit der Passivierung der Handelsbilanz gegenüber den westlichen Ländern, den hohen Zinsbelastungen im Kreditgeschäft und den steigenden Erdölpreisen bahnte sich Anfang der 1980er Jahre eine Liquiditätskrise an. Zur Abwendung unternahm die DDR erhebliche Anstrengungen, um die Ausfuhr in den Westen zu steigern. Die Führung setzte auf die Erzielung von Exportüberschüssen um jeden Preis. Der Erfolg dieser Anstrengungen brachte der DDR im Zeitraum 1981 bis 1986 einen Überschuss in der Handelsbilanz von 12,4 Mrd. Valuta-Mark ein.72 Dazu trugen insbesondere die Geschäfte mit Erdöl und Produkten daraus sowie die Petrochemie solange bei, wie die Ölpreise stiegen und die DDR relativ günstig Erdöl und Erdgas aus der UdSSR beziehen konnte. Die außenwirtschaftliche Lage änderte sich abrupt, als 1986 die Erdölpreise zu fallen begannen. Außerdem bemühten sich die DDR-Behörden in den folgenden Jahren, durch die Einfuhr von Maschinen und Ausrüstungen die industrielle Basis zu modernisieren. Aus all dem resultierte ein deutlicher Anstieg der Einfuhren, so dass im Zeitraum 1987 bis 1989 wieder Handelsdefizite aufliefen (Tabelle 10). 72 Die hier verwendete Währungseinheit Valuta-Mark entspricht in den Ost-West-Beziehungen der Deutschen Mark (DM).

1445

Aus Sicht der Deutschen Bundesbank wurde nach dem Beginn der 1980er Jahre ein „respektables Liquiditätspolster“ aufgebaut.73 Laut deren Berechnungen waren Ende 1985 die Forderungen auf 30 Milliarden Valuta-Mark angewachsen und sie hielten in etwa diesen Stand bis 1989. Sie deckten 59,3 % der Verschuldung ab.74 Die Bruttoverschuldung gegenüber den westlichen Ländern zurückzuführen, gelang allerdings nicht. Von 40,5 Milliarden Valuta-Mark Ende 1982 stiegen die Verbindlichkeiten unter Schwankungen bis Ende 1989 auf 48,8 Milliarden. Tabelle 10: Die Leistungsbilanz der DDR in den Jahren 1975 bis 1989 Millionen Valuta-Mark Sozialistisches Wirtschaftsgebiet Handelsbilanz LeistungsAusfuhr Einfuhr Saldo bilanzsaldo 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 Quelle:

13 115 14 333 15 803 17 524 19 414 19 618 21 564 23 752 26 858 28 672 29 992 30 398 30 942 31 094 31 078

13 304 14 595 17 069 17 835 18 131 19 917 22 218 23 977 25 311 27 946 29 048 31 298 30 094 29 925 29 177

– 189 – 262 –1 266 – 311 1 283 – 299 – 654 – 225 1 547 726 944 – 900 848 1 169 1 901

– 310 – 302 –1 363 – 548 997 – 362 – 835 – 524 1 386 686 778 –1 041 653 1 182 2 276

Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Handelsbilanz LeistungsAusfuhr Einfuhr Saldo bilanzsaldo 7 692 9 033 8 781 9 430 10 373 12 621 15 289 20 003 21 357 24 058 22 486 18 216 16 388 14 996 16 299

10 447 13 102 12 650 12 280 14 072 15 385 14 917 16 825 18 910 20 842 19 460 18 088 18 306 17 901 19 173

–2 755 –4 069 –3 869 –2 850 –3 699 –2 764 372 3 178 2 447 3 216 3 026 128 –1 918 –2 905 –2 874

–2 651 –3 889 –3 507 –2 397 –3 394 –2 976 – 166 3 078 2 418 5 766 4 759 728 –1 628 –1 771 –3 065

Deutsche Bundesbank, a.a.O., S. 32, 49.

Nach Abzug der Devisenreserven erreichte die Verschuldung gegenüber den westlichen Ländern im Krisenjahr 1982 mit 25,1 Milliarden Valuta-Mark ihren Höhepunkt. Bis Ende 1985 ging sie auf 15,5 Mrd. Valuta-Mark zurück. Danach wuchs sie wieder an; Ende 1989 betrug die Nettoverschuldung 19,9 Milliarden Valuta-Mark.75 Gegenüber den Ländern im eigenen Wirtschaftsblock („Sozialisti73 Vgl. Deutsche Bundesbank, a.a.O., S. 58. 74 Die nach Honeckers Sturz von dessen Nachfolger Krenz eingesetzte geheime Expertenkommission um den letzten Planungschef der DDR, Gerhard Schürer, war bei der Begründung der drohenden Zahlungsunfähigkeit der DDR im Oktober 1989 noch von einer Verschuldung gegenüber den westlichen Industrieländern in Höhe von 49 Milliarden Valuta-Mark ausgegangen. Vgl. Schürer, Gerhard et al.: Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED, in: Deutschland-Archiv, 2/1992, S. 1116. 75

Deutsche Bundesbank, a.a.O., S. 58 f.

1446

sches Wirtschaftsgebiet“) konnte sich die DDR aus der Position eines NettoSchuldners im Gefolge der Erdölpreissteigerungen herauslösen und befand sich ab 1983 in einer Netto-Gläubigerposition.76 Abbildung 4: Anlageinvestitionen in ausgewählten Wirtschaftsbereichen der DDR in Mio. Mark zu Preisen von 1985 80.000 Volkswirtschaft insgesamt

Sonstige

70.000 Handel, Verkehr, Nachrichten 60.000 50.000 40.000 30.000

Bau- und Wohnungswirtschaft

Verbrauchsgüterindustrie

Investitions- und Gebrauchsgüterindustrie

20.000 10.000

Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie Land- und Forstwirtschaft

0 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

Quellen: Stat. Jahrbuch der DDR 1990, S. 15, 113, 114 ; eigene Berechnungen und Darstellung.

Die Erwirtschaftung hoher Exportüberschüsse zur Abwendung der drohenden Liquiditätskrise in der ersten Hälfte der 1980er Jahre hatte weitreichende Konsequenzen für die Fortsetzung der Wirtschaftspolitik im Inland. Die Konsumorientierung des Wirtschaftswachstums wurde nach 1982 reduziert, der Anstieg der privaten Konsumausgaben gedrosselt. Die Konsumquote ging allerdings nur leicht zurück (Tabelle 9). Heftiger waren die Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit. Die für die Modernisierung der Wirtschaft dringlichen Anlageinvestitionen wurden 1982 bis 1984 drastisch gekürzt (Abbildung 4). Die Investitionsquote sank in dieser Zeit von knapp 25 % im Jahr 1980 auf 21 % im Jahr 1984. Die folgenden Versuche, über den steigenden Import von Maschinen und Ausrüstungen auf einen höheren Wachstums- und Wohlstandspfad zurückzukehren, mussten scheitern: das Produktionspotential war in seiner Substanz geschwächt, die erwartete Wachstumswirkung der vergangenen Investitionen in die neuen Technologien blieb aus und die Rückkopplung von der Verbesserung des materiellen Wohlstandes auf das Leistungsverhalten war schwach. So wurde in der Wirtschaft eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die letztlich im Untergang des Systems endete. Wirtschaftliche Niveauvergleiche mit der alten Bundesrepublik Niveauvergleiche von Ländern mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Statistiksystemen, unterschiedlichen Währungen und Preisverhältnissen gehören zu den schwierigsten Aufgaben der Wirtschaftsanalyse. Diese Erkenntnis ist nicht neu, 76

Ebenda S. 30.

1447

das Interesse daran auch nach dem Ende der DDR groß. Bereits für die Nachkriegsjahre waren erste Vergleiche zwischen den Besatzungszonen präsentiert worden.77 Je nach Autor und Berechnungsmethode divergieren die Ergebnisse des Vergleichs der Wirtschaftsleistung zwischen der DDR und der alten BRD deutlich. Die Angaben aus den Untersuchungen vor 1990 lassen allerdings auch vermuten, dass in einigen Fällen, beispielsweise durch die CIA, politische und finanzielle Interessen eine Rolle spielten. Der Geheimdienst hatte für 1985 sogar einen Produktivitätsvorsprung der DDR ermittelt. Die wissenschaftliche Relevanz und Vertrauenswürdigkeit solcher Ergebnisse ist nicht in jedem Fall gegeben. Unabdingbar ist deshalb die Offenlegung der Datenquellen und Berechnungsmethoden, die auch bei den veröffentlichten Ergebnissen seit 1990 nur teilweise gegeben ist. Der Vergleich des wirtschaftlichen Leistungsniveaus zwischen der DDR und der früheren Bundesrepublik wird erschwert, da die statistischen Ämter seinerzeit die zentrale Leistungsgröße der jeweiligen Volkswirtschaft nach unterschiedlichen statistischen Konzepten ermittelt haben: das Nationaleinkommen für die DDR und das Sozialprodukt für die Bundesrepublik. Getreu der jeweiligen, wirtschaftstheoretisch begründeten Abgrenzung der Produktionssphäre deckte das Nationaleinkommen der DDR nur die Leistung der Wirtschaftsbereiche ab, die im Wirtschaftskreislauf für die Produktion, Distribution, Zirkulation und Verwendung von Sachgütern zuständig sind, während in das Sozialprodukt der Bundesrepublik die Leistungen des gesamten Dienstleistungssektors einbezogen werden. Außerdem erfasst das Nationaleinkommen die Leistung als Nettoprodukt (ohne Abschreibungen), während das Bruttosozialprodukt die Abschreibungen einbezieht. Um eine gewisse Vergleichbarkeit herzustellen, hatte die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR (SZS) intern eine besondere Messgröße gebildet, das um die Abschreibungen in der Sachgüterproduktion erweiterte Nationaleinkommen. Ihre Höhe bildete auch die Grundlage für den internen innerdeutschen Vergleich des Leistungsniveaus durch die SZS. Für den Vergleich zwischen beiden deutschen Staaten wurde das Nationaleinkommen der DDR zahlenmäßig aufgestockt, das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik dagegen um den Beitrag des Dienstleistungssektors reduziert. Außerdem wurde das Bruttosozialprodukt um den Beitrag West-Berlins gekürzt. So überrascht es nicht, wenn angesichts der Unterentwicklung des Dienstleistungssektors in der DDR in den Verlautbarungen der Partei- und Staatsführung Anfang der 1960er Jahre nur ein Rückstand im Leistungsniveau pro Einwohner von 25 % angegeben wurde und 1982 von 30 %.78 77 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Wochenbericht Nr. 51/1950, S. 206; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, 1. Heft 1951, S. 50. 78 Die dem Autor dieser Zeilen vorliegenden internen Berechnungsergebnisse der amtlichen DDR-Statistik geben nur unzureichend Auskunft über die verwendete Datenbasis und Methode. Unklar bleibt, wie der Übergang der Angaben für die Bundesrepublik auf die Preise in der DDR erfolgte. Die Größen sind im „Statistischen Jahrbuch der Bilanzierung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts und der Nationaleinkommens“ von 1967 jeweils in Mark der Deutschen Notenbank, d. h. in DDR-Mark angegeben. Aus den internen Unterlagen der SZS geht

1448

Die Berechnungen seit 1990 dokumentieren Einmütigkeit in Einem, nämlich dem deutlichen Rückstand der DDR im wirtschaftlichen Leistungsniveau pro Kopf bzw. je Erwerbstätigen. Gemäß der unter Beteiligung des Autors dieses Beitrags im Vorfeld der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR erfolgten Berechnung lag die Produktivität der DDR-Wirtschaft am Ende ihrer Existenz bei einem Drittel des bundesdeutschen Standes.79 Fazit Die Zentralplanwirtschaft in der DDR war auf Wachstum und Wohlstand ausgerichtet, unterlag jedoch im Wettstreit der Systeme wegen ihrer Ineffizienz der dezentralen Marktwirtschaft. Die zentrale Lenkung des Wirtschaftsgeschehens ohne Markt entfaltete zwar anfangs dank des unmittelbaren Ressourcenzugriffs durch den Staat einige Vorzüge bei nachholenden Modernisierungen und der Organisation komplexer Großprojekte, der Übergang zur Vorrangigkeit bestimmter Entwicklungen in Forschung, Technik und Produktion führte jedoch zu Ungleichgewichten in der Wirtschaftsstruktur, zu Störungen im Kreislauf und Substanzverlusten am Produktionsapparat. Insbesondere versagte die Überleitung technischer Neuerungen in effiziente Produktionen. Zuletzt lebte die DDR wirtschaftlich über ihre Verhältnisse. Der Abstand im Leistungsniveau zur Bundesrepublik blieb beträchtlich. Die Zentralplanwirtschaft hat in vierzig Jahren Praxis auf deutschem Boden ihre von den Begründern postulierte Überlegenheit nicht unter Beweis stellen können. Am Ende ihrer Existenz verfügte die DDR über eine technologisch abgehängte Wirtschaft mit einem hohen Industrieanteil und einem unterentwickelten gewerblichen Dienstleistungssektor. Die Orientierung am auf Autarkie ausgerichteten, sowjetischen Industrialisierungsmodell in den Nachkriegsjahren, der verpasste Anschluss an die technischen Fortschritte in den 1970er Jahren und danach sowie die selektive Entwicklung von Schwerpunktzweigen gipfelten in einer Produktionsstruktur, die von Altindustrien und Überbeschäftigung geprägt war. Die Abschottung von den Weltmärkten verstärkte die technologische Rückständigkeit, die Ausrichtung der Massenproduktion auf die Märkte in der UdSSR und Mittelosteuropa trug zur Konservierung alter Strukturen bei. Die Produktion war in wenigen monopolartigen Großbetrieben mit heterogenen Produktions- und Leistungsprofilen organisiert. Die Verdrängung des Mittelstandes, die ihren Abschluss in der Enteignungswelle von tausenden Privatbetrieben und Betrieben mit staatlicher Beteiligung nach dem Machtantritt Honeckers erfahren hatte, vollendete den Verzicht auf die Schöpferkraft privaten Unternehmertums. außerdem hervor, dass der Vergleich in den 1960er Jahren anhand der im Inland verwendeten Größe des um die Abschreibungen erweiterten Nationaleinkommens vollzogen wurde. Auch das wirkte sich tendenziell zum Vorteil der Berechnungen für die DDR aus, da die Bundesrepublik hohe Exportüberschüsse erzielte, die für die inländische Verwendung nur partiell zur Verfügung standen. 79 Filip-Köhn, Renate / Ludwig, Udo: Dimension eines Ausgleichs des Wirtschaftsgefälles zur DDR, DIW-Diskussionspapiere, Nr. 3, Berlin, März 1990, S. 7.

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2. Versuch der Einordnung in größere Zusammenhänge der sozialistischen wirtschaftsordnungspolitischen Experimente Von David S. Landes und Peter Jay Am Schluß soll der Versuch unternommen werden, die wirtschaftsordnungspolitischen Experimente der beiden deutschen Teilstaaten, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in größere Zusammenhänge einzuordnen. Die beiden deutschen Teilstaaten waren nach 1945 in größere Blöcke oder Lager eingebunden. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften (1970) Paul Anthony Samuelson hatte noch 1976 festgestellt: „Keine neue Erhellung hat die Frage erfahren, warum arme Länder arm sind und reiche Länder reich“.80 Inzwischen liegen zwei Weltwirtschaftsgeschichten vor, und zwar von David S. Landes und Peter Jay. Damit kann auch die Wirtschaftsgeschichte der beiden deutschen Teilstaaten in der langen Sicht und im internationalen Kontext verortet werden. Die kriegs- und nachkriegsbedingten Störungen der Weltwirtschaft waren durch die einseitigen Reparationsleistungen Deutschlands durch den Vertrag von Versailles (1919) ausgelöst worden.81 Walter Eucken bezeichnete die Regelungen des Versailler Vertrages als „Konstruktionsfehler“, der letztlich zur Weltwirtschaftskrise (1929/32)82 führte. Der Kölner Nationalökonom und Soziologe Alfred Müller-Armack (1901-1978) betonte immer wieder, daß die liberale Weltwirtschaft, wie sie vor dem 1. Weltkrieg bestand, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zusammenbrach, weil die institutionellen Sicherungen fehlten. In der Weltwirtschaftskrise isolierten sich die einzelnen Nationalstaaten durch hochprotektionistische Zölle, Abwertungen und Devisenzwangswirtschaft, was zu größeren Wohlstandsverlusten führte, da jedes Abgehen vom Freihandel zur Einschränkung der internationalen Arbeitsteilung und damit zu Wohlstandsverlusten führt.

80 Samuelson, Paul A.: “Illogic of Neo-Marxian Doctrine of Unequal Exchange”, in: Belsley, David A. u. a. (Hrsg.): Inflation, Trade and Taxes: Essays in Honor of Alice Bourneuf, Columbus 1976, S. 107. Zitiert nach Landes, David S.: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999, S. 13. 81 Röper, Burkhardt: Reparationen, in: HdSW, 8. Bd., 1964, S. 814 ff. Eucken, Walter: Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 36. Bd., Jena 1932, II. 82 Predöhl, Andreas: Weltwirtschaftskrise, in: HdSW, 11. Bd., 1961, S. 618: „Unter ‚Weltwirtschaftskrise’ soll dagegen ein einmaliger Vorgang verstanden werden, nämlich der Zusammenbruch der Weltwirtschaft, der sich in der Depression des Jahres 1931 vollzogen hat und mit dem der automatische Ausgleich der Zahlungsbilanzen vermittels des Goldwährungsmechanismus durch die autonome Währungspolitik der Staaten, der automatische Ablauf der Konjunkturen durch die staatliche Konjunkturpolitik ersetzt worden ist“.

1450

Der Wirtschaftshistoriker David S. Landes83 ist in seinem Werk „Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind“ (1999) der Frage nachgegangen, warum einige Nationen ein hohes Maß an wirtschaftlichem Erfolg erreichen, während andere in quälender Armut steckenbleiben, unfähig wirtschaftliches Wachstum in Gang zu bringen. Die Werke der beiden Wirtschaftshistoriker Landes und Jay werden hier in Auszügen komprimiert vorgestellt. Im „Vorwort“ beschreibt Landes seine Intention: „Mit diesem Buch lege ich eine Weltgeschichte vor. Allerdings nicht in der multikulturellen, anthropologischen Bedeutung prinzipieller Gleichbehandlung, nach dem Motto: Alle Völker sind gleich, und der Historiker versucht, ihnen allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vielmehr war meine Absicht, den Hauptstrom ökonomischer Fortschritte und Neuerungen zu verfolgen und zu verstehen: Wie sind wir dahin gekommen, wo wir uns befinden, und zu dem geworden, was wir sind – und zwar unter dem Gesichtspunkt der Produktion, der Distribution, der Konsumtion. Diese Fragestellung gestattet eine stärkere Zentrierung und begrenzt entsprechend die Darstellung. … Die Wurzeln der Ungleichheit liegen in einem komplexen Zusammenspiel aus geographischen Gegebenheiten, historischen Grundbedingungen und kulturellen Gewohnheiten. Entscheidend aber ist die Kultur: die Einstellung zu Arbeit und Leistung, die Regelung von Eigentumsrechten, also die Frage, ob die Menschen die Früchte ihrer Arbeit genießen können, die Haltung gegenüber Zukunft und Fortschritt. Wie Nationen es damit halten, war und ist ausschlaggebend für die Ankurbelung wirtschaftlichen Wachstums und – in modernen Zeiten – das Gelingen der industriellen Revolution. ‚Wohlstand und Armut der Nationen’ ist eine Geschichte über Erfolg und Versagen, darüber, ob man aus seinen Fehlern lernt oder sie ignoriert, über Entdeckungen und die harte Arbeit, die gewonnenen Erkenntnisse in wirtschaftlichen Gewinn, Macht und Imperien umzusetzen“.84 Zu den Gewinnern in der Zeit nach 1945 zählt Landes nur Länder mit marktwirtschaftlicher Ordnung wie Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland aber auch Japan, Taiwan, Südkorea, Singapur, Hongkong und Malaysia. „Doch bei allem idealistischen Konsens war die Welt nach 1945 in zwei rivalisierende Lager geteilt – in die bürgerlich-kapitalistischen Länder auf der einen und die sozialistischen und kommunistischen Gesellschaften auf der anderen Seite“.85 83 David S. Landes, geboren 1924 in New York, lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Harvard University. Seine bedeutendsten Werke reichen von „Bankers and Pashas“ (1985), das die Geschichte von Handel und Gewerbe, Finanzwesen und Imperialismus im neunzehnten Jahrhundert verknüpft, bis hin zu „Revolution in Time: Clocks and the Making of the Modern World“ (1983). Berühmt wurde er mit „Der entfesselte Prometheus“ (deutsch 1973), einer Untersuchung über den technischen Wandel und die industrielle Entwicklung in Europa seit 1750, die zum Klassiker der Industrialisierungsgeschichte wurde. 84 Landes, David S.: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, 1999, S. 7, Klappentext. 85 Ebd., S. 472.

1451

Unter den kommunistisch-sozialistischen Ländern gab es keine Gewinner, alle waren die Verlierer: „Zu den größten Verlierern in dieser Ära ständiger Wachstumsrekorde und eines bahnbrechenden technologischen Fortschritts gehörten die Länder des kommunistisch-sozialistischen Blocks: allen voran die Sowjetunion, gefolgt von Rumänien und Nordkorea und einer Reihe von Satellitenstaaten, die den Kopf aus der Schlinge zu ziehen versuchten. Am besten waren vermutlich die Tschechoslowakei und Ungarn dran; dahinter kamen die DDR und Polen. Was an diesen Kommandowirtschaften auffiel, war die Diskrepanz zwischen dem System und seinen Ambitionen auf der einen und seiner tatsächlichen Leistungskraft auf der anderen Seite. Die Theorie ließ nichts zu wünschen übrig: Die Experten würden planen, die Begeisterung alle mit sich fortreißen, die Technik die Natur bezwingen, die Arbeit frei machen – alle würden profitieren: Jeder würde geben, was er konnte, jeder bekommen, was er verdiente und brauchte. Der Traum gefiel den Kritikern und Opfern des Kapitalismus, eines zugegebenermaßen höchst unvollkommenen Systems, zu dem es jedoch, wie sich zeigte, keine Alternativen gab. Daher genossen die marxistischen Wirtschaftssysteme lange die Sympathien von halsstarrig vertrauensseligen Radikalen, Liberalen und Progressiven in den fortgeschrittenen Industrienationen. Aber sie fanden auch leidenschaftliche, fast religiöse Zustimmung bei den militanten ‚antiimperialistischen’ Machthabern aus den armen Ländern der Welt. Viele Kolonialstaaten, die heute unabhängig sind, wandten sich sozialistischen Vorbildern mit einem Hunger und einer Inbrunst zu, die jeder Realität spotten. Diese Voreingenommenheiten verbargen lange die Schwachstellen solcher Kommandowirtschaften. Obwohl die Sowjetunion Mittel für bestimmte Zwecke locker machen konnte, war ihr technischer Standard faktisch überall rückständig und ihre Leistungskraft auf ganzer Linie miserabel. Die eindrucksvollen Produktionszahlen waren von vornherein bewußt übertrieben und schon im Hinblick auf ihre Propagandafunktion, auf die Minderwertigkeit der Produkte und die nicht verkauften (unverkäuflichen) Waren mit äußerster Vorsicht zu genießen. (Abgesehen von Kaviar, Wodka und folkloristischen Souvenirs konnten russische Artikel auf dem Weltmarkt nicht bestehen.) Appartmenthäuser hängten Netze rund um ihr Areal, um Fußgänger vor herabfallenden Ziegeln oder Steinen zu schützen. Sparsame Verbraucher zahlten ein kleines Vermögen für winzige primitive Autos, um dann jahrelang auf Lieferung zu warten. Wer einen Wagen besaß, bekam keine Ersatzteile, und Autofahrer nahmen regelmäßig ihre Scheibenwischer mit, wenn sie irgendwo parkten. Elektrische Geräte unterlagen den Schwankungen des Hausstroms. Angaben über das Nationaleinkommen sparten Dienstleistungen aus – nur das Realprodukt zählte. Aber tatsächlich tat man auch gut daran, über den Dienstleistungsbereich den Mantel des Schweigens zu decken: Unannehmlichkeiten und Vorteile hielten sich die Waage. Kein Freund konnte einen guten Klempner ersetzen. Oder jemanden in der Nomenklatura, der privilegierten Elite, die eigene Läden und Clubs besaß, Zugang zu ausländischen Importwaren hatte und scheinbar erhaben über Abschaum und Schlacke thronte. Manche sehen in dieser chronischen Korruption das schmutzige Geheimnis des Systems: Die Machthaber verlängerten die Armut, indem sie Günstlinge pro-

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tegierten, Parvenüs anlockten und dem Rest der Bevölkerung den Überdruß des endlosen Schlangestehens überließen. Bei den Parvenüs weckten sie Begehrlichkeiten, während der Rest in den Schlangen vor den Läden vor sich hin dämmerte. Die kapitalistischen Wirtschaftssysteme motivierten die Arbeiterschaft durch Aussicht auf Belohnung: ‚Du zahlst dein Geld, und du kannst frei wählen’. Der Kommunismus dagegen versprach ein ‚herrliches Morgen’. Doch der Preis dafür hieß Warten, und das Morgen kam nie. Wann arbeiteten Menschen, die Schlange standen? Der Scherz ging um, sie behaupteten nur, zu arbeiten, während der Staat nur behauptete, sie zu bezahlen. Der übelste Aspekt des Systems war jedoch seine Gleichgültigkeit, mehr noch, seine Verachtung gegenüber ordentlicher Haushaltsführung und menschlichem Anstand. Daß man auf Wohlstand verzichten mußte, war schlimm genug. In einer Welt, die einst schöne Dinge geschaffen und bis jetzt bewahrt hatte, brachte das neue System mit seiner Massenproduktion nur Hässlichkeit hervor: unproportionierte Gebäude und Fenster, fleckige blätternde Fassaden, Wohnblöcke aus unverputztem Zement, funktionsuntüchtige Geräte, rostende Maschinen, herrenloses Altmetall – kurz: rasante Verwahrlosung. … Täuschungsmanöver und leere Versprechungen vertragen sich nicht mit Wahrheit und Erfahrung. Als der Traum zerplatzte und die Menschen allmählich den Unterschied zwischen den Systemen erkannten, verlor der Kommunismus seine Legitimität. Die Mauern fielen, und die Sowjetunion stürzte – nicht durch Revolution, sondern durch Selbstauflösung“.86 Peter Jay87 stellt in den Mittelpunkt seines großartigen Werkes das Streben nach Wohlstand. „Die jüngsten Ereignisse der Weltwirtschaft und die Jahrtausendwende haben dazu beigetragen, der Erforschung der Mechanismen und des Verlaufs der menschlichen Wirtschaftsgeschichte eine besondere Würze zu verleihen. Es ist die Geschichte von Aufstieg und Fall ganzer Wirtschaftssysteme und Nationen, des von häufigen Unterbrechungen und periodischen Rückschlägen gekennzeichneten Aufstiegs des Menschen als dem einzigen wirtschaftenden Wesen, das produziert, konsumiert und Reichtum anhäuft. Es ist die Geschichte vom Streben des Menschen nach Wohlstand. … Die Geschichte des menschlichen Strebens nach Wohlstand begann vor zehn- bis fünfzehntausend Jahren. Die damals lebenden Menschen – aufrecht gehende, sprechende Lebewesen mit einem großen Gehirn – bevölkerten die Erde bereits seit etwa hundert- bis hundertfünfunddreißigtausend Jahren. Der Lebensstandard einer großen Zahl von Menschen in den hoch entwickelten ‚Überflussgesellschaften’ und selbst der einer beträchtlichen Minderheit in den weniger entwickelten Ländern wäre für unsere Vorfahren der Mittelsteinzeit unvorstellbar gewesen. Er rührt zu einem großen Teil daher,

86 Ebd., S. 497-494, 501. 87 Jay, Peter, geboren 1937 in London. Seit 1990 leitender Wirtschaftsredakteur der BBC. Zuvor war er im britischen Finanzministerium (1961-1967), als Wirtschaftsredakteur der Times (1967-1977), als Botschafter in Washington (1977-1979) und in verschiedenen Medienfunktionen tätig. Das vorliegende Buch entstand im Zusammenhang mit einer mehrstündigen Fernsehdokumentation zum Thema, die Jay für die BBC realisiert hat.

