Der Zusammenbruch der alten Ordnung?: Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in Deutschland und Europa 351512506X, 9783515125062

Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat, Kapitalismus und Neoliberalismus – der Diskurs über den sich verändernden Spann

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Der Zusammenbruch der alten Ordnung?: Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in Deutschland und Europa
 351512506X, 9783515125062

Table of contents :
INHALT
(Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt)
Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in
Deutschland und Europa. Historische und konzeptionelle Annäherungen
ZUR TRANSFORMATION DES ÖKONOMISCHEN UND SOZIALEN ZEITBEWUSSTSEINS SEIT DEN 1970ER JAHREN
(Hans-Ulrich Thamer)
Ein neues Zeitalter der Extreme? Ordnungsvorstellungen und
Krisennarrative in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
(Philipp Ther)
1989 und die globale Hegemonie des Neoliberalismus
»WOHLSTAND FÜR ALLE«? SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT UND »WIRTSCHAFTSWUNDER« IN DER BUNDESREPUBLIK NACH 1949
(Friedrun Quaas)
Ideen- und Wirkungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft
(Ursula Nothelle-Wildfeuer)
Die Katholische Soziallehre als Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.
Konvergenzen und Divergenzen zweier Konzepte
(Benedikt Brunner)
Zwischen konstruktivem Beitrag und Fundamentalkritik.
Kapitalismusdeutungen im westdeutschen Protestantismus in der
frühen Bundesrepublik
(Markus Goldbeck)
»Unregierbarkeit« im Wohlfahrtsstaat. Über das Verhältnis von Staat
und Gesellschaft in den 1970er Jahren
SYSTEMKONKURRENZ ALS KATALYSATOR DES SOZIALSTAATS UND DIE TRANSFORMATION VON WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT NACH 1989/90
(Jörg Roesler)
Die Bundesrepublik und die DDR. Ungleiche Konkurrenten
im Wettbewerb der Systeme
(Ines Weber)
Kontinuitäten, Wandlungen und Widersprüche. Das politische Denken
Robert Havemanns
(Christopher Banditt)
Sozioökonomische Lagen ostdeutscher Arbeitnehmerhaushalte
in der Systemtransformation
(Marcus Böick)
Wie neoliberal war der Umbau Ostdeutschlands nach 1990?
Über ideenpolitische Reorientierungen der politischen Linken
nach dem »Utopieverlust«
LES »TRENTE GLORIEUSES«. EUROPÄISCHE WOHLFAHRTSREGIME IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS IM VERGLEICH
(Ilona Ostner)
Übersteigerte Wohlfahrtsstaatlichkeit? Schweden und die Niederlande
zwischen Modell und Krise
(Almuth Ebke)
Thatcher als Zäsur? Die IWF-Krise 1976, gesellschaftliche
Ordnungsvorstellungen und das Narrativ des »British Decline«
(Massimiliano Livi) Das italienische Welfare und die Krise eines regulativen und machtpolitischen Instruments
REPRÄSENTATIONEN, SUBJEKTIVE ANEIGNUNGEN UND SEMANTIKEN IM NEUEN KAPITALISMUS
(Cornelia Koppetsch)
Soziale Ungleichheiten. Die Mittelschicht und die Zukunft des
demokratischen Kapitalismus
(Lisa Suckert)
Die Wirtschaftskrise als Chance der Kapitalismuskritik?
Von den Schwächen des ›neuen‹ Kapitalismus und der Schwierigkeit,
diese zu benennen
(Cora Rok)
Survival of the fittest. Akteure der neuen Arbeitswelt zwischen
Konformismus und Widerstand in aktuellen literarischen und
filmischen Inszenierungen
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

Citation preview

NASSAUER GESPRÄCHE

DER ZUSAMMENBRUCH DER ALTEN ORDNUNG? DIE KRISE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAF T UND DER NEUE K APITALISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA Herausgegeben von Christoph Lorke und Rüdiger Schmidt

Franz Steiner Verlag

NASSAUER GESPRÄCHE DER FREIHERR-VOM-STEIN-GESELLSCHAFT Band 11 Herausgegeben von der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V., Schloss Cappenberg Geschäftsstelle: Karlstr. 33, 48147 Münster www.freiherr-vom-stein-gesellschaft.de

DER ZUSAMMENBRUCH DER ALTEN ORDNUNG? DIE KRISE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAF T UND DER NEUE K APITALISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA

Herausgegeben von Christoph Lorke und Rüdiger Schmidt

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12506-2 (Print) ISBN 978-3-515-12511-6 (E-Book)

INHALT Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt

Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in Deutschland und Europa. Historische und konzeptionelle Annäherungen

9

ZUR TRANSFORMATION DES ÖKONOMISCHEN UND SOZIALEN ZEITBEWUSSTSEINS SEIT DEN 1970ER JAHREN Hans-Ulrich Thamer

Ein neues Zeitalter der Extreme? Ordnungsvorstellungen und Krisennarrative in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

33

Philipp Ther

1989 und die globale Hegemonie des Neoliberalismus

53

»WOHLSTAND FÜR ALLE«? SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT UND »WIRTSCHAFTSWUNDER« IN DER BUNDESREPUBLIK NACH 1949 Friedrun Quaas

Ideen- und Wirkungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft

87

Ursula Nothelle-Wildfeuer

Die Katholische Soziallehre als Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Konvergenzen und Divergenzen zweier Konzepte

109

6 INHALT

Benedikt Brunner

Zwischen konstruktivem Beitrag und Fundamentalkritik. Kapitalismusdeutungen im westdeutschen Protestantismus in der frühen Bundesrepublik

127

Markus Goldbeck

»Unregierbarkeit« im Wohlfahrtsstaat. Über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den 1970er Jahren

151

SYSTEMKONKURRENZ ALS KATALYSATOR DES SOZIALSTAATS UND DIE TRANSFORMATION VON WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT NACH 1989/90 Jörg Roesler

Die Bundesrepublik und die DDR. Ungleiche Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme

169

Ines Weber

Kontinuitäten, Wandlungen und Widersprüche. Das politische Denken Robert Havemanns

191

Christopher Banditt

Sozioökonomische Lagen ostdeutscher Arbeitnehmerhaushalte in der Systemtransformation

213

Marcus Böick

Wie neoliberal war der Umbau Ostdeutschlands nach 1990? Über ideenpolitische Reorientierungen der politischen Linken nach dem »Utopieverlust«

235

LES »TRENTE GLORIEUSES«. EUROPÄISCHE WOHLFAHRTSREGIME IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS IM VERGLEICH Ilona Ostner

Übersteigerte Wohlfahrtsstaatlichkeit? Schweden und die Niederlande zwischen Modell und Krise

263

Almuth Ebke

Thatcher als Zäsur? Die IWF-Krise 1976, gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und das Narrativ des »British Decline«

295

INHALT 7

Massimiliano Livi

Das italienische Welfare und die Krise eines regulativen und machtpolitischen Instruments

315

REPRÄSENTATIONEN, SUBJEKTIVE ANEIGNUNGEN UND SEMANTIKEN IM NEUEN KAPITALISMUS Cornelia Koppetsch

Soziale Ungleichheiten. Die Mittelschicht und die Zukunft des demokratischen Kapitalismus

341

Lisa Suckert

Die Wirtschaftskrise als Chance der Kapitalismuskritik? Von den Schwächen des ›neuen‹ Kapitalismus und der Schwierigkeit, diese zu benennen

361

Cora Rok

Survival of the fittest. Akteure der neuen Arbeitswelt zwischen Konformismus und Widerstand in aktuellen literarischen und filmischen Inszenierungen

383

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

405

Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt

DIE KRISE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT UND DER NEUE KAPITALISMUS IN DEUTSCHLAND UND EUROPA Historische und konzeptionelle Annäherungen

T

homas Pikettys »Kapital im 21. Jahrhundert« hat nunmehr auch fünf Jahre nach seinem Erscheinen an Aktualität kaum eingebüßt. In seinem Buch hat der französische Wirtschaftswissenschaftler auf die Zusammenhänge zwischen einer steigenden Vermögenskonzentration und einem ungeregelten Kapitalismus hingewiesen; die Reaktionen, die nicht nur Zustimmung zum Ausdruck brachten, zeigten in aller Deutlichkeit, dass dessen Ausführungen zweifellos den Nerv der Zeit trafen.1 Doch nicht nur die Befunde zur Vermögensungleichheit und ihrer historischen Entwicklung, sondern auch andere Überlegungen »zum Sozialen« erlebten seither eine Renaissance. Diese deuten auf einen düsteren Erwartungshorizont, ein Gefühl zunehmender Unbeherrschbarkeit und stetig schwindender Handlungsmöglichkeiten: Die Debatte über »Modernisierungsverlierer«, um nur ein Beispiel zu nennen, also die explizite Bezugnahme auf exkludierte Bevölkerungsteile, deren Existenz ungewisse Folgen für die Legitimation demokratischer Gesellschaften nach sich zöge, befindet sich seit geraumer Zeit auf der politischen Agenda. Auch die Thematisierung einer sich zunehmend vergrößernden »Schere« zwischen »arm« und »reich«, das häufig bemühte

1 Siehe Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014; vgl. auch ders., Öko-

nomie der Ungleichheit. Eine Einführung, München 22016. Vgl. zur Diskussion unter anderem Julian Bank, Leerstelle in der wirtschaftspolitischen Debatte? Die Piketty-Rezeption und Vermögensungleichheit in Deutschland, in: Ethik und Gesellschaft (2016), 1, S. 1–31.

10 Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt

Bild einer »bedrängten« Mittelschicht2 und Warnungen vor den unabsehbaren Folgen aktueller Verteilungskonflikte3 könnten ebenfalls in die lange Reihe besorgter Sozialdiagnosen eingereiht werden, die keineswegs nur auf Deutschland beschränkt sind, und sich in den letzten Jahren noch einmal verschärft zu haben scheinen.4 Euro- und Schuldenkrise, der »Brexit« und ein grassierender Rechtswie Linkspopulismus in Europa, »PEGIDA« und die jüngsten Wahlerfolge der »Alternative für Deutschland«,5 die mit Verve geführten Diskussionen um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Enteignung von Immobilienkonzernen oder die Forderung nach der Verstaatlichung privater Firmen: »Das Soziale« polarisiert wie selten zuvor, gängige Ordnungs- und Orientierungsentwürfe, überkommene Sinnstiftungs- und Identifizierungsangebote, (schein-)konsensuale gesellschaftliche Leitideen werden zunehmend hinterfragt und sind unübersehbar ins Wanken geraten. Diese gegenwärtigen, gleichwohl diffusen und schwer zu greifenden Beobachtungen sind Ausgangspunkt des nachfolgenden Sammelbandes, der sich der jüngeren Vorgeschichte sowie den aktuellen Ausprägungen und Nachwirkungen jener Konfliktlagen widmet. Dabei geht es den einzelnen Aufsätzen um je zeitgenössische Erwartungshaltungen und Erfahrungshorizonte, Brüche und Zäsuren, aber auch um Kontinuitäten und Persistenzen hinsichtlich unterschiedlicher Begriffskonstruktionen, die als normative semantische Setzungen soziale und ökonomische Entwicklungen beschreiben. Zudem geht es darum, interdisziplinäre Überlegungen zum Gegenstand anzustellen und perspektivisch disziplinenübergreifend zu bearbeiten. Dazu sind in diesem Band AutorInnen nicht nur aus den Geschichts-, sondern ebenfalls aus den Wirtschaftswissenschaften, der Theologie, Literatur- und Politikwissenschaft sowie der Soziologie versammelt. In den Blick genommen werden von ihnen aus den je spezifischen Blickrichtungen die Attraktivität jener sozialen Beschreibungsformeln und Ordnungsentwürfe zu bestimmten Zeiten, aber auch ihre Offenheit und Umstrittenheit, Kompatibilität und Aneignungsmodi. Welche Konstruktionsprinzipien, Eigenlogiken und Repräsentationsformen, so möchten wir fragen, lagen und liegen geläufigen Sozialdeu-

2 Siehe nur Bernhard Vogel, Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen,

Hamburg 2009; Herfried Münkler, Mitte und Maß: Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010; Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Bonn 2015. 3 Marcel Fratzscher, Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird, München 2017. In globaler Perspektive sind zentral für diese Zusammenhänge August Deaton, Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen, Stuttgart 2017; Branko Milanovic, Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization, Cambridge 2016. 4 Für eben jenes Unbehagen in (ost-)europäischer Perspektive steht die Veröffentlichung von Ivan Krăstev, Europadämmerung. Ein Essay, Berlin 2017. 5 Vgl. nur jüngst Norbert Frei u. a., Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019 oder Cornelia Koppetsch, Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld 2019.

DIE KRISE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT UND DER NEUE KAPITALISMUS 11

tungen zugrunde, wie haben sich diese historisch gewandelt? Wo liegen die Ursprünge des Nachdenkens über bestimmte Ordnungskonzeptionen und welche Konsequenzen wären daraus für eine vergleichende, über die Disziplingrenzen hinausreichende Zeitgeschichte solcher Ordnungsentwürfe zu ziehen? Neben den Begriffen der »Sozialen Marktwirtschaft« und des (Neuen) »Kapitalismus«, von denen weiter unten noch die Rede sein wird, ist eine besondere Brisanz gerade für den des »Neoliberalismus« zu erkennen. Einige Historiker haben zuletzt zurecht angemahnt, der Begriff – der grob gesprochen die Existenz sozialer Ungleichheit als Movens wirtschaftlichen Wachstums einer Gesellschaft hervorhebt und Elemente wie Marktradikalität, Entsolidarisierung oder auch eine Ethnisierung sozialer Konflikte6 umfasst – sei eine inhaltlich diffuse, häufig abwertend genutzte ideologische Benennung,7 ja eine »politische Kampfvokabel«,8 der deshalb von der zeithistorischen wie sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung eine gleichsam nüchtern-reflektierte wie analytische Verwendung verlangt. Insofern kann dieser Band nicht nur als Beitrag zur Ideen- und Politikgeschichte des Neoliberalismus gesehen werden, den Doering-Manteuffel ins Zentrum seines »dritten Zeitbogens« gestellt hat,9 sondern ganz generell als ein Versuch, jene konzeptionell-begrifflichen Ausdeutungen, Bedeutungsverschiebungen, Problematisierungen, die Reichweite von Labeln sowie Narrativdynamiken zu erfassen.10 Um jenen Sozialkonstruktionen in ihrer je zeitgenössischen Prägung und ihrem Nachwirken nachzuspüren, werden im Folgenden vier Ebenen miteinander verschränkt.

6 Christoph Butterwegge, Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)

Politik, in: ders. / Bettina Lösch / Ralf Ptak (Hg.), Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 32017, S. 123–200; vgl. auch den »Klassiker« der Literatur zum Thema: Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011; Paul Mason, Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie, Frankfurt a. M. 2016; Simon Springer / Kean Birch / Julia MacLeavy (Hg.), The Handbook of Neoliberalism, New York 2016 sowie zuletzt Quinn Slobodian, Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge/London 2018 und Paul Nolte, A Different Sort of Neoliberalism? Making Sense of German History since the 1970s, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington 64 (2019), S. 9–25. 7 Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S. 54. 8 Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler, Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 13–36, hier S. 24. 9 Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), 3, S. 321–348. 10 Vgl. etwa die Ausführungen bei Christoph Conrad, Die Sprachen des Wohlfahrtsstaates, in: Stephan Lessenich (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe: Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt a. M. 2003, S. 55–69.

12 Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt

»Wohlstand für alle«? Soziale Marktwirtschaft und »Wirtschaftswunder« in der Bundesrepublik nach 1949 Der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat, der seit Mitte der 1950er Jahre allmählich Gestalt angenommen, eine stetige Expansion erlebt und an der Wende zu den 1970er Jahren seinen Höhepunkt gefunden hatte, bündelte sich – angefangen von der Bismarckschen bis zur Weimarer Sozialgesetzgebung – nicht nur sozialpolitische Strömungen des späten 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit. Relativ günstige ökonomische Ausgangsbedingungen, die vor allem durch den Marshallplan stimuliert worden waren, unterstützten den Siegeszug der Sozialen Marktwirtschaft und beförderten darüber hinaus jenes »Wirtschaftswunder«, das verschiedenen konvergenten Entwicklungen zu verdanken war – diese Entwicklungen waren freilich keineswegs Selbstverständlichkeiten. Im Lichte einer landesweit dramatischen sozialen Lage nach dem Krieg, einer Vielzahl besonders Schutzbedürftiger, wie Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegsopfer und schweren materiellen Verwüstungen, machte schnell die Rede von der »Volksnot« oder »Volksarmut« die Runde.11 Die heute in Rückblicken nicht selten visionär wie affirmativ rekonstruierte, weitgehende institutionelle Restauration der bewährten Sozialversicherungssysteme und Durchsetzung konzeptioneller Leitbilder verlief jedoch alles andere als reibungslos. Vielmehr war der Wiederaufbau des Sozialen zunächst Gegenstand überaus konfliktreicher Aushandlungs- und Selbstverständigungsprozesse zwischen den bürgerlichen Parteien auf der einen und der SPD bzw. den Gewerkschaften auf der anderen Seite. Letztere präferierten zunächst noch einen »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus, stützten sich aber dabei mit ebenso großer Bestimmtheit auf den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft, wie es die Bundesregierung tat. Gerade diese begriffliche Kompatibilität und Unschärfe war der Grund für den großen zeitgenössischen Erfolg dieser Leitformel, die gleichzeitig Zukunftsversprechen und Antwort war auf die Erfahrungen einer gescheiterten Sozial- und Wirtschaftspolitik Weimarer Prägung. So konnte der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft letztlich »als parteipolitisch gebundener Wertbegriff, als theoretisches Konzept und als Beschreibung einer historisch wandelbaren Praxis«12 reüssieren und eine breite (Nach-)Wirkung entfalten.13 Der Terminus fungierte in der Nachkriegsbundesrepublik als zunehmend popularisierter Werbe- und Kampfbegriff, der die bundesdeutsche Bevölkerung wie auch die Opposition gegen sozialistische Bestrebungen immunisieren und auf

11 Zu den Anfängen bundesdeutscher Sozialpolitik Hans Günter Hockerts, Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Sozialreform 32 (1986), 1, S. 25–41. 12 Hans Günter Hockerts / Günter Schulz, Einleitung, in: dies (Hg.), Der »Rheinische Kapitalismus« in der Ära Adenauer, Paderborn 2016, S. 9–28, hier S. 14. 13 Vgl. den Beitrag von Friedrun Quaas in diesem Band.

DIE KRISE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT UND DER NEUE KAPITALISMUS 13

den neuen Kurs einschwören sollte. Ziel der Formel – laut Günter Schulz »kein einstimmiger gregorianischer Choral, sondern eher ein mehrstimmiges Madrigal«14 – war es nicht zuletzt, etwaige Bedenkenträger mit der Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen zu versöhnen und zugleich Vorwürfen kapitalistischer Restauration dezidiert entgegenwirken zu können.15 Der Wirtschaftshistoriker Bernhard Löffler, der die symbolpolitische Seite des Begriffs en détail betrachtet hat, spricht gar von einer »affirmative[n] rhetorische[n] Figur«, einem »genial vereinfachende[n] Werbelabel und propagandistischen Medienprodukt«.16 Anvisiert war damit ein Wert- und Ordnungssystem, das grundsätzlich (und trotz konfessionell teils stark abweichender Akzentsetzung) christlich fundiert war, also sich am selbstbestimmten, sozial verantwortlich handelnden Menschen orientierte. Eine solche Ausrichtung sollte, so die damit verbundenen Hoffnungen, wiederum zu einer Steigerung der Produktivität und allgemeinem Wohlstand führen.17 Neben die Macht der Tradition und pfadabhängige Kontinuitäten vereinten sich außerdem ordoliberale Denkanstöße, also des Prinzips der Freiheit auf dem Markt, mit Einflüssen der US-amerikanischen Besatzungsmacht sowie des Sozialkatholizismus. Letzterer machte sich für eine Implementierung von Grundsätzen wie Solidarität und Subsidiarität stark, also der Nachrangigkeit und Eigenverantwortung, wobei eine sozialstaatliche Leistung erst dann gewährt werden sollte, wenn alle anderen Einkommensarten oder Unterhaltsmöglichkeiten ausgeschöpft waren.18 Leitgedanke und zentrale Zielvorstellung war die Herstellung eines allgemeinen Wohlstandes, wobei Fragen nach Art, Ausmaß und Dauer staatlicher Regulierung und Intervention große parteipolitische Differenzen offenlegten (Eigenvorsorge vs. Kollektivsorge, privat-individualisierte

14 Günter Schulz, Soziale Marktwirtschaft in der historischen Perspektive. Eine Einführung, in: Historisch-Politische Mitteilungen 4 (1997), S. 169–174, hier S. 171. Siehe ferner Bernhard Emunds / Hans Günter Hockerts (Hg.), Den Kapitalismus bändigen. Oswald von Nell-Breunings Impulse für die Sozialpolitik, Paderborn 2015. Nell Breuning sprach von »sozial temperierten Kapitalismus«, lehnte die kapitalistisch-marktwirtschaftliche Ökonomie nicht ab, wollte aber die kapitalistische Klassengesellschaft überwinden und den Kapitalismus bändigen. 15 Hockerts/Schulz, Einleitung, S. 17. 16 Bernhard Löffler, Ökonomie und Geist. Ludwig Erhard, die Intellektuellen und die Ideengeschichte des europäischen Neoliberalismus, in: Michael Hochgeschwender (Hg.), Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche in der Adenauerzeit, Bonn 2011, S. 74–102, hier S. 75. Zum Begriff der Sozialen Marktwirtschaft und dessen integrativen Kraft vgl. auch Mark Spoerer, Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: Thomas Hertfelder / Andreas Rödder (Hg.), Modell Deutschland: Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 28–43, aus politikwissenschaftlicher Perspektive Martin Nonhoff, Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt »Soziale Marktwirtschaft«, Bielefeld 2006. 17 Siehe zu diesen Aspekten die Beiträge von Ursula Nothelle-Wildfeuer und Benedikt Brunner in diesem Band. 18 Vgl. Michael S. Aßländer / Peter Ulrich (Hg.), 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel, Bern 2009, S. 175–194.

14 Christoph Lorke / Rüdiger Schmidt

vs. gesellschaftlich-solidarisierte Sozialpolitik, Freiheit vs. Gleichheit).19 Zwar avancierte spätestens mit der »Godesberger Wende« der SPD das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu einer parteipolitisch wie ideologisch umfassenden Verständigungsformel, doch sollte die Sozialdemokratie künftig weit stärker am Keynesianismus ausgerichtet bleiben. Frappierendes Resultat war somit eine überaus variationsreiche Verwendung des Begriffs bis wenigstens in die 1980er Jahre, vermutlich gar über die Zäsur 1989/90 hinweg, die aber zumindest einen weitgehend unerschütterlichen Grundkonsens schuf: Denn im Gegensatz etwa zum angloamerikanischen Raum lagen die sozialpolitischen Geschicke mit der CDU/CSU und der SPD bei zwei großen Sozialstaatsparteien – die sich freilich just dieser Tage damit konfrontiert sehen, dass ihr Charakter als »Volksparteien« im Niedergang begriffen scheint.20 Ungeachtet aller skizzierten Abweichungen hinsichtlich der begrifflichen Aneignung, Adaption und Aufladung: Die sozialstaatlichen Erfolge lesen sich im Rückblick zweifellos beeindruckend: Manfred Schmidt spricht bezüglich der Jahre 1957 bis 1974 völlig zutreffend von einer Phase des expansiven Sozialstaates.21 Begünstigt war die Expansion des Wohlfahrtsstaates, die ihren Höhepunkt in der Großen Koalition und in den ersten Jahren der sozialliberalen Koalition haben sollte, von einem außergewöhnlich großen Wirtschaftswachstum und somit überaus günstigen Rahmenbedingungen. »[D]ie Euphorie der Expansion schien Grenzen des Risikos nicht zu kennen«22 – so stieg der Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt (die sogenannte Sozialleistungsquote) von 1960 bis

19 Oliver Nachtwey, Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party, Wiesbaden 2009, S. 132 f.; siehe zu den grundlegenden parteipolitischen Konflikten auch Timo Grunden, Nach dem Machtwechsel der Politikwechsel? Die Frage der sozialen Gleichheit in christdemokratischer und sozialdemokratischer Steuer- und Haushaltspolitik 1994–2002, Duisburg 2004, bes. S. 45–53. 20 Oliver Nachtwey, System ohne Stabilität: Der Niedergang der Volksparteien, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 64 (2019), 2, S. 95–102. 21 Hier und im Folgenden Manfred G. Schmidt, Der deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012; vgl. für Fragen der Periodisierung und der sozialstaatlichen Ausgestaltung auch ausführlich ders. / Tobias Ostheim / Nico A. Siegel u. a. (Hg.), Der Wohlfahrtsstaat: Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2007; Alexander Nützenadel, Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik, in: Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck (Hg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 119–138. Die Ausführungen beziehen sich außerdem auf Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Teil 3: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Herstellung der Deutschen Einheit, München 1993. Verwiesen sei außerdem auf die einschlägigen 11 Bände zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Baden-Baden 2001–2008. 22 Paul Nolte, Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München 2006.

DIE KRISE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT UND DER NEUE KAPITALISMUS 15

1975 von 18 auf gut 26 Prozent.23 In Zeiten des »Konsenskapitalismus«24 war Sozialpolitik Konsensstifterin, profitierten Arbeitnehmer von den allgemein guten wirtschaftlichen Entwicklungen, partizipierten am Wohlstand und dem Ausbau sozialer Interventions-, Sicherungs- und Präventionssysteme, während die Unternehmerseite die stabile Nachfrage an Konsumgütern zu schätzen wusste. Dominierten schon zuvor wirkmächtige Selbstdeutungsentwürfe wie Helmut Schelskys »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« oder die »Bolte-Zwiebel«,25 so bildeten sodann Schlagworte wie »Vollbeschäftigung« – bis 1973 lag die Zahl der offenen Stellen, mit Ausnahme des Jahres des ersten Konjunktureinbruchs 1967, über derjenigen der Arbeitslosen – und dem »importierten« Label der »Überflussgesellschaft« (John Kenneth Galbraith) denjenigen Deutungsrahmen und Erwartungshorizont, den manche Zeitgenossen hoffnungsfroh von einem »Sieg über die Armut« träumen ließen.26 Der Nutzen und die Machbarkeit staatlicher Steuerung, so etwa auch der Eingriff im Falle des Auftretens konjunktureller Krisen, stand im Zentrum sozialpolitischen (Zukunfts-)Agierens und hieß immer auch Überzeugung und Glaube an eine Planbarkeit der Stabilisierung von Prosperität.27 Dieses insgesamt ausgesprochen zukunftsoptimistische Leitbild in Zeiten des »Schönwetter-Sozialstaats«28 könnte aus heutiger Sicht leicht waghalsig und illusionär, vielleicht überheblich oder gar naiv erscheinen; für den Zeitgenossen jedoch war das Symbol der »Goldenen Uhr« nach 50 Jahren Betriebszugehörigkeit, also die Annahme lebenslanger stabiler Beschäftigungsverhältnisse, wenn auch keine Selbstverständlichkeit, dann doch wenigstens potentiell greifbares Symbol für Planungssicherheit und Machbarkeitsglaube. Kurz: Der Nachkriegsboom ließ die Ansprüche und Erwartungshaltungen der Bevölkerung an den Staat als Regulierer und Garant von sozialer Gerechtigkeit ebenso anwachsen wie der Wohlstand finanzielle Verteilungsspielräume in ungekannten Größenordnungen stark erweiterte.29 23 In den folgenden Jahren sollte sie stetig sinken, ehe sie seit 1990 wieder im Steigen begriffen ist. 2018 lag die Sozialleistungsquote bei knapp 30 Prozent. Siehe hierfür Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 3–29. 24 Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 25 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft: Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. 26 Christoph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M./New York 2015, S. 228. 27 Christoph Boyer, Vom Keynesianismus und Staatssozialismus zum …? Sozialökonomische Umbrüche in Europa im späten 20. Jahrhundert, in: Zeitgeschichte 34 (2007), S. 135–143. 28 Hockerts, Problemlöser. 29 Konrad H. Jarausch, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 9–28. Zu den veränderten Erwartungshorizonten Lutz Raphael, Europäische Sozialstaaten in der Boomphase (1948–1973). Versuch einer historischen Distan-

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Nicht nur in Zeitdiagnosen, auch im historischen Rückblick war und ist die dann folgende Phase »nach dem Boom«30 mit Krisennarrativen verbunden, deren Auslöser und Begründungen die 1970er Jahre als sozioökonomische Wasserscheide hervortreten lassen. Zusammengefasst werden jene Umbrüche zumeist unter den folgenden Schlagworten: der Zusammenbruch von Bretton Woods, die Liberalisierung der internationalen Finanzmärkte und der Abbau von Kontrollen grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs, die zunehmende Europäisierungstendenzen und eine damit entstehende Supranationalisierung des Sozialen, wodurch nationale Wirtschafts- und Finanzeingriffe entwertet und ein Verlust von Steuerungskompetenz, letztlich eine zunehmende Entgrenzung des national gerahmten Sozialstaates zu beobachten ist.31 Auch wenn es sicherlich verkürzt wäre, die (westdeutsche bzw. westeuropäische) Geschichte seit den 1970er Jahren allein als eine Geschichte des Verlustes und des Niedergangs zu schreiben und dabei die vielfältigen Aufbrüche in Umbruchszeiten (trotz sozialer Kosten) auszublenden,32 so bleibt doch festzuhalten: Allein in der Bundesrepublik stieg die Zahl der Arbeitslosen mit dem Wachstumseinbruch 1974/75 von 270.000 rasch auf über eine Million. Diese Grenze wurde ebenda in den folgenden Jahren bei verbesserter Konjunkturlage nur leicht unterschritten, um mit dem nächsten wirtschaftlichen Einbruch 1981/82 auf gar deutlich über zwei Millionen anzusteigen, was nicht weniger als eine Verachteinhalbfachung in nur zehn Jahren bedeutete. Diese Ausmaße versinnbildlichten nicht nur einen allmählichen Bedeutungsverlust der klassischen Lohnarbeit und somit einen »Abschied von der industriegesellschaftlichen Hochmoderne«,33 sie erhöhten vor allem auch den ohnehin bereits beträchtlichen Druck auf die sozialen Sicherungssysteme. Die markante Verschlechterung der ökonomischen Rahmungen ließen nun vermehrt Sozialstaatskritiker auf den Plan treten, die eine Einschränkung bei den Sozialausgaben zierung einer »klassischen Phase« des europäischen Wohlfahrtsstaates, in: Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004, S. 51–74. 30 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 22010; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. 31 Siehe dazu den Beitrag von Hans-Ulrich Thamer in diesem Band. Vgl. Außerdem Geoff Eley, End of the Post-War? The 1970s as a Key Watershed in European History, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 12–17; Bent Greve, Welfare and the Welfare State. Present and Future, London 2015; Ernst Stetter, The EU Welfare State. Past, Present, and Future, in: José Antonio Ocampo / Joseph E. Stiglitz (Hg.), The Welfare State Revisited, New York 2018, S. 191–212; Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 2017. 32 Morten Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue Belle Époque? Versuch einer vorläufigen Synthese, in: ders. / Thomas Schlemmer (Hg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 13–22. 33 Hockerts, Problemlöser, S. 3.

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immer vehementer forderten und den Gedanken einer zunehmenden »Unregierbarkeit«34 Nahrung geben sollten. Damit war das Ende der »klassischen Phase« europäischer Nachkriegs-Wohlfahrtsstaatlichkeit gekommen, die sich stets mit Wirtschaftswachstum und Prosperität verbunden hatte und eine weitgehende Austrocknung der Arbeitslosigkeit sowie markante Erweiterungen der Aufnahmekapazitäten des Arbeitsmarktes zu erreichen vermochte.35 All dies wurde recht genau jenseits des »Eisernen Vorhangs« registriert, wo verschiedene Beobachter in derartigen Entwicklungen den erwartbaren historischen Verlauf vermuteten.

Systemkonkurrenz als Katalysator des Sozialstaats und die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft nach 1989/90 Denn das Sprechen über das Soziale war immer auch ein Diskurswettbewerb zwischen den Blöcken: Die gedankenexperimentellen Motive und Außengrenzen des bundesdeutschen Sozialstaatsmodells verliefen mitnichten parallel zu den Grenzen der »alten« Bundesrepublik. Vielmehr hat die Soziale Marktwirtschaft zweifellos eine starke Anziehungskraft auch auf die Bevölkerung der DDR entfaltet – und dies vermutlich bis zu deren Ende, oder besser: sogar darüber hinaus. Beide deutschen Staaten »funktionierten« während der Zweistaatlichkeit füreinander als permanente Konkurrenz- und Referenzgesellschaften, die darauf angewiesen waren, unter erheblichem Ressourceneinsatz gegenüber dem jeweils anderen deutschen Staat »Überlegenheit« auszustrahlen. Nicht zuletzt aufgrund dieser anhaltenden Wettbewerbssituation stiegen beide Staaten letztlich zur unumstrittenen Nr. 2 in ihren Gesellschafts-, Wirtschafts- und Militärblöcken auf. Vor diesem Hintergrund schien ein von ökonomischer Willkür und sozialen Verlustängsten geprägter Kapitalismus klassischer Provenienz in der Bonner Republik kaum vorstellbar, wollte man für »den Osten« nicht als idealtypische Projektionsfläche marxistisch-leninistischer Ideologie (konkret: Ausbeutung, Klassenkampf, Verelendung der Arbeiterschaft) fungieren. Insofern verband sich mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft im Zeitalter des Kalten Kriegs zweifellos auch die Absicht, die bundesdeutsche Gesellschaft von Anfang an gegenüber politisch-sozialen Alternativen positiv und wirksam zu imprägnieren und dadurch zu legitimieren. Umgekehrt blieb die DDR angesichts der bundesdeutschen Referenzgesellschaft stets darauf angewiesen, den utopischen Erwartungshorizont des »realen Sozialismus« zu erweitern, um dadurch – in erster Linie durch die 34 Vgl. die Ausführungen von Markus Goldbeck in diesem Band. 35 Boyer, Keynesianismus; André Steiner, Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise euro-

päischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 1970er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 3 (2006), H. 3, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2006/id=4716 [05.06.2019]; vgl. außerdem die Beiträge in Thomas Raithel / Thomas Schlemmer (Hg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009.

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Verheißung allumfassender sozialer Sicherheit – attraktivitätssteigernd nach innen zu wirken und mit dem Streben nach Konkurrenzfähigkeit nach außen auf dem Weltmarkt politisches und ökonomisches Selbstbewusstsein zu demonstrieren.36 Eine Geschichte sozialer Ordnungsentwürfe nach 1945 ohne jene »Verfremdungseffekte«, die die permanente gegenseitige Beobachtung und Gegenwart des jeweils »anderen Deutschland« ausgeübt hat, griffe demnach ebenso zu kurz, wie auf jene gesellschaftspolitische Alternativen zu verzichten, die sich im Zuge der Blockkonfrontation immer auch mit Überlegungen nach einem »Dritten Weg« verbanden.37 Fragen der deutsch-deutschen Dimension hinsichtlich der mannigfachen »blockübergreifenden Probleme fortgeschrittener Industriegesellschaften«38 werden bislang nur zögerlich reflektiert,39 was durchaus überrascht: Systemkonkurrenz war immer auch – wenngleich gewiss asymmetrisch40 – Sozialkonkurrenz. Somit war der Diskurswettbewerb um die »richtige« (also: die als humaner und gerechter aufgefasste) soziale Ausgestaltung des jeweiligen gesellschaftlichen Systems hochgradig ideologisch wie symbolpolitisch aufgeladen – was übrigens in vielerlei Aspekten bis heute nachwirkt.41 ›Hüben‹ wie ›drüben‹ war Sozialpolitik strategisches Instrument, sie diente der Aufwertung und Präsentation des eigenen als besserem System. Von den Besatzungsmächten weitgehend unberührt dienten bereits Vergleiche zwischen den einzelnen Zonen in Punkto Unterernährung, Versorgung, Konsum, Wohnverhältnisse usw. als wichtige Felder der Systemauseinandersetzung. Der Wettlauf mit der DDR und die immer offensichtlicher 36 Siehe dafür den Beitrag von Jörg Roesler in diesem Band. Vgl. außerdem Johannes Frerich / Martin Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Teil 2: Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993. Siehe zur DDR-Sozialpolitik des Weiteren Beatrix Bouvier, Die DDR – ein Sozialstaat? Sozialpolitik in der Ära Honecker, Bonn 2002; in vergleichender Einordnung: Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit: NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; Manfred G. Schmidt / Tobias Ostheim, Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Schmidt/Ostheim/Siegel u. a. (Hg.), Wohlfahrtsstaat, S. 173–192. 37 Vgl. den Beitrag von Ines Weber in diesem Band. 38 Konrad H. Jarausch, »Die Teile als Ganzes erkennen«. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 1 (2004), 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2004/id=4538 [05.06.2019]. 39 Vgl. aber etwa Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Lagen in wohlfahrtsstaatlich formierten Gesellschaften, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 153–194. 40 Anschaulich wird dies etwa am Beispiel der »Westpakte«, vgl. hierzu Konstanze Soch, Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949–1989), Frankfurt a. M./ New York 2018. 41 Peter Hübner, Sozialpolitik im geteilten Deutschland 1945–1989. Entwicklungspfade und Forschungsperspektiven, in: Thomas Lindenberger / Martin Sabrow (Hg.), German Zeitgeschichte. Konturen eines Forschungsfeldes: Konrad H. Jarausch zum 75. Geburtstag, Göttingen 2016, S. 209–225, hier S. 210 f.

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werdenden Niveauunterschiede gaben letztlich auch einen kaum zu unterschätzenden Ausschlag für das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft; der Reformsozialismus westlicher Prägung hatte dadurch realisieren müssen, dass kein Weg an marktwirtschaftlichen Koordinationsmechanismen vorbeiführt – und zwar schlicht aus demokratietheoretischen Überlegungen.42 Nicht erst hier wird deutlich, wie Eigendynamik und Aufeinander-Bezogen-Sein ineinandergriffen, wobei wiederum die asymmetrische Anordnung der deutsch-deutschen Konstellation nicht außer Acht gelassen werden darf: So blieb der westdeutsche Lebensstandard bis zum Ende der Zweistaatlichkeit Referenzpunkt, nicht umgekehrt.43 Wie aber verliefen nun die Entwicklungen im anderen Deutschland, was waren wichtige sozialpolitische Eckpfeiler, wo lagen Unterschiede und Gemeinsamkeiten? Ein wesentlicher Gegensatz zur Bundesrepublik war zweifellos das verfassungsmäßig verankerte »Recht auf Arbeit« – die Vollbeschäftigungsgarantie, die allerdings auch gleichzeitig eine Pflicht zur Arbeit implizierte – und ein existenzsicherndes Arbeitseinkommen, was älteren grundsichernden Vorstellungen der Arbeiterbewegung entsprach. Die zentral gelenkte Planwirtschaft beinhaltete eine auf Nivellierung ausgerichtete Lohnpolitik, umschloss eine ausgeprägte Familien- und Frauenförderung, umfangreiche, auf Egalisierung und Umverteilung zielende Subventionierungen von Gütern und Dienstleistungen des Grundbedarfs und verstärkt seit den frühen 1970er Jahren auch im Bereich des Wohnungsbaus. Wesentlicher Faktor für die »Arbeitsgesellschaft« (Martin Kohli) DDR war ferner die betriebliche Sozialpolitik, die »Lückenfüller« für das alltägliche Dasein war, also maßgeblich verantwortlich für die Kinderbetreuung, bestimmte Zusatzleistungen wie Urlaubsreisen oder die Bereitstellung von Wohnraum und somit eine der wesentlichen gesellschaftlichen Stabilisierungsfaktoren war.44 Der Preis, den der autoritäre sozialistische Wohlfahrts- und Arbeitsstaat DDR für diese garantierten Schutzrechte zu bezahlen hatte, war eine Überbesetzung der Arbeitsplätze und verkürzte Problemdiagnosen und -therapien, gerade mit Blick auf die latenten Spannungen zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik.45 Daneben darf die Existenz einer relativen Armut nicht außer Acht gelassen werden, die immerhin in einer Größenordnung von etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung auftrat, die freilich im öffentlichen Diskurs beschönigend ausgeblendet werden musste. 42 Jakob Tanner, Das Kapital nach Marx. Piketty blickt ins 21. Jahrhundert, in: Historische An-

thropologie 24 (2016), 2, S. 253–264, hier S. 259. 43 Vgl. nur Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993), 29/30, S. 30–41. 44 Vgl. nur Peter Hübner, Der Betrieb als Ort der Sozialpolitik in der DDR, in: Christoph Boyer (Hg.), Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der ČSSR, Dresden 1999, S. 63–74; ders., Diktatur und Betrieb in der frühen DDR (1949–1961). Aspekte einer schwierigen Beziehung, in: Dierk Hoffmann / Michael Schwartz / Hermann Wentker (Hg.), Vor dem Mauerbau: Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, München 2003, S. 119–135. 45 Schmidt, Sozialstaat, S. 52.

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Betroffen waren allen voran diejenigen Gruppen, die außerhalb des Produktionsprozesses standen, also Rentner, aber auch Kinderreiche, Sozialfürsorgeempfänger oder Alleinerziehende, was auf spezifische Einschluss- und Ausschlussregeln der staatssozialistischen Gesellschaft verweist.46 Auf der anderen Seite der sozialen Stufenleiter sind Spitzenkader oder Angehörige der bewaffneten Organe anzusiedeln, was darauf deutet, dass der Nexus zwischen Wohlverhalten und Versorgung weitaus enger sowie meritokratische Beurteilungsmodi ungleich stärker ausgeprägt waren als in der Bundesrepublik. Die notorische Ungleichbehandlung zwischen produzierenden und nicht produzierenden Gesellschaftsmitgliedern war letztlich durch die mangelnde Leistungskraft und Produktivität der DDR-Planwirtschaft bedingt.47 Auch andere Widersprüche ließen sich anführen, etwa die Schwächen im Gesundheitswesen, aber auch die Paradoxien der Geschlechterordnung, wobei trotz Familienpolitik und Erleichterungen der Frauenberufstätigkeit die traditionelle Arbeitsteilung weitgehend beibehalten blieb. Die umfassenden Subventionen, die integrativ wirken und ein Klima sozialer Geborgenheit und Sicherheit schaffen sollten, führten nicht nur zu einer wenig effizienten Verwendung von Ressourcen, sie verhinderte auch eine dringend erforderlich Erhöhung der Einzelhandelspreise (oder im Umkehrschluss, eine Senkung der Löhne und Gehälter).48 Dieser Schritt jedoch, das hatte die Partei- und Staatsführung die Erfahrung des Arbeiteraufstandes des Jahres 1953 gelehrt, unterblieb; stattdessen hatten der »Prager Frühling« oder die Unruhen in Polen im Dezember 1970 defensivreaktionäre, hektische Antworten auf drängende Fragen hervorgerufen. Dies hatte dazu beigetragen, einen patriarchalisch geprägten Konsumismus als »Herzstück des Staatssozialismus«49 innerhalb der staatlich gelenkten Sozialpolitik zu installieren. Hierdurch wurden letztlich gigantische Summen aufgewandt, was zu Innovationsblockaden und einem Anstieg der Außenverschuldung in letztlich nicht mehr kontrollierbare Höhen führte. Nicht unähnlich zum Westen wurde da-

46 Dazu umfassend Lorke, Armut. 47 Christoph Boyer, Entstehung und Erbe des staatssozialistischen Wohlfahrtsstaates in Ost-

mitteleuropa, in: Zeitgeschichte 36 (2009), 6, S. 381–392, hier S. 382 f.; zu Ungleichheiten im Staatssozialismus Jens Gieseke, Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus. Eine Skizze, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 10 (2013), 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2013/id=4493 [05.06.2019]; vgl. für die Folgen jüngst Günther Heydemann / Karl-Heinz Paqué, (Hg.), Planwirtschaft – Privatisierung – Marktwirtschaft. Wirtschaftsordnung und -entwicklung in der SBZ/DDR und den neuen Bundesländern 1945–1994, Göttingen 2017. 48 Christoph Cornelißen / Nicole Kramer, Der Europäische Wohlfahrtsstaat: Ursprünge, Modelle, Herausforderungen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), 7–8, S. 389–407. 49 Boyer, Erbe, S. 384.

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mit eine Politik der Teilhabe am Konsum verfolgt, nicht unähnlich bilden mithin genau diese Jahre einen markanten Einschnitt.50 Alles in allem trugen die sozialen Errungenschaften, die von einem Großteil der Bevölkerung immer mehr als Selbstverständlichkeit wahrgenommen worden sind, wiederum nicht unähnlich dem Westen zur Ausbildung einer hohen, im Rückblick womöglich überzogenen sozialen Erwartungshaltung bei, die in der finalen Phase der DDR zu zunehmenden legitimatorischen Problemen führen sollte. Zum Ende der DDR waren es gerade die wachsenden sozialpolitischen Missstände, etwa auf dem Feld der Wohnraumversorgung oder der Renten, wodurch die Modernisierungslücke zum Westen immer offensichtlicher wurde und woraus immense Legitimitätsprobleme erwachsen sollten. Nicht nur westlich, auch östlich des »Eisernen Vorhangs« schwand die Manövrierfähigkeit nationaler Politik, ob ausgelöst durch den Systemgegner, die offenkundig werdende Schwäche der Sowjetunion, internationale Finanzmärkte oder transnational agierende Unternehmen.51 Somit war auch der Staatssozialismus mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, mit denen sich der demokratisch-keynesianistisch-korporatistische Wohlfahrtsstaat des Westens auseinandersetzen musste. Daher sind – ungeachtet aller systemischen Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur oder beispielsweise der vergleichsweise stärker ausgeprägten Arbeitsbiograpiezentrierung im Osten – letztlich zwar graduelle, keinesfalls aber ausschließlich Unterschiede zwischen »Ost« und »West« zu konstatieren, waren beide Sphären kaum undurchlässig voneinander getrennt.52 Diese ständige Verbundenheit trotz Blockgebundenheit gilt es zeithistorisch künftig noch viel stärker zu berücksichtigen. Denn hier wie dort ging es um die Integration und um eine tendenzielle Inklusion immer größerer Bevölkerungsteile in ein sich stetig vergrößerndes Netz sozialpolitischer Sicherungsmaßnahmen, das vielfältige Sozialleistungen einschloss und mannigfache Präventiv- sowie Interventionsmechanismen eingerichtet hatte, was wiederum Loyalitäten generieren sollte und – mal mehr, mal weniger explizit – gegen den Systemgegner gerichtet war. Die Umbrüche nach 1989/90 ließen die Prozesse, die im Westen der Republik schon längst im Gange waren, schließlich auch im Osten spürbar werden. Die in das westliche Sozialsystem bereits implementierten Rückbaudynamiken gingen Hand in Hand mit Europäisierungstendenzen der Wirtschafts- und Sozialpolitik 50 Charles S. Maier, Two Sorts of Crisis? The »long« 1970s in the West and the East, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 49–62. 51 Peter Hübner, Fortschrittskonkurrenz und Krisenkongruenz? Europäische Arbeitsgesellschaften und Sozialstaaten in den letzten Jahrzehnten des Kalten Krieges (1970–1989), in: Zeitgeschichte 34 (2007), S. 144–150; siehe auch Alexander Burdumy, Sozialpolitik und Repression in der DDR. Ost-Berlin 1971–1989, Essen 2013. 52 Cornelißen/Kramer, Wohlfahrtsstaat; vgl. in kulturgeschichtlicher Hinsicht die unterschiedlichen Beiträge in Eva M. Gajek / Christoph Lorke (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier: Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M./New York 2016.

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und einer Entgrenzung des Sozialstaates; nun kam als weiterhin beschleunigender Faktor das Ende der kommunistischen Systeme in Osteuropa und der darauffolgende Transfer des Neoliberalismus nach Osteuropa hinzu.53 Hatte die zuvor unangetastete Grundformel Arbeit, Einkommen, Bedarfssicherung und Unterhalt im Westen bereits an Geltungsanspruch eingebüßt,54 was einen gewissen Grad an Desillusionierung nach sich zog, so kamen die Veränderungen im Osten ungleich abrupter. Aus Sicht mancher Sozialwissenschaftler durchlebten die »neuen Bundesländer« seit der Vereinigung eine »Verwestlichung der ostdeutschen Ungleichheitsstrukturen« (Rainer Geißler). So einleuchtend diese nüchtern gehaltenen Beobachtungen einer ›Normalisierung‹ oder ›Anpassung‹ an die Mechanismen vertikaler sozialer Mobilität und an den Typus westlicher postindustrieller Gesellschaften mitsamt aller Problematiken und individualisierten Risiken auch sein mögen, so sind sie doch insbesondere aus zeitgeschichtlicher Perspektive wenig befriedigend, weil dadurch weder die Ungleichheitsstrukturen der DDR-Gesellschaft vor 1989/90 berücksichtigt,55 noch die zahlreichen Ambivalenzen des Einigungsprozesses ausreichend bedacht werden. Denn gerade die Frage nach den unterschiedlichen, normativ aufgeladenen Sozialvorstellungen blieben dabei unterberücksichtigt. Diese spiegeln sich paradigmatisch und prominent in den zeitgenössischen wie nachträglichen Debatten um die Treuhandanstalt und den verbundenen, teils revolutionär anmutenden sozialen Einschnitten, die in den Jahren nach 1990 allen voran die politische Linke zu politisieren versuchte.56 »Erlernte« west- und ostdeutsche Sozialimaginationen und Deutungsgewohnheiten zu (Un-)Gleichheit nach 1989/90 auch nur annähernd aufeinander abzustimmen bzw. zwischen ihnen zu moderieren, sollte zu einer der größten Herausforderungen des Einigungsprozesses werden. Sie wirken, wie es scheint, bis in die Gegenwart als eine kaum zu überschätzende Quelle sozialen Unmuts.57 53 Philipp Ther, Europäische Transformationen. Über Schocktherapien, Demokratie und Po-

pulismus nach 1989, in: Bösch/Hertfelder/Metzler, Grenzen, S. 239–258, hier S. 242; siehe auch Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; vgl. zu aktuellen Entwicklungen Jan Zielonka, Counter-Revolution: Liberal Europe in Retreat, Oxford 2018. 54 Hübner, Fortschrittskonkurrenz. 55 Siehe dazu die Überlegungen von Christopher Banditt in diesem Band. Vgl. für das Folgende außerdem Christoph Lorke, Von alten und neuen Ungleichheiten. ›Armut‹ in der Vereinigungsgesellschaft, in: Thomas Großbölting / ders. (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 271–295. 56 Vgl. den Beitrag von Marcus Böick in diesem Band sowie dessen Studie Die Treuhand: Idee – Praxis – Erfahrung. 1990–1994, Göttingen 2018; vgl. zu den damaligen Diskussionen auch Thorsten Holzhauser, Neoliberalismus und Nostalgie. Politische Re-Formationen und die Entstehung der Linkspartei im vereinten Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 586–618. 57 Siehe etwa Christoph Lorke, Die Einheit als »soziale Revolution«. Debatten über soziale Ungleichheit in den 1990er Jahren, in: Zeitgeschichte-online, März 2019, URL: https://zeit geschichte-online.de/thema/die-einheit-als-soziale-revolution [06.06.2019].

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Les »trente glorieuses«. Europäische Wohlfahrtsregime in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vergleich Doch zunächst zurück zur Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre: Ungleich stärker als zuvor wurden, nachdem der »kurze Traum immerwährender Prosperität«58 ein jähes Ende erreicht hatte, die im Nachkriegskonsens geglätteten, jedoch teils offenen Fragen nach dem konkreten Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik nun wieder aufgeworfen, und zwar in aller Heftigkeit. Diese Entwicklung führte zu einem leidenschaftlichen Streit zwischen SPD und FDP. Als Letztere unumwunden und verstärkt für »mehr Markt« warb, zerbrach schließlich die sozialliberale Koalition. In der Folge wurden institutionelle Reformen des Sozialstaates und Prozesse der Deregulierung und arbeitsmarktpolitischen Flexibilisierung eingeleitet, die eine Erosion der industriellen Normalarbeitsverhältnisse, eine Zunahme irregulärer Erwerbsbiographien, die Entstehung bzw. Vergrößerung eines »Prekariats« bzw. der »Überflüssigen«59 und einen tiefgreifenden Wandel der Arbeitswelt zur Folgen haben sollte – Prozesse, die häufig als »neoliberale Wende« umschrieben werden. Philipp Ther und andere warnten allerdings davor, diesen Paradigmenwandel gerade im internationalen Vergleich überzubewerten und verwiesen auf die Tatsache einer behutsam-inkrementalen Reform statt einer abrupten Schleifung sozialer Sicherungsmechanismen.60 Denn ausgesprochen »marktradikal« war jene Neujustierung des Verhältnisses von Wirtschaft und Sozialstaat hierzulande kaum. Vielmehr kontrastieren die vergleichsweise moderaten Anpassungen in der Bundesrepublik, aber auch in Italien, Österreich, Skandinavien oder Frankreich erheblich mit dem harten Kurswechsel im Zuge der »Thatcher-Revolution« im Vereinigten Königreich.61 Und dennoch: Im Gegensatz zu früheren Interpretationen betrachteten auch in der Bundesrepublik eher »neoliberal« gesinnte PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und sonstige KommentatorInnen soziale Ungleichheit in ihren Ausdeutungen nicht mehr als zu überwindenden Übelstand, sondern gar als Movens wirtschaftlichen Wachstums und Motivation für sozialen Aufstieg. Mit den 1980er Jahren ist der 58 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1984. 59 Martin Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt a. M./New York 2002. 60 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; vgl. auch dessen Beitrag in diesem Band sowie Ivan T. Berend, From the Soviet Bloc to the European Union. The Economic and Social Transformation of Central and Eastern Europe since 1973, Cambridge 2009. Kritisch zum Topos der »neoliberalen Wende« äußerte sich auch – nebst anderen – Andreas Wirsching, »Neoliberalismus« als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Plumpe/ Scholtyseck, Staat und die Ordnung, S. 139–150 sowie Peter Hoeres, Gefangen in der analytisch-normativen Westernisierung der Zeitgeschichte. Eine Kritik am Konzept der Zeitbögen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), S. 427–436. 61 Vgl. den Beitrag von Almuth Ebke in diesem Band.

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bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat ein zunehmend »bedrängter« und befindet sich in einer Art dauerhaften politischen Rechtfertigungskrise, die untrennbar auf die transnationale Dimension des Problems, kurz: auf die zunehmende Rolle der Globalisierung und etwa die Abwanderung von Arbeitsplätzen in die »Dritte Welt«, nach Fernost oder Osteuropa sowie die Entwertung nationaler Wirtschafts- und Finanzeingriffe und damit Verlust von Steuerungskompetenz rekurriert.62 Der Band möchte versuchen, diese Beobachtungen auch jenseits deutscher Grenzen nachzuvollziehen und damit zu kontrastieren. Denn was für die deutsch-deutsche Konstellation (sowohl vor als auch nach 1989/90) zutrifft, kann für andere Vergleichsaspekte umso mehr Geltung beanspruchen. Nach wie vor ist die komparative Sozialstaatsforschung ein Desiderat: Während wir über Nordwest- und Mitteleuropa recht gut informiert sind, werden der Süden und auch der Osten Europas in länder- und systemübergreifenden vergleichenden Arbeiten zumeist ausgeklammert oder nur am Rande erwähnt63 – von globalen Entwicklungen ganz zu schweigen.64 Diese Leerstelle verwundert angesichts der Rede von der »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit«,65 die die Mehrzahl der europäischen Versicherungsgesellschaften im Zuge einer Rückkehr der Armut, einer massiven Verlagerung und Erweiterung der Risikobevölkerungen und der Entstehung neuer Armengruppen,66 ja einer »Demokratisierung von Armut und Arbeitslosigkeit« (Ulrich Beck) zunehmend spürbar erfassen sollte. Diese grenz62 Winfried Süß, Der bedrängte Wohlfahrtsstaat. Deutsche und europäische Perspektiven auf die Sozialpolitik der 1970er-Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 95–126. 63 Vgl. aber Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007 sowie andere Veröffentlichungen des Autors zum Thema; vgl. zudem Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 32010; Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der »sozialen Frage« bis zur Globalisierung, München 2007. 64 Denn die in diesem Band aus pragmatischen Gründen gewählte eurozentrische Sichtweise darf nicht verstellen, dass ein umfassender »Export« des europäischen Wohlfahrtsstaatsmodells nach Übersee erfolgt ist (und weiterhin erfolgt). Siehe nur Ludger Pries, Transnationalisierung sozialer Ungleichheit und gerechte Migration, in: Steffen Mau / Nadine M. Schöneck (Hg.), (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, Berlin 2015, S. 175–184; vgl. jüngst Wilma Wolf, Entgrenzungsprozesse in Arbeitsmärkten durch transnationale Arbeitsmigration: World Polity und Nationalstaat im 19. Jahrhundert und heute, Baden-Baden 2018; Luann Good Gingrich / Stefan Köngeter (Hg.), Transnational Social Policy. Social Welfare in a World on the Move, London 2017. 65 Robert Castel, Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit:, in: ders. / Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009, S. 21–34. 66 Christoph Conrad, Was macht eigentlich der Wohlfahrtsstaat: internationale Perspektiven auf das 20. und 21. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 555–592; vgl. auch die Anklageschrift von Hans Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013 sowie in zeitgenössischer Perspektive Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985, S. 141–161.

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überschreitenden Perspektiven möchte der Band wenigstens exemplarisch berücksichtigen, und zwar anhand der Beispiele Großbritanniens, der Niederlande, Schwedens und Italiens.67 Diese Skizzen zu den Entwicklungen europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit werden eingebettet in größere Narrative europäischer Nachkriegsgesellschaften und orientieren sich bewusst an den unterschiedlichen Wohlfahrtstypen.68 Auffällig ist, dass sich bei allen Spezifika für all diese Staaten ähnliche Verlaufsdynamiken nachzeichnen lassen können, wie dies für die Bundesrepublik holzschnittartig möglich ist: vom Durchbruch der modernen Industriegesellschaft und einem (mehr oder weniger stark ausgeprägten) Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates hin zu zunehmenden Unsicherheiten und sodann (mehr oder weniger einschneidenden) Einsparungen, einem stetigen Anstieg von Arbeitslosenzahlen, dem steigenden Druck auf die öffentlichen Kassen, wodurch die Sozial- und Rentensysteme unter Druck gerieten – und was wiederum vor allem liberale und konservative Kräfte veranlasste, Warnungen vor wohlfahrtsstaatlicher »Überdehnung« und Forderungen nach notwendigen Kürzungen zu artikulieren.69 Die Einkommens- und Vermögensunterschiede nahmen zwischen den 1950er und 1970er Jahren in den meisten europäischen Ländern deutlich ab; seither drehte sich die Entwicklung allerdings wieder um, wurden jene Differenzen wieder schärfer – und auch die Konflikte um den Wohlfahrtsstaat wurden just seit dieser Zeit wieder ungleich lebhafter geführt.70 Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch anderswo wurde Massenarbeitslosigkeit zu einem Massenschicksal und steht – in vielen Teilen bis heute – symbolisch-paradigmatisch für verloren gegangene Sicherheiten.71

Repräsentationen, subjektive Aneignungen und Semantiken im neuen Kapitalismus Die Folge der skizzierten Entwicklungen waren (nicht nur in der Bundesrepublik) seit den 1980er Jahren ein entgrenztes, ungleich stärker individualisiertes 67 Siehe die Beiträge von Almuth Ebke, Ingrid Ostner und Massimiliano Livi in diesem Band.

Vgl. zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Wandlungsprozessen in vergleichender Perspektive zuletzt auch Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Frankfurt a. M. 2019. 68 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990; gleichwohl war auch dem dänischen Politologen klar, dass es keine wohlfahrtsstaatlichen Idealtypen gibt; siehe hierfür auch Ursula Dallinger, Sozialpolitik im internationalen Vergleich, Konstanz 2016 sowie Patrick Sachweh, Ideen, Werte und Kultur als Erklärungsfaktoren in der Wohlfahrtsstaatsforschung, in: Zeitschrift für Sozialreform 57 (2011), 4, S. 371–382. 69 Cornelißen/Kramer, Wohlfahrtsstaat. Vgl. insgesamt Hans-Peter Ullmann, Das Abgleiten in den Schuldenstaat: Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren, Göttingen 2017. 70 Kaelble, Sozialgeschichte, S. 234 f.; 348 f. 71 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 150.

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und enttraditionalisiertes Sozialleben in einer »Risikogesellschaft«, die sich von einem Anstieg des Anteils von Langzeitarbeitslosen und einem höheren Risiko, arbeitslos zu bleiben oder arbeitslos zu werden, charakterisieren ließe. Letztlich führte dies zu einer Generalisierung und Normalisierung des Umstandes »Arbeitslosigkeit«.72 Doch damit nicht genug: Nach der »Vereinigungskrise« (Jürgen Kocka) wurden hierzulande spätestens mit den »Nuller-Jahren« und der Installation der »Agenda 2010« zentrale Elemente des Gesellschaftsvertrages und Nachkriegskonsenses sukzessive hinterfragt bzw. aufgeweicht. Dazu traten arbeitsmarktpolitische Einschnitte, die unter dem Rubrum der »Flexibilisierung«73 eine Lockerung des Kündigungsschutzes, die Deregulierung und Separierung des Arbeitsmarktes in unterschiedliche Bereiche mit je unterschiedlichen Verträgen sowie Schutzrechten und letztlich auch abweichender Bezahlung umfasste.74 Doch was macht nun den »neuen«, gleichwohl kaum eindeutig zu definierenden Kern des »Geist des Kapitalismus«75 der vergangenen etwa drei Jahrzehnte aus, inwiefern ist »das Soziale« in Zeiten jenes »neuen«, eines »flexiblen Kapitalismus« analytisch zu fassen, zu historisieren?76 Jüngst machten Sören Brandes und Malte Zierenberg darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, die performative Herstellung, Wahrnehmungen und Erwartungen an den Kapitalismus in der historischen Analyse ebenso zu berücksichtigen wie den Blick auf konkrete menschliche Interaktionszusammenhänge zu schärfen.77 Wolfgang Streeck plädierte in

72 Beck, Risikogesellschaft, S. 143–148. 73 Zentral ist hier Richard Sennett, Der flexible Mensch, Berlin 2006. 74 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Ber-

lin 2013, S. 98 f. 75 Luc Boltanski / Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. 76 Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008; vgl. für die bundesdeutsche Geschichte die Überlegungen bei Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendres (Hg.), Die »Deutschland AG«. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013. 77 Sören Brandes / Malte Zierenberg, Doing Capitalism. Praxeologische Perspektiven, in: Mittelweg 36 (2017), 1, S. 3–24; vgl. zudem die konzeptionellen Ausführungen in: Philipp Kufferath / Friedrich Lenger (Hg.), Sozialgeschichte des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Bonn 2018. Siehe zu diesem Komplex auch den Beitrag von Lisa Suckert in diesem Band. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren zahlreiche Monographien und Sammelbände vorgelegt, die das Thema aus unterschiedlichen, aber genuin historischem Blickwinkel beleuchten, etwa: Gunilla Budde (Hg.), Kapitalismus. Historische Annäherungen, Göttingen 2011; Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013; Heide Gerstenberger, Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus, Münster 2017; Friedrich Lenger, Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Studien, Tübingen 2018; Werner Plumpe, Das kalte Herz: Kapitalismus. Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019; Ute Frevert, Kapitalismus, Märkte und Moral, Wien u. a. 2019. Zudem wurden jüngst weitere Vorschläge zur Historisierung des Kapitalismus unterbreitet, siehe etwa Werner Plumpe, Wie schreibt man die Geschichte des Kapitalismus. Der Kapitalismus als Problem der Geschichtsschreibung, in: Journal of Modern European History 15 (2017), 4, S. 457–

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seinem konzeptionell offenen Vorschlag dafür, Kapitalismus als einen spezifischen Modus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns zu verstehen.78 Festzuhalten jedenfalls sind fundamentale Spannungen zwischen Kapitalismus und Demokratie und ihre schrittweise Entkoppelung seit den 1970ern, die von Streeck als Spätzeit der politisch-ökonomischen Formation der Nachkriegsperiode bezeichnet und auf den »Prozess einer Entdemokratisierung des Kapitalismus vermittels Entökonomisierung der Demokratie«79 rekurriert wurden. Diese Prozesse hätten sich vor allem seit der letzten globalen Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 2008 weiter verschärft. Zentrale Elemente des Gesellschaftsvertrages und Nachkriegskonsenses seien demnach sukzessive aufgekündigt bzw. hinterfragt worden, etwa sozialstaatliche Interventions- und Präventionsmechanismen sowie verfassungsrechtlich geschützte soziale Bürgerrechte, aber auch ein breiter öffentlicher Sektor mit sicherer Beschäftigung. Seither dominieren Schlagworte wie Globalisierung der Märkte, Lockerung des Kündigungsschutzes, Deregulierung und Aufspaltung des Arbeitsmarktes in Kern- und Randbereiche, Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen, eine Verschlankung des Wohlfahrtsstaates sowie der Forderung nach verstärkter Eigeninitiative80 – diese Schlagworte umreißen eine Tendenz, die im Zuge einer »Ökonomisierung des Sozialen« und gewissermaßen als »Nebeneffekt« der skizzierten Entwicklungen

469 sowie ebd. Jürgen Kocka, Durch die Brille der Kritik: Wie man Kapitalismusgeschichte auch schreiben kann, S. 480–488. Siehe auch die instruktiven Überlegungen bei Stefan Berger / Alexandra Przyrembel, Moral, Kapitalismus und soziale Bewegungen. Kulturhistorische Annäherungen an einen alten Gegenstand, in: Historische Anthropologie 1 (2016), S. 88–107. 78 Wolfgang Streeck, How to Study Contemporary Capitalism?, in: European Journal of Sociology 53 (2012), 1, S. 1–28; vgl. außerdem Patrick Sachweh / Sascha Münnich (Hg.), Kapitalismus als Lebensform? Deutungsmuster, Legitimation und Kritik in der Marktgesellschaft, Wiesbaden 2017. 79 Streeck, Gekaufte Zeit, S. 98 f. 80 Siehe in historischer Perspektive Knud Andresen / Stefan Müller (Hg.), Contesting Deregulation. Debates, Practices and Developments in the West since the 1970s, New York/Oxford 2017; Dietmar Süß / Norbert Frei (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012; vgl. jüngst Thomas Handschuhmacher, »Was soll und kann der Staat noch leisten?« Eine politische Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik 1949–1989, Göttingen 2018. Ganz zentral für diesen Zusammenhang ist Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 52013; siehe auch ders., Vermarktlichung, Entgrenzung, Subjektivierung. Die Arbeit des unternehmerischen Selbst, in: Jörn Leonhard / Willibald Steinmetz (Hg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln u. a. 2016, S. 317–390. Vgl. ebenfalls Armin Nassehi, Besser optimieren, Hamburg 2012. Zur Forderung nach Eigeninitiative vgl. u. a. Loïc Wacquant, Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen 2009; siehe zudem Karl-Siegbert Rehberg, »Neue Bürgerlichkeit« zwischen Kanonsehnsucht und Unterschichten-Abwehr, in: Heinz Bude / Joachim Fischer / Bernd Kauffmann (Hg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, München 2010, S. 55–70. Siehe zuletzt aus historischer Perspektive auch Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung, München 2018.

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beispielsweise eine öffentlich-symbolische Abwertung von Langzeitarbeitslosen oder die Diskriminierung anderer »Überflüssiger« nach sich gezogen hatte.81 »Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus« – der Titel des vorliegenden Bandes verweist mittels zweier zentraler Begriffe auf die charakteristische Phase einer Übergangsgesellschaft, die im Kern die letzten beiden Jahrzehnte vor und die eineinhalb Jahrzehnte nach der Wende zum 21. Jahrhundert zu beschreiben versucht. Doch setzt dies die am Produktionsparadigma orientierte Folie eines Begriffs der Gegenwart voraus, was längst nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint, wenn sich Zeiträume und Gegenstandsbereiche zumal unter postmodernen Vorzeichen nicht mehr ohne weiteres unter eine begriffliche Verfügung zwingen lassen. So sehr eine kategorial nähere Bestimmung der unmittelbaren Vergangenheit auf begriffliche Eingangsüberlegungen angewiesen ist, so wenig müsste sich diese um jeden Preis an einem am Arbeitsprozess orientierten industriellen Praxiszusammenhang messen lassen. Gewiss, das wäre immer noch naheliegend, aber keinesfalls zwingend. In vielerlei Hinsicht blieb der Moderne-Begriff an die »Industrielle Welt« rückgebunden,82 die zumal aus einer postmodernen Perspektive als möglicher Denkrahmen und Reflexionshorizont die Realität immer weniger abzubinden scheint. Dabei versuchen Vertreter der Postmoderne im Anschluss an Jean-François Lyotard gar nicht erst, der Geschichte und Gegenwart ein verbindliches Interpretationszentrum aufzuerlegen, sondern abstrahiert von der Deutungskonkurrenz verschiedener Theoriepositionen, indem sämtliche ontologischen Behauptungen und normative Projektionen als gleich gültig bewertet werden.83 Für einen »Diskurs der Kontinuitäten« zeigt sich das postmoderne Denken jedenfalls nicht anschlussfähig.84 Die Trennungen und Verselbständigungen, die seit der beginnenden Moderne darauf angelegt waren, sich »von der Naturwüchsigkeit traditionaler Lebensformen [zu] emanzipieren«, sind einem postmodernen Bewusstsein auf eine ganz andere bzw. gesteigerte Weise, nämlich als vollständige Revision von Verbindlichkeiten, inhärent.85 Zwar mag man auch aus dieser Perspektive noch zwischen Sozialer Marktwirtschaft und Kapitalismus unterscheiden – aber ein Differenzieren und Kategorisieren, das sich auf ein Für und Wider oder gar auf moralisierende Argumente und Beweisführungen stützen würde, gibt es nicht mehr. Denn der Abschied von den großen Erzählungen zählt ja gerade zu den Pointen der Post81 Wilhelm Heitmeyer / Kirsten Endrikat, Die Ökonomisierung des Sozialen. Folgen für »Überflüssige« und »Nutzlose«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 6, Frankfurt a. M. 2008, S. 55–72; Heinz Bude / Andreas Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt a. M. 2008. 82 So der Titel der Reihe, die seit 1962 vom Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte herausgegeben wird und die Moderne wie selbstverständlich als industriell konfiguriert interpretiert. 83 Vgl. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. 84 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 23. 85 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1988, S. 104.

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moderne.86 Indem der Postmodernismus stabile Identifikationsmomente schlichtweg negiert, ja auch das Bedürfnis nach »Sinn« in ebenso beliebige wie biegsame plurale Äußerungsformen übersetzt, wird auch die Bedeutungsintention einer Entwicklungsperspektive vom Kapitalismus zur Sozialen Marktwirtschaft und wieder »zurück« als strukturiertem Prozess lapidar beiseitegeschoben. Eine ähnliche normative Unbestimmtheit ließe sich daneben für die Systemtheorie diagnostizieren, die sich im Schema funktionaler Differenzierung einer klassischen »Kampfsemantik«, mit der Gerechtigkeitsimperative und moralische Integrität eingeklagt werden, grundsätzlich enthält.87 Der Kapitalismus stellt hier – wie auch die Soziale Marktwirtschaft – so gesehen nur eine alles in allem indifferente Benutzeroberfläche für wirtschaftliches Handeln dar, das die Leistungsfähigkeit eines Systems unter dem Gesichtspunkt funktionaler Koordination bzw. Differenzierung bewertet. Der Markt als gewissermaßen »prototypische Gestalt sozialer Vermittlung im Kapitalismus« existiert im Grunde ohne die Orte vorgelagerter Kommunikation, die ihn in vielerlei Hinsicht erst ermöglichen.88 In einem System, das den Erwerb von Gewinn quasi leitcodierend voraussetzt, werden konkurrierende Systemleistungen wie zum Beispiel die notwendige soziale Integration so relativ leidenschaftslos zur Randbedingung dequalifiziert. Abgesehen von postmodern und systemtheoretisch inspirierten Ansätzen hat das maßgeblich von Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash favorisierte Konzept einer »zweiten Moderne«, die von der Annahme eines sich seit den 1970er Jahren vollziehenden Epochenwandels ausgeht, die Linearitätsannahme geläufiger Moderne-Vorstellungen in Frage gestellt. So zeichne sich das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur durch eine immense und sich geradezu ins Unübersichtliche steigernde Pluralität, sondern auch durch tiefgreifende Individualisierungsprozesse, die Erosion religiöser Bindungen und die Auflösung überlieferter Sozialmilieus aus. Aus dieser Perspektive sei die sogenannte zweite Moderne als ein »Zeitalter der Nebenfolgen« zu begreifen.89 Zumal die ökologischen Gefährdungen, die auf dem Verbrauch von fossilen Rohstoffen beruhten, führten im globalen Maßstab zu einer Demokratisierung der Risiken in einem »global desorganisierten Kapitalismus«.90 Die »Risikogesellschaft« kennzeichne sich als eine Gesellschaft der Widersprüche, allerdings ohne den aus einer linken Per86 Vgl. Vittorio Hösle, Apologie der Postmoderne, in: Bernd Goebel / Fernando Suarez Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt 2007, S. 259–268, hier S. 259 f. 87 Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 21996, S. 161. 88 Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1985, S. 89. 89 Ulrich Beck, Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: ders. / Anthony Giddens / Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a. M. 1996, S. 19–112. 90 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a. M. 2007, S. 31 f.

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spektive betonten Hauptwiderspruch von Kapital und Arbeit, wobei überhaupt die politisch traditionelle Spannung zwischen links und rechts an Überzeugungskraft verliere.91 Kurz: Eine Argumentationslinie, die sich auf den Fluchtpunkt einer »zweiten Moderne« bezieht, abstrahiert ebenfalls von jenem von Nähe und Spannung geprägten Verhältnis, das zwischen Sozialer Marktwirtschaft und Kapitalismus besteht, und betont demgegenüber die »Selbsttransformation der Industriegesellschaft«, die ihr Konfliktpotential nicht mehr aus den Macht- und Herrschaftsverhältnissen der traditionellen kapitalistischen Moderne bezieht.92 *** Das vorliegende Buch ist das Ergebnis der gleichnamigen Tagung, die wir vom 1. bis zum 3. November 2017 auf Gut Siggen im Rahmen der Reihe ›Nassauer Gespräche‹ durchführen durften. Diese Veranstaltung wäre ohne die tatkräftige Unterstützung der Freiherr vom Stein-Gesellschaft e.V. nicht zu realisieren gewesen. Die ersten Ideen hierfür entstanden in einem Gespräch mit dem damaligen geschäftsführenden Präsidialmitglied Prof. Dr. Bernd Walter, der die konzeptionellen Überlegungen ebenso überzeugend fand wie dessen Nachfolger Dr. Georg Lunemann. Beiden gebührt daher ein herzliches Dankeschön. Sylvia Monzel von der Freiherr vom Stein-Gesellschaft e.V. hat geholfen, die Veranstaltung kompetent mit vorzubereiten, dafür danken wir ganz herzlich. Die Alfred-Toepfer-Stiftung hat die Tagung finanziell großzügig unterstützt und uns das Seminarzentrum auf Gut Siggen zur Verfügung gestellt. Vor Ort haben wir in überaus anregender Umgebung konzentriert diskutieren können, was auch an der freundlichen Unterstützung von Kai Brodersen gelegen hat; vielen Dank! Lilith Buddensiek, Dr. Sabine Kittel, Prof. Dr. Thomas Großbölting und PD Dr. Winfried Süß haben unseren Austausch durch ihre Diskussionsbeiträge bereichert. Schließlich gilt ein großer Dank dem Steiner-Verlag und hier insbesondere Katharina Stüdemann und Simone Zeeb, die die Drucklegung dieses Bandes begleitet haben. Ein letzter Dank ist Sandra Frühauf und Markus Opfermann als Mitarbeiter des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte auszusprechen. Sie haben alle Aufsätze akribisch Korrektur gelesen. Die verbleibenden Fehler oder Ungenauigkeiten gehen selbstverständlich allesamt zu unseren Lasten. Münster, im Oktober 2019

91 Vgl. Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt a. M. 1997. 92 Als zwischen Moderne und Kapitalismus vermittelndem Ansatz vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Frankfurt a. M. 2016.

ZUR TRANSFORMATION DES ÖKONOMISCHEN UND SOZIALEN ZEITBEWUSSTSEINS SEIT DEN 1970ER JAHREN

Hans-Ulrich Thamer

EIN NEUES ZEITALTER DER EXTREME? Ordnungsvorstellungen und Krisennarrative in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

I

m November 1973 verhängte die Bundesregierung an vier Sonntagen ein allgemeines Fahrverbot für alle Kraftfahrzeuge. Darüber hinaus verabschiedete sie ein Energiesicherungsgesetz, das für sechs Monate eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen anordnete. Das war die unmittelbare und für jedermann spürbare Reaktion auf die Ölpreiskrise, die im Zusammenhang mit dem Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 ausgebrochen war. Die »Organisation Erdöl exportierender Staaten« (OPEC) hatte die Ölförderung um 5 Prozent gedrosselt, um die westlichen Länder wegen ihrer Unterstützung Israels unter Druck zu setzen. Der Ölpreis stieg daraufhin von rund 3 US-Dollar pro Barrel auf über fünf Dollar, das waren etwa 70 Prozent. Im Verlauf des nächsten Jahres stieg der Ölpreis weltweit auf über 12 Dollar. Der Spareffekt der autofreien Sonntage war allerdings gering. Die Bundesrepublik musste 1974 für ihre Ölimporte rund 17 Milliarden Dollar mehr bezahlen als im Jahr zuvor. Die drastische Verteuerung der Energiekosten verschärfte in allen Industrieländern eine sich durch steigende inflationäre Tendenzen und zunehmende Arbeitslosigkeit ohnehin abzeichnende Wirtschaftskrise und führte zu einem deutlichen Anstieg von Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Sozialausgaben und Insolvenzen von Unternehmen. Eine ›Stagflation‹, das heißt die Verbindung von hoher Arbeitslosigkeit und galoppierender Inflation, drohte zum Dauerzustand zu werden. Es waren einschneidende Ereignisse, die nicht nur die konjunkturelle Krise verschärften, sondern auch die strukturellen Probleme der Wirtschafts- und Sozialordnung sichtbar machten. Der Ölpreisschock wurde zum symbolischen Schlüsselereignis, an dem sich bald alle Wahrnehmungen und Deutungen des längerfristigen sozial-ökonomischen Strukturwandels der 1970er Jahre in Europa (und auch darüber hinaus) ausrichteten. An diesen spektakulären weltwirtschaftlichen Einbrüchen, die sich

34 Hans-Ulrich Thamer

1979 zudem noch auf sehr viel drastischere Weise wiederholten, ließen sich erst im Rückblick erkennbare Paradigmenwechsel festmachen.1

I.

Das Ende des »Goldenen Zeitalters« ?

Im Lichte dieser Einschnitte erhielten auch frühere und spätere ökonomische Vorgänge ihre erkennbare Bedeutung und verbanden sich in der Wahrnehmung mit dem Ölpreisschock. Dazu gehört der bereits zwei Jahre zuvor als Reaktion auf die massive Dollar-Schwäche erfolgte Zusammenbruch der Weltfinanzordnung von Bretton Woods, der bald als ein Auslöser der krisenhaften Entwicklung verstanden wurde. Nun wurde auch spürbar, was sich schon seit einiger Zeit als Strukturproblem einiger Traditionsindustrien abgezeichnet hatte und was den Schock von 1973/79 einrahmte beziehungsweise überlagerte.2 Die Kohleindustrie konnte ihre Produkte nicht mehr gewinnbringend absetzen; immer mehr Zechen drohte die Schließung, die allenfalls durch staatliche Subvention hinausgezögert werden konnte. Ähnlich litten Eisenhütten und Werften, schließlich auch die Textilindustrie unter der weltweiten Konkurrenz, die billiger produzieren konnte und mit ihrem Massenangebot auf den Weltmarkt drängte. Die starke Konkurrenz von Billigpreisländern in Asien bedrohte ganze Branchen und verstärkte die Sockelarbeitslosigkeit. Doch das waren nicht allein die Ursachen für die steigende und in einzelnen Regionen beziehungsweise industriellen Sektoren besonders massiv einsetzende Arbeitslosigkeit. Noch langfristiger und widersprüchlicher wirkte sich der beschleunigte technologische Wandel aus: Innovationen in neue Hochtechnologien, von denen die Mikroelektronik seit den 1970er Jahren die Vorreiterrolle spielte, veränderten die Arbeits- und Lebenswelten grundstürzend. Traditionelle Berufe wie beispielsweise die des Schrift- oder Bleisetzers wurden von der Einführung von Satzcomputern verdrängt. Die neuen Technologien, so hoffte man, sollten mittelfristig die Zusammenbrüche traditioneller Industrien und die Gefahr einer 1 Aus der mittlerweile umfangreichen wissenschaftlichen Literatur siehe Eckart Conze, Die

Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, bes. S. 463–578; André Steiner, Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost?, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 29–48; Gerold Ambrosius, Sektoraler Wandel und Internationale Verflechtung: Die bundesdeutsche Wirtschaft im Übergang zu einem neuen Strukturmuster, in: Thomas Raithel / Andreas Rödder / Andreas Wirsching (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 17–30; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Zum Jahr 1979 vgl. jüngst Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019. 2 Stephan H. Lindner, Die westdeutsche Textilindustrie zwischen »Wirtschaftswunder« und Erdölkrise, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 49–67.

EIN NEUES ZEITALTER DER EXTREME? 35

Entindustrialisierung kompensieren. Nicht nur die Produktionsstrukturen wurden von dem technologischen Wandel erfasst, sondern auch der Arbeitsmarkt. Die neuen Technologien erforderten Arbeitskräfte, die über eine sehr viel höhere Qualifikation verfügten und stürzten diejenigen in die Arbeitslosigkeit, die nicht mithalten konnten oder erst mühsam umschulen mussten. Die hohe Sockelarbeitslosigkeit und die Notwendigkeit der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes brachten den Sozialstaat, der gerade erst durch einen außerordentlichen Ausbau mehr Sicherheit und Wohlstand zu garantieren versprach, unter verstärkten Druck.3 Denn nun brachen auch noch Steuereinnahmen in einem beträchtlichen Umfang ein, während die auf den Sozialstaat gerichteten Leistungsanforderungen zunahmen. Mit dem in seinen Konsequenzen äußerst widersprüchlichen und in den einzelnen Branchen beziehungsweise Regionen sich sehr unterschiedlich vollziehenden Strukturwandel änderten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen vieler, was auch die sozio-kulturellen Lebensformen vielfach veränderte und zugleich mit einem allgemeinen Mentalitäts- und Kulturwandel verschränkt war. Der hatte sich, ebenfalls partiell und keineswegs allgemeingültig, zunächst unabhängig davon ebenfalls schon langfristiger entwickelt und hatte eigene Wurzeln.4 Die Säkularisierung und die Auflösung traditioneller Normensysteme hatte schon seit den 1960er Jahren eingesetzt und führte zu einer verstärkten Individualisierung und Pluralisierung, die sich seit den 1970er Jahren bemerkbar machten.5 Dieser vielgliedrige Wertewandel, der freilich auch konservative Gegenbewegungen hervorrief, verschränkte sich zunehmend mit dem sozio-ökonomischen Umschwung. Es waren sehr komplexe Gemengelagen von wirtschaftlichen, technologischen, politischen und kulturellen Umbrüchen und Veränderungen, denen die Zeitgenossen auf ganz verschiedenen und voneinander scheinbar unabhängigen Feldern begegneten, ohne dass sie zunächst Zusammenhänge wahrnahmen. Denn viele Wandlungsvorgänge waren schon länger im Fluss, nur beschleunigten sie sich – auch unter dem Druck der neuen Herausforderungen – in den 1970er und 1980er Jahren signifikant. In dieser Umbruchssituation waren es vor allem einfache Bilder von sterbenden Zechen und leeren Fabrikhallen, die ein Ende der traditionellen Lebenswelten ankündigten und zusammen mit den Bildern der leeren Autobahnen verdeutlichten, dass vieles anders würde. Analytisch müssen 3 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-

land 1982–1990, Stuttgart 2006, S. 334–340; Christoph Boyer, Zwischen Pfadabhängigkeit und Zäsur. Ost- und westeuropäische Sozialstaaten seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 103–119; Winfried Süß, Der keynesianische Traum und sein langes Ende. Sozioökonomischer Wandel und Sozialpolitik in den siebziger Jahren, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 120–137; Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, bes. S. 332–360. 4 Kaelble, Sozialgeschichte, S. 119–152. 5 Geoff Eley, End of the Postwar? The 1970s as a Key Watershed in European History, in: Journal of Modern History 9 (2011), 1, S. 8–26, S. 9 f.; Andreas Rödder, Wertewandel und Postmoderne. Gesellschaft und Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1965–1990, Stuttgart 2004.

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diese Vorgänge, die eine sehr unterschiedliche Veränderungsgeschwindigkeit besaßen, voneinander getrennt werden, zumal sie in den verschiedenen nationalen Gesellschaften und Kulturen auch eine unterschiedliche Intensität und Auswirkung besaßen. Erst dann lässt sich die Frage beantworten, wie diese Vorgänge, deren Evidenz mittlerweile unbestritten ist, sich auf einen Begriff bringen lassen, das heißt welche der Deutungskategorien, die die Sozialwissenschaften dafür seit einiger Zeit gefunden haben, eine hinreichende Beschreibung liefern können und welche Entstehungszusammenhänge sich hinter einigen scheinbar bestechenden nachträglichen Formulierungen verbergen.

II. Die Strukturbrüche der 1970er Jahre Übereinstimmung herrscht mittlerweile unter Sozialwissenschaftlern und Zeithistorikern über die Evidenz eines signifikanten Strukturbruches, der seit der Mitte der 1970er Jahre zu beobachten ist; vielgestaltig und teilweise widersprüchlich fallen die Antworten auf die Frage nach der Spezifik der verschiedenen Wandlungsvorgänge aus. Dreh- und Angelpunkt in den meisten Deutungen sind die sozio-ökonomischen und technologischen Veränderungen und Brüche. Hatten die beiden Ölkrisen von 1973 und von 1979 zunächst demonstriert, wie abhängig die westlichen Industriestaaten nicht nur von fossiler Energie, sondern auch von internationaler Politik waren, so eröffneten sie in enger Verbindung mit den langfristig angelegten strukturellen Krisen und Transformationen eine lange Phase der ökonomischen Instabilität sowie einschneidender ökonomischer und sozialer Strukturbrüche. Die Wirtschaftsentwicklung war seither von niedrigen Wachstumsraten und heftigen Konjunkturschwankungen bestimmt. Allerdings kam es im Unterschied zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, an die die Politik aus psychologischen Gründen nicht gerne erinnern wollte, nicht zu einem dramatischen Einbruch der Produktion. Die Wirtschaft in den westlichen Industrieländern lief weiter, aber mit einem deutlich langsameren Tempo: Die Produktion ging teilweise um 10 Prozent, der internationale Handel um 13 Prozent zurück.6 Dennoch entstanden große Finanzierungsprobleme bei den aufwändigen Sozialprogrammen, mit denen die sozialen Krisenfolgen abgefedert werden sollten, aber von den Steuererträgen der langsamer wachsenden Wirtschaft nicht mehr oder nur durch Erhöhung der Staatsschulden aufgefangen werden konnten. Die Präventionsmechanismen des Sozialstaates in Krisenzeiten und damit die Handlungsweisen der neokorporativen nationalstaatlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassungen funktionierten immer weniger und waren in einigen Staaten kaum noch kontrollierbar. Kritiker wiesen darauf hin, dass diese nicht enden wollende Situation die öffentlichen Haushalte zu erdrücken drohte. Die 6 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München

1995, S. 505.

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»Krise des Sozialstaates« wurde auch in der Bundesrepublik zum beherrschenden Thema der Krisenwahrnehmung und der politischen Diskussion.

III. Der Verlust an Zuversicht Das schlug sich im öffentlichen Bewusstsein nieder und stellt einen Zusammenhang mit politisch-kulturellen und mentalen Veränderungen her. Überall in der westlichen Welt breitete sich seit Mitte der 1970er Jahre relativ abrupt ein Verlust an Zuversicht und Selbstvertrauen aus.7 Alexander Solschenizyn beobachtete 1978 in einem Vortrag in Harvard »eine wachsende Mutlosigkeit. Die westliche Welt hat ihre Zivilcourage verloren, sowohl insgesamt gesehen als auch in jedem Land, jeder einzelnen Regierung und jeder einzelnen Partei«.8 Jürgen Habermas sprach (ebenfalls) in den 1970er Jahren von »Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus«.9 Der Katalog der Krisendiagnosen ließe sich fortsetzen. Zehn Jahre später sah Habermas die verschiedenen Krisensymptome als Zeichen einer neuen Unübersichtlichkeit, in der die Zusammenhänge des »nicht mehr« mit dem »noch nicht« immer weniger erkennbar würden.10 Der Ölpreisschock vom Spätherbst 1973 wurde zum Auslöser einer »individuellen wie kollektiven Verunsicherung«.11 Die verbreitete optimistische Grundannahme der 1960er Jahre, dass der Fortschritt unaufhaltsam, ja sogar planbar sei und dass die sozialen Konflikte durch Wachstum und Sozialintervention überwunden werden könnten, wurde erschüttert – und damit auch die Vorstellung einer immer währenden Prosperität.12 Was die Regierenden zunächst als Rezession darzustellen und mit klassischen keynesianischen Methoden wirtschaftspolitischer Spar- und gleichzeitiger Konjunkturprogramme zu bekämpfen versuchten, sollte sich bald als weltwirtschaftlicher Strukturwandel herausstellen, dem man mit dem Konzept der Globalsteuerung kaum beikommen konnte. Es war der Abschied von einem »Goldenen Zeitalter«.13 Es kündigte sich nicht nur ein Ende einer dreißigjährigen Hochkonjunktur an, sondern auch das Ende der seit langer Zeit gültigen Ordnungsmodelle der industriellen Welten und damit auch das »Ende der Zuversicht« (Jarausch). Denn plötzlich demonstrierte der Ölpreisschock der Gesellschaft und der Politik die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung von Faktoren, die selbst 7 Jan Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im

20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 340–342. 8 Zit. ebd., S. 342. 9 Ebd. 10 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die

Erschöpfung utopischer Energien, Frankfurt a. M. 1985. 11 Conze, Sicherheit, S. 545. 12 Lutz Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Nachinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1984. 13 So der von Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 503 geprägte Begriff.

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nicht zu steuern und kaum zu beeinflussen waren. Das alles hatte gravierende Auswirkungen auf die bis dahin gültigen ökonomischen und sozialen Leitvorstellungen. Dass mit diesen politisch-mentalen Veränderungen eine neue Epoche der Nachkriegsgeschichte beginnen würde, darin stimmten bald viele zeitgenössische Beobachter überein. Der Historiker Michael Stürmer stellte 1993 fest: »Wir befinden uns am Beginn eines neuen Zeitalters, das durch große Unsicherheiten, permanente Krisen und das Fehlen jeglichen status quo charakterisiert ist.«14 Er nannte als Ursachen dieser Übergangskrise nicht nur die Unsicherheiten der Weltwirtschaft und die Umbrüche in der Weltpolitik, sondern auch die mentalen Erschütterungen, die bisherige politisch-moralische Grundsätze in Ost wie in West ins Wanken gebracht hätten: »In dieser Hinsicht besteht übrigens eine merkwürdige Parallelität zwischen Ost und West. Im Osten war die Vorstellung, der Mensch sei Herr seines Schicksals, Staatsdoktrin. Aber sogar bei uns galt – wenngleich sanfter und mehr inoffiziell – die Devise, dass der Mensch auf dem Wege sei, Herr seines Schicksals zu werden. Auf beiden Seiten sind wir mit dieser Omnipotenzanmaßung gescheitert, im Osten absolut, chez nous relativ.«15 Der Altmeister der anglo-marxistischen Geschichtsschreibung, Eric Hobsbawm, zitierte diese Diagnose zustimmend, um freilich nach dem »Ende des Goldenen Zeitalters« in der Mitte der 1970er Jahre nicht nur eine neue und lange Phase der Um- und Zusammenbrüche, sondern eine neue Konstellation der »Extreme« aufziehen zu sehen, in denen er insgesamt das entscheidende Merkmal des 20. Jahrhunderts erkannte. Er wies dem Neoliberalismus mit seinem Dogma der »unbegrenzten und unkontrollierten globalen freien Marktwirtschaft«, das »seinen Höhepunkt ideologischer Selbstzufriedenheit nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems erreichte«,16 die Verantwortung für die Unterminierung jener Stabilisatoren zu, die die mehr als dreißig Jahre eines »Goldenen Zeitalters« getragen hätten. Denn die »ökonomische Orthodoxie«, deren Siegeszug linke Kritiker als neoliberale Verschwörung verstanden, habe bewirkt, dass sich bei den westlichen Regierungen die systemgefährdende Meinung durchgesetzt habe, »dass die öffentlichen Sozialversicherungs- und Wohlfahrtskosten zu hoch angestiegen wären und reduziert werden müssten«, dass man »im öffentlichen Dienst, im Banken- und Finanzwesen und bei der mittlerweile durch Technologie überflüssig gewordenen Massenbüroarbeit« massenweise Arbeitsplätze streichen müsse. Spätestens mit der Weltkrise der 1990er Jahre hätte sich dann abgezeichnet, dass dies keine wirkliche Lösung darstelle. Hobsbawms Prognose beziehungsweise seine Forderungen deckten sich mit denen der marktkritischen Bewegungen der beiden vergangenen Jahrzehnte: »Soziale Umverteilung und 14 Michael Stürmer, Orientierungskrise in Politik und Gesellschaft? Perspektiven der Demo-

kratie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Bergedorfer Gesprächskreis 98 (1993), S. 98; zit. bei Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 687. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 706.

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nicht so sehr Wachstum wird die Politik des neuen Jahrtausends bestimmen.« Eine »marktunabhängige Zuteilung von Ressourcen oder zumindest eine scharfe Beschränkung der marktwirtschaftlichen Verteilung wird unumgänglich«, um der »drohenden ökologischen Krise die Spitze zu nehmen«.17

IV. Krisensymptome und politische Wahrnehmung Mittlerweile hat auch die jüngere Zeitgeschichtsforschung, deren Vertreter von ähnlichen Erfahrungen und theoretischen Konzepten geprägt waren wie die Sozialwissenschaften, einige Befunde bestätigt und damit begonnen, die unterschiedlichen Symptome und Felder des Wandels genauer auszuloten und miteinander in Beziehung zu setzen. Über die allgemeine Bewertung besteht auch in der zeithistorischen Forschung weitgehend Einigkeit: Die 1970er Jahre gelten als »Höhepunkt einer tiefgreifenden Krise, die nicht nur Westeuropa, sondern den Westen insgesamt erfasst hatte. Zumindest kulminierte in jenen Jahren ein akutes Krisenbewußtsein.«18 Bei genauerem Hinsehen zeigte sich allerdings, dass dieser allgemeine Befund, wie er sich in den sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen herausgebildet hatte, auf sehr unterschiedlichen Erfahrungen beruhte und darum auch zu unterschiedlichen Deutungsmustern führte. Sie waren mehr Konstruktionen und Selbstverortungen als wirkliche Beschreibungen. Belege für die öffentliche Krisenwahrnehmung finden sich in großer Zahl und sie lassen sich bei genauerem Hinsehen auf andere, schon weiter zurückliegende Krisenerfahrungen wie etwa Reaktionen auf die Protest- und Emanzipationsbewegungen der achtundsechziger Jahre zurückführen, von denen sie ihren Ausgang nahmen und die teilweise schon an der allgemeinen Zuversicht genagt hatten. Zwar hatte sich die öffentliche Wahrnehmung anfangs nur auf vereinzelte Indizien für eine solche Zäsur fixiert, doch allmählich wurde allgemein erkennbar beziehungsweise entsprechend gedeutet, was von den bisherigen Ordnungsentwürfen der industriellen Welt seine Gültigkeit verlieren würde oder was sich bereits verändert hatte. Dabei waren auch die Reaktionen der Politik und der Gesellschaft zunächst unterschiedlich. Die Bundesregierung wollte aus politischen Gründen keinen deutlichen Kurswechsel herbeiführen, sondern das Umsteuern allenfalls in homöopathischen Dosen betreiben und sperrte sich darum gegen Annahmen eines grundstürzenden Bruches. Die Maßnahmen der Bundesrepublik von 1973 sollten nur Öl einsparen und der Bevölkerung den Ernst der Lage schrittweise nahebringen. Bundeskanzler Helmut Schmidt kommentierte das später so: »Damit das deutsche Volk begreifen sollte, was passiert ist, haben wir damals diese autofreien 17 Ebd., S. 711. 18 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung

im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 340.

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Sonntage auf der Autobahn verordnet. Nicht um Öl zu sparen, das war ein Nebeneffekt. Der eigentliche Zweck dieser Übung war, den Menschen klar zu machen: Dies ist eine ernste Situation.«19 Die Maßnahmen der deutschen Bundesregierung (und anderer westeuropäischer Staaten) waren aber nicht nur vorsichtig; sie verkannten auch den Ernst der Lage. Viele europäische Regierungen versuchten, mit einer Mischung von Sparprogramm und von Konjunkturprogrammen (das war gut keynesianisch gedacht) beziehungsweise Steuerentlastungen auf die Krise zu reagieren, um die Binnennachfrage zu stimulieren und gleichzeitig durch die sehr viel geringeren Kürzungsmaßnahmen die öffentlichen Ausgaben zu vermindern. Als Ende 1975 die Konjunktur vorübergehend wieder ansprang, konnte sich die Regierung Schmidt in ihren Maßnahmen bestätigt fühlen. Aber das war nur eine kurze Erholung und die Arbeitslosigkeit blieb auf dem hohen, bis dahin unbekannten Sockel von über einer Million. In der Zeitschrift Der Arbeitgeber, in der einzelne Autoren schon länger vor einer Überdehnung des Sozialstaates gewarnt hatten, hieß es 1975: »So, wie es 1973 war, wird es nie wieder sein. Das Jahr 1 der neuen Zeitrechnung hat begonnen. Was für die Väter die Zeit ›nach der Währung‹ war, wird für die Kinder die Zeit ›nach dem Öl‹ sein.«20 Der sarkastische Ton dieser Feststellung, hinter dem sich eine eindeutige Interessenfixierung verbarg, »unterschätzte die gesellschaftlichen Wirkungen der Energie- und Wirtschaftskrise«21 und erkannte nicht die Komplexität und Ambivalenz der Entwicklungen, für die die Ölpreiskrise nur stellvertretend stand. Der britische Premierminister James Callaghan verkündete 1976 auf dem Parteitag seiner Labour-Partei die sehr viel weitergehende Erkenntnis, die vor allem die Anhänger der europäischen Sozialdemokratie verstören musste. Man sei bisher immer davon ausgegangen, »man könne sich aus einer Rezession herauskaufen und die Beschäftigung steigern, indem man Steuern senkt und die Staatsausgaben erhöht. Ich sage euch in aller Offenheit, dass es diese Option nicht mehr gibt.«22 Dass die neuen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zwänge, vor denen die Industriegesellschaften in unterschiedlicher Ausprägung standen, auch weiterreichende Folgen für die Politik der westlichen Demokratien haben könnten, prognostizierte eine amerikanische Gruppe von Politikwissenschaftlern. In ihrem »Bericht über die Regierbarkeit von Demokratien an die Trilaterale Kommission« von 1975 sahen sie eine »Krise der Demokratie« und prognostizierten der demokratischen Regierungsform eine düstere Zukunft.23 Die Regierungen würden durch die Forderungen, die die Gesellschaft an sie herantrügen, überlastet. Zudem klagten die Verfasser des Berichts, dass in dieser Situation die Intellektuellen zusätzlich durch ihre Kritik an dem politisch-sozialen System zu dessen De19 20 21 22 23

Zit. bei Conze, Sicherheit, S. 515. Zit. ebd., S. 545. Ebd., S. 545. Zit. bei Nolte, Ordnung der Gesellschaft, S. 341. Zit. bei Müller, Demokratisches Zeitalter, S. 343.

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legitimierung beitrügen.24 Auch der anfangs wenig beachtete Bericht des Club of Rome von 1972 wurde nun in der öffentlichen Diskussion ernst genommen und motivierte die Forderung nach einer Umformulierung der wirtschaftlichen Ziele und nach einer auf Nachhaltigkeit gerichteten Veränderung der Funktionsweise der Wirtschaftssysteme. Die langanhaltende ökonomische Krise galt als Zeichen für die »Grenzen des Wachstums«, die man nun erreicht habe. Damit erhielt auch die Fortschrittsgewissheit, die sich erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre durchgesetzt hatte, bereits wieder einen argen Dämpfer. Vom Ende der »Überflussgesellschaft« war nun vielfach und meist in kulturkritischer Absicht in der Presse zu lesen. Andererseits nahm die Forderung an Staat und Politik zu, der drohenden Erosion der sich gerade erst entfaltenden Konsumgesellschaft entgegenzuwirken, was die klassische Sozialpolitik vor neue Herausforderungen stellte.25 Als 1979 mit der zweiten Ölpreiskrise, die nun von der Islamischen Revolution im wichtigen Ölförderland Iran ausgelöst worden war, die konjunkturellen Abschwünge stärker denn je wieder auftraten, wurde allen deutlich, dass die keynesianische Option nicht mehr griff. Dort, wo die keynesianische Politik ihre Ziele der Vollbeschäftigung und Preisstabilität besonders deutlich verfehlt hatte, setzte sich der Politikwechsel relativ drastisch durch. In Großbritannien hatte die Inflationsrate 1975 mit einer Marke von 25 Prozent eine Rekordhöhe erreicht, was den Einfluss der neoliberalen Think Tanks gewaltig steigerte und die steuernde Rolle des Staates in Frage stellte.26 Einige Jahre später stand darum für die Regierung Thatcher die »Freiheit des wirtschaftenden Individuums«27 im Vordergrund und führte zu einer rigiden Politik der Deregulierung. Staatsbetriebe wurden privatisiert, der Ausbau des Sozialstaates deutlich verlangsamt und die Macht der Gewerkschaften dauerhaft geschwächt. In der Bundesrepublik hingegen konnten sich neoliberale, monetaristische Konzepte nicht oder kaum durchsetzen. Die sozialliberale Koalition nahm den Strukturwandel fast ausschließlich aus der arbeitsmarktpolitischen Perspektive wahr und reagierte mit Konjunkturprogrammen wie einer verstärkten Kreditaufnahme auf die Krise.28 Die Regierung Kohl kündigte 1983 zwar eine »geistig-moralische Wende« an, doch gelang der christlich-liberalen Koalition weder eine »langfristige finanzielle Konsolidierung noch eine echte institutionelle Reform der Sozialsysteme.«29 Die föderativen und korporatistischen Strukturen beziehungsweise Verflechtungen der bundesrepublikanischen Politik, aber auch die empfindlichen, partikularistischen Reaktionen der Wähler verhinderten einen radikalen Kurs24 Ebd. 25 Wolfgang König, Die siebziger Jahre als konsumgeschichtliche Wende in der Bundesrepu-

blik, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 84–99, hier S. 94. 26 Gabriele Metzler, Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 243–260, hier S. 250. 27 Metzler, Staatsversagen, S. 254. 28 Steiner, Wirtschaftlicher Strukturwandel, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 44. 29 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 338.

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wechsel, wie er in Großbritannien durchgeführt wurde. Forderungen nach einer Steuergesetzgebung und Industrieförderung nach britischem Vorbild lehnte Helmut Kohl ab und bekannte sich ausdrücklich zu den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft und gegen die neoliberale Philosophie.30 Es bestand in den westlichen Industriestaaten offensichtlich keine Einigkeit darüber, was grundsätzlich an die Stelle des »keynesianischen Traumes«31 treten sollte. Denn zu widersprüchlich waren die Herausforderungen, die der vielfältige Strukturwandel mit sich brachte; zu gegensätzlich waren auch die gesellschaftlichen Erwartungen und Erfahrungen in einer Umbruchssituation, die mehr als nur Reflex einer ökonomischen Krise war. Die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der lang- und mittelfristigen Veränderungen, die nun im Augenblick der Krise sichtbar wurden, zeigten sich wie oben schon angedeutet auch in den ambivalenten sozialwissenschaftlichen Deutungsversuchen. Übereinstimmung herrschte nur in der Notwendigkeit, sich von den bisher gängigen Erklärungsmodellen gesellschaftlicher Entwicklung zu verabschieden und die verschiedenen Krisen und Umbruchsphänomene in allgemeine Gesellschaftsentwürfe einzuordnen. Doch es gelang kaum, die veränderten Konstellationen auf einen wirklich überzeugenden Begriff zu bringen. Zu widersprüchlich und vielfältig waren die Erfahrungen des Wandels und sie führten darum zu sehr heterogenen Beschreibungen, die den kulturellen und politisch-theoretischen Selbst-Verortungen der Beobachter entsprachen. Die eigentliche Bedeutung der Veränderungen, die »nach dem Boom« (Doering-Manteuffel/Raphael) erkennbar wurden, erschloss sich erst langsam und mündete in widersprüchlichen Diagnosen.

V. Sozialwissenschaftliche Diagnosen und Zeitgeschichtsforschung Zunächst schien sich die ökonomische Doktrin des Neoliberalismus nicht nur in dem wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs, sondern auch in der Praxis durchzusetzen. Vor allem mit dem Regierungswechsel in Großbritannien und in den USA zu Margret Thatcher im Jahre 1979 beziehungsweise zu Ronald Reagan ein Jahr später orientierten sich einige Industriestaaten an der wirtschaftspolitischen Programmatik der monetaristischen Vordenker und richteten ihre wirtschaftspolitische Praxis an deren Rezepten aus. Der gefeierte amerikanische Ökonom Milton Friedman fand mit seinem Postulat, die Märkte nicht durch eine Globalsteuerung, sondern durch eine kontrollierte Geldpolitik zu steuern und damit die Stabilität des Geldwertes zu sichern, viele Anhänger. Die Geldpolitik sollte Vorrang vor der staatlichen Wirtschaftspolitik bekommen und damit den Einfluss des Staates zurückdrängen. Das bis dahin vorherrschende konsensorientierte, politisch-ökonomische Steuerungs- und Handlungskonzept, das von einem Zusammenhang 30 Ebd. Vgl. hierfür auch den Beitrag von Almuth Ebke in diesem Band. 31 Süß, Keynesianischer Traum, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 120 f.

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zwischen Kapital, Arbeit und Staat ausging, verlor, kaum dass es sich politisch voll entfaltet hatte, an Attraktivität.32 Damit wuchsen auch die Zweifel an der Gültigkeit der klassischen Modernisierungstheorie, die sich seit den 1950er Jahren als wirksame Deutung und Rechtfertigung der klassischen Phase der Hochindustrialisierung und einer jahrzehntelangen Phase der Hochkonjunktur verbunden und mit einem langanhaltenden Wachstum und einem stetigen Ausbau des Sozialstaates erwiesen hatte. Die Modernisierungstheorie hatte es erlaubt, eine Vielzahl von Handlungsebenen zu umfassen und wie ein Passepartout normative Ansprüche und Deutungen ebenso zu erfassen wie praktische Reformplanungen. Sie versprach Zukunftsgewissheit und die Abkehr von der zerstörerischen und krisenhaften Vergangenheit der Zwischenkriegszeit. In der Modernisierungstheorie bündelten sich mithin alle zentralen Aspekte der Moderne.33 Ihre Attraktivität lag darin, dass sie eine Planbarkeit und Vernetzung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Fortschritts versprach und von der Wirklichkeit bestätigt zu sein schien. In der Bundesrepublik hatte das damit verbundene Ordnungsmodell der Globalsteuerung und der permanenten Reform auf der Basis eines selbsttragenden Wachstums und stetiger Lohnzuwächse sowie steigender Unternehmergewinne verbunden mit einem stabilen Massenkonsum seinen Höhepunkt mit der sozialliberalen Reformpolitik der frühen 1970er Jahre erreicht; eingeleitet war sie von dem »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums« aus Zeiten der Großen Koalition von 1967. Kaum hatte sich dieses Reformprojekt in den frühen 1970er Jahren politisch durchgesetzt, da brachen die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür mit den erwähnten Konjunktur- und Strukturbrüchen seit Mitte der 1970er Jahre weg. Die politisch-sozialen und kulturellen Gegenkräfte beziehungsweise fundamentalen Alternativen nahmen zu. Die frühesten Deutungsmodelle zur Charakterisierung dieser Strukturbrüche stammen von den Politik- und Sozialwissenschaften, die bereits über verwendbare Deutungsmodelle verfügten und diese nun überprüften beziehungsweise anpassten. Darum entstanden sie zeitlich näher an den konkreten Entwicklungen als entsprechende historische Darstellungen, die bekanntlich einen größeren Abstand zu ihrem Untersuchungsgegenstand benötigen und eine gewisse Vorsicht gegenüber allzu pauschalen Theorien und Deutungen besitzen. Die soziologischen Diagnosen und Formelbegriffe können darum für eine zeithistorische Darstellung »Quelle und Deutung«34 sein. Quelle, weil sie Auskunft geben über den Zeitgeist, über den jeweiligen Entstehungskontext und über die dominanten Deutungsmuster; Deutung, weil sie das Problembewusstsein bei der Darstellung

32 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 31. 33 Andreas Rödder, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne, in: Raithel/Rödder/Wir-

sching, Auf dem Weg, S. 181–201, hier S. 196. 34 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 58.

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der 1970er Jahre schärfen können, nicht aber als Beschreibung empirischer Wirklichkeiten missverstanden werden dürfen.35 In den Sozialwissenschaften tauchten Mitte beziehungsweise Ende der 1970er Jahre eine Reihe von Interpretationen auf, die mit prägnanten Schlagworten operierend eine allgemein gültige Erklärung des sozialen Wandels geben wollten, für den die Ölpreiskrise nur ein Indikator und der ökonomische Wandel auch nur Teil einer sehr viel weitergehenden sozio-ökonomischen und kulturellen Veränderung (bei einer gleichzeitigen Stabilität und Persistenz des politischen Systems) war. Die Häufung neuer Ordnungsentwürfe in den 1970er und 1980er Jahren scheint einen Zusammenhang zwischen Strukturwandel und Theoriewandel nahezulegen. Noch bevor das wirtschaftliche Wachstum und die gesellschaftliche Modernisierung als Merkmal einer Epoche einen festen Platz im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein der westlichen Gesellschaften erobert hatten und zum Schnittmuster politischer Planung wie zum Maßstab für die Fortschrittlichkeit einer Nation wurden, hatte der amerikanische Soziologe Daniel Bell um 1960 die Entwicklung seit den 1950er Jahren auf den Begriff gebracht und ein allgemein gültiges Tableau gesellschaftlicher Dynamik entwickelt, das diesem westlichen Ordnungsmodell eine verbindliche Legitimation verschaffte. Der Gleichklang von politisch-parlamentarischer Demokratisierung, wirtschaftlich-industriellem Wachstum und von einer Rationalisierung der Gesellschaft und ihrer Lebenswelten versprach Fortschritt und Prosperität und im politischen Bereich ein Ende der Ideologien.36 Hatte Daniel Bell seinerzeit noch laut und überzeugt in die Fanfare der Modernisierungstheoretiker geblasen und vom Ende des Zeitalters der Ideologien gesprochen, so entwickelte er mit großer öffentlicher Wirkung vor dem Hintergrund der erwähnten ökonomischen Krisenphänomene Merkmale einer neuen Beschreibung der nachindustriellen Wirtschaft und Gesellschaften. Die sah er durch einen Vorrang der Dienstleistungsgesellschaft und der Verschiebung der Erwerbsarbeit in den tertiären Sektor bestimmt. Der klassische »blue-collar« Industriearbeiter werde weitgehend abgelöst von »white-collar« Angestellten, die sich nicht an traditioneller Ausbildung und Erfahrung, sondern an der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung von Arbeitsprozessen orientierten. Der Niedergang der Industriearbeit führe zu einer umfassenden Veränderung der Struktur der Gesellschaft, weil damit zur Überwindung der Krise und zur Anpassung an die neuen Herausforderungen zwangsläufig ein technologischer Wandel und die Entfaltung einer neue Wissensgesellschaft erforderlich seien. Kritiker haben dem entgegengehalten, dass es ein Nebeneinander von persistenten industriellen Produktionsformen und technologischen Innovationen gebe, die nach dem Muster von Bell 35 Rüdiger Graf / Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften.

Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (2011), S. 479–495. 36 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 60.

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eigentlich schon in eine spätere, dritte Phase des Industrialisierungsmodells gehörten. Auch habe das industrielle System die Verschiebung der Leitsektoren sowie den Aufstieg etwa der IT-Branche ohne große systemsprengende Verwerfungen überstanden. Das postindustrielle System habe das industrielle keineswegs abgelöst, sondern die beiden Produktions- und Gesellschaftsformen seien allenfalls miteinander vermengt worden. Auch hielt Bell nach wie vor an einem linearen Fortschrittsmodell fest, das nun auf den Systemwandel transponiert wurde, aber kaum geeignet war, eine komplexer gewordene Wirklichkeit zu erfassen. Die Überlegungen Bells über eine spezifische Richtung des sozialen Wandels griff Ronald Inglehart mit seinem Buch über die »Silent Revolution« auf, in dem er den kulturellen Wandel als Triebkraft der weiterhin wirksamen Modernisierung in den Blick nahm, die seit den 1960er Jahren als Folge des Booms virulent gewesen seien. Später hat er in einer Publikation unter dem Titel »Kultureller Umbruch« seine Thesen zu einem Erklärungsmodell für die allgemeine Entwicklung ausgeweitet und den Wertewandel zum zentralen Kennzeichen des Wandels erhoben.37 Er sah diesen Wandel als Folge der materiellen Auswirkungen des industriellen Zeitalters, die bessere Bildungschancen, eine Erweiterung des Wissens beziehungsweise der Wissensvermittlung mit Hilfe der modernen Medien und der neuen Technologien ermöglichten. Davon hätten Männer wie Frauen gleichermaßen profitiert. Nicht nur, dass Inglehart in seinem Modell des Wertwandels wichtige Faktoren des Wertehimmels außer Acht gelassen hat, etwa den religiösen Faktor oder die lebensweltlichen Veränderungen von der Familie bis hin zur Sexualität, war Thema der Kritik. Auch wurde darauf hingewiesen, dass zu seiner Theoriebildung noch der ungebrochene Glaube an die Gültigkeit des Modernisierungsparadigmas, das heißt an den Zusammenhang von industriellen Produktionsregimes mit dem Vertrauen auf fiskalpolitische Steuerungsmöglichkeiten und politische Handlungsmöglichkeiten in einem festen nationalen, staatlichen Gefüge gehörte. Mit der späteren Erweiterung seines Konzepts, das nun auf die Betonung des »kulturellen Umbruchs« größeren Wert legte, hat er dann auch die immateriellen Lebensbedingungen, die auf einer Liberalisierung und Pluralisierung beruhten, zusätzlich in den Blick zu nehmen versucht. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Wendung dann auch in Deutschland zu einer stärkeren Rezeption führte und den Wertewandel als ein breites Phänomen, das zu einer allgemeinen Entgrenzung führe, jenseits aller kulturpessimistischen Tendenzen in die soziologische Deutung aufnahm. In den 1980er Jahren mehrten sich die skeptischen Analysen. Ulrich Becks These von der »Risikogesellschaft« traf nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 eine verbreitete Stimmung in der Bundesrepublik, obwohl sein Deutungsmuster sehr viel weiterreichend war und eine Vervielfachung der Lebensrisiken meinte, die sich aus dem technologischen Wandel wie aus Umwelt37 Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt a. M. 1989.

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bedrohungen ergäben.38 Es ging um die »Risiken und Nebenwirkungen« der Modernisierung, wie sie heute ganz selbstverständlich auch in der Pharmawerbung angesprochen werden. Spätestens mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 hatte die These von der »Risikogesellschaft« ein erhöhtes Maß an Plausibilität gewonnen. Beck hob seinerzeit ins allgemeine Bewusstsein, wie sehr mittlerweile der Glaube an den Fortschritt und an die Planbarkeit an Wirkungskraft verloren hatten, wie machtlos das Individuum den Veränderungen der Industriesysteme und den industriegesellschaftlich bestimmten Lebensformen gegenübersteht und wie wirkungsmächtig nach den Hochzeiten normativer Setzungen des Modernisierungszeitalters mittlerweile der Eindruck des Nicht-Mehr-Funktionierens der industriellen Welt geworden war. Die moderne industrielle Welt berge jede Menge Risiken in sich, sie bringe Bedrohungen hervor, die jeden Menschen betreffen könnten, ohne dass er der unmittelbare Verursacher dieser Geschehnisse wäre. Zu den Risiken gehört auch die Gefährdung der sozialen Sicherungssysteme, vor allem durch die Erhöhung der Lebensrisiken oder durch eine Begrenzung der Sozialstaatsangebote. Doch bietet nach Meinung von Kritikern Beck keine hinreichende Erklärung für die gegenteilige Tendenz zur Beschneidung oder Erweiterung der Sozialstaatlichkeit. Zur Wirkungsgeschichte der Risikogesellschaft gehörte auch die sich vielfach anbietende Verknüpfung mit den Erfahrungen und Bedürfnissen der Alternativbewegungen und der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1980er Jahren. Die Theorie der Modernisierung hatte dadurch endgültig ihre ungebrochene Deutungsmacht und unreflektierte Wirkungsweise verloren. Die Häufung der negativen Erscheinungen von Entwicklungen der industriellen Welt, die sich in dem Begriff der »Risikogesellschaft« oder der »reflexiven Moderne« zu einer großen Skepsis bündelten, verband sich leicht mit dem Befund der »Grenzen des Wachstums« und wurde zum Kernstück der Ordnungsmodelle alternativer Bewegungen. Sie spiegeln ein verbreitetes Unbehagen angesichts der Umweltkatastrophen und des grenzenlosen Ressourcenverbrauchs, aber auch des Finanzmarkt-Kapitalismus mit seinen unkontrollierten Kapitalströmen. Das gilt bis heute und deutet darauf hin, dass die Übergangs- und Umbruchserfahrungen der 1970er und 1980er Jahre über das Jahr 1989 hinausweisen und dass die 1970er Jahre die Anfänge der Probleme der Gegenwart in sich bergen. In einem weiteren Schritt vertiefte Beck seine Überlegungen über den Zustand der gesellschaftlichen Moderne und machte deutlich, dass der Wandel, der bisher mit dem optimistischen Aspekt des Fortschritts verbunden war, auch andere Wege beschreiten und in eine andere Moderne führen könne, die dann bald als »zweite Moderne« bezeichnet wurde. Das Risiko und die negativen Folgen der technologischen und sozial-kulturellen Modernisierung gehörten, so die neue Einsicht, eben auch zur Moderne, deren Merkmal gerade in ihrer Ambivalenz liege. Das führte zu dem leicht missverständlichen Begriff der »reflexiven Moder38 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

EIN NEUES ZEITALTER DER EXTREME? 47

nisierung«39, mit dem der industriewirtschaftliche Fortschritt einer Gewinn- und Verlustrechnung unterzogen und den widersprüchlichen historischen Erfahrungen angepasst wurde. In dieselbe Richtung gingen die soziologischen Deutungen einer »Postmoderne«, wie sie in Frankreich von Lyotard40 entwickelt wurden, beziehungsweise eines »Dritten Weges« und der Aufhebung des »Links-RechtsGegensatzes«, den Anthony Giddens 1994 im Zusammenhang mit der New Labor Politik von Tony Blair thematisierte. Diese Häufung der Definitionsversuche, die von den bisherigen Fortschrittskonzepten abwichen, macht überdies deutlich, dass es ein verbreitetes Bedürfnis gab, den widersprüchlichen Wandel, den man erlebte, zu definieren und historisch-gesellschaftlich einzuordnen beziehungsweise mit anderen Zäsurmodellen in Übereinstimmung zu bringen. Auch der Wortführer der anglo-marxistischen Gesellschaftsgeschichte, Eric Hobsbawm, sah sich durch diese Veränderung veranlasst, seine Deutung der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die ganz von der Erfahrung der Russischen Revolution und des Kalten Krieges geprägt war und mit dem Titel »Das Zeitalter der Extreme« dafür einen griffigen und mittlerweile weit verbreiteten Titel gefunden hatte, durch die Erfahrung des »Erdrutsches«, der seit den 1970er Jahren eingetreten sei und zu langanhaltender Wirkung geführt habe, zu relativieren. Er sprach nun davon, dass die »Krisenjahrzehnte«, die ihren Anfang Mitte der 1970er Jahre genommen hätten, in Folge des Erdrutsches das Ende des Kalten Kriegs von 1989/90 überlagerten. Er sprach von einem »Gefühl der Desorientierung und der Unsicherheit«, die der »tiefgreifende Bruch« durch das Krisenjahrzehnt in der Politik der Industriestaaten hervorgerufen habe. Er sah diesen Bruch von der »Schlacht zwischen Keynesianern und Neoliberalen« begleitet und verschärft und nannte das »einen Krieg zwischen zwei unverträglichen Ideen«.41 Was er mit diesem Krieg der Ideologien ebenfalls verband, war die Niederlage der marxistischen Gesellschaftslehre, die sich ebenfalls in den 1980er Jahren bereits in westlichen Intellektuellenzirkeln abzeichnete und mit dem Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« auch politisch unwiderruflich wurde.42 Der Befund eines zu Verunsicherungen und tiefgreifenden beziehungsweise richtungsunbestimmten sozialen Wandlungen führenden Strukturbruchs in den 1970er und 1980er Jahren, der auch die vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen bestimmt hatte, geriet freilich durch die welthistorische politische Zäsur von 1989/90 ins Wanken und wurde seinerseits von einem späten »liberalen Triumph«43 überlagert oder verdrängt. Francis Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte«, die diese Erfahrung des Jahres 1989 bündelte, erschien auf den 39 Ulrich Beck / Anthony Giddens / Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung. Eine Kontro-

verse, Frankfurt a. M. 1996. 40 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Rapport sur le savoir, Paris 1979. 41 Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 705 f. 42 Göran Therborn, The Tide and the Turn of the Marxian Dialectic of European Capitalism, in: Journal of Modern History 9 (2011), 1, S. 9–12. 43 Müller, Demokratische Zeitalter, S. 402.

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ersten Blick als »naives liberales Triumphgeheul«, auch wenn damit keineswegs das Ende aller gewaltsamen Konflikte gemeint war, sondern die Dominanz einer spezifischen Lebensweise, die sich aus der siegreichen liberalen Demokratie ergebe und die langfristig ohne Alternative sei. Muster für diesen künftigen Weg der »postideologischen« Gesellschaften wäre Westeuropa mit seinen friedlichen und von Freizügigkeit für Menschen und Handel geprägten, zwischenstaatlichen Beziehungen. Auch diese Prognose wurde bekanntlich bald von der Wirklichkeit überholt. Trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangspunkte und unterschiedlichen Deutungsmuster waren sich die Diagnosen der Sozialwissenschaftler in ihrer Summe in einem Punkt einig: Sie konstatierten einen tiefgreifenden Strukturwandel, den sie freilich mit sehr unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Deutungsmustern zu erfassen versuchten. Trotz der Versuche, dabei die Zusammenhänge ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Entwicklungen zu berücksichtigen, die im Gegensatz dazu in vielen publizistischen zeitgenössischen Krisendiagnosen nur ansatzweise angesprochen worden waren, neigten auch die soziologischen Diagnosen dazu, den Wandel von einem Punkt ausgehend oder auf diesen fixiert zu beschreiben. Sie berücksichtigten bei ihren Erklärungsmodellen weniger die Übergänge zwischen den verschiedenen idealtypischen Ordnungsmodellen und waren weniger auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beziehungsweise den Niedergang von traditionellen Ordnungsformen fixiert. Betrachtet man diese Lebensformen und sozio-ökonomischen Strukturen in ihrem tatsächlichen Nebeneinander, so verstärkt sich der Eindruck der Widersprüchlichkeit und Pluralität beziehungsweise der Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die sich deutlich von der Epoche davor abheben. Das gilt vor allem für das erste Jahrzehnt dieses Überganges, die 1970er Jahre, und in anderer Weise auch für die 1980er Jahre. Vermutlich ist dies eine Perspektive, die eher dem Denken und methodischen Verfahrensweisen von Historikern entspricht. Kein Jahrzehnt der Nachkriegszeit, so haben Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael in diesem Sinn einer Historisierung bilanziert, war so sehr von Widersprüchen geprägt wie die 1970er Jahre;44 Widersprüche zwischen einem langen wirtschaftlichen Nachkriegsboom, einer traditionellen Montanindustrie und einer fordistischen Massenproduktion einerseits und der beginnenden Entindustrialisierung in der Textilindustrie wie im Montanbereich ganzer Regionen als Folge von neuer Billigpreiskonkurrenz, der Entwicklung neuer Technologien und neuen Formen des Wirtschaftens andererseits. Zwischen dem eben noch virulenten Traum ungebremster wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung und sozialer Sicherheit, stetiger Einkommenssteigerung und Vollbeschäftigung einerseits und der Erfahrung einer bis dahin unbekannten Massenarbeitslosigkeit andererseits, die auf einem hohen Sockel verharrte und die bisherigen Sozialsysteme stark belastete und schließlich die These von der Überdehnung des Sozialstaates auf44 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 56.

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kommen ließ. Widersprüchlich sind aber auch die Erfahrungen dieser vielfältigen Krisenerscheinungen und Rhetoriken einerseits und lebensgeschichtlichen Erinnerungen an den sozial-kulturellen Wandel andererseits, in denen der Massenkonsum und der Massentourismus trotz der Ölpreiskrise einen ersten wirklichen Höhepunkt erreichten, was im Widerspruch zur Tatsache der ökonomischen Krise und der hohen Arbeitslosigkeit zu stehen scheint.45 Die ungebremste Welle des Massenkonsums geht einher mit einer Liberalisierung und Individualisierung der Lebensstile, die vielfach in kulturkritischer Absicht auch als Explosion eines Hedonismus beschrieben wurden und die auch zu den ökonomischen Strukturveränderungen eher in einem Verhältnis des ›Nebeneinander‹ als in einem des ›Ineinander‹ zu bestehen schienen. Schließlich kam in der deutschen Erfahrung noch der Widerspruch zwischen einer dominanten Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik und den Mangel- und Untergangsszenarien der DDR hinzu, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung zwar mehr die Bürger der DDR beunruhigten als die hauptsächlich nach Westen blickenden Bundesbürger, aber im Rückblick nach 1989 die Erinnerung dennoch bestimmten und zu einer ganz anderen Zäsurerfahrung führten, nämlich dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme 1989/90 und der deutschen Wiedervereinigung.46 Das bringt uns andeutungsweise zu der weiterführenden Frage, ob der mit ein paar Schlagworten angedeutete Strukturwandel der 1970er Jahre einschneidender und epochebildender war als die Zäsur von 1989/90, die mit dem Ende des Kalten Krieges kam und dessen lange Dauer überlagerte. Ob diese Zeitenwende der 1970er Jahre, die an einem sozio-ökonomischen Strukturbruch und einem Mentalitäts- und Wertewandel festgemacht wird, wirklich so einschneidend war oder auch nur durch bessere gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfassungsund Prognosemöglichkeit nur diagnostizierbarer wurde? Oder durch die Beobachtung von Phänomenen, die schon länger galten, aber bislang – wie etwa die Migration – außerhalb des deutschen oder auch westeuropäischen Problemhorizontes lagen? Handelte es sich bei den skizzierten Entwicklungen also vor allem um eine Sinnkrise als Folge einer veränderten Wahrnehmung? Immerhin zeigt dieser kritische Einwand, wie er vor allem von dem Wirtschaftswissenschaftler Gert Wagner vorgetragen wurde, wie wichtig und ertragreich eine stärkere Historisierung der Krisen- und Wandlungsbefunde sein dürfte. Das ist vor allem Sache der Historiker, die sich seit gut zehn Jahren den Strukturbrüchen der Zeit »nach dem Boom« zuwenden.

45 Dazu Sina Fabian, Boom in der Krise. Konsum, Tourismus, Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien 1970–1990, Göttingen 2016. 46 Vgl. Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015; Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017.

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VI. Resümee Was bedeuten nun die widersprüchlichen Deutungsmuster der Sozialwissenschaften der 1970er und 1980er Jahre für die zeithistorische Forschung? Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael haben in ihrem Band mit dem zurückhaltenden Titel »Nach dem Boom« die Perspektiven für die klassischen Arbeitsfelder historischer Forschung abgesteckt, die hier nicht ausgebreitet werden sollen. Was aber ihre Beiträge und die des Sammelbandes von Konrad Jarausch als methodische Prämisse hervorgehoben haben, bezieht sich vor allem auf das Postulat der Historisierung der Wandlungs- und Umbruchsprozesse des Krisenjahrzehnts und der Zeit danach. Es gilt, den Vergleich mit der Hochphase der industriellen Wirtschaft und Gesellschaft der 1960er Jahre zur historischen Einordnung heranzuziehen, um die Frage zu beantworten, was sich eigentlich verändert hat und mit welcher Intensität und Ausrichtung der Umbruch und der Wandel abgelaufen sind. Sind oder waren einige Phänomene oder Probleme nicht auch schon in den 1960er Jahren zu beobachten? Wie ist der Wandel nicht nur im intertemporalen Vergleich abgelaufen, sondern auch im interregionalen und internationalen? Gibt es so etwas wie eine nationale Pfadabhängigkeit in der Problemwahrnehmung und -verarbeitung, in der sich Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Vorgängen in den USA und Westeuropa und auch Westdeutschland beziehungsweise der DDR abzeichnen? Welche Wirkungen üben kurzfristig wirkende politische Ereignisse auf den mittel- und langfristigen Strukturwandel aus? Haben sie Entwicklungen beschleunigt oder gebremst oder gar verborgen? Gibt es trotz aller Veränderungen und deren Beschleunigungen nicht auch so etwas wie Persistenz und Stabilität, etwa von öffentlichen politischen Institutionen und Strukturen, etwa im europäischen Modell der parlamentarischen Demokratie, das in den 1970er Jahren ja durch demokratische Revolutionen in Südeuropa noch Zuwachs bekommen hat, oder in dem westeuropäischen Muster des Sozialstaates, dessen Aufrechterhaltung allein schon aus politisch-mentalen Gründen wichtig war oder wenigstens behauptet wurde? Wie stark verteilt waren in der breiten Übergangszone die Anteile von alten, traditionellen Elementen, wie groß die teilweise revolutionären Neuerungen? Gibt es Basisprozesse, die überall ablaufen, aber in einer unterschiedlichen Ausdifferenzierung und in einem unterschiedlichen Zeittakt? Wie ist das Verhältnis von den erkenntnis- und möglicherweise auch handlungsleitenden Ordnungsmustern und ihrem Wandel zu den tatsächlichen Veränderungen und deren Wahrnehmung durch Gesellschaft und Politik? Hat der Strukturwandel möglicherweise mit erheblicher Verzögerung oder Brechung seine Wahrnehmung in der Politik gefunden und welche Handlungsoptionen haben sich daraus für eine Politik ergeben, die mehrheitsfähig sein will? Hat das etwas mit der in den 1980er Jahren vielzitierten »Unregierbarkeit«47 zu tun und in welchen nationalen politischen 47 Siehe hierzu den Beitrag von Markus Goldbeck in diesem Buch.

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Kulturen hat das besser funktioniert als in anderen? Haben die korporatistischen Traditionen in einigen westeuropäischen Staaten, die sich seinerzeit als vorteilhaft für die Umsetzung der Globalsteuerung erwiesen haben, »nach dem Boom« angesichts der Herausforderungen neoliberaler Ordnungen eine bremsende oder bewahrende Wirkung? Schließlich: Welche Bedeutung hat der Prozess der Globalisierung, der auch erst mit Verzögerung öffentlich thematisiert wurde, für die Strukturveränderungen nach dem Boom und vor allem für den Handlungsspielraum der nationalen und der supranationalen Politik in der Phase verstärkter europäischer Integration? Es ließen sich vermutlich noch weitere Fragen für eine theoriegeleitete, vergleichende empirische Forschung finden, die viele der Ordnungsentwürfe weiter ausdifferenzieren oder in ihrer Erklärungskraft eingrenzen oder auch widerlegen könnten. Die Zuversicht, durch solche Anstrengungen der Forschung mehr Begründungen für einen einheitlichen Begriff zu finden, der die Komplexität von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik in einer zunehmend pluralen Welt erfassen kann, wird dadurch sicherlich nicht größer. Man wird sich vorerst damit begnügen müssen, den verstärkten Strukturwandel der 1970er und frühen 1980er Jahre als Zäsur zu konstatieren und die veränderten Ordnungen als signifikantes Merkmal gegenüber den 1950er und 1960er Jahren zu betrachten. Aber Versuche zu einer signifikanten Charakterisierung dieser neuen Periode werden sich auf einen möglichst breiten Begriff, wie etwa den der »zweiten Moderne«, beschränken müssen, der es erlaubt, die Vielfalt und unterschiedliche Intensität der Veränderungen begrifflich zu erfassen.48

48 Andreas Rödder, Wertewandel und Postmoderne, S. 33 f.

Philipp Ther

1989 UND DIE GLOBALE HEGEMONIE DES NEOLIBERALISMUS

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ährend die »Reagonomics« oder der »Thatcherism« klar der Vergangenheit angehören, weiß man beim Neoliberalismus noch nicht, ob es sich um ein historisches Phänomen handelt. Es ist für Historikerinnen und Historiker bekanntlich immer riskant, Prozesse und Akteure zu analysieren, die noch in die Gegenwart hineinwirken. Meistens befassen sie sich aus guten Gründen mit abgeschlossenen Prozessen und bereits verstorbenen Personen. Dennoch riskiere ich hier den Versuch, eine Ideologie und vor allem ihre Anwendung in verschiedenen Ländern zu analysieren, weil sie so eine starke Wirkung auf die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges hat. Außerdem gibt es klare Anzeichen dafür, dass der Neoliberalismus zwar weiterhin wirkt, aber seinen Höhepunkt hinter sich hat.1 Das lässt sich am Beispiel des mittleren und östlichen Europas nach dem Ende des Kommunismus besonders gut zeigen. Das Ziel dieses Artikels ist es, den Begriff des Neoliberalismus von politischen Polemiken zu entlasten und ihn nicht normativ, sondern analytisch zu verwenden. Die Inspiration dafür liegt in der Nationalismusforschung, die zu meinen eigenen Forschungsschwerpunkten gehört. Mit den 1983 nahezu zeitgleich erschienenen Büchern von Benedict Anderson und Ernest Gellner war entschieden, dass Nationalismus oder Nationalist keine Schimpfwörter mehr sind, sondern Gegen-

1 Vgl. dazu einen selbstkritischen Artikel des IWF, der auch den früher abgelehnten Begriff des

Neoliberalismus verwendet. Vgl. Jonathan D. Ostry / Prakash Loungani / Davide Furceri, Neoliberalism: Oversold?, in: International Monetary Fund, Finance & Development 53, 2 (2016). Das Paper ist zugänglich auf https://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2016/06/pdf/ostry.pdf [27.08.2019]. Vgl. zum riesigen Medienecho u. a. https://next.ft.com/content/4b98c052–238a-11e6– 9d4d-c11776a5124d; https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/may/31/witnessing-deathneoliberalism-imf-economists [27.08.2019].

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stand der wissenschaftlichen Analyse.2 Etwas Ähnliches sollte mit dem Neoliberalismus geschehen, damit wir die Geschichte seit den 1980er Jahren, zum Teil aber auch früherer Perioden, und unsere Gegenwart aus historischer Perspektive besser verstehen. Der vorliegende Beitrag ist daher in fünf Teile gegliedert, die Formierungsphase des Neoliberalismus in der Nachkriegszeit, den Aufstieg in den 1980er Jahren, die Schlüsselperiode rund um das »globale 1989«, als der Neoliberalismus hegemonial wurde, neoliberale Reformpolitiken nach dem Ende des Staatssozialismus sowie den Höhepunkt und die Radikalisierung des »Marktfundamentalismus« rund um die Jahrtausendwende,3 der schließlich zur Krise von 2008/09 führte. Wahrscheinlich ist es für Historiker verfrüht, sich über die Zeit nach dieser fundamentalen Krise zu äußern, aber Buchtitel wie »The West and the Rest« werden so bald wohl nicht mehr erscheinen.4 Das gilt erst recht für kühne Thesen wie Francis Fukuyamas »End of History«, die ebenfalls 1989 entstand und die globale Durchsetzung von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie vorhersagte.5 Die Ursachen der Krise von 2008/09 und des vorherigen politischen Scheiterns wurzeln in dieser Hybris. Statt die Exzeptionalität des Westens zu betonen, ist es an der Zeit, die inneren Widersprüche des Neoliberalismus und damit der gesamten Ordnung nach 1989 zu analysieren. Da die intellektuelle Geschichte des Neoliberalismus weit besser erforscht ist als dessen politische Implementierung, liegt hier der Schwerpunkt vor allem auf letzterem Gebiet. Die konkrete Forschungsfrage lautet, warum der Neoliberalismus sich vor allem im postkommunistischen Europa so weitreichend durchsetzen konnte. Kritiker des Kapitalismus und des Neoliberalismus geben die Schuld daran weitgehend den USA und globalen Finanzorganisationen wie dem IWF und der Weltbank, aber wie hier gezeigt wird, hatten die lokalen Eliten erheblichen Anteil an der Durchsetzung radikaler Reformen. Vorreiter für die bereitwillige Adaption des Neoliberalismus im östlichen Europa ab 1989 war Polen, das daher besondere Aufmerksamkeit verdient. Aber auch die Bundesrepublik Deutschland spielte eine wichtige Rolle, deshalb wird hier immer wieder auf die Transformation Deutschlands und die »deutsche Schocktherapie« eingegangen. Zuvor galt Chile als ein Pionier einer radikalen Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung, was sich anhand der Akten der Weltbank gut nachweisen lässt, die für diesen Beitrag eingesehen wurden. Das bedeutet zugleich, dass der 2 Vgl. Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983; Benedict Anderson, Imagined

Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Historiker befassten sich vergleichsweise spät mit dem Nationalismus; das kann unsere Disziplin mit dem Neoliberalismus nun besser machen. 3 Vgl. zu diesem Begriff Joseph Stiglitz, Freefall. America, Free Markets, and the Sinking of the World Economy, New York 22010, S. xiii. 4 Niall Ferguson, Civilization: The West and the Rest, London 2011. 5 Francis Fukuyama, The End of History and the last Man, New York 1992. Bereits 1989 erschien eine Kurzversion als Aufsatz.

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in der englischsprachigen Literatur vorherrschende Schwerpunkt auf die USA und Großbritannien erweitert wird. Gerade die sogenannte »zweite Welt« und Schwellenländer – in der Diktion des Neoliberalismus »emerging markets« – dienten als Experimentierfeld neoliberaler Wirtschaftspolitiken. Diese hatten erhebliche Rückwirkungen auf den Westen selbst, der, wenn man den Begriff der postkommunistischen Transformation aufnimmt, »kotransformiert« wurde. Diesem Artikel ist vorauszuschicken, dass er dazu gedacht ist, die historische Forschung über den Neoliberalismus weiter anzuregen. Dementsprechend wird der Stand der Forschung, der sich in letzter Zeit sehr erweitert hat, am Anfang zunächst knapp gehalten und erst im Schlussteil ausführlich auf mögliche Perspektiven der Forschung eingegangen, die man dann je nach Kontinent und Land sehr verschieden anwenden kann. Aufgrund der Absicht, einen einleitenden Überblick zu verschaffen, können nicht alle Länder und Literaturen gleichmäßig abgedeckt werden. Für die Fallstudien im östlichen Europa wurden neben Expertenberichten und Schriften von Reformpolitikern mediale Quellen verwendet, denn der Neoliberalismus ist auch als diskursives Phänomen zu erfassen.6 Für Chile und den globalen Transfer radikaler Reformpolitiken wurden wie erwähnt Archivmaterialien der Weltbank ausgewertet, die auch am »Washington Consensus« von 1989 beteiligt waren, der als Standardrezeptur neoliberaler Politik wirkte.

I.

Der Begriff des Neoliberalismus

Der Neoliberalismus wurde von einem Idealbild freier, autonomer und sich ins Gleichgewicht bringender Märkte, rational agierender Marktakteure und einem individualistisch-materialistischen Menschenbild getragen. Die Rolle des Staats sollte reduziert werden; dabei ging es in den 1980er und 1990er Jahren zunächst um die Wirtschaft, seit den späten 1990er Jahren auch um die sozialen Sicherungssysteme und damit um wohlfahrtsstaatliche Kernkompetenzen. Im Unterschied zum Marxismus, dem klassischen Liberalismus oder zur christlichen Soziallehre gab es keine Partei oder Gruppierung, die sich offen zum Begriff des Neoliberalismus bekannte und dabei auf einen bestimmten Kanon an Schriften oder von historisch gewachsenen Grundwerten verwies. Zudem haben sogar jene Ökonomen und Politiker, die sich eindeutig im Bourdieuschen »Feld« des Neoliberalismus verorten lassen, diese Bezeichnung seit den 1980er Jahren von sich gewiesen. Das gilt auch für jene Vordenker, die sich in der frühen Nachkriegszeit zu diesem

6 Der Beitrag beruht auf den Forschungen für mein eigenes Buch Philipp Ther, Europe since

1989: A History, Princeton 2016 sowie in weiten Teilen auf einer früheren, deutschsprachigen Version des Artikels: http://docupedia.de/zg/Ther_neoliberalismus_v1_de_2016. Anschließend habe ich Archivstudien bei der Weltbank durchgeführt, und auf dieser Basis auch den Fokus auf Chile ergänzt.

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Begriff bekannt hatten.7 Kritiker und Analysten des Neoliberalismus zielen somit auf ein »moving target«, wobei ein Teil des Problems in der öffentlichen Debatte darin liegt, dass zu viel geschossen und zu wenig analysiert wird. Ein zweites Problem ist die Abgrenzung vom klassischen Liberalismus und in den Wirtschaftswissenschaften als impulsgebender Disziplin die Unterscheidung von der neoklassischen Lehre. Ein drittes Problem ist das Auseinanderklaffen zwischen neoliberaler Rhetorik und Politik, das nicht zuletzt auf die systemimmanenten Widersprüche dieser Ideologie zurückgeht. Die wissenschaftliche Eingrenzung wird außerdem durch die Anpassungsfähigkeit des Neoliberalismus erschwert. Doch darin liegt eine wesentliche Stärke dieser Ideologie. Der Neoliberalismus konnte seit den späten 1980er Jahren auch deshalb eine globale Hegemonie erlangen, weil er sich in verschiedenen Kontexten als flexibel anwendbar erwies. Er ähnelt damit dem modernen Nationalismus, der wirkmächtigsten Ideologie des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Der Nationalismus blieb ideologisch ebenfalls variabel und entfaltete sich in äußerst verschiedenen Kontexten, von »kleinen« Nationen bis zu imperialen Nation Building-Projekten. Der ideologische Kern des Neoliberalismus beruht auf einer Idealisierung des Marktes, der als Regulator und letztentscheidende Instanz für den Austausch materieller und sogar immaterieller Güter betrachtet wird. Trotz seiner Funktion als Dreh- und Angelpunkt wurde »der Markt« (häufig auch im Plural »die Märkte«) selten näher definiert. Dem Bild des Marktes, das Milton Friedman und Margaret Thatcher, die wichtigsten intellektuellen und politischen Vordenker des Neoliberalismus, entwarfen, lag das historische Ideal eines kleinstädtischen Marktplatzes zugrunde, auf dem basale Güter »face to face« gehandelt werden.8 Grundsätzlich wurde die Annahme vertreten, dass der Markt seine produktiven Kräfte am besten entfalten könne, wenn er von staatlichen Eingriffen befreit und »entfesselt« sei. Die Einstellung zum Staat war dementsprechend skeptisch. Im Grunde genügte es, wenn das Gemeinwesen auf seine rechtsstaatlichen Funktionen reduziert wird und das Privateigentum – das ebenfalls einen zentralen Wert dar-

7 Ein Beispiel dafür ist Milton Friedman, der 1951 einen affirmativen Aufsatz mit dem Titel

»Neoliberalism and its Prospects« publizierte, online unter http://0055d26.netsolhost.com/ friedman/pdfs/other_commentary/Farmand.02.17.1951.pdf. Vgl. dazu Angus Burgin, The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge 2012, S. 170. Vgl. ferner zur relativ gut erforschten Intellectual History des Neoliberalismus: Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012; Philip Mirowski / Dieter Plehwe (Hg.), The Road from Mont Pèlerin: The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009. 8 In der Vergangenheit liegende Idealtypen prägen bekanntlich auch die Schriften anderer wichtiger Denker der Moderne wie Max Weber oder Jürgen Habermas. Bei Friedman oder Thatcher liegen lebensgeschichtliche Bezüge nahe, beide wuchsen in der Zwischenkriegszeit als Kinder kleiner Ladenbesitzer auf.

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stellt – sowie unternehmerische Aktivitäten schützt und stärkt. Daraus und aus der Vorgabe nach mehr Effizienz leitete sich die Forderung nach Privatisierungen ab, die zunächst staatliche Unternehmen wie die Post, die Telefongesellschaften und die Eisenbahn umfasste (sofern diese noch staatlich waren), in den postsozialistischen Ländern die gesamte Staatswirtschaft und schließlich seit den späten 1990er Jahren staatliche Kernkompetenzen wie die Altersvorsorge und das Gesundheitswesen. Der reduzierte Staat sollte die Nachfrage nicht mehr stärken wie im Keynesianismus, stattdessen sollten unabhängige Zentralbanken und die Geldpolitik die Wirtschaft indirekt lenken. Weitere Fixpunkte waren die externe und interne Liberalisierung und die Deregulierung der nationalen und internationalen Finanzmärkte. Der Neoliberalismus war eng an das Ziel und Versprechen einer Modernisierung oder »Westernisierung« gekoppelt, nur dass diese nicht mehr von oben, durch einzelne Regierungen, sondern durch die Märkte und das internationale Finanzkapital gelenkt sein sollte. Letztlich lag dem Neoliberalismus ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, in dem rational und autonom agierende Staatsbürger mit ihrem individuellen Gewinnstreben den allgemeinen Wohlstand mehren. Ein weiteres Kennzeichen des Neoliberalismus war sein dezidierter Internationalismus. Er beruhte auf einer transnationalen Expertenkultur, die vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern geprägt wurde, sowie auf der Macht internationaler Finanzorganisationen wie dem IWF und der Weltbank. Deren Einfluss auf einzelne Länder hing indes wesentlich davon ab, inwieweit diese im Ausland verschuldet und auf die mit Auflagen verbundenen Hilfsprogramme angewiesen waren.9 Auffallend sind ferner die häufigen Referenzen auf externe Vorbilder beziehungsweise auf neoliberale Reformen in anderen Ländern und Teilen der Welt, die zugleich ein fester Bestandteil neoliberaler Diskurse sind. So gesehen ist der Neoliberalismus eine Begleiterscheinung und Antriebskraft der Globalisierung.10 In der zeitlichen Genese des Neoliberalismus lassen sich vier Phasen unterscheiden. Die erwähnte Formierungsphase war die längste und dauerte von der frühen Nachkriegszeit bis in die späten 1970er Jahre. In dieser Zeit war der Neoliberalismus in Politik und Wissenschaft nicht allgemein konsensfähig, sondern fristete in der Fachöffentlichkeit und politisch eher eine Randexistenz. Aber die Vordenker des Neoliberalismus vernetzten sich in dieser Inkubationsphase untereinander, zum Beispiel in der einflussreichen Mont Pèlerin Society und mit konservativen Stiftungen und Think Tanks.11 Ab Mitte der 1970er Jahre setzte sich der Neoliberalismus zunächst unter Wirtschaftsexperten durch, in Groß9 Diese Dimension der Verschuldung bleibt bei Streeck unterbelichtet. Vgl. Wolfgang Streeck,

Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013. 10 Vgl. hierzu einführend Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globali-

sierung: Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2007 sowie den ersten Teil des Sammelbands Sebastian Conrad / Andreas Eckert / Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M. 2007. 11 Vgl. dazu Mirowski/Plehwe, The Road; Stedman Jones, Masters, S. 154–172.

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britannien und den USA bestimmte er ab 1979/80 die Regierungspolitik. 1989 begann eine dritte Phase der globalen Hegemonie sowie kurz vor der Jahrtausendwende eine vierte Phase der Radikalisierung, die mit der Krise von 2008/09 endete. Es ist noch unklar, wie die Zeit danach einzuordnen ist, denn einerseits schien die globale Hegemonie des Neoliberalismus durch interne Kritiker und Vertreter anderer Modelle wie in China gebrochen, andererseits wurden seitdem in einigen osteuropäischen Ländern und im Süden Europas Reformen veranlasst, die Elemente des Neoliberalismus in sich tragen. Den fehlenden Systembruch nach der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 kritisierte unter anderem Joseph Stiglitz, wobei die USA, die Bundesrepublik und etliche weitere westliche Staaten in der Krisenbewältigung nach 2008 durchaus auf keynesianische Rezepte zurückgriffen und zum Beispiel die Nachfrage zu stärken versuchten, ganz im Gegensatz zur Angebotsorientierung des Neoliberalismus. Eine geschichtswissenschaftliche Kurzdefinition könnte demnach lauten, dass es sich beim Neoliberalismus um eine wirtschaftspolitische Ideologie handelt, die auf einem Idealbild sich selbst regulierender freier Märkte beruht, den Staat durch eine Austeritätspolitik finanziell zurechtstutzt, mit Hilfe von Privatisierungen eine umfassende Entstaatlichung anstrebt und die Wirtschaft auf nationaler und internationaler Ebene liberalisiert und dereguliert. Die Auswirkungen des Neoliberalismus gehen über die Political Economy hinaus und manifestieren sich in verringerten staatlichen Leistungen für die Bürger, steigender sozialer und regionaler Ungleichheit sowie politischen Gegenreaktionen, insbesondere dem Populismus. Insofern kann man den Neoliberalismus als eine Geschichte des Wirtschaftsdenkens, als politische Geschichte, als Sozialgeschichte und in seinen diskursiven Ausprägungen kulturhistorisch betrachten. Der Neoliberalismus war und ist ein globales Phänomen und bedarf somit eines länderübergreifenden, globalhistorischen Forschungsansatzes; er war ein Motor der Globalisierung und bediente sich wie erwähnt häufig globaler Referenzen.12 Während die historische Forschung sich bislang vor allem auf die Intellectual History konzentriert hat,13 gibt es in den benachbarten Sozialwissenschaften bereits eine Reihe von profilierten Autorinnen und Autoren, die sich mit der Implementierung und den gesellschaftlichen Folgen des Neoliberalismus befassen. In der Politikwissenschaft sind unter anderem Mitchell A. Orenstein und das Auto12 Vgl. zu dieser »diskursiven Globalisierung« Ther, Die neue Ordnung, S. 303. 13 Vgl. abgesehen von den zitierten englischsprachigen Werken (die methodisch vor allem

mit ihren Studien von Kulturtransfers und Netzwerken überzeugen) ein instruktives Heft der »Zeithistorischen Forschungen« 12, 3 (2015) mit dem Titel »Vermarktlichung. Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld«, hg. v. Ralf Ahrens / Marcus Böick / Marcel vom Lehn, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2015 [27.08.2019]. Die bislang einzige als solche benannte Geschichte des Neoliberalismus, David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, wurde von einem Geografen verfasst, beruht aber auf keinen tieferen wirtschaftsgeschichtlichen Studien und betrachtet Neoliberalismus als Oktroi. Besser zur Einführung geeignet ist Thomas Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012.

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renduo Dorothee Bohle und Béla Greskovits zu nennen, die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaftsreformen und Veränderungen des politischen Systems untersucht haben.14 In den Wirtschaftswissenschaften spielen Joseph Stiglitz und Paul Krugman als Kritiker der Triade Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung eine prominente Rolle.15 Die Forschungsrichtung »Varieties of Capitalism« untersucht das Verhältnis von Wirtschaft und Staat, ökonomische Strukturen und insbesondere das Unternehmertum.16 Die Ethnologin Elisabeth Dunn hat mit ihrem Buch über Privatisierungen in Polen gezeigt, wie die neoliberale Ordnung in die Gesellschaft hineinwirkt und sich »bottom up« analysieren lässt.17 Auch über Chile, bis 1990 ein international viel diskutiertes »Musterland« neoliberaler Reformen, liegen interessante Studien über die sozialen Folgen vor.18 Die sozialanthropologische und ethnologische Forschung wäre für die zeithistorische Forschung ein naheliegender Verbündeter, denn auf einer Makro-Ebene haben Politologen und Ökonomen den wirtschaftlichen und politischen Wandel infolge radikaler Reformen bereits umfassend bearbeitet. Die größten Forschungslücken und -potenziale gibt es derzeit mit Blick auf spezielle soziale Gruppen und Milieus, lokale Fallbeispiele oder Studien über einzelne Unternehmen vom großen Kombinat bis zu ehemaligen LPGs. Damit lässt sich indirekt auch die Weltsicht des Neoliberalismus überwinden, denn diese wirtschaftspolitische Ideologie wurde stets »von oben«, vom Schreibtisch aus und damit gesellschaftsfern gedacht.

II. Vorgeschichte des Neoliberalismus Die ideellen Ursprünge des Neoliberalismus reichen bis in die Zwischenkriegszeit zurück. Die Vorsilbe Neo- stand ursprünglich für die Kritik am klassischen Libe14 Hier können aus Platzgründen nur einzelne Werke der genannten Autoren angeführt wer-

den. Vgl. Mitchell Orenstein, Privatizing Pensions. The Transnational Campaign for Social Security Reform, Princeton 2009; Dorothee Bohle / Béla Greskovits, Capitalist Diversity on Europe’s Periphery, Ithaca 2012. 15 Vgl. Stiglitz, Freefall; Paul Krugman, The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008, New York 2009. 16 Konstitutiv für diese Forschungsrichtung waren u. a. Peter A. Hall / David Soskice (Hg.), Varieties of Capitalism: The Institutional Foundation of Comparative Advantage, Oxford 2001. Vgl. auch Lawrence King, Postcommunist Divergence: A Comparative Analysis of the Transition to Capitalism in Poland and Russia, in: Studies in Comparative International Development 37 (2002), 3, S. 3–34. In deutscher Sprache ist zuletzt erschienen: Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013. 17 Vgl. Elizabeth C. Dunn, Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor, Ithaca 2004. Vgl. zu den politischen Folgen: David Ost, The Defeat of Solidarity. Anger and Politics in Postcommunist Europe, Ithaca 2005. 18 Vgl. dazu in komparativer Perspektive Marcus J. Kurtz, Free Market Democracy and the Chilean and Mexican Countryside, New York 2004.

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ralismus infolge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. In der Nachkriegszeit war die Mont Pèlerin Society führend bei der Weiterentwicklung neoliberalen Denkens. Dabei handelte es sich um ein transatlantisches Netzwerk renommierter Ökonomen, Intellektueller, politischer Berater und zeitweilig auch bekannter Politiker. Gründungsväter der logenartig organisierten Gesellschaft waren unter anderem Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises (als Vertreter der Austrian School, die allerdings in Österreich kaum Einfluss besaß), Wilhelm Röpke (der den Begriff der Political Economy prägte und in verschiedenen EG-Staaten lebhaft rezipiert wurde), der französische Konservative Raymond Aron, der ungarisch-britische Sozialphilosoph Michael Polanyi (der Bruder des bekannteren Kapitalismus-Forschers Karl Polanyi) und vorübergehend der amerikanische Publizist Walter Lippmann, der den Begriff des Kalten Kriegs prägte. Der Kontext des Ost-West-Konflikts beeinflusste die 1947 gegründete Gesellschaft in vieler Hinsicht. Die Mont Pèlerin Society wandte sich einerseits gegen die kommunistische Planwirtschaft, andererseits gegen den Einfluss von Kommunisten und Sozialisten und den staatlichen Dirigismus an den westlichen Heimatfronten. Beim ersten Treffen der Gesellschaft, die nach einem Berg bei Vevey am Genfer See benannt ist, forderten die Mitglieder ein freies Unternehmertum, freien Wettbewerb, eine freie, marktwirtschaftliche Bildung von Preisen und einen unparteiischen Staat.19 Mirowski und Plehwe betonten in ihrer intellectual history die Diversität der Mont Pèlerin Society, die in der Tat ein breites Spektrum von Experten und Ideen vertrat. Der Begriff des Neoliberalismus war um diese Zeit noch positiv besetzt, so veröffentlichte Milton Friedman, der später zum Präsidenten der Gesellschaft aufstieg, 1951 einen Aufsatz mit dem Titel »Neoliberalism and its Prospects«.20 Von besonderem Interesse sind die Überschneidungsbereiche zur Politik, die zugleich das Bourdieusche »Feld« des Neoliberalismus markieren. Zeitweise waren einige prominente europäische Parlamentarier und Politiker mit der Gesellschaft verbunden, darunter Ludwig Erhard und Luigi Einaudi (der zweite Staatspräsident Italiens und Gründer des gleichnamigen Verlags). Doch Hayek wandte sich ausdrücklich gegen eine zu aktive Rolle bekannter Politiker, um die postulierte Überparteilichkeit des Netzwerks nicht zu gefährden. Dies sollte sich unter der Ägide von Milton Friedman ändern, der zu einem engen ökonomischen Berater von Ronald Reagan aufstieg. Damit gewann der Neoliberalismus stark an

19 Mirowski/Plehwe, The Road, S. 14. Anfangs war bei den vier zentralen Forderungen der Ge-

sellschaft von einem »starken Staat« die Rede, doch ab den 1970er Jahren geriet dieser Punkt in den Hintergrund und diente später sogar zur Abgrenzung. Die Einführung von Mirowski und Plehwe ist – ohne dies eigens zu betonen – zugleich ein überzeugendes Beispiel einer historischen Netzwerkanalyse. 20 Dies auch als Hinweis für Ökonomen, die den Begriff heute als polemisch ablehnen. In mancher Hinsicht verleugnen sie damit das eigene Erbe. Vgl. zu diesem Aufsatz Burgin, The Great Persuasion, S. 170.

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politischer Durchschlagskraft und wurde zugleich zu einem kontroversen Begriff, der nun auch außerhalb der Fachöffentlichkeit der Ökonomen diskutiert wurde. Trotz ihrer prominenten Mitglieder besaß die Mont Pèlerin Society in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten nur einen begrenzten Einfluss auf die internationale und die jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten. In den Wirtschaftswissenschaften gab bis in die 1970er Jahre die »Neoklassische Synthese« von Paul Samuelson den Ton an. Wie schon der Begriff der Synthese andeutet, enthielt dieses Standardwerk der Volkswirtschaftslehre keynesianische Elemente.21 In den USA wirkte weiterhin der New Deal nach, der Wohlfahrtsstaat wurde insbesondere unter Präsident Lyndon B. Johnson nochmals ausgebaut.22 Im westlichen Europa setzte der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg einen dirigistischen Staat geradezu voraus, die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West verstärkte die ohnehin vorhandene Tendenz zum Ausbau der Sozialsysteme. Außerdem war die globale Ökonomie samt den Wechselkursen durch das Bretton-Woods-System reguliert,23 der Dollar fungierte als unangefochtene Leitwährung. Doch Anfang der 1970er Jahre brach diese wirtschaftspolitische Nachkriegsordnung zusammen. Die USA kündigten Bretton Woods 1971 auf, die Ölkrise beendete die trentes glorieuses und brachte eine Spirale der Inflation in Gang. Bereits zuvor erzeugte die industrielle Massenproduktion auf globaler Ebene einen immer schärferen Konkurrenzdruck. Dies nahm den Umschwung von einer nachfrage- zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik in mancher Hinsicht vorweg. Außerdem versagte der Keynesianismus bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, wobei das auch an gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen lag. Die westlichen Industriegesellschaften ließen sich nicht mehr so lenken wie zuvor, infolge der Studentenrevolte von 1968 und dem Aufkommen neuer Bürgerbewegungen entstanden grundsätzliche Zweifel an der Steuerungsfähigkeit des Staats und dessen starker Machtposition.24 Ein weiteres Problem war die Krise der Sozialsysteme, die auf Vollbeschäftigung und nicht auf steigende Arbeitslosigkeit und immer mehr Empfänger von Sozialleistungen ausgelegt waren.

21 Vgl. zur Geschichte des ökonomischen Denkens und der diversen Schulbildungen: Warren Samuels / Jeff Biddle / John Davis, A Companion to the History of Economic Thought, Oxford 2003, online unter https://is.vsfs.cz/el/6410/zima2012/BA_ETD/um/3872546/Blackwell-ACom paniontotheHistoryofEconomicThought.pdf [27.08.2019]. 22 Vgl. Kiran Klaus Patel, The New Deal. A Global History, Princeton 2016. 23 Friedman kritisierte das als zu enges Korsett. Vgl. zum neoliberalen Denken über internationale Währungs- und Finanzmärkte Matthias Schmelzer, Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pèlerin Society, Marburg 2010. 24 Vgl. zum wirtschaftlichen und kulturellen Umschwung in den 1970er Jahren u. a. Konrad H. Jarausch, Zwischen »Reformstau« und »Sozialabbau«. Anmerkungen zur Globalisierungsgeschichte in Deutschland, 1973–2003, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 330–352.

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III. Der Aufstieg des Neoliberalismus Aufgrund der »Stagflation« (geringes Wirtschaftswachstum in Kombination mit hoher Inflation) nach der Ölkrise und der steigenden staatlichen Budgetdefizite gerieten die Keynesianer in den USA und England und mit Verzögerung in Kontinentaleuropa in die Defensive. Anstelle der Regulierung der Wirtschaft und der staatlichen Stützung der Nachfrage setzten die meisten Ökonomen und insbesondere die Chicago School auf die Kräfte des Marktes. Was das genau bedeutete, wurde selten positiv definiert, aber ex negativo stets mit einer mehr oder weniger prononcierten Kritik am Staat und dessen vermeintlicher Übermacht verbunden. Dieser Paradigmenwechsel wurde wesentlich von den »Chicago Boys« rund um Milton Friedman beeinflusst. Gerade weil der Begriff des Markts eher vage blieb, eignete er sich als rhetorische Figur, die weit über die innerwissenschaftlichen Debatten hinausreichte. Wie Daniel Stedman Jones nachgewiesen hat, spielten konservative Think Tanks und Stiftungen wie der William Volker Fund, das American Enterprise Institute, die Heritage Foundation, das Cato Institute oder in England das Institute of Economic Affairs eine zentrale Rolle bei der Institutionalisierung und Verbreitung des Neoliberalismus.25 Konservative Sponsoren finanzierten internationale Konferenzen, Fachbücher, Medienpublikationen und zahlreiche Lehrstühle, darunter den von Hayek an der University of Chicago.26 Ein frühes Beispiel neoliberaler Kommunikationsstrategien war eine zehnteilige TV-Serie, die Friedman 1980 für PBS, das Äquivalent zum öffentlich-rechtlichen Fernsehen in den USA, produzierte. Die Serie hieß »Free to Choose« und gleich die erste von cooler Fusion-Musik und einem Sonnenaufgang über Manhattan eingeleitete Folge hatte den programmatischen Titel »The Power of the Market«.27 Friedman propagierte in dieser Serie die Basics der Reagonomics: möglichst wenig Staat und Steuern, möglichst viel Freiheit für die Unternehmen und die individuellen Bürger. Ein wichtiger Punkt war die Reduktion der Inflation, die Ende der 1970er Jahre zweistellige Jahresraten erreichte und eine massive Abwertung des Dollar zur Folge hatte, sowie die indirekte Steuerung der Wirtschaft durch die Geldmenge beziehungsweise den Monetarismus. Die tatsächliche Politik Reagans wich von diesen Vorgaben teilweise ab. Die Hochrüstungspolitik nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan wirkte wie ein Konjunkturprogramm, der 25 Vgl. Stedman Jones, Masters, S. 154–172. 26 Vgl. Burgin, The Great Persuasion, S. 101, 166, 173. 27 Vgl. dazu Sören Brandes, »Free to Choose.« Die Popularisierung des Neoliberalismus in

Milton Friedmans Fernsehserie (1980/90), in: Zeithistorische Forschungen 12, 3 (2015), online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2015/id=5284 [27.08.2019], Druckausgabe S. 526–533. Die Serie ist abspielbar auf: http://www.youtube.com/watch?v=f1Fj5tzuYBE [27.08.2019]. 1990 produzierte Friedman eine fünfteilige Neuauflage der Serie, im vierten Teil reiste er nach Ostmitteleuropa und verordnete Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen radikale Reformprogramme.

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Aufschwung wurde zu einem guten Teil durch höhere Staatsschulden finanziert. Doch diese Abweichungen erklären sich zum einen durch die systemimmanenten Widersprüche des Neoliberalismus – so sorgte die Rolle der Zentralbank als staatliche Institution immer wieder für Debatten in der Chicago School –, zum anderen aufgrund der wohl unvermeidbaren Anpassung jeder Ideologie im politischen Alltag. Nach einigen Jahren zeigten sich auch die ersten systemspezifischen Krisen. Infolge der Deregulierung des Finanzsektors entstand 1985 die »Savings and Loan Crisis«, die, entgegen dem neoliberalen Lehrbuch, den Staat dazu brachte, mit über 100 Milliarden Dollar einzuspringen, um die Pleitewelle der amerikanischen Sparkassen einzudämmen. Am 19. Oktober 1987 endete auch der Börsenboom, als die Wall Street am »Schwarzen Montag« mit minus 22 Prozent den größten Tagesverlust ihrer Geschichte verzeichnete. Doch diese Rückschläge und die steigenden Staatsschulden führten zu keinem wirtschaftspolitischen Kurswechsel. George Bush, Reagans langjähriger Vize, siegte bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 mit Leichtigkeit gegen seinen demokratischen Herausforderer Michael Dukakis. Die britischen Konservativen gewannen in den 1980er Jahren ebenfalls zwei Wahlen hintereinander, obwohl Margaret Thatchers Vorgehen gegen die Gewerkschaften und die Privatisierung der Bahn, der Post und anderer Staatsunternehmen höchst umstritten waren. Aber die »eiserne Lady« hatte auch Glück. In ihrer ersten Amtszeit entschied sie den Falkland-Krieg mit einem resoluten Militäreinsatz für Großbritannien, später half ihr der Linkskurs der Labour-Partei, der die Wähler ebenso wenig überzeugte wie 1984 Walter Mondales keynesianisches Wahlprogramm in den USA. Margaret Thatcher stand mit ihrem Leitspruch »There is no alternative« (abgekürzt TINA) wie kein anderer Politiker für den anti-politischen Argumentationsmodus neoliberaler Reformen und Einschnitte.28 In Deutschland ging die Kurzfassung »alternativlos« vor allem unter Bundeskanzler Gerhard Schröder in den politischen Sprachschatz ein. Angela Merkel strapazierte dieses Attribut ebenfalls sehr häufig, bis es 2010 zum »Unwort des Jahres« gekürt wurde. Neben den USA und Großbritannien spielte das Schwellenland Chile eine wesentliche Rolle bei der Ausbreitung des Neoliberalismus. 1973 beendete der Militärputsch von Augusto Pinochet (mit maßgeblicher Unterstützung des CIA) die sozialistischen Experimente von Salvador Allende, der große Teile der Industrie verstaatlicht und eine umfassende Bodenreform zugunsten von Landarbeitern und Kleinbauern eingeleitet hatte. Unter Pinochet schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Er verfolgte ab 1975 eine neoliberale Wirtschaftspolitik mit ersten Privatisierungen, einer allgemeinen Deregulierung und einer Öffnung 28 Vgl. zum Thatcherismus Harold James, Europe Reborn. A History 1914–2000, London 2003, S. 352–360; Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2002.

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Chiles für Importe und ausländische Investitionen. Diese Politik, bei der Lehrbücher und Berater der Chicago School eine wichtige Rolle spielten, führte zu einer hohen Verschuldung Chiles, die das Land besonders anfällig für die lateinamerikanische Schuldenkrise von 1982 machte.29 Pinochet reagierte mit einer Strategie des »more of the same« und radikalisierte die Reformen. Die Regierung verkaufte die Post, die Eisenbahn und sogar die Wasserwerke, lediglich die lukrativen Kupferminen, die einen erheblichen Teil der Exporteinnahmen erbrachten, blieben im Staatsbesitz – was einmal mehr die Flexibilität neoliberaler Politik belegt. Außerdem kürzte der ab 1985 amtierende Finanzminister Hernán Büchi die Staatsausgaben massiv, vor allem bei der Sozialhilfe, den Gehältern der Staatsbediensteten und durch Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst. Durch Steuersenkungen für die Oberschichten wollte Büchi einen »Trickle-downEffekt« erzeugen, der aber offensichtlich nicht wirkte, denn im Laufe der 1980er Jahre stürzten 40 Prozent der Chilenen unter die Armutsgrenze.30 Die Beurteilung der Wirtschaftspolitik unter Pinochet ist bis heute umstritten. Einerseits begann nach der Überwindung der Schuldenkrise eine bis zur Asienkrise Ende der 1990er Jahre anhaltende Phase hohen Wachstums. Andererseits entstand eine tiefe soziale Kluft – Ungleichheit wäre hier fast ein Euphemismus –, die sich wachstumshemmend auswirkte. Das vermeintliche Wachstumswunder unter Pinochet lässt sich auch mit dem Blick auf eine Zeitschiene hinterfragen. Der Aufschwung Chiles begann zwar 1984, wobei hier das krisenbedingt niedrige Ausgangsniveau beziehungsweise ein statistischer Effekt zu berücksichtigen sind, aber er beschleunigte sich dann nochmals 1990, als Pinochet nach dem verlorenen Referendum über eine weitere Amtszeit als Staatspräsident einen Großteil seiner Macht abgeben musste. Man kann den Boom der folgenden neun Jahre daher ebenso auf die neue Wirtschaftspolitik unter den Christ- und Sozialdemokraten zurückführen. Der von der christlichen Soziallehre beeinflusste Finanzminister Alejandro Foxley kritisierte die neoliberalen Reformen, forderte ein »soziales Equilibrium« – für die damalige Zeit lag in dieser Formulierung eine Provokation – und stellte die

29 Vgl. zum Einfluss der Chicago School: Karin Fischer, The Influence of Neoliberals in Chile before, during, and after Pinochet, in: Mirowski/Plehwe, The Road, S. 305–46. Vgl. zum Neoliberalismus in Lateinamerika: Hal Brands, Latin America’s Cold War. An international History, Cambridge 2010, S. 223–255, online unter https://lbj.utexas.edu/archive/osap/uploads/file/ Brands_Dissertation.pdf [27.08.2019]. 30 Besonders betroffen war die Landbevölkerung. Vgl. dazu erneut Kurtz, Free Market Democracy. Vgl. zu den Arbeitern Peter Winn (Hg.), Victims of the Chilean Miracle: Workers and Neoliberalism in the Pinochet Era, 1973–2002, Durham 2004. Außerdem wurden die Mindestlöhne um mehr als ein Viertel abgesenkt. Vgl. dazu das Working Policy Research Paper Nr. 1188 (Mario Marcel / Andrés Solimano, Developmentalism, Socialism, and Free Market Reform. Three Decades of Income Distribution in Chile), das über das Archiv der Weltbank online zugänglich ist: https://bit.ly/2RhIK8B [27.08.2019].