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dass die Menschen in diesen entwickelten Gesellschaften das, was sie für ihren Unterhalt benötigen, sozusagen bereits am ersten Tag der Woche produziert haben, während alles andere einen Überschuss darstellt, der über das Existenzminimum hinausgeht. Mit anderen Worten, die menschliche Produktivität – die Produktion pro Person pro Woche oder pro Stunde – ist wesentlich schneller gewachsen als die Bevölkerung“. Die Aufgabe der Wirtschaftsgeschichte ist nach Jay, Wachstum zu erklären. Dabei stützt er sich auf Alfred Marshall (1842-1924),88 den Begründer der Wirtschaftsgeschichte und dessen Studie „Principles of Economics“ London 1890.89 „Am anderen Ende des intellektuellen Spektrums finden wir als Medium der Wirtschaftsgeschichte die Erzählung, das lebendige und anregende Geschichtenerzählen. Seinen höchsten Ausdruck – und vermutlich das beste, tiefschürfendste und vergnüglichste Lehrbuch über das Wesen des Wirtschaftswachstums – hat sich nicht einmal in einem wirtschaftswissenschaftlichen Buch gefunden, sondern in einer Familiengeschichte. Wilde Schwäne von Jung Chang90 erzählt die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert als Hin und Her zwischen dem unbezähmbaren Unternehmergeist, Erfindungsreichtum und Fleiß des chinesischen Volkes einerseits und unvernünftigen Angriffen auf dessen Wohlergehen und Leistungen durch degenerierte, verzweifelte und/oder in die Irre geführte kaiserliche, nationalistische und schließlich kommunistische Herrscher andererseits“.91 Die Zeit von 1910 bis 1945 bezeichnet Jay als „In der Sackgasse“.92 „Die Ereignisse in den fünfunddreißig Jahren nach 1910 müssen als einer der furchtbarsten Rückschritte in der gesamten Menschheitsgeschichte betrachtet werden. Diese Epoche umfasst die einzigen bisher geführten Weltkriege, den spanischen Bürgerkrieg, die Zwangskollektivierungen und Säuberungen unter Stalin und das schrecklichste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, den Holocaust. In dieser Epoche extremer Konflikte wuchsen die Weltbevölkerung, die weltweite Wirtschaftsproduktion und die Pro-Kopf-Produktion rapide an. … Die Verheerungen des Ersten Weltkrieges, die Bemühungen um den wirtschaftlichen

88 Guillebaud, Claude William: Alfred Marshall (1843-1924), in: HdSW, 7. Bd., 1961, S. 182184. 89 Weinberger, Otto: Marshall, Alfred (1842-1924), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 8. Bd., 1928, S. 1240: „Marshall stand den Bestrebungen zur Hebung der Lage der arbeitenden Klassen warmfühlend gegenüber, seine Neigung war auf Seite der englischen Arbeiterpartei und des Sozialismus, aber nur praktisch, nicht intellektuell, weil ihn die Schriften der Sozialisten abstießen und sich nach seiner Ansicht von den Realitäten des wirklichen Lebens weit entfernten. Kein sozialistisches Lehrgebäude trage der Aufrechterhaltung großer Unternehmungen, der Kräftigung des individuellen Charakters Rechnung, noch verspreche es ein entsprechend schnelles Anwachsen der Gütererzeugung und des Geschäftsumsatzes“. 90 Chang, Jung: Wilde Schwäne, München 1993. 91 Jay, Peter: Das Streben nach Wohlstand. Die Wirtschaftsgeschichte des Menschen, Berlin, München 2000, S. 9, 11, 13, 22 f. 92 Ebd., S. 327.

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Wiederaufbau nach 1918, die vielfältigen Gründe für deren Scheitern, das Wiedererstarken des Nationalismus und den neuerlichen Kriegsausbruch. Die gesamte Epoche war eine Sackgasse in der Wirtschaftsgeschichte, aus der die Menschheit nach 1945 einen Ausweg finden musste, um abermals einen Versuch zur Schaffung einer besseren Welt zu unternehmen. … Die nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Friedensverträge, vor allem der Versailler Vertrag (1919), schufen keine internationale Wirtschaftsordnung, die es vermocht hätte, nationale politische Ambitionen im Streben der gesamten Menschheit nach Wohlstand aufgehen zu lassen und durch freien Handel und makroökonomische Stabilität abzustützen. Stattdessen erlegte der Versailler Vertrag Deutschland unerträgliche finanzielle Lasten auf. Die Bemühungen um eine stabile internationale Geldpolitik blieben den einzelnen Nationen überlassen, die sich nur darauf einigen konnten, dass der Goldstandard möglichst zu Vorkriegskursen wieder eingeführt werden sollte. … Die Geschichte des russischen Kommunismus lässt sich unter vier Hauptüberschriften zusammenfassen: Stalins Diktatur; der wirtschaftliche Aufbau zwischen den Kriegen; der Große Vaterländische Krieg; die Ära des Kalten Krieges“. 93 Nach der Zeit in der Sackgasse (1910-1945) behandelt Peter Jay die Zeit von 1945 bis 1999 unter dem Titel „Falsche Verheißungen?“.94 „Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Westens wurde von der Einsicht getragen, dass sich die jüngste Vergangenheit niemals wiederholen dürfe. Dieser Leitgedanke und eine neue Sicht auf die erste Jahrhunderthälfte als einer Zeit, die von nationalistisch ideologisch motivierten Fehlleistungen in Politik und Wirtschaft geprägt war, bildeten die Grundlage internationaler Institutionen und nationaler Wirtschaftspolitik. … Aber dieser Konsens zerbrach schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und die Welt teilte sich in drei ideologisch und ökonomisch definierte Gruppen auf: Nordamerika, Westeuropa und Japan (die ‚freie Welt’); die Sowjetunion, Osteuropa und China (der ‚kommunistische Block’); und die Entwicklungsländer (die ‚Dritte Welt’) … Weniger als fünfzig Jahre später müssen alle drei Hauptmodelle in Frage gestellt werden. Die ‚freie Welt’ hat das hohe Beschäftigungsniveau nicht halten können. Der Kommunismus hat, bis auf wenige Ausnahmen, abgedankt. Und der Versuch, die Wirtschaftsentwicklung der ‚Dritten Welt’ durch große Kapitalzuflüsse aus dem Ausland voranzutreiben, hat seine Befürworter enttäuscht. … Im Februar 1942, nach Pearl Harbor und Hitlers Kriegserklärung an die USA, wurden diese allgemeinen Prinzipien mit dem Abkommen über gegenseitige Unterstützung, die Amerika zum kriegführenden Alliierten gemacht hatten, genauer definiert. In Artikel 7 des Abkommens wurde die Grundlage der Wirtschaftsplanung nach dem Krieg festgeschrieben. Darin wurde der Wunsch erkennbar, die Fehler von Versailles, etwa in der Frage von Reparationen und Kriegsschulden, zu vermeiden. Als gemeinsame Nachkriegsziele aller Länder, die sich ihnen anschließen wollten, wurden Wirtschaftswachstum und Freihandel genannt. 93 Jay, Peter: S. 329, 334. 94 Ebd., S. 363 ff.

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Hier müssen nicht im Detail die Verhandlungen der nächsten Jahre nachgezeichnet werden, die im Sommer 1944 zum Abkommen von Bretton Woods führten, durch das der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) ins Leben gerufen wurden. 1947 folgte in Genf der Abschluss des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT). Entscheidend für unser Thema ist, dass die Urheber dieser Vereinbarungen trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten von dem gemeinsamen Streben beseelt waren, eine Wirtschaftspolitik für die Nachkriegswelt zu erreichen, die durch die Betonung wirtschaftlicher Expansion, währungspolitischer Stabilität und liberaler Handelsprinzipien eine Wiederholung der Irrtümer und Katastrophen der Zwischenkriegszeit vermeiden sollte“.95 „Der sowjetische Kommunismus, der von Stalin und, weniger blutig, von seinen Nachfolgern praktiziert wurde, wies folgenschwere Schwächen auf, die einen langfristigen Erfolg ausschlossen. So herausragend die Bemühungen Stachanows96 und anderer auch waren, mit denen sie die sowjetische Wirtschaft besonders während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg angekurbelt hatten, die ‚vier I’ – Information, Impuls (Anreiz), Investition und Innovation – blieben unberücksichtigt, was sich letztlich als verhängnisvoll herausstellte. Aber das ließ sich zum damaligen Zeitpunkt kaum beweisen. Denn erstens handelte es sich um immanente Schwächen, die nur allmählich erkennbar wurden und leicht durch kurzfristige und einmalige Leistungen kaschiert werden konnten. Zweitens waren die meisten statistischen Angaben über die sowjetische Wirtschaft schlicht und ergreifend falsch, wenn auch das Ausmaß der Lügen erst spät erkannt wurde. Und drittens wurde die Interpretation der vorhandenen Informationen durch politisches Wunschdenken erschwert. … Doch nach und nach wurde eine bedrückendere Realität erkennbar. Trotz des kurzen Aufschwungs unter Chruschtschow, der die übelsten Exzesse von Stalins politischer und ökonomischer Tyrannei rückgängig machte, hatte die Landwirtschaft zunehmend Mühe, Menschen und Tiere mit Nahrungsmitteln zu versorgen, und die Industrie konnte mit den Entwicklungen

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Jay, Peter: S. 365 f., 370 f.

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Stachanow, Alexei Grigorjewitsch, sowjetischer Neuerer, Bergarbeiter, geb. 3.1.1906 Lugowoi (Gouvernement Orjol), Sohn eines armen Bauern; Mitglied der KPdSU (B) seit 1936. Stachanow leistete einem Aufruf der Betriebsparteiorganisation des Schachts „Zentralnaja Irmino“ im Donbass Folge und förderte am 31.8.1935 dank guter Arbeitsorganisation während einer Schicht 102 t Kohle (14 Normen); am 19.9. erreichte er sogar eine Tagesleistung von 227 t Kohle. Bald eiferten ihm viele Aktivisten nach und überboten seine Leistungen noch beträchtlich. 1936/41 besuchte Stachanow die Industrieakademie in Moskau. Seine Tat fand in der UdSSR einen breiten Widerhall und leitete die nach ihm benannte Stachanowbewegung ein. Leninorden. – Stachanowbewegung: nach A. G. Stachanow benannte Massenbewegung sowjetischer Arbeiter und Kollektivbauern zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und Senkung der Selbstkosten durch technische Verbesserungen im Produktionsprozeß und gute Arbeitsorganisation. Die Stachanowbewegung entstand 1935 als eine neue, höhere Form des sozialistischen Wettbewerbs in der Kohleindustrie des Donbass. Sie griff rasch auf alle Zweige der sowjetischen Volkswirtschaft über. In: Meyers Neues Lexikon, Bd. 13, Leipzig 1976, S. 106.

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der westlichen Marktwirtschaften nicht mehr Schritt halten. … Ende der siebziger Jahre musste sich die sowjetische Industrie auf einen langfristigen Rückgang einstellen. Nach den beiden Ölpreisanhebungen der OPEC in den siebziger Jahren konnte die Sowjetunion zwar Öl, Benzin und Gas ins Ausland verkaufen, um den Haushalt und die Zahlungsbilanz zu entlasten. Letztlich aber war die sowjetische Wirtschaft wieder genauso vom Rohstoffexport abhängig wie das zaristische Russland. Und inzwischen konnte sie nicht einmal mehr einen Getreideüberschuss für die Ausfuhr in die europäischen Nachbarländer erzielen. … Aber das grundlegende Versagen des sowjetischen Wirtschaftssystems in allen Bereichen mit Ausnahme der Militärtechnologie war für Eingeweihte nicht zu übersehen. Zu diesen gehörte als Vertreter der nächsten Führungsgeneration auch Michail Gorbatschow, der bei seinem Amtsantritt 1985 kaum noch Illusionen über die ökonomische Leistungsfähigkeit der Sowjetunion gehegt haben dürfte. Der technologische Abstand zwischen Ost und West wurde immer größer und erreichte Dimensionen, die auch durch die größten Anstrengungen des KGB in der Industriespionage nicht mehr wettgemacht werden konnten. Zum vielleicht ersten Mal in der Geschichte löste sich ein totalitäres Reich auf, ohne dass es dabei zu dem blutigen Todeskampf kam, mit dem üblicherweise bei einem solchen Ereignis zu rechnen ist. Das Verdienst daran darf zu einem großen Teil Gorbatschow für sich in Anspruch nehmen, der sich wiederholt geweigert hat, die stalinistische Option zu wählen.97 Die ‚vier I’ hängen eng miteinander zusammen. Eine gut funktionierende Marktwirtschaft erzeugt Informationen über Verbrauchervorlieben und die Kosten verschiedener Möglichkeiten der Deckung dieses Bedarfs. Sie erlaubt eine Überprüfung dieser Vorlieben und Produktionslösungen in feinsten Abstufungen, um innerhalb der Grenzen der Einkommensverteilung in der betreffenden Volkswirtschaft zu ‚optionalen’ Kombinationen zu gelangen. Diese Informationen, die sich in Preisen und Ausgaben niederschlagen, geben Impulse und sorgen dafür, dass die Mittel bereitgestellt werden, um diesen Impulsen folgen zu können. Der Dollar, den ein Verbraucher für einen Kauf ausgibt, trägt zum Gewinn des Anbieters bei und ermöglicht es ihm, die Kosten der Angebotsbereitstellung zu tragen. Diese Informationen und Impulse lenken und finanzieren die Investitionen des Anbieters, und im Lauf der Zeit führen sie zu Innovationen, die dem Wunsch der Verbraucher nach einem höheren Gegenwert für ihr Geld besser Rechnung tragen. So ist die gesamte Maschinerie einer Wirtschaft ständig dazu gezwungen, durch Millionen von Entscheidungen, die Tag für Tag von Millionen Menschen getroffen werden, auf die Wünsche des souveränen Verbrauchers einzugehen. Der Widerstand, der den sowjetischen Kommunismus letztlich zu Fall brachte – oder ihn zumindest in eine Krise stürzte, die ein Mann wie Michail Gorbatschow nicht mit den Methoden seiner Vorgänger unterdrücken wollte –, begann in den osteuropäischen Satellitenstaaten, wo man den zunehmenden Kontrast zwischen der eigenen Lebensweise und jener der westlichen Nachbarn hautnah erleb-

97 Gorbatschow, Michail: Erinnerungen, Berlin 1995.

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te. Einige von ihnen hatten in jüngerer Zeit Erfahrungen mit demokratischen und pluralistischen Institutionen sammeln können, und alle machten die sowjetische Unterdrückung für ihre Rückständigkeit verantwortlich. Als Gorbatschow verkündete, dass er auf den Einsatz von Panzern verzichten werde, brach sich der Drang nach Freiheit Bahn, und in erstaunlich kurzer Zeit löste sich das gesamte Gefüge der Kommandowirtschaft in Luft auf, lange bevor man darüber nachdenken konnte, was an seine Stelle treten sollte. In der Sprache der Institutionen der alten Ersten Welt wurden die Ostblockstaaten zu ‚Übergangsländern’, die einen möglichst raschen Anschluss an den Westen anstrebten. Damit mündete ihre Entwicklung im letzten Jahrzehnt des Jahrtausends in die wirtschaftliche Globalisierung“.98 99 3. Evolution versus Konstruktivismus „Allen Kommunismustheorien gemeinsam ist, daß sie – meist sogar schwärmerisch – bloße Reißbrettentwürfe sind, die auf die Wirklichkeit, insbesondere die Natur des Menschen, seine Anlagen, Bedürfnisse und Neigungen, kaum Rücksicht nehmen. Daher sind bisher alle Versuche gescheitert, die Theorien in die Tat umzusetzen“.100 Ein Reißbrett dient als Unterlage zum Anfertigen technischer und geometrischer Zeichnungen. Ein Konstrukteur (Ingenieur, Techniker), der technische Objekte konstruiert, benutzte früher das Reißbrett. Die Ökonomen sprechen jedoch nicht von „Reißbrettentwürfen“, sondern von Konstruktivismus. „Der Begriff ‚Konstruktivismus’ entstand in der KapitalismusSozialismus-Debatte der letzten beiden Jahrhunderte. In dieser erhoben die Vertreter liberaler Positionen gegen die gesellschaftsplanerischen Vorschläge vor allem sozialistischer Autoren den Einwand, dass Gesellschaften weder als Ganzes noch in wichtigen Teilen planbar seien. Als gesellschaftspolitisches Leitbild zeichnen sich die als konstruktivistisch bezeichneten Richtungen durch großes Vertrauen in staatliches Handeln aus, so bei der Bereitstellung wichtiger Güter und Dienstleistungen oder bei der Bewältigung komplexer sozialer Probleme. Wesentliche Instrumente ‚des Staates der Daseinsfürsorge’ sind die bürokratische Anordnung, die staatliche Planung, die Ausübung von Zwang zwecks Durchsetzung der von der Politik vorgegebenen Ziele und die Befürwortung kollektivistischer Lösungen. Gegen diese planende Vernunft wird seitens der Konstruktivismuskritiker ins Feld geführt, (1) dass die menschlichen Verstandeskräfte begrenzt wären und daher sozialplanerischen Bestrebungen enge Grenzen setzten, (2) dass wichtige gesellschaftliche Institutionen nicht bewusst geschaffen wurden, sondern ungeplant

98 Jay, Peter: S. 385-389, 393 f. 99 Ende Beitrag Landes, David / Jay, Peter. 100 Löw, Konrad: Kommunismus, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1995, Sp. 602.

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durch menschliche Interaktion entstanden seien und sich auch nicht mit planerischen Mitteln weiterentwickeln ließen, und (3) dass Versuche zur Umsetzung gesamtgesellschaftlicher Planungen nicht nur ihr propagiertes Ziel, die Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards, verfehlten, sondern über zunehmende Einschränkungen der individuellen Freiheit oft genug auch bis zur Diktatur führten. Die Kritiker treten anders als die konstruktivistischen Denkrichtungen für Wettbewerb statt Planung, für Dezentralisierung statt Zentralisierung und für freiwillige Koordination statt zentrale Lenkung ein“.101 Zu den älteren Konstruktivismuskritikern gehören David Hume (1711-1776) und Adam Smith (1723-1790). Hume stellte fest: „Die Regeln der Moral sind nicht Ergebnisse unserer Vernunft“.102 Er zeigt, daß die Grundprinzipien der Moral und des Rechts „als das Resultat naturwüchsiger Prozesse der Vergesellschaftung des Menschen zu begreifen sind: Sobald ein Gesellschaftsverband (Familie) fähig wird zur Einsicht in die Vorteile gesellschaftlichen Lebens (Arbeitsteilung etc.), das Bewußtsein eines gemeinsamen Interesses an Kooperation ausgebildet und dieses Interesse – begleitet von einem entsprechenden Verhalten der Akteure – wechselseitig kundgetan wird, entstehen die Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Eigentum, Recht und Verpflichtung. Dieses allgemeine Bewußtsein eines gemeinsamen Interesses (general sense of common interest) nennt Hume Konvention (convention); sie beruht nicht – im Unterschied zu Vertrag und Versprechen – auf expliziter Übereinkunft“.103 Adam Smith (1723-1790) verstand unter dem „Einfluß anderer Moralphilosophen seines Jahrhunderts, wie Shaftesbury, Hutcheson und Hume, das Eigeninteresse als einen legitimen Antrieb“.104 Damit wurde er Hauptbegründer des „Ansatzes der ökonomischen Erklärung menschlichen Verhaltens. … Das Eigeninteresse dominiert bei Smith alle anderen Motive“.105 Zu den neueren Konstruktivismuskritikern gehören liberale Ökonomen wie F. A. von Hayek (1899-1992), sowie die kontinentalen Neoliberalen und die zeitgenössischen angelsächsischen klassischen Liberalen. „Hayeks umfassendes Werk ist aus der Auseinandersetzung mit der ‚konstruktivistischen’ Plan- oder Zwangswirtschaft der totalitären Systeme erwachsen. Er wies nach, dass der ‚Sozialismus’ nicht nur wegen der Unmöglichkeit der betrieblichen Kalkulation ohne Knappheitspreise, wie dies sein Lehrer Ludwig von

101 Watrin, Christian: Konstruktivismus, in: Hasse, Rolf H. / Schneider, Hermann / Weigelt, Klaus (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft, 2. Aufl., 2005, S. 300 f. 102 Hayek, F. A. von: Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen 1996, S. 69. 103 Schrader, Wolfgang H.: Hume (1711-1776), in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 3. Bd., 7. Aufl., 1995, Sp. 18. Kruse, Alfred: David Hume (1711-1776), in: HdSW, 5. Bd., 1956, S. 160-162. 104 Mann, Fritz Karl: Adam Smith (1723-1790), in: HdSW, 9. Bd., 1956, S. 291. 105 Becker, Gary S.: Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens, 2. Aufl., Tübingen 1993, S. 12, 318.

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Mises entdeckt hatte, sondern auch aus informationstheoretischen Gründen scheitern muss. Es sei eine ‚Anmaßung von Wissen’, das lokal und persönlich weit zerstreute, sich ständig wandelnde, historisch durch vielerlei Erfahrung gewachsene Wissen zentral erfassen zu wollen. Hayek baute so die Theorie der ‚spontanen Ordnung’ aus, im Anschluss vor allem an die schottischen Ordnungstheoretiker des 18. Jahrhunderts (Ferguson, Smith, Hume). Er zeigte eindrucksvoll, dass eine spontane, komplexe Ordnung zwar Ergebnis menschlichen Handelns aber nicht rationalen Entwurfes ist. Markt, Moral, Recht, Sprache hat kein Einzelner ‚erfunden’, sondern diese Institutionen haben sich in einem historischen Verfahren von Versuch und Irrtum entwickelt, in dem nur diejenigen Gruppen erfolgreich waren, welche namentlich das Eigentum und die entsprechenden moralischen Regeln ‚entdeckten’. Im Besonderen bekannt wurde Hayek durch seinen wettbewerbstheoretischen Beitrag: Der Wettbewerb ist ‚ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen, die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden’.“ 106 „Die neuere Konstruktivismuskritik hingegen schlägt einen anderen Weg ein. Sie bedient sich erkenntnistheoretischer und fachwissenschaftlicher Einwände. Ihr Anliegen ist es vor allem, die Grenzen politischen Handelns in einer freien Gesellschaft deutlich zu machen. Die liberale Kritik am Konstruktivismus basiert auf der Sentenz ‚Wollen impliziert Können’. Gesellschaftliche Ziele können dann nicht erreicht werden, wenn ihnen unrealistische Annahmen über menschliches Verhalten zugrunde liegen. Der sozialingenieurhaften Sicht sozialer Beziehungen wird seitens der Konstruktivismuskritiker das evolutionäre Verständnis sozialer Prozesse entgegengesetzt. Danach gehen die wichtigsten Institutionen menschlichen Zusammenlebens, so die Sprache, das Recht, die Kunst, die Wissenschaft, die Moral, die Sitten, die Arbeitsteilung oder die Märkte, nicht aus gezielten menschlichen Planungen hervor, sondern sie entstehen unbeabsichtigt und ungeplant infolge menschlicher Interaktionen“.107 Douglass C. North hat die Theorie des institutionellen Wandels in der langen Evolution wissenschaftlich herausgearbeitet. Er faßt das wissenschaftliche Lebenswerk von Friedrich A. von Hayek so zusammen: „In der Forschung von Ökonomen ist der Versuch, den Prozeß des wirtschaftlichen Wandels zu verstehen, das am meisten vernachlässigte Gebiet. Ökonomische Theorie ist statisch; indes führt in der Welt dynamischen Wandels, in der wir leben, ein statisches Theoriekonzept andauernd zu falschen Rezepten für die Politik. Infolgedessen ist der Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung verhängnisvoll 106 Habermann, Gerd: Hayek, Friedrich August von (1899-1992), in: Hasse, Rolf H. et al. (Hrsg.): Lexikon Soziale Marktwirtschaft, S. 39 f. 107 Watrin, Christian: Konstruktivismus, S. 302 f. North, Douglass C.: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte. S. 76 ff.: Die Erste wirtschaftliche Revolution, Tübingen 1988: Die Marktwirtschaft war seit der Neolithischen Revolution, die den Menschen vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter werden ließ, das dominierende ordnungspolitische Konzept allen Wirtschaftens.