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Armutsbekämpfung in den Vordergrund.31 Die Maßnahmen zugunsten benachteiligter Schichten wie der landarmen Bauern und die Steigerung der Kaufkraft unter der breiten Masse der Bevölkerung verstärkten und verlängerten den Aufschwung. Doch Foxley machte die vorherigen Privatisierungen und die Öffnung der chilenischen Wirtschaft nicht rückgängig, sondern setzte weiter auf ausländische Investoren. Insofern gab es auch ein gewisses Maß an Kontinuität, was sich in anderen Ländern und Kontexten wiederholen sollte und darauf verweist, dass einmal eingeschlagene neoliberale Reformen eine länger wirksame Pfadabhängigkeit erzeugen. Unabhängig davon, wie sehr man den Aufschwung eher der internationalen Konjunktur in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, Büchi oder Foxley zurechnet, ist eine direkte Kausalerklärung zugunsten einer Entwicklungsdiktatur fragwürdig.32 Dennoch kursiert diese neoliberale »Success Story« bis heute weltweit, ähnlich wie die spätere polnische Erfolgsgeschichte. Das belegt zugleich, dass der Neoliberalismus auch als kommunikatives Phänomen zu verstehen ist. Die Aufmerksamkeit für Chile war im östlichen Europa und insbesondere in Polen besonders groß. Das lag nicht nur an der umstrittenen Papstreise von 1987, sondern an der bis zum Frühjahr 1989 realistischen Aussicht, dass die Kommunisten mit General Jaruzelski an der Regierung bleiben, jedoch die Wirtschaft liberalisieren würden. Der polnische General und Putschist von 1981 wäre nach diesem Szenario gewissermaßen das osteuropäische Äquivalent von Pinochet geworden. Weitere Parallelen lagen in der hohen Auslandsverschuldung und dem unbestreitbaren Bedarf nach Wirtschaftsreformen. Es kam dann bekanntlich alles ganz anders, weil sich der Niedergang des Staatssozialismus in der zweiten Hälfte des Jahres 1989 dramatisch beschleunigte. 1990 musste Jaruzelski zurücktreten, ähnlich wie General Pinochet, der allerdings Oberbefehlshaber der Armee blieb. Diese demokratische »transición« hat ebenfalls zur neoliberalen »success story« Chiles beigetragen, denn so ließ sich sogar behaupten, dass neoliberale Wirtschaftsreformen und eine Demokratisierung sich ergänzen würden. 31 Alejandro Foxley, ein renommierter Ökonom und langjähriger Leiter des CIEPLAN (da-

mals Corporación de Investigaciones Económicas para Latinoamérica, inzwischen ist der Schwerpunkt auf die Ökonomie auch im Namen entfallen), äußerte diese Ansichten nicht nur im Wahlkampf, sondern auch unter Fachleuten und gegenüber der Weltbank. Vgl. zu seinem sozialen Reformprogramm diverse Unterlagen, die im Archiv der Weltbank in den Beständen über Chile aufzufinden sind, hier konkret ein 11-seitiges Manifest aus dem Jahr 1988 und die Gesprächsprotokolle anlässlich eines Besuchs bei der Weltbank im Jahr 1989 im World Bank Archive, World Bank File 16435 (Chile – Lending, Economy and Program (LEAP) – General – Bd. 2), den Anhang zum Weltbankbericht vom 18.10.1988 sowie World Bank File 16436 (Chile – Lending, Economy and Program (LEAP) – General – Bd. 3), Bericht vom 30.10.1989 [sämtliche hier zitierte Akten der Weltbank sind ohne Pagination]. 32 Vgl. zur Kritik an der Wirtschaftspolitik unter Pinochet: Ricardo Ffrench-Davis, Economic Reforms in Chile. From Dictatorship to Democracy, London 32010, S. 51–106; ders., Chile entre el neoliberalismo y el crecimiento con equidad Cuarenta años de políticas económicas y sus lecciones para el future, Santiago de Chile 2014. Ffrench-Davis wurde als Ökonom ursprünglich an der University of Chicago ausgebildet.

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Die USA als Hauptgläubiger Chiles nahmen den wirtschaftlichen Aufschwung jedenfalls erfreut zur Kenntnis und empfahlen anderen lateinamerikanischen Ländern ähnliche Strategien. In diesem Kontext entstand der »Washington Consensus«, den die Weltbank, der IWF, das US-Finanzministerium und hochrangige Mitglieder des US-Kongresses 1989 vereinbarten. Am Anfang des Dekalogs stand die ökonomische Stabilisierung von Ländern mit hoher Inflation und Schulden durch eine strikte Spar- beziehungsweise Austeritätspolitik. Weitere wichtige Elemente waren die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Auch Foreign Direct Investment und somit der globale Finanzkapitalismus kamen bereits vor.33 Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Bezeichnung als »Konsens« – damit fiel Kritikern automatisch die Rolle von Abweichlern zu. Diese globalen Weichenstellungen sind deshalb erwähnenswert, weil das Jahr 1989 meist als ein regionales, mittel- und osteuropäisches Ereignis rezipiert wird. Es gab auch ein globales Jahr 1989.34 Der globale Aufstieg des Neoliberalismus und die lange republikanische Vorherrschaft in den USA waren indes der Grund, warum der Begriff im Lauf der 1980er Jahre einen zunehmend negativen Beigeschmack bekam. Die liberalen und linken Kritiker arbeiteten sich vor allem an der Sozial- und Wirtschaftspolitik von Präsident Reagan ab und griffen dessen ökonomische Berater an. Egal wie man zu den Reagonomics und zum Thatcherismus und vor allem ihren langfristigen Folgen steht – England und den USA gelangen Anfang der 1980er Jahre nach langer Rezession eine wirtschaftliche Wende. Die Inflation ging zurück, die Wirtschaft wuchs wieder; das verstärkte den generellen Wertewandel zu mehr Individualismus, Gewinnstreben (dafür stand archetypisch der »Yuppie«)35 und Unternehmertum. Die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten wirkten im Vergleich dazu behäbig und im Wortsinn konservativ, auch wenn sie noch von Sozialdemokraten oder Sozialisten regiert wurden wie Frankreich und Österreich. Markanter als in der Politik war der Paradigmenwechsel an den ökonomischen Fakultäten und Forschungsinstituten. Dort erreichten die neoklassische Wirtschaftslehre und in ihrem Gefolge der Neoliberalismus eine unanfechtbare Vormachtstellung. Unabhängig von allen subdisziplinären Varianten entwickelte

33 Der eigentliche Autor des Konsenspapiers war der Ökonom John Williamson, ihn hatten die beteiligten Institutionen als Experten hinzugezogen. Vgl. den Originaltext in: John Williamson (Hg.), Latin American Adjustment: How Much has Happened, Washington 1990. Vgl. zum globalen Finanzkapitalismus: Rawi Abdelal, Capital Rules: The Construction of Global Finance, Cambridge 2007. 34 Vgl. George Lawson / Chris Armbruster / Michael Cox (Hg.), The Global 1989: Continuity and Change in World Politics, Cambridge 2010; vgl. in deutscher Sprache dazu Ulf Engel / Frank Hadler / Matthias Middell (Hg.), 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015. Der »Washington Consensus« und seine Folgen werden in diesem Band aber kaum erwähnt. 35 Vgl. Sina Fabian, Der Yuppie. Projektionen des neoliberalen Wandels, in: Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler (Hg.), Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 93–117.

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sich ein Kern gemeinsamer Anschauungen: allen voran die Quantifizierbarkeit der Welt in Messwerten wie dem Bruttoinlandsprodukt, die Gleichgewichtstheorie beziehungsweise die Annahme, dass die Märkte ein Equilibrium zwischen Angebot und Nachfrage herstellen, und zwar am besten ohne staatliche Eingriffe. Für die zunehmende Marktgläubigkeit stand nicht zuletzt die auf Adam Smith zurückgehende, parareligiöse Formel von der »unsichtbaren Hand« der Märkte.36 Mit dem Verblassen der Erinnerung an den »Schwarzen Freitag« von 1929 verbreitete sich ein rational nur bedingt begründbarer Glauben an die Rationalität der Marktteilnehmer. Hier wirkten die in den 1980er Jahren viel diskutierten Rational Choice-Theorien als philosophischer Unterbau. Ein anderer, quasi an Naturgesetze angelehnter Begriff war das »trickle down«, also die Idee, dass Steuererleichterungen für Reiche und für Unternehmer zusätzliche Investitionen auslösen und damit den Wohlstand der Mittel- und Unterschichten ebenfalls vermehren würden. Dass dadurch die soziale Ungleichheit steigen würde, nahmen die »Chicago Boys« billigend oder sogar gezielt in Kauf. Selbstverständlich sollte man auch die Chicago School nicht über einen Kamm scheren, denn sie wurde von verschiedenen Köpfen (und Nobelpreisträgern) getragen. Aber insbesondere bei Milton Friedman und der Mont Pèlerin Society ist im Lauf der Nachkriegszeit eine Selbstradikalisierung zu beobachten. Während Friedman in den 1950er Jahren ähnlich wie die Ordoliberalen eine staatliche Regulierung der Wirtschaft teilweise noch befürwortete, zum Beispiel bei der Gesetzgebung gegen Kartelle und Monopole, verstärkte sich im Laufe seines Lebens eine libertäre Grundhaltung, die fast jede staatliche Regulierung als »government intervention« verteufelte.

IV. 1989 als globales Schlüsseljahr Will man sich der Metapher des Equilibriums bedienen, verschoben sich Ende der 1980er Jahre die Gewichte nochmals. Das hing eng mit dem Niedergang des Staatssozialismus zusammen. Die von Michail Gorbatschow in Gang gesetzte und von vielen Hoffnungen begleitete Perestroika bedeutete eine Strategie gradueller Reformen im Rahmen des existierenden Systems. Ab 1988 war jedoch erkennbar, dass die Perestroika die systemischen Probleme des Staatssozialismus verschärfte.37 In Polen war die ökonomische Krise so tief, dass sich die Regierung entschied, auf die Opposition zuzugehen. Daraus gingen der Runde Tisch, die Wahlen vom Juni 1989 mit allen weiteren Folgen für den Ostblock hervor. Das Scheitern der Perestroika beförderte im gesamten Ostblock die Neigung zu radi36 Vgl. zur Kritik an dieser oberflächlichen Berufung auf Smith: Stedman Jones, Masters, S. 102. 37 Einer der ersten Ökonomen, die dies erkannten, war der Schwede Anders Åslund, der spä-

ter etliche Jahre als – neoliberaler – Berater der Russländischen Föderation diente. Vgl. Anders Åslund, Gorbachev’s Struggle for Economic Reform: The Soviet Reform Process, 1985–1988, Ithaca 1989.

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kalen Reformen. Bereits 1988 berichtete die polnische Wochenzeitung Polityka über den wachsenden Einfluss der »östlichen Thatcheristen«.38 Damit war unter anderem Leszek Balcerowicz gemeint, der 1989 als Wirtschaftsminister der ersten postkommunistischen Regierung berufen wurde. Balcerowicz war mit einer verzweifelten Lage konfrontiert: Die von den Reformkommunisten verfügte Freigabe der Preise für landwirtschaftliche Produkte verursachte eine rasch steigende Inflation. Die großen Kombinate erwirtschafteten mehr Verluste als Gewinne, die aus dem Staatshaushalt nicht mehr zu decken waren. Außerdem war Polen hoch im Ausland verschuldet. Die anderen staatssozialistischen Staaten standen mit Ausnahme der Tschechoslowakei kaum besser da. Das höchste Budgetdefizit verzeichnete die Sowjetunion, die sich mit einem auf Konsum orientierten Ausgabenprogramm bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen für Rohstoffexporte direkt in die Pleite wirtschaftete.39 Ablesbar war das unter anderem an der steigenden Inflation, die in Jugoslawien bereits außer Kontrolle geraten war. Der wirtschaftliche und bald politische Zerfall Jugoslawiens war insofern von Bedeutung, als dieses Land wie kein anderes für einen »dritten Weg« stand. Der Niedergang des Ostblocks löste im Westen, vor allem in den USA, eine starke Reaktion aus. Bereits Anfang 1989 schrieb das Publikumsmagazin The New Yorker: »Der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist beendet: Der Kapitalismus hat gesiegt.«40 Im Frühjahr veröffentlichte Francis Fukuyama seine viel diskutierte These vom »Ende der Geschichte«, wonach künftig keine andere Ordnung als eine Kombination aus freier Marktwirtschaft und Demokratie erwartbar sei. Im weiteren Verlauf des Jahres 1989 vereinbarten die internationalen Finanzinstitutionen und Vertreter der amerikanischen Regierung dann den erwähnten »Washington Consensus«. Eigentlich zielte dieser »Konsens« auf die überschuldeten, von hoher Inflation geplagten Länder Südamerikas, er diente aber als Blaupause für die Wirtschaftspolitik in diversen postkommunistischen Staaten, allen voran Polen.41 Die von Friedman popularisierten Lehren der Chicago School und die Standardrezeptur des »Washington Consensus« wurden im Laufe der 1990er Jahre in allen postkommunistischen Ländern angewandt, auch in jenen, die anfangs noch zögerten, radikale Reformen einzuführen. Der Grund für diese Hegemonie lag 38 Vgl. Marek Borkowski, Sprzedać, oddać, wydzierżawić, in: Polityka Nr. 32/49, 3.12.1988, S. 1 und 4. Vgl. zu den Anhängern radikaler Reformen auch Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 376–380. 39 Vgl. Gerald M. Easter, Capital, Coercion, and Postcommunist States, Ithaca 2012, S. 23–50. Vgl. zur wirtschaftlichen Entwicklung der Tschechoslowakei und den dortigen staatssozialistischen Reformversuchen Michal Pullmann, Konec experimentu. Představba a pád komunismu v Československu, Praha 2011. 40 Robert Heilbroner, The Triumph of Capitalism, in: The New Yorker, 23.1.1989, S. 98. 41 Vgl. Paul Dragos Aligica / Anthony John Evans, The Neoliberal Revolution in Eastern Europe. Economic Ideas in the Transition from Communism, Cheltenham 2009.

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wie bereits angedeutet im Zusammenwirken westlicher und osteuropäischer Krisen- und Reformdiskurse. Begreift man den Kalten Krieg nicht ausschließlich als Konflikt und Konfrontation, sondern als System kommunizierender Röhren, wird die Hegemonie des Neoliberalismus in den osteuropäischen Ländern besser verständlich.42 Es wäre jedoch im Fall Chiles wie auch in den osteuropäischen Staaten nach 1989 falsch, den Neoliberalismus allein auf die Dominanz der USA und der internationalen Finanzorganisationen zurückzuführen. Gewiss spielten westliche Berater zeitweise eine wichtige Rolle, so etwa der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs, der wegen seiner Erfolge bei der Bekämpfung der Hyperinflation in Bolivien 1985/86 als Wirtschaftsberater erst nach Polen und dann nach Russland berufen wurde. Doch wie am Beispiel von Leszek Balcerowicz, Václav Klaus und in Russland von Jegor Gaidar zu ersehen ist, nahmen die lokalen Reformeliten die neoliberale Ideologie bereitwillig auf. Das lag nicht zuletzt daran, dass bei der erwähnten innerwestlichen Systemkonkurrenz Ende der 1980er Jahre keine besseren Alternativen erkennbar waren. Die Vorschläge eines dritten Wegs hatten den Nachteil, dass sie ziemlich abstrakt blieben, eine Mischung aus freier Marktwirtschaft und ausgebautem Sozialstaat wie in der (alten) Bundesrepublik konnten sich die postkommunistischen Länder nicht leisten. Dagegen enthielten die Rezepturen des »Washington Consensus« ein Bündel konkreter Maßnahmen und vor allem eine Zukunftsverheißung, wenngleich unter der Prämisse, dass zunächst ein »Tal der Tränen« zu durchlaufen sei. Diese Grundidee fand nicht zuletzt deshalb so viel Anklang, weil die staatssozialistische Modernisierung auf ähnlichen Vorgaben beruhte: Opfer in der Gegenwart zugunsten einer besseren Zukunft.

V. Die Praxis des Neoliberalismus in den 1990er Jahren Das Musterland neoliberaler Reformen in Europa war zunächst Polen. Im Herbst 1989 verabschiedete die im Juni gebildete Regierung den zehnteiligen Balcerowicz-Plan. Dessen Grundidee war ein Big Bang: Wenn man die Subventionen für Lebensmittel, Energie, Mieten und viele Artikel des täglichen Bedarfs abschaffte, die Preise für alle Produkte freigab, die unrentablen Großbetriebe privatisierte und die Grenzen für ausländische Firmen öffnete, dann würde die polnische Wirtschaft nach einer kurzen, schmerzhaften Anpassungsperiode ein »Equilibrium« erreichen und wieder zu wachsen beginnen – so die Vorstellung. Balcerowicz ging bei seinen Reformen von einem Einbruch des BIP um etwa fünf Prozent und einer ansteigenden, aber nicht katastrophalen Arbeitslosigkeit aus. De facto sanken das polnische Bruttoinlandsprodukt 1990 und 1991 um 18 Prozent und die Industrieproduktion um fast ein Drittel, die Inflation ließ sich 42 Vgl. dazu auch Johanna Bockman, Markets in the Name of Socialism. The Left-Wing Origins of Neoliberalism, Stanford 2011.

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nicht so einfach bezwingen wie gedacht. Außerdem mussten die Arbeitnehmer wegen des Lohnbegrenzungsgesetzes (das im Widerspruch zum Prinzip der Deregulierung steht) massive Kaufkraftverluste hinnehmen. Der daraus resultierende Einbruch der Nachfrage vertiefte die Krise, 1992 waren bereits 2,3 Millionen Polen beziehungsweise 13,5 Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos.43 Diese Rückschläge änderten aber wenig am Konsens für radikale Reformen. Der linke Flügel der Solidarność war in die Regierung einbezogen (unter anderem in der Person des charismatischen Arbeitsministers Jacek Kuroń) und linksliberale Intellektuelle wie Adam Michnik vertraten ganz offen die Ansicht, dass die breiten Massen von Wirtschaftspolitik wenig verstünden und daher rasche und unumkehrbare Reformen das beste Rezept seien.44 Die Tschechoslowakei und Ungarn waren etwas vorsichtiger mit ihren Reformen, vor allem der tschechoslowakische Premier Václav Klaus präsentierte sich aber als Anhänger von Margaret Thatcher und einer »Marktwirtschaft ohne Attribute«. Diese neoliberalen Speech Acts von Klaus, Balcerowicz, Gaidar und zahlreichen anderen Reformpolitikern dienten zum einen der eigenen Selbstvergewisserung, zum anderen dem Wettbewerb um internationale Investoren.45 Mitchell Orenstein und Hilary Appel sprachen hierbei von einem »competitive signalling«, das einerseits Vorreiter der Reformen prämierte, andererseits Abweichler wie zum Beispiel die Slowakei unter Premierminister Vladimir Mečiar abstrafte.46 In Deutschland war die neoliberale Rhetorik weniger ausgeprägt, tatsächlich wurde Ostdeutschland jedoch einer mindestens so radikalen »Schocktherapie« unterworfen wie Polen.47 Den ersten Schock brachte die Währungsunion vom 1. Juli 1990 mit sich. Bis auf wenige Ausnahmen (Sparguthaben ab einer gewissen Höhe und Schulden der Betriebe) wurde die Ostmark zu einem Kurs von 1:1 für eine D-Mark umgewertet, ein im Vergleich zu den Verrechnungskursen der DDR im Außenhandel und den Schwarzmarktkursen überhöhtes Umtauschverhältnis. Der zweite Schock folgte durch die rasche Liberalisierung des Außenhandels. Mit dem Beitritt der »Fünf Neuen Länder« zur Bundesrepublik und zugleich zur EG fielen wie im »Washington Consensus« vorgesehen sämtliche Handelsschranken. Diesem Konkurrenzdruck war die ostdeutsche Wirtschaft nicht gewachsen. 43 Vgl. die Zahlen in wiiw Handbook of Statistics 2012, Central, East and Southeast Europe. Countries by Indicator, Table II/1.7, Wien 2013. 44 Vgl. Adam Michnik, Ten straszny Balcerowicz, in: Gazeta Wyborcza, 28.11.1992, S. 10. Dort heißt es u. a.: »Man kann sich fragen, ob in der momentanen Situation eine Möglichkeit für eine breite Zustimmung überhaupt besteht – man kann jedoch nicht ohne Weiteres annehmen, dass die Mehrheit der Gesellschaft den Sinn und die Konsequenzen der Politik von Balcerowicz von vornherein hätte begreifen können.« (Übersetzung des Autors). So argumentierte auch Balcerowicz selbst, vgl. Leszek Balcerowicz, Socialism, Capitalism, Transformation, Budapest 1995, S. 307. 45 Ther, Die neue Ordnung, S. 123–125. 46 Hilary Appel / Mitchell A. Orenstein, From Triumph to Crisis: Neoliberal Economic Reform in Postcommunist Countries, Cambridge 2018, S. 116–141. 47 Vgl. auch den Beitrag von Marcus Böick in diesem Band.

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Eine dritte Besonderheit der deutschen Transformation war die besonders radikale Privatisierung, bei der ein grundlegender Marktmechanismus außer Acht gelassen wurde. Zeitweilig unterstanden der Treuhand 12.354 Unternehmen mit mehr als vier Millionen Beschäftigten. Wenn derart viele Unternehmen auf einen Schlag zum Kauf angeboten wurden, musste deren Preis drastisch sinken. So kam es zum Treuhand-Verlust von über 270 Milliarden DM, ein knappes Drittel der Betriebe konnte gar nicht verkauft werden und wurde »abgewickelt«.48 Das Resultat dieser neoliberalen Reformstrategie war ein Einbruch der Industrieproduktion auf 27 Prozent des Wertes von 1988.49 Außer Bosnien und Herzegowina erlebte kein anderes Land in Europa einen annähernd drastischen Rückgang, aber dort herrschte bekanntlich Krieg. Die Bundesregierung reagierte auf die wirtschaftliche Misere mit einer sozialstaatlichen Kalmierung. Die Transformationsverlierer wurden mit Arbeitslosengeld, ABM und Frühverrentungsprogrammen abgefunden. Der Ökonom Hans-Werner Sinn, der vor den Risiken der Währungsreform gewarnt hatte, nannte die Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland »eine Konkursverwaltung mit Sozialplan«.50 Die Fallbeispiele Polens und Ostdeutschlands zeigen trotz aller Unterschiedlichkeit, dass sich die häufig aufgestellte Behauptung, die Schocktherapie beziehungsweise radikale Reformen seien die Grundlage späterer ökonomischer Erfolge, nicht aufrechterhalten lässt,51 jedenfalls nicht im Sinne einer Kausalerklärung von Ursache und Wirkung. Insbesondere in Polen müsste man dann auch die Politik der Postkommunisten berücksichtigen, die 1993 an die Macht kamen und die Reformen zwar nicht aufhoben, aber modifizierten, insbesondere bei der Privatisierung der Großindustrie, die oft etliche Jahre unter staatlicher Regie weitergeführt wurde. Offensichtlich hat dieser Pragmatismus nicht geschadet. Ähnlich kritisch ist die erwähnte chilenische »Success Story« zu bewerten, denn auch dort lässt sich kein eindeutiger kausaler Zusammenhang zwischen den radikalen Reformen und dem späteren Aufschwung herstellen. Dies sollte jedoch nicht zu falschen Umkehrschlüssen verleiten. Jene osteuropäischen Länder, die Reformen verzögerten oder verweigerten, weil die Postkommunisten und damit ein Teil der alten Eliten an der Macht blieben, schnitten wirtschaftlich schlechter ab, das Gleiche gilt für Argentinien, den großen Nachbarn von Chile. 48 Vgl. Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis- Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018. 49 Vgl. Zenonus Norkus, On Baltic Slovenia and Adriatic Lithuania. A Qualitative Compara-

tive Analysis of Patterns in Post-Communist Transformation, Budapest 2012, S. 80. 50 Vgl. Gerlinde Sinn / Hans-Werner Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 21992, S. VII. 51 Dagegen spricht auch die Skepsis der zeitgenössischen Beobachter, die insbesondere im Jahr 1991 an dem eingeschlagenen Kurs zweifelten, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Die einen kritisierten die durch die Austerität ausgelöste Abwärtsspirale, dem IWF gingen die Sparmaßnahmen immer noch nicht weit genug. Vgl. dazu u. a. den IMF Staff Report vom 8.7.1992, der im Archiv der Weltbank einsehbar ist. Siehe World Bank Archive, World Bank File 30029780 (Poland – Privatization – Bd. 2).

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Ein weiterer, schwer quantifizierbarer und daher von Ökonomen vernachlässigter Faktor war das Humankapital.52 Das gilt insbesondere für Polen. Aufgrund der Mangelwirtschaft im Staatssozialismus und der relativ großen Nischen für die Privat- und Schattenwirtschaft lernten Millionen Polen marktwirtschaftlich zu denken und handeln, ehe die Marktwirtschaft zu ihnen kam. Dagegen wurde der Mittelstand der DDR nach der Einheit geschwächt, einerseits durch die übermächtige Konkurrenz aus Westdeutschland, zum anderen durch Abwanderung. Bis 1994 verließen etwa 1,4 Millionen Ostdeutsche ihre Heimat, die fast ebenso einwohnerstarke Tschechoslowakei verzeichnete bis zu ihrem Zerfall 1993 eine etwa gleich hohe Zahl an Unternehmensgründungen.53 Anhänger der Schocktherapie – im Herbst 2014 wurde in der einflussreichen Zeitschrift »Foreign Affairs« einmal mehr behauptet, dass sie der Grund späterer Erfolge gewesen sei54 – sollte der Verlauf der Transformation in der Russländischen Föderation nachdenklich stimmen. Russland erlebte in den 1990er Jahren einen wirtschaftlichen Einbruch in der Dimension der Weltwirtschafskrise in den 1930er Jahren.55 Das Hauptproblem in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion war die Schwäche des Staats auf allen Ebenen. 1994/95 übertrug die russische Regierung unter dem kranken Präsidenten Jelzin die Versteigerung staatlicher Betriebe den Banken, die dem Staat dafür weiteren Kredit gaben – offiziell hieß diese Privatisierung der Privatisierung »loans for shares program«. Die Banken wurden überwiegend von Oligarchen kontrolliert, die zugleich direkten Einfluss auf die Regierung und Insider-Wissen über die Unternehmen besaßen. Infolgedessen wurden die Betriebe weit unter Wert verkauft. So bezahlte Michail Chodorkowski für den Gas- und Ölkonzern Yukos lächerliche 350 Millionen US-Dollar, zwei Jahre später lag der Börsenwert bei neun Milliarden Dollar.56 Die fehlenden Einnahmen und die niedrige Steuermoral brachten den russischen Staatshaushalt aus dem Lot, wegen der hohen Schulden wurde Russland 1998 52 Für die Verwendung dieses Begriffs in meinem Buch von 2014 bin ich gelegentlich in Re-

zensionen kritisiert worden. In der Tat gehörte Gary Becker, der Schöpfer dieses Begriffs, der Chicago School an. Doch die Formierung von Humankapital beruht auf der Stärkung langfristiger Ressourcen wie dem Bildungssystem. Das lässt sich nur bedingt mit den Lehren von Milton Friedman beziehungsweise einer fetischierten Privatisierung und Liberalisierung in Einklang bringen. Es ist auch auffällig, dass die stetigen Neuauflagen des Hauptwerks von Gary Becker 1993 endeten (die Originalausgabe Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, Chicago war 1964 erschienen). 53 Vgl. zu den Unternehmungsgründungen Ivan T. Berend, From the Soviet Bloc to the European Union, Cambridge 2009, S. 61; Ther, Die neue Ordnung, S. 190–192 und 202. 54 Vgl. Andrei Shleifer / Daniel Treisman, Normal Countries. The East 25 Years After Communism, in: Foreign Affairs 93 (2014), 6, online unter http://www.foreignaffairs.com/articles/142200/ andrei-shleifer-and-daniel-treisman/normal-countries [27.08.2019]. 55 Vgl. Anders Åslund, Building Capitalism. The Transformation of the Former Soviet Bloc, Cambridge 2002, S. 118. 56 Vgl. zu Russland: Neil Robinson, The Context of Russia’s Political Economy, in: ders. (Hg.), The Political Economy of Russia, Lanham 2013, S. 15–50, hier S. 34.

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von der »Asienkrise« angesteckt und stand kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Der Betrug bei den Privatisierungen und die grassierende Korruption werden häufig kulturellen Spezifika der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten zugeschrieben, so etwa der Neigung zum nicht monetarisierten Austausch von Vorteilen und der bereits im Sozialismus erprobten Vetternwirtschaft. Doch der Fingerzeig auf die staatssozialistische Vergangenheit, in der Bundesrepublik Anfang der 1990er Jahre ein beliebtes politisches Ablenkungsmittel, reicht nicht aus. Diese Probleme waren auch ein Resultat systemimmanenter Widersprüche des Neoliberalismus. Die libertäre Skepsis gegen den Staat und das »big government« ging an den Realitäten Russlands und des postkommunistischen Europas vorbei. Bei den Nachfolgestaaten der Sowjetunion war vor allem die schwache Staatlichkeit das Problem. Für Staaten, die als Vorreiter galten, verlief die Transformation nicht glatt. Ungarn geriet 1994/95 in eine Budget- und Schuldenkrise, die nur mit einem strikten Austeritätsprogramm überwunden werden konnte. Das nach dem damaligen Finanzminister benannte Bokros-Paket hatte zur Folge, dass 30 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze rutschen. Ähnlich wie in Polen entstand eine tiefe Kluft zwischen armen und reichen Regionen. Tschechien wurde 1996 von einer Bankenkrise erschüttert, die zu einer Rezession und zum Sturz von Václav Klaus führte. In Ostdeutschland verpuffte der kurze Boom nach der Einheit, ab 1996 konnten die fünf neuen Länder ihren wirtschaftlichen Rückstand zum Westen nicht mehr verringern, wegen der hohen Arbeitslosigkeit nahm die Abwanderung in den Westen nochmals zu. In Russland führte die Rubelkrise von 1998 zu einer weiteren massenhaften Verarmung, dort sank die Lebenserwartung in den 1990er Jahren um drei auf 64 Jahre und bei den Männern sogar auf unter 60 Jahre – das waren schlechtere Werte als in etlichen Entwicklungsländern.57 Die Rubelkrise ging wiederum auf die »Asienkrise« von 1997/98 zurück, die erste umfassende transnationale Finanzkrise des Neoliberalismus. Sie entstand aufgrund der Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, spekulativer Investitionen mit zu hohen Gewinnerwartungen und einer zunehmenden Verschuldung im Ausland.58 Neben Russland waren auch Südamerika und insbesondere Chile betroffen. Die Parallelen zur globalen Krise von 2008/09 liegen auf der Hand, nur ging der Börsencrash dieses Mal vom Zentrum des globalen Finanzkapitalismus aus, den USA und der Wall Street.59 Angesichts all dieser Fehlschläge und Probleme bereits in den 1990er Jahren stellt sich die Frage, warum sich die neoliberale Ordnung so weitgehend durchsetzen konnte. Insbesondere im östlichen Europa kann man das Festhalten am 57 Vgl. zu diesen Daten, die auf Statistiken der Weltbank beruhen Ther, Die neue Ordnung, S. 167. 58 Vgl. zur Asienkrise Stiglitz, Freefall, S. xiv–xv. 59 Vgl. zur Krise die profunde Analyse von Adam Tooth, Crashed. How a Decade of Financial Crises Changed the World, New York 2018, S. 141–318.

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Neoliberalismus teilweise psychologisch erklären. Der Sprung ins kalte Wasser der Reformen war so tief und verunsichernd, dass die neoliberalen Lehren und Zukunftsverheißungen wie ein Rettungsring wirkten, an dem sich die neuen Eliten – auch mangels überzeugender Gegenmodelle – mit aller Kraft festhielten. Außerdem entwickelten Länder wie Rumänien und Bulgarien, die Anfang der 1990er Jahre mit durchgreifenden Reformen gezögert hatten, sich noch schlechter, machten mehrere Inflationsschübe durch und mussten sich letztendlich ebenfalls dem üblichen Maßnahmenpaket aus Austerität, Privatisierung und Liberalisierung unterziehen. Schließlich spielten erneut globale Dynamiken eine entscheidende Rolle. Mitte der 1990er Jahre erreichte die neoliberale Quantifizierung der Welt eine neue Dimension. Anfang 1994 begründete das englischsprachige Nachrichtenund Wirtschaftsmagazin The Economist den »Emerging Market Index«. Allein die Bezeichnung dieser wöchentlichen Rubrik ist eine eigene Betrachtung wert, denn hier wurden ganze Länder und Gesellschaften mit Märkten gleichgesetzt. 1995 etablierten die konservative Heritage Foundation und das marktliberale Wall Street Journal den »Open Markets Index«, bald darauf folgten der »Global Competitiveness Index«, der »International Property Rights Index« und der »Ease of Doing Business Index«. Diese Indizes, die alle von privaten Institutionen erfunden wurden, wirkten wie ein internationaler Wettbewerb, welches Land die freieste Marktwirtschaft ermögliche und die niedrigsten Steuern verlange. Der Höhepunkt der neoliberalen Indizierung wurde nach der Jahrtausendwende im Diskurs um die »Tigerstaaten« erreicht. Dazu wurden neben der Slowakei, den baltischen Staaten und diversen ostasiatischen Ländern auch Irland gezählt, es handelte sich also um kein regionales, osteuropäisches Phänomen. Die ehemalige DDR verschwand aus dem Blick der Indizes und eines Großteils der englischsprachigen Transformationsforschung, weil sie mit der Vereinigung in der Bundesrepublik aufgegangen war. Doch 1999 bezeichnete der Economist die Bundesrepublik als »den kranken Mann des Euro« – indirekt eine Reminiszenz an das Osmanische Reich vor dem Ersten Weltkrieg.60 Dies verstärkte die in der letzten Legislaturperiode von Bundeskanzler Kohl in Gang gekommene Diskussion über den »Reformstau« und die Systemkrise der Bundesrepublik. Der Blick der deutschen Öffentlichkeit richtete sich zunehmend nach Ostmitteleuropa, wo die Wirtschaft besser lief. In den »Reformstaaten« bekam der Neoliberalismus unterdessen einen neuen Dreh. Seit dem Ende der 1990er Jahre ging es bei der Privatisierung nicht mehr primär um Staatsbetriebe, sondern um staatliche Kernkompetenzen wie die Altersvorsorge und das Gesundheitssystem. Wie Mitchell A. Orenstein gezeigt hat, führte ein postkommunistisches Land nach dem anderen privatwirtschaftlich

60 Vgl. N. N., The Sick Man of the Euro, in: Economist, 3.6.1999, online unter http://www.eco

nomist.com/node/209559 [27.08.2019].

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organisierte Rentensysteme ein.61 In diesem Kontext steht die 2001 in Deutschland eingeführte »Riester-Rente«, die allerdings anders als die private Rentenversicherung in Polen oder Ungarn freiwillig blieb. Ein weiteres Kennzeichen der zweiten Welle des Neoliberalismus waren die Diskurse um stark vereinfachte und erniedrigte Steuersätze, die sogenannte Flat Tax. Von deren Einführung erhofften sich die postkommunistischen Länder mehr Steuerehrlichkeit und Auslandsinvestitionen. Von der Flat Tax profitierten vor allem Besserverdiener, während die unteren Einkommensschichten Kaufkraft einbüßten. Auf besondere Aufmerksamkeit stieß der Fall der Slowakei, die 2004 die Einkommens, Mehrwert-, Umsatz- und Unternehmenssteuern auf einheitliche 19 Prozent festlegte – auch hier ist wieder auf Semantiken zu achten: In der Slowakei hieß die Flat Tax »rovná daň« beziehungsweise »gleiche Steuer«, als würde damit ein Gleichheitsversprechen erfüllt. Der Staat verlor dadurch Steuereinnahmen und sozialpolitischen Gestaltungsspielraum, der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt sank von 19,5 Prozent auf 16 Prozent.62 Zum Vergleich: Die westeuropäischen Staaten gaben 2006 knapp 26 Prozent ihres BIP für Sozialausgaben aus. Allerdings können die absolute und die relative Höhe der Sozialausgaben nur bedingt als Anhaltspunkt dafür dienen, ob ein Land mehr oder weniger neoliberal regiert wurde. Das liegt unter anderem an den nicht intendierten Folgen neoliberaler Reformen, die entgegen dem Dogma eines schlanken Staats häufig zu stark steigenden Ausgaben für Arbeitslose, Frühpensionierungen etc. führten und die Staatsquote nach oben trieben. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen neoliberaler Reformen lassen sich daher nur in einem längeren Zeitraum erfassen. Ein häufig zitierter Indikator ist der Gini-Index, mit dem auf internationaler Ebene die Einkommensverteilung zwischen arm und reich beziehungsweise die soziale Ungleichheit bei den Einkommen gemessen wird (die Ungleichheit der Vermögen ist davon zu unterscheiden). So stieg zum Beispiel der Gini-Index in der Bundesrepublik von 1999 bis zur Krise von 2009 von 25 auf fast 30 Punkte, das heißt von einem skandinavischen auf ein ostmitteleuropäisches Niveau.63 Ein Zusammenhang mit den Hartz-Reformen liegt demnach nahe. Zudem ist die regionale Divergenz zu berücksichtigen, die bis zur EU-Erweiterung in allen postkommunistischen Staaten und in den letzten Jahren in den südeuropäischen Krisenstaaten stark zugenommen hat.

61 Orenstein, Privatizing Pensions. 62 Vgl. zum Anteil der Sozialausgaben am BIP: Dieter Segert, Transformationen in Osteuropa

im 20. Jahrhundert, Wien 2013, S. 233. Es gibt allerdings große Unterschiede im östlichen Europa. Die Baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien geben deutlich weniger für Sozialleistungen aus als Ungarn und Slowenien. 63 Die hier genannten Daten für die skandinavischen und ostmitteleuropäischen Länder sind auf der Webseite http://www.gini-research.org/articles/cr zugänglich. In den jeweiligen Länderberichten bzw. country reports ist neben den Daten auch die Art der Datenerhebung aufgeführt.

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Inwieweit Gesellschaften eine regionale und soziale Kluft hinnehmen, hängt jedoch von politischen Traditionen und kulturellen Werten ab. In der Bundesrepublik scheiterte die Einführung einer Flat Tax an den Bedenken des Finanzministeriums und dem Gerechtigkeitsempfinden eines Großteils der Bevölkerung. Auch ohne Einheitssteuersatz brachte die »Agenda 2010« von Bundeskanzler Gerhard Schröder die am tiefsten greifenden Sozialreformen der Nachkriegszeit mit sich. Die rot-grüne Koalition schaffte die prinzipiell unbegrenzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ab, aus dem Anspruchsprinzip wurde ähnlich wie bei der kommunalen Sozialhilfe ein Bedürftigkeitsprinzip. Demnach richteten sich die Zahlungen aus der Sozialversicherung nicht nach den eingezahlten Beiträgen, sondern dem persönlichen Vermögen. Der Sozialstaat beschränkte sich darauf, ein Existenzminimum zu sichern.64 Mit »Hartz IV« wurde außerdem ein Niedriglohnsektor geschaffen, der die Arbeitskosten in etwa auf das Niveau des tschechischen oder polnischen Durchschnittslohns absenkte. Die Bundesrepublik verwarf damit die Idee einer raschen Verwestlichung Ostdeutschlands und passte die Einkommen der »Arbeitssuchenden« – Arbeitslose sollte es fortan nicht mehr geben – an die östlichen Nachbarn an. Diesen Vorgang beziehungsweise etwas weiter gefasst die Diskurse und die Übernahme osteuropäischer Reformpolitiken kann man auch als »Kotransformation« bezeichnen. Die Idee eines Niedriglohnsektors stammte ursprünglich von Milton Friedman, wurde aber nach Feldversuchen in einigen »Rust Belt«-Staaten im Mittleren Westen nicht weiterverfolgt. Auch die Sozialreformen von Tony Blair und das Konzept »New Labour« beeinflussten Schröder, insofern kann man die Kotransformation nur in einem weiteren, globalen Kontext betrachten. Aber die Feedback-Effekte aus den »emerging markets« sollte man nicht unterschätzen. Der Verlauf und der postulierte Erfolg radikaler Reformen in Ländern wie Chile und Polen verstärkte die globale Hegemonie des Neoliberalismus. Die Hartz-Reformen waren und sind umstritten, denn auf der einen Seite steht fast eine Halbierung der Arbeitslosenzahlen in nur einer Dekade. Auf der anderen Seite war dies gepaart mit einem Anstieg der sozialen Ungleichheit, die in Deutschland 2014 höher lag als in postkommunistischen Ländern wie der Slowakei und Ungarn.65

64 Vgl. zu den Folgen von »Hartz IV«: Klaus Dörre / Karin Scherschel / Melanie Booth / Tine

Haubner / Kai Marquardsen / Karen Schierhorn, Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt a. M. 2013; Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, Weinheim/Basel 2015. 65 Vgl. zum internationalen Vergleich des Gini die anhand von Eurostat- und OECD-Daten erstellten Statistiken in Ther, Die neue Ordnung, S. 162.

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VI. Die Folgen der Krise von 2008/09 Auf globaler Ebene und im östlichen Europa brachte die Krise von 2008/09 einen tiefen Einschnitt mit sich. In einigen Ländern schrumpfte die Wirtschaft um 15 Prozent, Lettland war der negative Rekordhalter mit einem Rückgang des BIP um 18 Prozent.66 Auch Ungarn und Rumänien wurden hart getroffen. Nur Polen konnte sich der Krise weitgehend entziehen und verbuchte als einziger EU-Staat ein Wachstum von knapp zwei Prozent. Die Analyse von Bohle und Greskovits zeigt, dass jene Länder besonders unter der Krise litten, die sich der neoliberalen Ordnung und westlichem Spekulationskapital sehr weit geöffnet hatten.67 Nach dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase im Jahr 2007 und der nachfolgenden Pleite von Lehman Brothers versiegten die Kapitalströme nach Osteuropa schlagartig, einige Länder standen kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Angesichts des Verlaufs der Krise lassen sich zwei Typen von Staaten unterscheiden: Jene Länder, in denen die Foreign Direct Investments primär in das produzierende Gewerbe geflossen waren, Polen, Tschechien, die Slowakei und eingeschränkt Ungarn, sowie jene Länder, in denen die FDI vorwiegend in den Finanz- und Immobiliensektor investiert worden waren. Dort bildete sich – wiederum vergleichbar mit Spanien und Irland – eine Spekulationsblase, die 2008/09 plötzlich platzte. Ein besonderes Problem waren die Fremdwährungskredite, die nach der Jahrtausendwende während der Hochphase des Neoliberalismus massenhaft an Privatkunden vergeben wurden. Die Banken lockten die Kreditnehmer durch niedrigere Zinssätze für in Schweizer Franken und andere Hartwährungen laufende Kredite, verharmlosten jedoch das Währungsrisiko, das durch die starke Abwertung der osteuropäischen Währungen 2009 plötzlich schlagend wurde. Millionen von Kreditnehmern in Osteuropa, aber auch etwa 250.000 Österreicher, standen vor dem Ruin, denn häufig überstieg der Wert des Kredits nun sogar den der gekauften Immobilie. Jene Staaten, in denen der Anteil der Fremdwährungskredite an der gesamten Kreditvergabe die Schwelle von 50 Prozent überschritten hatte (Lettland, Rumänien, Ungarn, die Ukraine), konnten 2009 nur mit milliardenschweren »Rettungspaketen« vor dem wirtschaftlichen Kollaps bewahrt werden. Dabei ging es aber letztlich um die Absicherung der Banken, die zu viele riskante Kredite vergeben hatten. Die Blase und die riskante Kreditvergabe – Stiglitz prägte für die amerikanische Immobilienblase den Begriff des »Predatory Lending«68 – gehen auf die Deregulierung der internationalen und nationalen

66 Sämtliche Wirtschaftsdaten über die postkommunistischen Länder in diesem Aufsatz be-

ruhen auf der zusätzlichen CD-Rom des jährlich vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) herausgegebenen Statistikhandbuchs. Vgl. wiiw Handbook of Statistics 2012, Wien 2013. 67 Vgl. Bohle/Greskovits, Capitalist Diversity, S. 225. Vgl. zur Krise erneut Tooze, Crashed. 68 Vgl. Stiglitz, Freefall, S. 175 f.

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Finanzmärkte und somit auf ein weiteres Kernelement der neoliberalen Ordnung zurück. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Veränderung der Alltagssprache durch den Neoliberalismus und seine Folgen. So gibt es in Polen für die erwähnten Kreditnehmer den speziellen Kurzbegriff »Frankowiczy«, wörtlich könnte man das mit »Frankler«, abgeleitet von Schweizer Franken, übersetzen. Auch andere Begriffe, die sich der neoliberalen Ordnung verdanken, wie zum Beispiel die »Śmieciówki« beziehungsweise »Müllverträge« für befristet und schlecht bezahlte Arbeitnehmer, sind in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen. Das Vokabular und die Semantiken des Neoliberalismus wären demnach ein lohnender Gegenstand der zeithistorischen Forschung; in Deutschland könnte man mit dem »Hartzer« als Kurzform für Hartz-IV-Empfänger beginnen, in Italien vielleicht mit »Lo spread«, dem ab 2010 infolge der Krise rasch steigenden Zinsabstand zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen, mit dem diverse Steuererhöhungen und soziale Einschnitte begründet wurden. Finanz-, Banken- und Budgetkrisen waren ein steter Begleiter des Neoliberalismus, angefangen vom erwähnten »Black Monday« 1987 an der Wall Street, der Asien- und Rubelkrise 1998, dem Platzen der Dotcom-Blase 2001 bis zur großen Finanz-, Budget- und Wirtschaftskrise von 2008/09. Als die Börsenkurse ins Bodenlose fielen, stellte dies auch die zweite Welle neoliberaler Reformen und insbesondere die kapitalgestützten Rentensysteme in Frage. Polen, Ungarn, die Slowakei und andere Staaten reagierten, indem sie die Privatisierung der Altersvorsorge größtenteils zurücknahmen, die Flat-Tax-Systeme wurden in etlichen Ländern eingeschränkt oder abgeschafft. In den USA brachte insbesondere die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama eine Wende. Diese beruhte zwar überwiegend auf privaten Versicherungsgesellschaften, aber sie steht für die Hinwendung zu mehr Sozialstaatlichkeit. Wie Stiglitz feststellte, führte die Krise von 2008/09 dennoch zu keinem klaren Bruch mit dem Neoliberalismus. Die osteuropäischen Rettungspakete ermöglichten die Vergabe neuer Kredite, die Foreign Direct Investments sprangen nach einer kleinen Atempause wieder an – ähnlich wie in anderen »emerging markets« in Asien, Lateinamerika und Afrika. Insofern blieb auch das Modell der exogenen, das heißt überwiegend auf externen Ressourcen beruhenden Modernisierung weitgehend intakt. Im Unterschied dazu hatten die staatssozialistische Modernisierung und die »Import Substituting Industrialization« in der »Dritten Welt«,69 die auch Chile bis zum Putsch von 1973 umzusetzen versuchte, primär auf internen Ressourcen beruht. Die Fortsetzung der neoliberalen Politik in den »geretteten« osteuropäischen Ländern hatte aber einen hohen Preis. Wenngleich die Wirtschaft in Lettland, Litauen und Rumänien ab 2010 oder 2011 wieder zu 69 Vgl. Christoph Boyer, Big »1989«, small »1989«: A comparative View on Eastern Central Europe and China on their Way into Globalization«, in: Engel/Hadler/Middell (Hg.), 1989 in a Global Perspective, S. 177–204, hier S. 179.

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wachsen begann, verloren diese Länder innerhalb von wenigen Jahren zwischen sieben und zehn Prozent ihrer Bevölkerung durch Arbeitsmigration. Auch Irland, der parallele westeuropäische Fall, war davon stark betroffen. Ob sich dieser Substanzverlust auffangen lässt, ist ungewiss. Polen und die Slowakei, die ähnlich wie Deutschland und Österreich mit keynesianischen Maßnahmen reagierten, kamen insgesamt besser durch die Krise als die Länder, die weiterhin einen strikt neoliberalen Kurs verfolgten. Immerhin fanden die Kritiker des Neoliberalismus nun mehr Gehör als zuvor. Stiglitz hat vor allem den Marktfundamentalismus beziehungsweise den Glauben an sich selbstregulierende und ins Gleichgewicht bringende Märkte, das Vertrauen in die Rationalität der Marktteilnehmer und die Überhöhung des Privateigentums angegriffen.70 Paul Krugman betonte bereits in früheren Aufsätzen, dass eine ausgeglichene regionale Entwicklung und ein breiter Mittelstand Voraussetzung für ein dauerhaftes Wachstum seien.71 Sogar einer der Erfinder der Schocktherapie, Jeffrey Sachs, der sich seit längerer Zeit und sehr verdienstvoll der globalen Armutsbekämpfung widmet, hat 2015 ein Ende der Austeritätspolitik in Südeuropa und in Griechenland gefordert.72 Das bestätigt indirekt die Politik der EU nach der Erweiterung von 2004/07. Die Union hat seitdem dreistellige Milliardensummen in die neuen Mitgliedsstaaten überwiesen, allein Polen erhielt von 2007 bis 2013 40 Milliarden Euro Transfermittel, die dazu beitrugen, dass die soziale Ungleichheit dort spürbar zurückgegangen ist. Diese Summen stellen inzwischen den Umfang des legendären Marshall-Plans weit in den Schatten. Im Süden Europas verfolgte die EU aber bekanntlich eine andere Politik. Dort war die Ausgangslage 2009 insofern verschieden, als die Krise die schuldenbasierte Finanzierung der defizitären Staatsbudgets unterbrach und in die EuroKrise einmündete. Entsprechend der Logik der neoliberalen Ordnung und aus akutem Handlungszwang reagierten die südlichen EU-Staaten mit einer strikten Austeritätspolitik, dem ersten Baustein des »Washington Consensus«. Technokratische Regierungen versuchten 2010/11 in Italien und Griechenland, ebenso eine Liberalisierung der Arbeitsmärkte (die externe Liberalisierung war durch die EU gegeben) und eine Reform der Sozialsysteme durchzusetzen. Doch die von der Bundesregierung eingeforderte Sparpolitik, deren Effekte in den ersten zwei Jahren der Euro-Krise durch die stark steigenden Zinsen für Staatsanleihen ohnehin zunichte gemacht wurden, erzeugte eine wirtschaftliche Abwärtsspirale. Generell kann man schlussfolgern, dass der südeuropäische Weg mit einem Schwerpunkt auf Austerität ohne tiefgreifende Reformen und Investitionen die 70 Vgl. Stiglitz, Freefall, S. 12–15 und 248–253. 71 Vgl. Paul Krugman, Increasing Returns and Economic Geography, in: The Journal of Politi-

cal Economy 99, 3 (1991), S. 483–499, online unter https://www.princeton.edu/pr/pictures/g-k/ krugman/krugman-increasing_returns_1991.pdf [27.08.2019]. 72 Vgl. Jeffrey Sachs, Deutschland ist für die Misere mitverantwortlich, in: Süddeutsche Zeitung, 18.7.2015, S. 2, online unter http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/jeffrey-sachs-zur-grie chenland-krise-deutschland-ist-fuer-die-misere-mitverantwortlich-1.2570563 [27.08.2019].

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schlechteste Variante der Krisenbewältigung war. In Italien – Griechenland ist in mehrerer Hinsicht ein Sonderfall – dauerte die Rezession länger und war tiefer als in der Tschechoslowakei oder Polen nach 1989.73 Das hatte nicht zuletzt Folgen für die politische Ordnung. Wenn eine bestimmte Politik immer wieder mit dem Begriff »alternativlos«, also letztlich apolitisch und technokratisch begründet wird, dann provoziert dies populistische Gegenreaktionen, die man auch als Re-politisierung begreifen kann. Den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Populismus belegen eine Reihe von Wahlkämpfen und -Resultaten in verschiedenen europäischen Ländern. Als in Polen von 1998–2002 die erwähnte zweite Welle der Reformen durchgesetzt wurde und die Arbeitslosigkeit nochmals anstieg, stimmten bei den anschließenden Wahlen mehr als 30 Prozent der Wähler für rechts- und linkspopulistische Parteien. Die italienische Partei Cinque Stelle (Movimento 5 Stelle) war bei den Wahlen von 2013 nicht weit von diesem Resultat entfernt und konnte 2018 zusammen mit den Rechtspopulisten die Regierung übernehmen, ähnlich wie zuvor in Griechenland die Partei Syriza. Der jüngste Sieg der nationalkonservativen Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość) in Polen von 2015 beruhte nicht zuletzt auf der Unzufriedenheit der Transformationsverlierer. Unter Politikwissenschaftlern kursiert derzeit eine lebhafte Debatte, inwieweit man den Rechtspopulismus eher als ein Konglomerat betrachten soll, das sich verschiedener Ideologien bedient und neue Formen der politischen Mobilisierung einsetzt, oder ob man stärker die ideologische Ausrichtung betonen soll. Für einen Historiker ist ein kohärentes Weltbild erkennbar, das man als ein Bündel von Schutz- und Sicherheitsversprechen charakterisieren kann. Die Rechtspopulisten versprechen Schutz vor internationaler Konkurrenz in der Wirtschaft, daher die Wendung gegen den Freihandel, Schutz des heimischen Arbeitsmarkts vor ausländischer Konkurrenz, daher die Hetze gegen »illegale Migranten«, Schutz vor Kriminalität (obwohl diese seit Jahren sinkt) und Terror, der nur noch selten ohne den Zusatz »islamisch« erwähnt wird, sowie die Bewahrung nationaler Werte und eines traditionellen Familienbilds mit einer klar festgelegten Rollenverteilung der Geschlechter. Insgesamt ist dieses Weltbild stringent illiberal. Dieser Illiberalismus erreicht eine solche Schlagkraft, weil er sich als Alternative zum herrschenden »System« präsentiert. In Deutschland kommt dies bereits im Parteinamen der AfD (Alternative für Deutschland) zum Ausdruck, der eine Antithese zum neoliberalen »there is no alternative« darstellt. Diese politischen Folgen des Neoliberalismus zeichnen sich in jenen Ländern besonders deutlich ab, die sich – wie Polen, Großbritannien und den USA – dieser Ordnung sehr weitgehend geöffnet hatten.74

73 Vgl. auch den Beitrag von Massimiliano Livi in diesem Band. 74 Die Erfolge der AfD und vergleichbarer Parteien in Europa werden überzeugend und mit

einer zeithistorischen Dimension erklärt in: Philip Manow, Die politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018.

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VII. Ansätze einer zeithistorischen Neoliberalismusforschung Die Wirkmächtigkeit des Neoliberalismus beruht nicht zuletzt auf seinem Internationalismus. Die lange Liste der hier dargestellten Reformen wurde stets mit Verweis auf externe Vorbilder begründet und durch internationale Experten und Organisationen mitgetragen. Der Neoliberalismus ist daher auch als kommunikatives Phänomen zu untersuchen, als Begleiterscheinung und Antriebskraft der Globalisierung. Dagegen ist sozialstaatliche Politik in der Regel auf eine national definierte Gesellschaft bezogen und auch dort nur auf eine bestimmte Klientel. Bei der Beurteilung der Folgen des Neoliberalismus kommt es auf die jeweilige Perspektive an. Einige Länder, zum Beispiel Polen, haben insbesondere in ihren urbanen Zentren die Chancen, die sich nach 1989 boten, genutzt. Dagegen überwiegen in ländlichen Regionen und in alten Industrierevieren negative Folgen – ähnlich wie in Chile oder auch den USA. Für die historische Forschung bedeutet das, diese unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen zu berücksichtigen und methodisch zu verarbeiten. Dafür eignen sich insbesondere Vergleiche auf verschiedenen Ebenen, etwa über spezifische soziale Milieus,75 Gruppen oder Familienverbände. Diese Blickrichtung »von unten« wurde in der sozialwissenschaftlichen Forschung selten eingenommen, daher bestehen dort auch die größten Forschungslücken für die Zeitgeschichte. Abschließend sollen hier fünf Dimensionen vorgestellt werden, die für die zeithistorische Forschung über den Neoliberalismus fruchtbar gemacht werden könnten. Der Neoliberalismus begann zunächst als eine Geschichte des Wirtschaftsdenkens. Die Auseinandersetzung mit dieser Intellectual History ist in den Jahren nach der Krise von 2008/09 spürbar in Schwung gekommen. Daniel Stedman Jones, Angus Burgin und zuletzt Quinn Slobodian haben sich vor allem auf die Frühgeschichte des Neoliberalismus bis in die 1970er Jahre konzentriert, ihre Monografien dann aber in verschiedene Richtungen weiterentwickelt. Stedman Jones befasste sich vor allem mit dem Ideentransfer zwischen England und den USA, Burgin ging stärker in Richtung Politikgeschichte und den Einfluss Friedmans auf die Republikaner, Slobodian hat sich vor allem mit der österreichischen Schule befasst.76 Der Sammelband von Mirowski und Plehwe ist dem Publikationsformat entsprechend facettenreicher und deckt neben Netzwerkstudien über die Mont Pèlerin Society Handlungsfelder neoliberaler Politik in verschiedenen

75 Eine überzeugende Wiederbelebung dieses Begriffs hat der Konstanzer Historiker Sven Reichardt geleistet. Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014. 76 Vgl. Stedman Jones, Masters, S. 134–179. Sehr interessant ist auch das Kapitel über die Umsetzung neoliberaler Politik in der englischen und amerikanischen Wohnungspolitik (vgl. dazu S. 273–328). Vgl. speziell zu seiner Beratertätigkeit für Reagan: Burgin, The Great Persuasion, S. 206–07; Quinn Slobodian Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge 2018.

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Ländern ab.77 Trotz der dort enthaltenen Aufsätze über Chile und Peru weiß man relativ wenig über die Rezeption der »Chicago Boys« in anderen Teilen und Ländern der Welt und noch weniger über die Feedback-Effekte auf die Zentren des neoliberalen Denkens. Ein zweiter ausbaufähiger Schwerpunkt der Neoliberalismus-Forschung liegt auf der Umsetzung dieser Politik in verschiedenen Kontexten, angefangen von Chile und anderen lateinamerikanischen Ländern bis nach Ostmittel- und Osteuropa.78 Auch die erweiterte Bundesrepublik ist im Kontext des letztgenannten Raums zu betrachten und gehört zur Gruppe der postkommunistischen Länder, wenngleich man das Anfang der 1990er Jahre in Bonn und Berlin nicht wahrhaben wollte, sonst hätte man »die Reformstaaten« nicht östlich der Oder und des Böhmerwalds verortet. Aber es sollte nicht übersehen werden, dass sowohl die besonders radikale Privatisierung und Liberalisierung in der ehemaligen DDR als auch die rot-grünen Sozialreformen neoliberal inspiriert waren. Beim weiten Feld der Reformpolitiken ist erneut der Ansatz der Transfergeschichte nützlich, denn die konkreten Wirtschaftsrezepturen wurden nie eins zu eins übernommen und angewandt, sondern in den jeweiligen Ländern adaptiert und weiterentwickelt.79 Beispiele dafür sind die Schocktherapie, die zuerst in Polen, dann zwei Jahre später in Russland angewandt wurde, oder die Kupon-Privatisierung, die von Václav Klaus erfunden und von zahlreichen Ländern übernommen wurde. Die Varianten der Reformpolitik mit ihrem Kerngebiet der Privatisierung sind relativ gut erforscht, sodass man sich im historischen Rückblick auf enger gefasste Themengebiete konzentrieren kann. Eine Möglichkeit läge in Fallstudien über bestimmte Firmen und ihre Belegschaften.80 Studien über einzelne Unternehmen und ihr lokales Umfeld sind auch insofern von Bedeutung, als die neoliberalen Reformen innerhalb der betroffenen Nationalstaaten, die in der Volks77 Vgl. Mirowski/Plehwe (Hg.), The Road. Plehwe hat auch andere Bücher über den Neoli-

beralismus publiziert, vgl. u. a. Dieter Plehwe / Bernhard Walpen / Gisela Neunhöffer (Hg.), Neoliberal Hegemony: A Global Critique, London 2006. 78 Vgl. zu Chile: Winn, Victims; Kurtz, Free Market. Vgl. zum östlichen Europa u. a. Ther, Die neue Ordnung. 79 Vgl. zum Beispiel Rudolf Kučera, Making Standards Work. Semantics of Economic Reform in Czechoslovakia, 1985–1992, in: Zeithistorische Forschungen 12, 3 (2015), online unter http:// www.zeithistorische-forschungen.de/3-2015/id=5268 [27.08.2019], Druckausgabe S. 427–447. Vgl. zur Anwendung neoliberaler Konzepte in Osteuropa auch Aligica/Evans, The Neoliberal Revolution. 80 Wenngleich in der früheren Nachkriegszeit angesiedelt, ist die Studie von Alheit und Haack über den Wandel von Milieus in der Werftindustrie besonders anregend. Vgl. Peter Alheit / Hanna Haack, Die vergessene »Autonomie« der Arbeiter. Eine Studie zum frühen Scheitern der DDR am Beispiel der Neptunwerft, Berlin 2004. Vgl. dazu Heft 2 des »Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte« von 2007 sowie das von Ulf Brunnbauer und dem Autor von der DFG und dem österreichischen Forschungsfond geförderte Projekt »Transformation from Below«, das zwei große Schiffswerften in Polen und Kroatien vergleicht, unter www.transformationsfrom-below.eu.

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wirtschaftslehre und den benachbarten Sozialwissenschaften nach wie vor den gängigen Rahmen der Forschung bilden, sehr unterschiedliche Auswirkungen hatten.81 Neoliberale Politik beruht wie dargestellt auf einem speziellen Modus politischer Kommunikation. Die jeweiligen Reformen wurden meist als einzig mögliche Handlungsoption dargestellt und somit apolitisch und technokratisch begründet. Es wäre fruchtbar, unter Rückgriff auf den Ansatz der Mediengeschichte in einem dritten Forschungsfeld die medialen Argumentationsweisen und Vermittlungsstrategien nachzuzeichnen.82 Auf diese Weise ließe sich nebenbei der Populismus, der als politische Kehrseite des Neoliberalismus zu verstehen ist, besser ergründen. Eine weitere Spezifik der neoliberalen Diskurse liegt in ihrer Internationalität und den häufigen Verweisen auf externe Vorbilder. Bei der Vermittlung an die nationalen Öffentlichkeiten spielten wiederum die Modernisierungsnarrative eine wichtige Rolle. Neoliberale Reformen wurden sehr häufig damit begründet, dass ein bestimmtes Land nicht weiter zurückfallen dürfe, abgehängt zu werden drohe, aufholen müsse oder – so ein wichtiger Topos der 1990er Jahre – nach Europa »zurückkehren« wolle. All diese Sprachbilder beruhen auf linearen Vorstellungen von Rückständigkeit und Fortschritt und einer modellhaften historischen Entwicklung. Die Verbreitung neoliberaler Werte geht nicht zuletzt auf internationale Think Tanks und Medienkonzerne zurück. Die Heritage Foundation oder Rupert Murdochs Medienimperium sind nur bekannte Beispiele, die der zeithistorischen Forschung harren. Darin läge außerdem eine logische Erweiterung des in den letzten Jahren aufblühenden Forschungsfeldes internationaler Organisationen. Ein vierter Schwerpunkt kann wie bisher in den Folgen neoliberaler Politik liegen. Hier ist zwischen einzelnen Ländern zu unterscheiden, man denke etwa an die unterschiedlichen Resultate der Transformation in Polen und Russland, obwohl dort zum Teil die gleichen externen Berater aktiv waren. Es kann aber nicht darum gehen, die Welt wieder in Vorreiter und Nachzügler zu unterteilen wie in den 1990er Jahren – das wäre ein Teil der Erforschung neoliberaler Diskurse. Es muss vor allem innerhalb der Länder differenziert werden, zwischen bestimmten Generationen, sozialen Schichten und Gruppen bis hin zur Ebene einzelner Haushalte. Insbesondere in den postkommunistischen Ländern sind Auf- und Absteiger häufig in einer Familie vertreten, auch die Erfahrung geteilter Familien durch grenzüberschreitende Arbeitsmigration ist ein verbreitetes Phänomen. Hierbei erscheint es wichtig, die Betroffenen nicht nur als passive Objekte oder gar Opfer der neoliberalen Ordnung zu verstehen, sondern als Träger von 81 Auch hier sind Forschungsfelder zu berücksichtigen, die unter anderen Aufhängern betrie-

ben wurden, zum Beispiel die Armutsforschung. Vgl. zu Polen u. a. Hanna Palska, Bieda i dostatek. O nowych stylach życia w Polsce końca lat dziewięćdziesiątych, Warschau 2002. 82 Vgl. Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt a. M. 2011.

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Veränderungen. Autoren wie der ostdeutsche Kultursoziologe Wolfgang Engler betonten rund um die Jahrtausendwende den kreativen Umgang der sogenannten Transformationsverlierer mit Massenarbeitslosigkeit, prekären Arbeitsverträgen und anderen sozialen Notlagen.83 Dies lässt sich mit dem Begriff der »Selbsttransformation« erfassen, wobei der Umgang mit den Folgen radikaler Wirtschaftsreformen von offenem oder subversivem Widerstand bis hin zur übereifrigen Anpassung schwankte.84 Oft wird der Neoliberalismus als Oktroi, als aufgezwungen betrachtet. Aber er funktionierte auch dank der Beteiligung »von unten«, wie die Immobilienblase in den USA und die fast zeitgleich entstandene »Osteuropa-Blase« mit ihrer speziellen Komponente der Fremdwährungskredite belegen. Auf der einen Seite steht in der Tat das »Predatory Lending« (Stiglitz) der Banken, auf der anderen die Kreditnehmer, die bekannte Risiken in den Wind schlugen und sich auf Wetten auf die Zukunft einließen. Die Fortsetzung des Neoliberalismus nach 2008/09 zeigt, dass es sich um ein System handelt, das nach einer eigenen Logik funktioniert und Pfadabhängigkeiten erzeugt, denen sich vor allem Länder, die von ausländischem Kapital und Investitionen abhängig sind, schwer entziehen können. Wie bei anderen zeithistorischen Themen besteht das Dilemma, dass der Neoliberalismus kein ausschließlich vergangenes Phänomen ist, sondern noch in die Gegenwart reicht. Aber auch das kann die Forschung befruchten, ebenso die Herausforderungen bei der Auswahl der Quellen. Etliche Materialien wie zum Beispiel die Schriften der Vordenker des Neoliberalismus oder des »Washington Consensus« entsprechen dem klassischen Kanon historischer Quellen und sind in den Archiven der einschlägigen Institutionen wie zum Beispiel dem IWF und der Weltbank zugänglich. Eine wichtige Bedeutung haben mediale Quellen, die erneute Auswertung vergangener Sozialforschung und nicht zuletzt die Oral History. Da die globale Ausbreitung und Anwendung des Neoliberalismus vor über 30 Jahren begann, wird es Zeit, sich diesem Phänomen zu widmen, insbesondere mit einer Betrachtung »von unten«.

83 Vgl. Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002. 84 Diese Themen wurden bislang vor allem von Ethnologen und Sozialanthropologen bearbei-

tet. Vgl. u. a. in der Reihe des Erscheinens: Katherine Verdery, What Was Socialism and What Comes Next?, Princeton 1996; Michał Buchowski, Rethinking Transformation. An Anthropological Perspective on Postsocialism, Poznań 2001; Michael Burawoy / Katherine Verdery (Hg.), Uncertain Transition. Ethnographies of Change in the Postsocialist World, Lanham 1999, online unter https://kritikidiepistimonikotita.files.wordpress.com/2012/10/uncertain_transition.pdf; Dunn, Privatizing Poland; Chris Hann, Postsocialism. Ideals, Ideologies and Practices in Eurasia, London 2002; Tatjana Thelen / Andrew Cartwright / Thomas Sikor, Local State and Social Security in Rural Communities: A New Research Agenda and the Example of Postsocialist Europe, Halle 2008, online unter http://www.eth.mpg.de/pubs/wps/pdf/mpi-eth-working-paper0105 [27.08.2019]; Aleksandra Galasińska u. a. (Hg.), Discourse and Transformation in Central and Eastern Europe. Language and Globalization, Basingstoke 2009.

»WOHLSTAND FÜR ALLE«? SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT UND »WIRTSCHAFTSWUNDER« IN DER BUNDESREPUBLIK NACH 1949

Friedrun Quaas

IDEEN- UND WIRKUNGSGESCHICHTE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT I.

Raison d’être der historischen Reflexion

Diskussionen über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft geraten schnell an einen Punkt, an dem die Rede jenseits des gerade behandelten speziellen Gegenstandes auf die realhistorischen Ursprünge und konzeptionellen Wurzeln kommt. Nicht immer geschieht das aus geschichtlichem Interesse, sondern die retrospektive Sicht resultiert manchmal auch aus einer gewissen Ratlosigkeit bei der Einschätzung aktueller gesellschaftlicher Situationen, die zwar einerseits als Ausprägungen der Sozialen Marktwirtschaft eingeordnet werden, für die aber andererseits nicht immer hinreichend plausibel erscheint, aus welchen Gründen eine derartige Beurteilung überhaupt legitim sein sollte. Zweifellos hat sich die Praxis der Sozialen Marktwirtschaft über die Jahrzehnte hinweg verändert. Haben ihre Gründungsväter einen ausreichenden Orientierungshintergrund hinterlassen, um Konstanten dieser Wirtschaftsordnung identifizieren zu können? Die im Rahmen diverser Jubiläumsveranstaltungen zur Sozialen Marktwirtschaft öfter gestellte Frage, was der einstige Wirtschaftspolitiker Ludwig Erhard heute sagen würde, kann wohl in dem Sinne interpretiert werden, dass jener als Referenzpunkt herangezogen werden soll, um eine ihm grundsätzlich unterstellte Vorbildrolle für die Gegenwart anzumahnen. Möglicherweise hat sich Kurt J. Lauk ja dieses Ziel gestellt, als er eine Reihe von prominenten Autoren und Politikern zu einer Antwort eingeladen hat.1 Eine scharfe Kritik an der steinbruchartigen Verwendung erhardscher Positionen für politische Maßnahmen bringt dagegen Roland Tichy vor, der die oben aufgeworfene Frage damit beantwortet, dass der 1 Kurt J. Lauk (Hg.), Was würde Ludwig Erhard heute sagen?, Stuttgart 2007.

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wirkliche Rekurs auf Erhard in der gegenwärtigen Politik letztlich nur bedeuten könne, Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip zu verstehen und anzuwenden.2 Hinter beiden Positionen verbergen sich zweifelsohne eine hohe Wertschätzung Erhards und die Anerkennung seiner Bedeutung für die Soziale Marktwirtschaft. Aber wie und wodurch füllt Ludwig Erhard die ihm damit attestierte Rolle aus? Mit wem muss er sich die Urheberschaft teilen, und steht sie ihm überhaupt in dem Maße zu, wie in der verkürzten Rückschau auf die Vergangenheit oft kolportiert wird? Die Redensart, dass der Erfolg viele Väter hat, ist zu wohlfeil, wenn es darum geht, die Quellen der Sozialen Marktwirtschaft subtil aufzudecken. Erschwerend bei der Identifizierung solcher Quellen ist, dass der Begriff »Soziale Marktwirtschaft« im Verlauf der nunmehr sieben Jahrzehnte seines Gebrauches zum Polysem wurde und es somit zu einer Bedeutungsverschiebung gekommen ist, die es besonders dann einzukalkulieren gilt, wenn es um die Beurteilung der Wirkungsgeschichte geht. Eine Vision von Sozialer Marktwirtschaft zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass es über die subjektiven Meinungen hinaus auch nur einen annähernden Konsens über die inhaltlich verankerten Determinanten gibt. Das hat sich auch nicht dadurch geändert, dass im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik vom Mai 1990 eine rechtsverbindliche Festlegung auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft als gemeinsamer Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien vorgenommen wurde. Die seit Jahrzehnten geführte umfangreiche Debatte darüber, ob es sich bei der Sozialen Marktwirtschaft um ein fundiertes Konzept oder doch nur um einen Euphemismus für kapitalistische Marktwirtschaft handelt, ist dabei zum Spiegelbild einer weitgehend von Missverständnissen, unbewussten Fehleinschätzungen und bewussten Fehlinterpretationen sowie gegenseitigen Vorwürfen geprägten Diskussionslandschaft geworden. Dass die Soziale Marktwirtschaft indes sehr wohl sinnvoll diskutabel ist, da sie nicht rein pragmatisch, sondern in theoretisch-konzeptioneller Weise als ein »akademischer Entwurf«3 angelegt wurde und somit wissenschaftlichen Ursprungs ist, wird lange schon betont.4 Ebenso ist jedoch von vielen Autoren aufgezeigt worden, dass sie keine geschlossene Theorie im engeren Sinne darstellt, sondern von Anfang an als eine politische Stil- und Integrationsformel gedacht war.5 Angesichts dieser Situation kann man sich der Sozialen Marktwirtschaft über eine historische Reflexion sicher am besten nähern, wenn man sich ein Verständnis über den Weg der Analyse jener Ansätze erschließt, in denen eine inhaltliche Substanz behauptet und herausgearbeitet wurde. Auch das erweist sich letztlich 2 Roland Tichy, Was würde Erhard dazu sagen?, in: Der Hauptstadtbrief 124 (2014), S. 27. 3 Karl Georg Zinn, Soziale Marktwirtschaft. Idee, Entwicklung und Politik der bundesdeut-

schen Wirtschaftsordnung, Mannheim 1992, S. 31. 4 Alfred Müller-Armack, Die wissenschaftlichen Ursprünge und die künftige Verfassung der Sozialen Marktwirtschaft, in: Wirtschaftspolitische Chronik 22 (1973), 3, S. 7–26. 5 Vgl. dazu prägnant resümierend Joachim Zweynert, Die Soziale Marktwirtschaft als politische Integrationsformel, in: Wirtschaftsdienst 88 (2008), 5, S. 334–337.

IDEEN- UND WIRKUNGSGESCHICHTE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT

nicht als Kinderspiel, denn am Entwurf dessen, was schließlich Soziale Marktwirtschaft genannt wurde, haben nicht nur etliche Denker gearbeitet und damit Gründungsvaterstatus beansprucht, sondern sie haben auch sehr unterschiedliche Facetten eingebracht. Das gilt sowohl für das konzeptionelle wie auch für das praktische Profil dieses Ordnungskonzepts. Der somit unweigerlich vorhandenen Mehrfachdetermination gegenüber kann die Suche nach den Spuren der Sozialen Marktwirtschaft nicht ignorant sein, wenngleich damit etliche Probleme verbunden sind, wie sich nachfolgend rasch zeigen wird. Die Feststellung, dass sich um die Soziale Marktwirtschaft ein derart dichtes Deutungscluster gebildet habe, dass jede Argumentation damit rechnen müsse, bereits gedacht, aber auch mit Gegenargumenten bedacht worden sei, ist nicht von der Hand zu weisen.6

II. Der Ursprung der Bezeichnung, das begriffliche Problem und die hermeneutischen Klippen Inzwischen ist weitgehend akzeptiert, dass der Name »Soziale Marktwirtschaft« von Alfred Müller-Armack stammt, auch wenn immer noch davon abweichende Meinungen kursieren.7 Im Spätherbst 1946 hat er ihn als Ergebnis intensiven Nachdenkens in den Sprachgebrauch gebracht. Die Wortschöpfung soll in Form eines Heureka-Ausrufs präsentiert worden sein, und zwar im Herz-Jesu-Kloster Vreden-Ellewick, das Müller-Armack und seine Mitarbeiter drei Jahre zuvor gegen ihre Universitätsräume im bombardierten Münster getauscht hatten. »Nun weiß ich, wie es heißen muss: Soziale Marktwirtschaft muss es heißen. Sozial mit großem ›S‹.«, so hat Bruder Gerhard, einer der Zeitzeugen im Kloster, den lauten Freudenschrei Müller-Armacks auf der Klostertreppe einem Journalisten gegenüber erinnert.8 Es griffe indes zu kurz, Müller-Armacks Rolle auf die des Namensgebers reduzieren zu wollen. Der Begriff »Soziale Marktwirtschaft« hat durch ihn eine inhaltliche Substanz erhalten, in der die soziale Versöhnung mit der Marktwirtschaft nicht nur unterschwellig anklingt – schließlich ist die Idee einer Konfrontation der Marktwirtschaft mit sozialen Anforderungen alles andere als neu –, sondern Müller-Armack bietet einen vergleichsweise ungewöhnlichen Zugang an. Im Ergebnis reiflicher geistiger Auseinandersetzung sowohl mit dem »alten« Liberalismus als auch mit der Lenkungswirtschaft sowie auf die Wirtschaftsstilforschung zurückgreifend, entwirft Müller-Armack die Konzeption einer für die 6 Arnold Meyer-Faje, Die Unvollendete. Entwicklung, Probleme und Perspektiven der Sozia-

len Marktwirtschaft, Marburg 2013, S. 203. 7 Vgl. dazu Daniel Dietzfelbinger, Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil. Alfred MüllerArmacks Lebenswerk, Gütersloh 1998, S. 200 sowie Friedrun Quaas, Soziale Marktwirtschaft. Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts, Bern u. a. 2000, S. 43–47. 8 Vgl. Claus Hecking, Sozial muss es heißen, in: Financial Times Deutschland vom 23. Februar 2007, S. 25. Hecking hat für diesen Beitrag den Journalistenpreis des Münsterlandes 2008 erhalten.

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Wirtschaftspolitik neuartigen Synthese. Seine um die Jahreswende 1946/1947 publizierte Schrift »Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft«9 ist im zweiten Hauptteil mit »Soziale Marktwirtschaft« überschrieben. Darunter möchte er definitiv keine Mischform der bekannten Euckenschen Idealtypen, Verkehrswirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft, verstehen, sondern eine eigenständige idealtypische Formbestimmtheit. »Wir haben heute nüchtern zu konstatieren: Die beiden Alternativen, zwischen denen die Wirtschaftspolitik sich bisher bewegte, die rein liberale Marktwirtschaft und die Wirtschaftslenkung sind innerlich verbraucht, und es kann sich für uns nur darum handeln, eine neue dritte Form zu entwickeln, die sich nicht als eine vage Mischung, als ein Parteikompromiß, sondern als eine aus den vollen Einsichtsmöglichkeiten unserer Gegenwart gewonnene Synthese darstellt.«10

Die Öffentlichkeit zeigte sich allerdings vorerst kaum davon beeindruckt und war an dem Vorschlag wenig interessiert. Eine Ausnahme bildete Ludwig Erhard, den allerdings wohl vorrangig die Wortschöpfung und nicht so sehr der intendierte Inhalt faszinierte. Er nahm die Bezeichnung »Soziale Marktwirtschaft« rasch in sein sprachliches Repertoire auf, um seine eigene marktwirtschaftliche Grundüberzeugung wirkungsvoll zu kommunizieren. Erhard hatte diese spätestens in einer 1943/44 verfassten geheimen Denkschrift niedergelegt, indem er als erstrebenswertes Ziel für die Friedenswirtschaft »in jedem Falle die freie, auf echtem Leistungswettbewerb beruhende Marktwirtschaft«11 bezeichnete. Die Favorisierung der Marktwirtschaft implizierte für Erhard, dass das Soziale immer schon im Marktwirtschaftlichen enthalten ist. Es bleibt zu bezweifeln, ob Erhard damit lediglich meinte, dass sich, wie Meyer-Faje intendiert, die Wirtschaft im sozialen Raum mit stets konkreten Menschen ereignet.12 Die Wortverbindung »Soziale Marktwirtschaft« besaß für Erhard wohl eher aus Überzeugung von der Überlegenheit der Marktwirtschaft per se die Bedeutung eines pleonastisch-rhetorischen Stilmittels, etwa so, wie in der Formulierung »runder Kreis« das Adjektiv eigentlich überflüssig ist, aber die Form eines Kreises noch einmal besonders betont wird. Es erschließt sich daher nicht ohne Weiteres, warum Müller-Armacks irenisches, sorgfältig auf die Verbindung zwischen der Freiheit des Marktes und dem sozialen Ausgleich bedachtes Konzept Erhard jenseits der griffigen Bezeichnung sonderlich imponiert haben sollte. Dass Müller-

9 Alfred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, wiederabgedruckt in:

Ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Bern/Stuttgart 21976, S. 19–170. 10 Ebd., S. 109. 11 Ludwig Erhard, Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung. Faksimiledruck der Denkschrift von 1943/44, Frankfurt a. M. u. a. 1977, S. 264. 12 Meyer-Faje, Die Unvollendete, S. 204.

IDEEN- UND WIRKUNGSGESCHICHTE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT

Armack die Soziale Marktwirtschaft als »eine bewußt gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft«13 verstand, dürfte ihn eher befremdet haben. Was beide dagegen einte, war ihr generell marktwirtschaftliches Plädoyer, resultierend aus der konsequenten Ablehnung der Zentralverwaltungswirtschaft, die in den genannten Arbeiten von Erhard als Kriegswirtschaft und von MüllerArmack als Wirtschaftslenkung kritisch erörtert wurde. »Vor der Aufgabe, eine neue marktwirtschaftliche Ordnung zu schaffen, gibt es kein Ausweichen.«14

Das Fundament der neuen Ordnung wird damit unmissverständlich im Sinne einer Wettbewerbswirtschaft formuliert, von deren prinzipieller sozialer Vorteilhaftigkeit gegenüber der Lenkungswirtschaft übrigens auch Müller-Armack überzeugt war, wie er beispielsweise für den Bereich der Verbesserung der Konsumentenversorgung erläuterte. Nur sollte die auf dem Wettbewerbsprinzip basierende Wirtschaftsordnung eben keine »geistlose Nachahmung der freien liberalen Wirtschaft des 19. Jahrhunderts sein.«15 Während Müller-Armack zu jener Zeit und auch später eine ziemlich klare, wenn auch nicht gestochen scharfe, Vorstellung davon vermittelt hat, wie er den von ihm bezeichneten Wirtschaftsstil verstanden wissen wollte, setzte die allgemeine Begriffsverwirrung und -verfremdung unmittelbar ein, nachdem seine Wortschöpfung in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit rückte. Nur auf der Grundlage eines von Anfang an nicht homogenen Begriffsverständnisses wird es plausibel, dass die Auffassungen in der Folgezeit immer weiter auseinanderdriften konnten und in einen nun bereits Jahrzehnte währenden Meinungsstreit um den Sinn der Sozialen Marktwirtschaft mündeten, der mal verdeckt, mal offen ausgetragen wird. Im Kern geht es dabei um den Stellenwert der im Konzept verankerten Grundwerte, besonders jener, die helfen sollen »das Soziale« zu operationalisieren. Ist »sozial« als ein Adjektiv aufzufassen, das »Marktwirtschaft« näher beschreibt, stellt es ein unverzichtbares Attribut dar oder kann es als Pleonasmus im Grunde genommen auch weggelassen werden? Oder aber ist »Soziale Marktwirtschaft« als eine kleinste bedeutungstragende Einheit aufzufassen? An der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen scheiden sich seit jeher die Geister, was wiederum nicht folgenlos bleibt, denn in Abhängigkeit von der jeweils gegebenen Antwort variiert zwangsläufig auch die im Namen der Sozialen Marktwirtschaft favorisierte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik als entweder stärker marktliberal beziehungsweise wohlfahrtsstaatlich oder als ein sogenannter »Dritter Weg«. 13 Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, S. 109. 14 Alfred Müller-Armack, Zur Diagnose unserer wirtschaftlichen Lage (1947), Wiederabdruck

in: Ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Bern/Stuttgart 21981, S. 71. 15 Ebd., S. 72 f.

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Der hier eingeschlagene Weg, sich auf die Genesis der Sozialen Marktwirtschaft zu besinnen, reicht vor dem dargelegten Hintergrund in eine nicht nur historisch reflektierende, sondern hermeneutische Dimension hinein. Dabei dürfte weder die Neigung zu einer theoretischen Überhöhung des Konzepts noch die zu einer Auflösung in politischen Pragmatismus sonderlich hilfreich sein.

III. Die geistigen Quellen der Sozialen Marktwirtschaft Bei der Suche nach den Quellen und damit nach Sinn und Zweck der als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Leitbild entworfenen Sozialen Marktwirtschaft entgehen dem aufmerksamen Betrachter orientierungsgebende Wegmarken nicht. Sie tauchen als wiederholte und gegen versuchte Zurückweisung resistente Referenzpunkte auf und spannen den Bogen für den Untersuchungsgegenstand auch dann noch auf, wenn sie zueinander partiell in Kontradiktion zu stehen scheinen. Zu solchen Orientierungspunkten zählen für den hier interessierenden Kontext solche Aspekte wie die Charakterisierung der Sozialen Marktwirtschaft als ein neoliberales Konzept, abweichende Annahmen über die theoretischen Wurzeln und die pragmatische Umsetzung, unterschiedliche Gewichtungen der dem Konzept immanenten gesellschaftlichen Grundwerte und Überlegungen zur Spezifizierung der Sozialen Marktwirtschaft als Ordnungskonzept beziehungsweise als spezifischer Wirtschaftsstil.

III.1 Soziale Marktwirtschaft als Spielart des Neoliberalismus Eine summarische Etikettierung der Sozialen Marktwirtschaft als Neoliberalismus ist häufig das Resultat einer ablehnenden Haltung gegenüber der Ordnung der Marktwirtschaft, die dann durchaus im pejorativen Sinne als Kapitalismus bezeichnet wird. Wo so verstandene neoliberale Positionen grundsätzlich argwöhnisch betrachtet werden, kann folgerichtig auch die Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung nur Skepsis auslösen.16 Als Antwort auf derartige Verweigerungshaltungen gegenüber der Marktwirtschaft folgen – wenn ihnen nicht überhaupt mit Nichtbeachtung durch bekennende Neoliberale begegnet wird – heftige symbolische Gegenreaktionen. Als Beispiel sei eine diffamierende Rezension angeführt, die für das zitierte Buch des Wirtschaftswissenschaftlers Ralf Ptak angestrengt wurde.17 16 So zum Beispiel Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004. 17 Der Hayekianer Michael von Prollius hat in einer Sammelrezension von Schriften zur Ordnungspolitik die angeführte Dissertationsschrift von Ptak als »randständig« und »wissenschaft-

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Derartigen aus wissenschaftssoziologischer Sicht ärgerlichen Reaktionen könnte ein Stück weit der Boden entzogen werden, wenn von Kritikern des Neoliberalismus eine etwas differenziertere Sichtweise eingenommen werden würde. Es ist zweifellos angemessen, den Neoliberalismus nicht als eine einheitliche Strömung aufzufassen, gerade bei expliziter Anerkennung der Tatsache, dass sich hinter diesem nebulösen Begriff letztlich kein geschlossenes theoretisches Konzept verbirgt. Ptak erkennt dies durchaus nicht nur implizit an, zieht daraus aber bedauerlicherweise lediglich den Schluss, dass jenseits ihrer erheblichen Heterogenität alle neoliberalen Spielarten durch den Anspruch einer ideologischen Rechtfertigungslehre geeint seien, der sich in einem dogmatischen, raum- und zeitunabhängigen universalen Gültigkeitsanspruch äußere und in diesem Sinne als ein Oberbegriff benutzt werden könne.18 Versuche, das neoliberale Spektrum aufzufächern, stehen jedoch nicht a priori im Dienst der Apologetik. Dort, wo sie als positiv-faktische Analyse angestrebt werden, sollten sie trotz aller »Normativität des Faktischen« nicht durch den ständigen Hinweis darauf torpediert werden, dass hinter allen Spielarten des Neoliberalismus eine prokapitalistische Ideologie steckt. Selbst für radikale Marktideologen wie Ludwig von Mises war klar, dass Ideologien nicht notwendig zum Bereich des Transzendentalen und Mystischen gehören, sondern rationaler Erörterung zugänglich seien, soweit sie »die Gesellschaft als das große Mittel alles menschlichen Handelns bejahen«.19 Ideologiekritik kann und soll dadurch nicht ausgeschlossen werden, doch muss man sich fairerweise auch vergegenwärtigen, dass sie selbst eine normative Konnotation besitzt. Schließlich wird der Ideologiebegriff benutzt, »um Theorien, die den Kriterien des Wahrheits- oder des Realitätsbegriffs des eigenen Standpunkts nicht genügen, als bewußte oder unbewußte Täuschung zu kritisieren«.20 Die sehr unterschiedlichen liberalen Positionen des 20. und 21. Jahrhunderts auseinanderhalten zu müssen, statt sie wenig differenziert einfach mit dem pauschalisierenden Begriff »Neoliberalismus« zu identifizieren, ist eine Aufgabe, die sich im Grunde genommen schon auf der Veranstaltung gestellt hat, auf der jener Begriff geprägt wurde, nämlich auf dem Colloque Walter Lippmann, das im August 1938 in Paris abgehalten wurde. Für den hier relevanten Zusammenhang ist festzuhalten, dass sich unter den Teilnehmern dieses Kolloquiums etliche derjenigen befanden, die nur wenig später als Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft in lich ignorierbar« bezeichnet. H-Soz-Kult, 15.02.2006, www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-6870 [04.08.2018]. Im Gegensatz dazu schätzt Detmar Doering, der diesbezügliche Rezensent der FAZ, Ptaks Arbeit als eine sehr sachliche ein, die zum Nachdenken anrege: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.2006, Nr. 276, S. 14, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ wirtschaft/urspruenge-der-marktwirtschaft-1386134.html [04.08.2018]. 18 Ptak, Ordoliberalismus, S. 15. 19 Ludwig von Mises, Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Genf 1940. 20 Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stichwort Ideologie, Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 194.