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verkümmert; und nicht einmal in den entwickelten Volkswirtschaften wird recht verstanden, wohin die Entwicklung geht. Das jüngste Interesse an evolutorischer Ökonomik ist freilich eine ermutigende Entwicklung.108 In der menschlichen Evolution ist im Unterschied zur Darwinschen Evolution die Intentionalität der Spieler das entscheidende Merkmal. Doch welche Absichten hegen die Spieler und wie führen diese Absichten in ihrer Gesamtheit zu Wandel? Diese Frage war für Friedrich Hayek, den Pionier auf dem Weg zum Verständnis des Prozesses wirtschaftlichen Wandels, ein zentrales Anliegen.109 Zu Beginn möchte ich seine Position kurz skizzieren. Kollektives Lernen als der wesentliche Bestandteil der Hayekschen Theorie der kulturellen Evolution besteht aus dem generationenübergreifenden Ansammeln von Wissen, Werkzeugen, Haltungen, Werten und Institutionen, die sich durch selektive Ausmerzung weniger geeigneter Verhaltensformen herausgebildet haben. Sie haben dem langsamen Test der Zeit in einem evolutorischen Prozeß von Versuch und Irrtum standgehalten. Die Kultur einer Gesellschaft verkörpert infolge dieses Evolutionsprozesses die herausgefilterte Erfahrung der Vergangenheit, eine Erfahrung, die das Wissen, das jemand eigenständig im Laufe eines einzigen Lebens hätte ansammeln können, bei weitem übersteigt. Wenn wir dieses Argument mit Adam Smiths grundlegender Einsicht verbinden, daß die Arbeitsteilung nicht nur ein Weg zur effektiveren Nutzung unserer Fähigkeiten war, sondern mehr noch, die Hauptquelle für die Zunahme unserer Produktivität ist, dann ist das Anwachsen des von einer Kultur verkörperten Wissensbestandes eng mit der Zunahme von Spezialisierung und Arbeitsteilung verknüpft. Weil aber die Arbeitsteilung eine Teilung des Wissens mit sich bringt und verschiedene Arten von Wissen auf verschiedene Weise organisiert werden, erfordert die Koordination des Wissens, um wirksam zur Lösung menschlicher Probleme beitragen zu können, mehr als ein Preissystem. Zunehmende Komplexität von Wirtschaftssystemen impliziert, daß die institutionelle Struktur eine entscheidende Rolle im Hinblick darauf spielt, inwieweit unterschiedliches Wissen integriert und zur Problemlösung bereitgestellt wird. Das Wissensproblem, um mit Hayek zu sprechen, ist das Problem, eine Methode zu finden, die das unter den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft verstreute Wissen nicht nur am besten nutzt, sondern auch deren Fähigkeit zur Entdeckung neuer Tatsachen am besten nutzbar macht.110

108 Für einen Überblick über die Literatur siehe Witt, Ulrich: Explaining Process and Change: Approaches to Evolutionary Theory, 1992. 109 Einen ausgezeichneten Überblick über Hayeks evolutorische Ansichten gibt Vanberg, Viktor: „Cultural Evolution. Collective Learning, and Constitutional Design, in: Reisman, David, ed.: Economic Thought and Political Theory, Boston, 1994, dt. Ausgabe: Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1994, S. 144. 110 Hayek, F. A. von: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, Die Verfassung einer Gesell-

schaft freier Menschen, Landsberg am Lech 1981, S. 247, Anm. 7.

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Hayeks wegweisender Beitrag lag darin, daß er den gesamten Prozeß menschlichen Wandels in Zusammenhang mit der kulturellen Evolution brachte – einem Evolutionskonzept, das Adam Smiths Einsichten ergänzt – und, mehr noch, daß er die grundlegende Rolle erkannte, die den menschlichen Vorstellungsmustern in diesem Prozeß zukommt“.111 Die „Evolution der Marktwirtschaft seit dem Mittelalter“ zeigt die einzelnen Phasen in der Evolution. Mit der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft in der DDR und den anderen sozialistischen Ländern wurde die wirtschaftliche Evolution verlassen und damit war der Zusammenbruch des realen Sozialismus determiniert.

111 North, Douglass C.: Hayeks Beitrag zum Verständnis des Prozesses wirtschaftlichen Wan-

dels, in: Vanberg, Viktor (Hrsg.), Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung. Hommage zum 100. Geburtstag von Friedrich A. von Hayek, 1999, S. 587 f.

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4. Markt und Geld: Nur der Gewinn gibt Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln. Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft ist orientierungslos 4.1. Eine Basisinnovation: Die Erfindung des Münzgeldes um 550 v. Chr. „Rein technisch angesehen ist Geld das ‚vollkommenste‘ wirtschaftliche Rechnungsmittel, das heißt: das formal rationalste Mittel der Orientierung wirtschaftlichen Handelns“. (Max Weber). Max Weber eröffnete die ‚Vorbemerkung‘ zur Studie ‚Die protestantische Ethik‘ mit der Bemerkung: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gerne vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“112 Unter „Verkettung von Umständen“ wird hier eine Abfolge von Innovationen verstanden, die in Westeuropa entstanden und dann „universelle Bedeutung und Gültigkeit“ erlangten. In der langen Evolution waren Innovationen im Bereich der Wirtschaft von elementarer Bedeutung. Hier wird der Basisinnovation Geld, den Innovationen bei der kaufmännischen Rechnungslegung, der Kalkulation und den institutionellen Innovationen in der langen Evolution von der Antike bis 1945 nachgegangen. Dabei soll insbesondere der Übergang von der kaufmännischen zur industriellen Rechnungslegung analysiert werden. In Lydien und damit in nächster Nähe der kleinasiatischen Griechen war um 550 v. Chr. die Basisinnovation des gemünzten Geldes gemacht worden.113 Sie ersetzte die schwerfällige Zumessung des Edelmetalls als reine Ware, mit der sich bisher der Verkehr, selbst im hochentwickelten Orient, behelfen mußte, durch ein leicht zu handhabendes Instrument: die symbolhafte, durch Zeichen herbeigeführte Abkürzung umständlichen Zählens und Wiegens. Althistoriker sprechen von einer „ingeniösen Schöpfung“, von einer „wichtigen Wirtschaftsrevolution“. Die Basisinnovation der Prägung von Gold- und Silbermünzen, insbesondere von König Krösus von Lydien, führte von 550 bis 480 v. Chr. zu einer „atemberaubenden Wirtschaftsentwicklung“.114 112 Weber, Max: Vorbemerkung, in: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, hrsg. von Max Weber, 9. Aufl., Tübingen 1920, S. 188. 113 Seaford, Richard: Money and the Early Greek Mind. Homer, Philosophy, Tragedy, Cambridge 2004, S. 88 ff. Greek money, S. 125 ff. The earliest coinage. 114 Heuss, Alfred: Herrschaft und Freiheit im Griechisch-römischen Altertum, in: Mann, Golo / Heuß, Alfred / Graf Lynar, Ernst Wilhelm (Hrsg.): Summa Historica. Die Grundzüge der welthistorischen Epochen, Frankfurt a. M., Berlin 1965, S. 132. Reden, Sitta von: Money in Classical Antiquity, Cambridge 2010.

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Evolutionsphasen seit der Basisinnovation Geld um 550 v. Chr. Expansion der Geld- und Marktwirtschaft mit Gewinnrechnung

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4.2. Markt und Geld in der langen Evolution: Nur der Gewinn gibt Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln „The monetization of the marketplace appears to have been immediate (a matter of decades at the most) and total. Nowhere in the historical record after coins have been invented do we find local markets being run by barter. Everything sold in the marketplace was sold for a price, and the price was expressed and expected in coins. As we have seen in his story of Rhodopis, Herodotus was unaware that iron spits had ever been used as a medium of exchange. By the mid-fifth century and probably well before that, market trade implied coins”.115 „Zum ersten Male in der Geschichte der Alten Welt war der kleine Marktverkehr nicht mehr dem umständlichen und zeitraubenden Tauschhandel überlassen, sondern geldwirtschaftlich erfaßbar. Der Fernhändler konnte jetzt unter den neuen Verhältnissen seine Produkte zum ersten Male im Kleinabsatz gegen Kleinsilber schnell umsetzen, der Handwerker für die Kleinkonsumenten der lokalen Märkte direkt arbeiten, der Bauer kleine und kleinste Ernte- und Wirtschaftsüberschüsse im Nahhandel ohne schwierige Zeitverluste verkaufen und für die Zeiten von Mißernten Ersparnisse in Kleinsilber zurücklegen“.116 Mit der Erfindung des hellenischen Münzgeldes begann die Zeit des Metallismus, d. h. insbesondere der Edelmetalle Gold und Silber, die selbst Ware waren. Geld ist der Maßstab des Wertes und der Preise.117 Besonders wichtig war die Funktion des Geldes als interlokaler Wertträger.118 Seit der Erfindung der Basisinnovation Geld war das Handeln im Wirtschaftsbereich gewinnorientiert. Der Gewinn war die oberste Leitmaxime und die elementare Motivation, um im Handel und in der übrigen Wirtschaft tätig zu werden. Mit der Erfindung des Geldes war eine Wirtschaftsrechnung möglich, d. h. bei jedem Tauschakt wurden Kosten und Erlöse gegenübergestellt und so konnte festgestellt werden, ob mit Gewinn oder Verlust gehandelt worden war. Die Ermittlung von Gewinn und Verlust war immer die Steuerung, der Kompaß beim wirtschaftlichen Handeln.119 Mit der Gewinnermittlung legte der Kaufmann Rechenschaft seines Handelns ab.

115 Schaps, David M.: The Intention of Coinage and the Modernization of Ancient Greece, Ann Arbor 2004, S. 111. 116 Heichelheim, Fritz Moritz: Geld- und Münzgeschichte (I), in: HdSW, 4. Bd., 1965, S. 277. 117 Mises, Ludwig: Theorie des Geldes und der Umlaufmittel, 2. Aufl., München, Leipzig 1924, S. 1 ff. 118 Knies, Karl Gustav Adolf: Geld und Kredit I: Das Geld, 2. Aufl., München, Leipzig 1924, S. 233 ff. Brinkmann, Carl: Karl Gustav Adolf Knies (1821-1898), in: HdSW, 6. Bd., 1959, S. 27 f. 119 Langen, Heinz: Gewinn und Verlust, in: Grochla, Erwin / Wittmann, Waldemar (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1984, Sp. 1666 ff.

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„Unter Gewinnmaximierung verstehen wir die Maximierung der Differenz zweier Geldbeträge in zwei verschiedenen Zeitpunkten“.120 Zu allererst mußte z. B. ein Fernhandelskaufmann in der Antike und auch später die Kosten feststellen, die vom Kauf einer Ware in der Ferne bis zum lokalen Verkauf angefallen waren, wenn er mit Gewinn verkaufen wollte. Die Konversion von fremden Münzen, Maßen und Gewichten in einheimische Münzen, Maße, Gewichte und die Transportkosten gehörten zur Kalkulation des Fernkaufmanns. Wenn er eine Ware verkaufen wollte, mußte er Informationen über die Kosten haben.121 Neue Produkte brachten dem Fernhändler Pioniergewinne. Seit der Antike reiste der Fernhandelskaufmann mit seinen Waren und mußte auch Geld für den Wareneinkauf mit sich führen. „Als der Kaufmann um 1300 seßhaft wurde und Import und Export dazu tendierten, mit verschiedenen Geschäftspartnern durchgeführt zu werden, wurde ein neues Instrument geschaffen: der Wechselbrief, der es ermöglichte, Kaufkraft von einem Platz zum anderen ohne Bargeldversendung zu transportieren“.122 Lopez bezeichnete diese Vorgänge als „kommerzielle Revolution des Mittelalters (950-1350)“.123 Mit der Seßhaftwerdung mußte der Fernhandelskaufmann Lesen, Schreiben und Rechnen erlernen.124 Mit der Basisinnovation des Münzgeldes begann die erste grundlegende Änderung des Zahlungsverkehrs. Diese „vor-bargeldlose Zeit“ dauerte bis zur Erfindung des Wechsels. „Der Wechsel war eine italienische Erfindung und entwickelte sich aus den Finanzierungsinstrumenten des Messehandels (Wechselmessen) im 12. und 13. Jh., den lettres de foires und dem instrumentum ex causa cambii. Während diese eine Zahlungsverpflichtung oder ein Zahlungsversprechen darstellten, war

120 Engels, Wolfram: Betriebswirtschaftliche Bewertungslehre im Licht der Entscheidungstheorie, Köln, Opladen 1962, S. 60, 57 ff. Das Gewinnmaximierungsprinzip. Moxter, A.: Methodische Grundfragen der Betriebswirtschaftslehre, Köln, Opladen 1957, S. 60 ff. Wöhe, G.: Methodologische Grundprobleme der Betriebswirtschaftslehre, Meisenheim am Glau 1959, S. 187 ff. Schreiber, R.: Erkenntnis wertbetriebswirtschaftlicher Theorien, Wiesbaden 1960, S. 86 ff. Vom psychologischen Standpunkt Katona, G.: Psychological Analysis of Economic Behaviour, New York 1951, S. 192 ff. 121 Ruffing, Kai: Wirtschaft in der griechisch-römischen Antike, Darmstadt 2012, S. 114: Der 125 n. Chr. geborene Schriftsteller Apuleius von Madaura lässt in seinem Roman „Metamorphosen“ einen Händler auftreten. Hier wird aufgezeigt, wie der Händler Aristomenes aus Ägion gewinnorientiert denkt und handelt. 122 Denzel, Markus A.: La Practica della Cambiatura“. Europäischer Zahlungsverkehr vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, Stuttgart 1994. 123 Lopez, R. S.: The Commercial Revolution of the Middle Ages, 950-1350, Eaglewood Cliffs (N. Y.) 1971. 124 Wendehorst, Alfred: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? In: Schulen und Studien im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von Fried, Joh., Sigmaringen 1986, S. 9-33.

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der Wechsel ein Zahlungsauftrag, mit dem der Aussteller des Wechsels einen Vertreter in einer anderen Stadt aufforderte, an seiner Stelle zu zahlen“.125 „In der Neuzeit entwickelte sich der Wechsel zum wichtigsten Finanzierungsinstrument der europäischen Wirtschaft, indem er die für das Wachstum der Wirtschaft notwendige internationale Liquidität, d. h. genügend flüssige Mittel zum Ausgleich der Zahlungsverpflichtungen schuf. Ermöglicht wurde die europaweite Zirkulation des Wechsels im Kreise von Bankiers und Kaufleuten durch das Indossament und den Diskont“.126 Bis zur Entdeckung Amerikas 1492 und des Seeweges nach Indien war der Handel auf das Mittelmeer konzentriert.127 Das römische, germanische und das islamische Recht hatte die Übertragbarkeit von Kreditinstrumenten wie den Wechsel nicht gekannt.128 „Im Bereich des gesamten Abendlandes ist die Tendenz zu einer immer weiter fortschreitenden Ausbreitung des italienischen Zahlungsverkehrssystems festzustellen (Oberdeutschland, Westküste der Iberischen Halbinsel)“.129 Das Indossament130 erleichterte die Übertragbarkeit des Wechsels. Durch den Diskont wird der Verkäufer des Wechsels vorzeitig liquide.131 Das „System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs“ begann „auf der Grundlage des Wechsels vom Mittelalter an in ihrer Ausbreitung vom ursprünglichen Kernraum Europa letztlich über die gesamte ökonomisch relevante Welt – ein Prozeß, der vor dem Ersten Weltkrieg seinen ersten Höhepunkt und Abschluß gefunden hatte. Dieses System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, das cum grano salis die Grundlage für das Zahlungsverkehrssystem der Gegenwart darstellt, hatte seinen Ursprung im Europa der Kommerziellen Revolution (950-1350). Europa war und blieb bis 1914 sein Kernraum, und es war das Zahlungsverkehrssystem, das die Europäer im Gefolge der Europäischen Expansion in den großen Handelszentren auch der außereuropäischen Welt heimisch machten. Es ist somit europäisch geprägt und konkurrierte mit anderen Systemen bargeldlosen Zahlungsausgleichs etwa in Indien, in China oder in den islamischen Ländern, die sich gegenüber dem zunehmend enger vernetzten europäischen System in seiner ‚globalen‘ Ausdehnung gleichwohl nicht zu behaupten vermochten“.132

125 Munro, John H.: Wechsel, in: North, Michael (Hrsg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches

Lexikon des Geldes, München 1995, S. 413. 126 Denzel, Markus A. / Schwarzer, Oskar: Wechsel, in: Ebd., S. 416.

127 Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Frankfurt/Main 1990. 128 Denzel; Markus A.: La Practica, S. 486 f. 129 Ebd., S. 490 130 Denzel, Markus A.: Indossament, in: North, Michael (Hrsg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, S. 165 f.. 131 Munro, John H.: Diskont, in: North, Michael (Hrsg.), a.a.O., S. 85-87 132 Denzel, Markus A.: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914, Stuttgart 2008, S. 5 f. Zum Russischen Reich, S. 399 f. Chaudhuri,

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Die christliche Lehre der westlichen Kirche des späten 11. und 12. Jahrhunderts band Geld, Gewinnstreben und Reichtum in die christlichen Grundsätze ein. Die westliche Kirche „glaubte an die Möglichkeit, eine kommerzielle Betätigung mit einem Christlichen Leben zu vereinbaren, so gut wie sie an die Möglichkeit glaubte, eine landwirtschaftliche Tätigkeit damit zu vereinbaren. Ihre moralische Einstellung gegenüber reichen Kaufleuten unterschied sich nicht wesentlich von der gegenüber reichen Grundbesitzern. […] Die Kaufleute sollten Gilden mit religiösen Funktionen bilden, die auf die moralischen Maßstäbe bei Handelsgeschäften achteten“.133 Die Vereinbarkeit von Gewinnstreben als oberste Leitmaxime mit christlichen Moralvorstellungen wird bei dem Florentiner Fernkaufmann Francesco Balducci Pegolotti (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts) deutlich.134 Zu Beginn seines Werkes „La practica della mercatura“ nimmt er dazu Stellung.135 Das, was der wahre und aufrechte Kaufmann an Eigenschaften136 in sich haben muß: „Immer Geradlinigkeit zu gebrauchen, geziemt sich für ihn, lange Voraussicht kommt ihm zupaß und das, was er verspricht, soll er auch halten und er sei, wenn er kann, von schönem und ehrenhaften Benehmen gemäß dem, was Beruf oder Rechnung137 erfordern. Sparsam138 beim Kauf und reichlich beim Verkauf. Untadelig mit schöner Andacht Besuche er die Kirche und schenke für Gott So wächst er an Ansehen; er verkaufe nur mit einem Angebot.139 Wucher und Würfelspiel verbieten Und völlig wegnehmen. Das Rechnungsbuch140 gut schreiben und nicht irren. Amen“. Sushil / Denzel Markus A. (Ed.): Cashless Payments and transactions from the Antiquity to 1914, Stuttgart 2008. 133 Berman, Harold J.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. M. 1991, S. 534. 134 Denzel, Markus A.: La Practica, S. 113 ff. 135 Dotson, John: Fourteenth Century Merchant Manuals and Merchant Culture, in: Denzel, Markus A. /Hocquet, Jean Claude / Witthöft, Harald (Hrsg.): Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, S. 86 f. 136 Eigenschaften steht nicht direkt im Text, verdeutlicht aber dem Leser, worum es geht. 137 Ragione könnte auch Vernunft bedeuten, ich zweifle aber, daß Pegolotti hier verschiedene Bedeutungen benutzt. 138 Scarso kann allerdings auch teuer oder wertvoll bedeuten, was bei seltenen Objekten ja verständlich wäre. 139 Motto als Spruch, Wort muß hier wohl diese Bedeutung haben im Sinne: ein eindeutiger Preis, der genannt wird. 140 Ragione vom lateinischen ratio, kann auch das Heft bedeuten, auf dem die Abrechnung geführt wird. Die Übersetzung aus dem Original unternahm Kollege Horst Enzensberger von der Universität Bamberg.

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Auch später wurde das Gewinnstreben in die christlichen Moralvorstellungen eingebunden, Gewinnsucht und Gewinn: „Gewinnsucht ist die unmäßige, unordentliche Begierde, nach Gewinn, sowohl im Handel und Wandel, als auch im Spielen. Die mäßige und ordentliche Begierde nach Gewinn im Handel und Wandel, ist gar nicht sträflich; und vielleicht ist kein einziger Mensch ganz davon befreyt. Es gibt Begierde zu gewinnen, die erlaubt, nöthig und sogar lobenswürdig ist. Wer bey ordentlicher Abwartung seines Berufes, unter dem Einfluß des göttlichen Segens nach Reichthum trachtet, um sich und die Seinigen zu versorgen, seinen Mitbürgern damit zu dienen, und auch Andern Nahrung zu verschaffen, macht sich dadurch nicht verwerflich. Wer bey der Handlung, als dem nächsten Wege reich zu werden, Eifer, Fleiß und Geschicklichkeit vereiniget, um sich in einen glücklichen Zustand zu setzen, und auf eine ehrliche und anständige Weise Schätze zu gewinnen suchet, um desto mehr Wohlthaten auszustreuen, ohne ein Sclave seines Reichthums zu seyn, und sich von diesem beherrschen zu lassen, handelt nicht wider die Religion und Redlichkeit, sondern vielmehr dem Triebe gemäß, den der Schöpfer in die menschliche Natur gelegt hat, sich zu versorgen, seinen Zustand nach aller Absicht zu verbessern, die Früchte seiner beschwerlichen Bemühungen zu genießen, und auch Andern, mit welchen er in einigem Verhältniß steht, wohlzuthun. Alle Dinge haben ihre Schranken, welche, ohne die Billigkeit aufzuheben, nicht überschritten werden können. Eine gemäßigte Begierde durch die Handlung zu gewinnen, kann mit der Vernunft und Tugend bestehen, und ist nicht zu tadeln; aber wohl der Mißbrauch derselben durch Anwendung unerlaubter Mittel. Nur dieser führt in Versuchung und Netze, die von allen Seiten gefährlich sind. Der Handel kann mit der vollkommensten Redlichkeit bestehen; und es ist nichts ungegründeter, als wenn man so allgemein urtheilt, daß niemals jemand reich geworden sey, ohne betrogen zu haben. Bey vielen Leuten heißen Klugheit und Verstand so viel, als betrügliche Künste. Solon,141 der Gesetzgeber von Athen, pflegte zu sagen: daß, um reich und glücklich zu werden, nöthig sey, daß man wohl sehen und hören könne. Nun sahe er vorher, daß die Oehlbäume im folgenden Jahre wenig tragen würden, da ihre Früchte damahls sehr wohlfeil waren. Er kaufte daher diese auf, so viel er nur bekommen konnte. Seine Vermuthungen trafen ein, und es war den Atheniensern, wegen des darauf folgenden unfruchtbaren Jahres, kein geringer Dienst, wodurch er sich zugleich den ansehnlichsten Gewinst verschaffte“.142 Zu den Basisinnovationen gehört die doppelte Buchführung (ital. Partita doppia). Sie zeichnet sich „dadurch aus, daß alle externen Transaktionen ebenso wie alle internen Bestandsveränderungen (z. B. die Wertminderung von Kapitalgütern) auf zwei verschiedenen Konten eines Hauptbuchs, einem Konto auf der SollSeite (links) und einem auf der Haben-Seite (rechts) verbucht werden. Beide Einträge registrieren den gleichen Betrag, weisen ihn aber mit unterschiedlichen Vor141 Solon, ca. 640-560 v. Chr., athenischer Gesetzgeber, Politiker und Dichter. 142 Krünitz, Johann Georg: Oeconomische Encyclopädie, 18. Theil, Brünn 1788, S. 179.

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zeichen (Soll und Haben) aus. Die Konten im Hauptbuch ermöglichen die Aufstellung einer Gewinn- und Verlustrechnung und die Erstellung einer Bilanz. Die ältesten überlieferten Rechnungsbücher, die nach den Grundsätzen der doppelten Buchführung geführt wurden, stammen von Florentiner Kaufleuten aus der Zeit um 1300“.143 Als Innovation kann auch die Übernahme des indischen Zahlensystems angesehen werden. „Etwa zwischen 200 und 600 n. Chr. wurde in Indien das dezimale Stellenwert- oder Positionssystem geschaffen, das als wichtigste Ziffer die Null zur Bezeichnung der Leerstelle verlangte. Die Araber brachten das Zehnersystem im 12. Jahrhundert ins Abendland, wo es nach und nach das weitschweifige römische Ziffernsystem ohne Null und Stellenwert, das für maschinelles Rechnen gänzlich ungeeignet war, nach und nach verdrängte“.144 Der Pisaner Fibonacci lernte das indische Zahlensystem bei seinem Aufenthalt in Bugia (Tunesien) kennen und verfaßte darüber ein Buch. „Leonardo Fibonacci „nannte das Buch Liber abaci oder Buch der Kalkulation. Dessen Zielsetzung war, das hinduistische Platzwertsystem in Europa einzuführen und den Gebrauch der neuen Ziffern zu erklären. Er schrieb es nicht nur für elitäre Gelehrte, sondern auch für Leute, die im Handel tätig waren. Im Einleitungssatz des Liber abaci (1228) schrieb Fibonacci „Die neun indischen Figuren sind: 9876554321. Mit diesen Figuren und mit dem Zeichen 0 […] kann jede Zahl geschrieben werden, wie wir nachstehend demonstrieren werden“.145 Mit der Entdeckung Amerikas (1492) und des Seeweges nach Indien (1497) wurden diese Gebiete in den westeuropäischen Handel einbezogen. Mit dem in Mexiko und Peru (Potosí) geförderten Silber wurden die Waren aus China (Tee, Porzellan) bezahlt. Die Kaufkraft des Silbers in China war zunächst höher. Mit der industriellen Revolution in England wurden z. B. Textilien erstmals kostengünstiger als in China produziert. Aus ökonomischer Sicht sind hier die Anfänge der Globalisierung zu finden.146 Silber (=Geld) war die Basis für die interkontinentale Handelsvernetzung. Indien und China waren über den Karawanenhandel schon seit der Antike an die Mittelmeerwirtschaft angeschlossen. 143 Yamey, Basil S.: Doppelte Buchführung, in: North, Michael (Hrsg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, S. 89 f. 144 Mackensen, Ludolf von: Sie ließen Maschinen rechnen. Zählwerke, Planetenautomaten und Computer, in: Pörtner, Rudolf (Hrsg.): Sternstunden der Technik. Forscher und Erfinder verändern die Welt, Düsseldorf, Wien 1986, S. 428. 145 Hemenway, Priya: Der geheime Code. Die rätselhafte Formel, die Kunst, Natur und Wissenschaft bestimmt. Hier: Fibonacci und die Fibonacci-Zahlen, Köln 2008, S. 65-89. 146 Schneider, Jürgen: The Significance of Large Fairs, Money Markets and Precious Metals in

the Evolution of a World Market from the Middle Ages to the First Half of the Nineteenth Century (Synopsis I), in: Fischer, Wolfram / McInnis, R. Marvin / Schneider, Jürgen (eds.): The Emergence of a World Economy 1500-1914. Papers of the IX. International Congress of Economic History. Edited on behalf of the International Economic History Association, Part I: 1500-1850, Wiesbaden 1986, S. 15-36.

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Die Marktausweitung im Gefolge der europäischen Expansion führte zu Innovationsschüben, die man zweite kommerzielle Revolution nennen kann. Dazu gehören Indossament,147 d. h. Zirkulation des Wechsels und Diskont.148 Zu den institutionellen Innovationen gehören die Börsen und die Aktiengesellschaften. „Börsen wurden an folgenden Orten zuerst gemeldet (die Daten in Klammern bedeuten das Jahr des Einzugs in ein erstes Börsengebäude bzw. Erlaß einer Börsenordnung): Brügge 1409, Antwerpen 1460 (1518), Lyon 1462, Besançon 1552, Amsterdam 1530 (1613), London (1554), Augsburg und Nürnberg 1. Hälfte 16. Jh., Hamburg 1558, Köln 1566, Danzig 1593, Lübeck 1605, Königsberg 1613, Bremen 1614, Frankfurt (M.) 1615, Leipzig 1635, Berlin 1716 (1738), Wien 1753 (1771), New York 1792 (1817). Den wichtigsten Beitrag zur Entstehung der Börse leisteten die mittelalterlichen Warenmessen durch die Ausgestaltung ihres Zahlungsverkehrs. Der Meßzahlungsverkehr, der schnell den Meßwarenhandel an Bedeutung überflügelte, diente (1) dem Meßskontro aus dem Warenhandel, (2) der Darlehensaufnahme gegen Wechsel und der Darlehenstilgung, (3) dem Geldwechsel und (4) auf den entwickelten Warenmessen dem Handel in Geld und in Wechseln. Dabei spaltete sich das Darlehens- und das Geld- und Wechselgeschäft sehr bald zeitlich und örtlich vom eigentlichen Warengeschäft auf der Messe: zeitlich dadurch, daß es sich an den Wohnorten der Geld- und Wechselhändler vollzog. Aber erst mit dem Aufblühen des Industrieaktiengeschäfts im Laufe des 19. Jh. entstand die moderne Wertpapierbörse, auf der vornehmlich Aktien und Anleihen, daneben Geldbeträge in Giralform und Auslandswechsel sowie – in geringem Umfang – Sorten gehandelt werden. An die Stelle der Auslandswechsel sind heute Auszahlungen (Devisen) getreten; der Sortenhandel ist praktisch aus dem Börsenverkehr verschwunden, wenngleich er noch in den Börsenusancen beachtet wird. Das Warengeschäft selbst hat relativ viel später die Börsenform gefunden. Aus dem 16. Jh. ist zwar schon die Pfefferbörse von Antwerpen bekannt; aber erst ab Mitte des 19. Jh. nahm die Errichtung von Warenbörsen im Zusammenhang mit den rasch steigenden Produktions- und Absatzmöglichkeiten sowie mit der Entfaltung des Verkehrs zu“.149 „Die moderne Aktiengesellschaft ist, wiewohl im 15. und 16. Jh. als Vorläufer derselben sich Unternehmerorganisationen mit kapitalistischer Grundlage finden, rechtshistorisch auf die großen Handelskompagnien zurückzuführen, welche seit Beginn des 17. Jh. von den seefahrenden Nationen im Wettstreit um die Ausbeute der neu erschlossenen Länder Ostindien und Amerika (Westindien) als obrigkeitlich konzessionierte und beaufsichtigte, mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestattete Korporationen errichtet worden waren. Vorbild der in der Folgezeit in verschiedenen Ländern entstandenen Kompagnien war die 1602 durch die holländi147 Denzel, Markus A.: Indossament, in: North, Michael (Hrsg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995, S. 165 f. 148 Munro, John H.: Diskont, ebd., S. 85-87. 149 Kasten, Hans: Börsen, in: HdSW, 2. Bd., 1959, S. 359 f.

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sche Regierung gegründete ‚Vereenigte Oostindische Kompagnie‘, deren Verfassung Anlehnung an die Commenda und an die Reederei aufweist. Während erstere dadurch gekennzeichnet ist, daß ein Kapitalist (commendator) einem Unternehmer (tractator) Geld oder Waren zwecks Verwertung derselben in der Ferne unter Teilung des Gewinnes anvertraut, entstammt der Reederei die Vorstellung, daß so, wie bei letzterer die Zugehörigkeit zur Gesellschaft durch das Miteigentum am Schiff bestimmt wird, auch bei der AG die Mitgliedschaft durch den Anteil am gemeinschaftlichen Kapital dargestellt wird“.150 Die Entstehung des Jahresabschlusses: Die Bilanz mit Gewinn- und Verlustrechnung ist das Steuerungsinstrument des Kaufmanns (Kompaßfunktion der Bilanz).Bei der Entstehung und Entwicklung der Bilanz unterscheidet Eugen Schmalenbach mehrere Phasen, die von der Ordonnance de commerce von 1673 zu den Aktiengesetzen von 1931 und 1937 führen. Das kaufmännische Rechnungswesen „baut auf den in der Renaissance in Oberitalien geschaffenen Grundlagen auf, die die doppelte kaufmännische Buchhaltung geschaffen hat. Diese wurde durch die Jahrhunderte als Übertragungsbuchführung (von Hand) in den verschiedensten Formen angewandt (italienische, deutsche, französische, amerikanische)“.151 Die Ordonnance de commerce von 1673: „Eine neue Note kam in die Angelegenheit durch Jacques Savary, den maßgeblichen Mitarbeiter der Ordonnance de commerce von 1673 und den Verfasser des ‚Parfait négociant‘ von 1675.152 […] Auch der aus den älteren Rechtsvorschriften übernommene Journalzwang ist für den Zweck der Buchhaltungsvorschriften charakteristisch. Diese Bestimmung hat für die Entwicklung des Buchhaltungsrechts und der Bilanz große Bedeutung gewonnen. Von der Ordonnance de commerce gingen die Bestimmungen über den in den Napoleonischen ‚Code de commerce‘, und von da aus wanderten sie in alle Welt. In der Folgezeit sind fast in allen europäischen Handelsgesetzbücher entstanden. In allen diesen Handelsgesetzbüchern hat man es für notwendig gehalten, Bestimmungen über die Buchführung und die Bilanz aufzunehmen“.153 In der „Encyclopädie“ von J. G. Krünitz werden Gewinn und Bilanz definiert. Gewinn ist der Überschuß, der auf eine Arbeit nach Abzug aller Unkosten übrig bleibt. „Es ist aber bey allen Mitteln, welche ein Mensch ergreifen kann, zu gewinnen und reich zu werden, stets zu beobachten, daß sie weder die Tugend beleidigen noch die Gewissensruhe stöhren dürfen. […]

150 Würdinger, Hans: Aktiengesellschaft. (I) Recht der AG. (1) Geschichte und Struktur, in: HdSW, 1. Bd., 1956, S. 129. 151 Schwantag, Karl: Betriebswirtschaftslehre (I) Geschichte, in: HdSW, 2. Bd., 1959, S. 114. Das Werk von Pacioli (Summa de Arithmetica) enthält als erstes Druckwerk eine geschlossene Darstellung der doppelten Buchführung. Penndorf, Balduin: Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, Leipzig 1913. 152 Schwantag, Karl: Ebda. 153 Schmalenbach, Eugen: Dynamische Bilanz, 12. Aufl., Köln, Opladen 1956, S. 16 f.

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Bilanz oder Balanz, frz. Bilan oder Bilance, heißt bei den Kaufleuten die monatliche oder jährliche Schluß-Rechnung, kraft welcher alle Schuldner und Gläubiger dergestallt aus dem Hauptbuche ausgezogen werden, daß, wenn die Bücher auf italienische Manier, d. i. in doppelten Posten geführet worden, beide Seiten des Bilanz, nehmlich Credit und Debet, gleiche Summen haben und aufgehen, welches denn mehrentheils das Merkmahl zu seyn pflegt, daß richtig übergetragen worden. […] Ein General-jährlicher Schlußbilanz weifet dem Handelsprincipal alles, woran desselben Jahres etwas gewonnen oder verloren worden, und endlich auf dem Gewinn- und Verlust-Conto, wieviel er, nach Abzug der Haushaltungs- und Handlungs-Unkosten, sein Capital vermehrt, oder aber solches vermindert habe, oder ob beides gleich aufgehe, daß nehmlich ausser der Haushaltung nichts gewonnen, und auch nichts verloren worden; und, diese erzielte richtige Nachricht ist eigentlich der Nutzen eines kaufmännischen Bilanzes“.154 Nach Klipstein wußten die Kaufleute, „daß sich sehr nützliche Regeln für die Zukunft aus dem bey dieser oder jener Ware gemachten Gewinns oder erlittenen Verlust ziehen ließen, daß eben diese Regeln die vorteilhafteste Belehrung für sie in Absicht des Umsatzes der verschiedenen Warenartikel enthielten: bey welchen es rätlich sey, den Umsatz zu unterlassen, oder doch schwach und behutsam zu treiben, und bey welchen derselbe nach guten Gründen so oft nur möglich zu wiederholen wäre“.155 „Die Notwendigkeit einer jährlichen Erfolgsrechnung hat, so Schmalenbach, der geniale Stevin 1580 zuerst erkannt. So gesehen, war die Bilanz neben dem Gewinn- und Verlustkonto das Reservoir, in das diejenigen Salden geleitet wurden, die in das Gewinn- und Verlustkonto nicht hineingehörten. Die Bilanz wurde ein Nachweis der noch schwebenden Posten. De la Porte drückte das in seinem 1685 erschienenen Buche so aus: ‚Ehe man ein Konto durch Bilanz schließt, muß man nachsehen, was man an dem betreffenden Konto gewonnen oder verloren hat. Hat man an einem Konto Gewinn, so muß man dasselbe belasten in Gewinn, hat man aber Verlust, so muß man es erkennen in Verlust, und nur der Rest kommt auf Bilanzkonto‘. So wurde die Bilanz mit ihren noch schwebenden Posten ungefähr das, was die Kameralisten ‚Resteverwaltung‘ nannten“.156 Die Dogmengeschichte der Bilanz vor 1861 gewinnt „größere Bedeutung erst mit den Beratungen zum allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch, d. h. den sogenannten Nürnberger Protokollen von 1857. Was davor liegt, sind im wesentlichen nur Darstellungen der Buchhaltungslehre, die auf die berühmte Beschreibung des Lucas Pacioli von 1494 zurückgehen. Eine Ausnahme machen nur die

154 Krünitz, Johann Georg: Oeconomische Encyclopädie, 5. Theil, Brünn 1787, S. 289. 155 Klipstein, Lehre von der Auseinandersetzung im Rechnungswesen, Leipzig 1781, S. 47 ff. 156 Schmalenbach, Eugen: Dynamische Bilanz, 12. Aufl., Köln, Opladen 1956, S. 16.

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dispositiven Bestimmungen des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 für Sozietäten, in denen sehr vernünftige Bewertungsvorschriften enthalten sind. Bei Pacioli spielt die Bilanz eine rein buchtechnische Rolle, indem sie die Buchsalden übernimmt, wenn die Bücher vollgeschrieben waren. Im Gegensatz dazu und durchaus losgelöst von der Bilanz befaßt sich Pacioli mit der Gewinnund Verlustrechnung ziemlich eingehend. Dies beruht – wie Schmalenbach annimmt – auf dem damaligen Partienhandel,157 der – wie heute die Konsortialgeschäfte – Einzelgewinnrechnungen möglich und erforderlich machte. Als Kennzeichen dieser älteren Bilanzlehre kann das Fehlen der Forderung periodischer Abschlüsse und Erfolgsrechnungen sowie das Fehlen des Zusammenhangs zwischen Bilanz und Erfolgsrechnung angesehen werden. Soweit die Bewertung für die Bilanz erwähnt wird, spricht man von den Einkaufspreisen oder Buchwerten. Die Inventuren werden nur als Anfangsinventuren verlangt“.158 Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1862: „Auch die Verfasser des Allgemeinen Handelsgesetzbuches, die 1857 in Nürnberg zusammentraten, haben sich an das Vorbild der Ordonnance gehalten. Die Aktiennovelle von 1884: Die wesentlichen bilanztechnischen Gesichtspunkte der Novelle von 1884 waren: Die Aktiengesellschaft soll den Aktionären und den Leuten, die es werden wollen, richtige und nicht falsche Gewinne vorrechnen, und nicht Dividenden zahlen, die nicht Gewinne, sondern Substanzverteilungen sind. Auch als Vermögen soll nicht etwas ausgewiesen werden, was nicht wirklich da ist, sondern nur auf willkürlichen Bewertungen beruht. Die Aktiengesetze von 1931 und 1937: Der erste Schriftsteller, der deutlich und klar aussprach, daß die Bilanz nicht den Nachweis des Vermögens, sondern die Erfolgsermittlung zum Ziele hat, der infolgedessen als der erste Dynamiker anzusprechen ist, ist von Wilmowsky (1896). Die Novelle von 1931, nach langer und gründlicher Vorbereitung entstanden, brachte hinsichtlich der Bewertungsvorschriften in der Bilanz der AG beachtliche Verbesserungen. Sie folgte ebenso wie die Novelle von 1884 den Methoden der allgemeinen soliden Bilanzpraxis. Das Aktiengesetz von 1937 enthält gegenüber dem Gesetz von 1931 erfreuliche Veränderungen; jedoch sind die Bilanzbestimmungen im wesentlichen gleichgeblieben. Die Erfolgsbilanz unter dem Einfluß der hohen Steuern im Zweiten Weltkrieg (1939-45): Die hohen Steuern haben das Rechnungswesen der Betriebe in Unordnung gebracht, und, was noch schlimmer ist, den Sinn der Betriebsleiter für die Bedeutung des Jahresabschlusses für eine erfolgreiche Führung des Betriebes abgestumpft. Eine besonders beliebte Methode der Steuereinsparung besteht darin, einen Teil des privaten Aufwands als Geschäftsaufwand zu buchen. Erholungs- und 157 Warenposten, bestimmte Menge einer Ware. 158 Walb, Ernst: Zur Dogmengeschichte der Bilanz von 1861-1919, in: Festschrift für Eugen Schmalenbach. Zu seinem 60. Geburtstag, Leipzig 1933, S. 3.

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Vergnügungsreisen werden Geschäftsreisen, Privatwagen werden Geschäftswagen, persönliche Bewirtungen werden Betriebsaufwand usw.“159 „Mit Schmalenbach hat, wie mir scheint, die Lehre von der Bilanz im Grundsätzlichen weitgehend ihren Abschluß gefunden“.160 Die Bilanz ist nach Schmalenbach ein Mittel zur Gewinnberechnung und dient als ein Instrument der Betriebssteuerung (Kompaßfunktion der Bilanz). Der Gewinn ist eine dynamische Erscheinung des Wirtschaftsbetriebs und ist das Maß der Wirtschaftlichkeit. Mit dem Gewinn steuert der Unternehmer seinen Betrieb. Der Endzweck der Erfolgsbilanz ist, den Erfolg des kaufmännischen Betriebes zum Zwecke richtiger Betriebssteuerung festzustellen. „Die bilanzmäßige Erfolgsrechnung hat eine betriebswirtschaftlich und wirtschaftspolitisch wichtige Aufgabe zu erfüllen, und zwar die Aufgabe, den Betrieb seine Fahrtrichtung erkennen zu lassen und ihm so als Kompaß zu dienen“.161 Von der kaufmännischen zur industriellen Bilanz: Seit der Basisinnovation Geld 550 v. Chr. mußte der Fernhandelskaufmann seine Kosten kalkulieren, d. h. mit den tatsächlich entstandenen Kosten zu den tatsächlich gezahlten Preisen. Seit der „kommerziellen Revolution (950-1350)“ wurde der Radius des Fernhandelskaufmanns größer und mit der europäischen Expansion ab 1492 komplexer und immer mehr global. Die Innovationen in der kaufmännischen Rechnungslegung und die Innovationen bei den Institutionen (Börsen, Aktiengesellschaften) sind Anpassungen im Bereich des Fernhandels, der mit der Industrialisierung zur Weltwirtschaft wird und die verschiedenen Teile zu einer Markt- und Währungsgemeinschaft werden läßt. Die ab 1850/60 und ab 1871/73 verstärkt einsetzende Industrialisierung äußert sich in stark zunehmenden Aktiengesellschaften (Kreditinstitute und Banken, Versicherungsgesellschaften, sonstige AG):162 Jahr

Zahl

1886/87 1891/92 1896 1902 1906 1909 1919 1920

2.143 3.124 3.712 5.186 5.060 5.222 5.710 5.657

Zusammen Kapital Mill. M. 4.876,06 5.771,10 6.845,76 11.968,33 14.848,61 14.722,84 20.984,42 29.026,80

159 Schmalenbach, Eugen: Dynamische Bilanz, 12. Aufl., Köln, Opladen 1953, S. 16-26. 160 Walb, Ernst: Zur Dogmengeschichte der Bilanz von 1861-1919, in: Festschrift für Eugen Schmalenbach. Zu seinem 60. Geburtstag, Leipzig 1933, S. 1. 161 Schmalenbach, Eugen: Dynamische Bilanz, S. 6. 162 Moll, Ewald: Aktiengesellschaften (Statistik, Deutschland), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 1. Bd., Jena 1923, S. 149.

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Mit den industriellen Großbetrieb Aktiengesellschaft entstehen die fixen Kosten, die der Fernhandelskaufmann nicht kannte. Eugen Schmalenbach erlebte dies und es war für ihn die Lebensaufgabe, den Kosten des industriellen Großbetriebes nachzugehen. Mit seinen Forschungen auf diesem Gebiet wurde er zum Begründer der modernen wissenschaftlichen Betriebswirtschaftslehre.163 „Daß auch die fixen Kosten seit Anbeginn im Mittelpunkt seines kostentheoretischen Denkens standen, erweist seine früh vollendete Studie über ‚Buchführung und Kalkulation im Fabrikgeschäft‘, die 1899 im gleichen Blatt erschien. Und die Idee, daß zwischen dem Anwachsen der fixen Kosten und der Ausbreitung des Kartellwesens ein innerer Zusammenhang bestehen müsse, ist sicher gleichfalls schon seit längerer Zeit in ihm gereift. Den letzten Anstoß zur Darlegung dieser Zusammenhänge hat dann wohl seine Gutachter-Tätigkeit gegeben, die ihm einen lebendigen Anschauungs-Unterricht vom Verhalten der Unternehmen mit hohen fixen Kosten vermittelte und einen unmittelbaren Einblick in die Geschäftspolitik (und Geschäftsphilosophie) mehrerer Syndikate des Kohlenbergbaus sowie – durch Susats Gutachten – der eisenschaffenden Industrie gegeben hat. Hier haben seine Überlegungen offenbar ihre Bestätigung gefunden. Das hat Schmalenbach jene innere Sicherheit verliehen, die aus allen Feststellungen seines Referats spricht. Dieses Referat übertrifft in der historischen Weite seines Blickfeldes, in der Prägnanz der Gedankenführung ebenso wie durch die klare Diktion und die frische Sprache alle früheren und späteren Arbeiten Schmalenbachs. Es ist ein Geistesprodukt, das den Wissenschaftler und Schriftsteller auf der Höhe seines Könnens zeigt.164 „Auf die Hauptthesen reduziert und möglichst mit Schmalenbachs eigenen Worten wiedergegeben, kann das Gedankengebäude, das Schmalenbach vor seinen Zuhörern in Wien errichtet hat, folgendermaßen umrissen werden: 1. 2.

3.

4.

‚Der Anteil der fixen Kosten ist für die Produktionsgestaltung bestimmend geworden. […] Das Steigen der fixen Kosten (ist) noch nicht abgeschlossen, […] ihr Wachstum (hält) immer noch an und (wird) voraussichtlich noch lange anhalten‘. ‚So ist die moderne Wirtschaft […] des Heilmittels beraubt, das selbsttätig Produktion und Konsumtion‘ (heute würden wir sagen: Angebot und Nachfrage, M.K.) ‚in Einklang bringt und so das wirtschaftliche Gleichgewicht herstellt. Weil die proportionalen Kosten in so großem Umfange fix geworden sind, fehlt der Wirtschaft die Fähigkeit zur Anpassung der Produktion an die Konsumtion. […] Die Volkswirtschaft (hat) ihr selbständiges Steuer verloren‘. ‚Die fixen Kosten […] drängen (den Betrieb) zugleich, sich trotz mangelnder Nachfrage zu vergrößern. […] Die Betriebsleiter werden durch […] unbeschäftigte Anlagen (innerhalb des Gesamtbetriebes) dazu gedrängt, den Betrieb […] zu vergrößern, um auch diese nicht ausgenutzten Anlagen besser zu beschäftigen‘. ‚Da andere Betriebe der gleichen Branche das gleiche tun, rationalisieren sich die Industriezweige automatisch in eine übergroße Kapazität hinein‘.

163 Löffelholz, Josef: Geschichte der Betriebswirtschaft und der Betriebswirtschaftslehre, Stuttgart 1935. 164 Schmalenbach, Eugen: Die Betriebswirtschaftslehre an der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung, in: Zeitschrift für handelswirtschaftliche Forschung, 22, Leipzig 1928.

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5. 6. 7.

‚Ist ein Geschäftszweig so weit gekommen, so ist es zur Gründung eines Kartells […] nicht mehr weit. Und so drängen die fixen Kosten einen Industriezweig aus der freien Wirtschaft in die gebundene Wirtschaft hinein‘. Vermehrt ein Kartellmitglied seine Kapazität, so bekommt es ‚früher oder später eine höhere Beteiligungsquote […] und ist mit dieser höheren Beteiligungsquote ebenso wie mit der alten Beteiligung am Absatz zugelassen‘. ‚Selbst bei schlechtester Konjunktur gibt es Werke, die zwecks Erhöhung ihrer Beteiligung ihre Anlagen erweitern‘. Infolgedessen bleibt die Kapazität ‚nicht etwa im Einklang mit den Verhältnissen des Marktes, sondern (ragt) fortgesetzt weit über diese hinaus‘.

Schmalenbachs Schlußfolgerung aus dieser Diagnose, sogleich in den Eingangsworten des Referats ausgesprochen, lautet: ‚(Wir) stehen heute am Ausgang einer alten und am Beginn einer neuen Wirtschaftsperiode. […] Das 19. Jahrhundert mit seiner freien Wirtschaft wird […] seine eigenen, keinem anderen Jahrhundert eigentümliche Berühmtheit bekommen […] weil die Wirtschaft dieses Jahrhunderts mehr als jede andere Natur selbst verwandt war. […] Nicht Menschen, sondern starke wirtschaftliche Kräfte sind es, die uns in die neue Epoche (der gebundenen Wirtschaft) hineintreiben. […] Es (ist) fast ausschließlich eine einzige Erscheinung. […] (die dies bewirkt): Die Verschiebung der Produktionskosten (hin zu den fixen Kosten)‘. Die Wiener Rede Schmalenbachs erregte in der Öffentlichkeit großes Aufsehen. Die Frage, ob sich das kapitalistische Zeitalter seinem Ende nähere, beschäftigte die Geister damals ohnehin stark. Hier kam nun einer, ein Wissenschaftler gar, der den Menschen das Ende des herrschenden Wirtschaftssystems als unabweisbares Schicksal darstellte. Schmalenbach unternahm nichts anderes, als die Zwangsläufigkeit des Geschehens schlüssig zu beweisen, und das bewegte die Gemüter dermaßen, daß von allen Seiten ein Echo kam, meist gepaart mit Widerspruch. Unter Wissenschaftlern wie auch bei Unternehmern, in Zeitungen und Wirtschafts-Publikationen setzte eine lebhafte, ja erregte Diskussion ein. Über Nacht sah sich Schmalenbach in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Sein Name erlangte plötzlich eine Popularität wie niemals zuvor. Schmalenbach sah diesem Treiben gelassen zu. Er hatte auch seinen Grund, gelassen zu bleiben: Seine Ausführungen waren am richtigen Ort auf fruchtbaren Boden gefallen. Reichswirtschaftsminister Curtius hatte ihn kurz nach der Wiener Tagung zu sich gebeten und auch Herren vom Reichsverband der Industrie zu dem Gespräch geladen, um gemeinsam über die Kartellfrage zu sprechen, die beide Seiten – freilich in verschiedenem Sinne – interessierte. Und so glaubte sich Schmalenbach in der Gewißheit, daß ‚dadurch die neue Kartellgesetzgebung in Schwung (kommt)‘, wie er seinem Bruder schreibt (am 18.6.1928). Doch die Hoffnung war trügerisch, nichts kommt in Schwung. Es bleibt alles beim alten. Von Kollegen der Betriebswirtschaftslehre bekam Schmalenbach damals, soweit erkennbar, keine Einwände zu hören“.165 165 Cordes, Walter (Hrsg.): Eugen Schmalenbach. Der Mann – Sein Werk – Die Wirkung, Stuttgart 1984, S. 114-119.