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Erscheinung traten. Ihre Positionen lassen sich bereits hier, aber stärker noch auf den Sitzungen der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society, nachweislich scharf von denen anderer Mitglieder der Gesellschaft abgrenzen.21 Bereits für diese Zeitperiode wäre also von Neoliberalismen (im Plural) statt von Neoliberalismus (im Singular) zu sprechen, obwohl sämtliche Repräsentanten sich selbstverständlich der liberalen Idee verpflichtet fühlten. Es ist hilfreich, sich zur Verdeutlichung dieser Ausdifferenzierung des Liberalismus in verschiedene Neoliberalismen einer auf Egon Tuchtfeldt zurückgehenden Systematisierung zu bedienen. Er unterscheidet zwischen gesellschaftlich orientiertem und individualistisch orientiertem Liberalismus. Ersterem ordnet er namentlich die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft (Alfred Müller-Armack), des Wirtschafts- und Sozialhumanismus (Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow) und den Ordoliberalismus (Walter Eucken) zu. Der individualistisch orientierte Liberalismus wird kontextbezogen durch die Fraktion von Mises, Hayek und Friedman repräsentiert.22 Mit dieser Unterscheidung ist eine klare Abgrenzung der Sozialen Marktwirtschaft zu individualistischen Varianten des Neoliberalismus vorgenommen. Will man Neoliberale wie Hayek in den Kontext der Sozialen Marktwirtschaft rücken, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln, so kann das bestenfalls gelingen, wenn man es mit der zeitlichen Zuordnung der Positionen nicht so genau nimmt – was dann allerdings einen rückgreifenden Anachronismus bedeutet. So ist es zwar richtig, wenn hervorgehoben wird, dass Hayek in enger geistiger Verbindung zu den Gründungsvätern gestanden habe, aber die Aussage wird euphemistisch, wenn sie über die Zeit hinweg sich als inkompatibel entwickelnde Ansichten als geistig nahe stehend suggerieren will.23 Letztlich überwiegt im Falle von Hayek – und stärker noch bei Mises – die Differenz zu den Vertretern der gesellschaftsorientierten Variante des Neoliberalismus, was schließlich in den 1960er Jahren im Verlauf der Hunold-Affaire zum Austritt von Röpke und Rüstow aus der Mont-Pèlerin Society, die inzwischen als neoliberal-marktradikaler Think Tank schlechthin gilt, geführt hat.24 Alfred Müller-Armack, der ebenso wie Erhard in der Gesellschaft verblieb, hat die Vorgänge später folgendermaßen resümiert:

21 Friedrun Quaas, Die schleichende Dekonstruktion der Sozialen Marktwirtschaft zum neo-

liberalen Projekt, in: Walter Ötsch u. a. (Hg.), Markt! Welcher Markt? Der interdisziplinäre Diskurs um Märkte und Marktwirtschaft, Marburg 2015, S. 157–179. 22 Egon Tuchtfeldt, Die philosophischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. Gedanken zur Weiterentwicklung der sozialen Irenik Alfred Müller-Armacks, in: Franz Schoser u. a. (Hg.), Zwischen Utopie und Realität. Zur Philosophie der Sozialen Marktwirtschaft, Bonn 1981, S. 20. 23 Gerd Habermann, Hayek, Friedrich August von, in: Rolf H. Hasse u. a. (Hg.), Lexikon Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik von A bis Z, Paderborn 2002, S. 38. 24 Vgl. Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der »Mont Pèlerin Society«, Stuttgart 2008, S. 178–193.

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»Versuche, vor allem die Sozial-, Vital- und Gesellschaftspolitik, wie sie Röpke, Rüstow und ich anstrebten, ins Spiel zu bringen, fanden wenig Widerhall, wenn nicht gar offenen Widerspruch.«25

Damit sollte klar sein, dass die Hunold-Affaire nicht nur eine Personalquerele war, wie man vorschnell urteilen könnte, sondern dass es tatsächlich um einen handfesten Richtungsstreit in der Mont Pèlerin Society ging, den die soziologisch-neoliberal ausgerichtete Gruppe gegen die ökonomisch-individualistische Fraktion des Neoliberalismus verlor. Die Gesellschaft wurde schon längst von den durch Hayek integrierten amerikanischen Ökonomen, allen voran Frank Knight, Milton Friedman und George Stigler, dominiert. Während die unterschiedlichen Denkhaltungen dieser beiden klar unterscheidbaren Neoliberalismen also auf der Hand liegen, sind die Differenzen der neoliberalen Positionen innerhalb der gesellschaftsorientierten Variante des Liberalismus nicht so offensichtlich. Aber auch sie sind existent, was sich partiell in der sogenannten Gründungsväterdebatte zur Sozialen Marktwirtschaft widerspiegelt, die in der Literatur immer wieder aufscheint.

III.2 Wege zur Sozialen Marktwirtschaft Das Spektrum der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft wird mal enger, mal breiter gefasst und hängt vom Verständnis des Begriffes und seiner Struktur ab. Hinter dieser Einschätzung steht die Einsicht, dass die Intentionen der jeweils namentlich zitierten Personen zwar sehr wohl Gemeinsamkeiten aufweisen können, aber trotzdem nicht in allen Punkten kompatibel sein müssen. Die geistigen Väter des nur scheinbar einheitlichen Ideengebäudes der Sozialen Marktwirtschaft entstammen »durchaus unterschiedlichen Lagern«, so haben es Peter Ulrich und Michael Aßländer zusammengefasst.26 Wenn die Bedeutung der Sozialen Marktwirtschaft als Ganzes jedoch die Bedeutungen der Teilkonzeptionen determiniert und diese wiederum die Bedeutung des Ganzen bestimmen, liegt ein hermeneutischer Zirkel vor. Soll dieser aufgelöst statt zum circulus vitiosus werden, ist eine Antizipation der Bedeutung des Ganzen erforderlich, mit der die Interpretation der Teile gelenkt wird. Eine solche antizipatorische Annahme über die Bedeutung der Sozialen Marktwirtschaft kann mit der berühmten Kurzformel vorgenommen werden, die Alfred Müller-Armack für einen Beitrag in einem Nachschlagewerk aufgestellt hat:

25 Alfred Müller-Armack, Auf dem Wege nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke, Tübin-

gen 1971, S. 45. 26 Michael S. Aßländer / Peter Ulrich, 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft. Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel, Bern/Stuttgart 2009, S. 11.

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»Sinn [kursiv im Orig.] der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden.«27

Trotz aller weithin beklagten Unbestimmtheit dieser Formel sind hier unmissverständlich die beiden Grundsäulen des Konzepts fixiert: marktwirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Diese der Sozialen Marktwirtschaft immanenten gesellschaftlichen Grundwerte sind nach Müller-Armack nicht nur von gleichrangigem Stellenwert, sondern sie sind auch als in einem komplementären und nicht als in einem substitutiven Verhältnis zueinanderstehend aufzufassen. Akzeptiert man dieses Vorverständnis, kann man sich gezielt der Frage zuwenden, welche konzeptionellen Wege zur Sozialen Marktwirtschaft geführt haben und für welche dies nicht zutrifft, ohne sich im Zirkelschluss zu verfangen. Der Frankfurter Volkswirt Rainer Klump28 hat vor Jahren die sogenannte Drei-Wege-These vorgeschlagen, die von einer dreifachen Urheberschaft der Sozialen Marktwirtschaft ausgeht. Klump markiert damit die Entstehung erstens aus der Wirtschaftstheorie der Freiburger Schule und der Freiburger Kreise, zweitens aus der Wirtschaftsstilforschung und drittens der Diskussion um die Nachkriegsordnung. »Die drei Ströme sind in vielfältiger Weise miteinander in Beziehung getreten; sie repräsentieren grob gesagt eine ordnungstheoretische, eine ordnungspolitische und eine politische Konzeption von Sozialer Marktwirtschaft.«29

Die Drei-Wege-These gilt in der Literatur zwar als umstritten, führt aber paradoxerweise genau jene Akteure ins Feld, die in nahezu allen Abhandlungen zu den Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft summarisch aufgelistet werden.30 In Klumps klassifizierendem Vorschlag werden Eucken und seine Mitstreiter dem ordnungstheoretischen Ansatz, Müller-Armack dem ordnungspolitischen und die Person Erhards der politischen Konzeption zugeordnet. Das hat durchaus seine Logik, wenn man sich auf den erwähnten enzyklopädischen Beitrag »Soziale Marktwirtschaft« bezieht. Dieser 1956 erschienene Kurzbeitrag kann trotz einiger Vorbehalte bereits auf eine erfolgreiche Praxis 27 Alfred Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, 1956, Wiederabdruck in: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Bern/Stuttgart 21981, S. 243. 28 Rainer Klump, Wege zur Sozialen Marktwirtschaft – Die Entwicklung ordnungspolitischer Konzeptionen in Deutschland vor der Währungsreform, in: Erich W. Streissler (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XVI, Berlin 1997, S. 129–160. 29 Ebd., S. 132. 30 Nils Goldschmidt, Christlicher Glaube, Wirtschaftstheorie und Praxisbezug. Walter Eucken und die Anlage 4 der Denkschrift des Freiburger Bonhoeffer-Kreises, in: Historisch-Politische Mitteilungen 5 (1998), 1, S. 33–48, hier: Fußnote 4.

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der Sozialen Marktwirtschaft zurückschauen und Müller-Armack konzediert an dieser Stelle, dass die wirtschaftspolitische Gesamtkonzeption seit 1948 von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard entwickelt worden sei – nicht ohne zugleich zu betonen, dass die Konzeption von ihm selbst bereits seit 1946 vertreten worden sei. Der von Eucken, Böhm, Hayek, Röpke, Rüstow und anderen entwickelten Wirtschaftsordnungstheorie misst er die Erkenntnisleistung zu, dass das Prinzip des Wettbewerbs als unerlässliches Organisationsmittel nur mit einer klaren Rahmenordnung funktioniere. Mit dem Neoliberalismus würden die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft die Überzeugung teilen, dass der Altliberalismus zwar die Funktionsbedeutung des Wettbewerbs richtig erkannt habe, aber die sozialen und soziologischen Probleme nicht ausreichend beachtet habe. Auf dieser Grundlage könne der Begriff der »Sozialen Marktwirtschaft« als eine ordnungspolitische Idee definiert werden.31 Nicht so recht deutlich wird dagegen, wo der Wirtschaftsstilgedanke MüllerArmacks zu verorten ist, den Klump doch als einen der wesentlichen Wegweiser herausgestellt hatte. Eine ordnungspolitische Konzeption ist nicht automatisch schon ein Wirtschaftsstilansatz. Das ist einer der Punkte, an dem auch die Kritik durch Klumps Kollegen Norbert Kloten, der als Koreferent für Klumps Beitrag auf der entsprechenden Sitzung des Vereins für Socialpolitik fungierte, ansetzt. Kloten erledigt das Problem aber dadurch, dass er die Positionen Müller-Armacks als »gesonderten Gedankenstrang« sieht. Er entdeckt die »eigentlichen geistigen Wegbereiter« der wirtschaftlichen Nachkriegsordnung in den »Neoliberalen« und sieht die Freiburger Schule als »motorisches Zentrum neoliberalen Denkens«. Müller-Armack spiele eine Sonderrolle dadurch, dass für ihn die marktwirtschaftliche Ordnung nicht in dem Maße ihrem Wesen nach sozial sei, wie dies durch die Eucken-Schule und durch Erhard beansprucht wird. »Klump scheint mir das Divergente in den Vorstellungen Müller-Armacks und der Neoliberalen zu unterschätzen. Müller-Armack wird von ihm allenthalben zu nahe an neoliberale Dogmen gerückt, so etwa, wenn er konstatiert, daß Müller-Armacks Deutung einer Sozialen Marktwirtschaft dem ORDO-Gedanken der Freiburger Schule eng verwandt sei […] Müller-Armack dachte vornehmlich in geistesgeschichtlichen, auch anthropologischen Bezügen, das ordnungstheoretische Gerüst der Neoliberalen war ihm zu unsoziologisch, vor allem zu ahistorisch.«32

Trotz der Vorreiterfunktion, die Kloten »den Neoliberalen« für die Begründung der Sozialen Marktwirtschaft einräumt, wird die Rolle Müller-Armacks von ihm keineswegs geringgeschätzt, ganz im Gegenteil, denn: 31 Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, S. 243 ff. 32 Norbert Kloten, »Was zu bedenken ist« – Bemerkungen zum Referat von Rainer Klump,

in: Erich W. Streissler (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XVI, Berlin 1997, S. 161–170, hier: S. 167.

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»Dies […] heißt nicht den Einfluß Müller-Armacks auf die geistige Fundierung der Sozialen Marktwirtschaft und auch auf deren konkrete Ausgestaltung bagatellisieren wollen. Es gab damals keine Kontroverse um die Inhalte der Sozialen Marktwirtschaft ohne Rekurs auf Müller-Armack.«33

Worauf Kloten also vielmehr aufmerksam machen möchte, ist die deutliche Abstufung in der neoliberalen Grundhaltung und den realen Einflussmöglichkeiten der Akteure der deutschen Nachkriegsordnung. Klumps These lässt sich für Kloten daher nicht aufrechterhalten, weder was die vorgenommene Zuordnung zu den drei Wegen noch die zugehörige Gewichtung anbelange. Mit Blick auf die Zeitperiode, in der er seine Anmerkungen verfasst hat, spricht Kloten stattdessen von einem gewandelten Wirtschaftsstil der Sozialen Marktwirtschaft. Immerhin aber hält er es (wenn auch nur in Parenthese) für lohnend, »die Müller-Armackschen Kategorien gleichsam zu reaktivieren und sie auf ihr Erklärungspotential hin zu testen.«34 Dieser Vorschlag kommt, obwohl Kloten, wie gezeigt, das Gewicht eindeutig auf die »orthodox denkenden Neoliberalen«35 verlagert hat, dem oben gemachten Vorschlag für ein begriffliches Vorverständnis der Sozialen Marktwirtschaft nahe und rückt die Wirtschaftsstilidee Müller-Armacks in den Fokus.

III.3 Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstilansatz Am 16. April 1959 hielt Müller-Armack vor der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Köln einen Vortrag mit dem Titel »Die Soziale Marktwirtschaft nach einem Jahrzehnt ihrer Erprobung«.36 Hier stellt er explizit die Frage nach der geistigen Fundierung der Sozialen Marktwirtschaft, die in den Jahren des Wiederaufbaus angesichts der praktischen Aufgaben in den Hintergrund getreten sei. »Entscheidend ist, ob nach zehn Jahren der Wirksamkeit dieser neuen wirtschaftlichen Ordnung der geistige Anspruch gerechtfertigt ist, mit dem die Soziale Marktwirtschaft seinerzeit angetreten ist und nach dessen Maßstäben die praktische Wirtschaftspolitik im letzten Jahrzehnt geprüft werden muß.«37

Müller-Armack bestimmt als geistige Wurzel der Sozialen Marktwirtschaft nochmals den Neoliberalismus mit seiner Betonung des Wettbewerbsprinzips. Zugleich macht er aber deutlich, warum damit die geistige Fundierung des Konzepts 33 34 35 36 37

Ebd. Ebd., S. 170. Ebd., S. 168. Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, S. 251–265. Ebd., S. 251.

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nicht ausgeschöpft sein kann und rückt so dessen Charakteristik als Wirtschaftsstil ins Zentrum, die über die marktwirtschaftlich-wettbewerbsfundierte Determination hinausgehe. »Aber dieser Gedanke des Neoliberalismus, der im wesentlichen von der Vorstellung einer als öffentliche Aufgabe begriffenen Wettbewerbsordnung ausgeht, füllt nicht das aus, was unter Sozialer Marktwirtschaft insgesamt zu verstehen ist. Während sich die neoliberale Theorie vor allem auf die Technik der Wettbewerbspolitik stützt, ist das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft ein umfassender Stilgedanke [kursiv im Orig.], der nicht nur im Bereiche des Wettbewerbs, sondern im gesamten Raum des gesellschaftlichen Lebens, in der Wirtschaftspolitik wie im Staate Anwendung findet. Es wird also ein neuer Wirtschaftsstil angestrebt, wobei unter Stil die gemeinsame Prägung zu verstehen ist, die alle Gebiete der Wirtschaftspolitik und des sozialen Lebens bestimmt. Insofern ist der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft wesentlich weniger technisch als die Idee des Neoliberalismus; er nimmt in seine weltanschaulichen Positionen soziale Vorstellungen mit auf, die in dem rein technischen Gefüge einer Wettbewerbsordnung noch nicht enthalten sind.«38

Hier deutet sich eine Abweichung zum rein ordnungsökonomischen Ansatz an, die sich in ihrer unterschiedlichen Perspektive auf die Aufgaben des Staates auch in den »Stilelementen«39 der Sozialen Marktwirtschaft wiederfindet. Ordoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft verhalten sich eben nicht schlechthin wie Theorie und Praxis zueinander – eine Position, die Erhard vertreten hat, weshalb es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, sich zu den Ordoliberalen zu zählen.40 Es liegen neben vielen Übereinstimmungen wesentliche Differenzen in den theoretischen Grundlagen beider Konzeptionen vor. So wird das im Ordoliberalismus als ideal angenommene Verhältnis von Staat und Wirtschaft durch Eucken in zwei Grundsätzen postuliert. Politisch habe der Staat dafür zu sorgen, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktionen zu begrenzen. Wirtschaftspolitisch solle die Tätigkeit des Staates auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses gerichtet sein.41 Prozesspolitische Maßnahmen, wie sie beispielsweise in der Konjunkturpolitik 38 Ebd. S. 252. 39 Egon Tuchtfeldt, der Herausgeber der gesammelten Schriften von Müller-Armack, hat die-

sen Begriff geprägt. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft lasse sich vereinfacht durch sechs Stilelemente charakterisieren: (i) ordnungspolitischer Grundsatz der Freiheit des Individuums, (ii) ordnungspolitischer Grundsatz des sozialen Ausgleichs, (iii) Konjunkturpolitik, (iv) Wachstumspolitik, (v) Strukturpolitik, (vi) Marktkonformität für wirtschaftspolitische Maßnahmen. Vgl. Egon Tuchtfeldt, Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Konzept, in: Friedrun Quaas / Thomas Straubhaar (Hg.), Perspektiven der Sozialen Marktwirtschaft, Bern u. a. 1995, S. 34. 40 Dieter Haselbach, Autoritärer Liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991, S. 13 f. 41 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hg. von Edith Eucken und K. Paul Hensel (1952), Tübingen 61990, S. 394 und 396.

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maßgeblich sind, haben hier keinen Platz. Eucken benutzte zur Begründung der Redundanz von Konjunkturpolitik die Metapher, dass eine Wettbewerbsordnung wie ein gesunder Organismus wirken könne, der mit dem millionenfach angreifenden Virus »Konjunkturschwankung« schon fertig werden würde.42 Müller-Armack hielt Konjunkturpolitik dagegen für einen unverzichtbaren Bestandteil der Wirtschaftspolitik, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass Müller-Armacks frühe ökonomischen Arbeiten aus den 1920er Jahren (damals noch als Alfred Müller) der Konjunkturforschung gewidmet waren. Ende 1945, als die Soziale Marktwirtschaft noch gar nicht praxisrelevant war, schrieb er, dass konjunkturpolitische Vorsorge jenseits aller wirtschaftspolitischen Kontroversen als eine unbedingte Notwendigkeit begriffen werden müsse.43 Für die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft wird der Stellenwert der Konjunkturpolitik durch Müller-Armack schließlich auf Gesellschaftspolitik in dem Sinne ausgeweitet, dass er sich für Institutionalisierung einer übernationalen Konjunktursicherung als Mittel gegen Krisen ausspricht.44 Ähnlich lassen sich für den Bereich der sozialen Politik Unterschiede feststellen. Während Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft als eine Ordnung ansieht, in der expandierende Marktsysteme eine erhebliche Umverteilung vertragen können45, ist es geradezu eines der Hauptanliegen von Eucken gewesen, nachzuweisen, dass es einer gesonderten Sozialpolitik jenseits der Ordnungspolitik nicht wirklich bedürfe, wenn er »richtig verstandene Sozialpolitik« als identisch mit Ordnungspolitik oder Wirtschaftsverfassungspolitik deklarierte.46 Während Eucken sich intensiv und sehr kritisch mit den Wirtschaftsstufenund Wirtschaftsstillehren auseinandersetzt und sie im Ergebnis für ungeeignet hält, die konkrete Wirtschaft abzubilden, kultiviert Müller-Armack das Denken in Wirtschaftsstilen geradezu.47 Ideengeschichtlich geprägt von Max Webers Religionssoziologie und der die Wirtschaftsstufenlehren überwindenden Wirtschaftsstilforschung im Späthistorismus, greift Müller-Armack die Stilidee auf und gibt ihr eine eigene Prägung als Theorie der geschichtlichen Wachstumsringe.48 Glaubensgeschichte und Wirtschaftsgeschichte hängen danach in einer Weise zusammen, die nicht im eigentlichen Sinne auf Religion abhebt, sondern allgemein auf weltanschauliche, auch säkularisierte Glaubens- und Werthaltungen, egal ob man 42 Ebd., S. 312. 43 Müller-Armack, Konjunkturpolitik als Voraussetzung der Währungsreform, in: Ders., Ge-

nealogie, S. 259. 44 Müller-Armack, Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik, Wiederabdruck in: Ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, S. 279. 45 Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft, S. 246. 46 Eucken, Grundsätze, S. 313. 47 Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 31943, S. 46–83. 48 Alfred Müller-Armack, Diagnose unserer Gegenwart. Zur Bestimmung unseres geistesgeschichtlichen Standorts, Bern/Stuttgart 21981.

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für diese den Begriff »Wirtschaftsgeist« (wie Max Weber und Arthur Spiethoff) oder »Wirtschaftsgesinnung« (wie Werner Sombart) findet. Die Realität unserer Welt, auch unserer Wirtschaftswelt, ist immer auch ein Metaphysikum, hat Müller-Armack diesen Gedanken formuliert.49 Der Wirtschafts- und Sozialhumanismus von Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke kommt stilmäßig dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft von Müller-Armack näher als der Ordoliberalismus. Die Ablehnung der fortan als Soziologieblindheit bezeichneten »verhängnisvolle(n) Blindheit gegenüber den staatssoziologischen Bindungen, unter denen allein die Marktgesetze wohltätig wirken«50, die Auffassung, dass es nicht nur um »Sozialtechnik«, sondern auch um »Sozialphilosophie« zu gehen habe, erweitert den ökonomischen Liberalismus der Genannten um eine gesellschaftliche Dimension, die in hohem Grade kompatibel zu der Auffassung Müller-Armacks ist, dass die Soziale Marktwirtschaft nicht nur ein Wirtschafts-, sondern auch ein Gesellschaftskonzept sein müsse. »Die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muß in eine höhere Gesamtordnung eingebettet werden, die nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann.«51

Sowohl Röpke als auch Rüstow plädieren für eine Vitalpolitik, die auf die wirkliche Lebenssituation der Menschen abhebt, aber ihre diesbezüglichen Vorstellungen gehen nicht so weit wie die Vorschläge Müller-Armacks zur »Einkommensumschaltung«. Sie misstrauen dem »aufgeblähten Wohlfahrtsstaat«52 und sprechen von »sozialpolitischem Wildwuchs« und »sinnwidriger Sozialpolitik«.53

IV. Die Offenheit der Stilidee der Sozialen Marktwirtschaft und ihre praktischen Probleme Einen Wirtschaftsstil herauszuarbeiten, bedeutete für Müller-Armack, nach prägenden Stilelementen zu fahnden, nach geistig-kulturellen Grundhaltungen ebenso wie nach charakteristischen Technik- und Ordnungsformen, die insgesamt auf den Lebensstil einwirken und ihm eine identifizierbare Einheit verleihen.

49 Alfred Müller-Armack, Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unse-

rer europäischen Lebensform, Bern/Stuttgart 31981, S. 558. 50 Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, 3. Bd., Herrschaft oder Freiheit, Erlenbach/Zürich 1957, S. 160. 51 Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Bern 51979, S. 23. 52 Wilhelm Röpke, Gefahren des Wohlfahrtsstaates, in: Karl Hohmann u. a. (Hg.), Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Bd. 2, Stuttgart/New York 1988, S. 254. 53 Alexander Rüstow, Sozialpolitik diesseits und jenseits des Klassenkampfes, in: Tagungsprotokoll Nr. 12 der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft vom 22.–23.1.1959, S. 20.

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»In der Stileinheit, die die Formen des wirtschaftlichen Lebens mit dem Geistigen verbindet, dokumentiert sich, dass alle Entfernung und Trennung zwischen den Lebensgebieten nicht so groß ist, dass sie sich nicht durch eine letzte Einheit behauptet.«54

Dieser Blick auf die »letzte Einheit« in den Subdomänen menschlicher Lebensformen, den Müller-Armack hier vornimmt, stellt letztlich eine enorme Anforderung an die Darstellung des Wirtschaftsstils dar. Weder darf sie so konkret sein, dass die Einheit im Trivialen verrinnt, noch darf sie so abstrakt sein, dass man sie gar nicht zu erkennen vermag. Das hat auch Auswirkungen auf die Beschreibung des Wirtschaftsstils der Sozialen Marktwirtschaft. Ihn konkret fassen zu wollen, hängt von der Zeit und den jeweiligen Umständen ab. Will man ihn dennoch »stilsicher« erfassen, müssen davon unabhängige Konstanten identifiziert werden. Müller-Armack hat diese Offenheit des Stilgedankens stets betont. Aber es ist gerade die Unbestimmtheit und Offenheit, die oft Kritik herausfordert. Sicher, man kommt mit Peter Ulrich nicht umhin festzustellen, dass die Offenheit des Stilgedankens der Sozialen Marktwirtschaft zwar ihre pragmatische Stärke sei, aber zugleich auch ihre konzeptionelle Schwäche.55 Die Eigenschaft der Ganzheitlichkeit des Stils der Sozialen Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Offenheit veranlasste Müller-Armack zu theoretischen Anpassungen, die nach einiger Zeit der praktischen Erprobung verstärkt dahin gingen, Soziale Marktwirtschaft nicht nur als ein wirtschaftspolitisches, sondern als ein umfassendes Gesellschaftskonzept verstehen zu wollen. Im Jahre 1960 stellt er Überlegungen an, wie die Soziale Marktwirtschaft künftig durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik zu ergänzen ist.56 Vor dem Hintergrund zunehmend kritischer Stimmen gegenüber der Sozialen Marktwirtschaft hielt er es für erforderlich, dieses Leitbild subtiler als bisher auszuarbeiten. Obwohl er zu den zeitgemäßen Aufgaben für die Gesellschaftspolitik der zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft konkrete Stellung bezieht, bleiben seine Äußerungen zum an der Stilidee orientierten gesellschaftspolitischen Leitbild abstrakt, fast sybillinisch: »Die Soziale Marktwirtschaft ist keine ausschließliche Wettbewerbstheorie; sie mag am ehesten als Stilbegriff bezeichnet werden in dem Sinn, daß in der Sozialen Marktwirtschaft eine stilhafte Koordination erstrebt wird zwischen den Lebensbereichen des Marktes, des Staates und der gesellschaftlichen Gruppen. Ihr Ansatz ist daher ebensosehr ein soziologischer wie ein ökonomischer, ein statischer wie ein dynamischer. Es ist ein dialektischer Begriff, in dem die gesellschaftlichen Zielsetzungen ein entsprechendes Gewicht gegen-

54 Ebd., S. 519. 55 Peter Ulrich, Replik zur Diskussionseinheit »Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagenrefle-

xion der ökonomischen Vernunft«, in: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 11 (2000), 4, S. 640. 56 Müller-Armack, Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft, S. 267–291.

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über den ökonomischen besitzen, der also Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in einem umfaßt.«57

Für Arnold Meyer-Faje, der dieses Zitat ebenfalls benutzt, ist es ein Schlüsseltext, der Müller-Armacks überfrachtetes Anliegen deutlich werden lasse, nämlich die angestrebte Einheit von marktwirtschaftlichen und demokratisch-gesellschaftlichen Anforderungen »auf einen Nenner« zu bringen, ohne sich in konzeptionelle »Widersprüche, Mehrdeutigkeiten und Lücken« zu verwickeln. Wolle man Müller-Armack folgen, kämen nur zwei Deutungsmöglichkeiten in Betracht: Entweder man verfolge eine mit dem Primat der Politik ausgestattete Koordination der Lebensbereiche Wirtschaft und Gesellschaft und verzichte dabei auf eine stimmige Theorie oder aber man deutet den Stilbegriff von Müller-Armack als eine wirkliche Theorie, in der die heterogenen Lebensbereiche ganzheitlich zu einer Einheit zusammenfinden, was dann aber zumindest das Problem aufwerfe, ob eine solche Theorie nicht wirklichkeitsfremd sei.58 Damit wird der Finger tatsächlich auf einen wunden Punkt gelegt. Im ersten Fall hat der Stilbegriff nur noch eine Alibifunktion. Er soll zwar die Koordination zwischen Markt und Gesellschaft leisten, ist aber derart unbestimmt, dass alles Mögliche politisch als Stil der Sozialen Marktwirtschaft deklariert werden kann. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass damit der Status quo beschrieben ist. Die Chance, zum Status quo ante zurückzufinden, in dem ein solcher Stilverfall noch nicht Platz gegriffen hatte, ist aus zwei Gründen schwierig, wenn nicht unmöglich. Erstens läuft Geschichte, und damit auch die Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft, in der historischen Zeit ab und ist in evolutorischem Sinne irreversibel. Zweitens wären die Widerstände derjenigen, die sich inzwischen als Sachwalter der Sozialen Marktwirtschaft verstehen, wohl erheblich, wenn sie auf eine Praxis verpflichtet würden, die sie aus dem einen oder anderen Grund für glücklich überwunden halten. Der zweite Fall kann als das Ausloten der Optionen verstanden werden, unter denen die Stiltheorie der Sozialen Marktwirtschaft zur Vermittlung der Gegensätze im spannungsreichen Verhältnis zwischen Freiheit und Sozialem tatsächlich praxisleitend ist. Meyer-Faje erachtet diese Dialektik eigentlich als »einen hervorragenden Kern für einen tragenden Theorieansatz«, doch traut er nicht einmal Müller-Armack zu, dass er es ernst gemeint hat, denn eine wirkliche Theorie sei laut dem als Schlüsseltext bezeichneten Statement Müller-Armacks »eindeutig nicht gewollt«, weil ein Stilbegriff nun mal etwas anderes sei als eine Theorie.59 In diesem Punkt wird der Kritiker Müller-Armack wohl nicht gerecht, denn man kann sicher davon ausgehen, dass jener ernsthaft intendiert hat, mit seinen 57 Alfred Müller-Armack, Das gesellschaftspolitische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft (1962), Wiederabdruck in: Ders. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, S. 297. 58 Meyer-Faje, Die Unvollendete, S. 207 f. 59 Ebd., S. 213 f.

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konzeptionellen Überlegungen zur Sozialen Marktwirtschaft einen Ansatz zur Vermittlung der Gegensätze vorgelegt zu haben, der tragfähig ist. Dass dies nicht nur als eine vorübergehende Attitüde zu werten ist, lässt sich daran ermessen, dass sich Müller-Armack wiederholt in diesem Sinne äußerte. Noch 1978, also kurz vor seinem Tode, bekennt er sich in Reaktion auf eine Besprechung seines Ansatzes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der seine Betrachtungsweise als dialektisch bezeichnet wird, zu dieser Ausdeutung durch den Rezensenten.60 Auch seine Überlegungen zur sozialen Irenik weisen in diese Richtung. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Gestaltung der Sozialordnung auch dann noch als eine gemeinschaftliche Aufgabe begriffen werden kann, wenn die existierenden Standpunkte ganz augenscheinliche Gegensätzlichkeiten aufweisen.61

V. Soziale Marktwirtschaft – ein Konzept für die Gegenwart? Die interessierende Frage in einer von alten Problemen und neuen Konflikten geprägten Gegenwart, in der gesellschaftliche Strukturen sich permanent verändern und insbesondere die bürgerliche Mitte nicht davor gefeit ist, infolge unverhältnismäßig wachsender finanzieller Belastungen ökonomisch an den unteren Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden, ist die Frage nach den Perspektiven der Sozialen Marktwirtschaft keine beiläufige. Ihre bisherige Wirkungsgeschichte hat gezeigt, dass sie, ausgehend von den großen praktischen Erfolgen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, auch über die nachfolgenden Phasen immer wieder als ein Wirtschaftsmodell Geltung beanspruchen konnte, das sich bewährt hat. Mit diesem Befund ist natürlich keine sich voraussetzungslos reproduzierende Gesetzmäßigkeit gegeben. Die Stabilität der Sozialen Marktwirtschaft ist nicht unwesentlich von der Akzeptanz durch die Bürger und somit von der politischen Willensbildung abhängig. Im Falle der Sozialen Marktwirtschaft sind die Befunde zwiespältig. Einerseits werden erhebliche Deformationen und Verfremdungen offenkundig noch in einer Weise toleriert, dass die Zustimmung nicht verweigert wird, andererseits sind Reputationsverluste in der Bevölkerung unübersehbar. Im Ergebnis einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach, die im Rahmen des »BürgerForum Soziale Marktwirtschaft« im Mai 2008 als Faceto-Face-Interview mit 1800 für die gesamte Wahlbevölkerung Deutschlands repräsentativ ausgewählten Personen durchgeführt wurde, zeigten sich die Akzeptanzprobleme gegenüber der Praxis der Sozialen Marktwirtschaft deutlich. 60 Alfred Müller-Armack, Die Grundformel der Sozialen Marktwirtschaft, in: Symposion I der Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), Soziale Marktwirtschaft als nationale und internationale Ordnung, Stuttgart 1978, S. 11 f. 61 Alfred Müller-Armack, Soziale Irenik, in: Ders. (Hg.), Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Bern/Stuttgart 31981, S. 559–578.

IDEEN- UND WIRKUNGSGESCHICHTE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT

»Nur noch 31 % der Menschen in Deutschland haben eine gute Meinung, während 38 % keine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft mehr haben. Teilen in den ostdeutschen Bundesländern bereits mehr als die Hälfte der Menschen dieses negative Urteil über die Soziale Marktwirtschaft, haben erstmals auch in den westdeutschen Ländern mit 35 % gegenüber 34 % erstmals knapp mehr Menschen ein negatives als ein positives Urteil über die Soziale Marktwirtschaft.«62

Die Studie hat damit einen breiten gesellschaftlichen Konsens über das Vorhandensein von Gerechtigkeitsdefiziten konstatiert. »Partei- und schichtenübergreifend empfinden die Menschen in Deutschland die Verteilung von Einkommen und Vermögen als im Großen und Ganzen nicht gerecht.«63

In Auswertung weiterer empirischer Studien resümierte seinerzeit Renate Köcher, Meinungsforscherin am oben genannten Institut, dass es aus Sicht der Schichtung der Gesellschaft neben den unteren Schichten zunehmend auch die Mittelschicht ist, deren Zufriedenheit mit den eigenen wirtschaftlichen Verhältnissen signifikant sinkt; ein Tatbestand, der auf die Akzeptanz des Wirtschaftssystems zurückwirkt und schärfere Polarisierungen in den Weltanschauungen und Werthaltungen ankündige. »Das marktwirtschaftliche System trifft zurzeit auf eine auffallende Skepsis – besonders in den unteren Sozialschichten, aber bis tief in die Mittelschicht hinein. Nur in der Oberschicht dominiert klar die Überzeugung, dass es zur Marktwirtschaft keine überzeugende Alternative gibt.«64

Ein ARD-Infratest aus dem Jahr 2012 hatte zum Resultat, dass die Deutschen an der Sozialen Marktwirtschaft mehrheitlich zweifeln. 77 Prozent der Befragten fanden, die Soziale Marktwirtschaft mache die Reichen reicher und die Armen ärmer. Für 73 Prozent funktionierte die Soziale Marktwirtschaft nicht mehr so wie früher. 51 Prozent waren der Ansicht, die Wirtschaftsordnung müsse grundlegend verändert werden. Attraktive Alternativen wurden allerdings nicht gesehen, sodass zwei Drittel der Befragten der Ansicht waren, dass die Soziale Marktwirtschaft maßgeblich für die gute wirtschaftliche Lage Deutschlands sei. 25 Prozent meinten, persönlich vom aktuellen Wachstum zu profitieren, aber 51 Prozent machten sich Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft.

62 Bertelsmann Stiftung, BürgerProgramm Soziale Marktwirtschaft. Ergebnisse zu den Vor-

schlägen des BürgerForums Soziale Marktwirtschaft, Gütersloh 2008, S. 11. 63 Ebd., S. 10. 64 Köcher, Renate, Das Bewusstsein der Mittelschicht, FAZ.NET, 15.07.2008, http://www. faz.net/aktuell/politik/inland/gesellschaft-das-bewusstsein-der-mittelschicht-1670672.html [05.08.2018].

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Auch hier dürfte wiederum ein guter Teil der impliziten Deklassierungs- und Abstiegsängste von Teilen der Mittelschicht geäußert worden sein. Eine vielbeachtete Analyse des Berliner Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ging bereits 2008 von der »schrumpfenden Mittelschicht« aus und machte damit auf den gegenüber Aufstiegschancen stärkeren Abwärtstrend der Einkommensmobilität aufmerksam.65 Den in der Studie aufgeführten empirischen Fakten zum Trotz fühlen sich andere berufen, diesbezüglich von Messproblemen der gefühlten Bedrohungen sowie Missverständnissen und Mythen über die Mittelschicht zu sprechen.66 Das Institut für Demoskopie Allensbach hat 2017 eine wachsende Zustimmung zum Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft konstatiert. Mit 61 Prozent sei dies im Zeitraum seit 1994 der Spitzenwert. Der Tiefpunkt der Zustimmung lag 2005 bei 25 Prozent. Renate Köcher zieht dazu folgendes Resümee: »Ein Wirtschaftssystem wird von den Menschen nicht aufgrund seiner Philosophie und Werte akzeptiert, sondern allein aufgrund seines Erfolgs. Wirtschaftlicher Erfolg legitimiert ein System, immunisiert jedoch nicht gegen Unbehagen und Kritik. So sind 44 Prozent der Bürger überzeugt, dass eine Marktwirtschaft automatisch zu weniger Gerechtigkeit in der Gesellschaft führt. 39 Prozent sehen einen Zielkonflikt zwischen freien Märkten und einer menschlichen Gesellschaft. Insbesondere die ostdeutsche Bevölkerung ist überzeugt, dass eine Marktwirtschaft zu mehr Ungerechtigkeit und weniger Menschlichkeit führt.«67

Wenn den Menschen aber nicht zugetraut wird, dass sie sich mit den durch ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gesetzten Werten identifizieren können oder wollen, sondern lediglich auf die Marktergebnisse schauen, setzt das möglicherweise einen Automatismus der Gleichgültigkeit und mangelnder Selbstverantwortlichkeit erst in Gang, statt ihn zu verhindern oder zu bremsen. Erhard hatte bereits 1956 festgestellt, dass etwas nicht in Ordnung sei, wenn mehr Wohlstand und höherer Lebensstandard nicht zu einer Beruhigung, sondern zu einer Beunruhigung des Lebens führen.68

65 Grabka, Markus M. / Frick, Joachim R., Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen?, DIW-Wochenbericht 75 (2008), 10, S. 101–108. 66 So beispielsweise die Autoren Martin Werding sowie Dominik H. Enste und Theresa Eyerund im Zeitgespräch »Mittelschicht zwischen Abstiegsängsten und hoher Belastung«, in: Wirtschaftsdienst 91 (2011), 8, S. 507–525. 67 Renate Köcher, Der Erfolg legitimiert die Marktwirtschaft, in: Ludwig-Erhard-Stiftung e. V. (Hg.), Wohlstand für Alle – Geht’s noch?, Sonderveröffentlichung der Ludwig-Erhard-Stiftung, München 2017, S. 36. 68 So angeführt bei Meyer Faje, Die Unvollendete, S. 219.

IDEEN- UND WIRKUNGSGESCHICHTE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT

Derartigen Beunruhigungen nachzuspüren, scheint in der gegenwärtigen Phase dringend geboten. Wird die Soziale Marktwirtschaft als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht gewollt, wird sie zwangsläufig verkümmern. Beispiele für verkümmerte Wirtschafts- und Sozialordnungen kennt die Geschichte hinreichend.

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Ursula Nothelle-Wildfeuer

DIE KATHOLISCHE SOZIALLEHRE ALS PFEILER DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT Konvergenzen und Divergenzen zweier Konzepte

D

iese Wirtschaft tötet«1 – deutliche Worte von Papst Franziskus, von dem Mann, dem sonst in vielen seiner Worte große Zustimmung auch (vielleicht auch gerade) außerhalb der katholischen Kirche gewiss ist. Mit dieser harschen Kapitalismuskritik, die sich in »Evangelii gaudium«, seinem ersten Apostolischen Schreiben im November 2013 findet, geht er aber dann doch vielen Menschen entschieden zu weit; selbst wohlwollende Wirtschaftsexperten vor allem westeuropäischer Provenienz stößt er damit vor den Kopf. Dass das aber kein »Ausrutscher« war, den später der vatikanische Pressesprecher zu korrigieren hätte bemüht sein müssen, sondern die deutliche und klar bezogene Position des gegenwärtigen Papstes, das wird immer wieder offenkundig, wenn er sich wiederholt in ähnlicher Weise (allerdings doch später durchaus differenzierter) äußert.2 1 Papst Franziskus, Evangelii gaudium, Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt

von heute, Apostolisches Schreiben vom 24. November 2013, deutscher Text nach: Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194, Bonn 2013, Nr. 53 (im Folgenden zitiert als EG mit Abschnittsnummer). 2 In seiner Ansprache zur Verleihung des Karlspreises am 6. Mai 2016 formuliert Papst Franziskus beispielsweise: »Das erfordert die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die in höherem Maße inklusiv und gerecht sind. Sie sollen nicht darauf ausgerichtet sein, nur einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft. Und das verlangt den Übergang von einer ›verflüssigten‹ Wirtschaft zu einer sozialen Wirtschaft. Ich denke zum Beispiel an die soziale Marktwirtschaft, zu der auch meine Vorgänger ermutigt haben (vgl. Johannes Paul II. Ansprache an den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, 8. November 1990). Es ist nötig, von einer Wirtschaft, die auf den Verdienst und den Profit auf der Basis von Spekulation und Darlehen auf Zinsen zielt, zu einer sozialen Wirtschaft überzugehen, die in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schafft.« Papst Franziskus: An-

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Wenn wir nun diese so harsche Aussage des Papstes ernst nehmen, liegt nicht dann schon im Titel dieses Beitrages, der noch nicht einmal mit einem Fragezeichen, sondern als Indikativ formuliert ist, ein deutlicher Widerspruch? Können wir überhaupt davon ausgehen, dass es zwischen beiden Konzepten eine Konvergenz und einen Zusammenhang gibt? Es gibt zwei große Linien zur Beantwortung dieser Frage: eine historische, die die hoch interessante Entwicklung der Idee der Sozialen Marktwirtschaft, die sich aus unterschiedlichen Strängen herauskristallisiert hat, nachzeichnet, sowie eine systematische, die Überlegungen zum grundsätzlichen Zusammenspiel von Wirtschaft und (christlicher) Ethik beziehungsweise genauer von Grundwerten christlicher Sozialethik und dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft anstellt. Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, beide Stränge in angemessener Weise zu berücksichtigen, indem sie dort, wo es sich thematisch und begrifflich anbietet, ineinander verwoben werden. Vor dem Hintergrund wird es im Folgenden zunächst kurz um die Zusammenhänge zwischen der Katholischen Soziallehre und der (ordo-)liberalen Wirtschaftsordnung gehen (Teil I), sodann gilt es, eine begriffliche und vor allem christlich-sozialethische Aspekte berücksichtigende Begriffsklärung und -differenzierung vorzunehmen (Teil II), bevor dann die anthropologische und sozialethische Basis der Sozialen Marktwirtschaft thematisiert wird (Teil III). Mit den für die Soziale Marktwirtschaft zentralen ethischen Werten von Freiheit (Teil IV) und sozialer Gerechtigkeit (Teil V) beschäftigen sich die dann folgenden Ausführungen, bevor am Schluss noch einmal ein Blick auf den Kern geworfen wird: auf die humanen und gerechten Standards einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

I.

Katholische Soziallehre, Ordoliberalismus und Wirtschaftsordnung

Zunächst legt sich die Frage nahe, warum die Katholische Soziallehre beziehungsweise richtiger formuliert: die christliche Sozialethik überhaupt zu der Frage einer Wirtschaftsordnung etwas beizutragen hat. Zwei Punkte sind hier aus meiner Perspektive in einem ersten Schritt zu benennen: (1) Wenn Alfred Müller-Armack von der Sozialen Marktwirtschaft und ihrem »Stilgedanken«3 spricht, dann artikuliert sich darin bereits eine spezifische Akzentuierung der Grundintention: es geht nicht allein um die Maximierung sprache zur Verleihung des Karlspreises. Online verfügbar unter http://w2.vatican.va/content/ francesco/de/speeches/2016/may/documents/papa-francesco_20160506_premio-carlo-magno. html [03.08.2018]. 3 Alfred Müller-Armack, Vorwort, in: ders (Hg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Freiburg 1966/1976, S. 9–15, 12.

DIE KATHOLISCHE SOZIALLEHRE ALS PFEILER DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT 111

des Gewinns und der Erträge, sondern um eine Wirtschaftsordnung, die einem »Stilgedanken« entspricht, die also rückgebunden ist an kulturelle und gesellschaftliche Werte und an ein bestimmtes Verständnis vom Menschen. Vor allem darin liegt dann auch der Bezug zur Tradition der katholischen Soziallehre beziehungsweise zur christlichen Sozialethik. (2) Ein zweiter Punkt ist hier zu nennen: Es liegt mit Recht sehr nahe, zumindest eine starke Wurzel dieser Form der Marktwirtschaft im Ordoliberalismus und der Freiburger Schule um Walter Eucken zu betonen, die im Kontext meines Beitrags auch nicht unberücksichtigt bleiben sollen. Nicht parallel dazu, sondern im Zusammenspiel damit ist dann aber auch die christliche Soziallehre als weitere Wurzel zu nennen: Kein geringerer als Ralf Dahrendorf hat in der von ihm gehaltenen 3. Ludwig-Erhard-Lecture im Jahr 2004 gesagt: »Wer in Deutschland von Sozialer Marktwirtschaft spricht […], meint Ludwig Erhard plus Katholische Soziallehre.«4 Um diese Bedeutung der Katholischen Soziallehre für die Konzipierung und Konkretisierung der Sozialen Marktwirtschaft wissen nicht viele. Zugleich darf man auch nicht meinen (und muss man auch nicht fürchten), darauf verweist etwa der Wirtschaftsethiker Peter Koslowski, dass »die Soziale Marktwirtschaft […] die in Deutschland in die Wirklichkeit übersetzte katholische Soziallehre [sei]«5, denn auch wenn diese Auffassung nicht ganz falsch sei, so hätten doch selbstverständlich auch andere Einflüsse auf die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft eingewirkt. Die tiefsten Quellen einer Sozialen Marktwirtschaft im weiten Sinn sind, so fassen es die europäischen Bischöfe zusammen, die griechische Philosophie, die römische Rechtskultur und das biblisch-christliche Menschenbild.6

4 Ralf Dahrendorf, Wie sozial kann die Soziale Marktwirtschaft noch sein? 3. Ludwig-ErhardLecture vom 28.10.2004, in: Randolf Rodenstock (Hg.), Chancen für Alle – Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Köln 2004. 5 Peter Koslowski, Das Ausgleichsprinzip der Sozialen Marktwirtschaft zwischen Solidarität und Korporatismus. Koreferat zum Beitrag von Wolfgang Ockenfels, in: Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth (Hg.), Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft: Sozialethische und ordnungsökonomische Grundlagen, Tübingen 2004, S. 57–61, 57. 6 Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) (2011), Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft. Erklärung zum Vertragsziel der wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft, online verfügbar unter http://www.comece. eu/dl/NMqMJKJOnnoJqx4KJK/20111027PUBSOCMARKET_DE.pdf, Nr. 1 [28.04.2018]. Vgl. auch Arnd Küppers, Die Soziale Marktwirtschaft als gesamteuropäisches Kulturgut, in: Peter Schallenberg und Piotr Mazurkiewicz (Hg.), Soziale Marktwirtschaft in der Europäischen Union (Christliche Sozialethik im Diskurs 3), Paderborn 2012, S. 11–26, 15, der auf das bekannte Diktum des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss verweist, nach dem Europa auf drei Hügeln erbaut sei: »der Akropolis, dem römischen Kapitol und Golgatha.«

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II. Der Kapitalismusbegriff und seine Konnotationen In den momentan nicht mehr ganz so aktuellen und hitzigen Debatten um das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa (TTIP) und in den in europäischen Kontexten vor allem öffentlich artikulierten diesbezüglichen Befürchtungen war die Rede davon, dass man die Vorherrschaft eines amerikanischen »rücksichtslosen« Kapitalismus befürchte, der sich deutlich vom ganz anders gearteten europäischen, genauer: bundesrepublikanisch-deutsch geprägten Wirtschaftsstil unterscheidet. Was ist nun das Spezifikum der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, welche Differenzierungen im Blick auf den Kapitalismusbegriff sind aus ethischer Perspektive angebracht?

II.1 Der »Neo-« Kapitalismus und der »Rheinische« Kapitalismus Werfen wir zur Klärung einen Blick zurück in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Hatte es nach dem Scheitern des Kommunismus zunächst so ausgesehen, als sei der Kapitalismus das siegreiche System und als sei mit dem Wegfall des ideologischen Widerparts auch, wie Francis Fukuyama behauptete, das »Ende der Geschichte« gekommen, so stellte sich diese Überzeugung doch schnell als Irrtum heraus. Es wurde deutlich, dass zwar die Debatte zwischen den Systemen des Kapitalismus und des Kommunismus weitgehend zu Ende war, dass aber innerhalb des Systems Kapitalismus weiter debattiert wird und dabei hinsichtlich der gemeinten Form des Kapitalismus sorgfältig differenziert werden muss. In diesem zeitlichen Zusammenhang entstand Michel Alberts Unterscheidung zwischen dem neo-kapitalistischen Modell des schnellen Gewinns, der kurzfristigen Effizienz und der nahezu ausschließlichen Wall Street-Orientierung, und dem »andere(n) Kapitalismus«7, dem rheinischen Modell mit seiner Betonung des Unternehmers, der vorherrschenden Rolle der Banken, der langfristigen Investitionen und des sozialen Sicherungssystems zur Absicherung der zentralen Lebensrisiken, der Mitbestimmung und des Konsenses.8 Dabei macht Albert übrigens schnell klar, dass es hier nicht um etwas rein Deutsches geht: »Deutschland ist nur«, so heißt es bei ihm, »eine besondere Verkörperung dieses rheinischen Modells des Kapitalismus [rheinisch, weil die politischen Ursprünge in Bonn, der damaligen Hauptstadt der Bundesrepublik, liegen. Anmerkung der Verfasserin]. Ein Modell, das kaum bekannt ist und wenig verstanden wird, das von Nordeuropa bis in die Schweiz reicht und dem auch Japan teilweise angehört.«9 Wenn wir nun davon ausgehen, dass das von Michel Albert beschriebene rheinische 7 Michel Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 103 und öfter. 8 Vgl. ebd., S. 103–127. 9 Ebd., S. 104.

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Kapitalismusmodell die Soziale Marktwirtschaft meint, dann wären aus sozialethischer Perspektive im Detail doch wieder einige notwendige Unterschiede im Wirtschaftsstil der einzelnen Länder zu bedenken; darauf kann hier aber nicht näher eingegangen werden. Vielmehr ist hinzuzufügen, dass in der Zwischenzeit Begriff und Idee der Sozialen Marktwirtschaft in anderen europäischen Ländern – wie zum Beispiel schon 1997 in Polens Verfassung – positiv aufgenommen wurde. Der 2009 in Kraft getretene Lissabon-Vertrag der EU nennt die Soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitischen Leitbegriff. In Artikel 3 Absatz 3 des Vertrages heißt es: »Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.«10

Vor einigen Jahren hat Karen Horn in einem Vortrag vor Sozialethikern und Sozialethikerinnen mit Recht darauf hingewiesen, dass in dieser Europa-bezogenen Formulierung – im deutlichen Unterschied zum ursprünglichen Verständnis der Väter der Sozialen Marktwirtschaft – eben diese als eine Zielgröße neben anderen aufgelistet ist und nicht den Rahmen darstellt, der erst die Realisierung der anderen Ziele wie etwa Wirtschaftswachstum et cetera ermöglicht11. Sicherlich liegen also Differenzen im deutschen und europäischen Verständnis Sozialer Marktwirtschaft vor. Aber dennoch sind mit der Aufnahme dieser Zielgröße auch bereits verbindende Gemeinsamkeiten genannt, die es rechtfertigen, nun auch europaweit von einer Sozialen Marktwirtschaft zu sprechen. Im April 2011 haben auch die Bischöfe der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) in ihrer Erklärung »Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft« die Notwendigkeit herausgestellt, »den europäischen Binnenmarkt auf der Grundlage einer wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln.«12 Dabei signalisiert eben der Titel der bischöflichen Erklärung genau die hier tangierten Werte der Solidarität und der Verantwortung; Werte, die nicht exklusiv christlich sind, die aber zutiefst mit dem christlichen Verständnis vom Menschen sowie von Gesellschaft zusammenhängen, die sicher keine genaue Handlungsanweisung geben, aber Zielmarken, 10 Europäische Union, Vertrag von Lissabon 2007, online verfügbar unter http://eur-lex.europa. eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:2007:306:FULL&from=DE [28.04.2018]. 11 Vgl. Karen Ilse Horn, Soziale Marktwirtschaft in Europa – ordnungspolitische Anmerkungen, in: Peter Schallenberg und Piotr Mazurkiewicz (Hg.), Soziale Marktwirtschaft in der Europäischen Union (Christliche Sozialethik im Diskurs 3), Paderborn 2012, S. 27–42, 28. 12 Peter Schallenberg / Piotr Mazurkiewicz, Vorwort, in: Peter Schallenberg / Piotr Mazurkiewicz (Hg.), Soziale Marktwirtschaft in der Europäischen Union (Christliche Sozialethik im Diskurs 3), Paderborn 2012, S. 7–8, 7.

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hinter die man in einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft und ihrer Ordnung nicht mehr zurück kann.

II.2 Der Kapitalismusbegriff in der Katholischen Soziallehre Werfen wir noch einen kurzen Blick auf den Kapitalismusbegriff, wie er von Seiten der kirchlichen Sozialverkündigung, das heißt genauerhin der päpstlichen Dokumente inhaltlich gefasst wird: Die zweite Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« von 1931 von Papst Pius XI. ist die erste, die sich mit Fragen des Kapitalismus als Wirtschaftsordnung beschäftigt und zu einer zumindest partikularen Anerkennung kommt. In den weiteren Ausführungen der nächsten Teile ist darauf noch detaillierter Bezug zu nehmen. Für unseren Kontext und für die Frage nach der Begriffsdefinition am bedeutsamsten sind die Äußerungen von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika »Centesimus annus« von 1991, wo er durch eine hilfreiche Differenzierung deutlich gemacht hat, dass man nicht einfach von dem Kapitalismus sprechen kann: Gefragt danach, ob denn nach dem Untergang des Kommunismus und vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse der Kapitalismus als das siegreiche System bezeichnet werden könne, antwortet er, dass der ›Kapitalismus‹ positiv zu bewerten sei, wenn das Wirtschaftssystem »die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt«. »Kapitalismus« ist aber dann negativ konnotiert, wenn darunter ein System verstanden wird, »in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht«13. Wenn auch die positiv bewertete Spielart des Kapitalismus in dem päpstlichen Schreiben aus guten Gründen nicht Soziale Marktwirtschaft genannt wird, so ist inhaltlich doch genau diese Form der Marktwirtschaft beschrieben. Ganz anders klingt da das, was Papst Franziskus in starken, eindringlichen Worten als negatives Urteil über den Kapitalismus formuliert. Das gipfelt in der eingangs bereits zitierten Aussage, dass »diese Wirtschaft tötet«. Dabei verknüpft er einen materiellen und einen soziologischen Aspekt: Es geht um ein »Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen«. Damit ist der in diesem Kontext entscheidende Aspekt benannt: »Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um 13 Papst Johannes Paul II., Centesimus annus, Enzyklika vom 1. Mai 1991, deutscher Text nach: Vor neuen Herausforderungen der Menschheit: Enzyklika »Centesimus annus« Papst Johannes Pauls II., mit einem Kommentar von Walter Kerber, Freiburg 1991, Nr. 42 (im Folgenden zitiert als CA mit Abschnittsnummer).

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etwas Neues«. Das »Neue« besteht darin, dass der Papst die Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen sieht: Die »Ausgeschlossenen sind nicht ›Ausgebeutete‹, sondern Müll, ›Abfall‹.«14Ausbeutung war das zentrale Problem der Gesellschaft in der Phase der Frühindustrialisierung des 19. Jahrhunderts, jetzt aber geht es um Exklusion. Aus ökonomischer Perspektive vielfältig kritisiert wurde seine in »Evangelii gaudium« zu findende Rede von dem alten Mann, der auf der Straße sein Dasein fristet, aber keinerlei Aufsehen erregt, während eine Baisse um zwei Punkte entsprechende Schlagzeilen macht. Ein Blick auf den Gesamtkontext dieser Aussage zeigt, dass, wer dem Papst hier vorwirft, er habe keine Ahnung von wirtschaftlichen Prozessen und Zusammenhängen, allerdings einen hermeneutischen Fehler begeht und dessen Sprache und Intention verkennt: Er übt in prophetischer Sprache Sozialkritik. Seine Stoßrichtung ist die Sorge um den Menschen, insbesondere um den Armen, Entrechteten und Ausgestoßenen. Das zitierte Beispiel artikuliert seine Empörung darüber, dass der Verlust an der Börse – und sei er auch noch so gering – in der öffentlichen Wahrnehmung einen unvergleichlich höheren Stellenwert zu haben scheine als der Verlust eines Lebens in Würde und der Verlust der Teilhabe an der Gesellschaft. Genau dieser Hinweis auf die Würde des Menschen und die sich darin artikulierende Sorge um die, denen diese Würde in der Gesellschaft verlorenzugehen droht, ist genuin kirchlicher Auftrag und macht die spezifische soziale und humane Dimension der Sozialverkündigung aus. Er übt Kritik am weltweit wirksamen System, in dem Geld zum Selbstzweck wird und ein Eigenleben, der sozialen Verantwortung entzogen, führt. Er übt Kritik daran, dass die »Anbetung des antiken goldenen Kalbs (Ex 32,1–35) […] eine neue und erbarmungslose Form gefunden [hat] im Fetischismus des Geldes«15, an der Diktatur der Wirtschaft sowie der »Tyrannei« der Märkte und Finanzspekulationen. Aus dieser Situation resultierten – und das ist der eigentliche Schwerpunkt seiner Kritik – aktuelle Zustände grober sozialer Ungerechtigkeit. Diese kennt der Papst zutiefst aus eigener Anschauung. Darin aber nur eine Replik auf die zum Teil dramatische argentinische Wirtschaftsgeschichte zu erkennen, greift zu kurz.16 Sein Augenmerk liegt auf den Menschen, die ausgeschlossen sind und die als Konsequenz der Auswüchse dieses Systems »ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg«17 dastehen. Es mag im Blick auf die Analyse dieser Lage Zustimmung von unerwarteter Seite geben, wenn sich Vertreter aus dem gesamten Parteienspektrum auf die päpstlichen Aussagen beziehen. Das ist übrigens nicht das erste Mal in der Geschichte: So waren sich auch schon Karl Marx und Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler im 19. Jahrhundert in der Kapitalis14 EG 53. 15 EG 55. 16 Vgl. Daniel Deckers, Der Globalisierungskritiker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ),

28.11.2013 (Nr. 277), S. 8. 17 EG 53.

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muskritik einig, allerdings sehr zum Missfallen von Marx, der sich 1869 anlässlich einer Reise durch das Rheinland in einem Brief an Friedrich Engels (1820–1895) beklagte: »Die Hunde kokettieren (z. B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage.«18 Aber das galt damals und gilt auch heute: Die Gretchenfrage ist nicht die der Diagnose beziehungsweise die Beschreibung der Symptome, sondern die ihrer Therapie: Papst Franziskus will kein anderes System etablieren. Neben diversen marktkritischen Äußerungen gibt es im Text seines Schreibens Evangelii gaudium sowie in weiteren Texten auch Passagen, die eine marktpositive Einstellung zum Ausdruck bringen. Vielmehr will er innerhalb des herrschenden Systems Änderungen herbeiführen. Mit dieser Intention befindet er sich durchaus auf einer Ebene mit den Vertretern der christlich-sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts (zum Beispiel Bischof Ketteler, Georg von Hertling), die ebenfalls eine Reform innerhalb des Systems im Sinn hatten. Das alles entscheidende Kriterium für diese Reform nennt er auch: die Würde des Menschen und das Gemeinwohl. Damit steht er auch wiederum in bester sozialethischer Tradition. Mithilfe dieses Kriteriums sind alle wirtschaftlichen Aktivitäten zu beurteilen: »Die Tätigkeit eines Unternehmers ist eine edle Arbeit, vorausgesetzt, dass er sich von einer umfassenderen Bedeutung des Lebens hinterfragen lässt; das ermöglicht ihm, mit seinem Bemühen, die Güter dieser Welt zu mehren und für alle zugänglicher zu machen, wirklich dem Gemeinwohl zu dienen.«19 Franziskus schreibt mithin nicht zuletzt auch uns (West-)Europäern und Vertretern einer Sozialen Marktwirtschaft damit die Forderung nach Humanität ins Stammbuch, die Forderung danach, angesichts der »Globalisierung der Gleichgültigkeit«20 und der »Vergötterung des Geldes«21 der Wirtschaft (wieder) ein »Gesicht« und ein »wirklich menschliches Ziel«22 zu geben. Der Papst ist nicht der Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft. Das liegt sicherlich nicht nur daran, dass er dieses Wirtschaftssystem nicht in extenso, vielleicht sogar nur in rudimentären Grundzügen kennt. Vielmehr sollen seine Forderungen für eine menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft auch die Vertreter des westlichen Systems noch einmal zum Nachdenken bringen: Ohne die bisherigen Leistungen des Systems Sozialer Marktwirtschaft und der darin implementierten christlichen Impulse negieren zu wollen, bleibt doch angesichts der großen Zahl derer, die auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind, angesichts des demografischen Wandels und der Problematik der Generationengerechtigkeit, angesichts des wachsenden

18 Karl Marx / Friedrich Engels, Marx an Engels 25. September 1869, in: Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED (Hg.), Werke 32, Berlin (Ost) 1957 ff., S. 371. 19 EG 203. 20 EG 54. 21 EG 55. 22 EG 55.

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Niedriglohnsektors und der Gefahr der Altersarmut, angesichts der Finanzmarktund Wirtschaftskrise sowie der fehlenden Einhegung des Finanzmarktes die Frage nach den Konsequenzen dieses päpstlichen »Weckrufs« auch für die aktuelle Realisationsform der Sozialen Marktwirtschaft zu stellen. Um eine gerechte, menschenwürdige, humane Ordnung herzustellen, sei – so betont Franziskus – eine Entscheidung notwendig für eine Ethik, die »das Geld und die Macht relativiert«, die »die Manipulierung und die Degradierung der Person [verurteilt]« und die nicht zuletzt »auf einen Gott [verweist], der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht.«23 Im Folgenden sollen noch einige aus ethischer Perspektive zentrale Bestandteile der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne einer humanen Wirtschaftsordnung in den Blick genommen werden, um so den im Titel dieses Beitrags postulierten Zusammenhang zwischen Katholischer Soziallehre und Sozialer Marktwirtschaft zu systematisieren.

III. Die anthropologische und sozialethische Basis einer Sozialen Marktwirtschaft III.1 Marktwirtschaft und Wertesystem Nach Alfred Müller-Armack kann der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft »als eine ordnungspolitische Idee« definiert werden, »deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden«.24 Der Begriff der Freiheit, der den grundlegenden Zielwert Sozialer Marktwirtschaft darstellt und durch Markt und Wettbewerb realisiert wird, wird in einer Definition Ludwig Erhards folgendermaßen präzisiert: »Freiheit darf nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung, ohne Wurzeln. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf vielmehr der Ordnung.«25 An anderer Stelle spricht er von der notwendigen Verbindung des Prinzips der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber.26 Die Soziale Marktwirtschaft wird etwa als eine anspruchsvolle Kulturpflanze gesehen, die aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit einer entsprechenden Pflege bedarf. So verstandene Marktwirtschaft funktioniert also nicht einfach im 23 EG 57. 24 Alfred Müller-Armack, Art. Soziale Marktwirtschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissen-

schaften 9, Stuttgart 1956, S. 390–392, 390. 25 Ludwig Erhard, Freiheit und Verantwortung. Ansprache vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU, 2. Juni 1961, zit. nach Otto Schlecht, Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft, Frankfurt a. M. 2001. 26 Vgl. Ludwig Erhard, zit. nach Horst Friedrich Wünsche, Was ist eigentlich »Soziale Marktwirtschaft«?, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 87(2001), S. 42–52, 49.

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Sinne eines Automatismus nach einem formalen Regelsystem, sondern baut auf einem sozialen und grundrechtlichen Wertesystem auf. Bei der Suche nach dem Spezifikum dieser Kapitalismusform und das bedeutet, bei der Suche nach der katholischen Soziallehre als Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft, geht es mithin nicht vorrangig um einzelne ökonomische Fragen, sondern vielmehr um die fundamentalen ethischen Fragen nach Freiheit und Verantwortung, nach Ordnung und sozialer Gerechtigkeit, nach Verlässlichkeit von Strukturen und Einstellungen, um Fragen, die in den letzten beiden Jahrzehnten bis in die Gegenwart hinein in der volkswirtschaftlichen Theoriebildung weitgehend vernachlässigt wurden, die aber – das hat die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise mehr als deutlich gemacht – unverzichtbar für das Gelingen von Wirtschaft und Gesellschaft sind.27

III.2 Wirtschaft und menschenwürdige Entfaltung »Unter Wirtschaft verstehen wir das Insgesamt der Einrichtungen und Verfahren zur planmäßigen, dauernden und gesicherten Deckung des menschlichen Bedarfs an jenen Sachgütern und Diensten, die den einzelnen und den Sozialgebilden die menschenwürdige [bzw. gottgewollte] Entfaltung ermöglichen.«28 So definiert der spätere Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner, der bei dem zentralen Protagonisten der Freiburger Schule, Walter Eucken (1891–1950), im Jahr 1940 seine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation schrieb, einem der Väter der christlichen Sozialethik, in unterschiedlichen Zusammenhängen. Er brachte damit ein Spezifikum christlichen Verständnisses von Marktwirtschaft zum Ausdruck: Wirtschaften ist kein Selbstzweck, vielmehr geht es um die Menschen und die Interessen des ganzen Landes in der Gegenwart und in der Zukunft. Bis zur Krise der letzten Jahre scheint der zweite Teil der Höffnerschen Definition, die Ausrichtung auf das umfassende Ziel und den Sinn des menschlichen Lebens, letztlich auf das Gemeinwohl, weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Ausgehend nur noch vom individuellen Profit und im Vertrauen auf die »invisible hand« von Adam Smith hatte man sein Augenmerk vorrangig beziehungsweise sogar ausschließlich auf Gewinn und shareholder value gerichtet. Jeder Fortschritt in diesem Bereich

27 Vgl. Peter Schallenberg, Der Rheinische Kapitalismus zwischen deutscher Geschichte und europäischer Zukunft, in: Michael Spangenberger (Hg.), Rheinischer Kapitalismus und seine Quellen in der Katholischen Soziallehre, Münster 2011, S. 29–35, hier S. 30. 28 Joseph Höffner, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik, Richtlinien der katholischen Sozialethik, Eröffnungsreferat bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) am 23. September 1985, in: Ursula Nothelle-Wildfeuer / Jörg Althammer (Hg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik 3, Paderborn 2014, S. 337–377, 356. Höffner verwendet diese Definition vielfach und je nach Kontext findet sich die in der Klammer angegebene zweite Option für das Attribut zur näheren Bestimmung der gemeinten Entfaltung.

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hatte die Frage nach dem Menschen, nach seiner Menschenwürde und Freiheit, nach Gerechtigkeit für eine gewisse Zeit unterdrücken können. Diese starke Betonung ethischer Werte aus der Perspektive der katholischen Soziallehre bedeutet aber in keiner Weise, dass damit die Relevanz der ökonomischen Abläufe geschmälert würde, es werden auch nicht Markt und Moral einander gegenübergestellt. Eine der entscheidenden Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, wenn nicht die zentrale Grundlage überhaupt ist gerade die Erkenntnis, dass Wirtschaft und Moral notwendig miteinander verknüpft sind. Erst in ihrer Verbindung liegt die Stärke einer ethisch verantworteten und menschengerechten Wirtschaftsordnung. ›Was ist sachlich-realistisch möglich?‹ und ›Was ist ethisch gerecht?‹ lauten dabei die beiden entscheidenden Grundfragen. Der Nestor der Katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning (1890–1991), sprach von einer Prämisse faktischer Art und einer Prämisse normativer Art, die zusammenkommen müssen. Aber sie müssen eben auch beide gleichermaßen berücksichtigt werden, und es darf nicht eine auf Kosten der anderen die Vorherrschaft gewinnen. Oder, um es mit Karl Kardinal Lehmann zu sagen, man soll die Ökonomie nicht einfach den Ökonomen überlassen.29

III.3 Fundamentaler Bezugspunkt: Der Mensch als Person Die ökonomischen Fakten sind mithin nicht allein ausschlaggebend: Den fundamentalen ethischen Bezugspunkt einer Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnungssystem bildet das Verständnis vom Menschen als Person in seiner unveräußerlichen Würde und Freiheit. Ihre Wurzeln hat diese Grundüberzeugung im biblischen Theologoumenon von der Gottebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen. Säkular-philosophisch findet dieses Verständnis vom Menschen als Person seine Begründung in der Selbstzwecklichkeitsformel des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant. Seit Kant ist diesbezüglich auch die Unterscheidung zwischen zwei Formen von Wert relevant: »Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, hat eine Würde.«30 Wenn der Mensch nun keinen Preis und kein Äquivalent hat, so kommt ihm auch entsprechend die Würde zu, die unbedingte Anerkennung und Achtung verlangt. Damit

29 Vgl. Karl Kardinal Lehmann, Der Schatten des »Homo oeconomicus«. Zur Notwendigkeit einer integrativen und lebensdienlichen Ethik des Wirtschaftens, Vortrag von Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, beim Michaelsempfang des Kath. Büros am 17. September 2008 in der Katholischen Akademie in Berlin, online verfügbar unter https://dbk.de/fileadmin/redak tion/presse_import/2008–046b_michaelsempfang_lehmann.pdf [01.08.2018]. 30 Immanuel Kant (1785), Werke, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), AA IV, Wiesbaden 1956, S. 434.

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untrennbar verbunden ist auch das Verständnis des Menschen als moralisches Subjekt mit umfassenden Rechten und Pflichten. Vor diesem Hintergrund verbietet sich jede ausschließliche Funktionalisierung des Menschen. Im Kontext der Wirtschaft bedeutet das, dass es nicht darum gehen kann, den Menschen nur als Produktionsfaktor zu sehen. Vielmehr ist der personale Faktor – so Höffner –, das heißt die Berücksichtigung des Menschen als Menschen in seiner personalen Würde und Freiheit – die notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bestimmung des Menschen im Wirtschaftsbetrieb. Die christliche Sozialethik formuliert diesen Maßstab jeglichen Handelns in ihrer konziliaren, personalistisch orientierten Reformulierung katholischer Soziallehre so: »Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muss auch sein die menschliche Person«31. Für die Wirtschaft bedeutet das: Sie ist kein Selbstzweck, sondern sie hat im Hinblick auf den Menschen eine »dienende(n) Stellung«. »Trotz ihrer (der Wirtschaft, U. N.-W.) selbstverständlichen Unentbehrlichkeit« lebt der Mensch »nicht vom Brot allein«32. Wirtschaften hat einen instrumentellen Wert im Dienst am Menschen und zielt auf eine menschenwürdige Ordnung der Gesellschaft.

IV. Freiheit als Grundwert der Marktwirtschaft IV.1 Ökonomische Freiheit als Teil umfassender menschlicher Freiheit Die Freiheit der Menschen, die eins der Ziele der Sozialen Marktwirtschaft ist, hat zwar durchaus etwas zu tun mit deren ökonomischer, unternehmerischer Freiheit – Joseph Höffner formulierte treffend, dass »(d)ie Geschichte lehrt, dass Freiheit und Würde des Menschen weithin vom Ordnungssystem der Wirtschaft abhängen«33. Aber die Freiheit des Menschen ist nicht mit dieser identisch. Vielmehr ist die unternehmerische und ökonomische Freiheit eine zentrale Ausdrucks- und Erfahrungsform menschlicher Freiheit und zugleich auch deren Grundlage. Um diese ökonomische Freiheit verantwortlich zu realisieren, ist eine marktwirtschaftliche Ordnung die entscheidende Möglichkeitsbedingung. Die Einbeziehung ökonomischer Freiheit in ein Konzept umfassenderer Freiheit macht Alfred Müller-Armack auch deutlich, wenn er vor dem Hintergrund 31 Vaticanum II. (1965), Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 25, 1, in: Karl Rahner (Hg.), Kleines Konzilskompendium, sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg i. Br. 352008 (im Folgenden zitiert als GS mit Abschnittsnummer); vgl. auch GS 63. 32 Alexander Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, Marburg 32001, S. 142. 33 Joseph Höffner, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik, Richtlinien der katholischen Sozialethik, Eröffnungsreferat bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) am 23. September 1985, in: Ursula Nothelle-Wildfeuer / Jörg Althammer (Hg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik 3, Paderborn 2014, S. 337–377, 337.

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der nationalsozialistischen Erfahrung in seinem Buch »Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft« von 1946 schreibt: »Es gilt heute Klarheit darüber zu gewinnen, wie wenig es möglich ist, die Ideale menschlicher Freiheit und persönlicher Würde zu verwirklichen, sofern die wirtschaftliche Ordnung, die wir wählten, dem widerspricht.«34 Der hier gemeinte Freiheitsbegriff ist mithin ein ethisch gehaltvoller. Freiheit wird nicht als Willkürfreiheit angesehen, auch nicht nur als negative »Freiheit von«. So ist etwa Freiheit von Zöllen und Handelsbarrieren allein noch nicht genug. Vielmehr artikuliert sich die Freiheit entscheidend als eine positive »Freiheit zu«, als eine Freiheit einzelner und einzelner Gruppen auch zu wirtschaftlichen und unternehmerischen Aktivitäten. Als konstitutiv erweist sich die Einbindung des Grundwertes Freiheit in die Dimension der Verantwortung und des Gemeinwohls der Gesellschaft sowie in den rechtsstaatlichen Rahmen. Deutlich ist, dass der Grundwert der Freiheit im Konzept einer humanen Marktwirtschaft niemals ohne Bezug zur Frage nach der sozialen Gerechtigkeit verstanden werden kann. Die sozialpolitische Dimension, letztlich der Sozialstaat, ist nicht ein Superadditum, das je nach Situation auch weggelassen werden könnte. Im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft meint damit der Begriff »Marktwirtschaft« folglich auch nicht – wie heute oftmals in der fälschlicherweise sogenannten »Neoliberalismuskritik« behauptet wird – einen hemmungslosen Wettbewerb, der in einen unerbittlichen, nahezu sozialdarwinistischen Ausleseprozess führt.35 Gerade das wäre dann eine Form der Wirtschaft, für die das aktuelle päpstliche Diktum »Diese Wirtschaft tötet« zutrifft und die aus der Perspektive christlicher sozialer Verantwortung in keiner Weise zu tolerieren wäre.

IV.2 Der Markt als Ort der Entfaltung von ökonomischer Freiheit Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft geht von der Erkenntnis aus, dass das primäre Ziel jedes Wirtschaftens, nämlich die optimale Güterversorgung aller Menschen, nur zu realisieren ist durch die Freiheit der Wirtschaftssubjekte, durch ihre ökonomische Kreativität, zu deren Entfaltung die Instanz des Marktes dient. Das Konzept basiert auf dem Grundsatz, dass alle Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verpflichtet sind, aber auch die Fähigkeit haben, einen Beitrag zu dieser optimalen Güterversorgung zu leisten. Damit schließt sich hier der Kreis zum oben skizzierten christlich-abendländischen Menschenbild mit seinem Verständnis vom Menschen als Person.

34 Alfred Müller-Armack (1946), Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, München 1990, S. 81. 35 Vgl. dazu etwa die Position von Christoph Butterwegge u. a., Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 22008.

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Von einer solchen anthropologischen Grundlage her kann man – ganz anders, als beispielsweise im befreiungstheologischen Kontext oder im Rahmen der Banken- und Finanzmarktkrise 2008 populäre Ressentiments es in der Gesellschaft glauben machen wollten – mit Recht die Schlussfolgerung ziehen, dass ein marktwirtschaftliches Modell für die (christliche) Sozialethik grundsätzlich zustimmungsfähig ist. Denn der Markt ist jener Ort sozialer Interaktion, auf dem unter den Bedingungen eines rechtlich geordneten Wettbewerbs der Einzelne seine wirtschaftliche Leistung dem vergleichenden Urteil seiner Mitmenschen aussetzt.36 Damit ist der Markt auch der Ort, der notwendig ist, um zentrale Grundrechte des Menschen realisieren zu können – etwa das der freien Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes und des selbstverantwortlichen Umgangs mit Eigentum. Folglich ist die Institution des Marktes nicht nur prinzipiell zustimmungsfähig, sondern vielmehr eine notwendige Institution und Konsequenz zur Realisierung von Freiheit als einer Grunddimension menschlichen Lebens. Eine marktwirtschaftliche Ordnung erweist sich zur Realisierung konkreter Freiheit mithin als Korrelat zur politischen Ordnung der Demokratie.

IV.3 Der Wettbewerb als Instrument Die hier gemeinte individuelle Freiheit ist zusammenzudenken mit dem Streben nach (sozialer) Gerechtigkeit. Papst Pius XI. bringt diese Zusammengehörigkeit und Differenzierung bereits in der Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« von 1931 zum Ausdruck, wenn er deutlich macht, dass etwa die Wettbewerbsfreiheit »innerhalb der gehörigen Grenzen berechtigt und von zweifellosem Nutzen« ist, aber »unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein« kann und, so müsste man ergänzen, schon gar nicht zum gesellschaftsgestaltenden Prinzip werden darf, in dem Wettbewerb gleichgesetzt wird »mit dem Überleben des Stärkeren, d. i. allzu oft des Gewalttätigeren und Gewissenloseren«37. Vor dem Hintergrund der sozialen Wirklichkeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und in Frontstellung gegen einen menschenverachtenden Sozialdarwinismus erhalten die Aussagen gegen das Prinzip der Wettbewerbsfreiheit eine gewisse Plausibilität. So heißt es in dem Text weiter, es bestehe »die dringende Notwendigkeit, die Wirtschaft wieder einem echten und durchgreifend regulativen Prinzip zu unterstellen. […] Um segenbringend für die Menschheit zu sein, bedarf sie [i. e. die Wettbewerbsfreiheit. U. N.-W.] selbst kraftvoller Zügelung und weiser Lenkung; diese Züge36 Vgl. Lothar Roos, Ethische Grundlagen und zukünftige Gestalt der Sozialen Marktwirt-

schaft, in: Hans-Jochen Jaschke (Hg.), Auf dem Weg zum Heiligen Jahr 2000: Christen vor der Zukunft. Unsere Verantwortung für die Gesellschaft, Bonn 1997, S. 40–63, 44. 37 Papst Pius XI. Quadragesimo anno, Enzyklika vom 15.5.1931, deutscher Text nach: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB) (Hg.), Texte zur katholischen Soziallehre, Kevelaer 91992, Nr. 107 (im Folgenden abgekürzt QA mit Abschnittsnummer).

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lung und Lenkung kann sie sich aber nicht selbst geben.«38 In die Terminologie der Sozialen Marktwirtschaft übersetzt, bedeuten diese Formulierungen: Wirtschaftlicher Wettbewerb ist demzufolge ein notwendiges Mittel, niemals aber ein Selbstzweck beziehungsweise Ziel einer humanen Marktwirtschaft.

V. (Soziale) Gerechtigkeit als Grundwert der Marktwirtschaft Schauen wir nun noch genauer auf die zweite Säule einer ethisch verantworteten Sozialen Marktwirtschaft:

V.1 Sozialpolitik und Partizipation Mit dem Stichwort der sozialen Gerechtigkeit ist die konstitutive zweite Säule benannt. Die europäischen Bischöfe betonen in ihrer eingangs bereits genannten Erklärung zur Sozialen Marktwirtschaft Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft (und relativieren damit auch noch einmal die Bedeutung des Wettbewerbs), dass sie »der Meinung [sind], dass bei diesem Leitbild [sc. die Soziale Marktwirtschaft. Anmerkung der Verfasserin] der europäischen Politik die Betonung auf ›sozial‹ und nicht auf ›in hohem Maße wettbewerbsfähig‹ liegen muss.«39 Dabei sind nun verschiedene Aspekte relevant: So ist zunächst zu betonen, dass der wettbewerblich funktionierende Markt selbst durchaus ein Mittel sein kann, um ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen, wenn zum Beispiel »wirtschaftliche Ressourcen effizient genutzt werden und […] eine ständige Suche nach neuen und besseren Lösungen für wirtschaftliche Probleme stattfindet.«40 Eine Intention, den Wettbewerb zu vereinfachen und zu intensivieren, muss also nicht – wie heute weit verbreitete Ansicht ist – notwendig als ein Widerspruch zum Ziel der Gerechtigkeit verstanden werden, sondern kann auch als eine prinzipielle Chance auf mehr Gerechtigkeit gesehen werden. Durch diese Verbindung zwischen Wettbewerb und sozialer Gerechtigkeit wird auch zugleich offenkundig, dass unter sozialer Gerechtigkeit nicht vorrangig die durch den Staat geleistete und gewährleistete möglichst weitgehende ökonomische Gleichheit und Absicherung aller Bürger verstanden wird. Sie meint auch nicht primär das Ergebnis staatlicher Umverteilungspolitik, die im Nachhinein durch den Markt entstandene Ungleichheiten korrigieren und beseitigen soll.

38 QA 88. 39 Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) (2011),

Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft. Erklärung zum Vertragsziel der wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft, http://www.comece.org/site/de/dialogeukirchen/ strukturdesdialogs/article/5386.html [20.08.2014]. 40 Ebd.

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Was das zentrale Anliegen umfassend verstandener Sozialpolitik ist, lässt sich wesentlich normativ fassen: Sie zielt nicht vorrangig auf Verteilungsgerechtigkeit, sondern vielmehr ist das Ziel soziale Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit. Bei der Beteiligungsgerechtigkeit handelt es sich um die zentrale Aufgabe einer jeden politischen Gemeinschaft, die es mit der Menschenwürde und den daraus resultierenden Freiheitsrechten und Mitwirkungsrechten ernst meint. Sie hat sich selbstverständlich auch um die (materiellen) Voraussetzungen zu kümmern, ohne die sich ein menschenwürdiges Leben kaum realisieren lässt. Aber die entscheidende Intention geht darüber hinaus: Konkret bedeutet das, dass die Politik sich um die Schaffung von Rahmenbedingungen zu kümmern hat, innerhalb derer die einzelnen Bürger und kleineren Einheiten agieren und Wirtschaftsprozesse gestalten können. Dies ist – auf die einzelnen Mitgliedsstaaten bezogen – das Konzept des ermöglichenden oder subsidiären Sozialstaats, auf bi-, multilateraler oder globaler Ebene sind es zum Beispiel Handelsabkommen, die zu diesen Rahmenbedingungen gehören. Sozialpolitik des subsidiären Sozialstaates, früher eher gerichtet auf die materielle Sicherung des (Über-)Lebens, ist heute – so der Ökonom Nils Goldschmidt – zur »qualitative(n) Sozialpolitik«41, zur umfassenden Gesellschaftspolitik geworden. Diese Auffassung liegt durchaus auf der Linie etwa von Winfried Schreiber (1904–1975), dem »Vater« des Generationenvertrages, der bereits 1959 im Rahmen einer Arbeitstagung zur Frage nach sinnvoller und sinnwidriger Sozialpolitik von »konstruktiver Sozialpolitik«42 spricht. Qualitative Sozialpolitik zielt auf Partizipation und Inklusion, deren notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung die Teilhabe am Markt ist. Die ökonomisch-materielle Sicherheit reicht allein nicht aus, um individuelle Teilhabe zu garantieren. Hinzukommen müssen auf nationaler Ebene die Dimensionen der Familienpolitik, der Bildungspolitik und der Arbeitsmarktpolitik, um ökonomische und umfassendere gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

V.2 Primat der Ordnungspolitik Der Grundgedanke, der alle Vertreter des (Freiburger) Ordoliberalismus auf der einen Seite und die wirtschaftsethischen Vorstellungen christlicher Sozialethik auf der anderen Seite miteinander verbindet, besteht darin, durch eine (staatlich gesetzte und garantierte) Rahmenordnung Freiheit im marktwirtschaftlichen Agieren zu ermöglichen. Ethisch gesprochen, konkretisiert sich diese Freiheit als verantwortetes Handeln im Blick auf das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit. 41 Nils Goldschmidt, Der Streit um das Soziale in der Marktwirtschaft, Köln 2007, S. 12. 42 Wilfried Schreiber, Diskussionsbeitrag, in: Alexander Rüstow u. a. (Hg.), Sinnvolle und sinn-

widrige Sozialpolitik. Vorträge und Diskussionen der zwölften Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 22. und 23. Januar 1959 in Bad Godesberg, Ludwigsburg 1959, S. 72.