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Die Evolution der Marktwirtschaft In der gewachsenen Marktwirtschaft erprobte Institutionen und Techniken (vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts)

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Eugen Schmalenbach (1873-1955) ist der Begründer der Wissenschaftlichen Betriebswirtschaftslehre. „Unter den einzelnen Arbeitsbereichen Schmalenbachs hat besonders die Lehre von der Dynamischen Bilanz große praktische Bedeutung gewonnen. Durch den Nachweis, daß man mit der Bilanz zwar nicht das Vermögen der Unternehmung, wohl aber den Erfolg der unternehmerischen Tätigkeit ausweisen kann, wurde die Bedeutung dieses Instrumentes für Unternehmensführung und -kontrolle erkennbar. Entscheidend war für Schmalenbach die Maßstabfunktion des Bilanzgewinns. In der Kostentheorie hat Schmalenbach vor allem das Problem der fixen Kosten und ihres Einflusses auf das Marktverhalten der Unternehmer behandelt. Er hat dabei ständig betont, daß diese Kosten nur in bezug auf den Beschäftigungsgrad innerhalb einer gegebenen Kapazität als ‚fix‘ anzusehen seien, daß sie jedoch unter dem Einfluß anderer Faktoren, z. B. von Preisschwankungen oder Kapazitätserweiterungen, sich allmählich oder auch sprungweise ändern könnten. Von großer praktischer Bedeutung für die Weiterentwicklung des betrieblichen Rechnungswesens war der von Schmalenbach entworfene Kontenrahmen. Mit seiner Hilfe wurden die traditionelle Finanzbuchhaltung und die als Kontrollinstrument des Großbetriebs entwickelte Betriebsabrechnung einschließlich der kurzfristigen Erfolgsrechnung in einem geschlossenen System vereinigt. Es ist bemerkenswert, daß sich dieser Gedanke Schmalenbachs besonders in Ländern mit zentralgelenkter Wirtschaft durchgesetzt hat, während in Ländern mit freier Wirtschaftsordnung nach 1945 vielfach wieder eine Tendenz zur ‚Entflechtung‘ der verschiedenen Zweige des Rechnungswesens zu beobachten war. Die Analyse des Schmalenbachschen Lebenswerkes zeigt deutlich, daß jede Forschung im Bereich der Einzelwirtschaften, wenn sie über rein technische Aufgabenstellungen hinausgeht, in gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge hineinführt. Daraus folgt aber, daß die Betriebswirtschaftslehre ihre spezifische Aufgabe im Rahmen der Sozialwissenschaften nur im engen Kontakt mit der allgemeinen Wirtschaftstheorie zu lösen vermag“.166 „Der von Eugen Schmalenbach geprägte und zum Gegenstand einer Lehre erhobene Begriff Kontenrahmen bedeutet ganz allgemein ein Klassifikationsschema für die betriebliche Kostenorganisation. […] Die Bedeutung des Kontenrahmens für die gesamte Volkswirtschaft hängt von deren Verfassung ab. In der Marktwirtschaft ist der empfohlene Kontenrahmen üblich und kann sich nur über seinen Einfluß auf die Betriebe als Zellen der Volkswirtschaft gesamtwirtschaftlich auswirken. In der zentralgeleiteten Wirtschaft herrscht der Pflichtkontenrahmen als wichtiges Rechnungs- und Verwaltungsinstrument vor und nimmt um so mehr an Bedeutung zu, je straffer die Lenkung ist. Die staatlichen Lenkungsstellen können mit Hilfe der durch den Pflichtkontenrahmen möglichen Statistiken und Kennzahlen sich Unterlagen für die Produktions- und Absatzlenkung, die Preisbildung sowie durch Aufnahme von Plankonten in den Kontenrahmen Kontrollmöglichkeiten für die Durchführung der staatlichen Planungen in den Betrieben verschaffen. 166 Hax, Karl: Schmalenbach, Eugen (1873-1955), in: HdSW, 12. Bd., 1965, S. 635.

1479

Das erklärt, daß es zum Kontenrahmenerlaß vom 11.11.1937 kam und für ihn der Reichswirtschaftsminister, der Beauftragte für den Vierjahresplan und der Reichskommissar für die Preisbildung verantwortlich zeichneten. Darüber hinaus wäre bei Aufhebung der betrieblichen Kostengestaltungsfreiheit den Finanzbehörden durch Betriebsvergleiche die Möglichkeit gegeben, vermeidbare Kosten zu erkennen und zu besteuern“.167 In der SBZ / DDR, in der Sowjetunion, in Ungarn und Polen wurden für die Volkseigenen Betriebe entsprechende Kontenrahmen übernommen. Für Erich Gutenberg, den Nachfolger von Eugen Schmalenbach an der Universität zu Köln, war die oberste Leitmaxime selbstverständlich der Gewinn, das erwerbswirtschaftliche Prinzip und gehörte zum empirischen Befund des Erkenntnisobjektes der Betriebswirtschaftslehre.168 Der hier skizzierte hohe Fundus der wissenschaftlichen Betriebswirtschaftslehre in Deutschland wurde in der SBZ / DDR liquidiert. Das auf Marx beruhende und von Lenin und Stalin durchgeführte ordnungspolitische Experiment mit der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft im Gefolge der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 war ein radikaler Bruch mit der Evolution und endete auch folgerichtig im Zusammenbruch 1990/91. Entsprechend schwierig war die Rückkehr in die Evolution, d. h. in die Marktwirtschaft mit Privateigentum und konvertiblem Geld.

167 Münstermann, Hans: Kontenrahmen, in: HdSW, 6. Bd., 1959, S. 161, 171. 168 Gutenberg, Erich: Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Erster Band. Die Produktion, 1951, S. 11, 114, 116 ff., 340 ff., 356, 361 ff., 392 ff.

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4.3. Radikaler Bruch in der langen Evolution: Im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ wurden auf der Basis von Marx und unter Führung von Lenin und Stalin Marktwirtschaft und Geld liquidiert. Damit war der Zusammenbruch der UdSSR und der anderen sozialistischen Länder 1989/91 determiniert Das Russische Reich war vor 1917 Teil der globalen Markt-, Währungs- und Rechtsgemeinschaft, die in der langen Evolution entstanden war. Internationale Währungsgemeinschaft: „After the currency reform of 1698/ 1704 the Russian currency system followed Western models: the silver rouble of 100 kopecks, which contained 24.20 grammes of fine silver, was accepted as a great silver coin in Western Europe, and the Russian Empire ‘became a hard currency area’. The fall in silver prices, especially from the 1870s, and the close trade relations with gold standard countries finally required the transition to the gold standard: from 1877, business transactions could be done in gold on the basis of the (older) imperial of 10 gold roubles or 10.30 silver roubles (until the end of 1885 at 11.997 grammes of fine gold) and its subdivisions. In 1886 the minting of the gold rouble at 0.7742 grammes of fine gold (according to the ukaz of 1885) initiated Russia’s real transition to the gold standard, which was finally attained in 1899 declared the gold rouble to be the unit of the Russian currency, and thus the gold standard was officially introduced, the (new) imperial at 11.6118 grammes of fine gold being reckoned at 15 gold roubles”.169 Internationale Handelsrechtsgemeinschaft: „In Rußland stammte das Aktienrecht im wesentlichen aus dem Jahre 1836. Es findet sich in Bd. X Teil 1 des Sswod Sakonoff, der das russische Privatrecht enthält. Die wesentlichste spätere Ergänzung ist erfolgt in den sog. Zeitweiligen Regeln für die Organisation und Berufung der Generalversammlungen und Revisionskommissionen vom 27./XII. 1901. In Rußland galt strenges Konzessionssystem. Für die zur Genehmigung einzureichende Satzung hatte sich ein Normaltyp herausgebildet. Die genehmigte Satzung hatte Gesetzeskraft. Die Zahl der Gründer war nicht bestimmt. Sukzessivund Simultangründung waren zulässig. Gründer konnten In- und Ausländer sein. Aktien unter 250 Rubel wurden regelmäßig nicht zugelassen. Inhaber- und Namenaktien kamen vor. Organe der Aktiengesellschaft waren die Generalversammlung, der Vorstand, die Revisionskommission und ev. Der Aufsichtsrat. Ausländische Aktiengesellschaften konnten zum Gewerbe in Rußland unter gewissen Bedingungen zugelassen werden“.170 169 Denzel, Markus A.: Handbook of World Exchange Rates, 1590-1914, Farnham 2010, S. 359 f. 170 Ring, Krieg, neu bearbeitet von Schwandt, J.: Aktiengesellschaften (Aktienrecht in den übrigen Ländern), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 1. Bd., Jena 1923, S. 126. Borchardt, O. (Hrsg.): Handelsgesetze des Erdballs, 3. Aufl., 1906-1914, 13 Bde., Bd. IX: Osteuropa (Rußland, Finnland).

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4.3.1. Radikaler Bruch 2500 Jahre nach der Basisinnovation Münzgeld verliert Geld im Gefolge der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ seine Funktion als Wertmesser (Recheneinheit) Die orientierungslose politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft. Seit der Basisinnovation Geld um 550 v. Chr. gab der Gewinn die Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln. Die Feststellung des Gewinns erfolgte über die Wirtschafsrechnung. Erst die „Rechnung nach Tauschwert“ bringt eine Kontrolle über die zweckmäßige Verwendung der Güter. In der Marktwirtschaft wird in Geld gerechnet, „so daß man die einer Produktion gewidmete Gütermenge, nach ihrem Geldwert gerechnet, als Kapital zusammenfassen kann und den Erfolg des Wirtschaftens an den Veränderungen des Kapitals festzustellen sucht, so ist es klar, daß die sozialistische Produktionsweise nicht als kapitalistisch bezeichnet werden kann. In einem anderen Sinn als es der Marxismus tut, können wir dann zwischen sozialistischer und kapitalistischer Produktionsweise, zwischen Sozialismus und Kapitalismus unterscheiden. Als charakteristisches Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise erscheint den Sozialisten die Tatsache, daß der Produzent arbeitet, um einen Gewinn zu erzielen. Die kapitalistische Produktion sei Profitwirtschaft, die sozialistische werde Bedarfsdeckungswirtschaft sein. Daran ist so viel richtig, daß jede kapitalistische Produktion auf Gewinn gerichtet ist. Doch Gewinn, d. h. einen Wertüberschuß des Erfolges gegenüber den Kosten, zu erzielen, muß auch die Absicht des sozialistischen Gemeinwesens sein. Wenn die Wirtschaft rationell betrieben wird, d. h. wenn sie die dringenderen vor den weniger dringenden Bedürfnissen befriedigt, dann hat sie schon Gewinne erzielt. Denn dann sind die Kosten, d. i. der Wert der wichtigsten unter den nicht mehr gedeckten Bedürfnissen, kleiner als der erzielte Erfolg. In der kapitalistischen Wirtschaft kann Gewinn nur erzielt werden, wenn man durch die Produktion einem verhältnismäßig dringenden Bedarf entgegenkommt. Wer produziert, ohne auf das Verhältnis von Vorrat und Bedarf Rücksicht zu nehmen, erzielt nicht jenes Ergebnis, das er anstrebt. Die Ausrichtung der Produktion nach dem Gewinn bedeutet nichts anderes als ihre Einstellung auf den Bedarf der Volkswirtschaft; in diesem Sinne steht sie in einem Gegensatz zur Produktion für den eigenen Bedarf der verkehrslosen Wirtschaft. Doch auch diese strebt nach Gewinn in der oben umschriebenen Bedeutung dieses Ausdruckes. Zwischen Erzeugung für Gewinn und Erzeugung für Bedarf besteht demnach kein Gegensatz. […] Die Rolle, die das Geld in der Verkehrswirtschaft auf dem Gebiete der Produktionsrechnung spielt, kann es in der sozialistischen Gemeinschaft nicht behalten. Die Wertrechnung in Geld wird ihr unmöglich“.171 Die Wertrechnung in Geld sollte in Naturalform mit der marxistischen Arbeitswerttheorie erfolgen, wie die entsprechenden Ausführungen von Ostrowitjanow, J. Stalin und J. A. Konrad zeigen.

171 Mises, Ludwig: Die Gemeinwirtschaft, Untersuchungen über den Sozialismus, 2. Aufl., Jena

1932, S. 93, 118, 134.

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4.3.2. M. S. Gorbatschow beim XXVII. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1986: „Eine radikale Reform tut not“ Das holistische Experiment einer Organisation der industriellen Massengesellschaft im Gefolge der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917. Der Kapitalismus (= Marktwirtschaft) als Sündenfall und der Sozialismus als das irdische Paradies.172 Arbeiter sprengen die Tore zum Paradies (Symbolische Zeichnung)173

172 Das „Paradies, in vielen Religionen vorkommende phantastische Vorstellung eines Ortes des vollkommenen Glückszustandes (meist nach dem Tode), besonders der Ruhe, des Friedens und des Überflusses als Kompensation des mangelnden irdischen Glücks der Volksmassen in der Klassengesellschaft“. Paradies: Im Alten Testament die „Stätte des Friedens, der Ruhe, des immerwährenden Glücks“ (des ersten Menschenpaares), nach neutestamentlicher Vorstellung „das Jenseits, der himmlische Aufenthaltsort der Seligen“, übertragen „Ort, Zustand ungetrübten Glücks“. Weltlich zum Ausdruck kommend in der Sage vom „Goldenen Zeitalter“ und vom Schlaraffenland. Gatz, Bodo: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967. 173 Fülöp-Miller, René: Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland, Zürich, Leipzig, Wien 1926, S. 121.

1483

„Die Idee, Arbeitern Luxusgüter zugänglich zu machen, entwickelte Josef Stalin bereits Mitte der 1930er Jahre, als er auf ihrer Ersten Unionsberatung den Stachanowleuten zurief: ‚Es lebe sich jetzt besser, Genossen, es lebt sich jetzt froher!‘ Kaviar und Champagner sollten für die Massen zugänglich werden, Parfüm und Eiscreme erhielten einen Platz in Stalins Konsumkultur, mit der er die Arbeiter zu mehr Leistungen anspornen wollte. Das bedeutete nicht, dass sich die Sowjetunion unter Stalin zu einer Massenkonsumgesellschaft entwickelte. Dem Konsum kam eher eine symbolische Funktion als Anreizinstrument zu. Erst in der lichten Zukunft sollten Konsumgüter allgemein zur Verfügung stehen. Wie künftig der zivilisierte Konsum aussehen würde, führte man der Bevölkerung 1936 mit der Eröffnung spezieller Delikatessläden (gastronom) und von Kaufhäusern in den Republikhauptstädten vor Augen. Das Handelsministerium entsandte Delegationen ins kapitalistische Ausland, um dort den ‚zivilisierten Handel‘ zu studieren. Vor allem beeindruckte der Besuch im Kaufhaus Macy’s in New York. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen zunächst populäre Bücher die Funktion, den Familien den künftigen Luxuskonsum vor Augen zu führen und ihnen Anleitungen zur korrekten Hygiene und dem richtigen Verhalten zu geben. Das erlaubte den Massen, vom Konsum zu träumen und erfüllte damit eine wichtige Funktion der Konsumgesellschaft“.174 „Der Bolschewismus“ (Gemälde von Kustodjeff)

174 Mehrl, Stephan: Von Chruschtschows Konsumkonzeption zur Politik des „Little Deal“ unter Breschnew, in: Greiner, Bernd / Müller, Christian Th. / Weber, Claudia (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Studium zum Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 282 f.

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„Der Bolschewismus ist bisher fast stets nur als ein politisches Problem angesehen worden; ihn dieser verfälschenden und flachen Beurteilung zu entreißen, ist der Zweck dieses Buches. Denn, was gegenwärtig in Rußland vorgeht, ist zu wichtig für unsere Zeit, zu schicksalhaft und bedeutsam, als daß eine Bejahung oder Verneinung einer Kaste von Politikern überlassen werden dürfte, die ihr Verhalten und ihr Urteil allein von taktischen Erwägungen abhängig machen und Fehler ebenso wie Vorzüge ihrem jeweiligen Nutzen gemäß unterstreichen oder verschweigen. Das Problem des Bolschewismus wächst über den engen Horizont politischer Sympathien oder Antipathien hinaus; seine Bejahung oder Verneinung ist gleichzeitig jene der europäischen Kultur überhaupt. Was von jeher den letzten Sinn aller menschlichen Bestrebungen gebildet hat, worum die Denker aller Zeiten immer wieder gerungen, wofür Märtyrer durch ihr Beispiel im Leben und im Tode gezeugt haben, das Streben nach Erlösung und Beglückung der Menschheit: von alldem behauptet der Bolschewismus, er sei imstande, es jetzt, sofort und ohne Aufschub, zu erfüllen. Seine Lehre will nicht mehr eine unklare Vertröstung auf eine bessere Zukunft sein, sondern die Anweisung zu deren augenblicklicher konkreter Verwirklichung. Ein solcher ungeheurer Anspruch fordert höhere Beachtung heraus, als staatlichen und sozialen Reformen gewöhnlich zuteil wird, nötigt aber auch zu ernsterer und gewissenhafterer Kritik. Noch nie vorher hatten Menschen sich unterfangen, die Erlösung selbst, jenen niemals erreichten Zukunftstraum, ‚praktisch demonstrieren‘ zu wollen; wer vor diesem kühnen Wagnis nicht zurückschreckt, wird auch einer strengen Beurteilung nicht entgehen können“.175 Die Masse 176

175 Ebd., S. 1. 176 Fülöp-Miller, René: Bolschewismus, zu Beginn des Werkes.

1485

„Die Masse auf dem Marsch“ (Radek, Gemälde von Kupka) 177

177 Ebd., Tafel 6, S. 22 f.

1486

Entwurf für ein kommunistisches Massenfest, gewidmet dem „sichtbaren Gott“, der Maschine (Zeichnung von M. Dobnyinski)178

178 Fülöp-Miller, René: Bolschewismus, S. 22 f., Tafel 7.

1487

„Nehmen wir den Sturm der Revolution in Sowjetrußland, vereinigen wir ihn mit dem Puls des amerikanischen Lebens und tun wir unsere Arbeit wie ein Chronometer!“ (Aufruf Gastjeffs zur Amerikanisierung) 179

„Sossnowski, der bolschewikische ‚Hofliterat‘, hatte schon in den ersten Jahren der Revolution den Vorschlag gemacht, man möge die Russen zu Amerikanern heranzüchten: ‚Es handelt sich vor allem darum‘, schrieb er, ‚neue Menschen zu suchen und zu finden, Menschen, die wir russische Amerikaner nennen wollen, 179 Fülöp-Miller, S. 29.

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der Partei und den Sowjets dabei zu helfen, diese Menschen an den rechten Ort zu setzen und dafür zu sorgen, daß unsere Maulaffen sie nicht gleich bei den ersten Schritten mundtot machen. Nur bei den ersten Schritten, denn im weiteren Verlauf ihrer Tätigkeit werden diese Amerikaner sich selbst zu wehren wissen und mit den Maulaffen fertig werden. Unsere Amerikaner müssen unter den Schutz des ganzen Volkes gestellt werden, man muß sie zu einer stählernen Kohorte zusammenschweißen und alle anderen zwingen, sich nach ihnen zu richten. […] Im Jahre 1923 wird die neue, sich organisierende Partei der russischen Amerikaner, für die der Aufenthalt in Amerika keineswegs erforderlich ist, allen russischen Maulaffen einen Vernichtungskrieg erklären. […] In meinen Adern fließt leider nur wenig amerikanisches Blut, aber ich fühle mit meinem ganzen Wesen das Nahen dieser neuen Rasse von Menschen und ich stelle meine Feder in ihre Dienste“.180 Der russische Satiriker Michael Bulgakow (1891-1940) verfaßte 1925 eine Satire mit dem Titel „Das hündische Herz“. Inhalt: Um 1925 nimmt der renommierte Moskauer Chirurg Professor Preobraschenski einen Straßenköter mit nach Hause und kreuzt den Hund mit einem Proletarier, einem schmierigen Kleinkriminellen, und kreiert aus ihm den Neuen Menschen Lumpikow des utopischen Kommunismus. Doch der zum kommunistischen Genossen mutierte Tiermensch erweist sich bald nicht nur als echter Halunke: gewissen- und verantwortungslos wie er ist, wird er zur Gefahr für alle. Er bleibt Tier, freilich in Menschengestalt, und erst die gewaltsame Umkehrung der Operation kann die Gesellschaft retten. Bulgakows bissiger Klassiker erschien erstmals 1987 in der Sowjetunion. Er ist eine moderne Mixtur aus russischem Faust, Frankenstein und Pygmalion, sondern auch eine aberwitzige Parabel auf die neue Sowjetgesellschaft, auf die Grenzen der Wissenschaft sowie die menschliche Natur im Allgemeinen.181 _______________________________________ Tschernenko, Staats- und Parteichef der Sowjetunion, starb 1985. Neuer Generalsekretär der KPdSU wurde am 10. März 1985 Michail S. Gorbatschow. Der „Politische Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ von M.S. Gorbatschow vom 25. Februar 1986 ist eine Standortbestimmung. Es folgen Originalauszüge aus dem Bericht und eine abschließende Würdigung. „Das Zentralkomitee läßt sich bei der Formulierung der langfristigen, grundsätzlichen Aufgaben konsequent vom Marxismus-Leninismus als echt wissen180 Ebd., S. 28. 181 Bulgakow, Michail: Das hündische Herz. Eine fürchterliche Geschichte, München 2016, S. 76 f.: 23. Dezember 1924: Die europaweit erste Operation nach der PreobraschenskiMethode: unter Chloroform-Narkose erfolgtes Abtrennen von Lumpis Hoden und Einpflanzen menschlicher Hoden, Nebenhoden und Samenleiter, die einem 4 Stunden und 4 Minuten vor der Operation verstorbenen 28-jährigen Mann gehörten und in einer sterilisierten und physiologischen Lösung nach der Rezeptur von Professor Preobraschenski aufbewahrt wurden. Direkt im Anschluss: Trepanation der Schädeldecke, Entnahme der Hypophyse und Ersetzen derselben durch eine menschliche, von der oben genannten Person stammenden. 8 ml Chloroform, 1 Spritze Kampfer, 2 Spritzen Adrenalin ins Herz.

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schaftliche Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung leiten. Sie bringt die grundlegenden Interessen der werktätigen Menschen und die Ideale der sozialen Gerechtigkeit zum Ausdruck. Die Lebenskraft dieser Theorie liegt in ihrer unvergänglichen Jugend, in der ständigen Fähigkeit zur Weiterentwicklung, zur schöpferischen Verallgemeinerung neuer Tatsachen und Erscheinungen, der Erfahrungen des revolutionären Kampfes und der sozialen Umgestaltungen. I. Die Welt von heute: Grundtendenzen und Hauptwidersprüche. Schon vor der Oktoberrevolution von 1917 schrieb W. I. Lenin in bezug auf die kapitalistische Wirtschaft, daß auch siebzig Marxe nicht imstande wären, die Summe der Veränderungen in allen ihren Verästelungen zu bewältigen. Aber es war so, führte Wladimir Iljitsch weiter aus, daß vom Marxismus ‚die Gesetze dieser Veränderungen entdeckt wurden, daß die objektive Logik dieser Veränderungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung in den Haupt- und Grundzügen aufgezeigt wurde‘.182 Der Sozialismus hat alles Notwendige, um die moderne Wissenschaft und Technik in den Dienst an den Menschen zu stellen. II. Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung unseres Landes als strategischer Kurs. Genossen! Das Zentralkomitee der KPdSU hat auf dem Aprilplenum die Strategie zur Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung unseres Landes formuliert und somit eine Entscheidung von historischer Tragweite getroffen. Sie hat weitgehende Unterstützung der Partei, des ganzen Volkes gefunden und wird nun dem Parteitag zur Erörterung vorgelegt. Was wir verstehen unter einer Beschleunigung? In erster Linie geht es um die Temposteigerung beim Wirtschaftswachstum. Doch nicht nur darum. Ihr Wesen besteht in einer neuen Qualität des Wachstums: in der größtmöglichen Intensivierung der Produktion auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der strukturellen Umgestaltung der Wirtschaft, der Anwendung effektiver Formen der Leitung, der Arbeitsorganisation und -stimulierung. Der Kurs auf die Beschleunigung läuft nicht auf Umgestaltungen im Wirtschaftsbereich hinaus. Er sieht vor, daß eine aktive Sozialpolitik betrieben und das Prinzip der sozialistischen Gerechtigkeit konsequent durchgesetzt wird. Die Beschleunigungsstrategie setzt Vervollkommnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Erneuerung der Arbeitsformen und -methoden der politischen und ideologischen Institutionen, Vertiefung der sozialistischen Demokratie und entschlossene Überwindung von Trägheit, Stagnation und Konservatismus, d. h. all dessen voraus, was den gesellschaftlichen Fortschritt hemmt. A. Die Ergebnisse der sozialökonomischen Entwicklung und die Notwendigkeit ihrer Beschleunigung. Freilich, auf die Lage der Dinge hatten sich auch einige Faktoren ausgewirkt, auf die wir keinen Einfluß haben. Sie waren es aber nicht, die den Ausschlag gaben. Vor allen Dingen war dies darauf zurückzuführen, daß wir die Veränderung in der ökonomischen Situation politisch nicht rechtzeitig 182 Lenin, W. I.: Empiriokritizismus und historischer Materialismus, in: Werke, Bd. 14, S. 328.

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eingeschätzt und die ganze Aktualität und Unaufschiebbarkeit des Übergangs der Wirtschaft zu den intensiven Entwicklungsmethoden und zur aktiven Nutzung der Erkenntnisse des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Volkswirtschaft nicht erkannt hatten. Aufforderungen und Diskussionen gab es diesbezüglich genug, die Sache kam aber praktisch nicht vom Fleck. Die Wirtschaft entwickelte sich weiterhin im Nachlauf zu einem erheblichen Grade auf der extensiven Grundlage und orientierte sich darauf, daß zusätzliche Arbeitskräfte und materielle Ressourcen in die Produktion einbezogen werden. Die Folge war, daß das Wachstumstempo der Arbeitsproduktivität und einige andere Effektivitätskennziffern merklich zurückgingen. Die Versuche, die Lage durch die Neubautätigkeit zu korrigieren, haben das Problem der Bilanziertheit verschärft. Die Volkswirtschaft, die über riesige Ressourcen verfügt, sah sich mit ihrem Mangel konfrontiert. Eine Diskrepanz zwischen den Erfordernissen der Gesellschaft und dem erreichten Produktionsniveau, zwischen der zahlungskräftigen Nachfrage und ihrer materiellen Deckung war entstanden. ‚Unsere Kraft‘, sagte W. I. Lenin, ‚liegt im Aussprechen der Wahrheit‘.183 Gerade deshalb hat es das Zentralkomitee für notwendig erachtet, in der Neufassung des Parteiprogramms ein weiteres Mal die negativen Prozesse zu erwähnen, die sich in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre bemerkbar gemacht hatten. Deshalb sprechen wir von ihnen auch heute auf unserem Parteitag. B. Die Hauptrichtungen der Wirtschaftspolitik. Genossen! In dem Entwurf des Programms der KPdSU und in dem der Hauptrichtungen sind die wichtigsten Ziele der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung festgelegt. Bis Ende dieses Jahrhunderts soll das Nationaleinkommen nahezu verdoppelt werden, und dies bei einer Verdoppelung des Produktionspotentials und seiner qualitativen Umgestaltung. Die Arbeitsproduktivität wird auf das 2,3 bis 2,5fache steigen, die Energieintensität des Nationaleinkommens wird auf 71,4 Prozent und die Metallintensität nahezu auf die Hälfte zurückgehen. Das wird eine jähe Wende zur Intensivierung der Produktion, zur Erhöhung der Qualität und der Effektivität bedeuten. 1. Die Rekonstruktion der Volkswirtschaft auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts verwirklichen. Vor allem gilt es, die Strukturund Investitionspolitik zu ändern. Das Wesen der Veränderungen besteht darin, daß der Schwerpunkt nunmehr nicht auf die quantitativen Kennziffern, sondern auf die Qualität und Effektivität, nicht auf die Zwischenergebnisse, sondern auf die Endresultate, nicht auf den Ausbau der Produktionsfonds, sondern auf ihre Erneuerung, nicht auf die Vergrößerung der Brenn- und Rohstoffressourcen, sondern auf ihre bessere Nutzung sowie auf eine beschleunigte Entwicklung der wissenschaftsintensiven Zweige, der Infrastruktur in der Produktion und im sozialen Bereich verlagert werden soll.

183 Lenin, W. I.: Keine Schwindelei! Unsere Kraft liegt im Aussprechen der Wahrheit! In: Werke, Bd. 9, S. 290.

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2. Die Lösung des Lebensmittelproblems ist eine erstrangige Aufgabe. Genossen! Die Aufgabe, die wir in kürzester Frist zu lösen haben, besteht in der vollständigen Versorgung unseres Landes mit Lebensmitteln. Darauf ist die gegenwärtige Agrarpolitik der Partei gerichtet, wie sie in den Beschlüssen der Plenartagung des ZK der KPdSU im Mai 1982 und im Lebensmittelprogramm der UdSSR formuliert worden ist. Nach ihrer Annahme wurde für die Entwicklung der materiell-technischen Basis der Landwirtschaft und der mit ihr verbundenen Wirtschaftszweige Beachtliches geleistet. Die Kolchose und die Sowchose, die zwischenwirtschaftlichen und die Verarbeitungsbetriebe sind ökonomisch erstarkt, die Ertragsfähigkeit des Feldbaus und die Leistung der Viehwirtschaft haben sich erhöht. Ein Vorankommen ist zu verzeichnen, doch geht die Überwindung der Rückstände in der Landwirtschaft nur langsam vor sich. Im Agrarbereich kommt es auf eine entscheidende Wende an, damit die Lebensmittelversorgung bereits im zwölften Planjahrfünft merklich verbessert werden kann. Es wird geplant, das Wachstumstempo der Agrarproduktion mehr als zu verdoppeln und eine bedeutende Zunahme im Prokopfverbrauch von Fleisch, Milch, Obst und Gemüse zu sichern. Können wir das durchsetzen? Wir können, ja wir müssen es. Zu diesem Zweck hat die Partei zusätzliche Maßnahmen ausgearbeitet, die auf Effektivitätssteigerung aller Zweige des Agrar-Industrie-Komplexes abzielen. Sie laufen im wesentlichen darauf hinaus, die sozialökonomische Situation auf dem Lande zu verändern und Bedingungen für eine einschneidende Intensivierung und für eine garantierte Produktion von Erzeugnissen zu schaffen. Der Schwerpunkt wird auf die ökonomischen Methoden der Wirtschaftsführung, auf die Vergrößerung der Selbständigkeit und auf die Erhöhung der Verantwortung von Kolchosen und Sowchosen für die Resultate ihrer Tätigkeit gelegt. Die am nächsten gelegene Quelle für die Auffüllung der Lebensmittelbestände bietet sich mit der Verringerung der Verluste an Erzeugnissen von Feld und Farm bei Bergung, Transport, Lagerung und Verarbeitung. Hierin liegen bei uns beachtliche Reserven, und das Mehr an Konsumtionsressourcen kann sich auf 20 und bei einigen Erzeugnisarten sogar auf 30 Prozent belaufen. Auch betragen die Kosten für die Abschaffung der Verluste bloß die Hälfte, ja sogar nur ein Drittel der für die zusätzliche Produktion der gleichen Mengen an Erzeugnissen benötigten Mittel“.184 Etwa 4 Jahre später, am 15. und 16. Juli 1990, fanden Gespräche zwischen Gorbatschow, Kohl, Genscher und Waigel statt.185 184 XXVII. Parteitag der KPdSU. Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berichterstatter: M. S. Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU. 25. Februar 1986, Moskau 1986, S. 8, 11, 17, 36 f., 39 f., 41 f., 50-52. 185 15. Juli 1990. Beginn der Gespräche in Moskau. Flug Gorbatschows mit Bundeskanzler Kohl, Bundesaußenminister Genscher und Bundesfinanzminister Waigel nach Archiz im Kaukasus. 16. Juli 1990 Archiz: Besiegelung der Deutschen Einheit. Bundeskanzler Kohl,

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„Am Nachmittag des 15. Juli 1990 flog die deutsche Delegation mit Gorbatschow in einer Sondermaschine des Präsidenten nach Stavropol. Die Autos der ‚Staatsmänner der Luxusklasse‘ waren schwarz. Dem deutschen Finanzminister hatte man ein weißes kleines Importauto zugedacht. Mit im Fahrzeug saß Sitarjan. Jedenfalls hatte es unser Wagen unendlich schwer, in dieser Kolonne Schritt zu halten. Es gelang dem Fahrer nur durch mörderisches Tempo und durch rallyeartige Kurventechnik, Anschluß zu halten. Ich bin noch nie in meinem Leben unter solchen Bedingungen gefahren, man konnte wirklich sein Leben in Gottes Hand geben. Bei all diesen Gelegenheiten, auch später im Hubschrauber, brachte Sitarjan die Gespräche auf den dringenden Devisen-Bedarf der Sowjetunion. Mich verblüffte die Offenheit, mit der er mir plötzlich bisher geheimgehaltene Fakten offenbarte. Sitarjan räumte ein, die Sowjetunion habe einen kurzfristigen Bedarf von drei bis fünf Milliarden Rubel, das waren nach damaliger Rechnung etwa sieben bis acht Milliarden US-Dollar. Er gab zu, und das überraschte mich besonders, die Goldreserven würden auch zur Deckung des Devisen-Notstandes herangezogen. Die Goldproduktion müsse, so fuhr er fort, zu einem Großteil für den Kauf von Weizen verwendet werden. Jetzt war offiziell klargestellt, daß die Sowjetunion die Goldproduktion verwenden mußte, um Weizen und Mais im Ausland zu kaufen. Seit 1989 wurde der Plan nicht erfüllt, die Sowjetunion, so Sitarjan, brauche zuviel für den Konsum, die Energiepreise seien zu niedrig. Außerdem sprach er von Krediten in Höhe von 200 plus 300 Millionen Mark, die Kuwait und andere arabische Geldgeber gegeben haben. Nach dem Zwischenaufenthalt in Stavropol wurde die Reise in den Kaukasus, in das 150 Kilometer südlich von Stavropol gelegene Archiz, in drei geräumigen, geräuscharmen Hubschraubern fortgesetzt. Plötzlich landeten wir auf einem Kolchose-Feld, auf dem mehrere Mähdrescher bei der Ernte waren. Natürlich war das vorbereitet. Dennoch, was jetzt folgte, gehört zu den bewegendsten Erlebnissen in meinem politischen Leben. Es kamen uns einige Landarbeiterinnen in der Tracht des Landes entgegen und übergaben Gorbatschow und Kohl je einen Laib Brot und Salz. Gorbatschow küßte das Brot, verteilte es und bestreute es mit Salz. Helmut Kohl nahm den ihm übergebenen Laib, machte ein Kreuz darauf und erinnerte an seine Mutter, die so gehandelt habe, bevor sie ein Brot anschnitt. Wir sahen uns dann die Arbeiten auf der Kolchose an. Ich erzählte Gorbatschow, wie ich als Bauernbub über viele Jahre bei der Ernte geholfen hätte und wohl auch heute noch mit der Sense umgehen könne. Das imponierte Gorbatschow. Er bat mich zu einem gemeinsamen Foto auf einem Mähdrescher. Erstaunlich war, weit und breit sahen wir keine Scheune und keine Lagerhäuser. Ich fragte, wo das Getreide hingebracht wird, ob es mit Lastwagen wegtransportiert wird. Dann wurden die Transportprobleme schonungslos offenkundig: Die Mähdrescher entleerten den Weizen am Ende des Feldes und ließen ihn dort Bundesaußenminister Genscher und Bundesfinanzminister Waigel einigen sich im Kaukasus darauf, daß das geeinte Deutschland Mitglied der NATO bleiben kann.

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liegen. Jeder kann sich vorstellen, was mit der Ernte schon nach wenigen Tagen Schlechtwetter geschieht. Es gab keine Lagerkapazitäten, es gab keine Lastwagen, und wenn Lastwagen vorhanden waren, gab es nicht genügend Treibstoff. Insofern war auch Gorbatschow nicht mehr überzeugend, wenn er darauf verwies, er habe diese modernen Mähdrescher selber eingeführt, denn er sei ja früher für die Landwirtschaft verantwortlich gewesen“.186 Kehren wir zum XXVII. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1986 zurück. „3. Die Leitung der Wirtschaft auf das Niveau der neuen Forderungen bringen. Genossen! Die Lösung neuer Aufgaben in der Wirtschaft ist ohne tiefgreifende Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus, ohne Schaffung eines in sich geschlossenen, wirksamen und flexiblen Leitungssystems, das die Möglichkeiten des Sozialismus vollständiger zu realisieren hilft, unmöglich. Die Leitung der Wirtschaft bedarf – und das ist offenkundig – einer laufenden Vervollkommnung. Doch ist die Situation gegenwärtig so, daß man sich nicht mehr auf partielle Verbesserungen beschränken kann: Eine radikale Reform tut not. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, unsere gesamte Produktion in der Tat den gesellschaftlichen Erfordernissen, der Befriedigung des Bedarfs der Menschen unterzuordnen und die Leitungstätigkeit auf die Erhöhung der Effektivität und Qualität, auf die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, auf die Förderung des Interesses der Beschäftigten an den Arbeitsergebnissen, der Initiative und des sozialistischen Unternehmungsgeistes in jedem Bereich der Volkswirtschaft, vor allem in den Arbeitskollektiven, zu orientieren. Das Zentralkomitee der KPdSU und sein Politbüro haben die Hauptrichtungen für die Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus festgelegt. Wir stellen die Aufgabe: Die Wirksamkeit der zentralen Leitung der Wirtschaft zu erhöhen, die Rolle des Zentrums bei der Verwirklichung der wichtigsten Ziele der Wirtschaftsstrategie der Partei, bei der Festlegung des Tempos und der Proportionen der Entwicklung der Volkswirtschaft sowie bei deren Bilanziertheit zu verstärken. Gleichzeitig muß die Praxis überwunden werden, bei der sich das Zentrum in die operative Tätigkeit der untergeordneten Wirtschaftseinheiten einmischt. Der Erfolg wird in vieler Hinsicht von der Umgestaltung der Tätigkeit der zentralen Wirtschaftsorgane, vor allem des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, abhängen. Dieses muß in der Tat zum wahren wissenschaftlich-ökonomischen Stab unseres Landes werden und von den laufenden Wirtschaftsangelegenheiten entlastet sein. III. Weitere Demokratisierung der Gesellschaft, Vertiefung der sozialistischen Selbstverwaltung des Volkes. Genossen! Im Demokratismus, im lebendigen Schöpfertum der Werktätigen sah W. I. Lenin die wichtigste Entwicklungskraft der neuen Gesellschaftsordnung. Wie kein anderer vertraute er dem Volk und trug dafür Sorge, daß die politische Aktivität und die Kultur der Massen einen Aufschwung erlebten, hob er hervor, daß ein Ungebildeter außerhalb der Politik steht. 186 Waigel, Theo / Schell, Manfred: Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994, S. 37 f.

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Seit jener Zeit sind fast sieben Jahrzehnte ins Land gegangen. Unermeßlich gewachsen ist das Niveau der Allgemeinbildung und Kultur der sowjetischen Menschen, ihre sozialen und politischen Erfahrungen sind reicher geworden. Und das will heißen, daß die Möglichkeiten und das Bedürfnis eines jeden Bürgers, sich an der Leitung der Angelegenheiten von staat und Gesellschaft zu beteiligen, enorm gewachsen sind. Die Demokratie – das ist jene gesunde und reine Atmosphäre, in der der sozialistische Gesellschaftsorganismus voll gedeihen kann. Und wenn wir davon sprechen, daß das leistungsstarke Potential des Sozialismus bei uns noch nicht in vollem Maße genutzt wird, so meinen wir damit auch, daß die Beschleunigung der Entwicklung der Gesellschaft ohne die Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie, aller ihrer Aspekte und Erscheinungsformen undenkbar und unmöglich ist. IV. Die Hauptziele und Hauptrichtungen der außenpolitischen Strategie der Partei. All das erfordert die Fähigkeit, vieles neu zu überdenken und auf der Grundlage der unvergänglichen Lehre von Marx, Engels und Lenin kühn und schöpferisch an neue Realitäten heranzugehen. Das weiß die KPdSU sehr gut aus eigener Erfahrung. V. Die Partei. Die Partei kann die neuen Aufgaben nur dann erfolgreich lösen, wenn sie, selbst in kontinuierlicher Entwicklung begriffen, vom ‚Unfehlbarkeits‘-Komplex frei ist, die erzielten Ergebnisse kritisch bewertet und klar die noch zu lösenden Aufgaben erkennt. Die Verbindung der Ideologie – mit dem Leben festigen, die geistige Welt des Menschen bereichern. Genossen! ‚Ohne die […] theoretische Arbeit kann man kein ideologischer Führer sein, wie man es auch nicht sein kann, ohne diese Arbeit den Erfordernissen der Sache anzupassen, ohne die Resultate dieser Theorie […] zu propagieren […]‘.187 So lehrte uns W. I. Lenin. Der Marxismus-Leninismus ist die größte revolutionäre Weltanschauung. Er begründete das allerhumanste Ziel, das sich die Menschheit jemals gesteckt hatte, – auf der Erde eine gerechte soziale Ordnung zu schaffen. Er weist den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der gesellschaftlichen Entwicklung als eines einheitlichen und in all seiner immensen Vielfalt und Widersprüchlichkeit gesetzmäßigen Prozesses und lehrt, sich ein richtiges Bild von Charakter und Wechselwirkung ökonomischer und politischer Kräfte zu machen, die richtigen Richtungen, Formen und Methoden des Kampfes zu wählen und jähen historischen Wendungen sicher zu begegnen. Die KPdSU geht in ihrer gesamten Tätigkeit davon aus, daß die Treue zur marxistisch-leninistischen Lehre in deren schöpferischer Weiterentwicklung auf der Grundlage der gesammelten Erfahrungen besteht.

187 Lenin, W. I.: Was sind die „Volksfreunde“ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? In: Werke, Bd. 1, S. 302.

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VI. Zu den Ergebnissen der Erörterung der Neufassung des Programms und der Abänderungen am Statut der Partei. Somit ist die Einschätzung des unterbreiteten Dokuments als Neufassung des dritten Parteiprogramms real begründet und von prinzipieller Bedeutung. Die Neufassung bekräftigt die Hauptziele der KPdSU, die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des kommunistischen Aufbaus und dokumentiert zugleich die schöpferische Auswertung der gesammelten historischen Erfahrungen sowie die Erarbeitung von Strategie und Taktik in Übereinstimmung mit den Besonderheiten der heutigen Zeit, die als eine Wende zu bezeichnen ist. So und nur so werden wir das Vermächtnis des großen Lenin erfüllen können, mit Tatkraft und Einheit des Willens höher zu steigen und voranzuschreiten. Ein anderes Schicksal hat uns die Geschichte nicht zugewiesen. Aber wie herrlich ist doch dieses Schicksal, Genossen!“188 Die zwei Grundbegriffe von Gorbatschows Bemühen um Reformen sind Glasnost und Perestroika. „Glasnost (Neues Denken). Glasnost wurde im Rahmen der Reformen Gorbatschows zu einem Schlüsselbegriff. Er stand programmatisch für eine Transparenz der Entscheidungen in Politik und Wirtschaft, für die offene Behandlung von Problemen und Mißständen und für eine weitgehende Informationsfreiheit. Perestroika. Zu Deutsch: Umbau, Umgestaltung. Der Begriff wurde nach dem Amtsantritt Gorbatschows als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU im März 1985 zum Synonym für eine umfassende Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Systems der Sowjetunion“.189 Die KPdSU konnte nach Gorbatschow die neuen Aufgaben nur angehen, wenn sie vom „Unfehlbarkeits“-Komplex frei ist. Unter Stalin (1879-1953) wurden die Gegner des Wahrheitsmonopols der KPdSU physisch liquidiert. Abel Aganbegjan schildert die Rolle der Wirtschaftswissenschaftler nach Stalins Tod. „Man muß sagen, daß sich die Kritik am Stalinschen Personenkult und eine gewisse Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft in der ersten Periode des Wirkens von N. Chruschtschow (1956) besonders günstig auf die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften ausgewirkt haben. Man begann statistische Handbücher zu publizieren, neue Wirtschaftsinstitute entstanden. Besondere Bedeutung hatte die Gründung des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Ökonomie bei der Staatlichen Planbehörde der UdSSR, das wohl den besten wirtschaftswissenschaftlichen Nachwuchs unseres Landes auf sich vereinte. Der Gründer und langjährige Direktor dieses Instituts, Anatoli Jefimow, der in der Folgezeit ein angesehenes Akademiemitglied war, erreichte, daß sich das Kollektiv dieses Instituts mit den realen ökonomischen Problemen befaßte und auf der Basis von Zahlenmaterial die Faktoren und Bedingungen der ökonomischen Entwicklung untersuchte. Das Institut begann bereits Ende der fünfziger Jahre als erstes damit, Planverflechtungsbilanzen zur Entwicklung unserer Volkswirtschaft zu erarbeiten. Es war die erste wirtschaftswissenschaftliche Einrichtung, die von dem bei sich aufge188 XXVII. Parteitag der KPdSU, Moskau 1986, S. 55, 57, 120, 127 f., 152. 189 Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1997, S. 1041, 1045.

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stellten Großrechner auch wirklich Gebrauch machte. Unter der Leitung von Wassili Nemtschinow und Leonid Kantorowitsch entstand in diesen Jahren eine leistungsfähige wirtschaftsmathematische Wissenschaftsrichtung. Ihre erste Keimzelle war die Abteilung für wirtschaftsmathematische Methoden der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Gegen diese Wissenschaftsrichtung führte der konservative Flügel der Ökonomen mit dem damaligen Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Konstantin Ostrowitjanow an der Spitze einen erbitterten Kampf. Sie verboten die Veröffentlichung entsprechender Bücher und machten sogar Schwierigkeiten bei der Einberufung von Seminaren und Konferenzen“.190 Die Auseinandersetzung zwischen den konservativen Vertretern der Politischen Ökonomie des Sozialismus und den Vertretern, die glaubten, daß die auf der Basis von Marx / Engels und von Lenin begonnene und von Stalin durchgeführte (ab 1928/33) politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft durch systemstabilisierende Maßnahmen verbessert werden könne, hatte so gut wie keine Folgen für die reale Wirtschaft. In allen sozialistischen Ländern blieb alles im System. In der Ära Breschnew (1965-1982) wurden die wirtschaftlichen Probleme für den Bestand der Sowjetunion immer bedrohlicher: Die konstante Unterproduktionskrise, die Mangelversorgung von Lebensmitteln – so Gorbatschow 1986 – sollte in „kürzester Zeit“ behoben werden, 20 bis 30 % der Lebensmittel verdarben und kamen nicht beim Verbraucher an. Das Wachstum der Wirtschaft der sozialistischen Länder war ein extensives Wachstum, jetzt sollte die Intensivierung der Produktion auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit einer „jähen Wende“ zur Intensivierung erfolgen und die Verschwendung von Rohstoffressourcen sollte eingeschränkt werden. 70 Jahre nach der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ sollte die Produktion auf den Bedarf der Menschen abgestimmt werden. Im System der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft waren das utopische Ziele. M. S. Gorbatschow wies am Ende seiner Rede auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU auf das „Vermächtnis des großen Lenin“ hin. Genau hier fingen jedoch die Probleme an, die ursächlich für den determinierten Zusammenbruch der Sowjetunion waren. „Der Determinismus behauptet die Festgelegtheit von Abläufen und Ereignissen durch Gesetze. Determinismus bezeichnet nicht eine eigene Theorie oder Position, sondern ist eine verschiedensten Theorien gemeinsame Grundeinstellung, welche jedwede Offenheit oder Vielfalt von Möglichkeiten in den Prozessen leugnet, mit deren Gesetzmäßigkeit diese Theorien sich befassen. Außerhalb der Naturwissenschaften fand der Determinismus als Theorie von der unausweichlichen, gradlinigen Gesetzmäßigkeit von Entwicklungen auch dort Anhänger, wo gesellschaftliche oder historische Theorien sich am Vorbild der Na-

190 Aganbegjan, Abel: Ökonomie und Perestroika. Gorbatschows Wirtschaftsstrategien, Hamburg 1989, S. 182.

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turwissenschaften orientierten. Der Darwinismus stellt in seiner strengen Form eine solche Variante des Determinismus dar“.191 „Eine radikale Reform tut not“, so lautete die Forderung von Gorbatschow auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1986. Radikal heißt ein Bruch mit der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanung, die mit der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917“ einsetzte. Die auf der Basis von Marx / Engels von Lenin und Stalin durchgesetzte politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft („Stalinsches Industrialisierungsmodell“) war zur Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung im Westen nicht fähig. Für eine „radikale Reform“ wie sie Gorbatschow forderte, waren die Politökonomen in der Sowjetunion nicht vorbereitet, wie folgendes Beispiel zeigt. Ulrich Busch und Mathias Weber referierten in der „Wirtschaftswissenschaft“ 1989 über eine Publikation in russischer Sprache „Der XXVII. Parteitag der KPdSU und die Entwicklung des Geld- und Kreditsystems der UdSSR“.192 „Mit dem XXVII. Parteitag der KPdSU wurde eine Etappe umfassender Reformen und Maßnahmen auch auf dem Gebiet der Finanzen und des Bankwesens eingeleitet. Das dokumentiert sich unter anderem in den Beschlüssen des Zentralkomitees der KPdSU und des Ministerrates der UdSSR ‚Über die Umgestaltung des Finanzmechanismus‘ und ‚Über die Vervollkommnung des Banksystems‘. Darauf aufbauend entstand vorliegende Monographie über das Geld- und Kreditsystem in der UdSSR. Das Buch gliedert sich in 10 Kapitel und einen tabellarischen Anhang. Im ersten Kapitel behandeln die Autoren das Geld- und Kreditsystem, wie es sich unter den neuen Bedingungen, nach dem XXVII. Parteitag der KPdSU, entwickelt. Sie stellen dabei die Umgestaltung des Geld- und Kreditsystems in den Zusammenhang mit der Umgestaltung der Wirtschaft insgesamt. Sie arbeiten die Bedingungen heraus, die dazu führten, daß das Geld- und Kreditsystem stärker auf die Effektivität der Wirtschaft Einfluß nehmen muß. Probleme, die in der Vergangenheit auftragen, wie die Nichterfüllung von Planaufgaben, die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und die Existenz einer Reihe von Disproportionen, erfordern gezielte Maßnahmen zur Qualifizierung der Arbeit auf dem Gebiet von Finanzen und Kredit. Diese sind vor allem gerichtet auf: - Eine strengere Ordnung im Finanz- und Kreditsystem bei der Organisation des baren und unbaren Zahlungsverkehrs (S. 7 f.);

191 Lobkowicz, Erich: Determinismus, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): 7. Aufl., 1. Bd., Freiburg i. Br. 1995, Sp. 1211 f. An unabänderliche Gesetze der geschichtlichen Entwicklung glaubte der Historismus (Hegel, G. W. F. / Toynbee, A.). Der ökonomische Determinismus (Marx, K. / Engels, F. / Lenin: Marxismus) meinte, Gesetze aufgedeckt zu haben, durch welche eine exakte Voraussage der weiteren sozio-ökonomischen Entwicklung möglich werden sollte. 192 Busch, Ulrich / Weber, Mathias: Autorenkollektiv. Der XXVII. Parteitag der KPdSU und die Entwicklung des Geld- und Kreditsystems der UdSSR. Verlag Finansy i statistika, Moskau 1987, 217 S. russ., in: Wirtschaftswissenschaft 37, 1989, 9, S. 1415-1419.