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Damit der freie Markt, der, so formuliert Johannes Paul II. in seiner letzten Sozialenzyklika, »das wirksamste Instrument für den Einsatz der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein (scheint)«43, überhaupt funktionieren kann, bedarf es notwendig der Strukturen und Institutionen. Sie sollen es tendenziell jedem Mitglied der Gesellschaft ermöglichen, entsprechend den eigenen Wert- und Zielvorstellungen zu partizipieren. Strukturen haben damit eine ethisch höchst relevante Funktion: Sie sind freiheitsermöglichend und freiheitsstabilisierend und wirken damit auch entlastend – für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Inhaltlich ist diese Rahmenordnung als Artikulation sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit so anzulegen, dass die Vorteile des Marktes, die individuelle und gesellschaftliche Ausrichtung auf die Freiheit, ermöglicht werden. Dazu gehören in unserer Wirtschaftsordnung zum Beispiel wesentlich auch die Standards des Verbraucherschutzes, dessen Ziel es ist, Verbraucher vor möglichen Gefahren zu schützen, die entstehen können, wenn Produkte und Dienstleistungen auf den Markt gebracht würden, auch wenn eine vorläufige Risikobewertung vorwiegend negative Folgen für Mensch und Umwelt befürchten ließen. Vor diesem Hintergrund ist zum Beispiel mit Blick auf das geplante Freihandelsabkommen TTIP die europäische Sorge zu verstehen, dass diese hohen Verbraucherschutzstandards um des Wettbewerbs willen abgesenkt würden, dass also nicht das höchste, sondern vielmehr das niedrigste Schutzniveau zum Standard gemacht wird, dass gegebenenfalls letztlich das Vorsorgeprinzip dem Prinzip der Schadensbegrenzung weicht. Das aber wird mit Recht als Widerspruch zum bereits beschriebenen normativen Ausgangspunkt von der Mittelpunktstellung des Menschen und der daraus folgenden Schutzverpflichtung gesehen. Ziel der Ordnungspolitik ist es nämlich gerade auch, in Orientierung am Gemeinwohl, das heißt am gemeinsamen Wohl aller, die Nachteile abzufedern – hier geht es zum einen um den gerade genannten Schutz aller, aber auch und vor allem um den Blick auf die sogenannten »Marktpassiven« beziehungsweise »Marktschwachen«, die nicht allein oder gar nicht über den Markt ihr Überleben sichern können. In concreto bedeutet das auf unser Gemeinwesen hier bezogen wesentlich die Bereitstellung öffentlicher Güter sowie die Absicherung existentieller Risiken.

VI. Schluss: Im Mittelpunkt humane und gerechte Standards! Nach dem Durchgang durch unsere Überlegungen zur katholischen Soziallehre beziehungsweise zur christlichen Sozialethik als Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft lässt sich festhalten, dass im Zentrum die Frage nach den unhintergehbaren Standards der Humanität und Gerechtigkeit steht, nach fundamentalen 43 CA 34, Hervorhebung von der Verfasserin.

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Werten gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung, die letztlich im Innern unserer Kultur implementiert und konstitutiv für ein tragfähiges Verhältnis von Wirtschaft und sozialer Verantwortung sind, das allerdings nicht mehr auf nationale Grenzen bezogen bleibt, sondern auch global und transnational ausgerichtet sein muss. Das Maßnehmen an diesen Standards stellt eine große Herausforderung für die am konkreten Wirtschaftsprozess Beteiligten dar, zugleich aber auch eine Chance, auf dieser Basis einen großen Wirtschaftsraum diesen Standards gemäß zu gestalten, darüber hinaus wirksam internationale Standards zu setzen und damit auch einen Beitrag zur menschenwürdigen Gestaltung der Globalisierung zu leisten. Dass dies eine Aufgabe für alle wirtschaftlichen Akteure, letztlich also für die Gesellschaften, darstellt, liegt auf der Hand. Damit könnte dann schließlich auch dem irenischen Charakter der Sozialen Marktwirtschaft, von dem Alfred Müller-Armack sprach, auf einer höheren Ebene Rechnung getragen werden: Nicht zuletzt von einer wirtschaftlichen Ordnung, die Freiheit und Würde des Menschen und die Sorge um gerechte Handelsbedingungen als oberstes Prinzip achtet, hängt der Friede zwischen den Völkern ab.

Benedikt Brunner

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK Kapitalismusdeutungen im westdeutschen Protestantismus in der frühen Bundesrepublik

W

olfgang Huber, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland widmet in seiner an eine interessierte, breite Öffentlichkeit gerichtete »Ethik« ein Kapitel der Frage nach dem Zweck der Wirtschaft. Er referiert dort, dass sich der wirtschaftsethische Neuansatz, wie er sich im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg manifestiert habe, aus drei Quellen speise. Neben dem Ordoliberalismus und der katholischen Soziallehre habe auch die evangelische Sozialethik ihren Teil beigetragen. In die Debatte über die richtige Wirtschaftsordnung habe man hier »neben der (lutherisch geprägten) Option für einen starken Staat insbesondere das Prinzip der verantworteten Freiheit« eingebracht.1 Er führt dann weiter aus: »Verantwortete Freiheit hat die persönliche Lebensführung und damit auch das persönliche Verhalten in der Wirtschaft zu bestimmen, das sich im christlichen Verständnis an der Liebe zu Gott orientiert. Sie hat aber auch die institutionelle Ordnung der Wirtschaft zu prägen. Ausdrücklich wird vor einer Vergötzung irdischer Güter und Mächte gewarnt. Es geht darum, die einzelnen Menschen in ihrer moralischen wie gesundheitlichen Integrität

1 Wolfgang Huber, Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod, Mün-

chen 2016, S. 155. Die Assoziation von Freiheit und Protestantismus wird von Huber in den letzten Jahren besonders stark betont, vgl. etwa ders., Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München 2012. Für einen konzisen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand vgl. Traugott Jähnichen, Wirtschaftsethik, in: Wolfgang Huber / Torsten Meireis / Hans-Richard Reuter (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, S. 331–400.

128 Benedikt Brunner

zu achten sowie die menschlichen Gemeinschaften auch dadurch zu fördern, dass Einzelne über wirtschaftliche Güter verantwortlich verfügen können.«2

Was Huber hier mit dem Brustton der Überzeugung als »protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft« bezeichnet, ist in der Forschung deutlich umstrittener.3 Immer wieder flammen Auseinandersetzungen darüber auf, welche der beiden großen Konfessionen in welchem Umfang zu diesem wichtigen Baustein des »Modells Deutschlands« beigetragen habe.4 An den Diskussionen über diese Frage möchte sich der folgende Beitrag nicht beteiligen.5 Einer Anregung Jürgen Kockas folgend werde ich mich auf die Deutung des Kapitalismus von protestantischen Eliten konzentrieren, die sich im Spannungsfeld von Fundamentalkritik und konstruktiven Beiträgen bewegten.6 In einem ersten Schritt wird nach dem Kapitalismusverständnis von Wilhelm Röpke und Armin Müller-Armack gefragt. Beide waren Protestanten und 2 Ebd., S. 155 f. 3 Ebd., S. 156. Vgl. auch Günter Brakelmann / Traugott Jähnichen (Hg.), Die protestantischen

Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1998. 4 Vgl. zum Stichwort Thomas Hertfelder / Andreas Rödder (Hg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007. 5 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur Hans G. Nutzinger / Eckart Müller, Die protestantischen Wurzeln des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, in: Sylke Behrends (Hg.), Ordnungskonforme Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft, Berlin 1997, S. 27–64; Traugott Jähnichen, Die Mitverantwortung der Kirchen für die Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftsordnung in der Nachkriegszeit, in: ders. (Hg.), Den Wandel gestalten. 50 Jahre Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau, Essen 2000, S. 18–23; Heinz Reichmann, Markt mit Moral. Ordnungspolitische Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft und ihre protestantischen Wurzeln, in: Klaus-Peter Wiedmann / Wolfgang Fritz / Bodo Abel (Hg.), Management mit Vision und Verantwortung. Eine Herausforderung an Wissenschaft und Praxis, Wiesbaden 2004, S. 77–108; Torsten Meireis, Wem gehört die »Soziale Marktwirtschaft«? Und was fängt er damit an?, in: Ethik und Gesellschaft 1 (2010) [URL: http://www.ethik-und-gesellschaft.de/mm/EuG1–2010_Meireis.pdf [28.05.2018]; Traugott Jähnichen, Das wirtschafsethische Profil des sozialen Protestantismus. Zu den gesellschafts- und ordnungspolitischen Grundentscheidungen der Sozialen Marktwirtschaft, in: Jahrbuch Sozialer Protestantismus 4: Zauberformel Soziale Marktwirtschaft?, Gütersloh 2010, S. 18–45; ders., Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, in: Ethik und Gesellschaft 1 (2010) [URL: http://ethik-und-gesellschaft.de/mm/ EuG-1–2010_Jaehnichen.pdf, zuletzt abgerufen am 28.05.2018]; Nils Goldschmidt, Wirtschaft und Gesellschaft miteinander versöhnen. Protestantische Wurzeln und katholische Zweige der Sozialen Marktwirtschaft, in: Michael Hochgeschwinder / Bernhard Löffler (Hg.), Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, S. 205–220 und vor allem Thomas Großbölting, »Soziale Marktwirtschaft« als christliche Verpflichtung? Konfessionelle Wirtschaftskonzepte und religiöse Akteure in der frühen Bundesrepublik, in: Swen Steinberg / Winfried Müller (Hg.), Wirtschaft und Gemeinschaft. Konfessionelle und neureligiöse Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 319–-336. 6 Vgl. Jürgen Kocka, Durch die Brille der Kritik. Wie man Kapitalismusgeschichte auch schreiben kann, in: Journal of Modern European History 15 (2017), S. 480–488; ferner Friedrich Lenger, Challenges and Promises of a History of Capitalism, in: ebd., S. 470–479.

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK

wurden auch als solche wahrgenommen; beide gehören zu den wichtigsten Gründervätern der Sozialen Marktwirtschaft. Es soll zunächst nach den »metaphysischen« Vorbedingungen ihrer Sicht auf den Kapitalismus gefragt werden (I.). Hieran anschließend sollen zwei Beispiele der konstruktiven Bemühungen des Protestantismus vorgestellt werden. Im Einzelnen wird es hierbei um die Diskussionen zur betrieblichen Mitbestimmung sowie über die Bedeutung des Eigentums (II.) gehen. Vor einem kurzen Ausblick soll dann der wohl prominenteste evangelische Fundamentalkritiker des Kapitalismus vorgestellt werden: Helmut Gollwitzer (III.).

I.

Die Bedeutung des Protestantismus bei Wilhelm Röpke und Armin Müller-Armack

Neben Ludwig Erhard (1897–1977) steht wohl kaum jemand wie Armin MüllerArmack (1901–1978)7 für das »Wirtschaftswunder« in Westdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.8 Von ihm stammt die Wortprägung der »Sozialen Marktwirtschaft«, die Erhard dann aufgriff und popularisierte.9 Zeittypisch nahm er die Wirtschaft, wie viele seiner Fachkollegen zu dieser Zeit im Übrigen auch, als eine »geistig-kulturelle Aufgabe« wahr.10 Ausgelöst durch die Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus hatte Müller-Armack ein großes Interesse an den »geistesgeschichtlichen« Ursachen desselben. Als wichtige Wegmarke kann hier sein 1948 erschienenes Buch »Das Jahrhundert ohne Gott« gelten.11 Seine Publizistik blieb dabei auf die Gegenwart ausgerichtet, wie schon der Untertitel deutlich macht. Zum Verständnis seiner Ansichten über die Wirtschaft

7 Zur Biografie vgl. Daniel Dietzfelbinger, (Art.) Müller-Armack, Alfred, in: RGG4 5 (2002),

Sp. 1573. 8 Zu Erhard und seinem Verhältnis zu Müller-Armack vgl. Horst Friedrich Wünsche, Ludwig

Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption. Soziale Marktwirtschaft als politische Ökonomie, Stuttgart 1986, zum Beispiel S. 145 sowie Bernhard Löffler, Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, Stuttgart 2002. 9 Vgl. Traugott Jähnichen, Wirtschaftsethik. Konstellationen – Verantwortungsebenen – Handlungsfelder, Stuttgart 2008, S. 125; Knut Wolfgang Nörr, Die Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft als ein Wendepunkt der deutschen Geschichte, in: ders. / Joachim Starbatty (Hg.), Soll und Haben – 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart 1999, S. 23–38; für die Hintergründe: Alexander Ebner, The intellectual foundations of the social market economy. Theory, policy, and implications for European integration, in: Journal of Economic Studies 33 (2006), S. 206–223. 10 Vgl. Dirk Cattepoel, Wirtschaft als geistig-kulturelle Aufgabe, in: Zeitwende 26 (1955), S. 1–6; Adolf Lampe, Gefallene Wirtschaft, Frankfurt a. M. 1949; Heinrich Hüffmeier (Hg.), Die Bedeutung der christlichen Botschaft für die Wirtschaftsordnung, Berlin 1947. 11 Zur Kultursoziologie unserer Zeit, Münster 1948. Vgl. hierzu außerdem Müller-Armack, Die Bedeutung der Religionssoziologie in der Gegenwart, in: ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, S. 1–14.

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ist die Religion, die in diesen Deutungen immer eine wichtige Rolle spielt, von nicht unerheblicher Bedeutung.12 Seine Publizistik in dieser Zeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Grundlage einer genauen Gegenwartsdiagnose Zukunftsperspektiven erarbeiten möchte. In einer Zeit, »in der viele der Stützen und Bindungen hinfällig wurden, in denen frühere Epochen ihr Zutrauen zu sich selbst fanden, scheint eine solche forschende Selbsterkenntnis besonders notwendig zu sein.«13 Im Verlauf seiner Studie fragt er danach, worin »das Eigentliche und Besondere unserer Zeitstunde« liege.14 Den Prozess der Säkularisierung deutet er als eine verhängnisvolle Entwicklung, da an die Stelle des Glaubens lediglich Illusionen getreten seien. Es fällt auf, dass seine Diagnose der wirtschaftlichen Existenz ebenfalls mit metaphysischen Kategorien operiert.15 »Die Wirtschaft ist Abbild unserer Lebensbegrenztheit und zugleich unserer Fähigkeit, durch unsere wirtschaftliche Vernunft den wirtschaftlichen Daseinsdruck zu verringern. Wir bedürfen einer Wirtschaftsordnung, die diesem existentiellen, gegenwärtig in seiner elementarsten Form aufgedeckten menschlichen Tatbestand gerecht wird, Freiheit und Gebundenheit zu einem echten Ausgleich zu bringen.«16

Die Wirtschaftsordnung ist die »grundsätzliche Form«, die der Mensch sich entwerfe, »um seine wirtschaftlichen Ziele in den Bedingungen seiner Wesensform zu erreichen.«17 Die Soziale Marktwirtschaft stellt diese Form für ihn dar, in dem sich Freiheit und Gebundenheit am besten harmonisieren und zum Ausgleich bringen lassen können. Grundsätzlich sei sie »überall dort, wo man sich den Kräften des Marktes anvertraut und versucht, alle vom Staat, von den sozialen Gruppen anzustrebenden Ziele in dem Doppelaspekt einer freien

12 Vgl. schon Oskar Söhngen, Religion und Wirtschaft. Theologische Erwägungen zu Alfred Müller-Armacks religionssoziologischen Untersuchungen, in: Franz Greiß / Fritz W. Meyer (Hg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, Berlin 1961, S. 501–512. 13 Vgl. Alfred Müller-Armack, Diagnose unserer Gegenwart. Zur Bestimmung unseres geistesgeschichtlichen Standorts, Gütersloh 1949, S. 33. 14 Ebd., S. 147. 15 Vgl. Alfred Müller-Armack, Zur Metaphysik der Kulturstile, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 105 (1948), S. 29–48; ders., Über die Macht des Glaubens in der Geschichte, in: ders., Religion, S. 532–558. 16 Müller-Armack, Diagnose, S. 293 [Hervorhebungen im Original gesperrt, BB]. Vgl. zum Gesamtkontext Carl Brinkmann, Wirtschaftstheorie, Göttingen 21953. 17 Beide Zitate bei Müller-Armack, Diagnose, S. 293 und als Sperrung hervorgehoben. Vgl. aus der Feder evangelischer Theologen Hans Emil Weber / Ernst Wolf, Gerechtigkeit und Freiheit, München 1949.

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK

Ordnung und einer sozial gerechten und gesellschaftlich humanen Lebensordnung zu verwirklichen.«18

Im Unterschied zum Sozialismus oder Nationalismus handele es sich bei ihr nicht um eine Ersatzreligion, sie habe aber auch keinen Anspruch auf eine christliche Prägung, weder im direkten, noch im Sinne einer Ersatzlösung. Denn: »Es handelt sich vielmehr bei der Sozialen Marktwirtschaft um eine sehr nüchterne Angelegenheit, um eine instrumentale Ordnung. Sie muß zwar mit christlichem Geist erfüllt werden, hat aber keine besondere Verbindung mit dem Christlichen, sondern steht genau wie alle Ordnungen unter dem irdischen Gericht und in irdischer Unzulänglichkeit.«19

Müller-Armack war der Überzeugung, dass soziale Gerechtigkeit nur in einer Marktwirtschaft zu finden sei, die zu dieser in einem komplementären Verhältnis stehe. Vor dem Villigster Studienkreis referierte er 1950 über das auf den ersten Blick nicht unbedingt in die Kompetenz eines Wirtschaftswissenschaftlers fallende Thema der heutigen Gesellschaft nach evangelischem Verständnis. Wiederum ging es ihm um eine Diagnose, die er mit »Vorschläge[n] zu ihrer Gestaltung« verband.20 Die heutige gesellschaftliche Lage sei seiner Ansicht nach von sozialer Auflösung geprägt und gekennzeichnet »durch die Gespaltenheit sowohl des Individuums wie der Gesellschaft.«21 Diese äußere sich darin, »dass der Einzelmensch heute nicht mehr in der Lage ist, die verschiedenen Lebensbeziehungen von Familie, Arbeitsstätte, Sport und Vergnügung, von Nachbarschaft und Beruf zu einer geschlossenen Lebensform zusammenzufügen. Glauben und Wissen, Denken und Handeln stehen unverbunden nebeneinander.«22

Dieser Bindungsverlust führe dazu, dass die Fähigkeit des vertrauenden Gehorsams und der Einordnung in eine Gruppe verloren gehe.23 Denn diese Gruppen, 18 Alfred Müller-Armack, Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiter-

führende Konzepte, Bern 21981, S. 12. 19 Alfred Müller-Armack, Wirtschaftspolitik in der sozialen Marktwirtschaft, in: Patrick M. Boarman (Hg.), Der Christ und die soziale Marktwirtschaft. Mit einem Geleitwort von Ludwig Erhard, Stuttgart 1955, S. 75–99, hier S. 75. 20 Vgl. Alfred Müller-Armack, Die heutige Gesellschaft nach evangelischem Verständnis – Diagnose und Vorschläge zu ihrer Gestaltung [Januar 1950], in: ders., Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern 1974, S. 108–115. 21 Ebd., S. 108. Vgl. auch wenige Jahre später Helmut Gollwitzer, Kirche in der zerspaltenen Welt, in: Zeitwende 26 (1955), S. 8–19. 22 Müller-Armack, Gesellschaft, S. 108. 23 Dieser Bindungsverlust wurde auch von vielen evangelischen Theologen in dieser Zeit diagnostiziert. Vgl. besonders drastisch: Walter Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen, Berlin 1954, S. 213–223 und passim. Künneth hatte im Übrigen

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wie beispielsweise auch die christlichen Gemeinden, die er ausdrücklich nennt, zeigten sich immer weniger dazu in der Lage, ihre Glieder in das Ganze einzubeziehen. Dadurch entstehe eine Art zuchtlose Freiheit, die diese als ein Freisein von allen Verpflichtungen verstehe.24 Diese Entwicklung wiederum führe zu »Methoden der Massenleitung und Organisationen«, die diese Aufspaltung in dem Versuch sie zu überbrücken, lediglich durch die Wahl ihrer Mittel weiter vertiefen würden. Hiermit sei eine gefährliche Entwicklung verbunden: »Der einzelne wird in dem Masse, in dem er sein recht und seine Verpflichtungen seiner Gruppe gegenüber nicht mehr empfindet, Ansprüche gegenüber der Allgemeinheit und anderen Gruppen umso stärker geltend machen. Der Gedanke der Gerechtigkeit erfährt so eine gefährliche Verschiebung in Richtung auf einseitige Ansprüche und Rechtsvorteile.«25

Hier wurden sicherlich auch die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus verarbeitet.26 Auf der Grundlage dieser Gesellschaftsanalyse, die auch ein bestimmtes Menschenbild artikuliert, kommt Müller-Armack dann in dem Villigster Vortrag auf die Entwicklung der modernen Wirtschaftswelt zu sprechen. Denn auch hier seien Organisationsmaßnahmen notwendig, die entweder planoder marktwirtschaftlich aufgebaut werden könnten. Die Maßnahmen zur Gestaltung der in einem engen Zusammenhang stehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung würden erst in dem Moment für den Menschen gefährlich werden, »in dem die einzelnen freien oder gebundenen Gestalten verabsolutiert werden. Sie gefährden den Menschen, wenn entweder das Prinzip der Freiheit verabsolutiert wird oder das Prinzip der Bindung die Initiative des Menschen ausschliesst. Es muss bewusst bleiben, dass neben den organisatorischen Notwendigkeiten eine Schicht des Individuellen und des Sozialen besteht, deren Probleme auch durch die kunstvollste Apparatur nicht gelöst werden können.«27

einen ähnlichen Erklärungsansatz für den Nationalsozialismus ausgearbeitet wie Müller-Armack, vgl. Künneth, Der große Abfall. Eine geschichtstheologische Untersuchung der Begegnung zwischen Nationalsozialismus und Christentum, Hamburg 1947. 24 Vgl. Müller-Armack, Gesellschaft, S. 109. 25 Ebd. 26 Vgl. zu den wirtschaftsgeschichtlichen Hintergründen Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 22011. Eine gewisse Verwandtschaft zu ordnungstheologischen Vorstellungen aus der Zwischen- und unmittelbaren Nachkriegszeit fällt ins Auge, vgl. Hartmut Rosenau, (Art.) Schöpfungsordnung, in: Theologische Realenzyklopädie 30 (1999), S. 356–358. 27 Müller-Armack, Gesellschaft, S. 111. Vgl. Walter Künneth, Die persönliche Verantwortung in der Sozialgestaltung, in: Theodor Heckel (Hg.), Probleme des modernen Sozialstaates in christlicher Sicht, München 1955, S. 21–35.

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK

Es geht ihm also um Ausgewogenheit und das rechte Maß bei der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das Christsein schütze allerdings davor, von dem Absolutheitsanspruch dieser Ordnungen überwältigt zu werden. Ihm ist es sehr wichtig, deutlich zu unterstreichen, dass er durchaus vom christlichen Standpunkt überzeugt ist. Es sei nämlich nicht zu vermeiden, in bestimmten Ordnungen zu leben und sie mitzugestalten, wobei man die »Verführungen säkularisierter Heilslösungen« zu vermeiden habe.28 Nicht alle Ordnungen sind seiner Ansicht nach gleich zu bewerten, es gebe »innerhalb unserer weltlichen Fragestellung doch ungeheure Differenzen.«29 Diese zu sehen, gehöre zur christlichen Pflicht. »Man darf nicht etwa wie es gerade bei den evangelischen Theologen der Barthschen Richtung der Fall ist, den Versuch machen, diese Dinge einzuebnen. Auch wenn wir alle Sünder und die Ordnungen sündig sind, kommt es doch sehr darauf an, ob man diese oder jene wählt. Es ist die Aufgabe der Wirtschaftspolitiker, gerade auch im vertrauensvollen Gespräch mit Theologen und solchen Menschen, die das Wirtschaftliche und das Soziale gleichsam theologisch sehen, diese Dinge zu klären.«30

Es ist schon eine heute kaum mehr vorstellbare Relevanz, die der Wirtschaftsexperte hier der Theologie beimisst.31 Gefährlich sei es, wenn man wie die meisten evangelischen Theologen die Frage der Institutionen unterschätze. Unter Zuhilfenahme des »Ordo«-Konzepts weist er darum auf die vielfältigen wechselseitigen Lernpotenziale hin, die für die Lösung der wirtschaftspolitischen Probleme seiner Ansicht nach auch unbedingt erforderlich seien. Für den evangelischen Christen sei es in Anbetracht der vielfältigen Lösungsmöglichkeiten erforderlich, die eigene und die fremde Haltung immer wieder neu zu überprüfen. In diesem Zusammenhang ist auch seine Vorstellung von sozialer Irenik zu sehen, die er 1950 in einem Aufsatz im Weltwirtschaftlichen Archiv publiziert hatte.32 Viele würden zu dieser Zeit »von der äußeren Zerrissenheit auf ein inneres Chaos […] schließen.«33 Müller-Armack ist allerdings der Überzeugung, dass mittlerweile schon ganz andere Entwicklungen im Gange seien, die nach befriedenden und konfliktvermeidenden Lösungsmöglichkeiten suchen würden.

Ders., Wirtschaftspolitik, S. 76. Ebd., S. 77. Ebd. Vgl. Hermann-Josef Große Kracht, »… nichts gegen die Soziale Marktwirtschaft, denn das ist verboten« (Konrad Adenauer). Sondierungen zur religiösen Tiefengrammatik des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells im Anschluss an Alfred Müller-Armack und Oswald von Nell-Breuning, in: Ethik und Gesellschaft. Ökumenische Zeitschrift für Sozialethik 1 (2010): Wem gehört die Soziale Marktwirtschaft (www.ethik-und-gesellschaft.de/mm/EuG_1_2010_ Grosse_Kracht.pdf) [11.06.2018]. 32 Vgl. Alfred Müller-Armack, Soziale Irenik, in: Weltwirtschaftliches Archiv 64 (1950), S. 181– 203. Vgl. auch den Beitrag von Friedrun Quaas in diesem Band. 33 Müller-Armack, Irenik, S. 181. 28 29 30 31

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In diesem Kontext sieht er auch sein »Projekt« der sozialen Irenik, einer, wie er es nennt, »Weltanschauungen verbindenden Sozialidee.«34 Dafür sei allerdings erforderlich, dass jede Weltanschauungsgruppe sich der Aufgabe widme, ihre »geistige Isolierung« zu überwinden. Der Zukunft würde nämlich einer Haltung gehören, »die die anderen Standpunkte in den Ansatz des eigenen Denkens mit einbezieht.«35 Müller-Armack stellt sich also tendenziell gegen kulturkritische und -pessimistische Interpretamente, wie sie sich zeitgleich bei einem weiteren, evangelisch geprägten geistigen Vater der Sozialen Marktwirtschaft finden lassen: Wilhelm Röpke (1899–1966).36 Von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben, wirkte er nach 1945 von seiner Genfer Professur aus vor allem auf publizistische Weise auf die deutschen Diskussionen ein. Er plädierte, ähnlich wie MüllerArmack, für einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kollektivismus.37 Der Kampf gegen den Kollektivismus – hierunter subsumiert er grundsätzlich alle sozialistischen Wirtschaftsformen – könne seiner Ansicht nach nur dann erfolgreich geführt werden, »wenn es uns gelingt, das liberale Prinzip so zu reaktivieren, daß wir für alle heute offenbaren Schäden, Ausfallserscheinungen und Fehlleistungen des historischen Liberalismus befriedigende Lösungen finden […].«38 Er plädiert dann für ein buntes Maßnahmenprogramm, das den Dritten Weg ausmache.39 Dieser habe auch politisch-moralische Voraussetzungen. Ähnlich wie 34 Vgl. ebd., S. 181–187. 35 Zitate ebd., S. 201. Es wäre nun zu diskutieren, wie stark dieser Ansatz nicht auch eher uto-

pische Elemente enthält. Er verdeutlicht aber die zeitgenössische Hoffnung, dass solche versöhnlichen Ansätze und Gesellschaftsprojekte nun möglich wären. Vgl. etwa Maria D. Mitchell, The Origins of Christian Democracy. Politics and Confession in Modern Germany, Ann Arbor, Michigan 2012. Den Weimarer Wurzeln solcher kulturkritischer Ideen gilt es noch weiter nachzugehen. Vgl. exemplarisch Benedikt Brunner, Ein »singender Stotterer«. Walter Dirks und die Kulturkrise der Weimarer Republik, in: ZRGG 70 (2018), S. 29–51. 36 Zur Biografie vgl. Helge Peukert, (Art.) Röpke, Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 734 f. 37 Vgl. Wilhelm Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach 51948; ders., Maß und Mitte, Erlenbach 1950, S. 86–134. Vgl. ferner Edgar Salin, Wirtschaft und Wirtschaftslehre nach zwei Weltkriegen, in: Kyklos 1 (1947), S. 2–56. Zur kirchlichen Rezeption vgl. den Bericht von einer Akademietagung: [Hans-Rudolf Müller-Schwefe], Jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, in: Anstöße 1 (1954), S. 2–8. 38 Röpke, Gesellschaftskrisis, S. 286. 39 Vgl. ebd., S. 286 f.: »Dezentralisierung, natürliche Förderung der kleineren Produktions- und Siedlungseinheiten und der soziologisch gesunden Lebens- und Berufsformen (obenan der bäuerlichen und handwerklichen), Rechtsgestaltung zum Zwecke der Monopol- und Konzentrationsverhinderung (Gesellschaftsrecht, Patentrecht, Konkursrecht, Kartellrecht u. a.), strengste Überwachung des Marktes zur Sicherung des Fair Play, Herausbildung neuer nichtproletarischer Formen der Industrie, Rückführung aller Dimensionen und Verhältnisse auf menschliche Maße (»à la taille de l’homme«, nach dem treffenden Ausdruck von Ramuz), Korrektur von Überschraubtheiten in Organisierung, Spezialisierung und Arbeitsteilung, Förderung der breiten Eigentumsverteilung, wo und wie nur immer möglich, sinnvolle Begrenzung der Staatseingriffe nach den Regeln und im Wirkungssinne der Marktwirtschaft (konforme Staatsein-

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK

Müller-Armack sieht Röpke im Konformismus und der Glaubenslosigkeit der Gegenwart eine Erschwernis für die Umsetzung dieses Weges, weil dem Staat hierdurch ein Gegengewicht fehle.40 Er geht dabei mit den einzelnen Konfessionen durchaus hart ins Gericht, wenn er etwa von einer »penetranten Staatsfrömmigkeit« des Luthertums spricht, aufgrund dessen es nicht ohne Weiteres für eine gelingende Zukunftsgestaltung geeignet sei.41 In engem Zusammenhang hiermit stand für Röpke das Thema »Wirtschaft und Moral« über das er 1960 vor der »Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft« referierte. Die Marktwirtschaft sei in einer vollentfalteten Industriegesellschaft »die einzige Lösung des Problems, wie wir das Postulat der Freiheit, das unserer Zivilisation zugrunde liegt, verwirklichen können auf dem Gebiet der alltäglichen Aktivität.«42 Es sei einer der gefährlichsten Irrtümer dieser Zeit, zu glauben, dass die Wirtschaftsfreiheit und die damit verbundene Gesellschaft nicht mit christlichen Wertmaßstäben zu vereinbaren seien. Eine solche Sichtweise sei dafür verantwortlich, dass in der alten wie in der neuen Welt ein so großer Teil der Geistlichkeit einen heftigen Drang zur sozialistischen Linken verspüre und damit tragischerweise am Rande dieser Linken immer wieder dem eigentlichen Todfeind des Christentums, nämlich dem Kommunismus, Vorschub leiste, womit er sicherlich stark übertreibt und vermutlich auf die zunehmende öffentliche Wirksamkeit von »linksprotestantischen« Strömungen rekurriert, womit oftmals Vertreter einer »politischen« Theologie im Blick waren.43 Wirtschaftliche Freiheit könne keinen Bestand haben, wenn nicht irgendwo eine Bremse des ungezügelten Willens und Appetits eingebaut sei. »Je weniger diese Bremse im Innern der Menschen selber wirkt, umso mehr muss sie ihnen von außen angelegt werden. […] Im Grunde genommen […] hat der Apostel Paulus nichts anderes gesagt, wenn es im Brief an die Galater Kap. 5, Vers 13 und 15 heißt: 13. Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen! Allein seht zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem andern. 15. So griffe statt nichtkonformer und planwirtschaftlicher) bei wohldurchdachter Reservierung eines Sektors der eigentlichen Planwirtschaft […]«. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Wilhelm Röpkes Neuordnungsideen für Deutschland (1942–1948), in: Ordo 50 (1999), S. 37–46. 40 Vgl. Wilhelm Röpke, Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach 31949, S. 192 f. 41 Ebd., S. 199. 42 Ders., Wirtschaft und Moral, in: Alexander Rüstow u. a., Was wichtiger ist als Wirtschaft. Vorträge auf der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29. Juni 1960 in Bad Godesberg, Ludwigsburg 1960, S. 17–31, hier S. 21. Vgl. zudem ders., Die Laufbahn der Sozialen Marktwirtschaft, in: Greiß/Meyer (Hg.), Wirtschaft, S. 3–9. Vgl. Josef Mooser, Liberalismus und Gesellschaft nach 1945. Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus am Beispiel von Wilhelm Röpke, in: Manfred Hettling / Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 134–163. 43 Vgl. grundlegend Pascal Eitler, »Gott ist tot – Gott ist rot«. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt a. M./New York 2009.

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ihr euch aber untereinander beißet und fresset, so seht zu, daß ihr nicht untereinander verzehrt werdet.«44

Röpke schließt damit, dass es wohl kaum ein aktuelleres Bibelzitat gebe, um seinen Vortrag zu beenden. Auch wenn also beide Gründerväter die Bedeutung der Kirchen für das Funktionieren der Sozialen Marktwirtschaft durchaus anerkennen, bleiben sie doch skeptisch hinsichtlich ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Ganz ohne moralische Instanzen steht ihrer Ansicht nach die Wirtschaftsform noch stärker in der Gefahr, sich extreme Lösungen zu wählen, die ihrem Ansatz eines dritten Weges entgegenstehen.45

II. Heiliges Eigentum? Konstruktive Beiträge aus der evangelischen Sozialethik Es gibt nun durchaus auffällige Parallelen zwischen Wirtschaftswissenschaftlern und Theologen hinsichtlich ihrer Argumente für die Etablierung und Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft. Theologen können dabei als »Reflexionsinstanzen protestantischer Sinndeutung« bezeichnet werden.46 Als solche stehen sie entweder als Repräsentanten breiterer Strömungen im Fokus oder waren Impulsgeber im Nachdenken über Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland. Es waren bei der hier im Zentrum stehenden Thematik vor allem die Sozialethiker, die auf die Debattenlage Einfluss zu nehmen versuchten. Dass die Theologen überhaupt so intensiv auf gesellschaftliche und politische Themen Einfluss zu nehmen versuchten, war Ausdruck eines gewandelten kirchlichen Selbstverständnisses und -bewusstseins nach 1945.47 Als eine der zentralen Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus war man nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Protestantismus nicht wieder ins Unpolitische zurückziehen dürfe, sondern als »Volkskirche« Kirche für das gesamte Volk sein müsse.48 Als 44 Röpke, Wirtschaft, S. 31. 45 Vgl. Wolfgang Ockenfels, Wilhelm Röpke als christlicher Wirtschaftsethiker, in: Ordo 50

(1999), S. 53–59. 46 Vgl. Benedikt Brunner, Vom reichen Christen und dem armen Lazarus – Auseinandersetzungen über Sozialismus und Marxismus in der evangelischen Sozialethik nach 1945, in: Matthias Casper / Karl Gabriel / Hans-Richard Reuter (Hg.), Kapitalismuskritik im Christentum. Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2016, S. 237–273, hier S. 238–240. 47 Vgl. Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, S. 43–71. 48 Zur Bedeutung dieses Begriffs vgl. demnächst vom Vf. Volkskirche – zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs 1918–1960 [erscheint voraussichtlich 2019] sowie ders., Kirche in der zerspaltenen Welt. Volkskirche und Zwei-Reiche-Lehre als theologische Orientierungspunkte in der frühen Bundesrepublik, in: Jürgen Kampmann / Hans Otte (Hg.), Angewandtes Luthertum? Die Zwei-Reiche-Lehre als theologische Konstruktion in politischen Kontexten des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 2017, S. 141–166.

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Vertreter einer solchen Kirche für alle setzten sich die Protestanten für Themen ein, die so abstrakt blieben, dass sie in der Regel nicht eindeutig eine parteipolitische Zuordnung ermöglichten. Auch wenn zumindest bis zu Beginn der 1960er Jahre das »über den Parteien« stehen noch nicht grundsätzlich überwunden war, sah man sich dennoch zu einem umfassenderen Engagement in politischen, sozialen und kulturellen Dingen aufgerufen.49 Doch was verstand man im Protestantismus eigentlich unter Kapitalismus und Marktwirtschaft in dieser Zeit?50 Im Lexikon »Religion in Geschichte und Gegenwart« zeichnete Eduard Heimann (1889–1967) für das Lemma ›Kapitalismus‹ verantwortlich. Dieser hatte in der Weimarer Republik zu dem Kreis der Religiösen Sozialisten um Paul Tillich gehört und trat vor und nach dem Zweiten Weltkrieg mit grundlegenden wirtschaftstheoretischen Schriften hervor.51 Der Kapitalismus, so Heimann, »ist nach seinen Theoretikern das einzig mögliche, nach seinen Kritikern das historisch und logisch erste, aber daher noch unvollkommene von zwei möglichen Systemen des wirtschaftlichen Rationalismus, in dem der Leistungsgrad durch Gegenüberstellung von Ertrag und Kosten in der Produktionseinheit, der Unternehmung im Betrieb, ermittelt und der höchste Leistungsgrad durch individuelle Initiative angestrebt und immer weiter erhöht wird.«52

Er referiert dann im Weiteren recht unideologisch die historischen Voraussetzungen sowie den weltgeschichtlichen Sinn des Kapitalismus, das Thema Macht und Machtmissbrauch sowie den Formwandel kapitalistischen Wirtschaftens. Das Thema Sozial- und Wirtschaftsreform sowie das Stichwort ›Triumpf‹ bilden den Abschluss des Artikels. Noch rein historisch orientiert ist der Beitrag des Juristen

49 Vgl. Jonathan R. C. Wright, »Über den Parteien«. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918–1933, Göttingen 1977. 50 Vgl. auch Brunner, Christen. 51 Vgl. u. a. Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik. Mit einem Vorwort von Bernhard Badura, Frankfurt a. M. 1980 [zuerst Tübingen 1929]; ders., Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme, Tübingen 1954; ders., Vernunftglaube und Religion in der modernen Gesellschaft. Liberalismus, Marxismus und Demokratie, Tübingen 1955; ders., Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen 1963. Zu Heimann vgl. Volker Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer, Frankfurt a. M. 1994, S. 68–99. 52 Ders., (Art.) Kapitalismus, in: RGG3 3 (1959), Sp. 1136–1141, hier Sp. 1136. Es gibt kein eigenes Lemma zur Marktwirtschaft, was in Anbetracht der zeitgenössischen Bedeutung derselben schon erstaunlich ist, dafür aber einen Eintrag zum Marxismus (Iring Fetscher, (Art.) Marxismus, in: ebd., 4 (1960), Sp. 787–792) und zum Sozialismus (W. Fabian, (Art. Sozialismus), in: ebd. 6 (1962), Sp. 176–181), respektive Religiösen Sozialismus (Heinz-Horst Schrey, (Art.) Religiöser Sozialismus, in: ebd., Sp. 181–186). Vgl. aber dafür in der jüngsten Auflage: Hermann Sautter, (Art.) Marktwirtschaft, in: RGG4 5 (2002), Sp. 839–841.

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Siegfried Landshut aus dem Evangelischen Kirchenlexikon, der auf die zeitgenössischen Diskussionen gar nicht eingeht.53 In den unterschiedlichen Auflagen des Evangelischen Soziallexikons nimmt der Kapitalismus hingegen mehr Raum ein. Bei diesem Lexikon handelt es sich um das von Friedrich Karrenberg herausgegebene Aushängeschild des Sozialen Protestantismus in Deutschland.54 Das neunspaltige Lemma zum Kapitalismus hatte der Erlangener Verkehrswissenschaftlicher Fritz Voigt besorgt. Seiner Ansicht nach sei der Begriff, nicht zuletzt durch seine historische Genese, widerspruchsvoll und eigentlich ungeeignet, um die wesentlichen Merkmale eines Wirtschaftssystems zu beschreiben, was er dann aber doch versucht. Kapitalismus sei eben nicht von einer übergeordneten Stelle organisiert, sondern erlaube »das Zusammenwirken selbsttätiger Kräfte auf dem Markt«.55 Organisatorisch gründeten sich kapitalistische Wirtschaftspläne nicht nur auf Privateigentum an Verbrauchsgütern, sondern vor allem an Produktionsmitteln.56 Während Voigts Beitrag im Ganzen nicht besonders auffällig ist, wartet das Evangelische Soziallexikon mit einem Beitrag zur Kapitalismuskritik auf, worin ein Alleinstellungsmerkmal zu dieser Zeit besteht, auch wenn ein Lemma zur (Sozialen) Marktwirtschaft auch hier fehlt. »Kapitalismus ist umstritten«, konstatiert Karrenberg zu Beginn des Beitrags lapidar.57 Schuld daran sei die »begriffliche Verschwommenheit«.58 Die unterschiedlichen Trägergruppen der Kritik – zu der er neben Neosozialisten und Marxisten bürgerliche Sozialreformer zählt – hätten sich vor allem gegen das Ethos des Kapitalismus gewandt. Dieser habe nämlich die Rangordnung der Werte durcheinandergebracht. Entscheidend sei nämlich im Kapitalismus nur, ob man über die nötige Kaufkraft verfüge.59 Ferner richte sich die Kritik gegen die Institutionen und dabei allen voran gegen das Privateigentum. Und dadurch

53 Siegfried Landshut, (Art.) Kapitalismus, in: Evangelisches Kirchenlexikon 2 (1958), Sp. 533– 535. Vgl. auch ders., (Art.) Marx, Marxismus, in: ebd., Sp. 1263–1267; ders., (Art.) Sozialismus, in: ebd. 3 (1959), Sp. 1043–1045. 54 Vgl. u. a. Jörg Hübner, Protestantische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. Verbindungslinien und Zusammenhänge zwischen 1937 und 1954, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 109 (2012), S. 235–269 sowie bereits ders., Nicht nur Markt und Wettbewerb. Friedrich Karrenbergs wirtschaftsethischer Beitrag zur Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft, Bochum 1993. 55 Fritz Voigt, (Art.) Kapitalismus, in: Evangelisches Soziallexikon (1954), Sp. 551–559, hier Sp. 551. 56 Vgl. ebd. Dort erfolgt dann ein Verweis auf den äußerst umfangreichen Artikel über »Eigentum«. 57 Friedrich Karrenberg, (Art.) Kapitalismuskritik, in: ebd., Sp. 559–562, hier Sp. 559; ders., Der Christ in der Wirtschaft, in: Stimme der Gemeinde 2 (1950), 4, S. 5 f. 58 Karrenberg, (Art.) Kapitalismuskritik, Sp. 559. 59 Vgl. ebd., Sp. 560. Vgl. zu diesem interessanten Aspekt Hans Willgerodt, Wertvorstellungen und theoretische Grundlagen des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, in: Wolfgang Fischer

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»sammle sich auf der einen Seite immer mehr Reichtum. Einer großen Schicht Proletarier, d. h. abhängiger Arbeiter, die ausschließlich von ihrer Hände Arbeit leben, stehe eine relativ kleine Herrenschicht gegenüber, die ihren Rang zum großen Teil nicht ihrer Leistung für die Ges.[ellschaft], auch nicht ihrer Bildung oder ihrer Herkunft, ja nicht einmal ihrer bes.[onderen] Tüchtigkeit verdanke.«60

Man sollte durchaus im Hinterkopf behalten, dass Karrenberg selbst ein Unternehmer war.61 Sein gesamtes Engagement zeichnet sich aber durch ein hohes Maß an Verständnis für die Belange der Arbeiter aus. So stellt er abschließend fest, dass an der Kapitalismuskritik »eine Menge richtig ist.«62 Gerade der Christ habe zur Apologie des Kapitalismus keine Veranlassung. Gleichwohl: eine bessere Ordnung sei aktuell nicht in Sicht und solange dies der Fall sei, müsse man in ihr und an ihr arbeiten. Denn die »Möglichkeiten individueller Verantwortung« seien größer als meist angenommen werde.63 Ergänzend zu dieser semantischen Orientierung sei noch darauf hingewiesen, dass unter evangelischen Theologen ein ähnliches, aus der Zwischenzeit übernommenes kulturkritisches Deutungsmuster zu finden ist, wie bei Müller-Armack, Röpke und anderen. Das Stichwort einer »Gefallenen Wirtschaft« als ein Deutungsmodell für die Zeit des Nationalsozialismus fand durchaus Anklang.64 Adolf Lampe hatte die Maßgabe ausgegeben: »Rückkehr der gefallenen Wirtschaft zu Gott.«65 Dies war als Reaktion zu verstehen auf die chaotischen Zustände, die seiner Ansicht nach ein zügelloser Liberalismus, der sich überdies von christlichen Wertmaßstäben gänzlich entfernt habe, zu verantworten hatte. Die metaphysische Herleitung einer christlichen Wirtschaftssicht wurde nicht selten begierig aufgenommen und fortgeführt. Ein enger Mitarbeiter Karrenbergs, Martin Donath (1904–1966)66, fragte 1949 danach, ob eine christliche

(Hg.), Währungsreform und Soziale Marktwirtschaft. Erfahrungen und Perspektiven nach 40 Jahren, Berlin 1988, S. 31–60. 60 Karrenberg, (Art.) Kapitalismuskritik, Sp. 560. 61 Zu seiner Biografie vgl. Jörg Hübner, Markt. Er hatte Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert und wurde 1932 mit einer Arbeit zum Thema »Christentum, Kapitalismus und Sozialismus« promoviert. Danach trat Karrenberg wieder in den Familienbetrieb (eine Fassondreherei) ein; diese Firma leitete er von 1940 bis zu seinem Tod. Seine religiöse Sozialisation erfolgte durch den Schülerbibelkreis, Religiöse Sozialisten aus dem Umfeld des »Neuwerk« und aus der Theologie Karl Barths. Engagement in der Bekennenden Kirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er »in zahlreichen kirchlichen Ämtern Anwalt und Brückenbauer der Verbindung zw. Wirtschaft, Sozialpolitik und ev. Sozialethik in der ersten Phase der Bundesrep. D«. Vgl. Joachim von Soosten, (Art.), Karrenberg, Friedrich, in: RGG4 4 (2001), Sp. 830, von dort auch das Zitat. 62 Karrenberg, (Art.) Kapitalismuskritik, Sp. 561. 63 Ebd., Sp. 562. 64 Vgl. Lampe, Wirtschaft. Lampe war Ökonom und Mitglied des Freiburger Kreises. 65 Ebd., S. 25. 66 Vgl. https://wiki.de.dariah.eu/display/F1P/Donath%2C+Martin [05.06.2018].

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Wirtschaftsordnung nur eine Utopie wäre.67 Im Zentrum seiner Überlegungen steht der Begriff der »Ordnung«. Wirtschaftliches Ordnen sei ein den Menschen selbstenthüllendes Werk. Der Mensch sei nämlich von jeher »nicht in der Vereinzelung, sondern im Stand der Sozietät, der Genossenschaft, des gegenseitigen Gehilfentums, der dienstlichen Ergänzungsgemeinschaft.«68 Eine aus christlicher Sicht angemessene Wirtschaftsordnung müsse »Gerechtigkeit« zum verbindlichen Maßstab des Ordnens machen.69 Nach einer Analyse der zeitgenössischen Probleme kommt Donath zu dem folgenden Fazit: »Wir stellten fest, daß es in evangelischer Schau eine christliche Wirtschaftsordnung als Gestaltlehre und Seinsordnung nicht gibt. Wohl aber bestehen vom Menschen her und bezogen auf den Menschen hin Richtpunkte, um als Christ im Ordnen der wirtschaftlichen Verhältnisse verantwortlich tätig zu sein. Die innerste Mitte des wirtschaftlichen Ordnens ist die Gerechtigkeit, um die wir uns in Verwirklichung echter Bruderliebe innerhalb der uns zugewiesenen Sozietät zu bemühen haben.«70

Es ist in gewisser Weise wohl typisch protestantisch, dass die Bezugnahme auf die Gerechtigkeit als wichtigstes ökonomisches Kernprinzip hier nicht an eine enger gefasste Wirtschaftsform gebunden wird.71 Erstaunlicherweise meinte auch Otto Dibelius (1880–1967) schon im Jahr 1947, dass es jetzt vor allem darauf ankäme, das Deutschland wieder mehr Güter produziere. Ob dies »auf kapitalistischer oder sozialistischer oder sonst einer Grundlage geschieht«, sei zunächst einmal zweitrangig, solange den Menschen das zum Leben notwendige fehle.72 67 Vgl. Martin Donath, Ist christliche Wirtschaftsordnung eine Utopie?, in: Kirche in Bewe-

gung. Predigten und Vorträge. Gehalten auf der Deutschen Evangelischen Woche in Hannover 1949, Hannover 1949, S. 186–207. Die Deutsche Evangelische Woche war eine Vorläuferorganisation des Deutschen Evangelischen Kirchentages, vgl. Traugott Jähnichen, Der Protestantismus als »soziales Gewissen« der Gesellschaft – Impulse des Deutschen Evangelischen Kirchentages zur Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft in der Ära Adenauer, in: Thomas Sauer (Hg.), Katholiken und Protestanten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik, Stuttgart 2000, S. 89–107. 68 Donath, Wirtschaftsordnung, S. 191. Vgl. auch ders., Der familiengerechte Lohn als Forderung evangelischer Sozialethik, in: Kirche in der Zeit 6 (1951), S. 273–275. 69 Vgl. Donath, Wirtschaftsordnung, S. 192 mit Bezugnahme auf Emil Brunner, Gerechtigkeit. Eine Lehre von den Grundgesetzen der Gesellschaftsordnung, Zürich 1943, dort das 18. Kapitel: »Die gerechte Ordnung der Wirtschaft«. Lohnenswert erscheint auch ein Vergleich mit Erlanger Vertretern der Ordnungstheologie wie zum Beispiel Werner Elert, Das christliche Ethos. Grundlinien der lutherischen Ethik, Tübingen 1949. 70 Donath, Wirtschaftsordnung, S. 207. 71 Vgl. Carl Gunther Schweitzer, Von Luther zur modernen Industriewelt. Eine ethische Untersuchung, Berlin 1957. 72 Otto Dibelius, Volk, Staat und Wirtschaft aus christlichem Verantwortungsbewusstsein. Ein Wort der Kirche, Berlin 1947, S. 33. Vgl. auch die erstaunliche aber in dieser Zeit verbreitete Rede von einem christlichen Sozialismus, ebd., S. 38; Friedrich Karrenberg, Staat und Wirtschaft, in: Stimme der Gemeinde 2 (1950), 9, S. 13 f.

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Vor dem hier skizzierten Hintergrund sind die konstruktiven Beiträge des Protestantismus zu sehen, wie er sich exemplarisch im Hinblick auf die Eigentums- und Mitbestimmungsdiskussionen konkretisierte.73 Im Verlauf der 1950er Jahre nahm in der evangelischen Sozialethik nämlich das Bewusstsein zu, dass man in einer »Wohlstandskultur« lebe, die einige Probleme mit sich bringe.74 Die »Entdeckung der Dritten Welt« und ein zunehmendes Bewusstsein für die wirtschaftlichen Ungleichheiten im globalen Maßstab forderten nach einer Reaktion.75 Die Ethik habe, jedenfalls der Überzeugung des Erlanger Lutheraners Wolfgang Trillhaas, bislang keine adäquaten Maßstäbe entwickelt, um mit dem neuen Wohlstand fertig zu werden.76 Es sei zu einer radikalen Verbürgerlichung gekommen, da es kaum mehr Arme gebe. Gleichzeitig sei das bürgerliche Leben zur ethischen Norm geworden.77 Andere Theologen warnten ebenfalls vor den ambivalenten Folgen des »Wohlfahrtsstaates«, der »der kollektive, vom Staate ideell und materiell getragene Versuch, der Misere des menschlichen Lebens mit den Mitteln einer rationalisierten Fürsorge zu begegnen« sei.78 Bei den Debatten über die Mitbestimmung hatten sich Theologen beider Konfessionen intensiv beteiligt. Dies gilt sowohl für die Montanmitbestimmung, die 1951 beschlossen wurde, wie auch für das Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahre 1952.79 In den hitzigen Debatten über diese Themen »hat doch wohl die 73 Vgl. zum letzten die umfangreiche Studie von Traugott Jähnichen, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der soziale Protestantismus und die Entwicklung der Mitbestimmung (1848–1955), Bochum 1993. 74 Vgl. Wolfgang Trillhaas, Die evangelische Ethik vor den unbewältigten Fragen der Wohlstandskultur, in: Zeitwende 33 (1962), S. 748–756; Friedrich Karrenberg, Einführung in die Literatur der evangelischen Soziallehre, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 2 (1957), S. 117–127. 75 Zum Stichwort vgl. Christoph Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a. M./New York 2011; zum hier beschriebenen Prozess vgl. Thomas Großbölting, Von der Nächsten- zur Fernstenliebe. Bundesdeutsche Kirche auf der Suche nach Relevanz zwischen 1960 und 1980, in: Andreas Holzem (Hg.), Wenn Hunger droht. Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1800), Tübingen 2017, S. 241–254. 76 Vgl. Christoph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M. 2015. 77 Vgl. Trillhaas, Ethik, S. 749. 78 Helmut Thielicke, Probleme des Wohlfahrtsstaates, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 2 (1958), S. 193–211, hier S. 194 [im Original hervorgehoben, BB]. Vgl. Erwin Wilkens, Probleme des Wohlfahrtsstaates, in: Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen 3 (1950), S. 337–341; Friedrich Karrenberg, Umstrittene Sozialprobleme: I. Der Wohlfahrtsstaat, Kirche in der Zeit 12 (1957), S. 285 f.; Karl Janssen, Wohlfahrtsstaat – Ja oder Nein?, in: Evangelische Welt 12 (1958), S. 113–116. 79 Vgl. Gerhard Leminsky, (Art.) Mitbestimmung, in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, 2001, Sp. 1089–1096; zum katholischen Beitrag vgl. Werner Krämer, Die Mitbestimmungsinitiative des Bochumer Katholikentags 1949 für eine Wirtschaftsordnung aus christlicher Überzeugung, in: Casper/Gabriel/Reuter (Hg.), Kapitalismuskritik, S. 337–363 und Karl Lauschke, Die Mitbestimmungsdiskussion im DGB und der Bochumer Katholikentag 1949, in: ebd., S. 365–383. Ich kann mich im Folgenden nur auf den protestantischen Beitrag in West-

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Kirche ein ernstes Wort mitzureden«, wie Friedrich Karrenberg klarstellte.80 Für solche Auseinandersetzungen sei nämlich nicht der richtige Zeitpunkt, zumal es auch keinen sachlichen Grund dafür gebe.81 Martin Donath rechtfertigte das Engagement der Kirchen damit, dass es zwei auch noch so wichtigen Sozialpartnern nicht zustünde, »das Geschick aller übrigen (ohne die Respektierung ihres Willens und gegen ihren Widerspruch) in den Malstrom eines unerbittlich geführten Kampfes zu ziehen.«82 Der christliche Beitrag müsse nun zunächst darin bestehen, darauf zu drängen, dass bei solchen Fragen ein gesamtwirtschaftlicher Blick eingenommen werde und alle Sozialglieder von den entsprechenden Entscheidungen profitieren könnten. Dabei dürfe es aber nicht zu einer »Blockierung produktiver Kräfte« kommen, zumal die Sorge um das tägliche Brot die »bestmögliche Produktivität« erforderlich mache.83 Besitz und Eigentum dürften nicht zu »widergöttlichen Kräften« werden, man müsse aber von Seiten der Christen dafür sensibilisieren, dass dem Besitz eine »versuchliche« Komponente innewohne.84 Ihnen komme ferner die Aufgabe zu, als ein ausgleichendes Element zu fungieren, da für den Christen »alle[n] Menschen füreinander Verantwortung tragen«.85 Eberhard Müller (1906–1989) sprach in diesem Sinne von der Mitbestimmung als einer »Kunst der Verständigung«.86 So wie es von christlicher Seite heute verstanden werde, wolle man deutschland konzentrieren. Vgl. zum Katholizismus den Beitrag von Ursula Nothelle-Wildfeuer in diesem Band. 80 Friedrich Karrenberg, Mitbestimmung in der Wirtschaft, in: Stimme der Gemeinde 2 (1950), 6, S. 5 f., hier S. 5. 81 Hier deutet sich die ebenfalls weitverbreitete Überzeugung an, dass für Protestanten Kompromisse das ethische Mittel der Wahl seien sollten, vgl. Walter Künneth, Der ethische Kompromiß in der modernen Wirtschaft, in: Das missionarische Wort 12 (1959), S. 360–364 sowie umfänglicher ders., Moderne Wirtschaft, christliche Existenz. Eine Einführung in die Hauptprobleme einer christlichen Wirtschaftsethik, München 1959; Sabrina Hoppe, Demokratische Konsenskultur? Von der Sympathie des bundesdeutschen Protestantismus für eine Ethik des Kompromisses, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 23 (2016), S. 218–235. 82 Martin Donath, Kritische Tage um das Mitbestimmungsrecht, in: Junge Kirche 12 (1951), S. 58–65, hier S. 58. 83 Vgl. ebd., S. 62, das erste Zitat im Original als Sperrung hervorgehoben. 84 Vgl. ebd. Ganz in diesem Sinne auch Friedrich Karrenberg, Versuchung und Verantwortung in der Wirtschaft, Stuttgart 1954. Die Begrifflichkeiten wurden dabei, wie auch im hier vorliegenden Fall, nicht immer sauber definitorisch voneinander unterschieden. 85 Donath, Tage, S. 6. [Im Original durch Sperrung hervorgehoben, BB]. 86 Vgl. Eberhard Müller, Mitbestimmung – eine Kunst der Verständigung, in: Die Mitarbeit 1 (1952), S. 3–5. Müller war der Gründungsdirektor der Evangelischen Akademie Bad Boll und stand in durchaus kritischem Verhältnis zu Karrenberg und seinen Leuten, vgl. Sabrina Hoppe, »Aber wir können doch nicht alle Leute, die zu diesen Dingen etwas zu sagen haben, mit heranziehen!« Das Netzwerk Friedrich Karrenbergs als exemplarisches protestantisches Netzwerk in der frühen Bundesrepublik, in: Christian Albrecht / Reiner Anselm (Hg.), Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, Tübingen 2015, S. 199–234. Zur Biografie vgl. Gertraud Grünzinger, (Art.) Müller, Eberhard, in: RGG 4 5 (2002), Sp. 1568.

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»sowohl auf der betrieblichen als auf der überbetrieblichen Ebene rechtlich sicherstellen, daß sowohl der einzelne Arbeiter als auch die Gesamtheit der Arbeitnehmerschaft als gleichberechtigte Partner mit den Unternehmern im Wirtschaftsleben in Erscheinung treten. Dieser Gedanke der Partnerschaft entspricht der christlichen Glaubensauffassung, nach der jeder Mensch berufen ist, Gottes Ebenbild zu sein und bei ihm Kindesrecht zu genießen.«87

Zu einem solchen Instrument könnte die Mitbestimmung aber nicht durch den rechtlichen Zwang werden, worauf auch schon Donath hingewiesen hatte. Dies schließt an eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Essener Kirchentag 1950 an, in der man die Sozialpartner gebeten habe, »die Verhandlungen über das Mitbestimmungsrecht im Geiste gegenseitiger Achtung zu führen« und die Opfer, die der soziale Friede erforderlich mache, nicht zu scheuen.88 In den Gewerkschaftlichen Monatsheften wurde zu dieser Zeit die Kritik laut, dass man auf evangelischer Seite keine klare Linie erkennen könne.89 Dies wies Karrenberg zurück. Es ginge der Kirche nämlich primär darum, dass nicht eine einzelne Gruppe erneut die Vorherrschaft erlange. Bürgertum und Marxismus hätten sich beide in der Vergangenheit durch die »Verfestigung und Verabsolutierung der gegenseitigen Standpunkte in einer die Gemeinschaft des Volkes und der Völker geradezu sprengenden Weise« schuldig gemacht.90 Partnerschaft wurde zu einem Schlüsselwort in den sozialethischen Beiträgen zur Mitbestimmungsfrage – und über diese hinaus. Der Doyen der evangelischen Sozialethik im deutschsprachigen Raum, Heinz-Dietrich Wendland, brachte ihn 1955 als einen »sozial-kritischen Begriff« in Stellung.91 Dabei hebt er hervor, dass er sowohl zum totalen Kollektivismus, als auch zum totalen Staat in einem scharfen Gegensatz stehe, da er »mit dem Begriff der Freiheit und der freien, menschlichen Person ganz unlöslich verbunden ist.«92 Damit seien auch alle Gesellschafsformen abzulehnen, die den Menschen zu einem Instrument, beziehungsweise zu 87 Müller, Mitbestimmung, S. 4. Vgl. auch ders. Recht und Gerechtigkeit in der Mitbestimmung. Ein evangelischer Ratschlag, Stuttgart 1950. 88 Vgl. Friedrich Karrenberg, Mitbestimmung in der Wirtschaft, Stuttgart 1953, S. 22. 89 Vgl. Franz Grosse, Protestantismus und Mitbestimmungsrecht, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1 (1950), S. 345–352. 90 Karrenberg, Mitbestimmung, S. 23. 91 Vgl. Heinz-Dietrich Wendland, Partnerschaft – christlich gesehen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 6 (1955), S. 654–659, hier S. 654, wiederabgedruckt in: ders., Botschaft an die soziale Welt. Beiträge zur christlichen Sozialethik der Gegenwart, Hamburg 1959, S. 228–237. Aufschlussreich auch: ders., Die Bereitschaft zur Solidarität mit allen Menschen, in: ders., Botschaft, S. 246–252. Zu Wendland vgl. jetzt Katja Bruns / Stefan Dietzel, Heinz-Dietrich Wendland (1900–1992). Politisch-apologetische Theologie, Göttingen 2017. 92 Wendland, Partnerschaft, S. 654. Vgl. auch noch die spätere Beschäftigung: ders., Grundzüge der evangelischen Sozialethik, Köln 1968, S. 212–223. Aufschlussreich hinsichtlich der Grundlagen seiner Ethik ist ders., Ethik des Neuen Testament. Eine Einführung, Göttingen 1970.

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einem »bloßen Funktionsträger« machen würden.93 Partnerschaft meine stattdessen eine »in gewisser Weise begrenzte personale Beziehung zwischen den Menschen im Arbeitsprozeß und im Betrieb.«94 Durch die Partnerschaft könne so etwas wie ein Ethos der Solidarität in den Betrieben etabliert werden. Wendland meint, die Kirche müsse erkennen, »welche hohe, positive Bedeutung das Ethos der proletarischen Solidarität für das Mündigwerden des Arbeitnehmers und den sozialen und geistigen Aufstieg der Arbeiterschaft gehabt habe.«95 Sie täte darum gut daran, dafür zu sorgen, dass es nicht preisgegeben werde. Vom Standpunkt der christlichen Nächstenliebe könne man also nur ›Ja‹ sagen zur Mitbestimmung in Wirtschaft und Gesellschaft. Dafür sei die Mitbestimmung aber »als eine konkrete, soziale Gestalt ihrer selbst [zu begreifen], als eine gesellschaftliche Form, die sie, die Liebe, in der heutigen Wirtschaft und Gesellschaft« annehmen müsse, »damit der Mensch auch als arbeitender nicht instrumentalisiert und funktionalisiert« werde.96 Ihren Ort habe die Partnerschaft in dem, was Wendland den »kritisch-realistischen Humanismus der christlichen Kirche« nennt.97 Kritisch sei er im Hinblick auf die gegebenen Zustände, die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit hin verändert werden müssten.98 Realistisch sei er, »weil er den arbeitenden Menschen von heute vor Augen hat und nicht vergangene Sozialordnungen und abgestorbene Sozialideale restaurieren will.«99 Das war nun in der Tat ein neues sozialethisches Selbstverständnis, das sich hier Ausdruck verschaffte. Denn der eigentliche konstruktive Beitrag der Protestanten müsse, wenn man Wendland

93 Wendland, Partnerschaft, S. 654. Zu den gesellschaftstheologischen Prämissen dieser Zeit

vgl. Hans Schulze, Gottesoffenbarung und Gesellschaftsordnung. Untersuchungen zur Prinzipienlehre der Gesellschaftstheologie, München 1968; Christian Walther, Theologie und Gesellschaft. Ortsbestimmung der evangelischen Sozialethik, Zürich 1967. 94 Wendland, Partnerschaft, S. 655. Vgl. hierzu auch Dietrich von Oppen, Das personale Zeitalter. Formen und Grundlagen gesellschaftlichen Lebens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1960, S. 115–138; ders., Was bedeutet »Partnerschaft« in einer Gesellschaft von »Organisationen«, in: Friedrich Karrenberg / Wolfgang Schweitzer (Hg.), Spannungsfelder der evangelischen Soziallehre. Aufgaben und Fragen vom Dienst der Kirche an der heutigen Gesellschaft, Hamburg 1960, S. 232–246. 95 Wendland, Partnerschaft, S. 655. 96 Beide Zitate ebd., S. 656 f. 97 Ebd., S. 657. 98 Vgl. hierzu auch ders., »Die Welt verändern.« Zur christlichen Deutung und Kritik einer marxistischen These, in: ders., Botschaft an die soziale Welt: Beiträge zur christlichen Sozialethik der Gegenwart, Hamburg 1959, S. 202–212; zu seiner Marxismusdeutung vgl. Brunner, Christen, S. 249 f. Vgl. auch die Ausführungen bei Arthur Rich, Christliche Existenz in der industriellen Welt. Eine Einführung in die sozialethischen Grundfragen der industriellen Arbeitswelt, Zürich 21964, S. 59–1047. 99 Wendland, Partnerschaft, S. 657.

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folgt, vor allem darin bestehen, das institutionell geordnete Vorfeld der individuellen Entscheidungen sozialethisch zu reflektieren.100 Dies gilt auch für die Diskussionen über die Eigentumsfrage, auf die hier nur kurz hingewiesen werden kann. Anstöße gab hierzu die 1962 verabschiedete Denkschrift des Rates der EKD »Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung«.101 Wendlands Nachfolger auf der Münsteraner Professur, Wolf-Dieter Marsch, beantwortete die Frage, ob Eigentum heilig sei, 1961 abschlägig. Heilig sei es nicht, aber eine »notwendige Chance zur Humanisierung einer technischen Kultur, die den Anspruch erhebt, demokratisch zu sein.«102 Wendland selbst hatte sich dafür stark gemacht, dass auch in der Eigentumsfrage die Kirchen sich für die Umsetzung sozialer Gerechtigkeit einsetzen sollten. Im Zentrum stand dabei, wie schon in der Mitbestimmungsfrage der soziale Frieden in der Gesellschaft.103 Bei aller Offenheit für aktuelle Themen sahen die Sozialethiker dieser Zeit ihre Kompetenz also weniger in den ganz konkreten Umsetzungsvorschlägen für gesellschaftliche Kernprobleme, sondern vielmehr darin, Vorfeldkompetenzen für die ethische Entscheidungsfindung des Einzelnen anzubieten, zum Teil unter durchaus produktiver Aufnahme der lange abgelehnten marxistischen Theorien.104

III. Fundamentalkritik im »dagobertinischen Zeitalter« der Kirche: Helmut Gollwitzer Dem Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild zufolge begann mit den 1960er Jahren das »dagobertinische Zeitalter« der evangelischen Kirchen in Westdeutschland, womit er auf die, bis Mitte der 1970er Jahre anhaltend hohen Kir-

100 Vgl. ebd., S. 656. Eine deutliche Grenze sehen Wendland und mit ihm die meisten anderen

Theologen im Klassenkampf, der eindeutig abgelehnt wird. Die Umsetzung sozialer Gerechtigkeit dient nämlich vor allem der Etablierung des sozialen Friedens innerhalb der Gesellschaft. 101 Vgl. Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung. Der Text der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland erläutert von D. Dr. Eberhard Müller, Hamburg 1963; Hartmut Weber, Die Eigentumsdenkschrift der Kammer für Soziale Ordnung der EKD, in: Christ und Eigentum. Ein Symposion mit Konrad Stopp, Gerhard Wendland, Günter Brakelmann, Hartmut Weber, Peter Heyde, Hamburg 1963, S. 176–203. 102 Wolf-Dieter Marsch, Ist Eigentum heilig?, in: Radius 6 (1961), 3, S. 29–32, hier S. 32. 103 Vgl. Heinz-Dietrich Wendland, Eigentum für alle? Eigentum und Gesellschaftsordnung im Lichte der evangelischen Soziallehre, Hamburg 1960, S. 8. Vgl. bereits Friedrich Karrenberg, Recht und Grenzen des Eigentums, in: Stimme der Gemeinde 2 (1950), 5, S. 13 f.; ders., Gestalt und Kritik des Westens. Beiträge zur christlichen Sozialethik heute, Stuttgart 1959, S. 235–239. 104 Vgl. noch Friedrich Karrenberg, Die Eigentums-Diskussion in der neueren evangelischen Theologie, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 4 (1960), S. 136–148; Ernst Wolf, Eigentum und Existenz. Das Eigentumsproblem im Rahmen christlicher Sozialethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 6 (1962), S. 1–17 sowie die interessante Studie von Hartmut Weber, Theologie – Gesellschaft – Wirtschaft. Die Sozial- und Wirtschaftsethik in der evangelischen Theologie der Gegenwart, Göttingen 1970, vor allem S. 423–440.

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chensteuereinnahmen anspielte.105 Dieser Zeitraum war zugleich davon geprägt, dass kirchliche Zugehörigkeit stetig abnahm und die Kirche als Autorität zunehmend in die Defensive geriet.106 Kritik an der Institution Kirche erreichte in diesem Zeitraum ungeahnte Höhen. Zu den öffentlichkeitswirksamsten und präsentesten Kritikern gehörte Helmut Gollwitzer.107 Zunächst in Bonn und dann bis zu seiner Emeritierung 1975 an der Freien Universität in West-Berlin lehrend, gehörte die zunehmend radikale Kapitalismuskritik zu den Kernelementen seines theologischen Portfolios.108 Ähnlich wie die oben genannten Theologen entwickelt Gollwitzer in diesem Zeitraum eine »Theologie der Gesellschaft«. Ein wesentliches Merkmal seines Ansatzes besteht darin, dass Theologie sich im Rahmen einer Klassengesellschaft zu verorten habe. Der »Klassenkampf« wiederum sei keine Illusion, sondern eine gesellschaftliche Realität, zu der der Christ – und damit auch die Theologie – sich positionieren müsse.109 Auf welcher Seite würde man sich aber wiederfinden? Und welche Folgen würde eine solche Positionierung haben? Und inwiefern kann das Zeugnis der Heiligen Schrift hier der Entscheidungsfindung dienen?110 In der Beantwortung dieser Fragen tendiert Gollwitzer natürlich stets deutlich zu der Seite, die deutlich die Existenz einer Klassengesellschaft anerkennt und daraus »sozialistische« Schlussfolgerungen zu ziehen versucht. Denn Kirche und Theologie könnten sich überhaupt nicht »außerhalb der Klassengesell-

105 Vgl. Großbölting, Himmel, S. 53; Sven-Daniel Gettys / Thomas Mittmann, »Der Tanz um

das Goldene Kalb der Finanzmärkte«. Konjunkturen religiöser Semantik in deutschen Kapitalismusdebatten seit den 1970er Jahren, in: Michael Hochgeschwender / Bernhard Löffler (Hg.), Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, S. 283–307. 106 Vgl. hierzu zusammenfassend die luzide Darstellung bei Großbölting, Himmel, S. 96–119. Vgl. zeitgenössisch Hermann Ringeling, Kritisches Christentum. Wirkungen und Folgen religiöser Gesellschaftskritik, München 1972. 107 Vgl. bis auf Weiteres: Andreas Pangritz, »Der ganz andere Gott will eine ganz andere Gesellschaft«. Das Lebenswerk Helmut Gollwitzers (1908–1993), Stuttgart 2018; W. Travis McMaken, Our God Loves Justice. An Introduction to Helmut Gollwitzer, Minneapolis 2017. Der Verfasser arbeitet an einer Biografie Gollwitzers, vgl. neben dem in Anm. 119 genannten Titel ferner Benedikt Brunner, Helmut Gollwitzer – theologische Virtuosität zwischen Christen- und Bürgergemeinde, in: Christine Aka / Dagmar Hänel (Hg.), Prediger, Charismatiker, Berufene. Rolle und Einfluss religiöser Virtuosen, Münster/New York 2018, S. 185–199. 108 Gollwitzer bezeichnete sich selbst als Sozialist und war im christlich-marxistischem Dialog aktiv; vgl. Gollwitzer, Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, München/ Hamburg 1965. Zur Eigentumsfrage aufschlussreich ist die bei Gollwitzer entstandene Dissertation von Rolf-Peter Calliess, Eigentum als Institution. Eine Untersuchung zur theologisch-anthropologischen Begründung des Rechts, München 1962, vor allem S. 107–128. 109 Vgl. Helmut Gollwitzer, Klassenkampf ist keine Illusion, in: ders., Forderungen der Umkehr. Beiträge zur Theologie der Gesellschaft, München 1976, S. 209–219. 110 Vgl. ders., Hic et nunc, in: ebd., S. 220–236, hier S. 221 f., der Beitrag erschien zuerst in: Evangelische Theologie 35 (1975), S. 382–397.

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK

schaft […] konstituieren.«111 Der kapitalistischen Revolution der Arbeitsweise müsste jedenfalls mit der aus den Implikationen des Evangeliums gespeisten sozialen Revolution begegnet werden.112 Das bisherige Verhalten der Kirche sei »bestenfalls ziellos reformistisch« gewesen, weshalb nur radikale und das heißt seiner Ansicht nach: revolutionäre Umkehr weiterführen könnte.113 Den weitverbreiteten Unwillen zur Umkehr aus Angst, die eigenen Privilegien zu verlieren, lässt Gollwitzer nicht gelten. Nur in einer tiefgehende Gesellschafts- und Kapitalismuskritik sind seiner Ansicht nach die eng miteinander verbundenen kirchlichen Aufgaben für die Zukunft zu finden.114 Auf charakteristische Weise verbindet Gollwitzer seine gesellschaftstheologischen Ausführungen oftmals auch mit einer bestimmten Sichtweise auf die Kirche, die sich in den 1960er Jahren hinsichtlich ihres Selbstverständnisses einem rapiden Wandel ausgesetzt sah.115 Als entschiedener Kritiker der Volkskirche trug er zu den Wandlungsprozessen dieser Zeit maßgeblich bei. Auch seine Kapitalismuskritik wirkte in sein neues Kirchenverständnis hinein, wenn er beispielsweise konstatierte: »Kirche ist Kommune«.116 Die Gemeinde als Avantgarde Christi habe sich von bisherigen Vorstellungen des Privateigentums zu verabschieden und ähnlich wie die urchristliche Gemeinde als Familie zusammenzuleben. »Wo bleibt […] euer Liebes-Kommunismus?«, fragte Gollwitzer.117 Nur durch die Befreiung vom Privateigentum könnte man in echter, solidarischer, dem Nächsten zugewandter Freiheit leben.118 Die kapitalistische Lebensweise wird bei ihm also in letzter Konsequenz zur Sünde, von der man sich abwenden müsse im befreienden Erlösungshandeln Christi. Linksprotestantische Stimmen wie die von Helmut Gollwitzer – die hier nur kurz angeschnitten werden konnten – waren keineswegs die zahlenmäßig stärksten, auch nicht in den 1960er Jahren. Sie waren aber lautstark, durchaus einflussreich und regten oftmals umfangreiche Debatten an.119 Auch wenn sie nicht dem Mainstream der evangelischen Theologie angehörten – neben Gollwitzer wäre Gollwitzer, Hic, S. 223. Vgl. ders., Die kapitalistische Revolution, München 1974, S. 95–121. Ebd., S. 121. Vgl. ders., Die reichen Christen und der arme Lazarus, München 21968, S. 52–73. Eine zum Teil noch drastischere Position vertrat Walter Kreck, Grundfragen der christlichen Ethik, München 31985, S. 225–277; vgl. Brunner, Christen, S. 261–263. 115 Vgl. Benedikt Brunner, Ostdeutsche Avantgarde? Der lange Abschied von der »Volkskirche« in Ost- und Westdeutschland (1945–1969), in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 10 (2016), S. 11–43; ders., Kirche für andere – Kirche für die Welt. Hunger und Armut als Katalysatoren des Wandels westdeutscher Kirchenkonzepte, in: Holzem (Hg.), Hunger, S. 255–273. 116 Helmut Gollwitzer, Vortrupp des Lebens, München 1975, S. 92. 117 Ebd., S. 95. 118 Vgl. Helmut Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Einführung in die Evangelische Theologie, München 1978, S. 175–194. 119 Vgl. Benedikt Brunner, Links und jugendbewegt. Walter Dirks, Helmut Gollwitzer und ihre vergangenheitspolitischen Programme, in: Eckart Conze / Susanne Rappe-Weber (Hg.), 111 112 113 114

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etwa noch auf Walter Kreck oder Jürgen Moltmann zu verweisen –, prägten sie die protestantischen Diskurse nicht unerheblich. Gerade Gollwitzer wirkte durch sein umfangreiches Netzwerk auch auf anderen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Feldern, die es aber zum Teil noch zu rekonstruieren gilt. Es ist nun eine typische Signatur des Protestantismus, dass sich in ihm eben beides finden lässt. Auf der einen Seite konstruktive Mitarbeiter und Mitdenker der Ausgestaltung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung wie der Sozialen Marktwirtschaft; zugleich auf der anderen Seite radikale Kritiker desselben Systems. Im Hintergrund steht dabei eine sich wandelnde protestantische Gesellschaftsdeutung, in die die Überzeugung, auf die gesellschaftlichen Entwicklungen wie auch die politisch-gesellschaftlichen Institutionen einwirken zu dürfen und gar zu müssen, im Sinne eines volkskirchlichen Selbstverständnisses eingeschrieben worden war. Hier zeigte sich in einer Nussschale das grundlegende Problem der deutschen evangelischen Kirchen in der Moderne: Gemeinschaft zu sein und immer neu zu konstatieren in einer zunehmend komplizierteren Gesellschaft. Dies erforderte in der Folgezeit immer ausgefeiltere sozialwissenschaftliche Analysen, die ihrerseits auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaftsordnung einzuwirken begannen.120

IV. Ausblick Protestantische Theologen und Intellektuelle beteiligten sich in erheblichem Maß an dem, was man mit Anselm Doering-Manteuffel als »Suchbewegungen nach Ordnung« bezeichnen kann.121 Mit ihren durchaus anschlussfähigen Theologumena besaß die evangelische Theologie Mittel, um zur Etablierung einer gerechten und zumindest christlich-grundierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beizutragen – und dies trotz einer vermeintlich fehlenden evangelischen Soziallehre.122 Um den Erfolg und die Tiefe des Einflusses bemessen zu können, wären nun in der Tat noch tiefergehende, historische Studien vonnöten.123 Das volkskirchliche Selbstverständnis des landeskirchlich organisierten Protestantismus, etwa im Hinblick auf ein gesamtgesellschaftliches Wächteramt der Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945, Göttingen 2018, S. 179–197. 120 Vgl. schon zeitgenössisch Arne Hollweg, Theologie und Empirie. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Sozialwissenschaften in den USA und Deutschland, Stuttgart 21971. 121 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Große Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 175–202. 122 Vgl. aber Heinz-Horst Schrey, Einführung in die evangelische Soziallehre, Darmstadt 1973. 123 Vgl. Werner Plumpe, Ökonomisches Denken und wirtschaftliche Entwicklung. Zum Zusammenhang von Wirtschaftsgeschichte und historischer Semantik der Ökonomie, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 50 (2009), S. 27–52.

ZWISCHEN KONSTRUKTIVEM BEITRAG UND FUNDAMENTALKRITIK

Kirchen, ließ für engagierte Protestantinnen und Protestanten eine Auseinandersetzung über die »richtige« Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft unabdingbar erscheinen. Ausgehend von diesem Selbstverständnis hat sich die Kirche nämlich allen Gesellschaftsschichten zu widmen, den Armen und den Reichen; sie muss in christlich vertretbarer Weise zu den unterschiedlichen wirtschaftsund sozialpolitischen Optionen Stellung beziehen. Wenig ist bislang bekannt, wie sich evangelische Theologinnen und Theologen in der DDR zu diesem Problemkomplex geäußert haben, also unter den doch genuin anderen Rahmenbedingungen in der ostdeutschen Diktatur.124 Äußerungen wie die des Ost-Berliner Professors für Ökumene, Gerhard Bassarak (1918–2008), der im Hinblick auf die Bodenreform radikale Obrigkeitstreuer der Bürger forderte, sind vermutlich nur besonders extreme Beispiele.125 Für ein ausgewogenes Bild sind aber noch weitere Forschungen erforderlich. Dies gilt umso mehr, als dass eine Geschichte der Deutungen der Sozialen Marktwirtschaft und mithin des Kapitalismus ohne den (ost- und westdeutschen) evangelischen Diskussions- und Gestaltungsbeitrag wohl unvollständig bliebe.

124 Vgl. aber Wolfgang Thumser, Kirche im Sozialismus. Geschichte, Bedeutung und Funk-

tion einer ekklesiologischen Formel, Tübingen 1996 sowie die neuere Arbeit von Veronika Albrecht-Birkner, Freiheit in Grenzen. Protestantismus in der DDR, Leipzig 2018. 125 Vgl. Gerhard Bassarak, Pflicht und Grenze des Gehorsams gegenüber atheistischer Obrigkeit, in: Stimme 12 (1960), Sp. 439–446.

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Markus Goldbeck

»UNREGIERBARKEIT« IM WOHLFAHRTSSTAAT Über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den 1970er Jahren

D

ie späten 1970er Jahre beschreibt Frank Bösch als eine »Zeitenwende« – und dies mit guten Gründen.1 Angesichts von Krisen und vielfältiger Umund Abbrüche verfestigte sich schon bei einem großen Teil der Zeitgenossen der Eindruck, am Ende einer Ära zu stehen. Die Schwere des Umbruchserlebens schlug sich in den 1970er und 1980er Jahren nicht zuletzt semantisch nieder, wie die Rede von der »Unregierbarkeit« beispielhaft zeigt.2 Wenn also der Spiegel im September 1977 titelte: »Regierung Schmidt ratlos«, dann resultierte die konstatierte Ratlosigkeit der deutschen Bundesregierung aus der mühsamen und scheinbar wenig erfolgreichen Suche nach einem probaten Konjunkturkonzept. Damit schien die Handlungsunfähigkeit des Staates gerade dann in Frage gestellt, wenn sie am meisten gebraucht wurde – konnte die Regierung also ihrer Verantwortung überhaupt noch nachgehen?3 Im selben Jahr problematisierten Geistes- und Sozialwissenschaftler das Konzept der »Regierbarkeit«, andere stellten schon in den Jahren zuvor besonders den Staat und seine Handlungsfähigkeit zur Diskussion.4 Weshalb wurde diese Frage aber ausgerechnet in den ausgehenden 1970er Jahren so vehement gestellt? Eine Grundüberlegung der folgenden Aus1 Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019. Zu den

1970er Jahren als Epochengrenze: Horst Möller, Die 1970er Jahre als zeithistorische Epochenschwelle, in: Bernhard Gotto u. a. (Hg.), Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und Frankreich in den 1960er Jahren, München 2013, S. 1–11. 2 Deutlich wird das zeitgenössische Bewusstsein, am Ende einer Ära zu stehen etwa im Terminus der »Trente Glorieuses«, den der französische Ökonom Jean Fourastié bereits 1979 prägte. Siehe: Ders., Les Trente Glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979. 3 Titelblatt, Der Spiegel, 5.9.1977. 4 Wilhelm Hennis u. a. (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd. 1, Stuttgart 1977; Michael Greven Th. u. a. (Hg.), Krise des Staates? Zur Funktionsbestimmung des

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führungen ist, dass die damaligen »Unregierbarkeits«-Debatten – also der vermeintlichen Unfähigkeit des Staates, seine Aufgaben zu erfüllen – wesentlich die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft thematisierten. »Unregierbarkeit« repräsentierte dabei einerseits einen wahrgenommenen Kontrollverlust und war insofern Ausdruck (staatlicher) Hilflosigkeit, gleichzeitig fungierte die Vokabel aber auch als Drohkulisse und Kampfbegriff, mittels derer neue Vorstellungen von Ordnung durchgesetzt werden sollten. Zumindest retrospektiv scheint es so, dass sich die Vokabel in recht kurzer Zeit großer Beliebtheit bei Wissenschaftlern, Journalisten, Publizisten und Politikern erfreute. Wie es derartigen ›Modevokabeln‹ eigen ist, implizierte eine breite Verwendung keineswegs eine einheitliche Bedeutungszuschreibung oder gar, dass die Mehrheit der Zeitgenossen überhaupt Anzeichen von »Unregierbarkeit« wahrgenommen hätte. Über »Unregierbarkeit« wurde in verschiedensten Zusammenhängen diskutiert, die sich nachfolgend nur kursorisch streifen lassen. Diese politischen, wissenschaftlichen oder journalistischen Thematisierungsversuche werden als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Verarbeitungsstrategie angesichts von überwunden geglaubten Krisen und Strukturbrüchen interpretiert, deren genaue Funktion aber zu eruieren ist.5 Ausgangspunkt dieser fragmentarischen Spurensuche bildet (I.) eine kurze Bestandsaufnahme in Presse und (II.) Politik der 1970er Jahre. Anschließend gilt es (III.) die (sozial)wissenschaftlichen Reflektionen einzubeziehen und letztlich (IV.) am Beispiel US-amerikanischer Debatten einen kurzen internationalen Seitenblick auf das Thema zu wagen.