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die Erhöhung der Rolle der Banken bei der Festlegung der Wirtschaftlichen Rechnungsführung; - die Vervollkommnung der zentralen Leitung und Planung des Geld- und Kreditsystems; - die Erhöhung der Planmäßigkeit der Ausnutzung von Geld und Kredit im Reproduktionsprozeß; - die Verstärkung des Einflusses auf die Planerfüllung und die Beschleunigung der Entwicklungstempi; - die größere Übereinstimmung von materiellen und finanziellen Prozessen; - die Erhöhung der Stabilität der Kaufkraft des Rubels. Ferner sind diese Maßnahmen auf die Lohnfondskontrolle gerichtet, auf die Verbesserung der geldwirtschaftlichen Dienstleistungen für die Wirtschaft und die Bevölkerung, auf die rationelle Verwendung des Kreditfonds des Staates und auf die Verbesserung des Kreditmechanismus in Verbindung mit der Leitungsreform in der UdSSR. Insgesamt geht es um eine wirkungsvollere Kontrolle der Wirtschaftstätigkeit der Vereinigungen, Betriebe und Einrichtungen durch den Rubel. (S. 31 f.). Die Verfasser argumentieren, ausgehend vom Charakter des sozialistischen Geldes als Kreditgeld, daß die Rolle des Kredits auch darin zum Ausdruck kommt, daß der Staat mit seiner Hilfe den Geldumlauf planmäßig reguliert, in der Zirkulation das Geld durch Banknoten ersetzen konnte und ein bargeldloser Verrechnungsverkehr entstand. In bezug auf die Betriebe ist die Arbeit der Banken vor allem auf eine Verbesserung der Endergebnisse, die Erfüllung der Lieferverträge, die planmäßige Übergabe von abgeschlossenen Bankobjekten und die ökonomische Ressourcennutzung gerichtet. (S. 19). Im dritten Kapitel behandeln die Autoren Fragen der Geldzirkulation. Ausgehend von der Feststellung des XXVII. Parteitags der KPdSU, daß der ‚Sinn und Zweck‘ der Reform der Wirtschaft nur darin bestehen kann, die ‚gesamte Produktion in der Tat den gesellschaftlichen Erfordernissen, der Befriedigung des Bedarfs der Menschen unterzuordnen und die Leitungstätigkeit auf die Erhöhung der Effektivität und Qualität, auf die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, auf die Förderung des Interesses der Beschäftigten an den Arbeitsergebnissen, der Initiative und des sozialistischen Unternehmungsgeistes in jedem Element der Volkswirtschaft, vor allem in den Arbeitskollektiven, zu orientieren‘ (‚Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der KPdSU‘, Berichterstatter: M. S. Gorbatschow, Dietz Verlag, Berlin 1986, S. 48), arbeiten sie einleitend die grundlegende Funktion der Zirkulation im sozialistischen Reproduktionsprozeß heraus. Im vierten Kapitel wird die Stellung der Banken im Leitungssystem der Volkswirtschaft behandelt. Die Banken sind integraler Bestandteil des Systems der zentralen Leitung und Planung. Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit dem Verrechnungssystem in der Volkswirtschaft der UdSSR und der Rolle der Banken in diesem System. Ausge-

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hend von Lenin wird die Bedeutung der Bank als Verrechnungszentrum des Staates herausgearbeitet. Im achten Kapitel wird das Sparwesen der UdSSR analysiert. Bei der Analyse dieser Entwicklung ist zu berücksichtigen, so die Autoren, daß ein wachsender Teil der akkumulierten Geldmittel aus nicht befriedigter zahlungsfähiger Nachfrage resultiert. (S. 180). Das neunte Kapitel ist der internationalen Zusammenarbeit und Entwicklung der Valuta-Kredit-Beziehungen gewidmet. In ihm erläutern die Autoren, ausgehend von der These des Leninschen Außenwirtschaftsmonopols, das internationale Zahlungs- und Verrechnungssystem“.193 Die Ausführungen zur Entwicklung des Geld-, Kredit- und Bankensystems haben nichts mit umfassenden Reformen und Maßnahmen in diesen Bereichen zu tun. Alles blieb im System des ersten Fünfjahresplans (1928-1932/33) der von Stalin initiiert und durchgesetzt worden war. Alle systemimmanenten Dysfunktionen waren bereits im ersten Fünfjahresplan enthalten und wiederholten sich in allen politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplänen. Diejenigen, die die „umfassenden Reformen und Maßnahmen“ wissenschaftlich begründen sollten, das Autorenkollektiv, waren in dem Marx-Engels-LeninStalin-System groß geworden und hatten keine Vorstellung vom Funktionieren einer Demokratie, von Marktwirtschaft, Privateigentum und konvertiblem Geld. Das Autorenkollektiv kannte nur das eigene System, war darin gefesselt, beschrieb die Symptome der systemimmanenten Dysfunktionen und schilderte dann eine heile sozialistische Wirtschaft ohne Dysfunktionen. Man müsse nur das grundsätzlich richtige System des Sozialismus „vervollkommnen“, (so der Stalinsche Ausdruck) dann würde alles funktionieren, so der Trugschluß des russischen Autorenkollektivs. Außenminister Hans-Dietrich Genscher besuchte vom 20. Bis 22. Juli 1986 den neuen Generalsekretär der KPdSU M. Gorbatschow in Moskau. Er berichtet darüber in seinen Erinnerungen: „Die weitere Entwicklung zeigte, daß gerade die Festigkeit der Regierung Kohl / Genscher in Verbindung mit ihrer Verhandlungsbereitschaft den Weg für ein neues West-Ost-Verhältnis geebnet hatte. Als Michail Gorbatschow 1993 gefragt wurde, welches Ereignis die Wende in der Sowjetunion und vor allem den Umschwung in Richtung neues Denken in den OstWest-Beziehungen herbeigeführt habe, der NATO-Doppelbeschluß194 oder

193 Ende der Besprechung von Busch und Weber. 194 Nato-Doppelbeschluß. Durch den Nordatlantik-Rat als oberstem Organ der NATO herbeigeführter Beschluß vom 12. Dezember 1979 über die Modernisierung der nuklearen Mittelstreckenwaffen, der INF. Gleichzeitig mit der Modernisierung wurden der Sowjetunion Rüstungskontrollverhandlungen angeboten; Gegenstand dieser Verhandlungen sollten die nuklearen Mittelstreckenwaffen beider Seiten sein. Der NATO-Doppelbeschluß führte zum INFAbkommen.

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SDI,195 antwortete er: ‚Es war der NATO-Doppelbeschluß und nicht SDI, das wir so bewerteten wie Hans-Dietrich Genscher‘. Das sicherheitspolitische Ringen um den NATO-Doppelbeschluß in der Bundesrepublik Deutschland war auch ein Kampf um Europa. Die Entscheidung des Bundestages wurde für den 21. Und 22. November anberaumt. Vor der Debatte stärkte mir am 18. November der 34. Bundesparteitag der FDP noch einmal den Rücken. Mit drei Vierteln der Stimmen sprachen sich die Delegierten für meine Sicherheitspolitik aus, das heißt auch für den NATODoppelbeschluß. Gänzlich anders das Bild bei der SPD: Bei nur vierzehn Gegenstimmen und drei Enthaltungen lehnte der vierhundert Delegierte zählende SPDParteitag am 19. November1983 die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen ab. Für diesen Beschluß plädiert hatte der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, dagegen der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der Parteitag bestätigte, was schon 1982 deutlich geworden war. Auch in der Sicherheitspolitik wären wir, der sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt und die Regierungskoalition, an der SPD gescheitert, hätten wir uns zu einer Fortsetzung der Koalition aus FDP und SPD entschlossen. Die Bundesdebatte am 21. Und 22. November 1983 wurde zu einer Grundsatzdebatte über die Fragen der Entspannungs-, der Sicherheits- und der Außenpolitik. Am Ende bestätigte das Parlament die Durchsetzung des Doppelbeschlusses. Die Erklärung, die Gorbatschow mir gegenüber im Dezember 1993 gab, bestätigte, daß der Bundestag mit seinem Ja zur Stationierung zehn Jahre zuvor eine Entscheidung von weitreichender Wirkung getroffen hatte. Sie brachte die sowjetische Führung neue Einsichten und bewirkte am Ende durch die konsequente Fortsetzung der deutschen realistischen Entspannungspolitik tatsächlich die Beseitigung aller nuklearen Mittelstreckenraketen in West und Ost. Darüber hinaus nahm auch die grundlegende Wende, die ihren Höhepunkt in den Ereignissen der Jahre 1989/90 fand, ihren Ausgang. Gorbatschow kam auf den Parteitag zu sprechen, der vom 25. Februar bis zum 6. März 1986 in Moskau stattgefunden hatte. Dort seien die Linien für die weitere Entwicklung festgelegt worden. Wenn man jedoch im Westen erwarte, daß die Sowjetunion ihre Position opfern und kapitulieren werde, dann täusche man sich. Wenn hingegen beide Seiten zu Kompromissen bereit seien, werde die Sowjetunion mitwirken. Bisher allerdings habe sie keine adäquaten Antworten auf ihre 195 SDI (Strategie Defense Initiative). Strategische Verteidigungsinitiative genanntes Forschungsprogramm der USA zur Entwicklung eines modernen strategischen Defensivsystems gegen ballistische Raketen. Das am 28. März 1983 von US-Präsident Reagan vorgestellte Projekt wurde auch als „Star Wars-Programm“ bezeichnet (Krieg der Sterne), da die Bekämpfung der Interkontinentalraketen überwiegend im Weltraum und zum Teil bereits über gegnerischem Territorium erfolgen sollte. INF-Verhandlungen. Die Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über die nuklearen Mittelstreckenwaffen (Intermediate Range Nuclear Forces) endeten mit dem INF-Abkommen vom 8. Dezember 1987, in dem die vollständige weltweite Abschaffung der landgestützten nuklearen Mittelstreckenwaffen beider Staaten mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern beschlossen wurde.

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Initiativen erhalten; offensichtlich erwarte der Westen weitere Zugeständnisse von Moskau in dem Glauben, die Sowjetunion werde noch mehr Konzessionen machen; erst dann scheine man ihr antworten zu wollen. Das indes, warnte er, sei Zeitvergeudung. Hier deutete sich an, was Ende 1989 und 1990 noch klarer werden sollte: Gorbatschow war zu einem grundlegenden Richtungswechsel der sowjetischen Politik bereit, bestand aber darauf, daß Tempo und Ausmaß auf seine eigenen Entscheidungen zurückgingen. Sie dürften nicht von außen aufgezwungen erscheinen. Dennoch: Das Bild der Sowjetunion in den deutschen Medien, beschwerte sich der Generalsekretär, sei zu kritisch. Unsere Medien seien unabhängig, erwiderte ich. Auch mit deutschen Politikern gingen sie keineswegs unkritisch um. Im Gegenteil: Es gebe bei uns Politiker, die froh wären, wenn sie eine so günstige Presse hätten wie der Generalsekretär. So frei sei es in der Bundesrepublik nun auch nicht, konterte er mit dem Hinweis auf den Radikalenerlaß. Meine Entgegnung, in sowjetischen Diensten hätte ich auch noch keinen eingeschriebenen Liberalen entdeckt, quittierte er mit einem freundlichen Lachen, um gleich wieder zur inneren Lage der Sowjetunion überzugehen. Er sprach über das Recht auf Arbeit, Wohnung, Nahrung, medizinische Versorgung und Bildung, das leider allzu viele zu der Annahme verführe, man könne gut leben, ohne sich anzustrengen. Dies sei ein echtes Problem des Sozialismus. Das war nach meinem Eindruck und meinen Erfahrungen aus früheren Gesprächen mit sowjetischen Führern nun wirklich eine erstaunliche, ja geradezu sensationelle Feststellung für einen Generalsekretär der KPdSU. Lachend warf ich ein, er habe eben die Probleme des Sozialismus wie ein Liberaler definiert. Ernst fuhr ich fort: Man dürfe die Unterschiede nicht verwischen. Gorbatschow sei Kommunist, ich Liberaler; dennoch hätten wir gemeinsame Aufgaben zu bewältigen. Und in unserem Land, das könne ich ihm versichern, gebe es keine Feindseligkeiten gegenüber der Sowjetunion. Schewardnadse und ich seien beispielsweise gestern auf dem Flugplatz von deutschen Touristen auf das freundlichste begrüßt worden. Wieder kam Gorbatschow auf die Schilderung der innersowjetischen Probleme zurück. In der Sowjetunion habe man eine völlig neue Entwicklung in Gang gesetzt, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Das Volk erwarte nun von ihm, daß er im Lande Ordnung schaffe, den Lebensstandard verbessere und in der Welt für Frieden sorge. Sollte die Bundesrepublik sich entschließen, an einem solchen Prozeß aktiv teilzunehmen, werde man das begrüßen. Dabei gehe es auch um neue Formen der Zusammenarbeit, überdies sei Moskau an globaler Stabilität interessiert. In der Sowjetunion allein lebten 280 Millionen Menschen. Intern habe er den Eindruck, man gehe mit der Lage im Land eigentlich schon kritischer um, als das Ausland es tue: Aus der geschlossenen Gesellschaft der alten Sowjetunion sei plötzlich eine offene geworden. Offensichtlich aber hänge man auch in den USA falschen Vorstellungen über die Sowjetunion an. Was die Gewichtung von NATO-Doppelbeschluß und SDI anging, schien uns, daß Gorbatschow der Pershing II mehr Bedeutung beimaß als SDI. Sieben

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Jahre später, im Dezember 1993, sollte er in einem Gespräch nach dem Mendener Forum, das von dem Unternehmer Ulrich Bettermann veranstaltet wurde, bestätigen, daß der NATO-Doppelbeschluß die eigentliche Ursache für den Kurswechsel in der sowjetischen Außenpolitik gewesen war. ‚SDI haben wir dagegen so wenig ernst genommen wie Sie‘, erklärte er an mich gewandt. Plötzlich stellte Gorbatschow sich selbst eine Frage: Wie komme es, daß man militärisch und in der Raumfahrt mit den Amerikanern mithalten könne, in der Versorgung der Bevölkerung jedoch so viele Probleme habe? Darauf habe er noch keine Antwort. Ich war überrascht. Ein solches Eingeständnis, persönlich wie sachlich, hatte ich bei einem führenden Repräsentanten der Sowjetunion noch nie erlebt. Mitterrand hatte schon recht: Hier war ein neuer Typ eines sowjetischen Führers“.196 Gorbatschow erwies sich mit seinen Reformen als großer Staatsmann. Als er das Amt des Generalsekretärs der KPdSU 1986 übernahm, blickte er in einen tiefen Abgrund, der für ihn eine Zwangssituation darstellte. Die Nachfolger von Stalin standen vor dem Abgrund, blickten aber nicht in die Tiefe des Abgrundes. Sie schoben die Probleme vor sich her, die sich immer mehr zuspitzten und bedrohlicher wurden. Die große staatsmännische Leistung von Gorbatschow besteht darin, daß er maßgeblich dazu beitrug, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion, der DDR und der anderen sozialistischen Volksdemokratien weitgehend friedlich und ohne großes Blutvergießen erfolgte. Abel G. Aganbegyan197 berichtet im Juli 1989 in Genf bei der UNCTAD über die radikalen Reformen in der UdSSR:198 I should like to begin by saying that restructuring in the USSR, i. e. perestroika, is a complete process taking place on many planes, which must always be considered in the unity of its different aspects. We conceive of perestroika as a revolutionary transformation of our society: changes in its foreign and domestic policies, in the field of human rights, in its political system, in ideology, in our views of contemporary processes. We are transforming our political and legal system, the sphere of culture. Of course, as an economist, I consider the most important thing in perestroika to be the transformation of the basis of society – the economy. It seems to me that our leaders, or at

196 Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, München 1997, S. 427, 430, 501 f., 507. 197 Academician Abel G. Aganbegyan, one of the principal economic advisers of the Government of the USSR, was born in Tbilisi, Georgian SSR, in 1932, and has been a member of the USSR Academy of Sciences since 1961. He joined the Institute of Economics and Industrial Engineering in Novosibirsk, which is the Siberian branch of the USSR Academy of Sciences, in 1961, first as a Professor and afterwards as its Director. In 1985, he turned to Moscow and became Chairman of the Academy’s Committee for Study of Productive Forces and Natural Resources. Since 1986, he has been Head of the Economic Branch of the USSR Academy of Sciences, and an economic adviser to Mikhail Gorbachev, General Secretary of the Soviet Communist Party Central Committee and President of the USSR Supreme Soviet. 198 Aganbegyan, Abel G.: Restructuring in the USSR and international economic relations. 4th Raúl Prebisch Lecture. July 1989. United Nations Conference on Trade and Development.

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least many of them, do not entirely realize this and in their immediate activities do not give it the attention it deserves. We are advancing at different speeds in the various processes of perestroika. You will agree, I am sure, that enormous progress has been made in foreign policy and in disarmament. Radical changes have occurred as regards democratization and glasnost. All of us, or at least all Soviet citizens, were glued to our television sets, excitedly watching the work of the First Congress of Peoples’ Deputies, which laid the basis for a political reform that was quite unimaginable even five years ago. Tremendous alterations have taken place in culture, in the activity of the mass media. In the economy, however, the changes are unfortunately proceeding more slowly than we expected and than we would like. The economic situation in the country is unfavourable, although here too there are positive changes associated with the profound reversal in economic thinking. In the past, we considered the term “market economy” a dirty word but today we look upon it as a desired goal. Such words as “shares”, “leasing” and many others are for us new economic terms that have become part of our vocabulary. In the first part of my lecture I shall review what has actually happened in the economy during the four years of perestroika and the main future trends in the restructuring of our economy. The second part of the lecture will be devoted to changes in international economic relations relevant to the inclusion of our country in the world economy. Perestroika in the economy is taking place in four basic areas. The first is the social reorientation of our development, the effort to turn our entire national economy towards man, towards the satisfaction of his needs. The second area concerns changing the factors and sources of economic growth. In the past, our economy was developed primarily by extensive means, through the application of additional production resources, and attention was mostly directed towards the dimension of production, towards expanding the sphere of production, whereas now we want to turn to intensive methods and develop by improving efficiency and quality, making the technological revolution the key source of development. Our standard of living will ultimately depend on how well we can increase the effectiveness and productivity of labour. The third area in which perestroika is proceeding is of decisive importance, being indispensable for the first and second: the reform of economic management, the transition from the administrative-command system, involving such elements as a market, material economic interest, incentives. And the fourth area is the transition from a relatively closed type of economy to a more open economy linked to the world economy. Let us look at the problems in each of these four areas, beginning with those associated with the social reorientation of our economic development. We must sadly recognize that the standard of living of our people does not correspond to the position of our country in the world, its industrial might, the level of development of its science and technology, and the generally high level of education of its population. Our people are living worse than they could be. The last 15 to 20 years before perestroika, the years of stagnation, were particularly unfavourable. During that period, more than half of the gross national product went into capital

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investment – which ist excessive for our country – investment used for bringing into production more and more resources, for greater and greater expansion of production. In addition, there were large military inputs. On the other hand, only a small part of the gross national product went for consumption by the population, particularly personal consumption. Consequently, the main justification for perestroika and the principal area of its operation is the reorientation of economic development. It is essential to change the structure of the economy radically and to turn its face towards man and his needs. Let us look at some specific facts and figures. What changes have taken place during perestroika? Before perestroika, capital investment in the production sphere rose twice as fast as in the social sphere. Over the four years of perestroika, capital investment in the social sphere has risen 2.5 times faster than in the production sphere. In the next five years, it is planned to reduce capital investment in production by 10 per cent while increasing capital investment in the social sphere by 50 per cent. A 15 per cent reduction of capital investment in industries producing capital goods is to be accompanied by a doubling of investment in industries which work for man, namely the light and food industries, and in the production of other consumer goods and services. Thus, major structural changes are already visible and even bigger ones are expected. Over the 20 years prior to perestroika, the volume of housing construction per 1.000 persons fell 30 per cent. Over the four years of perestroika, this indicator has risen 20 per cent and a growth of 40 per cent is planned for the next five-year period. Before perestroika, the proportion of the gross national product spent on public health and education fell steadily. Over the four years of perestroika, that proportion has risen by 35 to 40 per cent. Both overall and child mortality have started to decline. The quality of education has improved, inter alia, as a result of a one-time boost of 40 per cent in teachers’ salaries. Although some movement towards the redistribution of resources in favour of man is visible from these data, in a spirit of self-criticism it must be admitted that we have not succeeded in improving the people’s diet. For the last three years our agriculture has been marking time and, as before, we are compelled to buy food abroad in ever greater quantities. A richly endowed country, having the world’s best soils, which in the past exported grain, butter and other foodstuffs, always known for their high quality, can no longer feed itself. The most difficult and important question is that of the convertibility of the rouble. This requires a number of prerequisites, some of which depend on an appropriate convertibility into our currency. We realize that our official exchangerate for the rouble does not reflect reality, and starting in 1991 we intend to establish a new, more realistic exchange-rate. As to statistics, trade and customs figures are being made increasingly available. We have already published, admittedly under condensed headings, our military expenditures, the costs of outer-space programmes and the amount of the debt. We are changing our statistical methodology and going over to the System of National Accounts”.199

199 Ebd., S. 3-6, 19.

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4.3.3. Wissenschaft und Technologie in der Sowjetunion Zu dieser Problematik hat Christoph Mick im „Handbuch der Geschichte Rußlands“ 2003 einen grundlegenden Beitrag verfasst der hier wortwörtlich stark verkürzt und ohne Fußnoten wiedergegeben wird. „Grundzüge und statistische Angaben. Zu Beginn der perestrojka war der Rückstand der Sowjetunion im Bereich moderner Technologien und Wissenschaften wie Mikroelektronik oder Genetik – um nur die bekanntesten zu nennen – immens. Für die Erfolge in Wissenschaft und Technik zahlte die UdSSR einen hohen Preis. Aufwand und Ertrag standen in einem ungünstigen Verhältnis. Das erklärte Ziel, die Vereinigten Staaten einzuholen und zu überholen, rückte nicht näher, ja der Abstand zwischen der Führungsmacht des westlichen Lagers und der Sowjetunion vergrößerte sich in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur ökonomisch, sondern auch technologisch und wissenschaftlich. Obwohl die angewandte Forschung den Löwenteil der Finanzmittel erhielt, war der Rückstand hier größer als in der Grundlagenforschung. Koževnikovs Aussage muß somit relativiert werden. Insgesamt acht sowjetische Wissenschaftler erhielten den Nobelpreis und das bei pro-Kopf-Ausgaben für Wissenschaft und Technik, die weit über denen der Vereinigten Staaten lagen. Die höchsten Wachstumsraten für wissenschaftliche Ausgaben wurden unter Chruščev erreicht. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre wuchs das Wissenschaftsbudget jährlich um 15 Prozent. Mitte der 1980er Jahre betrugen die Steigerungsraten noch 8 Prozent, 1976 1,7 Prozent und schließlich zwischen 1981 und 1984 nur noch 1,2 Prozent. Dieser Entwicklung entspricht, daß die produktionstechnisch folgenreichsten Erfindungen in den 1950er (34 Prozent) und 1960er Jahren (46 Prozent) gemacht wurden. In den 1980er Jahren, als in einer zweiten Welle der viel beschworenen ‚wissenschaftlich-technischen Revolution‘ entscheidende Fortschritte auf den Gebieten Mikroelektronik, Informatik und Biotechnologie gemacht wurden, konnte die Sowjetunion den Anschluß an das Weltniveau nicht mehr halten. Dagegen entwickelte sich z. B. die Mikroelektronik in den Vereinigten Staaten nicht in Großforschungszentren, sondern durch das marktgesteuerte Zusammenspiel zahlreicher kleiner Unternehmen. Der Rückstand der Sowjetunion in vielen Wissenschafts- und Technologiebereichen wurde auch in der Führung und unter Wissenschaftsmanagern diskutiert. Doch welche Kriterien auch immer zugrunde gelegt werden: unzweifelhaft verfügte die Sowjetunion bei ihrer Auflösung über den größten Wissenschaftsapparat der Welt. Wissenschaft und Ideologie. Welchem Wissenschaftsverständnis waren die Politiker verpflichtet, die über dieses gewaltige Forschungspotential verfügten? Aus bolschewistischer Sicht ließen sich Wissenschaft und Technik nicht voneinander

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trennen. Die technische Verwertung galt als eigentliches Ziel der wissenschaftlichen Forschung. Die Bolschewiki200 teilten den ungehemmten Glauben von Marx und Engels an die Segnungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Die ‚fortgeschrittenste Gesellschaftsordnung‘ sollte auch über die fortgeschrittenste Technologie verfügen. Technisierung war das Gebot der Stunde und fand seinen spektakulären Ausdruck in Lenins Plan, das ganze Land schnellstmöglich zu elektrifizieren. Sowohl Lenin als auch Stalin betonten die Einheit von Natur- und Sozialwissenschaften. Beide Wissenschaftsbereiche seien aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die Natur zu beherrschen und in Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten künftige Entwicklungen zu beeinflussen. Ihre gemeinsame Methode sei der dialektische, respektive historische Materialismus. In den Humanwissenschaften stand der Klassencharakter der Wissenschaft außer Frage. Für die Bolschewiki bestimmten die soziale Basis und der Klassenstandpunkt die Ergebnisse der Forschung. Die Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in bürgerlichen Gesellschaften galten als Ideologieproduzenten im Dienste der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Nur der fortgeschrittenste und umfassendste, also der proletarische Klassenstandpunkt sei objektiv und biete die Gewähr für ‚wahre‘ Erkenntnis. Die Forderung nach Parteilichkeit der Wissenschaft hat hier ihren Ursprung. Der Zusammenhang von Theorie und Praxis war ein weiterer Kernpunkt des Wissenschaftsverständnisses. Alle Theorien hatten sich in der Praxis zu beweisen. Für die Sozialwissenschaften hieß dies, daß die Validität ihrer Theorien davon abhing, ob sie den Klassenkampf voran brachten. In den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften war daher die ideologische Kontrolle ungleich stärker als in den Natur- und Technikwissenschaften. Die größte Gefahr für die Naturwissenschaften ging in den 1930er und 1940er Jahren aber nicht von professionellen Philosophen, sondern von drittklassigen Wissenschaftlern aus (Lysenko). Eine rigide Kontrolle wie in den Human- und Geisteswissenschaften war in Feldern wie der modernen Physik, Mathematik oder Chemie nicht möglich. Psychologen und Physiologen hatten bereits 1962 auf einer Allunionskonferenz kontrovers diskutiert, wie neue Forschungsmethoden und Erkenntnisse (z. B. aus Kybernetik und Informationstheorie) sich mit dem Diamat und der Vorstellung von einer materiellen Basis des Bewußtseins vereinbaren ließen und ob an Pavlovs Reflextheorie als allgemeiner Grundlage festgehalten werden konnte. Ergebnis der

200 Bolschewiki: Historische Bezeichnung für die Mitglieder der KPdSU. Der Begriff entstand 1903 auf dem II. Parteitag der SDAPR, als die um Lenin gescharten revolutionären Marxisten bei den Wahlen zu den zentralen Parteiinstitutionen die Mehrheit (russisch „bolschinstwo“) errangen und deshalb „Bolschewiki“ wurden, während die opportunistische Minderheit (russisch „menschinstwo“) die Bezeichnung „Menschewiki“ erhielt. Auf der VI. Gesamtrussischen Parteikonferenz 1912 in Prag wurden die Menschewiki ausgeschlossen, und die B. formierten sich zur SDAPR (B), 1918 in KPR (B), 1925 in KPdSU(B) umbenannt. Der XIX. Parteitag (1952) beschloß, die Partei künftig KPdSU, ohne den historisch überholten Zusatz (B), zu nennen.

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Diskussion war ein begrenzter Pluralismus, der bis zum Ende der Sowjetunion Bestand hatte. In den siebziger und achtziger Jahren reichte das Spektrum von Anhängern der alten Lehre von dem bestimmenden Einfluß der sozialen Umgebung auf menschliches Verhalten bis zu Wissenschaftlern, die den Erbanlagen Priorität einräumten. Im Marxismus-Leninismus angelegt war allerdings eine Bevorzugung der Umwelteinflüsse. Zwar wurde der universelle Charakter der Naturwissenschaften damit bereits in den 1960er Jahren akzeptiert, aber die Unterschiede zwischen sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaft wurden weiterhin herausgestrichen. Zum einen bedeutete dies eine besondere Verantwortung für die Wissenschaftler in der Sowjetunion, zum anderen war nach herrschender Lehre die sowjetische Gesellschaft Garant dafür, daß die technischen Errungenschaften auch den Menschen zugute kamen. Demgegenüber stand nach offizieller Lesart der Fortschritt im Kapitalismus im Dienste des Profits und trug zur Arbeitslosigkeit bei. Außerdem hemmte der Wettbewerb zwischen kapitalistischen Unternehmen den Fortschritt, da sie Forschungsergebnisse voreinander geheimhielten. Dagegen würden im Sowjetsystem Wissenschaftler und Konstrukteure ihre Erkenntnisse zum Nutzen des sozialistischen Aufbaus freiwillig miteinander teilen. Die Behauptung von der hierin begründeten Überlegenheit des Sozialismus wurde auch später trotz der hohen Informationsbarrieren gebetsmühlenartig wiederholt. Auch die Planung wurde gegenüber der als chaotisch eingestuften Marktwirtschaft als Vorteil gesehen. Von Lenin bis Gorbačev gingen alle Parteiführer von der Planbarkeit des technologischen Wandels aus. Die Sowjetunion rechtfertigte ihre Existenz nicht zuletzt damit, daß der Sozialismus sowjetischer Prägung bessere Voraussetzungen für den wissenschaftlichen Fortschritt böte als der Kapitalismus. Wissenschaft und Technik gehörten nicht nur wegen ihrer ökonomischen Implikationen zu den zentralen Kampfplätzen der Systemkonkurrenz, sondern auch wegen ihrer Legitimationsfunktion für die Herrschaft der kommunistischen Partei. Dies zeigte sich auch in den Diskussionen über die ‚wissenschaftlich-technische Revolution‘ in den 1970er und 1980er Jahren. Die Versuche, ethisch-weltanschauliche und wissenschaftliche Fragen voneinander zu trennen, hatten in der Sowjetunion emanzipatorischen Charakter. Sie beruhten auf der Erfahrung ideologischer Einmischungen in die Forschungspraxis während der Stalinzeit. Als progressiv galt in der Ethikdebatte der 1970er Jahre – anders als im Westen – die Betonung der Wertfreiheit von wissenschaftlicher Forschung. Nach und nach wurde die Verbindung von Naturwissenschaft und Ideologie aufgelöst. Unter Gorbačev verlor der Marxismus-Leninismus schließlich als Grundlage sowjetischer Ethik und die Referenz auf den dialektischen Materialismus als Beleg für die methodische Korrektheit wissenschaftlicher Arbeiten an Bedeutung. Der neue Generalsekretär gebrauchte eine humanistische Rhetorik, die auf die gesamte Menschheit rekurrierte und nicht mehr Parteilichkeit verlangte. Der neue Präsident der Akademie der Wissenschaften, G. Marčuk, rannte daher offene Türen ein, als er auf der 19. Allunionskonferenz der KPdSU im Juli 1988 eine größere Unabhängigkeit für die Wissenschaft forderte.

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Probleme und Reformversuche. Die sowjetische Wissenschaftsorganisation hatte von Anfang an mit systemisch bedingten Schwierigkeiten zu kämpfen. Neben der bereits behandelten Einmischung der Ideologie in wissenschaftliche Probleme waren dies die Abhängigkeit von ausländischem Know-how und Innovationshemmnisse, die durch die rigiden Geheimhaltungsbestimmungen und Spezifika des Plansystems verursacht waren. Anhängigkeit von ausländischem Know-how. Die sowjetische Technologieentwicklung war auf ausländisches Know-how angewiesen. Dies ist keineswegs ungewöhnlich, sondern gilt für alle Länder. Doch von Anfang an geriet die Internationalität der Wissenschaft mit der sowjetischen Lagermentalität in Konflikt. Die Besonderheiten lagen darin, daß durch die jahrzehntelange Abschottung vom Ausland die sowjetische Wissenschaft zeitweise aus der internationalen scientific community herausgelöst war und dadurch der grenzüberschreitende Informationsfluß fast zum Erliegen kam. Die sowjetische Führung versuchte diese selbst verschuldete Isolation auf verschiedene Art zu kompensieren. Am wenigsten wichtig war Spionage, die aber in der ausländischen Öffentlichkeit wegen ihres spektakulären Charakters am stärksten rezipiert wurde. Zwar jagten diverse Geheimdienstorganisationen ausländischen Forschungsergebnissen hinterher, doch waren die Erfolge der Spionage nicht entscheidend für die Technologieentwicklung. Allerdings beschleunigten sie den Forschungsprozeß. So hätten die sowjetischen Wissenschaftler auch ohne den Zufluß von Geheimdienstinformationen eine Atombombe konstruieren können, aber wahrscheinlich um einiges später. Nicht die Lösung theoretischer Fragen bereitete dem Atomprojekt Schwierigkeiten, sondern die Schaffung der industrietechnischen Voraussetzungen und die Produktion waffenfähigen Urans oder Plutoniums. Beides konnte nur mit gewaltigem Ressourceneinsatz erreicht werden. Wirkungsvoller als Spionage war der Technologietransfer durch alliierte lend lease Lieferungen während des Krieges, den Kauf ausländischer Lizenzen oder technisch überlegener Geräte, die dann in einem reverse engineering nachgebaut und in adaptierter Form in die Produktion übernommen wurden. Auch der Sieg über Deutschland brachte einen Zufluß an Fachleuten und Fachwissen. Die Branchenministerien schickten Abgesandte die um dort technischen Entwicklungen der Kriegszeit nachzuspüren und deutsche Experten ausfindig zu machen. Patentunterlagen, Projektskizzen, Geräte und Prototypen wurden in die Sowjetunion gebracht und dort untersucht und ausgewertet. Gleichzeitig wurden Konstruktionsbüros in der SBZ eingerichtet und deutsche Fachleute angeworben, die sowjetischen Experten ihr technisches Wissen vermittelten. Zwischen 1945 und 1947 wurden dreitausend deutsche Fachleute meist zwangsweise in die Sowjetunion gebracht, um dort beim Aufbau demontierter Anlagen zu helfen und den Technologietransfer fortzusetzen. Ihr wichtigster Beitrag für die sowjetische Technologieentwicklung lag in der Vermittlung der deutschen Rüstungstechnik der Kriegszeit. Das geistige Potential deutscher Spitzenforscher wurde aber nur für einen relativ kurzen Zeitraum genutzt. Die Fachleute waren weitgehend isoliert vom

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sowjetischen Forschungsprozeß und wurden meist bereits 1949/50 von Geheimarbeiten abgezogen. Die Sowjetunion hat zwar durch diesen Technologietransfer einen sektoralen Modernisierungsschub bekommen, wie z. B. bei der Raketentechnik und in der optischen Forschung, doch blieben in anderen Bereichen die langfristigen Effekte hinter den Erwartungen zurück. Weder stand genügend ausgebildetes Personal zur Verfügung, noch war – im Unterschied zu Deutschland und den Vereinigten Staaten – eine gewachsene Produktions- und Forschungskultur vorhanden, die auch risikoreiche Innovationen förderte. Nicht vergessen werden darf bei der Bewertung dieses Technologietransfers die materielle Kriegsbeute. Zahlreiche neuartige Geräte kamen dadurch in die Sowjetunion und wurden in Labors eingesetzt oder konnten am Objekt – wie z. B. Strahlflugzeuge oder auch komplette V2-Raketen – studiert werden. Zur Entwicklung der ersten sowjetischen Atombombe haben die deutschen Experten dagegen nur einen geringen Beitrag geleistet. Nach Stalins Tod würde der wissenschaftliche Austausch mit kapitalistischen Staaten besser. Gleichzeitig wurden die Forschungskapazitäten der sozialistischen Bruderländer intensiv genutzt. Chruščevs Doktrin von der Möglichkeit der friedlichen Koexistenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten sicherte die Hinwendung zu Technologieimporten ideologisch ab. Diese Position war aber nicht unumstritten. Die sowjetische Technologieentwicklung – so die Argumentation der Kritiker – werde nicht durch Kopien ausländischer Muster, sondern nur durch eigene Forschungen vorangebracht. Auch Akademiepräsident A. N. Nesmejanov befürwortete zwar intensive Wissenschaftsbeziehungen, aber nur solange sie nicht auf Kosten der eigenen Forschung gingen. Nur durch eine Stärkung der Grundlagenforschung könnten neue Technologien entwickelt werden. Die Sowjetunion konnte aber – und das war auch Nesmejanov klar – nicht auf die Zufuhr ausländischer Technologie verzichten. Aufmerksam wurde beobachtet, was in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa auf den Gebieten Atomenergie, Elektronik, Mechanisierung, Automatisierung und Maschinenbau geschah. Nach Chruščevs Sturz 1964 flammte die Diskussion erneut auf, in welchem Ausmaß Technologieimporte notwendig waren. Unbestritten war nur der Ausbau ökonomischer und wissenschaftlicher Kontakte mit den sozialistischen Bruderländern. Brežnev trat energisch für eine Verbesserung der ökonomischen Integration im sozialistischen Lager ein. Nur dadurch konnten die sozialistischen Länder mit der stürmischen wissenschaftlich-technischen Entwicklung Schritt halten. Dagegen herrschte Uneinigkeit über die Politik, die gegenüber dem kapitalistischen Ausland zu verfolgen war. Wissenschaft und Technologie waren dabei Teil der allgemeinen Wirtschaftsstrategie. Kosygin setzte sich nachdrücklich dafür ein, die ökonomischen Kontakte zu intensiveren und damit auch den Wissenschaftsbeziehungen mit kapitalistischen Ländern neue Dynamik zu verleihen. Durch den Kauf ausländischer Lizenzen, so Kosygin, könnten hunderte Millionen Rubel Entwicklungskosten eingespart werden. Möglich wurden solche Bestrebungen erst 1958 durch die Aufweichung des Technologieboykotts, den die USA und ihre Verbündeten während des Koreakrie-

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ges gegen die Sowjetunion verhängt hatten. Die Einfuhr militärisch direkt oder indirekt nutzbarer Technologie aus dem Einflußbereich der USA wurde allerdings nach der Kubakrise wieder schwieriger. Der politische und ökonomische Wettkampf der Systeme war ein wichtiger Antrieb für die sowjetische Wissenschafts- und Technologiepolitik. Ohne Einbeziehung der internationalen Politik und das Studium der außenpolitischen Vorstellungen der Sowjetführung sind auch deren wissenschaftspolitische Maßnahmen nicht zu verstehen. Die sowjetische Führung orientierte ihre Politik an der Führungsmacht im kapitalistischen Lager, den USA, die sie als Referenzsystem betrachtete. Naturwissenschaft und Technik waren eine Arena, in der sich der Wettbewerb zwischen den Lagern abspielte und sich schließlich die Überlegenheit des sowjetischen Gesellschaftsmodells herausstellen sollte. Die Prioritätensetzung in Wissenschaft und Wirtschaft wurde von der Systemkonkurrenz stark beeinflußt. Sie reagierte einerseits auf Entwicklungen in den USA, andererseits war das jeweilige Gewicht, das dem Rüstungssektor beigemessen wurde, abhängig vom Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und dem Verlauf der Rüstungskontrollgespräche. Gegenseitiges Mißtrauen herrschte allerdings während der gesamten Brežnev-Zeit. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Prager Frühling wurden die USA sogar verdächtigt, durch Propagierung ihrer wissenschaftlichen und technischen Erfolge die sozialistischen Länder in ihren Einflußbereich ziehen zu wollen. Innovationshindernisse. Die Parzellierung von Information galt nicht nur für den Wissenschaftsbereich, sondern auch für andere Teilbereiche der Gesellschaft und stützte das hierarchisch strukturierte System. Die Geheimhaltungsmanie erschwerte die Binnenkommunikation erheblich, konnte aber durch die spezifische Organisationsform teilweise kompensiert werden. Im Vergleich zum Westen war das Invisible College über viele Universitäten und Labors verstreut, während in der Sowjetunion alle Forscher zu einem bestimmten Themenbereich umfaßte, so daß die Kommunikation gar nicht die Institutsgrenzen überschreiten mußte. Das änderte aber nichts daran, daß Informationen über neue wissenschaftliche Ergebnisse und technologische Verfahren zu langsam zu den Wissenschaftlern und Konstrukteuren gelangten. Dies galt nicht nur für Nachrichten aus dem Ausland, sondern genauso für Informationen über einheimische Entwicklungen. Immer wieder wurde versucht, das Kommunikationsproblem auf organisatorischem Weg zu lösen. 1952 wurde ein AII-Unions-Institut für Wissenschaftlich-technische Information (Vsesojuznyj institut naučno-techničeskoj informacii, VINITI) gegründet, das vor allem für den zivilen Bereich in- und ausländische wissenschaftliche Publikationen und unveröffentlichte Manuskripte beschaffte, aufbewahrte und verbreitete. Zu diesem Zweck gab das Institut Zeitschriften, Indices und Bulletins heraus. 1971 übernahm das Allunionsinstitut für Interbrancheninformation (Vsesojuznyj institut mežotraslevoj informacii, VIMI) diese Aufgaben für den militärischen Sektor. Neben diesen beiden Institutionen waren eine Vielzahl von Instituten und Abteilungen an der Informationsvermittlung beteiligt. Die Mauer zwischen ziviler und militärischer Forschung konnte durch die Informationsvermittlung aber nicht abge-

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baut werden. Der große Aufwand war notwendig, da auch ein Markt für Informationen fehlte und für die Verbreitung administrative Kanäle geschaffen werden mußten. Die Konzentration der Wissenschaftsverlage in Moskau behinderte die Publikation wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. In der Hauptstadt arbeiteten zwar nur 6 Prozent der Kandidaten (Promovierte), aber dort erschienen 57 Prozent aller wissenschaftlichen Periodika. Von den Zeitschriften der Akademie wurden gar 82 Prozent in Moskau verlegt. Das dauernde Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und angewandter Forschung fand seine Fortsetzung in der Innovationsproblematik. Ohne Einführung in die Produktion blieben auch die Ergebnisse anwendungsorientierter Forschung volkswirtschaftlich bedeutungslos. Der langsame Innovationsprozeß war daher ein Dauerbrenner in der Debatte über Industrie- und Wissenschaftsorganisation. Denn stärker als in westlichen Industrieländern lag in der Sowjetunion das Schwergewicht auf der Ausnutzung und Weiterentwicklung bewährter Muster. Eng damit verbunden war ein starker Druck in Richtung auf Vereinfachung und Standardisierung. Die Signale, welche die Wissenschaftler und Konstrukteure von der politischen Führung empfingen, waren widersprüchlich. Einerseits hatten diejenigen Wissenschaftler gute Aussichten, bei der Ressourcenzuteilung begünstigt zu werden, die schnelle Erfolge versprachen und ambitiöse Projekte vorlegten, andererseits bevorzugten Industriemanager Innovationen, die den Produktionsprozeß nicht durcheinander brachten. Sie beharrten auf bewährten Verfahren. Immer wieder wurde versucht, die Einführung neuer Technologien in den Produktionsprozeß zu beschleunigen, die Reformen stießen aber jedesmal an die Grenzen des Plansystems. Keine Anreize und keine Reform waren geeignet, das grundlegende Dilemma zu beheben. Die Werksleitungen und Industriemanager wollten ihre Pläne erfüllen und hatten kein Interesse daran, sich den gewohnten Produktionsablauf durch risikoreiche Innovationen stören zu lassen, die Zeit kosteten und die Prämien der Arbeiter und Manager gefährdeten. Eine gewisse Gewähr für Erfolge boten nur leichte Modifikationen erprobter Entwicklungen. Durch die Kriegserfahrungen wurde diese Tendenz noch verstärkt. Im Krieg waren technische Innovationen nachrangig. Einfachheit der Produktion und Höhe des Produktionsausstoßes standen im Vordergrund. Die Industriemanager übernahmen aber auch in Friedenszeiten neue Technologien nur unter großem Druck. Dies führte zu einer überlangen Reifungszeit, bis Erfindungen in die Produktion eingeführt wurden. Ende der 1970er Jahre wurden in den Vereinigten Staaten 66 Prozent, in der Bundesrepublik Deutschland 64 Prozent, in der Sowjetunion aber nur 23 Prozent der Erfindungen innerhalb der ersten beiden Jahre nach ihrem Zustandekommen in die Produktion übernommen. Ein weiteres Grundproblem sowjetischer Innovationspolitik war die Fragmentierung der Innovationsentscheidungen, die hauptsächlich über vertikale Kanäle liefen. Bisweilen benötigte die Planbürokratie Jahre, bis ein Vorschlag angenommen und Ressourcen bereitgestellt wurden. Von Anfang an neigten die bol’ševiki zu großformatigen Lösungen. Zentralisierte Großforschung entsprach dem System am

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meisten. Dahinter stand der Glaube an die Überlegenheit der Planwirtschaft. Der Zentralisierungswahn und die hypertrophen bürokratischen Apparate schadeten der Industrieforschung. Bei all den Problemen verwundert es nicht, daß die neue Wissenschaft der Kybernetik und die Fortschritte der Computertechnik in der Sowjetunion der 1960er und 1970er auf große Resonanz stieß, erhoffte man sich doch davon – allerdings vergeblich – die Lösung der Planungsprobleme“.201 4.3.4. Nur Anpassung sichert das Überleben in der Evolution Die Anpassung ist in der langen Evolution das Entscheidende, wie Jonathan Kingdon herausgearbeitet hat. „Dieses Buch begann mit einer einfachen Idee. Alle Tiere passen sich an die Umweltbedingungen an und diese sind wandelbar. Jede Art ist die Summe dieser Anpassungen. Für Menschen, definitionsgemäß werkzeugherstellende Tiere, wurden diese evolutiv wirksamen Lebensumstände mehr und mehr erschaffen. […] Ohne Werkzeuge wäre die Vorgeschichte unheimlich leer, die Feinheiten der Technologie bilden die Grundlage des Verständnisses der Vielfalt und der Verbreitung vergangener und heute existierender Völker. Werkzeuge und Methoden ließen Menschen Gebiete besiedeln, in die sie ohne diese Erfindungen nie hätten vordringen können. Als sich die ersten modernen Menschen weltweit ausbreiteten, fanden sie technische Lösungen für lokale Probleme. Warme Kleidung, Wasserbehälter, Boote, besondere Ernährungstechniken und der gezielte Einsatz von Feuer und Rauch machten die Kolonisation sonst unbewohnbarer Gebiete, abschreckender Lebensräume oder unerreichbarer Kontinente und Inseln erst möglich. In ihrer adaptiven Antwort auf diese Herausforderungen überlebten nur die Besten, und obwohl technische Entwicklungen so schnell ablaufen, brauchte es viel Zeit und langfristige Isolation, bis sich die geänderten Lebensweisen in abgewandelten Allelfrequenzen manifestierten. Viele Generationen mußten leben und vergehen, bis die Werkzeuge die genetischen Grundlagen ihrer Produzenten merklich veränderten und selbst dann war ihr Einfluß nur indirekt. Neuentwickelte Techniken stellen den Menschen auch heute noch vor Herausforderungen, haben aber keine physischen Anpassungen mehr zur Folge. Die Evolution unserer eigenen Stammeslinie ist durch zunehmend schnellere kulturelle Veränderungen gekennzeichnet; diese waren aber anfangs langsam genug, um die Formenvielfalt moderner Populationen herauszubilden. Schon die Vorfahren des modernen Menschen hatten verschiedene Formen der Feuernutzung entwickelt, Geräte und Waffen verbessert, sowie Schutz vor den Unbilden der Elemente in Kleidung und Hütten gefunden. Sie veränderten die Umwelt, indem sie Fischzäune errichteten oder jährlich die Vegetation abbrannten. Sie entwickelten

201 Mick, Christoph: Wissenschaft und Technologie, in: Plaggenborg, Stefan (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 5, 1945-1991. II. Halbband, Stuttgart 2003, S. 907-970. Der Beitrag umfaßt 63 Seiten mit 247 Fußnoten.

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einfache Zeichen zu abstrakten Kommunikationssignalen weiter und besaßen u. U. schon Flöße oder Boote. Einige der größten Umweltrisiken – Hunger, Feinde und extreme Klimabedingungen – waren so schon gemildert oder beseitigt, bevor der moderne Mensch die Bühne betrat. Erectus- und Heidelberger-Vertreter hatten ihre Werkzeuginventare vergrößert und dadurch auch die damit nutzbaren Nahrungsressourcen. Man nahm bisher allgemein an, daß die Werkzeuge des Acheuléens, die denen des Mittelpaläolithikums vorausgingen, Produkte des Erectus sind, aber bis heute ist nicht sicher, wer die Steingeräte des Acheuléens und des Mittelpaläolithikums benutzte. Dies gilt besonders für Zeiten, wo beide Werkzeugtypen gleichzeitig vorkommen. Werkzeuge, die sich oft nicht leicht bestimmten Kategorien zuordnen lassen und über die man, abgesehen von ihrem Fundort, keine weiteren Informationen hat, können vom Erectus, vom Heidelberger oder sogar vom modernen Menschen benutzt worden sein. Ist Anpassung real? Im Jahr 1775 verkündete Immanuel Kant, daß Menschen und ihre Rasse das Ergebnis von Anpassungsvorgängen sind. Er glaubte, daß diese ganz real und übernatürlichen Erklärungsversuche falsch sind. Als er die Menschen in vier Gruppen einteilte, folgte er seinem Zeitgenossen Linnaeus; im Gegensatz zu diesem betrachtete er aber jede Gruppe als das Produkt unterschiedlicher Klimaregionen. Indem er allen Himmelsrichtungen unterschiedliche Temperaturen und Feuchtigkeitsgrade zuordnete, ‚entdeck