I.

»Unregierbarkeit« in deutschen Massenmedien

In der Presse fand der Terminus »Unregierbarkeit« in der Bundesrepublik Deutschland um das Jahr 1974 in verschiedenen Bereichen erstmals gehäufter Eingang in die öffentliche Debatte. Nach einem kursorischen Blick in größere Tageszeitungen wird klar, dass diese zwar schon seit den 1950er Jahren vereinzelt die Vokabel der »Unregierbarkeit« oder »unregierbar« verwendete, etwa im Zusammenhang mit knappen Mehrheitsverhältnissen im französischen Parlament der 1950er Jahre, innenpolitische Spannungen im Belgien der 1960er Jahre und ab den 1970er Jahren Schwierigkeiten bei den Regierungsbildungen in Dänemark, den Niederlanden, Italien oder Großbritannien.6 Doch mit der FokusStaates im Spätkapitalismus, Darmstadt/Neuwied 1975 und Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Der überforderte schwache Staat. Sind wir noch regierbar?, Freiburg u. a. 1975. 5 Ich knüpfe hier an die Forschungen zu Krisen an, die selbige als diskursive Konstruktion sehen. Vgl. Thomas Mergel (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a. M. 2011 und Carla Meyer u. a. (Hg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2012. 6 Beispielhaft hier nur an den Veröffentlichungen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachvollzogen: Vorverlegte Wahlen, FAZ, 29.09.1955, S. 2; Demokratie ohne Demoskopie,

»UNREGIERBARKEIT« IM WOHLFAHRTSSTAAT 153

sierung auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse stieg die Erwähnung der Vokabel in westdeutschen Presseerzeugnissen stark an, wobei die Bezeichnung »Unregierbarkeit« der 1970er Jahre genuin auf die Situation des Vereinigten Königreiches rekurrierte.7 Erste debattenbestimmende Eckpunkte in den medialen Thematisierungen von »Unregierbarkeit« der 1970er sind schnell genannt: 1975 überschrieb der Spiegel einen Artikel, der die Ursachen für die fortgesetzten Krisen »jenseits des Kanals« untersuchte, mit den Worten: »The Party is over«.8 Als wesentliche Ursache für viele Probleme und das Ende der »Party« – was sich in den unzähligen Krisenherden zeigte, mit denen die Regierung in London befasst war – identifizierte das Nachrichtenmagazin für das Vereinigte Königreich die Gewerkschaften. Deren Zersplitterung sorge dafür, dass sich Unternehmen mit einer Vielzahl an organisierten Gruppen auseinanderzusetzen hätten. In Verbindung mit überzogenen Lohnforderungen, die die Inflation anheizten, und der Ablehnung neuer Technologien, um Arbeitsplätze selbst auf Kosten der Produktivität zu schützen, führe dies zu einer faktischen »Unregierbarkeit« der britischen Wirtschaft. Als dahinterliegendes Hauptproblem erschien aber – so zitierte der Spiegel die Zeitung The Times –, dass die englische Gesellschaft »den Willen verloren hat, durch allgemein akzeptierte und gerechte Regeln zum gegenseitigen Vorteil miteinander zu leben.«9 Offenkundig wurde »Unregierbarkeit« – zumindest mit Blick auf die wirtschaftliche Dimension – als das Ergebnis einer als unzuFAZ, 25.05.1965, S. 2; Sozialdemokratische Minderheitsregierung auch für Dänemark?, FAZ, 23.09.1971, S. 4; Schwierige Regierungsbildung nach den Wahlen in Holland, FAZ, 01.12.1972, S. 3; Schwere Wahl in Italien, FAZ, 03.05.1972, S. 1. Ähnliche Artikel lassen sich auch in anderen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen finden. 7 Etwa: Biedenkopf: Klassenkampf zerstört die Demokratie, FAZ, 29.03.1974, S. 3 und vor allem: Kühn warnt vor »Unregierbarkeit«, FAZ, 09.12.1974, S. 1. »Selten« meint in dem Fall, wie häufig die Stichworte durchschnittlich auftauchten. Im Spiegel finden sich diese durchschnittlich in etwa jeder Fünften, in der FAZ in etwas mehr als jeder Achten Ausgabe, wobei die Häufigkeit je nach Zeitraum schwankte. Für die FAZ und den Spiegel wurden Volltextsuchen für den Zeitraum 1.1.1970 bis 31.12.1989 mit den Lemmata »Unregierbarkeit«, »unregierbar«, Regierbarkeit« und »regierbar« durchgeführt. Im genannten Zeitraum tauchen diese Lemmata in der FAZ 789- und im Spiegel 214-mal auf. Rund 7 Prozent der Ergebnisse lagen für beide Publikationen zwischen dem 1.1.1970 und dem 31.12.1974, 27 Prozent (FAZ) bzw. 26 Prozent (Spiegel) zwischen dem 1.1.1975 und dem 31.12.1979, 36 Prozent (FAZ) bzw. 38 Prozent (Spiegel) zwischen dem 1.1.1980 und dem 31.12.1985 und 30 Prozent (FAZ) bzw. 29 Prozent (Spiegel) zwischen dem 1.1.1985 und dem 31.12.1989. Über den ganzen Zeitraum gesehen war der Anteil der Lemmata jeweils wie folgt: »unregierbar« 41 Prozent (FAZ) bzw. 48 Prozent (Spiegel), »Unregierbarkeit« 26 Prozent (FAZ) bzw. 24 Prozent (Spiegel), »regierbar« 18 Prozent (FAZ) bzw. 19 Prozent (Spiegel) und »Regierbarkeit« 15 Prozent (FAZ) bzw. 9 Prozent (Spiegel). Alle Prozentangaben wurden gerundet. Recht häufig werden Länder wie Frankreich oder Italien als »unregierbar« bezeichnet (vor allem rund um Wahlen), ohne dass dies konzeptionell eine Verbindung zur »Unregierbarkeitsdebatte« hatte. Für die 1980er Jahre rückte Südafrika häufiger in den Mittelpunkt. Teil der ›eigentlichen‹ Unregierbarkeitsdiskussion waren dagegen viele Berichte über Großbritannien. 8 »The party is over«, Der Spiegel, 9.6.1975, S. 86–94. 9 Ebd., S. 86. Vgl. hierfür auch den Beitrag von Almuth Ebke in diesem Band.

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reichend wahrgenommenen Gemeinwohlorientierung aufgefasst. Das Gleichgewicht zwischen Partialinteressen (hier der Gewerkschaften) und den Interessen des Gesamtstaates war offenkundig gestört. So ungünstig dies für Großbritannien zu sein schien, so war andererseits auch klar, dass der Fall jedes Landes anders lag, man also schwer von »der« »Unregierbarkeit« reden konnte. In der Bundesrepublik identifizierte Der Spiegel beispielsweise ähnliche Probleme wie in England, wenn auch nicht im selben Ausmaß. So sah Rudolf Augstein die Gewerkschaften auch hier als einen Faktor, der mit ambivalenten Forderungen nicht zur Entspannung der Krisen beitragen würde. Arbeitnehmervertretungen würden sich einerseits für die Bekämpfung von Krisensymptomen wie der Arbeitslosigkeit einsetzen, andererseits aber möglichst viel beim Altgewohnten belassen wollen. Damit trügen sie potentiell auch in der Bundesrepublik zu einer Blockade bei. »Unregierbarkeit« drohe dort allerdings, so Augsteins weitergehende Schlussfolgerung, eher aufgrund der »Unregierbarkeit« wichtiger Partner – mithin handelte es sich gewissermaßen um eine »Unregierbarkeit« zweiter Ordnung. Die Furcht vor einem Verlust an Steuerungsfähigkeit traf hier auf ein Unbehagen angesichts einer fortschreitenden Europäisierung und Globalisierung. Augstein deutet indes noch einen dritten Punkt an, indem er darauf verwies, dass »Unregierbarkeit« ohnehin »nur ein Kennwort« sei. Dieses »Kennwort« bleibe abstrakt, da man »Unregierbarkeit« »nicht amtlich feststellen« könne und dies habe wiederum zur Folge, dass »irgendwie […] immer weitergewurstelt« werde.10 Diese Beobachtung hat zweierlei Implikationen: Erstens verweist sie auf den Schlagwortcharakter von »Unregierbarkeit«, dass diese Vokabel also als Chiffre genutzt wurde, um die Schwierigkeit politischen Handelns in einer komplexer werdenden Welt illustrieren zu können. Zweitens hängt »Unregierbarkeit« stark von den jeweiligen Erwartungen ab, die an den Staat gestellt werden. Damit ist klar, dass es sich bei der Debatte wesentlich um einen sozial konstruierten Erwartungshorizont handelte.

II. »Unregierbarkeit« als Thema im deutschen Bundestag Mit den genannten Beobachtungen wurden ebenso typische, wenn auch recht grobe Fluchtlinien benannt, was zumindest eine massenmediale (Teil-)Öffentlichkeit unter »Unregierbarkeit« verstand. Daran schließt sich die Frage an, wie sich die Protagonisten des Regierens eigentlich dazu verhielten – immerhin mussten Politiker ja als Hauptprotagonisten der »Unregierbarkeit« gelten. Die Plenarprotokolle des Deutschen Bundetages belegen, dass die Vokabel »unregierbar« oder »Unregierbarkeit« ebenfalls ab 1974 auftauchte. Gleichzeitig belegen diese aber eine vergleichsweise seltene Anwendung der Vokabel und einen völlig an10 Geht nun gar nichts mehr?, Der Spiegel, 25.10.1976, S. 26.

»UNREGIERBARKEIT« IM WOHLFAHRTSSTAAT 155

deren Gebrauch derselben.11 So wurde die Frage der »Unregierbarkeit« etwa wesentlich zu einem Argument in der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Recht bekannt wurde der Fall des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn, der auf dem nordrhein-westfälischen SPD-Wahlparteitag 1976 warnte, »die Bundesrepublik [könnte] unregierbar werden […], wenn ihre Regierung in die Hände der Konservativen geraten würde, die das Rad der Geschichte rückwärts drehen möchten«, und die Bundesrepublik könnte »leicht in die Labilität Frankreichs und Italiens absinken […], wenn die Sozialdemokraten nicht mehr an der Regierung beteiligt sein werden.«12 Trotz erheblicher Kritik verteidigte Kühn seine These und erweiterte sie sogar, indem er eine »Radikalisierung der SPD« für möglich erklärte und allgemein die Polarisierung des politischen Kräftefeldes als Gefahr für die Regierbarkeit interpretierte.13 Sowohl Kühn als auch die öffentliche Rezeption nahmen die Rede von der »Unregierbarkeit« vor allem als strategisches Kalkül im Rahmen des Wahlkampfes vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 1975 und der Bundestagswahl 1976 wahr, denn weder Kühn noch die journalistischen Beobachter wollten oder vermochten zu sagen, worin die vermeintliche »Unregierbarkeit« bestehen würde. Einziger Zweck der Aussagen war nach Meinung einiger Beobachter, Wählerinnen und Wähler zu verunsichern und eine Machtübernahme durch die Opposition zu verhindern.14 Derartige Versuche, die Opposition zu diskreditieren, waren nicht neu, wie schon die Zeitgenossen mit Verweisen auf Adenauers Kampagne gegen die SPD von 1957 (»Untergang Deutschlands«) bemerkten.15 Es sollte auch nicht die letzte Kampagne sein, bei der die Warnung vor »Unregierbarkeit« Verwendung fand, erinnert sei hier nur an die politischen Debatten 1982 nach dem Fall der sozialliberalen Koalition: Wenige Tage nach dem Sturz Helmut Schmidts griff der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, Alfred Dregger, die Wendung von der »Unregierbarkeit« auf, indem er – an Helmut Schmidt gerichtet – formulierte, dass durch die jüngsten Ereignisse »Deutschland nicht unregierbar«, 11 Insgesamt lassen sich zwischen 1970 und 1990 kaum zwei Dutzend Plenarsitzungen ausma-

chen, in denen »Unregierbarkeit« im engeren Sinne thematisiert wurde – und wenn, dann teils nur in einem Nebensatz eines Redners. 12 Kühn warnt vor »Unregierbarkeit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.12.1974, S. 1. Die erste Thematisierung durch den Oppositionsführer im Bundestag, Karl Carstens: Redebeitrag von Karl Carstens, in: Plenarprotokolle des deutschen Bundestages [nachfolgend BT-PlPr] 7/135, S. 9263A-B. 13 Kühn hält Radikalisierung der SPD für möglich, FAZ, 17.12.1974, S. 4 und Kühn wiederholt seine These von der »Unregierbarkeit, in FAZ, 11.01.1975, S. 1. 14 Warum eigentlich unregierbar?, FAZ, 14.01.1975, S. 1; Nach uns das Verderben?, FAZ, 01.02.1975, S. 1. Der Herausgeber des Blattes Ullrich Fack führte zur Frage der »Unregierbarkeit« aus: »Im Grunde ist es für die Einsichtsfähigen unwürdig, das Argument der ›Unregierbarkeit‹ überhaupt zu diskutieren. Aber es ist leider keine Behauptung einfältig genug, als daß bei ständiger Wiederholung nicht doch etwas hängenbliebe, zumal wenn Angstgefühle und daraus genährte Psychosen eine Rolle spielen.« Nach uns das Verderben?, FAZ, 01.02.1975, S. 1. 15 Nach uns das Verderben?, FAZ, 01.02.1975, S. 1.

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sondern »endlich wieder regierbar« geworden sei, um dann zum Angriff auf die im Aufwind begriffenen Grünen überzugehen.16 Auch Hans-Dietrich Genscher bemühte die Vokabel der »Unregierbarkeit«, als er anlässlich der Vertrauensfrage vom 17. Dezember 1982 die Wähler vor die Wahl stellte, »zu entscheiden zwischen der Koalition der Mitte und der Unregierbarkeit unseres Landes.«17 Auch wenn der Ausdruck im Bundestag meistenteils instrumentalisiert wurde, gab es zumindest auf konservativer Seite noch zwei andere Verwendungen. So mahnte Franz Josef Strauß (CSU) 1977 an, dass der liberale Staat ein starker Staat sein müsse, da er sonst »im Laufe der Zeit unregierbar« werde. Dafür bedürfe es der Durchsetzungsfähigkeit des politischen Personals. Dies war einerseits ein Seitenhieb gegen Bundeskanzler Schmidt, rekurrierte aber auch auf ein bestimmtes Politikerbild. Diese müssten nämlich nicht Lösungen für konkrete wirtschaftliche Probleme wie »Arbeitslosigkeit, Wachstum und Stabilität« finden, sondern auch die innere und äußere Sicherheit garantieren und mit »antidemokratischen Kräften« fertigwerden – gemeint waren mit Letzterem die Anti-AKW-Proteste im niedersächsischen Grohnde im März 1977. Strauß sah eine Ursache für Unregierbarkeit also im veränderten Selbstverständnis eines diskursorientierten demokratischen Staates und analog dazu bei den entsprechenden Personen, die den Staat repräsentierten.18 Eine zweite Ursache für die »zunehmende Unregierbarkeit einzelner Länder« verortete Strauß aber in der »Anspruchsinflation der modernen Industriegesellschaft«.19 Dies zielte vor allem auf den Wohlfahrtsstaat, der, so die Implikation, bei den Bürgern immer größere Erwartungen schüre. Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses des Bundestages, Rainer Barzel, sah dies ähnlich, wollte Vokabeln wie »Unregierbarkeit« aber nicht gelten lassen. Politiker hätten »die Anspruchsinflation nicht nur laufen lassen, sondern sie beflügelt«, insofern sei die westeuropäische »Krise der Wirtschaft […] in Wahrheit eine Folge der Krise der Politik« und »Unregierbarkeit« eher eine Ausrede Regierungsverantwortlicher.20 Gleichwohl: Die Frage der mutmaßlichen Inflation von Ansprüchen, die der Staat irgendwann außerstande zu befriedigen sei, berührte einerseits das Selbstverständnis des Staates – was sollte seine Hauptfunktion sein? – und andererseits das Verhältnis von Staat und Bürger.

16 Redebeitrag von Alfred Dregger, BT-PlPr 9/121, S. 7246A–B. 17 Redebeitrag von Hans-Dietrich Genscher, BT-PlPr 9/141, S. 8952C–D. Explizit gegen die

Grünen gerichtet war unter anderem auch der Redebeitrag von Werner Broll, BT-PlPr 10/3, S. 39C. 18 Redebeiträge von Franz Josef Strauß, BT-PlPr 8/21, S. 1277BC und BT-PlPr 8/26, S. 1830C. 19 Ebd. Strauß warf Schmidt mehrfach Führungsschwäche und mangelndes Verantwortungsbewusstsein vor. Siehe neben den genannten auch: Redebeitrag von Franz Josef Strauß, BTPlPr 8/104, S. 8183B. 20 Redebeiträge von Rainer Barzel, BT-PlPr 8/46, S. 3517B und BT-PlPr 8/191, S. 15083 besonders die Abschnitte C und D.

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III. »Unregierbarkeit« als Gegenstand der Sozialwissenschaften Das Epizentrum der Beschäftigung mit »Unregierbarkeit« war allerdings weder die Politik noch waren es die Massenmedien. Folgt man der These Gabriele Metzlers, wonach die »Unregierbarkeitsdebatte« ein »Oberflächenphänomen« gewesen sei, in dem »weitaus tiefgreifendere Veränderungsprozesse zum Ausdruck kamen«, lenkt dies den Blick auf den Ort, der sich der Analyse derartiger Prozesse verpflichtet sah und an dem die Debatte intensiv geführt wurde: die Sozialwissenschaften.21 Dass der Begriff rasch aus den »kleinen Zirkeln akademischer Kontroversen« heraustrat und den Weg in eine breite Öffentlichkeit fand und dort zu einem bedeutsamen Schlagwort werden konnte, lag wesentlich an öffentlichkeitswirksamen Studien wie »The Limits to Growth«22, die potentielle oder tatsächliche Probleme auf Grundlage einer bereits bestehenden Ernüchterung und angesichts der Ölpreiskrisen 1973 und 1979 sowie der damit einhergehenden schweren Rezession, Streikwellen, politischen Krisen und staatlicher Hilflosigkeit prominent machten.23 Die Verwendung des Begriffes »Unregierbarkeit« kreiste dabei um die immer schwierigere Beherrschbarkeit einer zunehmend als komplex wahrgenommenen, globalisierten Welt, mit immer stärker auseinanderdriftenden Partialinteressen, wie sie nicht nur unter dem Schlagwort der »Unregierbarkeit«, sondern auch in Studien wie jene zu den »Grenzen des Wachstums« angesprochen wurden. Diese Arbeiten waren damit ebenso Ausdruck des Krisenerlebens und der Erfahrung struktureller Umbrüche, wie auch Promotoren dieses Empfindens. Die Ambivalenz der sozialwissenschaftlichen Analyse verdient daher eine differenzierte Betrachtung: Zunächst darf man vor dem Hintergrund der These über die »Verwissenschaftlichung des Sozialen«, die nach Lutz Raphael während der 1970er Jahre in eine Phase der Desillusionierung eintrat, annehmen, dass es den Expertinnen und Experten, die die These der »Unregierbarkeit« vorantrieben, dies einerseits im Wissen um ihre Bedeutung taten, andererseits aber auch, um mit griffigen Thesen das Interesse an der eigenen Forschung aufrechtzuerhalten.24 Darüber hinaus waren die 1950er und 1970er Jahre eine Zeit der politischen Polarisierung, die trotz aller Objektivitätspostulate auch an den Wissenschaftlerinnen und Wis21 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 404. Siehe auch dies., Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 243–260. 22 Dennis L. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972. 23 Vgl. Metzler, Konzeptionen, S. 404 f. So auch Claus Offe, Ungovernability, in: Stephan A. Jansen u. a. (Hg.), Fragile Stabilität – stabile Fragilität, Wiesbaden 2013, S. 77–87, hier S. 79 f. 24 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 2, S. 165–193, hier S. 178 f.

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senschaftlern nicht folgenlos vorübergehen konnten. Gerade die »Unregierbarkeits«- Debatte galt – wenigstens in der Bundesrepublik – auch als »Ausdruck konservativen Unbehagens an den linken Theoriedebatten wie den innenpolitischen Konflikten jener Zeit«.25 Nachdem vor allem in den 1960er Jahren »linke« Ideen den Ton angegeben hatten, formierte sich spätestens in den 1970er Jahren auf konservativer Seite der Anspruch, im öffentlichen Diskurs Terrain zurückzugewinnen.26 Mit dem Schlagwort der »Unregierbarkeit« wurde von konservativer Seite mindestens dreierlei adressiert: Erstens zielte das Schlagwort auf die strukturelle Stellung der Gewerkschaften, die durch ihre Verhandlungsmacht in den 1970er Jahren als eine der wichtigsten Quellen von Unregierbarkeit galten. Zweitens galt Inflation als Ursache für »Unregierbarkeit«, da deren Bekämpfung nach damals herrschender Meinung notwendig zu einer höheren Arbeitslosigkeit führe und damit die Chancen einer Regierung auf eine Wiederwahl schmälere, weshalb diese eine eher hohe Inflationsrate hinnähme – auch hier wurden aufgrund hoher Tarifabschlüsse mittelbar die Gewerkschaften verantwortlich gemacht. Entscheidend waren in der Perspektive der »Unregierbarkeits«-Verfechter aber drittens die »Anspruchsinflation von Transferempfängern und Gewerkschaften« sowie die »Überdehnung demokratischer Partizipation«, die zur Überforderung des Staates führe.27 Die Krisenphänomene und ihre offenbar nicht beherrschbaren Folgen resultierten aus dieser Perspektive nicht primär aus dem Versagen der Regierenden, sondern waren Folge eines Strukturproblems. Verschiedene Geistes- und Sozialwissenschaftler wie der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz suchten diese strukturelle Komponente näher zu bestimmen: »Unregierbarkeit« resultiere aus der »Unfähigkeit der politischen Institutionen, das Funktionieren der Leistungssysteme der Industriegesellschaft zu gewährleisten«, »Gesetz und Ordnung zu erhalten« und schließlich »ein Minimum an politischem Konsens herzustellen«.28 Betont wurde aber auch, dass allein eine »Krise« oder auch »Schwäche« des Staates nicht als »Unregierbarkeit« diagnostiziert werden könne, denn entscheidend sei, ob der Staat »Herr der Be25 Metzler, Konzeptionen, S. 404. 26 Zur Persistenz konservativen Denkens vgl. Massimiliano Livi / Daniel Schmidt / Michael

Sturm (Hg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt a. M. 2010. Auch für Großbritannien lassen sich Anhaltspunkte für eine politisch polarisierte Auseinandersetzung finden, schaut man auf Titel wie diesen: R. Emmett Tyrrell (Hg.), The Future that doesn’t Work. Social Democracy’s Failures in Britain, Garden City, N. Y. 1977. 27 Ich beziehe mich hier auf die Ausführungen von Armin Schäfer, Krisentheorien der Demokratie. Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Postdemokratie, in: der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management (dms) 2 (2009), 1, S. 159–183, hier S. 160–163, Zitat S. 160. 28 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Das europäische Konzert der gelähmten Leviathane. Variationen zum Thema Unregierbarkeit und Außenpolitik, in: Hennis u. a., Regierbarkeit, S. 296–312, hier S. 299 und Theodor Schieder, Einmaligkeit oder Wiederkehr. Historische Dimensionen der heutigen Krise, in: Ebd., S. 22–42, S. 41.

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dingungen« sei, die das Regieren bestimmen«.29 Zu den nicht kontrollierbaren Rahmenbedingungen zählte für konservative Beobachter etwa der Verlust der Religion und der Verbindlichkeit von Ordnungsvorstellungen sowie generell die »Zerstörung aller Transzendenz und damit verbunden der Kategorie des unverfügbaren Schicksals«, was die Grundlage für ein Zeitalter der Machbarkeit bilde, an dem der Staat nun zu scheitern drohe.30 Darüber hinaus galt auch Demokratie und Demokratisierung in verschiedener Hinsicht als Problem. So sei die Notwendigkeit der Kompromissfindung eine inhärente Schwäche etablierter »Vielparteiensysteme«, da so selbst die Verfolgung mittelfristiger Konzepte schwierig sei, wobei die zu beobachtenden Blockaden Ergebnis einer »dysfunktionalen Verfassungsordnung« oder eines »unzweckmäßigen Wahlsystems« seien. Außerdem seien vor allem »Demokratisierungsprozesse« problematisch, da diese beispielsweise »vertikale Autoritätsstrukturen« in der Verwaltung auflösen oder zumindest verflachen würden.31 Das Postulat der »Unregierbarkeit« war ausgehend von diesen Problemskizzen eher Ausdruck einer Sinn- und Struktur- als eine Funktionskrise des Staates. Neben strukturellen Ursachen betonten nämlich auch die wissenschaftlichen Beobachter die Bedeutung der sozialen Veränderungen der 1960er Jahre in Verbindung mit inadäquaten politischen Strukturen als eine Ursache für »Unregierbarkeit«.32 Legitimitätsprobleme habe der Staat aber auch deshalb, weil er sich einerseits der Erwartung einer erhöhten und dabei »beständig erneuerten Überzeugungsund Motivationsleistung« gegenübersehe, vermöge diese Erwartungen jedoch immer weniger zu erfüllen.33 Die Verschränkung von Legitimität und Effektivität habe dazu geführt, dass das »Bild des modernen Staates durch die leistende, aktiv regulierende Intervention geprägt« sei, der Staat aber, wenn er überall eingreife, auch überall Ergebnisse vorweisen müsse. Diese Entgrenzung des Staates führe dazu, dass er gesellschaftlichen Ansprüchen ungeschützt ausgesetzt sei. In Kombination mit der Divergenz von Interessen gehe der normative Grundkonsens in der Gesellschaft verloren und Politik drohe »sich entweder in ein unstrukturiertes Chaos von Ansprüchen aufzulösen oder aber sie greift zum Mittel der Diktatur des Zwangsstaates.«34 Die Frage der Abbildung von Diversität begegnete dabei nicht nur in der Form abstrakter Konsensvorstellungen, sondern wurde gerade bei der Einbindung von Verbänden und ähnlichen Interessengruppen deutlich. Der Historiker Theodor Schieder etwa interpretierte die wachsende Rolle von 29 Wilhelm Hennis, Zur Begründung der Fragestellung, in: Ebd., S. 9–21, hier S. 13. 30 Vgl. Hennis, Begründung, S. 18 f., Zitat S. 18. 31 Schwarz, Das europäische Konzert, S. 296–298. Zur Rolle von Parteien siehe auch Wilhelm

Hennis, Parteienstruktur und Regierbarkeit, in: Ders. u. a., Regierbarkeit, S. 150–195. 32 Schieder, Einmaligkeit, S. 31, 34 f. und 40. Zitate 34 f. 33 Ebd., S. 11. 34 Ebd., S. 13 f., 39–41 und 44 f. Ausführlicher zum Zusammenhang von Legitimität und Effektivität Ebd., S. 18–21.

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Verbänden als »Form politischer Desintegration«, bei der es zu einer Verlagerung von politischer Entscheidungsmacht auf außerkonstitutionelle Akteure komme, wodurch die Handlungsfähigkeit von Regierungen eingeschränkt würde.35 Das Wirken von Interessengruppen oder Machtgruppen – gemeint waren aus konservativer Perspektive in erster Linie Gewerkschaften – wurde dabei von manchen a priori als »gesellschaftlich destruktiv« verstanden.36 Dies wiederum wurde verknüpft mit einer Kritik des Wohlfahrtsstaats, denn gerade er sei es, der bei den Interessengruppen immer höhere Erwartungen evoziere und sich dabei verletzlich mache. Denn: »Wenn alles Versagen im Leistungs- und Lebensqualitätsbereich dem Staat zugerechnet werden kann, wenn aus jeder wirtschaftlichen Rezession eine Staats- und Verfassungskrise werden kann, […] dann steht der Koloß der modernen Staatlichkeit auf tönernen Füßen.«37

Diese Sammlung an Ursachen und Ausdrucksformen von »Unregierbarkeit« zeigt vor allem, dass hinter dem Postulat der »Unregierbarkeit« eine Sinn- und eine tiefgreifende Legitimitätsfrage stand – gekoppelt mit Problemen struktureller (wie etwa Parlamentarismus; Wohlfahrtsstaat38), aber auch globaler Natur. Dass »Unregierbarkeit« als Projektionsfläche akuter Problemlagen herangezogen wurde und sich dabei verschiedene Ebenen von Problemwahrnehmungen überlagerten, exemplifizieren nicht nur die oben vorgelegten Überlegungen, sondern auch die Debatten um »Unregierbarkeit« einer bundesrepublikanisch wichtigen Referenzgesellschaft, den USA.

IV. »Ungovernability« und »The Crisis of Democracy« – US-amerikanische Wurzeln eines Schlagwortes Als sich deutsche Politikwissenschaftler Mitte der 1970er Jahre mit »Unregierbarkeit« zu befassen begannen, geschah dies wesentlich unter dem Eindruck einer amerikanischen Diskussion um »ungovernability«. In den USA zielte das Schlagwort aber von Beginn an nicht primär auf Probleme des Regierens, sondern diskutierte Demokratie als systemisches Problem, wie ein zentraler Artikel James Restons und die wohl bekannteste Publikation zu dem Thema, der Bericht der Trilateral Commission von 1975, deutlich machen.

35 Schieder, Einmaligkeit, S. 35. 36 Schwarz, Das europäische Konzert, S. 297 f. 37 Hennis, Begründung. S. 12, Zitat S. 17. So auch Kurt Eichenberger, Der geforderte Staat. Zur

Problematik der Staatsaufgaben, in: Ebd., S. 103–117. 38 Hans Dieter Schoen, Vor der Unregierbarkeit des Versorgungsstaates, in: Monatsblätter für

freiheitliche Wirtschaftspolitik 24 (1978), 4, S. 280–287.

»UNREGIERBARKEIT« IM WOHLFAHRTSSTAAT 161

Der Pulitzerpreisträger James Reston nahm die Unterhauswahl in Großbritannien vom Februar 1974, die in einem Patt endete, zum Anlass, um am 3. März 1974 in seiner Kolumne in der New York Times unter dem Titel »The Crisis of Democracy« den Verlust von Stabilität und Vertrauen in demokratische Systeme zu konstatieren, was er mit weiteren Beispielen untermauerte, etwa dem der USA, in der aufgrund der »Watergate-Affäre« der Präsident kaum noch Rückhalt besitze, aber auch mit weiteren Beispielen aus Europa, wo es außer den autoritären Regimen nur Länder gebe, die durch Koalitionen regiert würden – für Reston offenbar ein Zeichen für Instabilität.39 Verantwortlich sei dafür aber mitnichten fehlende Kompetenz der politisch Verantwortlichen, sondern der Umstand, dass die Probleme, mit denen die Entscheider zu tun hätten, jenseits ihrer Einflussmöglichkeiten lägen. Stichworte waren hier die Lebensmittel- und Ölpreise sowie die steigenden Erwartungen der Bürger. Eine ähnliche Analyse unternahm im folgenden Jahr der Bericht der Trilateralen Kommission. Der Think Tank analysierte unter dem Titel »The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies« die Ursachen für die wahrgenommenen Verwerfungen der 1970er Jahre für Europa, Nordamerika und Japan.40 Michel Croizier konstatierte für beinahe ganz Europa eine Überlastung des Systems der Entscheidungsfindung, Lasten der Bürokratie und bürgerliche Unverantwortlichkeit und machte dafür eine Mischung aus sozialen (Zunahme sozialer Beziehungen), ökonomischen (Wachstum, Inflation) und kulturellen Ursachen (Kollaps traditioneller Institutionen, Aufruhr der intellektuellen Welt und die Massenmedien) verantwortlich.41 Für seinen Co-Autoren, den Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington, standen vor allem die Ausweitung der Regierungsaktivitäten einerseits und deren Effekte andererseits in keinem positiven Verhältnis mehr. Damit verbunden sei auch ein massiver Vertrauensverlust der Bürger in die Regierung und – sowohl unabhängig wie auch als Folge davon – deren Autoritätsverlust. Dieser Verlust an Autorität resultiere aber nicht nur aus unzulänglichen Ergebnissen des Regierungshandelns, vielmehr sei er ein Produkt des »democratic surge of the 1960s«, in dessen Folge es zu mehr Polarisierung, mehr Misstrauen und letztlich zu »Unregierbarkeit« gekommen wäre.42 Neben der Frage, wie viel Staat eine Gesellschaft braucht, waren damit Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse 39 James Reston, The Crisis of Democracy, in: New York Times vom 3. März 1974. Dass gerade Koalitionen für Reston als instabil gelten, ist wahrscheinlich auf dessen angelsächsischen Erfahrungshintergrund zurückzuführen. Aufgrund des gängigen Mehrheitswahlrechts sind Koalitionen dort eher die Ausnahme. 40 Michel J. Crozier u. a., The Crisis of Democracy. Report of the Governability of Democracies of the Trilateral Commission, New York 1975. 41 Michel J. Crozier, Western Europe, in: Ders. u. a., The Crisis of Democracy, S. 11–57. 42 Samuel P. Huntington, The United States, in: Crozier u. a., The Crisis of Democracy, S. 58– 118, besonders S. 74–102, Zitat S. 74. Auf Huntingtons Demokratiekritik bezog sich auch die deutsche Diskussion, etwa Peter Graf Kielmansegg, Demokratieprinzip und Regierbarkeit, in: Hennis u. a., Regierbarkeit, S. 118–133, hier S. 127.

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seit den 1960er Jahren angesprochen. Huntington und Reston knüpften dabei an eine langanhaltende Debatte an. Die früheste Verwendung des Begriffs »ungovernability« im oben genannten Sinn scheint für das Jahr 1971 verbürgt.43 Auf der Jahrestagung der Pacific Northwest Political Science Association (PNPSA) vom 30. April bis zum 1. Mai 1971 in Tacoma (Washington) referierte deren Präsident Robert Y. Fluno im Rahmen eines Arbeitsessens über »The Floundering Leviathan. Pluralism in an Age of Ungovernability«.44 Obgleich die Tagung einer kleinen Fachgesellschaft nicht eben als repräsentativ für die gesamte Debatte angesehen werden kann, soll diese Rede kurz in den Mittelpunkt rücken, weil sie einen exemplarischen Einblick in die Wahrnehmung der Politikwissenschaft der frühen 1970er Jahre erlaubt und außerdem wichtige Fluchtpunkte der Debatte aufzeigt. Fluno adressierte die Entwicklung der politikwissenschaftlichen so wie der öffentlichen Debatte über den Zustand des politischen Systems vor allem der Vereinigten Staaten, aber auch darüber hinaus. Die »crisis of ungovernability« resultiere aus großen, aber ungleichmäßigen gesellschaftlichen Veränderungen durch stark wachsenden Wohlstand und rapiden technologischen Wandel – mit beiden Phänomenen hätten etablierte gesellschaftliche Mechanismen, und damit nicht zuletzt die Regierung, nicht mithalten können, da diese übertriebene Erwartungen schürten.45 Als entscheidenden Punkt bezeichnete Fluno, dass sich die Erwartungen immer weiter ausdifferenzieren würden und vor allem dieser Pluralismus als Bedrohung wahrgenommen würde. Einige Beobachter würden eher auf »organisierten Interessen« als Hauptbedrohung für neue liberale Gesellschaftsordnung abheben, andere in vielfältigen Interessengruppen ein Hindernis für eine »more effective executive« sehen. Vor allem Letzteres verortete Fluno in der Tradition einer in den Vereinigten Staaten bereits länger schwelenden Debatte.46 Die Frage der Zentralisierung von Strukturen und Prozessen und die Planungsbefugnisse der Regierung assoziierte er konkret mit Veröffentlichungen von Theodore J. Lowi aus dem Jahr 1969 und von Walter Lippmann aus dem Jahr 1955.47 43 Offe, Ungovernability, S. 79. 44 Robert Y. Fluno, The Floundering Leviathan. Pluralism in an age of Ungovernability, in:

The Western Political Quarterly 24 (1971), 3, S. 560–566. Zur Tagesordnung: Lowell W. Culver, Minutes of the Annual Meeting of the Pacific Northwest Political Science Association, in: Ebd., S. 585–588. 45 Fluno, Floundering, S. 560–562. 46 Siehe dazu Anne M. Kornhauser, Debating the American State. Liberal Anxieties and the New Leviathan, 1930–1970, Philadelphia 2015. 47 Vgl. Fluno, Floundering, S. 562 f., Zitate S. 562. Als ein Beispiel für einen – nach Flunos Meinung unausgereiften und gewissermaßen parteiischen – Beschreibungsversuch des gesellschaftlichen Umbruchs benennt er das 1970 erschienene Buch »The Greening of America« von Charles A. Reich, der in den Umbrüchen der 1960er eine neue Form des Bewusstseins identifiziert hatte, die aber durch den Corporate-State bedroht werde. Vgl. Ders., The Greening of America. How the Youth Revolution is Trying to Make America Livable, New York 1970. Als Beispiel für ein Plädoyer für stärkere Institutionen nannte Fluno das Buch von Theodore J.

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Flunos Ausführungen machen zweierlei deutlich, nämlich dass die Frage der »Unregierbarkeit« in den USA vergleichsweise früh diskutiert wurde, wobei die meisten Argumente bereits vorhanden sind, die sich später auch in der deutschen Debatte finden lassen. Interessant an der amerikanischen Debatte ist, dass sie nicht auf die (Un-)Fähigkeit des Staates abhob, ökonomische Probleme zu lösen: Die Lage der Weltwirtschaft war 1971 zwar nicht uneingeschränkt gut, aber die schweren wirtschaftlichen Verwerfungen standen noch bevor. Bedeutsamer für den Politikwissenschaftler waren die vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er Jahre mit Demokratisierung und Pluralisierung, aber auch dem »Aufstand des Publikums« (Jürgen Gerhards). Der Bezug auf das Buch »The End of Liberalism« von Theodore J. Lowi verweist auch auf eine strukturelle Debatte über die grundsätzliche Ausrichtung des Staates, wie sie in den USA seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und besonders seit den 1930er Jahren immer wieder geführt wurde: Was war der Kern des Staates, wie genau sah dieser aus und wie war sein Wirken zu bewerten? Lowi argumentierte, dass der Staat sich immer mehr ausgeweitet habe, indem immer mehr Befugnisse an immer mehr Behörden übertragen worden wären, wobei zugleich immer mehr Interessengruppen Einfluss nähmen. Das Modell einer möglichst breiten Repräsentation von Interessengruppen wurde etwa von Vertretern des Pluralismus wie Robert A. Dahl verteidigt.48 Lowi argumentierte außerdem, dass im »liberal group liberalism« nicht die dringlichsten gesellschaftlichen Anliegen eingebunden und es demzufolge nicht zu einer besseren Verbindung von Regierung und Regierten komme, sondern sich die Gruppen mit den meisten Ressourcen durchsetzen würden, was zu einer politischen Krise, genauer: einer Autoritätskrise der öffentlichen Hand geführt habe. Als Gegenmaßnahme schlug er eine Stärkung der formalen Verfahren im Rahmen des Rechtstaates und damit mehr Zentralisierung und weniger Einbindung von Interessengruppen vor.49 Interessant an Lowis Perspektive ist, dass Pluralität in Form von Interessengruppen als Argument für die gefährdete Autorität der öffentlichen Hand genutzt wird und nicht die gesellschaftlichen Umwälzungen der 1960er Jahre. Letztere forderten den Staat, brachten ihn nach Lowi aber nur deshalb in Verlegenheit, weil dieser seine Aufgaben aufgrund der Verknüpfung mit vielfältigen Interessengruppen nicht mehr adäquat ausfüllte. Lowi, The End of Liberalism. Ideology, Policy, and the Crisis of Public Authority, New York 1969. Vordenker des Neoliberalismus war Walter Lippmann, der den Problemlösungsfähigkeiten einer Demokratie – speziell der »Masse« – skeptisch gegenüberstand und sich für eine Zweiklassendemokratie einsetzte: einerseits das Volk, dessen einzige Funktion aber die Wahl der Experten sein dürfe, während andererseits die kleine Klasse der Experten alle relevanten Entscheidungen für das Volk treffe. Besonders einer zentral gelenkten Massenbeeinflussung maß Lippmann eine große Bedeutung zu. Siehe Walter Lippmann, The Public Philosophy, Boston 1955. 48 Vgl. Dahl, Robert A., Who Governs? Democracy and Power in an American City, Yale 1961 und Ders., Pluralist Democracy in the United States. Conflict and Consent, Chicago 1967. 49 Vgl. Lowi, The End of Liberalism, besonders S. xiii f. und 287–314.

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Für Protagonisten wie Samuel P. Huntington galt daher für Systeme ein »organizational Imperative«, die sozialen und ökonomischen Modernisierungsprozessen unterlagen und damit einer Erosion ihrer politischen Institutionen ausgesetzt waren: »Ordnung« und starke politische Institutionen waren es, die in der Lage sein mussten, den Herausforderungen moderner, komplexer Gesellschaften angemessen zu begegnen.50 Der Zusammenhang von starkem Staat und gesellschaftlicher Partizipation war – um auf den deutschen Ausgangspunkt zurückzukommen – auch in der Bundesrepublik geführt worden – wenn auch nicht unter dem Stichwort einer (potentiellen) »Unregierbarkeit«. In den 1950er Jahren war mit merklicher Skepsis über demokratische Institutionen und Entwicklung zu mehr Pluralität diskutiert worden, was sich in einer Kritik am Parlamentarismus oder an der Rolle von Verbänden äußerte. In den 1960er Jahren wurde diese Skepsis unter dem Eindruck gesamtgesellschaftlicher Umbrüche immer mehr auf (basis-)demokratische Partizipation ausgeweitet.51 Wie in den USA lässt sich auch in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren eine massive Skepsis gegenüber der »Masse« – und damit gegenüber der Demokratie – oder sogar generell gegenüber Partialinteressen feststellen.52 Referenzpunkt der Befürchtungen waren im Wesentlichen die 1920er und vor allem 1930er Jahre mit dem Scheitern der Weimarer Demokratie. Plädiert wurde dabei für starke Institutionen, wobei Akteure wie Theodor Eschenburg sich für die Frage interessierten, »wie regiert wird«.53 In den 1960er Jahren wurde diese Skepsis wieder aufgenommen, erfuhr aber angesichts einer zunehmend dezentralisierten Partizipation eine neue und vor allem umso dringlicher geführte Diskussion.54

50 Vgl. Samuel Huntington, Political Order in Changing Societies, New Haven/London 1968, hier S. 460 f. 51 Siehe dazu Leonard Landois, Konterrevolution von links. Das Staats- und Gesellschaftsverständnis der »68er« und dessen Quellen bei Carl Schmitt, Baden-Baden 2008, besonders S. 126 ff. Das Problem der organisierten Partialinteressen als Bedrohung des Staates artikulierte Samuel H. Beer auch für Großbritannien: Ders., British Politics in the Collectivist Age, New York 1966. 52 Siehe Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954 und Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1955. Mehr zu Eschenburgs Schrift: Albrecht Weisker, Korporatismus und Lobbyismus vor 50 Jahren und heute. Theodor Eschenburgs »Herrschaft der Verbände?«, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen. de/2-2005/id=4750 [26.08.2019], Druckausgabe: S. 321–325. 53 Vgl. Weisker, Korporatismus. 54 Scott Lash hat dies mit Blick auf die veränderte Arbeiteridentität im Rahmen der Postmoderne beschrieben. Vgl. Ders., Sociology of Postmodernism, London/New York 1990, S. 25–30.

»UNREGIERBARKEIT« IM WOHLFAHRTSSTAAT 165

V. Schlussbetrachtung Die verschiedenen betrachteten Ebenen belegen, dass die Schlussfolgerung, die »Unregierbarkeitsdebatte« spiegele eine Krise des Regierens angesichts der vor allem ökonomischen Probleme der 1970er Jahre wider, zu kurz greift. Fraglos waren die Krisen der 1970er Jahre ein wichtiger Anlass für eine vertiefte Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen modernen Regierens unter den Bedingungen eines interventionistischen Wohlfahrtsstaates. Doch die Betrachtung der unterschiedlichen Argumentationsmuster in ihrer Persistenz und ihren Bezügen legen nahe, dass es sich um eine umfassendere Debatte handelte. Die hier nur sehr punktuell betrachtete »Unregierbarkeitsfrage« rekurrierte in weitaus höherem Maße auf umfassende soziopolitische Veränderungen, wie sie in Nordamerika und Westeuropa in den 1960er Jahren stattfanden. Diese Veränderungen wurden als Herausforderung der politischen Institutionen gesehen und der Umgang mit diesen Herausforderungen so intensiv wie kritisch diskutiert. Sowohl für die USA wie auch für die Bundesrepublik lässt sich aber auch feststellen, dass selbst diese Veränderungsprozesse zwar ein äußerst wichtiger Aspekt der Frage nach »Unregierbarkeit« waren, aber nicht deren alleinige Ursache. Die Frage der »Regierbarkeit« war vielmehr Teil eines großen Diskurses über das Verhältnis von Staat und Bürger, der im Laufe des 20. Jahrhunderts – oder sogar schon lange davor – immer wieder geführt worden ist. Die Frage, welchen Raum und welche Rolle der Staat in einer Gesellschaft einnehmen solle, zählt zu den klassischen Fragen, die sowohl im Liberalismus bis hin zum Sozialismus erörtert wurden. Verbunden war dies regelmäßig mit der der Frage nach der Bedeutung von Demokratie: Welches Gewicht sollte die Entscheidung der Bürger haben und sollten – und wenn ja, in welchem Umfang – Partialinteressen ihren Niederschlag finden? In den USA – der als westlicher Führungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg eine Vorbildrolle für die west- und mitteleuropäischen Staaten zukam – lassen sich diese Debatten über einen langen Zeitraum hinweg verfolgen: Zentraler Diskussionspunkt war immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Wieviel Staat durfte es geben und wie ›stark‹ durfte dieser sein? Dieser Grundkonflikt wurde einerseits durch Demokratisierungsprozesse, andererseits durch die Ausbildung der Wohlfahrtsstaatlichkeit verschärft. Während ersteres weniger Staat und mehr gesellschaftliche Partizipation bedeutete, verlangte der zweite Punkt mehr staatliche Aktivität. So kulminierten in den 1970er Jahren nicht nur ambivalente Entwicklungen, sondern die Legitimität des Staates wurde durch ökonomische Krisen weiter in Frage gestellt. In der weiteren Entwicklung der 1980er Jahren verlor »Unregierbarkeit« einiges von ihrer Bedrohlichkeit. Dies geschah im Falle Großbritanniens durch gezieltes Handeln – vor allem Margareth Thatcher versuchte mit der Einhegung der Gewerkschaften ein für ihr Land strukturelles Problem in den Griff zu bekommen. In anderen Ländern – etwa der Bundesrepublik – bestanden Probleme nie in dem Ausmaß wie in Großbritannien; »Unregierbarkeit« verlor auch hier

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an Bedeutung. Gleichwohl konnte sie aber jederzeit als Chiffre für gesellschaftliche Widersprüche und (aktuell) nicht lösbare Probleme wieder auftauchen.55 Das Thema der »Regierbarkeit« blieb in Europa beispielsweise in der Frage der politischen Souveränität der Nationalstaaten im Rahmen der europäischen Integration virulent.56 Durch den Verlust an nationaler Steuerungsfähigkeit aufgrund von Verträgen einerseits und ein Mangel an europäischer Steuerungsfähigkeit bei nationalen Problemen andererseits, dürfte sich die Frage der »Regierbarkeit« auch zukünftig immer wieder stellen.

55 So etwa in einer Haushaltsdebatte im November 1992, als Otto Graf Lambsdorff ange-

sichts ökonomischer Schwierigkeiten und unmittelbar nach dem Brandanschlag von Mölln die Frage stellte, ob die demokratischen Institutionen »der gestellten Probleme noch Herr werden können« oder die »parlamentarischen Demokratien westlicher Prägung immer schwerer regierbar oder gar unregierbar« würden. Siehe Redebeitrag von dems., BT-PlPr 12/123, S. 10496, D-10497A. 56 Klaus Gretschmann, Traum oder Alptraum? Politikgestaltung im Spannungsfeld von Nationalstaat und Europäischer Union, in: APuZ 5 (2001), S. 25–32. Dieser Problemkomplex stellt sich allerdings nicht nur mit Blick auf die EU: auch sonstige internationale Vertragswerke schränken Regierbarkeit ein, wie in den Handelskonflikten der USA seit 2017 zu sehen ist.

SYSTEMKONKURRENZ ALS KATALYSATOR DES SOZIALSTAATS UND DIE TRANSFORMATION VON WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT NACH 1989/90

Jörg Roesler

DIE BUNDESREPUBLIK UND DIE DDR Ungleiche Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme

D

ie einander in den Westzonen und der Ostzone in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus ähnelnden Vorstellungen über die künftige gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands konnten sich gegenüber deutlich voneinander unterscheidbaren bis alternativen Konzeptionen (sozialistisch-kapitalistisch, demokratisch-diktatorisch, mit Tendenz zur Gleichmacherei bzw. zur bewussten Differenziertheit der Einkommen) nicht durchsetzen. Sie wurden von den in den jeweiligen Zonen dominierenden deutschen Kräften bzw. den Besatzungsmächten daran gehindert.1 Die Entwicklung führte rasch zu signifikanten Unterschieden zwischen den sich in Ost- bzw. Westdeutschland herausbildenden gesellschaftlichen Systemen. Beide Staaten traten in Konkurrenz zueinander um das zukünftige System für Gesamtdeutschland. Die Politiker der beiden Gesellschaftssysteme entwickelten dabei einen auf ganz Deutschland bezogenen Alleingültigkeitsanspruch. Die Konkurrenz betraf vor allem drei Ebenen: die Wirtschaftsleistung, das Konsumniveau und die Ausgestaltung der Sozialsysteme – wobei den Konkurrenten bewusst war, dass vor allem das Konsumniveau, aber auch die Ausgestaltung der Sozialsysteme mittel- und langfristig gesehen von Fortschritten in der wirtschaftlichen Leistungskraft bestimmt wurden. In der DDR bildete unter der Herrschaft Walter Ulbrichts dieser enge Zusammenhang die Grundlage für die Wirtschafts- und Sozialpolitik, bestimmten Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet das Tempo der Konsumentwicklung und der weiteren Ausgestaltung des Sozialwesens. Anders wurde das ab 1971 mit Beginn der Ära Honecker, dessen »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« genau genommen das Gegenteil des 1 Eine ausgewogene Darstellung findet sich bei: Hans Jaeger, Geschichte der Wirtschaftsord-

nung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 208–216, 246–250.

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Propagierten bedeutete: Der Konsum wuchs für etwas mehr als ein halbes Jahrzehnt dank der nunmehr existierenden Verschuldungsmöglichkeiten im Westen rascher als die Wirtschaft. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre, als im Auftrage Erich Honeckers von Günter Mittag beträchtliche Anstrengungen zur Entschuldung der DDR gemacht wurden, verlief die Entwicklung umgekehrt.2 Generell aber blieb das primäre Konkurrenzfeld die Wirtschaft – auch wenn das Urteil der Bevölkerung über das bessere Gesellschaftssystem letztlich davon abhing, welches von beiden Wirtschaftssystemen, die Marktwirtschaft oder die Planwirtschaft, größere Fortschritte beim quantitativen und qualitativen Wachstum des Konsums erlauben würde. Es ist wichtig, sich diese Zusammenhänge zu vergegenwärtigen, wenn im folgenden Abschnitt die Entwicklung des Wirtschaftspotentials in der DDR zwischen 1945 und 1989 speziell unter dem Aspekt des Wettbewerbs mit dem anderen deutschen Staat behandelt wird.

I.

Der Verlauf des Wettbewerbs beider Wirtschaftssysteme im Meinungsstreit der Sozialwissenschaftler

Der Tenor der im letzten Vierteljahrhundert zu diesem Thema erschienenen Publikationen von deutschen Autoren lässt sich in etwa so zusammenfassen:3 Die Wirtschaftsleistung auf dem Gebiet der späteren DDR entsprach 1936 ungefähr der im westlichen Teil Deutschlands, der späteren Bundesrepublik. Der Produktionswert der ostdeutschen Industrie lag je Einwohner in jenem Jahr, auf das Gebiet Nachkriegsdeutschlands bezogen, sogar etwas über dem deutschen Durchschnitt.4 Nimmt man davon ausgehend das Niveau des Bruttoinlandsprodukts in Ost- wie in Westdeutschland je Kopf der Bevölkerung für 1936 als etwa gleich hoch an und setzt diesen Wert = 100 Prozent, dann betrug die so gemessene Wirtschaftsleistung je Einwohner Ostdeutschlands 1991, im ersten vollständigen Wirtschaftsjahr nach der Vereinigung, nur noch 33 Prozent des Wirtschaftsniveaus Westdeutschlands. Im Jahre 1950 hatte der entsprechende Vergleichswert für die DDR noch bei 39 Prozent des Wertes für die Bundesrepublik gelegen. Selbst wenn man also die Vorkriegs-, Kriegs- und die unmittelbare Nachkriegszeit aus dem Vergleich ausklammert und sich auf den Zeitraum 1950–1989 beschränkt, auf jene vier Jahrzehnte, in denen das planwirtschaftliche System in der DDR und das marktwirtschaftliche in der Bundesrepublik einander als Konkurrenten gegenüberstanden, dann hat die DDR demnach den Wettbewerb eindeutig

2 Detaillierter dazu: Jörg Roesler, Geschichte der DDR, Köln 2012, S. 75–77, 87 f. 3 Exemplarisch dafür das umfangreichste Werk dieser Art: Oskar Schwarzer, Sozialistische

Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945–1989), Stuttgart 1999, vgl. besonders Abschnitt 6, S. 109–168. 4 Berechnet nach: André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 19; vgl. dazu auch die Angaben von Schwarzer, Zentralplanwirtschaft, S. 131.

DIE BUNDESREPUBLIK UND DIE DDR 171

verloren: Von »Einholen und Überholen« der Bundesrepublik auf dem Gebiet von Produktion und Konsumtion, wie es der DDR-Staat u. a. als »ökonomische Hauptaufgabe« des Siebenjahrplanes (1959–1965) verkündet hatte, konnte also keine Rede sein.5 Als Ursache für die fehlende Konkurrenzfähigkeit der DDR wurde in der Mehrzahl der nach 1990 erschienenen wirtschaftshistorischen Publikationen deren Wirtschaftssystem, die Planwirtschaft, ausgemacht. So heißt es in der 2004 veröffentlichten »Deutschen Wirtschaftsgeschichte nach 1945« des Bielefelder Wirtschaftshistorikers Werner Abelshausers: »Folgt man der neueren wirtschaftshistorischen Forschung, so liegt der wesentliche Unterschied in der wirtschaftlichen Leistung beider deutschen Staaten […] in der Anwendung eines veralteten – den Bedürfnissen einer hoch entwickelten und differenzierten Industriewirtschaft nicht genügenden – Systems der Wirtschaftspolitik und der Organisation der Wirtschaft.«6 In seiner im gleichen Jahr erschienenen »Wirtschaftsgeschichte der DDR« vertrat André Steiner, ein in der DDR ausgebildeter Wirtschaftshistoriker, diese These noch prononcierter: »Die ökonomischen Resultate der DDR waren vor allem ihrem Wirtschaftssystem geschuldet. […] Das entscheidende Negativ-Moment war das planwirtschaftliche System.«7 Da das Planungssystem in der DDR-Wirtschaft ab Ende der 1940er Jahre ununterbrochen wirksam war, sollte man annehmen, dass der Abstand der Wirtschaftskraft der DDR zu der der Bundesrepublik im Verlauf der Jahrzehnte kontinuierlich zugenommen hat. Es habe sich demnach sozusagen – um den Titel eines Buches zur DDR-Geschichte zu zitieren, das nach 1990 großen Zuspruch fand – im Falle der DDR-Wirtschaft um einen »Untergang auf Raten« gehandelt.8 War das tatsächlich der Fall? Die umfangreichsten Untersuchungen über das Wachstum der Wirtschaftsleistung in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik, vornehmlich gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, hat Gerhard Heske vom Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Universität Köln und vormaliger Mitarbeiter der Zentralverwaltung für Statistik der DDR vorgenommen. Er stellte für den von ihm untersuchten Zeitraum 1950–1989 allerdings mehrfach wechselnde Differenzen im Wachstumstempo und damit auch im Abstand der DDR-Wirtschaftsleistung zu der der Bundesrepublik fest. Heske schreibt: »Bis zur Zeitperiode 1961/65 lagen die jährlichen Wachstumsraten des BIP in der DDR – jeweils in Fünfjahresphasen gemessen – niedriger als in der Bundesrepublik. Danach erfolgte eine Umkehr, mit Ausnahme der letzten DDR-Periode von 1986–1989«. Die Veränderung des Abstands der Zuwachs5 Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demo-

kratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965, in: SED (Hg.), Der Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks des Volkes, Berlin 1959, S. 159. 6 Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2004, S. 363 f. 7 Steiner, Plan, S. 7. 8 Vgl. Armin Mitter / Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993.

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raten der DDR zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der Bundesrepublik war (in Prozentpunkten) nach Heskes Berechnungen am größten im Zeitraum 1961–1965 (-1,3 Prozent). Damals übertraf er sogar noch den Wert der Abstandszunahme für das letzte (unvollendete) Planjahrfünft der DDR – den Zeitraum 1986–1989 (-0,9 Prozent). Auf der anderen Seite übertraf der Zuwachs des BIP der DDR den der Bundesrepublik am deutlichsten im Zeitraum 1971–1975, als das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts Ostdeutschlands je Einwohner 2,7 Prozent höher lag als das Westdeutschlands.9 Die Publikation von Gerhard Heske unterscheidet sich auch insofern von einigen anderen Veröffentlichungen, in denen nach 1990 die Wirtschaftsleistung in beiden deutschen Staaten gegenübergestellt wurde, als er das Jahr 1989 als Abschlussjahr für den Vergleich setzt, was völlig gerechtfertigt ist, da es das letzte volle Wirtschaftsjahr in der DDR unter planwirtschaftlichen Vorzeichen war. Danach wurde das planwirtschaftliche System der DDR, soweit noch vorhanden, nachdem die Treuhandanstalt ihre Arbeit aufgenommen hatte, einer Schocktherapie ausgesetzt und Stück für Stück demontiert; ein Prozess, der 1991 bereits weitgehend abgeschlossen war.10 Die wirtschaftlichen Ergebnisse der Jahre 1990 und 1991 allein auf das Konto der DDR-Planwirtschaft zu buchen, ist daher meines Erachtens nicht gerechtfertigt.11 Legt man dem Vergleich der Entwicklung der Wirtschaftskraft der DDR mit der Bundesrepublik den Zeitraum 1950 bis 1989, in dem beide, ausgestattet mit alternativen Wirtschaftssystemen, miteinander konkurrierten und nicht den vielfach herangezogenen Zeitraum 1950–1991 zugrunde, dann wuchs das BIP der DDR nach Heskes Berechnungen durchschnittlich jährlich um 4,5 Prozent und das der Bundesrepublik um 4,3 Prozent. Berücksichtigt man ferner, dass Jahre der Annäherung der wirtschaftlichen Leistungskraft der DDR an das Niveau der Bundesrepublik Zeiträume der Zunahme des Abstands mehrmals ablösten, dann kommen hinsichtlich der behaupteten Gültigkeit der Erklärung der Wachstumsdifferenz allein aus den Wirtschaftssystemen – einem vorgeblich stets effektiven in Westdeutschland und einem durchgängig wenig effektiven bis ineffektiven in Ostdeutschland – beträchtliche Zweifel auf. Aus diesen von Zeitraum zu Zeitraum wechselnden Wachstumsdifferenzen, auf deren Gründe in einem speziellen Abschnitt noch detaillierter eingegangen wird, und dem annähernd gleichen Entwicklungstempo des Bruttoinlandsprodukts in beiden Teilen Deutschlands über fast 40 Jahre lässt sich schließen, dass es neben dem Wirtschafts- bzw. Gesell9 Für alle folgenden Angaben über das Wachstum des BIP der DDR vgl. Gerhard Heske,

Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. DDR 1950–1989. Daten, Methoden, Vergleiche, Köln 2009, S. 52. Vgl. auch die Kritik am Vorgehen Heskes von André Steiner in seiner Rezension: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-7383 [22.11.2018]. 10 Vgl. hierfür jüngst Marcus Böick, Die Treuhand, Idee – Praxis – Erfahrung: 1990–1994, Göttingen 2018 sowie den Beitrag desselben Verfassers in diesem Band. 11 Vgl. Jörg Roesler, Aufholen ohne einzuholen. Ostdeutschlands rastloser Wettlauf 1965– 2015. Ein ökonomischer Abriss, Berlin 2016, S. 111–132.

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schaftssystem – anders als in den nach 1990 erschienenen wirtschaftshistorischen Publikationen über die DDR behauptet – noch andere Faktoren von Gewicht gegeben haben muss, die die Ergebnisse des Wettbewerbs um die höchste Wirtschaftsleistung zwischen beiden deutschen Staaten beeinflussten. Darauf ist im Folgenden näher einzugehen.

II. Der Einfluss »nichtsystemischer« Faktoren auf die Ergebnisse des wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen DDR und Bundesrepublik Schaut man sich die Literatur zum Wirtschaftswachstum in beiden deutschen Staaten an, die vor dem Herbst 1989 erschien, in jenen Jahren, da noch kaum jemand mit dem Ende der DDR rechnete, dann findet man bei einigen den ökonomischen Wettbewerb zwischen Bundesrepublik und DDR analysierenden Wissenschaftlern die explizite Warnung davor, alle Ergebnisse aus dem jeweiligen Gesellschaftssystem erklären zu wollen. So schrieb 1980 der Wirtschaftsprofessor Gerd Leptin, langjähriger Mitarbeiter der »Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen« in seinem Buch zur »Deutschen Geschichte nach 1945«: »Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung in beiden Teilen Deutschlands, besonders beim Vergleich der Ergebnisse dieser Entwicklung, stehen zumeist die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme im Mittelpunkt des Interesses. Dem System der östlichen Planwirtschaft, der ›Zwangswirtschaft‹, wird häufig die alleinige Schuld an dem schlechten Ergebnis des Wiederaufbaus in der DDR gegeben. Hierzu ist zweierlei zu sagen: Einmal steht nicht von vornherein fest, dass das Ergebnis des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in der DDR schlechter ist als in der Bundesrepublik. Zwar kann man zeigen, […] dass die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik in fast allen Wirtschaftsbereichen besser ist als in der DDR, aber eine vergleichende Aussage über den Wiederaufbau kann sich nicht nur auf einen willkürlich ausgewählten Endpunkt eines Entwicklungsabschnittes beziehen, sondern muss auch die damals vorherrschenden Unterschiede berücksichtigen. Und zweitens kann man wirtschaftliche Entwicklungen und ihre Ergebnisse nicht auf einen Faktor allein, hier das Wirtschaftssystem, zurückführen. Sicher hat das System auf die Entwicklung Einflüsse ausgeübt, positive und negative und sicherlich mehr negative als positive. Daneben gibt es aber eine Fülle anderer Faktoren, teils ökonomische, aber nicht beeinflussbare teils auch außerökonomische Faktoren, die für die Entwicklung maßgebend waren.«12

Gerhard Leptins Ratschlag ist meiner Meinung nach in dreifacher Hinsicht unbedingt zuzustimmen: Hinsichtlich der Bedeutung der »außerökonomischen Faktoren« neben den ökonomischen, hinsichtlich der Notwendigkeit, die »damals« – 12 Gerd Leptin, Die deutsche Wirtschaft nach 1945, Opladen 1980, S. 51.

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gemeint ist offensichtlich das »Startjahr« für den Vergleich 1950 – bestehenden Unterschiede in der wirtschaftlichen Situation in Ost- und Westdeutschland zu berücksichtigen – und hinsichtlich Leptins Warnung vor einem »willkürlich ausgewählten Endpunkt«. Unterschätzt werden z. B. in den meisten sich mit der DDR befassenden Untersuchungen nach 1990 die zwischen 1936 und 1950 eingetretenen Niveauunterschiede im Bereich der Ökonomie zwischen Ost- und Westdeutschland. Hatte man im Jahre 1936 von einem Start bei etwa gleichem Ausgangsniveau sprechen können, so war 1950 eine völlig andere Situation für den Wettbewerb eingetreten. Für das Jahr 1950 ergibt sich, dass das BIP pro Einwohner durch Krieg und Kriegsfolgen auf knapp zwei Fünftel (39 Prozent) des Niveaus von Westdeutschland geschrumpft war.13 Worauf war die zwischen 1936 und 1950 eingetretene Differenz zurückzuführen? Diese Frage, schreibt Abelshauser in Auswertung der in der Bundesrepublik vor 1990 erschienenen wirtschaftshistorischen Arbeiten über die DDR, wurde am häufigsten damit beantwortet, dass die DDR »schlechtere Ausgangsbedingungen zu überwinden hatte als Westdeutschland (Teilungsdisparitäten, höhere Reparationslasten), nicht an den ›Segnungen‹ des Marshallplans teilnehmen konnte, und kontinuierlich qualifizierte Arbeitskräfte an Westdeutschland verlor«.14 Dem sollte man noch hinzufügen, dass die DDR vom 1948 seitens der USA durchgesetzten Handelsembargo schwer betroffen wurde15 und die Besatzungskosten, die im Osten an die Sowjetunion gezahlt werden mussten, ungleich höher waren als die in den Westzonen an die westlichen Alliierten zu zahlenden.16 Daraus ergibt sich, dass es kaum die Auswirkungen von Planwirtschaft bzw. der Marktwirtschaft waren, die den Abstand zwischen ostdeutscher und westdeutscher Wirtschaftskraft im ersten Nachkriegsjahrfünft verschuldeten – zumal die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme erst ab der zweiten Hälfte des Jahres 1948 wirken konnten, nach dem Beginn der Erhardschen Währungs- und Wirtschaftsreform im Westen und dem Start in die Planwirtschaft im Osten (Halbjahrplan 1948 und Zweijahrplan 1949/1950). Bis dahin herrschte in allen vier Zonen ein im Wesentlichen von den Besatzungsmächten diktiertes, einander in den Grundzügen ähnelndes Bewirtschaftungssystem.17 Der wahre Systemwettbewerb konnte also erst im ersten vollen Jahr nach der Staatengründung (1950) beginnen. 13 Für alle Angaben zum BIP pro Einwohner von DDR und Bundesrepublik vgl. die Tabelle bei Roesler, Aufholen, S. 175. 14 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 363. 15 Darauf hat, neben den bereits genannten Faktoren, der niederländische Wirtschaftshistoriker Sleifer hingewiesen: Jaap Sleifer, Planning Ahead and Falling Behind. The East German Economy in Comparison with West Germany 1936–2002, Berlin 2006, S. 69. 16 Vgl. Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR, Berlin 1993, S. 217–222. 17 Vgl. Uwe Fuhrmann, Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz/München 2017, S. 130 f.

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Im Zeitraum zwischen 1950 und 1989, als die alternativen Wirtschaftssysteme voll wirksam waren, gab es knapp zwei Jahrfünfte, in denen die bundesdeutsche Wirtschaft schneller wuchs als die der DDR (1951–1955 und 1986–1989) und vier Jahrfünfte, in denen das BIP der DDR schneller wuchs als das der Bundesrepublik (1966–1985). Im jährlichen Durchschnitt wuchs das Bruttoinlandsprodukt der DDR – wie mit Verweis auf Heskes Untersuchung bereits ausgeführt – zwischen 1961 und 1989 um 4,5 Prozent und das der Bundesrepublik um 4,3 Prozent. Auch wenn das planwirtschaftliche System das in den Perspektivplänen über fünf bzw. sieben Jahre gegebene Versprechen raschen Wirtschaftswachstums nicht einhalten konnte, schreibt Heske »war die Erhöhung des BIP der DDR auf das 5,5fache eine erhebliche volkswirtschaftliche Leistung in fast 40 Jahren.«18 Diese Leistung war, wenn wir uns an Leptin halten, zwar nicht ausschließlich, aber doch vor allem – im Unterschied zur Periode 1936–1945 – Ergebnis des Wettbewerbs der Wirtschaftssysteme. Diese nüchterne Feststellung muss natürlich denjenigen Analytikern der deutschen Nachkriegsgeschichte Kopfschmerzen bereiten, die behauptet haben, dass es sich bei der Planwirtschaft der DDR um ein rundherum ineffektives Wirtschaftssystem gehandelt habe. Vielleicht haben deshalb manche unter ihnen Leptins Warnung aus dem Jahre 1980 vor einem »willkürlich ausgewählten Endpunkt« bewusst in den Wind geschlagen und das Ende der DDR-Planwirtschaft unter fadenscheiniger Begründung auf das Jahr 1991 verlegt, auf das Jahr, in dem das Niveau des Bruttoproduktes je Einwohner im Vergleich zur Bundesrepublik (33 Prozent) nicht nur unter dem Wert von 1936, sondern auch unter dem Wert des Jahres 1950 (39 Prozent) lag. Das Ergebnis des Systemwettbewerbs zwischen beiden deutschen Staaten in dem einzig realistischen Messzeitraum ebenso wie die Zu- bzw. Abnahme des Abstandes im Verlaufe von vier Jahrzehnten können noch aus einem anderen Grunde nicht allein auf das Wirken der Planwirtschaft zurückgeführt werden: Auch die marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaft der Bundesrepublik durchlief im Zeitraum seit 1950 Phasen rascheren und langsameren Wachstums. Das soll im folgenden Abschnitt beim Niveauvergleich des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner (BIP) auf der Basis von Fünfjahresabschnitten Berücksichtigung finden.

III. Die Auswirkungen der Entwicklungsphasen von Markt- bzw. Planwirtschaft auf den Verlauf des innerdeutschen Wettbewerbs Der Start der DDR in die zentrale Planwirtschaft war gelungen. Der Zweijahrplan 1949/50 wurde deutlich übererfüllt. Während des Ersten Fünfjahrplanes (1951–1955) wuchs das Bruttoinlandsprodukt jährlich um 8,5 Prozent, das BIP in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre noch um 6,8 Prozent, obwohl zunächst noch 18 Heske, Gesamtrechnung, S. 53.

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jahrelang Reparationen an die UdSSR gezahlt werden mussten.19 Deren Wegfall ab 1954 sowie das Versprechen der KPdSU-Führung unter Nikita S. Chruschtschow, die DDR-Wirtschaft mit Rohstofflieferungen zu günstigen Preisen zu unterstützen, d. h. zu subventionieren, wenn sie sich ihrer Wirtschaftsstrategie anschloss, euphorisierte SED-Chef Walter Ulbricht. Entsprechend dem Beschluss der KPdSU vom Februar 1956, »die am meisten entwickelten kapitalistischen Länder hinsichtlich der Produktion je Kopf der Bevölkerung einzuholen und zu überholen«20, verkündete die SED-Führung Mitte 1958 für die DDR die »ökonomische Hauptaufgabe«, wonach bis 1961 »der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft«.21 Dabei spielte auch eine Rolle, dass eine sich für 1958 andeutende »Konjunkturdelle« in der Wirtschaft der Bundesrepublik seitens der DDR-Wirtschaftswissenschaftler als Beginn der ersten Überproduktionskrise gedeutet wurde. Die Einholpläne der DDR erwiesen sich allerdings bereits nach drei Jahren als unrealistisch. Die Blamage von 1961 war hauptsächlich auf zwei Fehlrechnungen zurückzuführen: Zum einen waren die wirtschaftlichen Folgen der (illegalen) Abwanderung von Arbeitskräften aus der DDR in die Bundesrepublik unterschätzt worden. Im Ergebnis der »Westflucht« lag ungeachtet der Mobilisierung aller Arbeitskräftereserven die Zahl der Erwerbstätigen in der DDR 1960 unter der Zahl von 1955, während die Anzahl der Beschäftigten in der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum um 2,2 Millionen anstieg. Zum anderen konnten mit Ludwig Erhards »sozialer Marktwirtschaft« die für die kapitalistische Wirtschaft Deutschlands in den 1920er Jahren charakteristischen Wachstumsbremsen überwunden werden. Die Nachkriegsordnung basierte gleichermaßen auf der »Lohnzurückhaltung und einer ausgeprägten Bereitschaft zu investieren« und führte dort zum »Wirtschaftswunder«.22 Die durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten des BIP lagen 1951–55 in der Bundesrepublik bei 9,3 Prozent und 1956–1960 noch bei 7,0 Prozent – Wachstumsraten, die in der DDR nicht erreicht wurden. Die SED-Führung tat sich Anfang der 1960er Jahre schwer damit zu begreifen, dass »Bonn nicht Weimar war« (Fritz René Allemann), wie auch mit der Entscheidung zur gewaltsamen Schließung der innerdeutschen Grenze, die dann Mitte 1961 vollzogen wurde. Die auch nach dem Bau der Mauer bis 1963 andauernden niedrigen wirtschaftlichen Wachstumsraten waren ein Indikator dafür, dass sich die Möglichkeiten des durch die Zentralplanwirtschaft leichter steuer19 Für Angaben über das reine Wachstum des BIP der DDR und Bundesrepublik vgl. Heske, Gesamtrechnung, S. 52 bzw. 248 f. 20 Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag, Berlin 1956, S. 175. 21 Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der SED, Berlin 1959, S. 68, 70. 22 Ivan T. Berend, Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 114.

DIE BUNDESREPUBLIK UND DIE DDR 177

baren extensiven Wachstums für die DDR erschöpft hatten. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre stieg das Bruttoinlandsprodukt der DDR erstmals ein Jahrfünft langsamer als das der Bundesrepublik. Die SED-Führung musste, um nicht den Glauben an die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung aufzugeben, an ihren Aufholzielen festhalten. Deshalb erklärte Ulbricht 1962 erneut: »Wir können den hohen Lebensstandard nur erreichen, wenn wir in der Arbeitsproduktivität den Westen übertreffen. Das [zu erreichen, J. R.] ist eine Frage von Wissenschaft und Technik sowie der materiellen Interessiertheit«.23 Das erforderlich werdende, vorrangig intensive Wachstum der Volkswirtschaft setzt aber eine stärkere Belohnung der Eigeninitiative der Betriebsleitungen und Betriebsbelegschaften sowie eine gewisse Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung voraus. Es machte eine Reform des bisher stark zentralisierten Planungssystems notwendig, die ab 1963 als »Neues Ökonomisches System (NÖS)« schrittweise in die Wirtschaft Ostdeutschlands eingeführt wurde.24 Dass es mit der Wirtschaftsreform gelungen war, Antriebskräfte freizusetzen, wirkte sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre positiv aus, als das BIP der DDR wieder stärker – um durchschnittlich 5 Prozent gegenüber 4 Prozent im Jahrfünft zuvor – anwuchs. Wenn im gleichen Zeitraum die Wirtschaftskraft der DDR – gemessen am BIP pro Einwohner – erstmals in einem Fünfjahreszeitraum im Vergleich zur Bundesrepublik anwuchs, dann war das nicht nur auf die Wirksamkeit der DDR-Wirtschaftsreform zurückzuführen, sondern auch darauf, dass sich in der Bundesrepublik die Grundlagen des »Wirtschaftswunders« erschöpft hatten. Seit Mitte der 1960er Jahre mehrten sich in der Bundesrepublik unter den Wirtschaftswissenschaftlern und -beratern Stimmen, die nach einer Wirtschaftsreform verlangten. »Innerhalb der Regierungsparteien setzte sich zunehmend die Auffassung durch, dass eine staatliche Steuerung makroökonomischer Zielgrößen unter Einsatz monetärer fiskalischer Instrumente erforderlich sei«, schätzt der Berliner Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel ein. Erst während der ersten »Großen Koalition« (1966–1969) begann seiner Meinung nach unter dem Wirtschaftsminister Karl Schiller in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik ein »moderater Keynesianismus« voll wirksam zu werden.25 In der DDR fand deren Wirtschaftsreform nach ihrer dritten, als »ökonomisches System des Sozialismus« (ÖSS) bezeichneten Etappe Ende 1970 ihr jähes Ende. Im Rahmen des ÖSS hatte Ulbricht die von ihm schon in der zweiten 23 Zitiert in: André Steiner, Die DDR als ökonomische Konkurrenz: Das Scheitern des »zwei-

ten deutschen Staates« als Vergleichswirtschaf, in: Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck (Hg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 151–178, hier S. 163. 24 Vgl. Jörg Roesler, Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963–1970 in der DDR, Berlin 1990. 25 Vgl. Alexander Nützenadel, Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik, in: Plumpe/Scholtyseck, Staat, S. 119–138, hier S. 130.

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Etappe des NÖS anvisierte Förderung von Wissenschaft und Technik weiter vorangetrieben, dabei aber die Ressourcen, die der DDR im Land zur Verfügung standen, überschätzt und sich hinsichtlich der Unterstützung der Sowjetunion verkalkuliert. Leonid I. Breschnew, ab 1966 unangefochten der erste Mann im Kreml, teilte als Realist Chruschtschows Pläne nicht, den Westen auf ökonomischem Gebiet einzuholen. Er war daher auch nicht mehr bereit, dessen großzügige Unterstützung für Ulbrichts forcierte Technologiepolitik fortzusetzen. Der SED-Generalsekretär aber verfolgte weiterhin die Absicht, den Westen erst auf technologischem Gebiet zu überholen, um ihn danach auch beim wirtschaftlichen Wachstum zu übertreffen.26 Als Ulbricht daraufhin zwecks Ressourcensicherung für seine Überhol- und Einholpläne 1970 Sparmaßnahmen einführte, die bei den »Werktätigen« zu Einbußen im Lebensstandard führten, wurde er von den Reformgegnern innerhalb der SED-Führung unter Führung von Erich Honecker Anfang 1971 entmachtet. Die Wirtschaftsreform wurde daraufhin abgebrochen.27 Die DDR kehrte unter Honecker weitgehend zur Zentralplanwirtschaft zurück, wie sie in den 1950er Jahren geherrscht hatte.28 Die für den Betrachter naheliegende Schlussfolgerung, dass damit durch Verzicht auf die Kombination von zentraler mit dezentraler Steuerung und auf die Nutzung marktwirtschaftlicher Elemente der Abstand der DDR zum bundesdeutschen Wirtschaftsniveau wieder zunehmen würde, hat sich jedoch nicht erfüllt. Im Zeitraum 1971–1975 verringerte sich vielmehr der Abstand zwischen beiden Volkswirtschaften weiter. Das wird durch drei Faktoren erklärt: Erstens waren in den Jahren des ÖSS (1968–1970) intensiv Investitionen in »Fortschrittszweigen« getätigt worden, die erst im folgenden Fünfjahreszeitraum zum Wirtschaftswachstum beisteuerten. Zweitens finanzierte Honecker seine der Reformperiode folgende »Strategie der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« in größerem Maßstab mit Importen aus dem Westen, die nicht durch Exporte ausgeglichen werden konnten und dementsprechend zu einer raschen Zunahme der Westverschuldung der DDR führten – von 262 Millionen US-Dollar 1971 auf über 1 Milliarde Dollar 1975.29 Das bewirkte ein Wirtschaftswachstum des BIP der DDR von immerhin 4 Prozent jährlich. Drittens, und das dürfte die Erklärung von größtem Gewicht sein, erlebte im Zeitraum 1971–1975 die westliche Welt ihre erste wirklich schwere Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Sie wurde ausgelöst durch eine Weltölpreiskrise, die zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems führte. Letzteres bewirkte eine Umstellung des internationalen Handels, auf die sich die westdeutsche Exportwirtschaft erst einstellen musste.30 Mit einem durchschnittlichen Wachstum 26 27 28 29 30

Vgl. dazu Roesler, Plan und Markt, S. 65–69. Ebd., S. 157 f. Vgl. Cord Schwartau, Von Plan zu Plan, Herford/Berlin 1974, S. 45–48. Vgl. Roesler, Geschichte der DDR, S. 76 f. Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006, S. 180–187.

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von 2,3 Prozent lag das BIP der Bundesrepublik 1971–1975 so niedrig, dass damals von »Stagflation« die Rede war.31 Die DDR hingegen war von der Erdölkrise verschont geblieben, erhielt sie ihr Öl doch zu Festpreisen aus der Sowjetunion. Doch das sollte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ändern, als die Sowjetunion Erdöl zu modifizierten Weltmarktpreisen zu verkaufen begann, was für die DDR die Ölimporte um ein Mehrfaches verteuerte. Eine Fortführung von Honeckers »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« war nur bei weiter zunehmender Verschuldung gegenüber dem Westen möglich.32 Ungeachtet dieses »Borgens« im Westen: Der beachtliche Wachstumsvorsprung, den die DDR-Wirtschaft (gemessen am BIP pro Kopf) in der ersten Hälfte der 1970er Jahre errungen hatte, schmolz in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auf ein Zehntel zusammen. Und selbst das war nur möglich, weil auch die Wirtschaft der Bundesrepublik unter Kanzler Helmut Schmidt (1974–1982) sich damit schwertat, nach der Krise von 1973/1974 wieder auf den Wachstumspfad zu gelangen. Unter dem Motto »Kontinuität und Konzentration« setzte Schmidt die keynesianische Wirtschaftspolitik betont pragmatisch fort. In Folge der zweiten Ölkrise von 1979/80 konnten die gewohnten Zuwachsraten des Brutto-Inland-Produkts (1976-1980: 3,3 Prozent) nicht mehr erreicht werden. Infolgedessen gehörte das Wachstumstempo der 1960er der Vergangenheit an.33 In der DDR ließ sich Anfang der 1980er Jahre die Verschuldungspolitik gegenüber dem Westen nicht weiterführen. Gegen das hoch verschuldete Land setzte ein Kreditboykott ein. Unter anderem dank eines im Jahre 1983 vom damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Josef Strauß eingefädelten MilliardenKredits kam die DDR an einem finanziellen Offenbarungseid vorbei. Unter Leitung des von Honecker wieder eingesetzten Wirtschaftsreformers Günter Mittag setzte eine rigoros geführte Entschuldungskampagne ein. Im Ergebnis sanken zwischen 1980 und 1985 die Verbindlichkeiten der DDR von 23,1 auf 15,5 Milliarden DM. Sie erhielt nun wieder Kredite von den westlichen Industrieländern. »Es war wirklich bemerkenswert, wie diese Planwirtschaft es geschafft hat, das Defizit des Westhandels zu senken und sogar in einem Überschuss zu verwandeln sowie eine Schuldenkrise zu verhindern« kommentierte Doris Cornelsen, Leiterin der Abteilung »DDR und sozialistische Industrieländer« vom »Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung« in Berlin (West) später rückblickend diese Entwicklung.34 Der außenwirtschaftliche Erfolg ging auf Kosten der Ausgestaltung der Binnenwirtschaft. Günter Mittag rechnete es sich hoch an, dass es ihm gelang, das in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erreichte bescheidene BIP-Wachstum Nützenadel, Wachstum, S. 135. Vgl. Steiner, Plan, S. 191–193. Nützenadel, Wachstum, S. 136. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Anatomie einer Pleite. Der Niedergang der DDR-Wirtschaft seit 1971, Berlin 2000, S. 21. 31 32 33 34

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im Zeitraum 1981–1985 annähernd aufrechtzuerhalten (3,1 Prozent gegenüber 3,6 Prozent im Fünfjahresdurchschnitt).35 Wenn es der DDR ungeachtet dessen gelang, den Aufholprozess – gemessen am BIP pro Kopf – fortzuführen, dann lag das vor allem daran, dass auch die Wirtschaft der Bundesrepublik 1981–1985 nicht prosperierte. Das hatte vor allem damit zu tun, dass es der Bundesrepublik wirtschafts- und finanzpolitisch schwerfiel, sich vom Keynesianismus zu lösen. Helmut Kohl, der 1982 Helmut Schmidt als Bundeskanzler ablöste, sagte sich von der Wirtschaftspolitik seines Vorgängers los, setzte aber vor allem auf Konsolidierung und auf Erhards »Soziale Marktwirtschaft«. Er verhielt sich gegenüber einem Neoliberalismus, wie ihn Margareth Thatcher in Großbritannien praktizierte, reserviert. »Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung von Liberalismus«, distanzierte er sich von der Politik der britischen Premierministerin. »Wir sollten wirklich damit aufhören, ausgerechnet die Briten als unser Beispiel hinzustellen.«36 Die Zuwachsraten des BIP der Bundesrepublik waren zwischen 1981 und 1985 mit 1,2 Prozent im Fünfjahresdurchschnitt die niedrigsten ihrer bisherigen Geschichte, wodurch es der DDR dank ihres Krisenmanagement noch einmal gelang – gemessen an der Entwicklung des BIP pro Einwohner – gegenüber der Bundesrepublik aufzuholen. Mit der relativ günstigen Position der DDR im Wettlauf beider deutschen Wirtschaften war es Ende 1985 vorbei, als sich die Welterdölpreise wieder normalisierten, wovon in erster Linie die westdeutsche Wirtschaft profitierte. In der DDR-Wirtschaft machten sich darüber hinaus die Folgen der seit Ende der 1970er Jahre vorgenommenen Kürzung der Investitionen für die Modernisierung der Industrie außerhalb des Schwerpunktvorhabens Mikroelektronik negativ bemerkbar. Die Zuwachsraten des BIP sanken ab 1987 unter 3 Prozent jährlich. Im Schnitt der Jahre 1986–1989 nahm der Abstand der DDR beim BIP pro Kopf gegenüber der Bundesrepublik erstmals über einen längeren Zeitraum zu. Ende 1989 versuchte die nach Straßenprotesten im Herbst 1989 gebildete DDR-Regierung unter Hans Modrow unter Besinnung auf NÖS und ÖSS nochmals eine Wirtschaftsreform einzuleiten. Die Regierung wurde allerdings im Frühjahr 1990 abgewählt. Die Nachfolgeregierung von Lothar de Maiziere einigte sich im Mai mit der Bundesrepublik auf eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, mit der ab Juni die Planwirtschaft endgültig abgeschafft wurde. Im Oktober 1990 wurde die DDR Bestandteil der Bundesrepublik und hörte auf zu bestehen.37

35 Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin/Weimar 1991, S. 278 f. 36 Zitiert in: Andreas Wirsching, »Neoliberalismus« als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell? Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren, in: Plumpe/Scholtyseck, Staat, S. 139–150, hier S. 141. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Almuth Ebke in diesem Band. 37 Vgl. Ulrich Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, Erfurt 2014, S. 89–101.

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In der Rückschau auf vier Jahrzehnte wird deutlich, dass die Verringerung des Abstandes der DDR zur Bundesrepublik in der Wirtschaftsleistung bis 1985 kein kontinuierlicher Prozess war, sondern abhängig von der Wirksamkeit der von den Regierungen in Ost-Berlin bzw. Bonn getroffenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Ein »Untergang auf Raten« lässt sich allerdings nicht erkennen. Einen Ausweg aus dem Dilemma, die Inadäquatheit der planwirtschaftlichen Organisation der Produktion nicht so überzeugend wie gewünscht demonstrieren zu können, hat für manche der über die deutsche Nachkriegswirtschaft Schreibenden darin bestanden, den Vergleich vorrangig quantitativ ausgewiesenen Wachstums für weniger wichtig zu erklären und zu argumentieren, dass es die zunehmende Rückständigkeit auf technologischem Gebiet war, an der sich die historische Unterlegenheit des planwirtschaftlichen gegenüber dem marktwirtschaftlichen System am Beispiel der DDR nachweisen ließe – und zwar überzeugender als mit Hilfe der Kennziffern des Wachstum des Bruttosozialprodukts bzw. des BIP je Einwohner. Deshalb wird in den nach 1990 erschienenen vergleichenden Analysen immer wieder betont, dass sich die Schwäche der DDR-Wirtschaft auch und vor allem im qualitativen Wachstum gezeigt habe. Wegen »systembedingter Innovationshemmnisse« habe man in der DDR auf technologischem Gebiet schon früh den Anschluss an das »Westniveau« verloren.38 All ihre Versuche in den späteren Jahren, wieder aufzuholen, seien – anders als im Falle der Konkurrenz auf quantitativem Gebiet – generell misslungen. Als Nachweis dafür wird immer wieder gern auf den misslungenen Versuch der DDR verwiesen, ab Mitte der 1970er Jahre auf dem Gebiet der Mikroelektronik einen gegenüber der Bundesrepublik eingetretenen technologischen Rückstand aufzuholen, um zur »Weltspitze« vorzustoßen, was letztlich völlig misslang. Der Beweis: Im September 1988 wurde dem sowjetischen Parteichef Gorbatschow stolz der erste in der DDR produzierte Megabit-Chip vom Direktor des Erfurter Mikroelektronikkombinats präsentiert.39 Das geschah zu einem Zeitpunkt, da dieses Hightech-Produkt in den Ländern des Westens bereits auf dem Markt verkauft und verarbeitet wurde. Mit anderen Worten: Gerade dieses Beispiel zeige, wie sehr die DDR im Bereich der Hightech, statt aufzuholen, immer mehr hinterher hinkte.40 Zu prüfen, inwieweit diese Aussage zutrifft und in welchem Maße diese Entwicklungen Auswirkungen auf die deutsch-deutsche Konkurrenzsituation hatten, ist Thema des folgenden Abschnitts.

38 Steiner, Plan, S. 211. 39 Karl Nendel, General der Mikroelektronik. Autobiographie, Berlin 2017, S. 174. 40 Steiner, Plan, S. 210.

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IV. Die Auswirkungen systemischer und nichtsystemischer Faktoren auf die Wettbewerbsfähigkeit der DDR im Bereich des qualitativen Wachstums am Beispiel der Entwicklung der Mikroelektronik Mitte der 1970er Jahre, erinnert sich der Wirtschaftssekretär des ZK der SED Günter Mittag in seinen 1991 publizierten Memoiren, »sah ich mit großer Sorge, wie die modernen Industrieländer des Westens und Japan uns (in Wissenschaft und Technik) davoneilten. […] Das betraf auch das Gebiet der Mikroelektronik.«41 Es ist anzunehmen, schreibt Karl Nendel, langjähriger Staatssekretär im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik der DDR dazu in seinen Memoiren, dass die »Hauptverwaltung Aufklärung« (HVA) des Staatssicherheitsdienstes der DDR den Wirtschaftssekretär des ZK der SED davor gewarnt hatte, »dass wir komplett abgehängt werden, wenn wir nicht endlich etwas unternehmen.«42 In der HVA gab es seit 1971 einen Sektor »Wissenschaft und Technik«, in dem sich die Abteilung XIV auf Spionage auf dem Gebiet Elektrotechnik und Elektronik spezialisiert hatte. Der von Alexander Schalck-Golodkowski geleitete Bereich »Kommerzielle Koordinierung« (Koko) wurde einbezogen, wenn bei der Umgehung des Embargos Devisenzahlungen notwendig wurden.43 Hinsichtlich seiner Forderung, die Mikroelektronik in der DDR mit Nachdruck zu fördern, stand Mittag nicht allein. Auf der 4. Tagung des ZK der SED im Dezember 1976 hatte Otfried Steger, der Minister für Elektrotechnik und Elektronik, in einer Diskussionsrunde auf die zunehmende Bedeutung der Mikroelektronik aufmerksam gemacht. Auf der 6. Tagung des ZK der SED im Juni 1977 standen dann die »Schlüsseltechnologien« im Mittelpunkt. Steger hielt das Hauptreferat. Die Tagung, die rasch den Beinamen »Mikroelektronik-Plenum« erhielt, fasste den Beschluss: »Zur Sicherung der einheitlichen Leitung der Mikroelektronik ist die Bildung eines leistungsfähigen Kombinats vorzunehmen.« Im Jahre 1979 beschloss die oberste Entscheidungsinstanz der DDR, das Politbüro, eine »langfristige Konzeption zur beschleunigten Entwicklung und Anwendung der Mikroelektronik in der Volkswirtschaft«. »Ab Anfang der 80er Jahre«, schreibt Nendel in seinen Memoiren, »galt die Mikroelektronik als eine Art Wunderdroge der DDR-Wirtschaft. Von da an tauchte sie als Stichwort in fast jedem Sitzungsprotokoll des ZK der SED auf«.44 Der normale Weg der Aneignung der Mikroelektronik durch ein Industrieland wäre es gewesen, sich über Lizenznahmen und Erzeugnisimporte aus den Ländern mit bereits entwickelter Mikroelektronik, also aus den USA, Japan oder

41 Mittag, Preis, S. 118. 42 Nendel, General, S. 99. 43 Vgl. Olaf Klenke, Ist die DDR an der Globalisierung gescheitert? Autarke Wirtschaftspoli-

tik versus internationale Weltwirtschaft: Das Beispiel Mikroelektronik, Frankfurt a. M. 2001, S. 67; Nendel, General, S. 96. 44 Nendel, General, S. 102.

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auch der Bundesrepublik, mit dem nötigen Know-how zu versorgen, die Muster nachzubauen und auf dieser Basis die mikroelektronische Produktion im eigenen Land aufzubauen und weiterzuentwickeln. Dieser Weg blieb der DDR allerdings verschlossen. Das hing in erster Linie mit der von den USA 1948 geschaffenen Einrichtung des Coordinating Committee (Cocom) zusammen, das amerikanischen Firmen und denen der mit den USA verbündeten Staaten verbot, moderne technologische Verfahren und Produkte in »kommunistische Staaten« zu exportieren. Das Resultat dieses Embargos war eine weitgehende Abschottung der östlichen Welt vom Technologietransfer, soweit er sogenannte »sensible« Erzeugnisse und Technologien betraf. Dazu gehörte auch und seit den 1970er Jahren in besonderem Maße die Mikroelektronik. Die DDR-Plankommission wandte sich daraufhin bezüglich der Kooperation auf mikroelektronischem Gebiet an die Sowjetunion. Man musste in der DDR jedoch zur Kenntnis nehmen, dass dort darauf verwiesen wurde, dass man »schon den eigenen Bedarf an Schaltkreisen nicht befriedigen könne«. Das traf auf den zivilwirtschaftlichen Bereich der Mikroelektronik zu, nicht aber auf die das Wettrüsten mit den USA tragenden Betriebe des militärisch-industriellen Komplexes. Ein Versuch der HVA, mit Hilfe des sowjetischen Geheimdienstes eine Lieferung gewünschter mikroelektronischer Muster von diesen Betrieben zu erhalten, scheiterte jedoch daran, dass der sowjetische Geheimdienst KGB glaubte, dass es in der DDR »von Westspionen nur so wimmelt«. Der KGB befürchtete, dass die westlichen Geheimdienste im Falle des Transfers von mikroelektronischem Know-how aus der Sowjetunion in die DDR Gelegenheit fänden, sich über den Stand der sowjetischen Waffentechnik zu informieren.45 Als man sich in der DDR in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre entschlossen hatte, die Mikroelektronik zu entwickeln, lag es den Beteiligten zunächst fern, der Republik zuzumuten, den einzuschlagenden Weg auf sich gestellt zu gehen. Aber die restriktive Embargopolitik des Westens und die Verweigerungshaltung des unter Breschnew besonders einflussreichen militärisch-industriellen Komplexes der Sowjetunion machte eine eigenständige Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR unausweichlich, wollte man nicht im Systemwettbewerb auf wirtschaftlichen Gebiet gleich die Segel streichen.46 Es war Günter Mittag, seit 1976 (wieder) Wirtschaftssekretär des ZK der SED, der diese Entscheidung traf.47 Sie schloss ein, dass sich der Sektor Wissenschaft und Technik der HVA, insbesondere deren Abteilung XIV Elektrotechnik/Elektronik, um die Beschaffung relevanter Unterlagen aus dem Westen kümmerte. Deren für die Entwicklung der Mikroelektronik der DDR wohl bedeutendste Leistung gelang, als – u. a. durch 45 Für alle Zitate Nendel, General, S. 96–100. 46 Günter Mittag, Ich hatte es immer mit Widersprüchen zu tun, in: Theo Pirker / M., Rainer

Lepsius / Rainer Weinert, u. a. (Hg.), Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 25. 47 Vgl. Mittag, Preis, S. 117–120.

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Kontakte mit dem US-amerikanischen Hightech-Konzern Texas Instruments – amerikanische Unterlagen für die Ausbildung von Physikern, Technologen und Ingenieuren im Bereich Mikroelektronik beschafft werden konnten. Das Material wurde übersetzt und floss in Lehrprogramme ein. »Innerhalb weniger Monate war das Know-how an den Hochschulen verfügbar.«48 Wichtige organisatorische Entscheidungen für die Realisierung des Mikroelektronikprogramms in der Industrie wurden mit der Gründung des Kombinats Mikroelektronik am 1. Januar 1978 eingeleitet, dessen Stammbetrieb seinen Sitz in Erfurt hatte. In Teltow bei Berlin entstand das Kombinat Elektronische Bauelemente Teltow. Die Wahl der Standorte ergab sich aus den an Ort und Stelle bereits existierenden Elektronik-Betrieben. In das neue Erfurter Kombinat wurde auch das Institut für Mikroelektronik Dresden eingefügt, das u. a. mit dem dort ansässigen VEB Elektromat fusionierte und 1986 zum »VEB Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik« zusammengeschlossen wurde. Dank umfangreicher Investitionen stieg die Zahl der Mitarbeiter des Zentrums in den folgenden Jahren auf über 7.000 an.49 Die Erkenntnisse und Verfahren, die aus dem Forschungs- und Entwicklungszentrum in Dresden kamen, wurden in den »auf der grünen Wiese« gebauten Chipfabriken Erfurt Süd Ost (ESO) realisiert. 1982 begonnen, wurde ESO I 1984 vollendet. Die Serienfertigung von Chips begann in ESO I und II 1988. Ende 1989 / Anfang 1990 war mit ESO III die dritte Produktionsstätte für Leistungschips fertiggestellt.50 Der rasche Aufbau von Chipfabriken war nur möglich, weil massiv in den neuen Zweig investiert wurde. Nach Angaben der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR vom Januar 1990 belief sich der »Gesamtaufwand für den Auf- und Ausbau der Forschungs- und Produktionsbasis für die Mikroelektronik« bis 1989 auf fast 25 Milliarden DDR-Mark.51 Das waren für ein Land von der Größe und Leistungskraft der DDR enorme Aufwendungen. Sie fielen in eine Zeit, in der die Investitionen in der DDR ab 1978 stagnierten, ab 1982 sogar zurückgingen und erst 1986 wieder den Umfang von 1979/80 erreichten.52 Die Investitionen in die Mikroelektronik konnten unter diesen Umständen nicht aus dem regulären Investitionszuwachs bestritten werden. Das hatte negative Folgen für die gesamte Volkswirtschaft der DDR: Andere Industriezweige mussten dadurch auf ihnen eigentlich zustehende Investitionsmittel verzichten. Mit anderen Worten: Es »wurden nicht nur die Gewinne, sondern auch ein Teil der Amortisationen der anderen Betriebe zentralisiert und umverteilt, wodurch sich der Verschleißgrad der Ausrüstungen dieser Betriebe erhöhte und ihre Technik zum Teil 48 Klaus Eichner / Gotthold Schramm u. a., Hauptverwaltung Aufklärung. Geschichte, Aufga-

ben, Analysen, Bd. 1, Berlin 2014, S. 37 f. 49 Nendel, General, S. 123 f. 50 Harry Pollei, Jäher Aufstieg und Fall ins Bodenlose, in: Siegfried Hornich (Hg.), Kombinate. Was aus ihnen geworden ist. Reportagen aus den neuen Ländern, Berlin/München 1993, S. 325. 51 Ebd., S. 324. 52 Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, Berlin 1990, S. 113.

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hoffnungslos veraltete«.53 Von den Kürzungen betroffen waren unter anderem Anlagen der Kohle-Karbid-Chemie, der Kupfer- und Aluminiumproduktion und der Zellstoffindustrie. Der dies beklagte, war kein geringerer als der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR, Gerhard Schürer. Verantwortlich für die Planung der gesamten Volkswirtschaft war er einer der prominentesten Gegner des forcierten Ausbaus der Mikroelektronikindustrie. Der oberste Rechner und Bilanzierer der DDR-Wirtschaft führte noch ein zweites Argument gegen die von ihm als »privilegierte Investitionsvorhaben« bezeichneten Ausgaben für die Mikroelektronik an: Die Devisenertragskennziffer, d. h. die Einnahmen aus dem Export je 1.000 Mark Bruttoproduktion, den die DDR im westlichen Ausland erzielte, lagen im Bereich der Mikroelektronik im günstigsten Fall bei 156 Valutamark. Betriebe des Werkzeugmaschinenbaus erzielten demgegenüber einen Wert bis 440 VM und Druckereien bis zu 357 VM.54 Angesichts eines Schuldenberges von 15,5 Milliarden DM gegenüber dem Westen im Jahre 1985 und 19,9 Milliarden DM im Jahre 1989 war der Vorwurf Schürers, in die Mikroelektronik würden enorme Mittel gesteckt, ohne dass deren Erzeugnisse ernsthaft zur Verringerung des Schuldenberges der DDR beitragen könnten, ein Argument von Gewicht.55 Der Chef der DDR-Plankommission gewann für seinen Kampf gegen die von ihm gegeißelte Mittelverschwendung beim Ausbau der Mikroelektronik dann auch Verbündete – so den DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph, der auch im Oktober 1989 noch auf seiner Meinung bestand: »So wichtig die Mikroelektronik auch ist, sie kann nicht allein unsere Volkswirtschaft modernisieren. […] Sie ist kein Allheilmittel«.56 Die Kritiker fanden jedoch im Politbüro der SED und beim SED-Parteivorsitzenden Erich Honecker letztlich kein Gehör.57 Der Ausbau der Mikroelektronik nahm weiterhin seinen Lauf und endete erst 1990, im letzten Jahr der Existenz der DDR.58 Inwieweit rechtfertigte sich der unter widrigen Bedingungen organisierte Ausbau der Mikroelektronik in der DDR durch seine Ergebnisse? In den während der 1980er Jahre beschlossenen Fünfjahrplänen, in deren Zentrum die beschleunigte Entwicklung und Anwendung »der Mikroelektronik, der Robotertechnik, der elektronischen Steuerung von Maschinen sowie elektronische Re53 Gerhard Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche Biografie, Frankfurt a. d. O. 1996, S. 116. 54 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR (SZS), Information über die Aufwendungen für die Entwicklung und Produktion von Mikroelektronik und die ökonomischen Ergebnisse ihrer Anwendung, Berlin Januar 1990, S. 15. 55 Deutsche Bundesbank, Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989, Frankfurt a. M. 1999, S. 60. 56 Zitiert in: Charles Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 143. 57 Mittag, Widersprüchen, S. 25. 58 Vgl. Nendel, General, S. 179 f.

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chentechnik« standen, wurde verlangt, auf diesem Wege in kürzester Zeit den technologischen Rückstand der DDR gegenüber dem Westen aufzuholen.59 Der Rückstand belief sich 1976 bzw. 1977 laut einer im Wirtschaftssekretariat des ZK der SED erarbeiteten Analyse je nach Chip-Typen auf vier bis acht Jahre.60 Mehr als ein Jahrzehnt später, 1988, war der Abstand je nach Chip-Art und gemessen jeweils am Beginn der Serienfertigung bei wichtigen Produkten nur teilweise geringer.61 Waren also alle Anstrengungen vergebens? Wenn man die Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR allein an den Zielsetzungen der Fünfjahrpläne der 1980er Jahre misst, die auf das Erreichen des Standes im Westen fixiert waren, dann war das tatsächlich der Fall.62 Doch Fortschritte waren unverkennbar. »Der 1-Kilobit-Speicher kam im Vergleich mit dem internationalen Niveau fünf Jahre, der Megabit-Speicher nur noch drei Jahre später«, stellt der Mikroelektronik-Fachmann Jens Knobloch fest. Sein Urteil: »Wir waren also auf einem guten Weg, den Rückstand aufzuholen.«63 Dieser positiven Beurteilung der DDR-Mikroelektronik sollte aus zwei Gründen zugestimmt werden. Erstens war es der DDR tatsächlich gelungen, die Mitte der 1970er Jahre drohende Gefahr, eine weitere Vergrößerung des Abstandes beim mikroelektronischen Fortschritt während anderthalb Jahrzehnte rasanter Entwicklung des Hightech-Zweiges zu verhindern. Nur deshalb war ein Teil der DDR-Forschungs- und Produktionsbetriebe der Mikroelektronik 1990 technisch so weit fortgeschritten, dass sie auch die mit der Währungsunion im Sommer 1990 in der DDR-Wirtschaft eingeleitete »Schocktherapie« überstanden, die selbst viele Betriebe traditioneller Branchen, zum Beispiel im Werkzeugmaschinenbau, kaum überlebten.64 So berichtet Karl Nendel in seiner Autobiografie, »dass sich – wegen des starken Potenzials an Fachkräften – nach 1989 in der Region um Dresden ein europaweit einzigartiges Cluster für die Mikroelektronik entwickelte«. 1998 wurde diese Region in einem Artikel des TIME-Magazins »Silicon Saxony« getauft.65 »Heute«, schreibt Nendel, »ist ›Silikon Saxony‹ ein Cluster mit etwa dreihundertfünfzig Betrieben der Mikroelektronik, das bis

59 Direktive des X. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1981 bis 1985, Berlin 1981, S. 13. 60 Zitiert in: Jörg Roesler, Zu groß für die kleine DDR? Der Auf- und Ausbau neuer Industriezweige in der Planwirtschaft am Beispiel Flugzeugbau und Mikroelektronik, in: Wolfram Fischer / Uwe Müller / Frank Zschaler (Hg.), Wirtschaft im Umbruch. Strukturveränderungen und Wirtschaftspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1997, S. 327. 61 Nendel, General, S. 176. 62 Vgl. Direktive des XI. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1986–1990, S. 48–52; Direktive Fünfjahrplan 1981–1985, S. 13. 63 Zitiert in: Nendel, General S. 176. 64 Vgl. Bernd Holm, Die Mühen der Ebenen im Werkzeugmaschinenbau, in: Hornich, Kombinate, S. 245–258. 65 Time Magazin vom 27.4.1998.

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Leipzig, Freiberg und Chemnitz reicht.«66 Zweitens sollten bei der Beurteilung der Entwicklung der DDR-Mikroelektronik die nichtsystemischen Hindernisse auf keinen Fall unberücksichtigt gelassen werden – allen voran das von den USA 1948 verhängte Embargo. Es verhinderte die wissenschaftlich-technische Kooperation der DDR mit den Ländern des Westens, vor allem mit Hightech-Konzernen der Bundesrepublik. Ebenso wenig kam es im Bereich der Mikroelektronik zu Kooperationsbeziehungen mit sowjetischen Unternehmen. Diese aus politischen wie militärischen Gründen verfügte Abschottung machte eine fruchtbare internationale Kooperation unmöglich, sodass sich die DDR entschloss, um überhaupt auf mikroelektronischem Gebiet voranzukommen, den Weg der Eigenentwicklung zu gehen.67 Das Mittagsche und das Stophsche Konzept entsprangen, wenn man sie genauer betrachtet, nicht Größenwahn oder Kleinmut. Beide waren rational begründet. Als sich die SED-Führung in ihrer Mehrheit für den Auf- und Ausbau der Mikroelektronikindustrie entschloss, habe es sich, so die Meinung zweier Wissenschaftler des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts in einer im Auftrage des Deutschen Bundestages erarbeiteten Studie über die DDR-Mikroelektronik, um »eine Art Verzweiflungsakt des Politbüros« gehandelt.68 Auch aus dem ausgewählten exemplarischen Beispiel für den ökonomischen Wettbewerb zwischen beiden Systemen im Bereich des qualitativen Fortschritts ergibt sich – wie für die Untersuchung des Konkurrenzgeschehens auf vorrangig quantitativem Gebiet –, dass allein auf die planwirtschaftlichen Entscheidungsstrukturen zielende Begründungen des »systembedingten« Zurückbleibens der DDR hinter der Bundesrepublik zu kurz greifen. Auch im Bereich qualitativer Fortschrittskennziffern beweist sich, dass die beiden deutschen Staaten unter ungleichen Bedingungen im Wettbewerb der Systeme agierten. Diese waren im Falle der Mikroelektronik noch ungleicher als im Bereich des quantitativen Wachstums der beiden Volkswirtschaften. Die Konkurrenz auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik wie der Wettlauf um die höchsten volkswirtschaftlichen Wachstumsraten fand zwischen beiden deutschen Staaten nicht allein als Wettlauf zweier Wirtschaftssysteme statt, so sehr ihn beide Seiten auch als Systemwettbewerb interpretierten.

66 Nendel, General, S. 177. 67 Dies war ein Weg, den Günter Mittag, wie beschrieben, favorisierte und letztlich erfolg-

reich gegen innere Widerstände verteidigte. Dabei ist zu beachten: Dieser Widerstand innerhalb der höchsten Partei- und Regierungsgremien der DDR war nicht gegen die Entwicklung der Mikroelektronik an sich gerichtet. Gegner wie Ministerpräsident Willi Stoph fürchteten vielmehr, dass sich die DDR mit den im Falle der Eigenentwicklung notwendig werdenden umfangreichen Investitionen übernehmen und wirtschaftlich straucheln würde. Letztlich setzte sich Günter Mittag mit seinem von ihm ausgearbeiteten und von der »Arbeitsgruppe Mikroelektronik« beim ZK der SED diskutierten Konzept durch. 68 Zitiert in: Roesler, Industriezweige, S. 334.

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Selbstverständlich könnte man auch bezüglich des Wettlaufs im Bereich der Mikroelektronik im Sinne einer Counterfactual History Fragen stellen wie: Hätte die DDR aufholen können, wenn sie uneingeschränkten Zugang zur Hochtechnologie des Westens gehabt hätte? Oder: Wie wäre der Konkurrenzkampf verlaufen, wenn den Firmen der Bundesrepublik der Zugang zu Mikroelektronik von beiden auf diesem Gebiet führenden Ländern, der USA und Japan kategorisch verwehrt worden wäre? Hätten allein die Anwendung der »Gesetze des Marktes« und das größere wirtschaftliche Potenzial der Bundesrepublik im Vergleich zur DDR es möglich gemacht, bessere Ergebnisse zu erzielen als es die Nutzung planwirtschaftlicher Strukturen in der DDR erlaubte? Immerhin hatte der Plan eine Konzentration der Forschungs- und Investitionsmittel in diesem Zweig ermöglicht, wie ihn nur »Zentralverwaltungswirtschaften« organisieren können. Hätte die Bundesrepublik die Folgen einer angenommenen Abschottung von der Hochtechnologie wirklich besser bewältigen können als die DDR? Zu versuchen, diese gewiss berechtigten Fragen zu beantworten, würde zu weit führen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die nach den USA weltweit erfolgreichsten Einsteiger in die Mikroelektronik, Japan und die Bundesrepublik, diese Position nach dem Urteil der Fachleute nur erreichten, weil sie unmittelbar und intensiv mit US-amerikanischen Firmen kooperierten. Der marxistische Politikwissenschaftler Olaf Klenke stellte dazu fest: »Der Aufstieg japanischer Mikroelektronik-Hersteller in den 80er Jahren ist nicht ohne den vorhergehenden Rückgriff auf ausländische, meist amerikanische Technologien zu erklären. Siemens stieg unter Nutzung von Lizenzen amerikanischer Chiphersteller in die Mikroelektronikindustrie ein. Ebenso fand der Aufbau der Mikroelektronik in den Schwellenländern auf der Grundlage ausländischer Technologietransfers statt«.69

V. Fazit Doch zurück zur Systemkonkurrenz zwischen DDR und Bundesrepublik: In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kam es in der DDR-Volkswirtschaft zu Wachstumseinbußen, begleitet von einem Rückgang des Lebensstandards. Dem Anwachsen wirtschaftlicher Probleme im Produktions- und Konsumtionsbereich folgten im Herbst 1989 auf politischem Gebiet die Straßenrevolution und im Herbst 1990 das Ende der DDR. Das heißt: Insgesamt gesehen konnte das Gesellschaftssystem der DDR mit dem des Konkurrenten Bundesrepublik nicht mithalten und unterlag diesem im Wettbewerb der Systeme. Ein Nachweis für die Behauptung, dass die DDR-Planwirtschaft von Anfang an nicht lebensfähig

69 Bekannte japanische Firmen wie beispielsweise Toshiba profitierten vor allem von einem Abkommen mit IBM. Vgl. Klenke, Globalisierung, S. 50; 65.

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und folglich zu einem »Untergang auf Raten« verurteilt war, ist das jedoch nicht. Dagegen sprechen folgende Tatsachen: Erstens: Das Wirtschaftssystem der DDR ist, wenn man das Jahr 1950 als Ausgangspunkt wählt, fast 40 Jahre funktionstüchtig gewesen. Zweitens: Die Funktionstüchtigkeit hat auch nicht Schritt für Schritt gewissermaßen von Jahr zu Jahr nachgelassen. Eine Vergrößerung des Abstandes trat – bezogen auf überwiegend quantitative Messwerte wie das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner – nach zwei Jahrzehnten des Mithaltens erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein. Im qualitativen Bereich – gemessen an der Entwicklung der Mikroelektronik – konnte verhindert werden, dass der bis Mitte der 1970er Jahre eingetretene Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik sich in den der DDR verbleibenden anderthalb Jahrzehnten vergrößerte. Die DDR-Wirtschaft erwies sich allerdings zu keinem Zeitpunkt in der Lage, ernsthaft aufzuholen, d. h. ihre Wirtschaftskraft an die der Bundesrepublik anzugleichen – ungeachtet der in Volkswirtschaftsplänen bezüglich des quantitativen Wachstums in Plänen für die Jahre 1959 bis 1965 gegebenen Versprechen und ungeachtet aller Aufholpläne für den Bereich der Mikroelektronik in den Fünfjahrplänen der 1980er Jahre. Beziehen wir in unseren Vergleich weitere, die gesellschaftliche Entwicklung bestimmende Faktoren ein, dann ergeben sich für die Wohlstandsentwicklung parallele Aussagen zum Konkurrenzverlauf, wie die beim Vergleich der ökonomischen Systeme gewonnenen. Bezüglich des Konsumniveaus blieb die DDR von ihrer Gründung bis zu ihrem Ende der Bundesrepublik unterlegen. Ohne dies hier im Einzelnen nachweisen zu wollen, ist darauf hinzuweisen, dass der Abstand im Wohlstandsniveau der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik größer war und blieb als der im Wirtschaftsniveau, trotz expliziter Aufholbestrebungen auch in diesem Bereich vor allem in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, als Parteichef Honecker unter der von ihm verkündeten Losung der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« genau genommen der Konsumsteigerung den Vorrang gegenüber der Steigerung der Wirtschaftsleistung gab. Der SED-Parteichef musste aber diese Strategie bereits Mitte der 1970er Jahre wieder aufgeben – allen voran, um der aus Gründen der Absicherung der wirtschaftlichen Weiterexistenz der DDR von da an bevorzugten Mikroelektronik eine Chance zu geben.70 Anders als im Wettbewerb im Bereich der Ökonomie und der Hebung des Wohlstands der Bevölkerung war und blieb die Wettbewerbssituation der DDR im sozialen Bereich für sie günstiger. Allen Bemühungen früher westdeutscher Regierungen zum Trotz, in der Bundesrepublik das vom langjährigen Wirtschaftsminister und späterem Kanzler Erhard – sicherlich auch mit Blick auf die DDR-Gesellschaft – gegebene Versprechen, eine »soziale Marktwirtschaft« zu schaffen, blieb die Bundesrepublik hinsichtlich der Verwirklichung »sozialer Gerechtigkeit«, gemessen am Grad der einkommensmäßigen Annäherung der 70 Vgl. Roesler, Geschichte, S. 75–77.

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Bevölkerungsschichten, dem Gesellschaftssystem der DDR unterlegen. Aus all dem ergibt sich als Fazit: Im Wettbewerb der Gesellschaftssysteme der beiden deutschen Staaten war die Bundesrepublik Sieger nach Punkten, nicht aber – wie es Ende 1989/1990 den Anschein hatte und seitdem gern verkündet wird – Sieger durch K. o.

Ines Weber

KONTINUITÄTEN, WANDLUNGEN UND WIDERSPRÜCHE Das politische Denken Robert Havemanns

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ie sozialwissenschaftliche und historische Perspektive auf Kontinuitäten und Wandlungen hat sich verschoben. Entwicklungen werden nicht mehr (nur) anhand von Kriegen, neu auf der Landkarte entstehenden Staaten und Amtszeiten periodisiert, sondern deutlich relationaler und kontingenter, in einem Sowohl-als-auch gedacht. Damit geraten auch jene Zeitabschnitte verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Analysen, die als stabile Epochen bezeichnet werden könnten, aber bei näherer Betrachtung als »Inkubatoren« zu verstehen sind für »nachgerückt« zu konstatierende Veränderungen. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael haben im Zuge ihrer Untersuchungen vorgeschlagen, die jüngste Zeitgeschichte (West-)Europas als einen Strukturbruch und Wandel von revolutionärer Qualität1 zu begreifen und es gibt weitere Analysen, die mit einer ganz ähnlichen Perspektive auf die 1970er Jahre in Westeuropa schauen.2 Eine auf diese Weise unternommene deutsch-deutsche Geschichtsschreibung ist

1 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die

Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. 2 Der 2016 erschienene Sammelband vertieft die gegenwartsnahen Analysen: vgl. Anselm

Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. Es gibt weitere Arbeiten, die andere inhaltliche Schwerpunkte setzen, etwa Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013; Massimiliano Livi u. a. (Hg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt, Frankfurt a. M. 2010.

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zwar angemahnt3 und bereits in mehreren Arbeiten erprobt worden,4 auch gibt es Bemühungen, die sich im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts vollziehenden Entwicklungen gesamteuropäisch (und nordamerikanisch) einzubetten.5 Doch auch diesbezüglich ist die Epoche »nach dem Boom« noch (längst) nicht ausgeforscht. Ihr voraus geht in der Bundesrepublik eine vermeintlich stabile, weil wirtschaftlich prosperierende Nachkriegszeit. Die Verfestigung des keynesianischen Ordnungsmodells verband sich mit der Etablierung eines liberalen Demokratieverständnisses und dem schrittweisen Zusammenwachsen Westeuropas. Auf der östlichen Seite wurde demgegenüber der planmäßige Aufbau des Sozialismus proklamiert, der unter anderem aufgrund der Reparationsleistungen und der bis 1961 stattfindenden massenhaften Migration in die Bundesrepublik immer wieder ins Stocken geriet. Wenngleich sich beide deutsche Staaten in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelten, haben sie sich nicht losgelöst voneinander betrachtet, wobei die DDR die Bundesrepublik sicher stärker in den Blick nahm und als Referenzgesellschaft begriff als umgekehrt. Es galt die Überlegenheit des jeweiligen Systems mithilfe eines ohne große Rücksicht auf Umwelt und Natur stattfindenden Wettstreits auf wirtschaftlich-technischem Gebiet zu beweisen, wofür von beiden Seiten sogar »Magnet-Theorien« entwickelt wurden – selbstverständlich mit jeweils entgegengesetztem Anziehungspol.6 Die Überlegenheit des Systems sollte sich auch auf militärischem Gebiet spiegeln, wobei auch hier eine neue Dimension erreicht wurde, denn anders als bisher war nicht nur die schrittweise Zerstörung der Umwelt, sondern auch die sofortige Vernichtung aller Menschen potentiell möglich geworden. Für diesen Wettstreit war die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, unverzichtbar, denn sowohl die permanente Produktionssteigerung und technische Innovation als auch die militärische Überlegenheit wurden nur durch naturwissenschaftliche Entdeckungen bzw. Entwicklungen möglich. Entsprechend standen in dieser Zeit Wissenschaftler_innen in besonderem Maße im Lichte der Öffentlichkeit und genossen eine herausgehobene soziale Stellung. Das wissenschaftliche Urteil wurde sozial geschätzt, fand mediale Aufmerksamkeit und stieß auch innerhalb der politischen Sphäre auf große Beachtung. Letztere drückte sich in zweifacher Weise

3 Vgl. u. a. Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1949 bis 1990, in: ders. / Peter Lautzas (Hg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Schwalbach 2006, S. 20–37. 4 Vgl. u. a. Werner Plumpe / André Steiner (Hg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016; Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte, Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015. 5 Vgl. u. a. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006. 6 Vgl. Dierk Hoffmann, Ölpreisschock und Utopieverlust. Getrennte Krisenwahrnehmung und -bewältigung, in: Udo Wengst / Hermann Wentker (Hg.), Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Bonn 2008, S. 213–234, hier S. 221 f.

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aus: Erstens verstanden sich insbesondere im politisch gesehen östlichen Europa und damit auch in der DDR Politiker_innen auch (zum großen Teil sogar vorrangig) als Wissenschaftler_innen. Die politischen Amtsträger_innen waren ihrem Selbstverständnis nach theoretisch gebildete Leute, die für sich in Anspruch nahmen, unter Rückgriff auf die sozialistische Idee und die kritisch-dialektische Methode wissenschaftlich fundierte Politik zu betreiben.7 Zweitens wurden jene (natur-)wissenschaftlichen Bereiche, die besonders Erfolg versprechend waren, in großem Umfang vom jeweiligen politischen System finanziell unterstützt. Einer der bekanntesten Dissidenten der DDR, der Chemiker Robert Havemann (1910–1982), gehörte in den 1950er Jahren zu jener Personengruppe, die im Wettstreit der Systeme wichtige Forschung für die DDR betrieb und einen exklusiven Zugang zum politischen Führungspersonal genoss. Als systemtreuer Stalinist besaß er diverse Privilegien und wirkte in der ersten Freiheitsbewegung der DDR – den Ereignissen im Juni 1953 – dergestalt mit, dass er den demonstrierenden Arbeiter_innen zurief: »Grotewohl will die freien Wahlen in ganz Deutschland. Was wollen wir hier? Wir müssen in den Westen ziehen, dort sitzen die Spalter. Dort müssen wir die freien Wahlen fordern«.8 Diese Linientreue wurde in den darauffolgenden Jahren brüchig, ab den 1960er Jahren war Havemann einer der schärfsten Kritiker der DDR, der sich in einem in der ZEIT abgedruckten Text öffentlich und rundweg von seinen früheren Ansichten distanzierte: »Damals galt für mich der Grundsatz: Die Wahrheit ist ›parteilich‹. Jeden Gedanken, der nicht ›marxistisch‹ war, hielt ich für feindlich und für falsch zugleich. Natürlich maßte ich mir nicht an, aus eigenem Denken zu beurteilen, ob bestimmte Meinungen das Prädikat ›marxistisch‹ verdienten oder nicht. Das zu entscheiden war Sache der Partei. Ich war zu unbedingter Bescheidenheit gegenüber der kollektiven Weisheit der Partei erzogen. Für mich galt: Die Partei hat immer recht. […] Was ich heute denke, was ich heute schreibe, das ist Wiederaufbau aus den Trümmern.«9

Dieser Wiederaufbau sollte zunächst »nur« mithilfe eines freien Meinungsstreits in den Wissenschaften und ergebnisoffener Diskussionen gelingen, aber schon bald beschränkte Havemann seine Forderungen nicht mehr nur auf die wissen7 Vgl. zu diesem Selbstverständnis u. a. Walter Ulbricht, Die Rolle des sozialistischen Staates

bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus, in: Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft »Walter Ulbricht« (Hg.), Das System der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente, Berlin 1970, S. 225–242, hier insbesondere S. 230–232. 8 Robert Havemann, Fragen, Antworten, Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, Reinbek b. H. 1972, S. 112. 9 Robert Havemann, Ja, ich hatte Unrecht. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde, in: Dieter Hoffmann / Hubert Laitko (Hg.), Robert Havemann. Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde. Texte eines Unbequemen, Berlin 1990, S. 192–196, hier S. 192 sowie S. 194 [Wiederabdruck des ZEIT-Artikels].

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schaftliche Sphäre, sondern erhob sie für die Gesellschaft insgesamt. Dadurch geriet er immer stärker zwischen die Fronten, wurde schließlich aller Ämter enthoben und zeitweise unter Hausarrest gestellt. Seine freie Zeit nutzte Havemann dergestalt, dass er sich dank mehrerer Freunde aus der Bundesrepublik, die seine Texte über die Grenze schmuggelten, zu vielen Themen zu Wort meldete und für einen freiheitlichen Sozialismus eintrat. Seine Texte wurden nicht nur von der breiten bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wahrgenommen, sondern auch in mehrere Sprachen übersetzt und fanden ihren Weg schnell wieder zurück in die DDR. In seinen letzten Lebensjahren unterstützte Havemann die Friedensbewegung in der DDR, nahm Kontakt zur Kirche auf und beschäftigte sich außerdem, beunruhigt durch den Meadows-Bericht, mit der zunehmenden Umweltzerstörung und dem nicht nachhaltigen Ressourcenverbrauch. Hierfür nutzte er eine Perspektive, mit der die Verantwortung für diese Entwicklungen auf beiden, nur vermeintlich voneinander verschiedenen, Seiten deutlich und eine Lösung der Mensch und Umwelt gleichermaßen zerstörenden Lebensweise nur gemeinsam möglich wird. Ziel dieses Beitrages ist es, das politische Denken Robert Havemanns, das sich in der hier mit sehr groben Strichen skizzierten Zeit entfaltete, vorzustellen und insbesondere auf Kontinuitäten, Wandlungen und innere Widersprüche hin zu befragen. Kontinuitäten meint hier insbesondere das Festhalten an den offiziellen Sozialismusvorstellungen der DDR. Unter Wandlungen werden geistige Entwicklungen verstanden, die Havemann vom orthodoxen Sozialismusverständnis der DDR unterscheiden. Dabei wird versucht, jene Denkmotive kenntlich zu machen, aus denen Havemann sein eigenes Sozialismusverständnis schöpft und auf diese Weise geprüft, ob sich die theoretischen Momente zu einem widerspruchsfreien Gesamtbild zusammenfügen lassen.

I.

Ergebnisoffene Wissenschaft und kontingente gesellschaftliche Entwicklungen

Kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 initiierte die SED eine Gegen-den-Dogmatismus-Kampagne, laut der der wissenschaftliche Meinungsstreit befördert werden sollte. Nach Ansicht von Walter Ulbricht wäre dieser bisher zu vereinfacht und eingeengt gewesen, wenngleich sich schnell herausstellte, dass es in dieser Kampagne nur darum ging, Stalin gemäßigt zu kritisieren und Lenin als undogmatischen Theoretiker hervorzuheben.10 Der Rahmen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung war und blieb damit begrenzt. Trotzdem 10 Guntolf Herzberg, Robert Havemanns Probleme mit der marxistischen Philosophie, in: Hans-Christoph Rauh / Peter Ruben (Hg.), Denkversuche. DDR-Philosophie in den 60er Jahren, Berlin 2005, S. 337–366, hier S. 337; Hubert Laitko, Strategen, Organisatoren, Kritiker, Dissidenten: Verhaltensmuster prominenter Naturwissenschaftler in der DDR in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, Berlin 2009, S. 98.

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etablierte sich mit Klaus Zweiling, Hermann Ley, Georg Klaus, Walter Hollitscher, Friedrich Herneck und Wolfgang Harich eine neue Generation von Philosophen,11 die innerhalb der Dogmatismus-Debatte teilweise kritisch Stellung bezogen und die Zusammenhänge von Naturwissenschaft und Philosophie zu untersuchen strebten. Wolfgang Harich hat sich in dieser Zeit übrigens nicht nur mit philosophischen Fragen beschäftigt, sondern im November 1956 auch eine Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus gefordert.12 Der Philosoph, der der Öffentlichkeit vor allem durch den 1972 veröffentlichten und durchaus umstrittenen Kommunismus ohne Wachstum?13 und seine Auseinandersetzung mit Walter Janka bekannt ist, entfaltet in seinem von der SED unter Verschluss gehaltenen Text eine Idee einer demokratischen DDR, die beim 13 Jahre älteren Havemann erst ein Jahrzehnt später zu finden sein wird und die bereits viele während der Umbruchphase 1989/90 geäußerte Ideen eines Dritten Weges kennt. Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, innerparteiliche Demokratisierungsprozesse sowie eine Orientierung an den jugoslawischen Reformbemühungen sind bereits Mitte der 1950er Jahre wichtige Momente in Harichs alternativem Sozialismusentwurf.14

11 Peter Ruben spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Aufbaugeneration, die frei werdende beziehungsweise neu geschaffene Lehrstühle bekleidete und Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in die philosophische Lehre und Forschung eintritt. Ihr voraus ging die von Ruben sogenannte Gründergeneration, zu der er unter anderen Hermann Duncker, Arthur Baumgarten, Ernst Bloch, Victor Stern, Auguste Cornu und Günther Jacoby zählt. Vgl. Peter Ruben, DDR-Philosophie unter Parteiregie. Neue Anfänge zwischen dem 5. und 8. SED-Parteitag, in: Rauh/ders. (Hg.), Denkversuche, S. 19–50, hier S. 23–28. 12 Vgl. Wolfgang Harich, Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus, in: ders., Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993, S. 111–160. Harich hat sich bereits seit 1953 mit Veränderungen in der DDR auseinandergesetzt, wie Jochen Cerny herausfand: vgl. Jochen Cerny, Einführung zu Wolfgang Harichs Programm für einen besonderen deutschen Weg, in: UTOPIE kreativ 78 (1997), S. 50–52, hier S. 51. Für eine Aufbereitung der demokratietheoretischen Ideen Harichs sowie seiner weiteren Entwicklungen vgl. Andreas Heyer, Studien zu Wolfgang Harich, Norderstedt 2010. 13 Vgl. Wolfgang Harich, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der »Club of Rome«, Reinbek b. H. 1975. 14 Insbesondere in den Abschnitten zur Reform der SED sind viele formelhafte Passagen und – auf den ersten Blick – die Kongruenz von Harichs Forderungen mit dem MarxismusLeninismus zu finden. Dies zeigt sich etwa dann, wenn er betont, dass die Partei »streng an den Prinzipien des demokratischen Zentralen festhalten« (Harich, Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus, S. 113) soll und »der bewußte und organisierte Vortrupp der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten werktätigen Massen« (Ebd., S. 117) ist). Gleichzeitig fordert Harich aber auch, dass »[v]erantwortliche Mitarbeiter des Parteiapparates […] künftig auf den Plenarsitzungen der gewählten Parteiorgane gewählt werden« (Ebd., S. 114) müssen; die Partei »die Massen nicht nur belehrt, sondern von ihnen lernt« (Ebd., S. 117); sie aufhören muss, »irgendwelche Kundgebungen zu organisieren, für die faktisch keine Massenbasis vorhanden ist« (Ebd, S. 118).

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Zu dieser Zeit sind Havemanns von der offiziellen Linie abweichenden Forderungen noch auf den wissenschaftlichen Bereich konzentriert, er setzt sich öffentlich für sowohl inhaltlich als auch methodisch undogmatische Forschung und einen konstruktiven Streit über ihre Ergebnisse ein.15 In die philosophische Gegen-den-Dogmatismus-Debatte mischt sich Havemann zwar auch mit seinen Ansichten ein, aber es bleiben erste Gehversuche.16 Seinem später dann zur Reife kommenden philosophischen Konzept wohnt die Überzeugung inne, dass das sozialistische Denken und mit ihm der Dialektische Materialismus wissenschaftliche Theorie sind,17 die für Havemann mit bewusstem Denken einhergehen.18 Dem stellt er die Ideologie gegenüber, die nach Ansicht von Havemann eine »von der Gesellschaft selbst erzeugte Täuschung«19 ist, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Pseudowissenschaft beruhe. Entsprechend kann der Sozialismus nicht als eine in sich geschlossene Weltanschauung mit unanfechtbarem Wahrheitsanspruch verstanden werden, sondern er muss methoden- und ergebnisoffen geprüft und auf Grundlage neuer Erkenntnisse weiterentwickelt werden können.20 Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung hält der Chemiker Robert Havemann im Wintersemester 1963/64 zum wiederholten Mal seine Vorlesung »Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme« an der HU Berlin.21 In ihr präsentiert er seine zuvor in Vorträgen und Aufsätzen entwickelten philosophischen Ansichten, die recht strikt an den Theorien von vorrangig Engels und Lenin orientiert sind. Er bleibt damit über weite Strecken innerhalb der offiziellen Auslegung der Klassiker. In diese orthodoxe Sozialismusinterpretation integriert Havemann allerdings auch kontingenztheoretische Überlegungen aus der Physik, die in den 1920er Jahren unter anderem von Werner Heisenberg, Niels Bohr und Max Born entwickelt wurden und das deterministische Modell der klassischen 15 vgl. Robert Havemann, Meinungsstreit fördert die Wissenschaften, in: Hartmut Jäckel (Hg.), Robert Havemann. Rückantworten an die Hauptverwaltung »Ewige Wahrheiten«, Berlin 1990, S. 37–46. 16 Vgl. u. a. Robert Havemann, Rückantworten an die Hauptverwaltung »Ewige Wahrheiten« in: Jäckel (Hg.), Robert Havemann, S. 59–66. 17 Vgl. u. a. Robert Havemann, Karl Marx und die Naturwissenschaften, in: Hoffmann/Laitko (Hg.), Robert Havemann, S. 123–128; ders., Fragen, Antworten, Fragen, S. 123, 162; ders., Über Zensur und Medien, in: europäische ideen 17 (1976), S. 36–39, hier S. 38; ders., De omnibus dubitandum est, in: Hoffmann/Laitko (Hg.), Robert Havemann, S. 252–257. 18 Robert Havemann, 9. Vorlesung, 13.12.1963, in: Dieter Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma? Aufsätze, Dokumente und die vollständige Vorlesungsreihe zu naturwissenschaftlichen Aspekten philosophischer Probleme, Berlin 1990, S. 143–153, hier S. 148. 19 Robert Havemann, Über die Ungleichheit der Menschen, in: Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma?, S. 176–185, hier S. 184. 20 Robert Havemann, Hat Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen? (1962), in: Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma?, S. 45–55; Robert Havemann, Ehrlich um Klarheit ringen (1963), in: Jäckel (Hg.), Robert Havemann, S. 85–89. 21 Vgl. Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma?.

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Physik, das auch von führenden Naturwissenschaftler_innen in der Sowjetunion und DDR vertreten wurde, in Frage stellten. Die als Quantenmechanik bekannt gewordene Ansicht geht davon aus, dass sich ein Element der Unbestimmtheit nicht aus der physikalischen Beobachtung tilgen lässt und diese Unbestimmtheit nicht aus Beobachtungs- oder Messfehlern resultiert.22 Die beobachtende Person kann niemals völlig losgelöst vom Untersuchungsgegenstand sein, also nicht als unbeteiligte_r Zuschauer_in die determinierte Wirklichkeit betrachten. Diese auf physikalische Vorgänge bezogene Theorie verbindet Havemann mit den philosophischen Klassikern und bringt Zufall und Notwendigkeit sowie Wirklichkeit und Möglichkeit als objektive Kategorien in den dialektischen Erkenntnisprozess ein. Er stellt nicht das Prinzip von Ursache und Wirkung per se in Frage. Auch Havemann geht davon aus, dass ein Ereignis das Ergebnis einer Ursache ist. Aber er plädiert auch für ein Kausalitätsverständnis, das nicht meint, dass eine bestimmte Wirkung das notwendige Resultat einer klar zu bestimmenden Ursache ist, sondern das vielmehr unterstellt, dass Ursachen verschiedene Wirkungsmöglichkeiten erzeugen, von denen sich nur eine der Möglichkeiten realisieren kann und wird. Anders als in der offiziellen, sehr mechanischen Auslegung wird bei Havemann das Individuum im Erkenntnis- und Veränderungsprozess aufgewertet, denn es ist nicht mehr zum passiven Zuschauen und dem Warten auf das Unvermeidliche verdammt, sondern erhält einen aktiven Part: Der Mensch ist dank Bildung und stetig neuer Erkenntnisgewinnung befähigt, komplexe Zusammenhänge bewusst zu durchdringen. Auf Grundlage der Vielzahl an (durch die Wirklichkeit bedingten) Möglichkeiten lässt sich das Zustandekommen oder Abwenden eines Ereignisses (noch) beeinflussen. Entsprechend kann das Geworden-Sein einer sozialen Situation nicht aus feststehenden Gesetzmäßigkeiten und determinierten objektiven Entwicklungen, sondern muss aus komplexen, einzigartigen und zufällig zustande gekommenen Relationen heraus begriffen werden. Havemann gibt mit dieser gegenüber dem deterministischen Verständnis deutlich bescheideneren Auffassung von Gesellschaftsentwicklung nicht seine (und generell dem sozialistischen Gedanken inhärente) teleologische Prämisse preis, aber seine Äußerungen zeigen, dass er die kommunistische Gesellschaft keineswegs mehr als eine zukünftige, mit Notwendigkeit eintretende Entwicklung betrachtet, wie es dogmatische Vertreter_innen proklamierten, sondern »nur« noch als eine von mehreren Möglichkeiten, deren Zustandekommen zu einem gewissem Grad dem Zufall überlassen bleibt.23

22 Vgl. Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart 2014; Peter Vogt, Kon-

tingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011, insbesondere S. 217–234. 23 Vgl. Robert Havemann, 7. Vorlesung, 29.11.1963. Zufälligkeit und Notwendigkeit sowie 8. Vorlesung, 6.12.1963. Die Unvollständigkeit der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, beide Vorlesungen in: Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma?, S. 124–133, sowie 134–142.

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II. Zwei Phasen der Revolution Diese ab den 1950er Jahren entwickelten Ansichten werden von Havemann ab 1969 um seine Zwei-Phasen-Theorie ergänzt. Mit ihr können die (vermeintlichen) Errungenschaften der DDR als progressive Entwicklungen verstanden werden, durch die die DDR dem sozialistischen Ziel näher als die Bundesrepublik und daher für Havemann der bessere deutsche Staat ist.24 Anders als Marx/ Engels und Lenin, die die Revolution selbst nicht weiter untergegliedert haben, unterteilt Havemann den revolutionären Verlauf in zwei Phasen, die zusammengenommen einen einheitlichen Prozess darstellen. In dem von Havemann als erste Phase definierten Zeitraum wird die politische Macht errungen. Die Dauer selbst ist nicht festgelegt, sondern kann aufgrund der konkreten Bedingungen variieren.25 Findet die erste revolutionäre Phase in solchen Ländern erfolgreich statt, die sich aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit in einer ungünstigen Ausgangslage befinden, so ist es für Havemann möglich, dass sie längere Zeit andauert. In dieser Phase herrsche nicht das Volk, sondern eine »Diktatur der Minderheit«.26 Die neuen Machthaber_innen würden durch den umfassenden Einsatz von Repression und jenseits von demokratischer Kontrolle versuchen, den wirtschaftlichen Rückstand aufzuholen. Sowohl die Sowjetunion als auch die DDR befinden sich nach Havemann in dieser ersten Phase. Vor dem Hintergrund seines nichtdeterministischen Geschichtsverständnisses sind diese Entwicklungen für Havemann »unter den gegebenen Bedingungen politischer, militärischer und ökonomischer Art eine der gesetzmäßig entstandenen Möglichkeiten«,27 aber dürfen keinesfalls gutgeheißen, sondern müssen abgeändert werden. Havemann kritisiert unter anderem die zentral geplante Wirtschaft (insbesondere die politisch festgesetzten, sich nicht an den reellen Herstellungskosten orientierenden Preise),28 den überdimensionierten Herrschafts- und Überwachungsapparat29 24 Eine ganz besonders augenfällige Verteidigung der DDR als der bessere deutsche Staat fin-

det sich beispielsweise in Havemann, Morgen, S. 218; Manfred Wilke (Hg.), Robert Havemann: Ein deutscher Kommunist. Rückblicke und Perspektiven aus der Isolation, Reinbek b. H. 1978, S. 93. 25 Vgl. Robert Havemann, Die unvollendete Revolution (Dokument 19), in: Werner Theuer / Bernd Florath (Hg.), Robert Havemann. Bibliographie. Mit unveröffentlichten Texten aus dem Nachlass, Berlin 2007, S. 335–345, hier S. 342. Der Text ist undatiert, aber nach 1969 verfasst und eine erweiterte und teilweise umgearbeitete Fassung eines 1969 erstmals veröffentlichten Artikels, in dem die Idee einer zweiphasigen Revolution präsentiert wird. Vgl. hierzu: Robert Havemann, Der Sozialismus von morgen, in: Jäckel (Hg.), Robert Havemann, S. 137–152. 26 Havemann, Die unvollendete Revolution, S. 337. 27 Ebd., S. 341. 28 Vgl. Robert Havemann, Siebentes Gespräch, in: Andreas Mytze (Hg.): Robert Havemann. Berliner Schriften, Berlin 1976, S. 86–88, hier S. 86 sowie auch Robert Havemann, Gespräch mit Robert Havemann, in: europäische ideen 38 (1978), S. 1–5, hier S. 3–4. 29 Vgl. Robert Havemann, Zweites Gespräch, in: Mytze (Hg.), Robert Havemann, S. 21–25, hier insbesondere S. 21.

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samt der autoritären Struktur der DDR30 sowie die Existenz einer privilegierten Schicht, die über mehr, aber nicht uneingeschränkte und vor allen Dinge fragile Rechte verfüge.31 Rudolf Bahro, neben Havemann und Harich einer der bekanntesten Dissidenten der DDR, übt in seiner 1976 in der Bundesrepublik erschienenen Alternative übrigens auch scharfe Kritik am hierarchisch organisierten, undemokratischen Aufbau der DDR, er bindet seine Analyse des Ist-Zustandes und die daraus abgeleitete Kritik noch deutlich tiefgreifender als Havemann an theoretische Debatten zurück und präsentiert eine theoretische Modifikation, die den sogenannten real existierenden Sozialismus als eine auf Höhe des Kapitalismus stehende »Gesellschaftsformation eigenen Typs«32 und damit als nicht sozialistisch begreift.33 Bahros Vorschlag stieß seinerzeit auf ein geteiltes Echo, seine Rechtfertigungen der Stalinistischen Verbrechen zum Zwecke der Aufholung des ökonomischen Rückstands wurden rundweg abgelehnt.34 Nichtsdestotrotz ist zu konstatieren, dass Havemann aufgrund seiner Verortung der DDR innerhalb seiner Zwei-Phasen-Theorie die offizielle Deutung von der DDR als des besseren deutschen Staates unhinterfragt reproduziert, während Rudolf Bahro oder auch Edelbert Richter35 die aus ideologischer Sicht deutlich ernüchterndere Position vertreten haben, dass es sich um nachholende wirtschaftliche Entwicklungen handelt, durch die »lediglich« die Bedingungen für eine erst noch beginnende sozialistische Gesellschaft erfüllt werden. Die Bedingung für den Eintritt in die zweite Revolutionsphase ist laut Havemann ein Mindestmaß an ökonomischer Produktivität, das er nach 1969 sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR als erreicht ansieht. Nun gilt es alle Bereiche umfassend zu demokratisieren. »Die wirtschaftliche Demokratie, also die Herrschaft des Volkes über die Wirtschaft, erfordert die Verwirklichung der politischen Demokratie, also den Übergang zum demokratischen Sozialismus. Und dies erst bedeutet politisch und gesellschaftlich die Vollendung der sozialistischen Revolution.«36 Für den Eintritt in diese zweite Revolutionsphase ist es unabdingbar, dass die SED freiwillig Macht abgibt und nicht nur die von Havemann als notwendig erachteten Demokratisierungsprozesse mitträgt, sondern sich zeitgleich ebenfalls neu und auf demokratischem Wege reformiert. Die für den Ein-

30 Vgl. Havemann, Fragen, Antworten, Fragen, S. 66. 31 Vgl. u. a. ebd., S. 99 f.; Robert Havemann: Die DDR. Der Sozialistische Staat Deutscher Na-

tion. Wunsch und Wirklichkeit, in: Mytze (Hg.), Robert Havemann, S. 43–46, hier insbesondere S. 45 f. 32 Vgl. Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln/ Frankfurt a. M. 1977, S. 9. 33 Vgl. ebd., S. 25. 34 Vgl. hierzu ausführlicher Ines Weber, Sozialismus in der DDR. Alternative Gesellschaftskonzepte von Robert Havemann und Rudolf Bahro, Berlin 2015, S. 248–255. 35 Vgl. Edelbert Richter, Der linke Flügel der DDR-Bewegung, in: Klaus Kinner (Hg.), Linke zwischen den Orthodoxien. Von Havemann bis Dutschke, Berlin 2011, S. 63–69, hier S. 66. 36 Havemann, Die unvollendete Revolution, S. 340.

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tritt in die zweite Phase erforderlichen Veränderungen sollen und können nach Ansicht von Havemann nur mit dem System, aber nicht im Geheimen und gegen die SED verwirklicht werden. Der wirtschaftliche Demokratisierungsprozess soll mithilfe der Einführung marktwirtschaftlicher und damit dezentraler Strukturen, der tatsächlichen Verfügungsgewalt der Werktätigen über die Produktionsmittel und über die erzeugten Produkte sowie gleichberechtigten Entscheidungsfindungen gelingen.37 Insgesamt besehen erinnern die eher knapp ausbuchstabierten Vorschläge Havemanns an die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung, die in deutlicher Abgrenzung zur zentralistischen, auf planwirtschaftlichen Strukturen beruhenden sowjetischen Wirtschaftsorganisation inklusive seines überbordenden bürokratischen Apparats entstand.38 Das auf marktwirtschaftlichen und rätedemokratischen Prinzipien ruhende Experiment ist in der Theorie dadurch gekennzeichnet, dass gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln existiert, der Staat von unten nach oben aufgebaut ist, das Prinzip der Gewaltenteilung aufgehoben sowie das Prinzip der Ämterrotation (ohne dass daraus materielle Privilegien erwachsen) implementiert ist.39 Auch dank ökonomischer Unterstützung durch die USA konnte Jugoslawien kurz nach dem Bruch mit Stalin bis in die 1960er Jahre hinein eines der höchsten weltweiten Wirtschaftswachstumsraten zu jener Zeit verzeichnen.40 Es gilt allerdings zu bedenken, dass Jugoslawien die theoretischen Prinzipien der Arbeiterselbstverwaltung schrittweise implementierte und sie auch deshalb mehrfach modifizierte, weil es eine hohe Unzufriedenheit der Arbeitenden, Streiks und Verteilungskonflikte gab. Wenngleich das jugoslawische Experiment große Erwartungen in Bezug auf emanzipierte, selbstbestimmte Arbeiter_innen geweckt hat und diese in theoretischer Hinsicht nicht unbegründet schienen,41 haben ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre durchgeführte Studien gezeigt, dass

37 Vgl. u. a. Havemann, Der Irrtum der Leninisten; ders., Die DDR nach Stalin, in: Mytze (Hg.), Robert Havemann, S. 96–100; ders., Der Sozialismus von morgen, in: Mytze (Hg.), Robert Havemann, S. 5–18. 38 Für Darstellungen zur Arbeiterselbstverwaltung vgl. u. a. Gudrun Lemân, Das jugoslawische Modell. Wege zur Demokratisierung, Frankfurt a. M. 1976; Duncan Wilson, Self-Management in Yugoslavia, in: International Affairs 54 (1978), S. 253–263; Gene S. Leonardson / Dimitar Mirčev, A Structure for Participatory Democracy in the Local Community. The Yugoslaw Constitution of 1974, in: Comparative Politics 11 (1979), S. 189–203; Wolgang Höpken, Sozialismus und Pluralismus in Jugoslawien, München 1984; Monty L. Lynn u. a., Democracy without Empowerment: The grand Vision and Demise of Yugoslav Self-Management, in: Management Decision 40 (2002), S. 797–806. 39 Vgl. Lemân, Das jugoslawische Modell, S. 12 f. 40 Marija Stambolieva, Welfare State Transformation in the Yugoslaw Successor States. From Social to Unequal, London 2016, S. 39 f. 41 Vgl. Jaroslav Vanek, The General Theory of Labor-Managed Market Economies, Ithaca 1970.

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sie in der Praxis nicht eingelöst werden konnten.42 Entsprechend muss dieser einzigartige Versuch einer radikalen Demokratisierung der industriellen Arbeitswelt als gescheitert betrachtet werden. Im Hinblick auf die notwendig herbeizuführenden politischen Veränderungen orientiert sich Havemann gerade nicht an rätedemokratischen Vorstellungen, sondern macht sich als einer der wenigen in der DDR lebenden Oppositionellen für die eurokommunistischen Ideen stark. Sie sind vorrangig in Italien, Spanien und Frankreich aufgrund großer Wahlerfolge der Kommunistischen Parteien in den 1960er und 1970er Jahren wirkmächtig geworden.43 Der Eurokommunismus strahlte von Südeuropa insbesondere auf Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen aus und setzte Moskau unter Druck.44 Zu den wesentlichen Elementen der eurokommunistischen Idee zählen die Anerkennung und Weiterentwicklung der Institutionen, Verfahrensweisen und Freiheitsrechte der westlichen Demokratien, was die Zustimmung zu freien, allgemeinen und regelmäßigen Wahlen sowie einem Mehrparteiensystem einschließt. Außerdem ist es das erklärte Ziel der Eurokommunist_innen die demokratische Teilhabe auf möglichst viele Bereiche auszudehnen.45 Auch Havemann vertritt diese Ziele und fordert unter anderem den freien Zugang zu Informationen, Meinungs- und Pressefreiheit, Freizügigkeit, freie Wahl des Arbeitsplatzes, Streik- und Versammlungsfreiheit, eine unabhängige Justiz sowie eine tatsächliche Wahlfreiheit, was einschließt, dass innerparteiliche Entscheidungsprozesse von den Parteimitgliedern auf demokratischem Wege und ohne Einmischung von außen bestimmt werden können.46 Aufgrund seiner Ziele wurde der Eurokommunismus von einigen als So42 Die ausführlichste, qualitativ angelegte Studie hat wohl Wolfgang Soergel, Arbeiterselbst-

verwaltung oder Managersozialismus? Eine empirische Untersuchung in jugoslawischen Industriebetrieben, München 1979 vorgelegt. Weitere, vorrangig quantitative Untersuchungen sind u. a. Bogdan Kavčič u. a., Control, Participation, and Effectiveness in Four Yugoslav Industrial Organizations, in: Administrative Science Quarterly 16 (1971), S. 74–86; Sidney Verba / Goldie Shabad, Workers’ Councils and Political Stratification: The Yugoslav Experience, in: The American Political Science Review 72 (1978), S. 80–95; Patricia A. Taylor / Burke D. Grandjean, Work Satisfaction Under Yogoslav Self-Management: On Participation, Authority, and Ownership, in: Social Forces 65 (1987), S. 1020–1034. 43 Vgl. Manfred Spieker, Demokratie oder Diktatur? Zur Ideologie des Eurokommunismus, in: PVS 19 (1978), S. 23–47, hier S. 24–26. 44 Vgl. u. a. Peter Christian Ludz, Ambivalenzen des Eurokommunismus: Auswirkungen und Toleranzen, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (Hg.), Polarität und Interdependenz. Beiträge zu Fragen der Internationalen Politik, Baden-Baden 1978, S. 63–84; Heinz Timmermann, Reformkommunisten in West und Ost. Konzeptionen, Querverbindungen und Perspektiven, in: Beiträge zur Konfliktforschung 10 (1980), S. 105–135. 45 Vgl. Spieker, Demokratie oder Diktatur?, S. 26. 46 Vgl. hierzu u. a. Robert Havemann, Brief an Joachim Steffen, in: Jiří Pelikán / Manfred Wilke (Hg.), Menschenrechte. Ein Jahrbuch zu Osteuropa, Reinbek b. H. 1977, S. 474–477; ders., Fragen, Antworten, Fragen, S. 208 f., 232 ff., 247; Wilke, Robert Havemann, S. 98–101; Havemann, Morgen, S. 227; ders., Havemann zum Wahlsystem in der DDR, in: Deutschland Archiv 9 (1976), S. 1224–1227; ders., Die DDR. Der Sozialistische Staat Deutscher Nation. Wunsch und Wirklich-

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zialdemokratisierung bezeichnet, allerdings ist er in letzter Konsequenz nicht als ein »weichgespülter« und das kommunistische Ideal aus den Augen verlierender Sozialismus zu sehen. Vielmehr beansprucht der Eurokommunismus einen Weg aufzuzeigen, wie die westeuropäischen Industriegesellschaften zum Sozialismus zu entwickeln sind und ist damit eher als eine neue bzw. alternative, gewaltfreie Strategie der politischen Machtübernahme zu begreifen.47 Havemann setzt also auf einen gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozess bei gleichzeitiger Zusicherung negativer Freiheiten, durch den die zweite, lang andauernde Phase der gesellschaftlichen Umgestaltung geprägt sein soll. Bahro entwirft ebenfalls Reformvorschläge für einen länger andauernden und sich schrittweise vollziehenden Prozess, den er Kulturrevolution nennt. Er sieht aber nicht alle Gesellschaftsmitglieder als gleich geeignet an, um die notwendigen Veränderungen theoretisch zu verstehen, anzustoßen und schließlich auch umzusetzen.48 Aufgrund der bei vielen Menschen zu konstatierenden Entfremdung – oder wie Bahro sie nennt, Subalternität – kommen nur Menschen mit weit entwickeltem Bewusstsein für diese Aufgabe in Frage.49 Sie sollen sich im Bund der Kommunisten zusammenschließen, mittels (ausschließlich innerhalb der Gruppe geltender) demokratischer Regeln die weiterhin notwendige Bewusstseinsarbeit vorantreiben, um so den richtigen Weg zum Sozialismus zu finden.50 Erst dann kann die Gesellschaft schrittweise demokratisiert und auch das Bewusstsein der übrigen Gesellschaftsmitglieder vollständig entwickelt werden, um schließlich in kommune-ähnlichen Gemeinschaften zusammenzuleben und so die Harmonie zwischen Mensch und Natur sowie Mensch und Ökonomie herzustellen. Diese auf basisdemokratische Impulse setzenden Prozesse werden aber stets überwölbt und angeleitet vom Bund der Kommunisten, der das allgemeine Interesse besser kennt als alle anderen. Negative Freiheitsrechte finden keinen Platz in Bahros Konzeption, weil er davon überzeugt ist, dass der Bund der Kommunisten den richtigen Weg finden und beschreiten wird. In dieser Logik ist ein Schutz vor möglichen Übergriffen oder Fehlentscheidungen widersinnig und überflüssig, er findet entsprechend auch keinen Platz in Bahros Konzeption. In Analogie zu Lenins Verständnis der »Diktatur des Proletariats« habe ich daher vorgeschlagen, Bahros Konzept als »Diktatur der Subalternen« zu bezeichnen.51 Wenngleich die konkrete institutionelle Ausgestaltung bei beiden Dissidenten verhältnismäßig keit, in: Mytze (Hg.), Robert Havemann, S. 43–46; ders., Der Sozialismus und die Freiheit, in: europäische ideen 24/25 (1976), S. 33–37. 47 Vgl. Spieker, Demokratie oder Diktatur?, S. 26. 48 Vgl. u. a. Bahro, Alternative, S. 304, 387 f. 49 Vgl. ebd., S. 378. 50 Vgl. ebd., S. 356–360, 412–448. 51 Vgl. hierzu meine detaillierteren Ausführungen in Weber, Sozialismus in der DDR, S. 271– 290, der Vorschlag Bahros Konzept als eine »Diktatur der Subalternen« zu bezeichnen, findet sich S. 308. Meine Interpretation von Bahro wird nicht von allen geteilt, Alexander Amberger beispielsweise liest Rudolf Bahro deutlich freiheitlicher, vgl. Alexander Amberger, Bahro –

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vage bleibt, zeigt Havemann insgesamt besehen das eindeutig bessere Gespür, wenn es um die Frage der Verhütung möglicher (erneuter) diktatorischer Tendenzen geht. Die erste Revolutionsphase hat in der Sowjetunion und in der DDR nach Ansicht von Havemann unter ungünstigen ökonomischen Bedingungen begonnen. In den kapitalistischen Ländern sei der Revolutionseintritt aber nicht anachronistisch vorweggenommen, sondern »auf die Tagesordnung der Geschichte« gesetzt worden.52 Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung, der bereits formal existierenden demokratischen Mitbestimmungsrechte sowie der weit fortgeschrittenen Bewusstseinsentwicklung sei die Situation in den kapitalistischen Staaten ebenfalls »reif« für eine sozialistische Gesellschaft. Er konstatiert sogar, dass nur der, der »politisch blind ist, weil er sich den Sieg der Revolution nur vorstellen kann, wenn eine bestimmte Partei oder Sekte sich durchsetzt, […] nicht sehen [kann], daß die neue Klasse im Vormarsch ist und schon heute politische und ökonomische Macht gewonnen hat.«53 Diese Machtaneignung werde durch die Arbeit von starken Gewerkschaften, Parteien, Organisationen, kritischen Medien und den in ihnen aktiven, zu immer größerem Bewusstsein gelangenden Menschen stetig fortgesetzt, sodass immer mehr Teilerfolge zu verzeichnen seien, die letztlich eine von Havemann als Revolution bezeichnete Umwandlung herbeiführen würden. Sie stehe am Ende eines lang andauernden Prozesses innerhalb der Basis und könne sich vollziehen, »ohne daß auch nur ein Tropfen Blut vergossen werden muß«.54 Die Hoffnung auf die eben skizzierten Entwicklungen in den westlichen und östlichen Ländern werde sich nur realisieren, wenn die kapitalistische Logik durchbrochen wird. Diese identifiziert Havemann natürlich insbesondere in den westlichen Ländern, aber sieht sie auch in den sogenannten real existierenden sozialistischen Staaten vorherrschend, da letztere bestrebt sind, die kapitalistische Wirtschaftsordnung durch ein Noch-Mehr zu überflügeln.55 Hier streicht Havemann eine Analogie zwischen beiden Ordnungsmodellen heraus, deren Anerkennung für einen überzeugten Sozialisten mitnichten selbstverständlich ist. Gleichzeitig rückt er den die sozialistische Idee auszeichnenden, aber durch unter anderem Stalin aus der Theorie getilgten Internationalismus wieder in den Blickpunkt. Sozialismus wird durch diese Ausführungen gerade nicht als ein innerhalb einzelner nationalstaatlicher Grenzen mögliches Projekt gedacht, sondern zu ei-

Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014, S. 159–180. 52 Havemann, Morgen, S. 191. 53 Ebd., S. 194. 54 Ebd., S. 199. 55 Vgl. u. a. Robert Havemann, Freiheit als Notwendigkeit, in: Rudi Dutschke / Manfred Wilke (Hg.), Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, Reinbek b. H. 1975, S. 16–28, hier S. 21 f.

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ner sich insgesamt vollziehenden Veränderung. Diese Ansicht findet sich auch bei Bahro, in diesem Punkt sind beide Denker wieder nah beieinander. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Revolution wird es endlich möglich, in die lange währende sozialistische Übergangsphase einzutreten. Die nun beginnende Epoche ist für Havemann eine provisorische, da immer noch mit vielen Widersprüchen behaftete Zeit, in der noch »über Jahrhunderte fortleben wird, was in Jahrtausenden entstanden ist«.56 Havemann stellt sich vor, dass es erst jetzt möglich sein wird, sich in einem langen, mühseligen Prozess umfassend mit der entstandenen Entfremdung auseinanderzusetzen. Entsprechend habe die nach der vollendeten Revolution anbrechende Zeit die Aufgabe, die »alte Gesellschaft aufzulösen, umzuwandeln, zu transformieren und umzuwälzen«57, und zwar dergestalt, dass immer weniger Widersprüche zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Interessen existieren. Die Verringerung und schließlich die Auflösung der entfremdeten und entfremdenden Zustände sind allerdings nicht problemlos möglich. Vielmehr tritt die Entfremdung in der Übergangsphase in neuen Formen auf, die es mithilfe des sich weiter entwickelnden Bewusstseins stetig aufzudecken gelte.58 Die geistige Bewusstwerdung der Volksmassen wird für Havemann durch die immer geringer werdende Arbeitszeit und den dadurch möglichen Zugewinn an Freizeit ermöglicht. Die Menschen ergreifen die sich so bietende Chance und begeben sich freiwillig auf den mühsamen ent-entfremdenden Weg in Richtung Emanzipation, sie lernen die sozialen Zusammenhänge und kulturellen Errungenschaften verstehen und wollen dieses erworbene Wissen wiederum Kindern vermitteln.59

III. Ökologische und feministische Utopie Hat Havemann bereits mit seinen kontingenztheoretischen Ideen an der mit Gewissheit kommenden kommunistischen Zukunft gezweifelt, so wird dieses Denkmotiv durch den Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome noch stärker. Zum Ende seines Lebens setzt sich der Naturwissenschaftler in seinem in mehreren Etappen verfassten Werk Morgen60 intensiv mit dem atomaren Wett56 Havemann, 10. Vorlesung, 20.12.1963. Über Moral, in: Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma?, S. 154–163, hier S. 163. 57 Ebd., S. 162. 58 Vgl. Havemann, 9. Vorlesung, 13.12.1963, in: Hoffmann (Hg.), Dialektik ohne Dogma?, S. 152. 59 Vgl. Wilke, Robert Havemann, S. 87 f. 60 Vgl. Robert Havemann, Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie, Frankfurt a. M. 1980. Gründe für die etappenweise Anfertigung sind vor allen Dingen die Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann, der über Havemann verhängte Hausarrest sowie die 1979 stattgefundene Hausdurchsuchung, in deren Zuge Textentwürfe von Morgen beschlagnahmt wurden.

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rüsten, dem überbordenden Ressourcenverbrauch sowie den wirtschaftlichen Fehlentwicklungen in Ost und West auseinander. Havemanns Zeilen lesen sich düster und warnend, die Möglichkeit der sofortigen Vernichtung allen Lebens, die ökologischen Veränderungen sowie der im globalen Süden um sich greifende Hunger lassen ihn an der Vernünftigkeit, mithin an der weiteren menschlichen Existenz zweifeln: »Wenn in einigen Jahrhunderten die Menschheit noch existieren sollte, was mir wie gesagt fraglich erscheint, dann werden die Historiker jener glücklicheren Zeit es schwer haben, ihren Zeitgenossen verständlich zu machen, was die heute Lebenden bewogen hat, bei aller unbezweifelbar vorhandenen Intelligenz derart blind, unbelehrbar, kurzsichtig, habgierig, leichtfertig – und verantwortungslos zu sein.«61 Die sich unter anderem aufgrund des Meadows-Berichts und der Ölkrise zur damaligen Zeit Bahn brechende Erosion des Fortschrittsglaubens hatte auch Havemann vollumfänglich erfasst.62 Seinen pessimistischen Ausführungen stellt er im selben Buch »die Skizze einer phantastischen neuen kommunistischen Utopie«63 gegenüber, mit der Havemann die Hoffnung verknüpft, dass sich die Welt doch noch zum Besseren entwickelt.64 Das kommunistische Ideal Havemanns ist als ein unabgeschlossenes, sich stetig fortentwickelndes Projekt zu verstehen. In der mit seiner Frau Katja und seiner Tochter Franziska unternommenen Reise in das Land unserer Hoffnungen65 skizziert Robert Havemann eine mögliche utopische Gesellschaft, die sich durch klassische sozialistische Konzepte auszeichnet. Beispielsweise muss das der kapitalistischen Logik inhärente Besitzdenken abgestreift und ein neuer, ein veränderter Mensch entstanden sein. Soziale Ungleichheiten, die zuvor mit dem Verweis auf Gott oder biologische Gegebenheiten gerechtfertigt wurden, existieren nicht mehr. Alle Menschen sind gleich in dem Sinne, dass es keine hierarchisierenden Strukturen mehr gibt, aber verschieden in dem Sinne, dass sie mehrere Interessen und Fähigkeiten ganz unterschiedlicher Art haben und diese im kommunistischen Ideal auch entfalten können. Menschen mit religiösen Überzeugungen werden nicht kritisiert und können in Einklang mit ihrem Glauben leben, aber letztlich sieht Havemann keinen Grund mehr dafür an einen Gott oder Götter zu glauben. Vielmehr erkennen Menschen dank immer größeren Wissens und der gemeinsamen Reflexion darüber, dass eine der wahren Natur der Menschen gemäße kommunistische Gesellschaft von Menschen aktiv gestaltet werden kann. Vor dem Hintergrund der zuvor bereits angedeuteten Auseinandersetzung mit dem Meadows-Bericht integriert Havemann auch Elemente in seine Utopie, 61 Havemann, Morgen, S. 11. 62 Vgl. u. a. Elke Seefried, Bruch im Fortschrittsverständnis? Zukunftsforschung zwischen Steue-

rungseuphorie und Wachstumskritik, in: Doering-Manteuffel u. a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 425–449. 63 Vgl. Havemann, Morgen, S. 75. 64 Vgl. ebd., S. 72. 65 Vgl. ebd., S. 77–179.

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die der zur damaligen Zeit virulent werdenden ökologischen Herausforderung begegnen sollen. Haben andere Autoren wie etwa Wolfgang Harich oder auch Rudolf Bahro die umweltzerstörenden Herausforderungen als besonders drängend eingeschätzt und deshalb Utopien entwickelt, die den zu hohen Ressourcenverbrauch und übermäßigen Konsum notfalls auch durch die Einschränkung von Freiheitsrechten aufzuhalten versuchen, präsentiert Havemann in seinem kommunistischem Ideal eine eher moderate Lösung, die ohne Zwang auskommt.66 Zwar gibt es auch hier keine auf Luxus und größtmöglichen materiellen Komfort ausgerichteten Bedürfnisse mehr, sodass deutlich weniger Güter pro Person benötigt werden. Dennoch wird die ökologische Nachhaltigkeit neben der so erzielten Verringerung an zu transportierenden Produktionsmengen vor allem schon dadurch gewährleistet, dass der motorisierte individuelle Personenverkehr abgeschafft ist, dass verlustlos recycelt wird und der Ressourcenaufwand insgesamt sinkt. Havemanns utopische Ausführungen sind letztlich von der Überzeugung durchdrungen, dass sich (nicht nur) ökologische Probleme mit technischen (Weiter-)Entwicklungen lösen lassen. Die im selben Buch zu findenden pessimistischen Ausführungen werden in Havemanns utopischem Text nun wieder abgelöst von einem Vertrauen, dass die Lösung aller Herausforderungen mithilfe von technischem Fortschritt möglich ist. Dieses verschmilzt mit romantischen, den Einklang mit der Natur suchenden Elementen wie beispielsweise das bewusste Zubereiten und Genießen von Speisen und das im Vergleich zu Auto und Flugzeug deutlich entschleunigtere Reisen zu Fuß und mit Eseln. In der bisherigen Forschung waren die postmateriellen, anarchischen und klassischen Momente in Havemanns Utopie der vorrangige Untersuchungsgegenstand.67 Die inneren Widersprüche wurden nur bedingt in den Blick ge-

66 Vgl. Bahro, Alternative; ders, Logik der Rettung, Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Stuttgart/Wien 1989; Harich, Kommunismus ohne Wachstum. Havemann setzt sich in einem Abschnitt des Buches sogar ganz konkret mit Wolfgang Harichs Kommunismus ohne Wachstum? auseinander und kommt zu dem Schluss, dass, folgt man Harich, »die Welt in ein System kooperierender Polizeistaaten mit reiner Rationalisierungswirtschaft verwandelt werden« müsste. Havemann fragt sehr klar: »Glaubt Wolfgang Harich wirklich, daß sozialistische oder kommunistische Parteien in den kapitalistischen Industrieländern mit Harichs Losungen für einen realen Kommunismus auch nur einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnten?« Havemann, Morgen, S. 51. 67 Vgl. Amberger, Bahro – Harich – Havemann; Andreas Heyer, Robert Havemanns ›Morgen‹ und der postmaterielle Utopiediskurs. Zum Ausgleich von Ökologie, Marxismus und genossenschaftlichen Strukturen, in: Kinner (Hg.), Linke zwischen den Orthodoxien, S. 70–92; Marco Ferst, Die Ideen für einen »Berliner Frühling« in der DDR. Die sozialen und ökologischen Reformkonzeptionen von Robert Havemann und Rudolf Bahro, Berlin 2005; Sandra Thieme, Perspektiven ökologisch-nachhaltiger Entwicklung. Zur Aktualität utopischen Denkens, Schkeuditz 2004; Peter Morris-Keitel, Zu Robert Havemanns Konzept eines Ökosozialismus, in: ders., Die ökologische Katastrophe abwenden!. 2 Beiträge, Berlin 2004; ders., Nicht auf bessere Zeiten warten. Zu Robert Havemanns Vision eines Ökosozialismus, in: Monatsheft 88 (1996), S. 489–506.

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nommen, sie verdienen aber eine nähere Betrachtung, deren potentielle inhaltliche Aspekte hier nur angerissen, aber nicht vertieft werden können. Havemann macht in seiner Analyse der Situation der DDR die planwirtschaftlichen Strukturen für die Versorgungsprobleme verantwortlich und plädiert für die Einführung einer marktwirtschaftlich und räterepublikanisch organisierten Ökonomie. Im kommunistischen Ideal ist die Versorgung der Menschen dann wieder zentral organisiert, wobei nicht ersichtlich wird, wie die Bedarfe ermittelt werden (können). Darüber hinaus existieren in Utopia keine chemischen Verhütungsmittel, Menschen führen auf Liebe gründende Beziehungen und entschließen sich sehr bewusst für Kinder. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie dies bei einer in etwa konstant bleibenden Anzahl an Menschen in Utopia möglich wird. Schließlich stehen in der sozialistischen Idee die Emanzipation des Menschen, seine Ent-Entfremdung von den Mitmenschen, der Natur und sich selbst im Zentrum. Wie dies allerdings bei einer gleichzeitig zentral organisierten und über Monokulturen gewährleisteten Vollautomatisierung der Lebensmittelproduktion möglich ist, ist nicht in Gänze schlüssig. Havemann verbindet die auf Liebe, Autodidaktik und künstlerisch-emanzipatorischer Betätigung ruhenden Grundpfeiler seiner utopischen Gesellschaft mit feministischen Momenten. Sie werden streng an den Prämissen sozialistischen Denkens ausgerichtet, nur an einigen Stellen finden sich teilweise bürgerlich-feministische Anleihen, etwa wenn das Weibliche vorrangig mithilfe von (potentiellen) reproduktiven Fähigkeiten bestimmt wird.68 Nichtsdestotrotz ist hervorzuheben, dass Havemann bereits in den 1970er Jahren mehrere feministische Momente diskutiert, die auch in den folgenden Jahrzehnten Gegenstand von grundsätzlichen Debatten waren beziehungsweise erst wurden, etwa die Bejahung gleichgeschlechtlicher sowie polyamorer Beziehungen,69 die Vorstellung, dass wahrhaftige Liebesbeziehungen nicht zwangsläufig lebenslange Bindungen sein müssen70 oder auch die Position, dass eine durch die Einführung der Pille möglich gewordene reproduktive Selbstbestimmung nicht zwingend mit sexueller Emanzipation gleichgesetzt werden kann.71 Diese progressiven Momente in Havemanns Utopie verdienen mit Blick auf die Entstehungszeit des Textes würdigende Beachtung, auch die von Havemann bereits Anfang der 1980er Jahre vorausgesehene Funktionsweise und die antizipierten Möglichkeiten des Internets sind bemerkenswert. Trotz dieser innovativen Ideen bleiben die inneren Widersprüche in Havemanns Utopie, sie lassen sie allein schon deshalb als nur bedingt geeignetes kommunistisches Ideal erscheinen. Für seine deutlich pragmatischer ausgerichteten Überlegungen in Richtung Demokratisierung der DDR gilt das nicht. Sie wären es wert gewesen, in der Dis68 69 70 71

Vgl. Havemann, Morgen, S. 150. Vgl. ebd., S. 137–141. Vgl. ebd., S. 103 f, 145. Vgl. ebd., S. 90, 128 f.

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kussion über einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus berücksichtigt zu werden. Christof Geisel hat allerdings festgestellt, dass, wenngleich Havemann einem größeren Kreis in der DDR bekannt war, die Erinnerung an ihn nach seinem Tod 1982 schnell verblasste.72 Lediglich Gerd Poppe hat versucht, anlässlich dessen 80. Geburtstages eine Samisdat-Sonderveröffentlichung zu veranlassen; Bernd Gehrke und Klaus Richter gründeten Ende Oktober 1989 den »Robert-Havemann-Kreis«.73 Diese beiden Initiativen haben allerdings kaum Breitenwirkung erzeugt, der Gesprächskreis wurde nach wenigen Wochen wieder eingestellt. Hinzu kommt, dass die Bürgerbewegungen in der DDR nicht zur »geschichtsbesoffenen«74 Opposition gezählt werden kann wie etwa in Polen oder Ungarn. Vielmehr waren sie darauf bedacht, keine historische Verortung vorzunehmen. Anders als Havemann konnte der in der Umbruchphase 1989/90 noch lebende Rudolf Bahro den Genoss_innen auf dem Sonderparteitag der SED/PDS seine Vorschläge unterbreiten, aber die Idee, die DDR in Richtung eines ökologisch ausgerichteten Staates zu entwickeln, fand kaum Beachtung.75 Die Ereignisse in jener kurzen Umbruchzeit folgten einem hohen Takt. Man agierte politisch-pragmatisch, statt sich in theoretische Debatten zu vertiefen und nach nur wenigen Monaten war die endlich möglich gewordene, öffentliche Diskussion eines Dritten Weges aufgrund der dann angestrebten Wiedervereinigung ohnehin obsolet.

IV. Resümee: Wandel, Kontinuitäten und innere Widersprüche Im Denkgebäude von Havemann gibt es mehrere Säulen, die nicht an der offiziell vorgegebenen Sozialismusinterpretation rütteln. Diese Feststellung gilt bei genauerer Betrachtung sogar für Havemanns Plädoyer eines veränderten, nicht auf Gewissheiten setzenden (Natur-)Wissenschaftsverständnisses und dessen Verbindung mit politischen Entwicklungen und ideologischen Wahrheitsansprüchen. So setzt sich Havemann unter Rückgriff auf kontingenztheoretische Überlegungen aus der Quantenmechanik dafür ein, dass in der Wissenschaft faire und respekt72 Vgl. Christof Geisel, Robert Havemann und die oppositionellen Bürgerbewegungen der DDR, in: ders. / Christian Sachse (Hg.), Wiederentdeckung einer Unperson, Robert Havemann im Herbst 89 – Zwei Studien, Berlin 2000, S. 19–58, hier S. 26. 73 Vgl. Geisel, Havemann und die oppositionellen Bürgerbewegungen der DDR, S. 31. 74 Ebd., S. 34. 75 Rudolf Bahro, Unsere Kombinate und Betriebe sind längst planmäßig potentielle Brückenköpfe der anderen Gesellschaftsformation geworden. Rudolf Bahro in der Diskussion des Parteitages (Rede auf dem Sonderparteitag der SED/PDS) (1989); http://archiv2007.sozialisten. de/partei/parteitag/sonderparteitag1989/view_html/n6/pp1/bs1/zid24828 [17.01.2019]; vgl. das von der Rede abweichende Redemanuskript: Rudolf Bahro, Was ich dem Außerordentlichen Parteitag der SED sagen möchte, in: Guntolf Herzberg (Hg.), Rudolf Bahro: Denker – Reformator – Homo politicus. Nachlaßwerk: Das Buch von der Befreiung, Vorlesungen, Aufsätze, Reden, Interviews, Berlin 2007, S. 172–189, hier S. 177.

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volle Diskussionen sowie ergebnisoffene Forschungen zum Standard gehören (sollten) und kennzeichnet damit den stets als Wahrheitsanspruch formulierten Standpunkt der SED als unwissenschaftlich. Gleichzeitig begründet er mit den in seiner Theorie integrierten Kategorien Zufall und Notwendigkeit sowie Wirklichkeit und Möglichkeit eine im Vergleich zur offiziellen Rhetorik deutlich bescheidenere Geschichtsauffassung, denn nun ist das Hinterfragen der (vermeintlich) stets progressiv verlaufenden Historie sowie der Zweifel am zwangsläufig kommenden kommunistischen Ideal eigentlich zwingend. Havemann gelingt es aber nicht mit letzter Konsequenz, die aus philosophischen Betrachtungen geborgenen Kategorien überzeugend auf sein in politischen Texten zur DDR enthaltenes Geschichtsverständnis anzuwenden. Dann nämlich hätte er zumindest diskutieren (wenn auch nicht zwingend vertreten) müssen, ob die bisherige Entwicklung in der DDR tatsächlich als progressiv verstanden werden kann. Dies tut Havemann nicht, sondern proklamiert zeit seines Lebens die Oktoberrevolution als Meilenstein, durch den zumindest der erste Schritt Richtung Sozialismus gegangen worden sei. Er trägt damit die offizielle Ansicht mit, dass sich die DDR auf dem Weg Richtung Sozialismus befindet. Durch seine Zwei-Phasen-Theorie führt er zwar eine erhebliche theoretische Modifikation ein, mit der er die autoritären Verhältnisse in der Sowjetunion und in der DDR zu erklären, aber dann doch die vermeintlich vorhandenen »sozialistischen Errungenschaften« zu retten sucht. Es erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, letztlich von einer geschickten Relativierung, aber nicht von einem vollständigen Bruch mit der offiziellen Ansicht zu sprechen, weil Havemann die politische Machtübernahme in den sich als sozialistisch bezeichnenden Staaten als erste Revolutionsphase und als wichtigen Schritt innerhalb der geschichtlichen Entwicklung begreift, es seiner Ansicht nach aber einer zweiten, bisher noch ausstehenden Phase bedarf, um die Revolution zu vollenden. Dennoch emanzipiert sich Havemann auch zu einem guten Teil vom offiziellen Sozialismusverständnis. Den argumentativen Klimmzügen der SED und dem seit den 1970er Jahren immer deutlicher zutage tretenden Einrichten im Erreichten stellt er eine sozialistische Position entgegen, die auf Veränderungen setzt, um das der sozialistischen Idee innewohnende Gleichheits- und Freiheitsversprechen Realität werden zu lassen. Hierfür setzt Havemann auf pluralistische, kritische Ansichten, die er nicht als Zeichen eines noch nicht entwickelten Bewusstseins versteht und die deshalb auch nicht mundtot gemacht werden müssen. Vielmehr begreift er sie als konstitutiv und notwendig für die Weiterentwicklung, weshalb sie Eingang in die ergebnisoffene Auseinandersetzung finden sollen. Entsprechend entwirft er für die zweite Revolutions- und die Übergangsphase eine demokratische Gesellschaft, die ein Mehrparteiensystem, Wahlen, eine von den Arbeiter_innen selbst verwaltete Wirtschaft und eine freie Wissenschaft kennt. Er setzt damit auf eine umfängliche Partizipation, bei der das Ziel, das allgemeine Wohl, nicht schon a priori vorgegeben ist, sondern diskursiv hervorgebracht wird. Partizipation bedeutet demnach aktive Gestaltung der Gesellschaft, nicht Be-

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schleunigung der sich ohnehin zwingend vollziehenden Geschichte. Sie ist kein an Bedingungen geknüpftes, exklusives Unterfangen, sondern in Hinblick auf Personen und Inhalte offen. Anders als Bahro mit seiner Konzeption eines Bundes der Kommunisten lehnt Havemann das im Glauben an das bereits entwickelte, richtige Bewusstsein legitimierte Sprechen für Gruppen in seiner sozialistischen Gesellschaft ab und überträgt die Diskussion von unterschiedlichen Ansichten und die Entscheidung über Vorschläge allen Bürger_innen. Interessanterweise plädiert er für den Bereich der politischen Institutionen aber nicht für eine räterepublikanische Ordnung, sondern erachtet ein repräsentatives System mit in sich demokratisch strukturierten Parteien als sinnvolle Ausgestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Die SED, die es seiner Ansicht nach von Grund auf zu demokratisieren gilt, erhält einen überaus wichtigen Platz in der sozialistischen Gesellschaft Havemanns, weil ohne sie keine Veränderungen angestoßen werden können. Sie muss allerdings im Fortgang der Entwicklung auf Macht verzichten und anderen Parteien Raum geben. Auch wenn die institutionelle Ausgestaltung der sozialistischen Gesellschaft vage bleibt, gilt es, dies wird bei Havemann überdeutlich, Strukturen zu schaffen, die tatsächliche Partizipation ermöglichen. Auch wenn Havemann Sozialismus als Wissenschaft verstand, die immer ergebnisoffen zu sein hat, und in diesem Zusammenhang die Möglichkeit breiter, nicht nur im genuin wissenschaftlichen, sondern auch im politischen und ökonomischen Bereich zu führender Diskurse einfordert, ist er insgesamt besehen davon überzeugt, dass sich in der Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten die sozialistische Idee als richtig erweisen wird. Die konkrete Ausgestaltung soll allerdings einem demokratischen Aushandlungsprozess unterworfen, die darin involvierten Standpunkte rechtlich geschützt werden. Für die weiteren Entwicklungen setzt Havemann auf Demokratisierung und den Schutz negativer Freiheiten – eine Ansicht, die ihn fundamental von Bahro unterscheidet. Letzterer bleibt in seiner viel diskutierten Alternative und auch in seinen späteren Schriften blind für die Gefahren seines Bundes der Kommunisten (beziehungsweise der später sogenannten Unsichtbaren Kirche) und die von ihm in Gang zu setzende Kulturrevolution. Das ist überaus erstaunlich, denn es ist ja gerade die freiheitsbeschneidende Situation in der DDR, die Bahro verändern will und für die er sehenden Auges in seine Inhaftierung geht. Demgegenüber entwickelt Havemann ein feines Gespür für die Notwendigkeit von Abwehr- und Schutzrechten und denkt diese liberalen Freiheitsvorstellungen konsequent in seiner theoretischen Konzeption mit. Aus einer theorieimmanenten Perspektive kann Havemann sie aber auch deshalb so starkmachen, weil er aufgrund der von ihm angenommenen, weit fortgeschrittenen Gesellschaftsentwicklung auch die geistigen Voraussetzungen als vorhanden ansieht. Er kann damit die in der sozialistischen Debatte heikle Frage nach der Bewusstseinsentwicklung einfach umschiffen, weil er davon ausgeht, dass die Menschen bereits zu einem Gutteil emanzipiert sind, eines erzieherischen Zwanges bedarf es nicht mehr. Daher ist

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die Frage von Gewaltanwendung und Erziehungsdiktatur für Havemann nicht (mehr) virulent. Früher stattgefundene Freiheitsbeschränkungen unter Lenin rechtfertigt Havemann – übrigens genauso wie Bahro – sehr wohl.76 Politische Ziele sind im Zweifel durch Oktroyieren und Blutvergießen durchzusetzen, allerdings gebietet der mittlerweile hohe Emanzipationsgrad eine vollständige Demokratisierung. Dies ist Havemanns »Antwort« auf die alte Crux der sozialistischen Idee: Havemann setzt schlicht voraus, dass sich das Bewusstsein bereits den für eine sozialistische Gesellschaft notwendigen Wegabschnitt durch die Geschichte gearbeitet hat und nun in der politischen Praxis wirken kann. Es ist bemerkenswert, dass sowohl Havemann als auch Bahro frühzeitig auf die sich abzeichnende ökologische Herausforderung reagierten. Bei letzterem wird die Sorge um den Erhalt der Umwelt sogar so weit gehen, dass er in den 1980er Jahren eine auf spirituell-meditativem Wege zu erlangende innere Umkehr setzt, eine eher spartanische, aber in Einklang mit der Natur stehende Lebensweise bevorzugt und sich ganz von der Fortschritts- und damit auch von der sozialistischen Idee verabschiedet. Havemann bleibt Zeit seines Lebens Sozialist, aber auch bei ihm sind zum Ende seines Lebens die Hoffnungen auf eine sozialistische Gesellschaft aufgrund der 1972 vom Club of Rome vorgelegten Studie Die Grenzen des Wachstums deutlich gedämpft. Das zuvor konstatierte Problem der Umweltzerstörung und der dadurch bedrohten Menschheit aufgreifend, entwirft Havemann in Morgen eine utopische Gesellschaft, die sich durch langlebige Güter, eine niedrige Produktionsrate und eine mithilfe modernster Technologien gewährleistete Versorgung der Bevölkerung auszeichnet. Die ökologische Dimension in Havemanns Denken beinhaltet durchaus ein (zumindest partielles) instrumentelles Naturverhältnis, denn es gilt, die Natur nicht ausschließlich um ihrer selbst willen zu bewahren, sondern weil sie die materiale Grundlage menschlicher Existenz darstellt. Der fortschreitende Ressourcenverbrauch und die damit einhergehende, den Menschen in seiner Existenz bedrohende Umweltzerstörung führen Havemann jedoch nicht zu dem Schluss, Institutionen zu ersinnen, die diese problematische Entwicklung durch Reglementierung aufhalten müssen. Vielmehr ist seine Antwort auf die ökologische Herausforderung der in das kommunistische Ideal eingebettete technische Fortschritt, die freiwillige Limitierung von als unverhältnismäßig angesehenen Bedürfnissen und die Produktion langlebiger Güter. In gewissem Sinne umgeht er durch den Entwurf einer utopischen Gesellschaft die Frage nach eventuell notwendig werdenden Freiheitsbeschneidungen, durch die die Umweltzerstörung aufgehalten werden und die Welt für zukünftige Generationen bewohnbar bleiben soll. Mit der ökologischen Herausforderung gelangt schließlich auch die gegenseitige Bedingtheit der politischen Blöcke in den Blick, die sich dadurch auszeich76 Vgl. u. a. Havemann, Morgen, S. 197, S. 234; Robert Havemann, Der Irrtum der Leninisten,

in: Hoffmann/Laitko (Hg.), Robert Havemann, S. 211–215, hier S. 215.

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net, dass der Osten und der Westen in ein atomares und ökonomisches Wettrüsten eingetreten sind. Havemann kritisiert das Prinzip des Immer-Mehr, an dem sich sowohl der Kapitalismus als auch der real existierende Sozialismus in analoger Weise orientieren und das zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen kann. Die Analogie zwischen beiden Systemen sehend und den Internationalismus stärker in den Blick holend, nimmt Havemann nicht nur ein Land oder ein System in die Pflicht, sondern sieht eine Lösung nur dann als möglich an, wenn von beiden Seiten aus Veränderungen eingeläutet werden. Für den Sozialisten Havemann kann die Lösung dieser Herausforderung nur in der Vollendung der sozialistischen Revolution innerhalb des Ostens und des Westens liegen. Innerhalb des Ostens soll die Gesellschaft vollständig demokratisiert, innerhalb des Westens das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft werden. Die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus hat sich bekanntlich nicht durchgesetzt; ein anderer Lösungsansatz für die von Havemann konstatierten Herausforderungen bisher auch nicht.

Christopher Banditt

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE IN DER SYSTEMTRANSFORMATION

I

m November 1989 sprach sich in einer Bevölkerungsbefragung eine satte Mehrheit von 86 Prozent der DDR-Bevölkerung für einen reformierten Sozialismus als künftigen Entwicklungsweg ihres Landes aus.1 Lediglich 5 Prozent optierten für einen kapitalistischen Weg, während knapp 9 Prozent einen anderen Weg favorisierten (siehe Tabelle 1). Auch der ostdeutsche reformorientierte Gesellschaftswissenschaftler Rainer Land ging zu dieser Zeit noch davon aus, dass »wenn die Wirtschaftskrise nicht eskaliert, dann wird eine Mehrheit in der DDR einen eigenständigen, an sozial und ökologisch progressiven Inhalten und einer vollen Demokratisierung auch der Wirtschaft orientierten Weg gehen wollen, nicht den der Wiedervereinigung«. Schließlich sei die westliche Konsumgesellschaft »nur bei einem Teil der Bevölkerung das Vorbild eigenen Lebens«.2 Dieser Bevölkerungsteil schien allerdings immer größer zu werden. In einer weiteren Befragung Ende Januar / Anfang Februar 1990 war der Anteil von Befürwortern eines kapitalistischen Weges bereits auf 31 Prozent gestiegen, wenngleich der reformierte Sozialismus noch immer eine Mehrheit von 56 Prozent fand (siehe Tabelle 1).

1 Der Aufsatz präsentiert einige Ergebnisse aus meinem laufenden Promotionsprojekt »So-

ziale Ungleichheit in Ostdeutschland 1980–2000. Die materiellen Lagen von Arbeitnehmerhaushalten im Wandel«. 2 Rainer Land, Die Grenze ist offen. Die Wirtschaftsreform der DDR, in: Hubertus Knabe (Hg.), Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes, Hamburg 1989, S. 216–226, hier S. 217.

214 Christopher Banditt

Tabelle 1: »Welchen Entwicklungsweg sollte die DDR nach Ihrer Meinung künftig nehmen?« (in Prozent)

Weg eines besseren, reformierten Sozialismus kapitalistischen Weg anderen Weg

Nov. 1989

Jan./Feb. 1990

86,1 5,2 8,7

55,9 30,9 13,2

Fallzahlen: 1.623 u. 1.778 Personen; Antwortausfall: 2,1 u. 2,3 Prozent Auswertung nach: Zentralinstitut für Jugendforschung / Institut für Marktforschung, Meinungsbarometer November 1989; Januar/Februar 1990 – Einstellung zur Entwicklung in der DDR, in: GESIS Datenarchiv, Köln; ZA6009; ZA6010 Datenfile Version 1.0.0, DOI: 10.4232/1.6009; 10.4232/1.6010

Leider hat das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ), das die durch die voranschreitende Erosion der SED-Herrschaft entstandenen Spielräume für sozialwissenschaftliche Erhebungen sofort zu nutzen wusste, diese – durchaus tendenziös formulierte – Frage in den weiteren Wellen seines »Meinungsbarometers« nicht mehr gestellt. Sonst könnte eine mögliche Entwicklung dieses Stimmungsbildes während des Jahres 1990 exakter nachgezeichnet werden. Zugleich lässt sich aber ein Meinungsumschwung der Ostdeutschen zugunsten von Wiedervereinigung und bundesdeutscher Marktwirtschaft nicht zuletzt am Ergebnis der Volkskammerwahl vom März 1990 ablesen, für das auch der Wunsch nach Übernahme der D-Mark als Zahlungsmittel eine wichtige Rolle spielte, nachdem das Vertrauen in die DDR-Mark weiter geschwunden war.3 Fernerhin zeigen andere sozialwissenschaftliche Befragungen, dass sich angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten und im Zuge der Debatte über eine Wirtschaftsreform in der DDR sowie mit der immer realistischer erscheinenden Möglichkeit einer deutschen Vereinigung die Zustimmung zur Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems in Ostdeutschland verstärkte.4 So hat etwa das Mannheimer Institut für praxisorientierte Sozialforschung (IPOS) im Mai und Juni 1990 – also zu einem Zeitpunkt, als die Übertragung des Wirtschafts-, Währungs- und Sozialsystems der Bundesrepublik schon beschlos-

3 Vgl. Jürgen W. Falter, Wahlen 1990. Die demokratische Legitimation für die deutsche Einheit

mit großen Überraschungen, in: Eckhard Jesse / Armin Mitter (Hg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft, Bonn 1992, S. 163–188, hier S. 170–173; zum Vertrauensverlust in die DDR-Mark: André Steiner, Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion vom 1. Juli 1990, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 441–455 u. 656–659, hier S. 445. 4 Siehe zum wirtschaftlichen Niedergang: André Steiner, Die DDR-Volkswirtschaft am Ende, in: ebd., S. 113–129 u. 592–595 und zur Debatte um eine Wirtschaftsreform: Marcus Böick, »Das ist nunmal der freie Markt«. Konzeptionen des Marktes beim Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland nach 1989, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 448–473, hier S. 452–457.

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE

60 50 40 30 20 10 0

1: zentral geplante Wirtschaft

2

3

4

5

6

7: Marktwirtschaft

Abbildung 1: Wo wollen Sie leben: »Gesellschaft, in der die Wirtschaft eher zentral geplant wird«, oder »Gesellschaft, die sich eher auf die Marktwirtschaft verlässt«? (Mai/Juni 1990, in Prozent) Fallzahl: 799 Personen; Antwortausfall: 0,6 Prozent Auswertung und eigene Darstellung nach: Manfred Berger / Wolfgang G. Gibowski / Dieter Roth, Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik (1990) – DDR, in: GESIS Datenarchiv, Köln; ZA1967 Datenfile Version 1.0.0, DOI: 10.4232/1.1967

sen war – die DDR-Bürger befragt, ob sie eher in einer Gesellschaft mit zentral geplanter oder Marktwirtschaft leben wollen. Allerdings lässt sich diese Befragung nicht in eine direkte (Zeit-)Reihe mit den ZIJ-Befragungen (aus Tabelle 1) stellen, da es hier nicht die Möglichkeit zur Wahl eines anderen Weges gab und auch weil der Begriff ›Marktwirtschaft‹ insbesondere für DDR-sozialisierte Menschen weit weniger pejorativ klingen musste als ›kapitalistischer Weg‹, wie auch ›besserer, reformierter Sozialismus‹ sicherlich positiver konnotiert wurde als ›zentral geplante Wirtschaft‹. In diesem Sinne dokumentieren die Fragetexte der Erhebungen nicht nur deutsch-deutsche Semantiken der frühen 1990er Jahre, sondern trugen mitunter selbst zur Konstruktion eines Meinungsbildes bei. Unabhängig davon vermittelt die IPOS-Befragung ein eindeutiges Ergebnis. Im entsprechenden Kontinuum lagen die Zustimmungswerte mit mindestens 70 Prozent (Skalenpunkte 6 und 7) bei der Marktwirtschaft. Während 11 Prozent ein indifferentes Antwortverhalten aufwiesen (Skalenpunkt 4), war die Favorisierung eines zentral geplanten Wirtschaftssystems merklich gering (siehe Abbildung 1). Auf der Skala von 1 für zentral geplante Wirtschaft bis 7 für Marktwirtschaft lag der Mittelwert bei 5,8. Verbunden mit der wachsenden Zustimmung zur Marktwirtschaft war die Annahme einer baldigen Besserung der wirtschaftlichen Lage auf dem Gebiet der Noch-DDR, die auch Veränderungen in der persönlichen Lebenswelt der Ostdeutschen erwarten ließ. Darüber gibt eine Befragung zu den Lebenslagen in

215

216 Christopher Banditt

90 80 70 60 50

wird besser bleibt gleich wird schlechter

kann ich nicht einschätzen

40

30 20 10 0

Haushaltseinkommen

Arbeitsplatzsicherheit

Konsumgütererwerb

Abbildung 2: »[W]elche Veränderungen Ihrer Lebensbedingungen erwarten Sie […] für den Zeitraum der nächsten zwei Jahre?« (Juni 1990, in Prozent) Fallzahl: 1.305 Personen; Antwortausfall: 1,8 (Einkommen), 24,4 (Arbeitsplatz)5 u. 1,5 Prozent (Konsumgüter) Auswertung und eigene Darstellung nach: Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien, Ostdeutschland – Lebenslagen und soziale Strukturen 1990, in: GESIS Datenarchiv, Köln; ZA6344 Datenfile Version 1.0.0, DOI: 10.4232/1.6344

Ostdeutschland Auskunft, die im Juni 1990 vom Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS), das faktisch eine Ausgründung aus der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED darstellte, durchgeführt wurde. Von einer Steigerung des Haushaltseinkommens gingen mit 45 Prozent doppelt so viele Befragte aus wie von Verschlechterungen. Wie in sämtlichen Erhebungen, die aus dieser Zeit für Ostdeutschland vorliegen, wurde auch hier eine Zunahme von Arbeitslosigkeit vorausgesehen. Negative Entwicklungen bei der persönlichen Arbeitsplatzsicherheit erwarteten 48 Prozent. Die Einschätzung, die Arbeitsplatzsicherheit »wird besser«, teilten lediglich 11 Prozent, aber immerhin knapp ein Viertel der Befragten ging hier von einem Gleichbleiben aus. Eine Verbesserung wurde sehr eindeutig von rund 80 Prozent hinsichtlich der Möglichkeiten zum Erwerb von Konsumgütern erwartet, wobei die diesbezüglichen weiteren Befragungswerte (»bleibt gleich«, »wird schlechter«, »kann ich nicht einschätzen«) im einstelligen Prozentbereich rangierten (siehe Abbildung 2). Inwiefern sich die von der ostdeutschen Bevölkerung mit der neuen Ordnung ›Marktwirtschaft‹ verbundenen Hoffnungen und Befürchtungen in den 1990er Jahren realisierten, soll im vorliegenden Aufsatz näher untersucht werden. Dass heute solche Stimmungs- und Erwartungsbilder aus dem »Wendejahr« vorliegen, 5 Die Frage nach der Arbeitsplatzsicherheit wurde zum übergroßen Teil von Rentnern, Schü-

lern, Studenten, Hausfrauen/-männern und Arbeitslosen nicht beantwortet.

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE

ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die DDR mit dem politischen Wandel zu einem Feld sozialwissenschaftlicher Studien und Befragungen wurde, was zuvor aufgrund der herrschenden Restriktionen so nicht möglich war. Dies ist indes einer der Hauptgründe dafür, dass die sozialwissenschaftlich geprägte Erforschung des Wandels der ostdeutschen Gesellschaft im Jahr 1990 zumeist ihren Ausgangspunkt sieht – von hier an gibt es schließlich verwertbares empirisches Material. Zugleich wird Transformationsforschung oftmals unter dem Gesichtspunkt der (ökonomischen) Angleichung an westdeutsche Verhältnisse betrieben.6 Medial wird diese Frage dann häufig noch zugespitzt auf die Dichotomie: ostdeutsche Transformation – Erfolgsgeschichte oder Fehlbilanz? Im Beitrag sollen die Entwicklungen in der ostdeutschen Gesellschaft eher sui generis betrachtet werden und weniger mit Blick auf Westdeutschland als zu erreichender »Idealzustand« beziehungsweise Referenzgesellschaft, auch wenn es diese für die meisten Ostdeutschen zweifellos bildet(e). Betrachtet wird die Dekade bis zum Ende der Kohl-Regierung 1998, wobei mit dem Jahr 1988 bewusst ein Ausgangspunkt vor dem ostdeutschen Zeitenwechsel gewählt wird, um neben den Brüchen auch Kontinuitäten zu identifizieren, die über revolutionäre Zäsuren hinweg generell in größerem Maße bestehen, als gemeinhin angenommen wird.7 Damit wird überdies dem Postulat entsprochen, »das Epochenjahr 1989/90 weniger als Ende oder Anfang zu sehen, sondern seinerseits in laufende Entwicklungen einzuordnen«.8 Der Fokus liegt auf den sozioökonomischen Lagen von Arbeitnehmerhaushalten mit einem besonderen Augenmerk auf materieller Ausstattung und Ungleichheit. Der Kaprizierung auf ostdeutsche Arbeitnehmerhaushalte, in denen also ein Arbeiter oder eine Arbeiterin beziehungsweise eine Angestellte oder ein Angestellter das Haupteinkommen bezog, liegen sowohl pragmatische als auch inhaltliche Erwägungen zugrunde. So ist für diese gesellschaftliche Gruppe die Datenverfügbarkeit schlichtweg am besten, da der sogenannte X-Bereich in der DDR nicht in sozialwissenschaftliche oder statistische Erhebungen einbezogen werden durfte und weil die Auskunftsfreude bestimmter sozialer Schichten zu ihrer materiellen Situation auch in nichtdiktatorischen Systemen eher begrenzt war beziehungsweise ist.9 Gleichwohl stell(t)en Arbeitnehmer die größte gesell6 Anstatt vieler: Joachim Ragnitz u. a., 25 Jahre Deutsche Einheit: eine Erfolgsgeschichte?, in: Wirtschaftsdienst 95 (2015), S. 375–394. 7 Vgl. Christoph Kleßmann, 1945 – welthistorische Zäsur und »Stunde Null«, in: DocupediaZeitgeschichte, 15. Oktober 2010; Version 1.0, DOI: 10.14765/zzf.dok.2.315.v1, S. 5. 8 Thomas Großbölting / Christoph Lorke, Vereinigungsgesellschaft. Deutschland seit 1990, in: dies. (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 9–30, hier S. 24. 9 Zum X-Bereich, der unter anderem Armee, Polizei, Staatssicherheit, Staatsführung und Parteien umfasste, siehe Heike Wirth, Amtliche Bevölkerungserhebungen der DDR als Quelle für sozialstrukturelle Analysen, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, Nr. 10 (1997), S. 25–39, hier S. 27 f.

217

218 Christopher Banditt

schaftliche Gruppe dar, sodass sich die sozioökonomischen Entwicklungen in der breiten Masse der Bevölkerung damit nachzeichnen lassen. Mit einbezogen werden ferner Erwerbslose, die zum jeweiligen Zeitpunkt eine Anstellung als Arbeitnehmer suchten, als sozusagen potenzielle Arbeitnehmer. Würde man nämlich der klassischen Definition folgen, die nur aktuell erwerbstätigen Personen den Arbeitnehmerstatus zuweist, ließe sich das Phänomen der Arbeitslosigkeit und dessen Auswirkungen auf soziale Ungleichheiten kaum angemessen darstellen. Erklärtermaßen bestehen Privathaushalte aus Personen, die miteinander wohnen und gemeinsam wirtschaften. Sie stellen dabei die kleinste soziale Einheit dar und sind Ort des Konsums, dessen Grundlage die Einkommen ihrer Mitglieder bilden. Mit Untersuchungen auf Haushaltsebene werden auch Gesellschaftsmitglieder, die nicht Teil der Erwerbsbevölkerung sind, zum Gegenstand. Mithin lässt sich die materielle Ausstattung von Haushalten faktisch nur über Haushaltsbefragungen feststellen. Lohn- und Gehaltsdaten etwa würden als Quelle nicht ausreichend sein, da das verfügbare Haushaltseinkommen nicht nur aus den Arbeitseinkommen nach Abgaben und Steuern gebildet wird, sondern auch aus Sozialtransfers, wie dem Kindergeld, oder aus betrieblichen Zuwendungen, zum Beispiel Aufwandsentschädigungen, sowie aus sonstigen Einnahmen, etwa aus Vermietungen oder Verpachtungen.

I.

Einkommensentwicklung und -ungleichheit

Hinsichtlich der erwarteten Einkommenssteigerungen sollten sich die Ostdeutschen insgesamt nicht enttäuscht sehen. Zwischen 1991, als die amtliche Haushaltsbefragung Mikrozensus zum ersten Mal in Ostdeutschland durchgeführt wurde, und 1998 ist das durchschnittliche im Monat verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den Arbeitnehmerhaushalten von 855 DM auf 1.443 DM gewachsen. Der nominale Anstieg lag demnach bei 69 Prozent. Rechnet man die Inflation heraus, ergibt sich immer noch ein preisbereinigter Anstieg von 21 Prozent.10 Diese Zunahme basierte in erster Linie auf gewachsenen Arbeitseinkommen. Trotz der Produktivitätsrückstände hatten die in den frühen 1990er Jahren konsensual und unter hohem gesellschaftlichen Druck ausgehandelten Tarifabschlüsse die Angleichung der ostdeutschen an die westdeutschen Löhne und Gehälter zum Ziel. Damit sollte nicht zuletzt ein wesentlicher Antriebsfaktor der Binnenwanderung von Ost nach West ausgeschaltet werden. Zudem waren für die Gewerkschaften und ihre zumeist westdeutschen Vertreter die Tarifverhandlungen ein 10 Im Jahr 1988 lag das monatliche Pro-Kopf-Einkommen in Arbeiter- und Angestelltenhaus-

halten der DDR durchschnittlich bei etwa 760 Mark. Aufgrund vielfältiger methodischer Probleme bei der Umrechnung zwischen DDR- und D-Mark sowie unsicherer Zahlen zur Inflation für insbesondere 1989 und 1990 lässt sich die preisbereinigte Einkommensentwicklung für diese Zeit nicht umstandslos ausweisen.

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE

Vehikel ihrer auf die ostdeutschen Arbeitnehmer zielenden Klientelpolitik. Doch auch für die westdominierten Arbeitgeberorganisationen lagen niedrige ostdeutsche Löhne nicht im Interesse. Zum einen sollte keine Billiglohnkonkurrenz in den ostdeutschen Bundesländern entstehen und zum anderen bildeten diese ein willkommenes Absatzgebiet für die von Überkapazitäten geprägte westdeutsche Wirtschaft.11

4,5 80/20-Ratio

Gini

0,290

4,0 3,5 3,0

3,8

3,7

3,8

3,6

0,263

0,257

0,257

0,250

0,247 0,230

2,8

2,5 2,0

0,270

0,210 0,205 1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

0,190

Abbildung 3: Verteilungsmaße des verfügbaren monatlichen Pro-Kopf-Einkommens in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten12 Fallzahl: 22.839–28.471 Haushalte13 Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 u. Mikrozensus Scientific Use File 1991; 1993; 1995; 199814

11 Vgl. Ingrid Artus, Tarifpolitik in der Transformation. Oder das Problem »stellvertretender Tarifautonomie«, in: Detlev Brunner u. a. (Hg.), Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation, Bielefeld 2018, S. 151–168; siehe auch Gerhard A. Ritter, Die deutsche Wiedervereinigung, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 289–339, hier S. 331 f. 12 Die Darstellung des Pro-Kopf-Einkommens wird hier der eines bedarfsgewichteten Einkommens vorgezogen; aufgrund der sehr differenten Ausgabenstrukturen – man denke nur an die hohen Subventionierungen von Gütern des täglichen Bedarfs in der DDR – kann von keiner für beide Systeme adäquaten Äquivalenzskala ausgegangen werden. 13 Da die – freundlicherweise vom Bundesarchiv und Statistischen Bundesamt bereitgestellten – Datensätze der amtlichen Statistik in aufbereiteter Form zur Auswertung freigegeben werden, ist der ursprüngliche Antwortausfall nicht für alle Befragungen darstellbar. Dieser liegt aber angesichts der Auskunftspflicht beim Mikrozensus in einem niedrigen Bereich. 14 Siehe zur Methodik und zu Besonderheiten bei der Interpretation der Einkommensstichprobe: Peter Krause / Johannes Schwarze, Die Einkommensstichprobe in Arbeiter- und Angestelltenhaushalten der DDR vom August 1988 – Erhebungskonzeption und Datenbankzugriff, Berlin 1990; zum Mikrozensus: Paul Lüttinger / Thomas Riede, Der Mikrozensus. Amtliche

219

220 Christopher Banditt

Der Einkommensanstieg betraf freilich nicht alle Haushalte gleichermaßen. In den einkommensstärksten 20 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalte stiegen die Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1991 und 1998 mit 25 Prozent überdurchschnittlich stark. Im ärmsten Fünftel der Haushalte sind die Pro-Kopf-Einkommen lediglich – oder immerhin – um inflationsbereinigte 17 Prozent gewachsen. An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass hier die Gruppe der Haushalte von Arbeitern und Angestellten auch diejenigen von erwerbslosen Arbeitnehmern umfasst. Die disparate Einkommensentwicklung wird auch von gängigen Kennziffern zur Ungleichheitsmessung widergespiegelt. Als ein Maß kann hierbei die sogenannte 80/20-Relation herangezogen werden. Sie sagt aus, wie das Verhältnis zwischen den oberen 20 Prozent (also denen über der 80-Prozent-Marke) und den unteren 20 Prozent einer Verteilung ist. Demnach herrschte 1988 im reichsten Fünftel der Arbeitnehmerhaushalte das 2,8-fache Pro-Kopf-Einkommen des ärmsten Fünftels vor. Diese Verhältniszahl stieg 1991 auf 3,6 und erreichte schließlich 3,8 im Jahr 1998 (siehe Abbildung 3). Der Gini-Koeffizient, der das gängigste Verteilungsmaß darstellt und zwischen dem Wert 0 bei absoluter Gleichverteilung und dem Wert 1 bei totaler Ungleichverteilung liegt, folgt für die hier betrachtete Dekade dieser Entwicklung.15

II. Arbeitslosigkeit als Triebkraft für Einkommensungleichheit Starken Einfluss auf die Einkommensungleichheit im Ostdeutschland der 1990er Jahre hatte der Faktor Arbeitslosigkeit. Im Zuge der deutschen Vereinigung waren die ostdeutschen Unternehmen unter zunehmenden Druck geraten. Mit der Währungsunion vom 1. Juli 1990 wurden bekanntlich die Löhne im Kurs 1:1 von DDR-Mark auf D-Mark umgestellt, was für die Betriebe die Lohnstückkosten faktisch um 330 Prozent in die Höhe schnellen ließ.16 Die hohen Tarifabschlüsse ab Herbst 1990 und die teilweise schon vor der Währungsunion umgesetzten Daten für die Sozialforschung, in: ZUMA-Nachrichten, Nr. 41 (1997), S. 19–43 und zur Diskussion über die Tauglichkeit des Mikrozensus für Einkommens- und -ungleichheitsanalysen: Johannes Stauder / Wolfgang Hüning, Die Messung von Äquivalenzeinkommen und Armutsquoten auf der Basis des Mikrozensus, in: Statistische Analysen und Studien Nordrhein-Westfalen 13 (2004), S. 9–31. Hier wurden für eine harmonische Quintilverteilung, die zugewiesenen Einkommen in den jeweiligen Klassen linear geglättet; zum Verfahren: Mara Boehle, Armutsmessung mit dem Mikrozensus. Methodische Aspekte und Umsetzung für Querschnitts- und Trendanalysen (= GESIS Papers 2015|16), Mannheim 2015. 15 Dazu, dass sowohl 80/20-Relation als auch Gini-Koeffizient »state of the art« der Ungleichheitsmessung sind, vgl. Estelle L. A. Herlyn, Einkommensverteilungsbasierte Präferenz- und Koalitionsanalysen auf der Basis selbstähnlicher Equity-Lorenzkurven. Ein Beitrag zur Quantifizierung sozialer Nachhaltigkeit, Wiesbaden 2012, S. 46 f. u. 58. 16 Hans-Werner Sinn, Volkswirtschaftliche Probleme der Deutschen Vereinigung, Opladen 1996, S. 22.

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE

Lohnanhebungen taten hierzu ihr Übriges.17 Waren die ostdeutschen Güter in qualitativer Hinsicht ohnehin nur begrenzt konkurrenzfähig im internationalen Handel, verminderte sich mit den gestiegenen Produktionskosten und ergo erhöhten Preisen ihre Absatzfähigkeit auf dem Weltmarkt noch. Der Export in die traditionellen Abnehmerländer Osteuropas, die ihrerseits ebenfalls in wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren, ging zurück. Und auch in Ostdeutschland selbst nahm die Nachfrage nach einheimisch produzierten Erzeugnissen ab, die in der Gunst der Käufer nun nicht mehr mit westdeutschen Waren konkurrieren konnten.18 Die Krise der ostdeutschen Unternehmen führte zu zahlreichen Betriebsschließungen, zumeist im Rahmen der von der Treuhand dirigierten Privatisierung, und entsprechenden Produktionseinbrüchen sowie Arbeitskräftefreistellungen. Vom ersten auf das zweite Halbjahr 1990 brach die Industrieproduktion um 50 Prozent ein.19 Aus dem ursprünglichen Erwerbspersonenpotential in Höhe von 9,8 Millionen waren Ende 1990 drei Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder in den Ruhestand geschickt worden.20 Im Jahr 1991, dem Tiefpunkt der ostdeutschen Wirtschaftsleistung, betrug die offizielle Arbeitslosenquote (bezogen auf abhängige Erwerbspersonen) 10,2 Prozent. In der Folgezeit kam es zu einem »Rekonstruktionsboom« mit dem von umfassenden staatlichen Infrastrukturinvestitionen gespeisten Bausektor als Wachstumsmotor, sodass die Arbeitslosenquote von bereits 15,4 Prozent im Jahr 1993 auf 14,8 Prozent 1995 abfiel. Zwar begann sich Mitte der 1990er Jahre die Anzahl der Arbeitsplätze in der Industrie zu stabilisieren, aber mit dem Abschwung des Bauwesens verschärfte sich ab 1996 die Arbeitslosigkeit wieder.21 Mit 19,2 Prozent markierte die offizielle Arbeitslosenquote 1998 einen auch für die folgenden Jahre vorläufigen Höchstwert in den ostdeutschen Bundesländern. Analog erreichte zur selben Zeit die Einkommensungleichheit ihren Höhepunkt, als das oberste Fünftel der Arbeitnehmerhaushalte über das 3,8-fache Pro-Kopf-Einkommen des untersten Fünftels verfügte (siehe Abbildung 3). Waren in der späten DDR von den erwachsenen Personen in Arbeitnehmerhaushalten mit einem Mindestalter von 18 Jahren 93 Prozent erwerbstätig, so ging dieser recht hohe Anteil bis 1998 auf 72 Prozent zurück (siehe Abbildung 4). Das

17 Karl Brenke, Die deutsch-deutsche Währungsunion: ein kritischer Rückblick, in: DIW Wo-

chenbericht, Nr. 27 (2015), S. 629–638, hier S. 635 f. 18 Siehe hierzu auch die Schilderung von: Milena Veenis, Material Fantasies. Expectations of the Western Consumer World among East Germans, Amsterdam 2012, S. 188 ff. 19 Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, Bonn 2010, S. 41. 20 Brenke, Die deutsch-deutsche Währungsunion, S. 634. 21 Vgl. André Steiner, From the Soviet Occupation Zone to the »New Eastern States«. A Survey, in: Hartmut Berghoff / Uta A. Balbier (Hg.), The East German Economy, 1945–2010. Falling Behind or Catching Up?, Cambridge 2013, S. 17–49, hier S. 42–46 und Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des deutschen Sozialstaates, München 22007, S. 126.

221

222 Christopher Banditt

100 90 80

insgesamt oberstes Fünftel

70

oberes Quintil

60

mittleres Quintil

50 40

unteres Quintil unterstes Fünftel 1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

Abbildung 4: Anteil Erwerbstätiger an Erwachsenen (ab 18 Jahre) nach Quintilen der Pro-Kopf-Einkommen in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten (in Prozent) Fallzahl: 22.839–28.461 Haushalte Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 u. Mikrozensus Scientific Use File 1991; 1993; 1995; 1998

hatte nicht unbedingt allein mit Arbeitslosigkeit zu tun: Mehr jungen Menschen als zuvor standen nach dem politischen Umbruch erweiterte Bildungsmöglichkeiten wie Abitur und Studium zur Verfügung. Durch Frühverrentungen weitete sich zudem der Anteil der Rentner aus. So flaute auch im einkommensstärksten Fünftel der Anteil Erwerbstätiger von 97 Prozent 1988 bis 1998 auf 91 Prozent ab. Dass Erwerbslosigkeit mit einkommensmäßiger Schlechterstellung einherging, zeigt das horrende Absinken der Erwerbstätigenquote im ärmsten Quintil: Lag sie 1988 bei einem Ausgangswert von 91 Prozent, konnten hier zehn Jahre später nur noch 48 Prozent der Erwachsenen eine Erwerbstätigkeit vorweisen. Demzufolge war 1998 nur knapp jeder zweite über 18-Jährige im einkommensschwächsten Fünftel der Arbeitnehmerhaushalte erwerbstätig. Dieser Einbruch der Erwerbslosigkeit in die vormalige Arbeitsgesellschaft der DDR, in der der Erwerbstätigenanteil über 90 Prozent lag, verstärkte nicht nur die Einkommensungleichheit. Auch bedeutete er eine schwere sozialpsychologische Hypothek für die ostdeutsche Bevölkerung, da zuvor der Arbeitsplatz und die Bindung an den Betrieb einen großen Stellenwert im Leben der Arbeiter und Angestellten besaßen. Ferner verlor das Gebiet der früheren DDR zwischen 1989 und 1998 im Saldo über 1,1 Millionen Menschen durch Abwanderung in das frühere Bundesgebiet.22 Hierunter waren oftmals junge, gut ausgebildete Men22 Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 22001, S. 51.

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE

schen, die sich auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt bessere Chancen erhofften. Somit wurde die ostdeutsche Gesellschaft durchschnittlich älter, wofür auch eine sinkende Geburtenrate verantwortlich zeichnete. Ältere Menschen waren hingegen weit weniger mobil und sofern sie nicht etwa durch Vorruhestandsregelungen vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden, waren nach erfolgter Kündigung ihre Wiedereinstellungschancen meistens wesentlich geringer als die jüngerer Arbeitnehmer. Die 1990 45- bis 54-Jährigen stellten hierbei eine besonders betroffene Problemgruppe dar, de facto waren sie »zu jung« für die Frühverrentung und »zu alt« für den Arbeitsmarkt.23 Frauen trugen ebenfalls ein höheres Erwerbslosigkeitsrisiko. In den Spitzenjahren 1992 bis 1994 übertrumpfte ihre Arbeitslosenquote die der Männer um 75 bis 80 Prozent. Bei dem Überangebot an Arbeitskräften bevorzugten Betriebe in der Tendenz eher Männer, da sie gemeinhin weniger in erzieherische oder häusliche Arbeit eingebunden waren und somit seltener Arbeitsausfälle drohten.24 Da mit dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 nicht nur Wirtschaftsverfassung und Währung der Bundesrepublik auf die DDR übertragen wurden, sondern auch das Sozialsystem, federten nun die Arbeitslosen- und Rentenversicherung soziale Härten ab. Damit wurde den Solidarkassen ein erheblicher Teil der Einheitskosten aufgebürdet – was in der jüngeren deutschen Geschichtsschreibung bereits als größter Fehler der Vereinigung gesehen wurde.25

III. Neue und alte materielle Ungleichheiten Für ostdeutsche Arbeitnehmer mit höheren beruflichen Abschlüssen verringerte sich insgesamt das Risiko der Erwerbslosigkeit. Inhaber eines Hochschulabschlusses waren verhältnismäßig seltener davon betroffen als An- und Ungelernte, aber auch als ausgebildete Facharbeiter. Insofern verwundert es nicht, dass sich die früheren Funktionseliten der DDR, wenn sie nicht als politisch belastet galten, erstaunlich gut ins neue System einfanden. In der DDR waren sie relativ häufiger zu höherer Bildung gelangt und konnten diese nun einbringen, schließlich sah der Einigungsvertrag für den Großteil der Schul- und Berufsabschlüsse deren Anerkennung vor.26 Zudem verbanden sich vor wie nach dem Ende der DDR mit einer höheren beruflichen Qualifikation auch Einkommensvorteile. So erhielten 1988 Un- und 23 Karl Ulrich Mayer / Heike Solga, Lebensverläufe im deutsch-deutschen Vereinigungspro-

zess, in: Peter Krause / Ilona Ostner (Hg.), Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010, Frankfurt a. M. 2010, S. 39–56, hier S. 45. 24 Dazu Gerhard A. Ritter, Soziale und politische Probleme der deutschen Wiedervereinigung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 312–327, hier S. 324 f. 25 Ders., Die Kosten der Einheit. Eine Bilanz, in: Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90, S. 537–552 u. 675–678, hier S. 543 ff. 26 Vgl. Mayer/Solga, Lebensverläufe, S. 44 u. 50 f.

223

224 Christopher Banditt

Tabelle 2: Verfügbares monatliches Einkommen von ostdeutschen erwerbstätigen Arbeitnehmern nach Qualifikation in Relation zum Gesamtdurchschnitt (= 100) 1988 un-/angelernt Facharbeiter Meister Fachschule Hochschule

1998 80,1 92,8 116,2 107,3 132,1

77,3 88,5 106,9 107,2 141,8

Anlernausbildung Lehrausbildung Meister Fachschule (Fach-)Hochschule

Fallzahl: 51.065 u. 29.861 Personen Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 u. Mikrozensus Scientific Use File 1998

Angelernte lediglich 80 Prozent des durchschnittlich verfügbaren Einkommens der Arbeiter und Angestellten und Facharbeiter 93 Prozent. Über dem Durchschnitt lagen mit 116 Prozent Meister und mit 107 Prozent Absolventen einer DDR-Fachschule. Inhaber eines Hochschulabschlusses standen mit 132 Prozent am oberen Ende der Einkommenshierarchie (siehe Tabelle 2). Diese Rangordnung nach Berufsabschluss setzte sich auch in den 1990er Jahren fort: Unten lagen weiterhin erwerbstätige Arbeitnehmer mit geringer Qualifikation, wie mit 77 Prozent des Durchschnittseinkommens im Jahr 1998 diejenigen mit einer Anlernausbildung. Mit 89 Prozent rangierten Facharbeiter darüber. Während Inhaber eines Meisterabschlusses mit einem 7 Prozent über dem Durchschnitt liegenden verfügbaren Einkommen ausgestattet waren, womit sie nun mit den Absolventen der DDR-Fachschulen gleichauf lagen, hielten Arbeitnehmer mit Hochschulabschluss mit 142 Prozent noch immer den obersten Platz dieser Rangfolge. Zwar verstärkte eine zunehmende Lohn- und Gehaltsdifferenzierung nach der Wiedervereinigung die Einkommensungleichheit in Ostdeutschland.27 Gleichwohl offenbarte sich in der vor 1989/90 wie darüber hinaus bestehenden Einkommenshierarchie nach beruflicher Qualifikation auch eine gewisse Kontinuität. Neben dem Anteil an Erwerbstätigen im Haushalt war ebenfalls die reine Anzahl seiner Mitglieder, die sich schließlich das Haushaltsnettoeinkommen teilten, ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der materiellen Lage. Insbesondere Kinder – hier definiert als Personen bis 16 Jahre – schlugen in diesem Sinne zu Buche. Zwar brachten sie über das Kindergeld gewissermaßen auch Einkommen in den Haushalt ein, dieses lag aber zumeist unter dem eines Arbeitseinkommensbeziehers. Folglich waren beispielsweise die neudeutsch »DINK« genannten Haushalte mit »double income, no kids« in einer materiell besseren Position als Paare mit Kindern. 27 Vgl. Richard Hauser, »Nahblick« und »Weitblick«. Erste Schritte zur Erforschung des so-

zialen und politischen Wandels in den Bundesländern und frühe Prognosen, in: Krause/Ostner (Hg.), Leben in Ost- und Westdeutschland, S. 57–81, hier S. 64.

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140 120 100 80 60 40

ohne Kinder

20

zwei Kinder

0

ein Kind drei Kinder 1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

Abbildung 5: Monatliches Pro-Kopf-Einkommen nach Kinderanzahl in Relation zum Gesamtdurchschnitt in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten (= 100) Fallzahl: 22.839–28.471 Haushalte Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 u. Mikrozensus Scientific Use File 1991; 1993; 1995; 1998

Im Zeitraum 1988 bis 1998 verfügten kinderlose Haushalte über 118 bis 124 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten. Jene mit einem Kind hatten in der Dekade durchschnittlich zwischen 80 und 85 Prozent zur Verfügung und Haushalte mit zwei Kindern zwischen 65 und 70 Prozent. Den größten Positionsverlust verzeichneten hierbei Haushalte mit drei Kindern, als sie im betrachteten Zeitraum von 59 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens auf 49 Prozent rutschten (siehe Abbildung 5). Im Ganzen betrachtet gab es zwar eine leichte tendenzielle Besserstellung von Haushalten mit Kindern im Jahr 1988 gegenüber den späteren 1990er Jahren. Dennoch wird bei dieser Betrachtung deutlich, dass zäsurübergreifend Kinder generell ein unterdurchschnittliches verfügbares Pro-Kopf-Einkommen im Haushalt bedeuteten. Das ist nicht zuletzt bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass sich die DDR als betont kinderfreundliches Land gerierte, dabei versuchte, die sogenannten kinderreichen Familien materiell zu begünstigen und mit Sozialprestige auszustatten. Zudem verwies sie ihre Bürger regelmäßig auf die schlechte Stellung kinderreicher Familien im Kapitalismus, sprich »in der BRD«.28 28 Siehe exemplarisch: Lebenshaltungskosten für Kinderreiche in der BRD drastisch erhöht, in: Neues Deutschland, 26./27. Mai 1984, S. 7. Zu entsprechenden Armutsfigurationen in der DDR: Christoph Lorke, »Soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit«: Kinderreiche Familien in der DDR, in: Deutschland Archiv 2015 (2016), S. 146–155, online unter http://www. bpb.de/206153 [15.09.2018].

225

226 Christopher Banditt

4,0

1988

3,5

1993

3,0

1998

2,5 2,0 1,5 1,0

0,5 0,0

unterstes Quintil

unteres Quintil

mittleres Quintil

oberes Quintil

oberstes Quintil

Abbildung 6: Durchschnittliche Personenanzahl nach Quintilen der Pro-Kopf-Einkommen in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten Fallzahl: 22.839–28.471 Haushalte Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 u. Mikrozensus Scientific Use File 1993; 1998

Grundsätzlich galt: je größer ein Haushalt, umso geringer die Einkommenslage pro Kopf, da hier mit Kindern mehr Nichtarbeitseinkommensbezieher vorhanden waren. Arbeitnehmerhaushalte im untersten Einkommensfünftel hatten 1988 eine durchschnittliche Größe von 3,6 Personen, während die Personenanzahl im obersten Fünftel lediglich 1,8 betrug. Die Haushaltsgröße im einkommensstärksten Quintil blieb auch in den folgenden zehn Jahren konstant. Im untersten Quintil hingegen schmolz die Haushaltgröße bis 1998 auf 3,2 Personen ab; es gerieten nun also stärker als zuvor auch kleinere Haushalte in die Gruppe der ärmsten 20 Prozent (siehe Abbildung 6). Hierbei wäre beispielsweise wieder zu denken an die bereits angeführten Zwei-Personen-Haushalte, die vielleicht nach wie vor »no kids« haben mochten, allerdings kein »double income« mehr erhielten, sondern nur noch doppelte Arbeitslosenunterstützung. Die vor dem Umbruch ungekannte Arbeitslosigkeit, die 1998 ihren Höhepunkt erreichte, verwob und überlagerte sich nun teilweise mit anderen zuvor allein wirkmächtigen Bestimmungsfaktoren materieller Ungleichheit. Gleichwohl spiegelt sich hier auch ein generelles Absinken der Personenanzahl in Arbeitnehmerhaushalten von 2,8 im Jahr 1988 auf 2,6 im Jahr 1998 wider. Für die Jahre 1988 bis 1998 stellt die Disparität der verfügbaren Einkommen zwischen den Geschlechtern ein Beispiel für Abmilderungsentwicklungen in einer Ungleichheitsdimension dar. Nach offizieller Lesart galten Frauen im Sozialismus als im Wesentlichen gleichberechtigt. Zumindest bei den Einkommen traf dies nicht zu. Da das Arbeitseinkommen in der Regel den Hauptbestandteil des

SOZIOÖKONOMISCHE LAGEN OSTDEUTSCHER ARBEITNEHMERHAUSHALTE

30

25 20 15

10 5 0

1988

1991

1993

1995

1998

Abbildung 7: Lücke bei den verfügbaren Einkommen zwischen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Ostdeutschland (in Prozent) Fallzahl: 27.526–45.856 Personen Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 u. Mikrozensus Scientific Use File 1991; 1993; 1995; 1998

individuell verfügbaren Einkommens bildet(e) und aufgrund der deutlich geringeren Vollbeschäftigtenquote von Frauen, wird zur besseren Vergleichbarkeit die Einkommenslücke zwischen erwerbstätigen, vollzeitbeschäftigten Frauen und Männern mit Arbeitnehmerstatus aufgezeigt. Die größte Differenz bestand mit 24 Prozent vor dem Systemwechsel. Sie verringerte sich in der Folge auf zunächst 19 Prozent (1991) und im weiteren Verlauf auf 13 Prozent (1993 und 1995), um schließlich im Jahr 1998 11 Prozent zu erreichen, womit sich der Einkommensrückstand von weiblichen Arbeitnehmerinnen zu ihren männlichen Pendants gegenüber 1988 mehr als halbiert hat (siehe Abbildung 7). Diese Darstellung ist freilich eine eher allgemeine, um die Verhältnisse in der Arbeitnehmerschicht insgesamt abzubilden. Aber auch bei gleicher Berufsqualifikation waren die weiblichen Einkommen im Mittel durchweg niedriger, auch wenn die Unterschiede je nach Abschlussebene etwas differierten. Gleichwohl waren für die Entwicklung der generellen geschlechterspezifischen Einkommensdifferenz primär die strukturellen Beschäftigungsunterschiede zwischen Frauen und Männern ursächlich. In der DDR lagen die männlich dominierten und zugleich industriellen Kernbranchen, wie Metallurgie oder Maschinen- und Fahrzeugbau, im oberen Bereich bei den Arbeitslöhnen. Die Berufe, in denen Frauen überrepräsentiert waren, wie im Handel oder im Kulturund Sozialbereich, waren dagegen am unteren Ende der Einkommensskala verortet. Diese Diskrepanz milderte sich in den 1990er Jahren mit der starken Deindustrialisierung Ostdeutschlands und dem Wachsen des Dienstleistungssektors,

227

228 Christopher Banditt

in dem Frauen reüssieren konnten, ein wenig ab.29 Auch profitierten Frauen, die in den zur DDR-Zeit geringgeschätzten und vergleichsweise schwach entlohnten Finanzdienstleistungen tätig waren, vom Umbruch.30

IV. Konsum Zahlen zu Einkommensdisparitäten spiegeln gemeinhin nur eine – wenngleich sehr bedeutsame – Dimension materieller Ungleichheit wider. Eine andere stellt die mit den Einkommen tatsächlich realisierbare Güterkonsumtion dar. So würden sich etwa in einem Wirtschaftssystem, das aufgrund von Mangel oder politischen Restriktionen keinen oder lediglich den Konsum des Nötigsten zulässt, Unterschiede beim Einkommen nur in sehr geringem Maße auf die jeweiligen materiellen Lagen auswirken. Insofern ist ein Blick auf die Ausstattung der ostdeutschen Haushalte mit Konsumgütern unerlässlich; dies auch, um die vor der deutschen Vereinigung von den Ostdeutschen artikulierte Erwartung eines verbesserten Konsumgütererwerbs auf ihre Erfüllung zu überprüfen. Tabelle 3: Ausstattungsgrad mit langlebigen Konsumgütern nach Quintilen der Pro-Kopf-Einkommen in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten (in Prozent)

unterstes Quintil unteres Quintil mittleres Quintil oberes Quintil oberstes Quintil insgesamt

Waschmaschinen 1988 1993 1998

Farbfernseher 1988 1993 199831

1988

PKW 1993

1998

95,5 95,0 93,5 89,4 86,1 91,9

41,3 52,3 56,8 60,3 63,6 54,9

44,4 57,1 56,8 54,5 60,1 54,6

79,2 84,2 86,3 87,5 82,7 84,2

81,6 86,2 91,3 88,5 88,0 87,1

97,3 98,0 97,7 96,5 94,9 96,8

98,4 97,7 97,4 97,6 97,1 97,6

94,3 96,3 96,5 96,9 93,5 95,5

(97,5) (98,8) (98,7) (97,7) (97,7) (98,1)

Fallzahl: 5.639–28.471 Haushalte Eigene Berechnung und Darstellung nach: Einkommensstichprobe 1988 und Einkommens- und Verbrauchsstichprobe Scientific Use File 1993; 199832

29 Vgl. Ritter, Die deutsche Wiedervereinigung, S. 335. 30 Siehe Martin Diewald / Matthias Pollmann-Schult, Erwerbsverläufe in Ostdeutschland – In-

klusion und Exklusion seit 1989, in: Rudolf Stichweh / Paul Windolf (Hg.), Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009, S. 139–156, hier S. 143. 31 In dieser Erhebung fand keine Differenzierung mehr nach Farb- und Schwarz/Weiß-Geräten statt. 32 Zur Beschreibung der Erhebungsprogramme und den Analysemöglichkeiten siehe Georgios Papastefanou, Verbrauchsdaten der amtlichen Statistik: Forschungspotentiale zur Untersuchung des Wandels der Lebensführung in den neuen Bundesländern, Mannheim 1996.

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In der späten DDR war es gelungen, die Haushalte fast flächendeckend mit Küchen- und Haushaltsgeräten, wie Kühlschränke und Waschmaschinen, auszustatten. Dies sollte nicht zuletzt den Frauen, die auch in der DDR zumeist diejenigen waren, die die Arbeit im Haushalt verrichteten, Erleichterungen und Zeiteinsparungen bringen.33 So verfügten 1988 92 Prozent der Arbeiter- und Angestelltenhaushalte über mindestens eine Waschmaschine, entweder in einfacher Form oder bereits als Waschvollautomat inklusive Schleuder. Haushalte aus dem Quintil mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen waren – was auf den ersten Blick überraschend sein mag – mit 96 Prozent etwas häufiger im Besitz eines solchen Gerätes als Haushalte des einkommensstärksten Fünftels mit 86 Prozent (siehe Tabelle 3). Hier vollzog sich die Verteilung eher anhand der Haushaltsgröße und also nach Nutzenaspekten; denn wie bereits gezeigt bestanden die Haushalte in den Gruppen mit einem geringeren Pro-Kopf-Einkommen aus durchschnittlich mehr Personen und waren mithin stärker auf die Nutzungsmöglichkeit einer Waschmaschine angewiesen. Von diesem bereits hohen Ausgangsniveau stieg der gesamte Ausstattungsgrad mit Waschmaschinen bis 1993 um etwa 5 Prozent und bis 1998 nur noch geringfügig. Zugleich lösten sich die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen größtenteils auf. Ein wesentlich größerer Sprung war bei der Ausstattung mit Farbfernsehern in ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalten zu verzeichnen. Zwar verfügten 95 Prozent der Haushalte im Jahr 1988 über mindestens einen Fernseher. Einen Farbfernseher, der auch als Ausweis einer gewissen Modernität im Wohnzimmer galt, besaßen hingegen nur 55 Prozent. Dabei war die Ungleichverteilung nach Einkommensgruppen durchaus beachtlich: Im reichsten Fünftel herrschte mit 64 Prozent ein um mehr als 20 Prozent höherer Ausstattungsgrad als im ärmsten Fünftel der Haushalte mit 41 Prozent (siehe Tabelle 3). Mit der Konsumentwicklung nach dem Ende des Sozialismus stieg die Ausstattungsquote mit Farbfernsehern auf knapp 96 Prozent im Jahr 1993, womit sich die Unterschiede zwischen den Einkommensquintilen auf nur noch 3 Prozent verringerten. Für die Staats- und Parteiführung der DDR, deren übergroßer Teil noch in der Weimarer Republik politisch sozialisiert worden war, besaß die Ausstattung mit solchen Konsumgütern nicht den Vorrang. Prioritär war aus ihrer Sicht die Umsetzung traditionell-proletarischer Ideale einer ausreichenden Versorgung mit Lebensmitteln und Wohnraum sowie die Sicherheit eines Arbeitsplatzes. Zwar hatten sich die entsprechenden Akzente mit dem Amtsantritt Erich Honeckers etwas verschoben, aber ebendieser merkte im Dezember 1988 im Politbüro an, dass der Bevölkerung zwar die Lösung des Wohnungsproblems zugesichert worden sei, »aber es wurde nie versprochen, daß jede Familie 1990 ein Auto haben müsse«.34

33 Vgl. Anna Kaminsky, Frauen in der DDR, Berlin 2016, S. 113 ff. 34 Zitiert nach: André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Bonn

2007, S. 219.

229

230 Christopher Banditt

Dieses Postulat fand seinen Ausdruck auch in den Daten zur Haushaltsausstattung: Mit 55 Prozent verfügten 1988 lediglich etwas mehr als die Hälfte der ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalte über (mindestens) einen PKW. Begleitet von einer Abmilderung der Ausstattungsunterschiede zwischen den Einkommensgruppen stieg dieser Wert bis 1998 auf schließlich 87 Prozent (siehe Tabelle 3) – auch wenn solche Zahlen allein keine Auskunft über die Qualität oder das Fabrikat des betreffenden Konsumguts geben. In der 1993 zum ersten Mal in den ostdeutschen Bundesländern durchgeführten amtlichen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe gaben in der Gruppe der Arbeitnehmer 80 Prozent der ostdeutschen Besitzer eines Neuwagens und knapp 90 Prozent der Gebrauchtwagenbesitzer an, dass sie sich das Fahrzeug in den Jahren 1990 bis 1992 zugelegt hätten. Das »Westauto« wurde zu einem Prestigeobjekt, Trabant und Wartburg sukzessive gegen Opel und VW ausgetauscht. Und mit einem für die ostdeutsche Bevölkerung relativ neuen technischen Konsumgut wie dem Videorecorder waren 1993 bereits 50 Prozent der Arbeitnehmerhaushalte ausgestattet, wobei von diesen nur knapp 3 Prozent angaben, das Gerät bereits vor 1989 angeschafft zu haben. Trotz dieser »Nachholbewegung« kam es nicht zu einem vielfach befürchteten Kauf- und Verschuldungsrausch der ostdeutschen Haushalte.35 Möglich wurde die Erfüllung von Konsumwünschen und der gleichzeitige Abbau von Ausstattungsungleichheiten in erster Linie durch die immensen westdeutschen Produktionskapazitäten, die ab dem Mauerfall die Warenverfügbarkeit schlagartig erhöhten. Auch die Einkommenssteigerungen der ostdeutschen Haushalte waren hierfür relevant. Überdies änderte sich mit dem Systemwechsel die Preisstruktur der verschiedenen Gütergruppen. Technische Produkte, wie Fernseher oder PKW, waren nun nicht nur leichter, sondern auch vergleichsweise günstiger zu haben, während mit dem Abbau der als »zweite Lohntüte« apostrophierten Subventionen für Güter des täglichen Bedarfs diese relativ teurer wurden. Der Anteil des Haushaltsnettoeinkommens, den aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern bestehende ostdeutsche Arbeitnehmerhaushalte durchschnittlich für Mieten aufwenden mussten, stieg zwischen 1988 und 1993 von gut 2 Prozent auf 8 Prozent36, womit aber zugleich Verbesserungen der Wohnsituation einhergingen.37 Mit den gestiegenen Einkommen sank gleichzeitig der Ausgabenanteil für Nahrungsmittel von 23 Prozent auf 16 Prozent in dieser Gruppe. Der Blick auf Nahrungsmittelausgaben eignet sich zudem, um eventuelle Auswirkungen ungleich verteilter Einkommen auf die Konsummöglichkeiten genauer zu untersuchen. Die Anschaffung eines technischen Konsumguts hängt

35 Vgl. Elvir Ebert, Einkommen und Konsum im Transformationsprozeß. Vom Plan zum Markt – vom Mangel zum Überfluß, Opladen 1997, S. 221–226. 36 Berechnungsgrundlage für diese und die folgenden Zahlen bilden die Datenquellen von Tabelle 4. 37 Siehe etwa Horst Berger u. a., Privathaushalte im Vereinigungsprozeß. Ihre soziale Lage in Ost- und Westdeutschland, Frankfurt a. M. 1999, S. 200–204.

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nicht allein von den finanziellen Möglichkeiten, sondern auch von persönlichen Präferenzen, Nutzenkalkülen und der Verfügbarkeit des jeweiligen Produktes ab. So ließ sich beispielsweise in der DDR ein Neuwagen in der Regel nur mit einer entsprechenden Anwartschaft nach jahrelanger Wartezeit erstehen. Aber auch in der Marktwirtschaft spiel(t)en weitere Gesichtspunkte wie die Anzahl der Personen im Haushalt oder die regionale Verortung für die Anschaffung eines PKW eine Rolle. Nach Nahrungsmitteln hingegen herrscht grundsätzlich eine unelastische Nachfrage, was bedeutet, dass sie sich nur in begrenztem Maße reduzieren sowie ausdehnen lässt. Tabelle 4: Nahrungsmittelausgaben für ostdeutsche Arbeitnehmerhaushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern nach Einkommensgruppen

80/20-Ratio

1988

1993

1,2

1,3

Ausgabenanteil an Haushaltsnettoeinkommen (in Prozent) unterstes Quintil unteres Quintil mittleres Quintil oberes Quintil oberstes Quintil

31,0 26,9 25,4 23,8 16,2

20,5 18,0 17,0 15,2 12,1

Fallzahl: 435–1.143 Haushalte Eigene Berechnung und Darstellung nach: Statistik des Haushaltsbudgets 1988 u. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe Scientific Use File 199338

Zwischen 1988 und 1993 stieg die 80/20-Relation für Nahrungsmittelausgaben von Arbeitnehmerhaushalten mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern – bei folglich anzunehmender Bedarfsgleichheit – leicht von 1,2 auf 1,3 (siehe Tabelle 4). Sowohl im späten Sozialismus als auch in der noch jung eingeführten Marktwirtschaft konsumierte demnach das einkommensstärkste im Gegensatz zum einkommensschwächsten Fünftel Nahrungsmittel mit einem rund 20 Prozent beziehungsweise 30 Prozent höheren Wert. Systemübergreifend waren also Einkommensdisparitäten ein Bestimmungsfaktor von Ungleichheiten beim Konsum. Analog erfuhr die im 19. Jahrhundert vom Statistiker Ernst Engel beobachtete Gesetzmäßigkeit, dass höhere Haushaltseinkommen zu niedrigeren Ausgabenanteilen für Nahrungsmittel bei größeren Konsummöglichkeiten in anderen Bereichen führen, zu beiden hier betrachteten Zeitpunkten eine Bestätigung. Wende38 Statistik des Haushaltsbudgets. Ausgaben in Arbeiter- und Angestelltenhaushalten 1988, BArch DE 2/10126 u. DE 2/10127; zum Erhebungsverfahren siehe: Statistisches Amt der DDR, Übersicht über die regelmäßigen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen des Statistischen Amtes der DDR, Berlin (Ost) 1990, S. 8–14 u. Anlagen 1–5.

231

232 Christopher Banditt

ten 1988 die ärmsten 20 Prozent vierköpfiger Arbeitnehmerhaushalte 31 Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens für Nahrungsmittel auf, so lag dieser Wert für das wohlhabendste Quintil mit 16 Prozent beinahe nur halb so hoch. Mit den gewachsenen Einkommen ab 1990 verringerten sich für alle Einkommensgruppen die Nahrungsmittelausgaben anteilsmäßig, jedoch blieben die Unterschiede zwischen ihnen zu einem gewissen Grad bestehen, als 1993 das unterste Quintil 21 Prozent und das oberste Quintil 12 Prozent dafür aufbrachten. Insofern lassen sich die Zahlen in Tabelle 4 zu den Ausgabenanteilen für Nahrungsmittel jeweils von oben nach unten sowie von links nach rechts lesen zur Bestätigung des Engelschen Gesetzes.

V. Schlussbemerkungen Wie gezeigt haben sich die Erwartungen und Befürchtungen der Ostdeutschen, die sie am Vorabend der Wiedervereinigung hegten, in der Folgezeit erfüllt. Die erweiterten Konsummöglichkeiten resultierten nicht zuletzt im gestiegenen Ausstattungsgrad der Haushalte. Der Anstieg von Arbeitslosigkeit war zwar antizipiert worden, aber kaum in jenem alsbald zu beobachtenden Ausmaß und mit der zeitlichen Beständigkeit. So war schließlich 1990 von den Ostdeutschen die Angleichung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse an diejenigen des Westens in durchschnittlich sechs bis sieben Jahren erwartet worden – wenngleich es in den hierzu durchgeführten Befragungen »statistische Ausreißer« gab, die dies mit nur ein oder zwei Jahren zu einem früheren Zeitpunkt oder auch mit etwa 25 Jahren wesentlich später voraussahen.39 Ebenfalls trat die zuvor erhoffte Erhöhung der Haushaltseinkommen ein und wurde ihrerseits von neuen und alten Disparitäten flankiert.40 Neben den gestiegenen Einkommen und dem größeren Konsumgüterangebot einerseits müssen andererseits das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit sowie der generelle Anstieg von Einkommensungleichheit zu den die materielle Lage von Arbeitnehmerhaushalten betreffenden Brüchen gezählt werden. Gleichwohl lassen sich anhand der empirischen Betrachtung auch gewisse sozioökonomische Kontinuitäten identifizieren, die in der ostdeutschen Gesellschaft über die Epochenzäsur von 1989/90 hinweg Bestand hatten. So blieben die bereits in der DDR 39 Berechnet nach: Zentralinstitut für Jugendforschung [teilweise in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie dem ›Spiegel‹], Meinungsbarometer April/Mai 1990; Juli 1990; August 1990; September 1990 – Einstellung zur Entwicklung in der DDR, in: GESIS Datenarchiv, Köln: ZA6012; ZA6014; ZA6015; ZA6016 Datenfile Version 1.0.0, DOI: 10.4232/1.6012; 10.4232/1.6014; 10.4232/1.6015; 10.4232/1.6016 [Fallzahlen: 1.194–1.493; Antwortausfall: 0,5– 2,4 Prozent]. 40 In diesem Sinne knüpfen die Ausführungen an die Überlegungen von Christoph Lorke, Von alten und neuen Ungleichheiten. ›Armut‹ in der Vereinigungsgesellschaft, in: Großbölting/ Lorke, Deutschland seit 1990, S. 271–294 an.

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wirksamen Bestimmungsfaktoren der materiellen Lage von Arbeitnehmerhaushalten, wie die Haushaltsgröße und Kinderanzahl sowie die berufliche Qualifikation der Arbeitseinkommensbezieher, auch in den 1990er Jahren bestehen. Fernerhin existierten entsprechende Geschlechterdisparitäten bereits vor 1989, die sich in der Folge abmildern, jedoch nicht verschwinden sollten. Auf die mit dem Ende der alten Ordnung ›Sozialismus‹ verbundenen Gewinne fällt in der ostdeutschen Wahrnehmung noch immer der oftmals bittere Schatten sozioökonomischer Verluste. Die Frage, ob nach ihrer Implementierung in den ostdeutschen Bundesländern die Soziale Marktwirtschaft bundesrepublikanischer Prägung ebenfalls zu einer »alten Ordnung« wurde, ist für Ostdeutschland ambivalent zu beantworten. Man ginge sicherlich fehl, würde man anknüpfend an die eingangs vorgestellte Zustimmung zur Einführung der Marktwirtschaft 1990 und in Abwandlung von Bärbel Bohleys bekanntem Wort den Ostdeutschen folgende Losung zuschreiben wollen: »Wir wollten Soziale Marktwirtschaft und bekamen den Neoliberalismus!« Ein Befund vom Ende der ›Sozialen Marktwirtschaft‹, die Wettbewerb stets im Rahmen staatlicher Ordnungspolitik garantierte und gleichermaßen auf gesellschaftlichen Wohlstand sowie Ausgleich zielte, zugunsten des – hier absichtlich pejorativ verstandenen – ›Neoliberalismus‹ mit seiner »Triade Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung«41 würde der historischen Realität nicht gerecht. Zweifellos ist in den frühen 1990er Jahren in Ostdeutschland mit der staatlicherseits als »Schocktherapie« betriebenen Privatisierung eine neue, eigentümliche Wirtschaftsform entstanden: gewissermaßen ein Kapitalismus ohne autochthone Kapitalisten. Unternehmer und Investoren in größeren Betrieben kamen zumeist von außen, vornehmlich aus der »alten« Bundesrepublik. Hierbei wurde das ostdeutsche Gebiet zunächst eher als Absatzmarkt denn als Produktionsstätte verstanden. Die Firmensitze und Wertschöpfungsbereiche wie Forschungsund Entwicklungsabteilungen von größeren Unternehmen lagen in der Regel in Westdeutschland, sodass sich im Großen und Ganzen in Ostdeutschland eine Zulieferer- und Filialwirtschaft entwickelt hat. Zugespitzt formuliert arbeiteten die ostdeutschen Arbeitnehmer an den viel zitierten »verlängerten Werkbänken«42 der westdeutschen Wirtschaft – so sie überhaupt einen Arbeitsplatz vorzuweisen hatten. Doch unter Betrachtung der Entwicklung der sozioökonomischen Lagen ostdeutscher Arbeitnehmer finden sich durchaus Anhaltspunkte, die für eine Neufortsetzung der Sozialen Marktwirtschaft sprechen. Die Wohlstandsmehrung, von der viele, wenngleich nicht alle gleichermaßen profitierten, kam nicht zuletzt dank des traditionellen Prinzips der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitneh41 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent, Berlin 2014, S. 23 u. 25. 42 Beispielsweise gebrauchte der damalige Jenoptik-Vorstand Lothar Späth diese Zuschrei-

bung; vgl. »Kapitalsubventionen stärken den Standort Ost nur vorübergehend«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. April 1997, S. 16.

233

234 Christopher Banditt

mer- und Arbeitgeberverbänden zustande. Und neben den geschaffenen ökonomischen und unternehmerischen Freiheiten – die in den ostdeutschen Ländern der frühen 1990er Jahre beispielsweise Videotheken wie Pilze aus dem Boden schießen ließen – wurden zugleich die sozialen Sicherungsmechanismen der Bundesrepublik auf Ostdeutschland übertragen. Wie nötig die soziale Absicherung der ostdeutschen Bevölkerung, insbesondere der arbeitslos Werdenden, noch sein würde, war zu dieser Zeit wohl von den Wenigsten zu erahnen. Insbesondere die Massenarbeitslosigkeit und die steigende Anzahl ostdeutscher Rentner und Vorruheständler belasteten das Sozial- und Rentensystem und damit die Versicherten. Gleichwohl zeigte der bundesrepublikanische Sozialstaat hier seine ihn auszeichnende Anpassungsfähigkeit.43 Mit der »›Bewährung‹ bei der Wiedervereinigung« wurde der deutsche Sozialstaat geradezu gestärkt, wodurch Reformbemühungen für mehrere Jahre nicht mehr aufs politische Tapet gelangen sollten.44 Die jährliche Summe aller Sozialleistungen erhöhte sich zwischen 1990 und 1998 in der Bundesrepublik von 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 28 Prozent45 – was nicht gerade für neoliberale Entstaatlichung spricht. Vielmehr wurde insbesondere aus wirtschaftsliberaler Richtung der Übertrag eines aufgeblähten Sozialsystems für die hohe Beschäftigungslosigkeit in Ostdeutschland verantwortlich gemacht.46 Nicht zu Unrecht werden letztlich für die Wirtschafts- und Sozialverfassung zur Transformationszeit »[g]egenläufige Tendenzen« als formend identifiziert47: sowohl Stärkung der Marktkräfte durch Privatisierung und Deregulierung auf der einen Seite als auch staatliche Steuerung und Intervention sowie Erhöhung der Sozialleistungsquote auf der anderen Seite. Beide Entwicklungen prägten die sozioökonomischen Lagen der ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalte.

43 Vgl. Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlich for-

mierten Gesellschaften, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Bonn 2015, S. 153–193, hier S. 182. 44 Gerhard A. Ritter, Gesamtbetrachtung, in: ders. (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11: Bundesrepublik Deutschland 1989–1994. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung, Baden-Baden 2007, S. 1105–1122, hier S. 1110. Eine Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreform wurde unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders mit der Einsetzung der sogenannten Hartz-Kommission 2002 begonnen. 45 Zahlen nach: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialbudget 2015, [Berlin 2015], S. 8. 46 Siehe exemplarisch Alfred Schüller, Im Osten ist der Sozialismus zusammengebrochen, im Westen hat er die Soziale Marktwirtschaft deformiert, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 76 (1998), S. 52–58. 47 Ritter, Preis der deutschen Einheit, S. 101.

Marcus Böick

WIE NEOLIBERAL WAR DER UMBAU OSTDEUTSCHLANDS NACH 1990? Über ideenpolitische Reorientierungen der politischen Linken nach dem »Utopieverlust«

I.

Einleitung: Der deutsche Einigungsprozess – »alternativlos« oder »neoliberal«?

»Manchen Begriffen«, so beginnt der Artikel drastisch knapp, »wird bewusst Gewalt angetan«. Die Wirtschaftsjournalistin Karen Horn meint den Neoliberalismus. Dieser habe, wie Horn in ihrem Beitrag im »Lexikon der Sozialen Marktwirtschaft« schreibt, »unter dem Einfluss der politischen Linken in aller Welt« in den letzten Jahren einen immensen »Bedeutungswandel« erfahren. Dessen Konnotation habe sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt, denn in der Gegenwart stehe »neoliberal« pauschal für »Kapitalismus ohne Herz, Effizienz und wirtschaftlicher Profit statt sozialer Gerechtigkeit, Entmachtung der Politik und Primat des ›ungezügelten‹ Markts, Minimalstaat, kollektive Regellosigkeit, Ausbeutung«.1 Horn entfaltet demgegenüber eine positive Erzählung des neoliberalen Denkens als Liberalisierungs- und Befreiungsgeschichte: Dieses habe sich im Schatten von totalitären Ideologen und Diktaturen, von Kriegen und Völkermorden formiert, als sich enttäuschte Liberale nach den bitteren Erfahrungen der Zwischenkriegszeit daran machten, einen »gedeihlichen Ordnungsrahmen für eine ›gute Gesellschaft‹« zu entwerfen, in der die »Selbstkoordination der Wirtschaft im Wege des Wettbewerbs« mit einem entsprechenden politischen »Überbau von Regeln (Ordnung)« verknüpft werden sollten. Umso mehr zeigt sich Horn irritiert von 1 Karen Horn, Art. »Neoliberalismus«, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Lexikon der So-

zialen Marktwirtschaft, http://www.kas.de/wf/de/71.11514/ [01.10.2018].

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der Schärfe der kapitalismuskritischen »Systemdebatte« und der dieser zugrunde liegenden, scharfen Neoliberalismus-Kritik.2 Bleibt die Frage: Wer hat nun dem Neoliberalismus vermeintlich Gewalt angetan – und warum eigentlich? In der Tat: Das ungemein negativ besetzte Verdikt des »Neoliberalen« hat auch in der deutschen Geschichtswissenschaft prominent Einzug gehalten – bevorzugt gemünzt etwa auf die Bundesrepublik seit Ende der 1970er Jahre oder auf die Zäsur im Jahr 1989/90 und ihre Folgewirkungen in den 1990er Jahren.3 Dabei scheint knapp drei Jahrzehnte nach dem Abschluss der deutschen Vereinigung eine geschichtspolitisch sorgsam und intensiv gepflegte, patriotisch-heroische Erzähl- und Deutungsperspektive zunehmend unter Druck zu geraten.4 »Friedliche Revolution« und »Deutsche Einheit« gelten nicht mehr unhinterfragt als »normalisierende« Rückkehrbewegungen zu Nationalstaat und Marktwirtschaft, durch deren finale Vollendung die »deutsche Frage« glücklich gelöst sowie die europäische Nachkriegszeit nunmehr endgültig überwunden worden seien.5 Gegen diese über Jahrzehnte dominant-teleologische geschichtsoffizielle Meistererzählung erheben sich vernehmliche Zweifel.6 Anders gewendet: Ist also im Revolutionsjahr 1989/90 das vielzitierte (und wenig gelesene) »Ende der Geschichte« auch in Deutschland doch noch nicht erreicht gewesen?7 Es sind dabei wie stets gegenwärtige gesellschaftliche Problem- und Konfliktkonstellationen, die die zeithistoriographische Rückschau auf die nahe Vergangenheit, also auf die Ur- und Frühgeschichte der »Berliner Republik«, zunehmend zu verschieben beginnen. Zunächst befeuerte die untergründig seit über einem Jahrzehnt schwelende Krise des global-europäischen Finanz- und Wirtschaftssystems nach 2007/08 einen Perspektivwechsel; seit 2015 sind es die intensiv debattierte »Flüchtlingskrise« und das massive kulturelle wie politische Wiedererstarken eines ethnozentrischen wie populistisch-digitalisierten Neo-Nationalismus und Anti-Globalismus, die mittlerweile fast alle Länder der westlichen Welt erfasst haben und zugleich zu einer merklichen Re-Politisierung von Wissenschaft führen. Doch wie verändert diese dramatische Dynamik der Gegen2 Ebd. 3 Vgl. hierzu jüngst auch die verschiedenen, diese Problematik reflektierenden Beiträge in:

Frank Bösch, Thomas Hertfelder, Gabriele Metzler (Hg.), Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018. 4 Vgl. exemplarisch: Johannes Gross, Begründung der Berliner Republik, Stuttgart 1995. 5 Vgl. exemplarisch: Manfred Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Bonn 2009; Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000. 6 Christoph Kleßmann, »Deutschland einig Vaterland«? Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2009), S. 85–104; jüngst dazu auch als intensiv wie kontrovers diskutierte Veröffentlichung: Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018. 7 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York u. a. 1992.

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wart den Rückblick insbesondere auf die allerjüngste deutsche und europäische Zeitgeschichte? In der Bundesrepublik zog der parteiförmige Rechtspopulismus erstmals seit den 1950er Jahren im September 2017 in Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Der überraschend deutliche Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) gerade in den ostdeutschen Bundesländern entfachte sogleich eine aufgeregte Mediendebatte über die Ursachen der ungeahnten Stärke der neuen Rechten. Im nun eilig aufgesuchten Repertoire möglicher Erklärungsmuster avancierten vermeintliche, im Laufe der vergangenen Jahrzehnte durch generationellen Wandel, Konsum oder Migration abgemilderte Ost-West-Differenzen plötzlich wieder zu gerne eingesetzten Handwerkszeugen.8 Wie schon häufiger nach 1990 wurde ein wiederaufbrechender Rechtsextremismus, etwa im Streit über rechte Ausschreitungen in Chemnitz im Spätsommer 2018, medial als ostdeutsches Sonderproblem wahrgenommen und verhandelt.9 In dieser Debatte standen und stehen damit die Ursachen fortbestehender Ost-West-Friktionen innerhalb der deutschen Gesellschaft zur Diskussion. Etwas überspitzt: Ein liberal-kosmopolitischer Mainstream in den (westlichen) Metropolen der Republik fragt sich erneut: Warum tickt »der Osten« (noch immer) anders? Doch woher, so könnte man die Frage stellen, rührt letztlich dieses Unverständnis, ja regelrechte Unbehagen am »fremden« Osten? In den 1990er Jahren schien die Antwort auf die Frage nach der ostdeutschen Differenz in der ganz überwiegend von westdeutschen Autoren und Perspektiven dominierten Wissenschaft, Politik oder Öffentlichkeit relativ klar und offensichtlich. Es sei insbesondere die 40jährige DDR-Vergangenheit beziehungsweise Sozialisation gewesen, die den Ostdeutschen erhebliche Anpassungsleistungen an das westliche, auf individuelle Eigeninitiative statt kollektive Vergemeinschaftung setzende Lebensmodell abverlange und zu erheblichen subjektiven Frustrationen und kulturellen Abstoßungsreaktionen im Zuge eines »Vereinigungsschocks« führen könne.10 Nicht minder hysterisch wurde so in der berühmt-berüchtigten »Töpfchen-Debatte« über frühkindlich-kommunistische Zwangskollektivierung auf den gemeinschaftlichen Aborten der Kindergärten sowie deren langfristige mentale Folgewirkungen diskutiert.11 Doch dieses seinerzeit dominante (und 8 Hierzu: »Warum der Protest sich ausweiten konnte«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom

2.10.2017; »Fünf Gründe, warum die AfD in Sachsen stärkste Kraft geworden ist«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.9.2017. 9 Vgl. »Die unheimliche Mobilisierung der Neonazis in Chemnitz«, in: Welt vom 28.8.2018; »Sie wollen den Volksaufstand«, in: Tageszeitung vom 30.8.2018. 10 Wolfgang Schluchter, Peter E. Quint (Hg.), Der Vereinigungsschock. Vergleichende Betrachtungen zehn Jahre danach, Weilerswist 2001; sowie auch: Karin Bock (Hg.), Umbruch in Ostdeutschland. Politik, Utopie und Biographie im Übergang, Wiesbaden 2001; Hartmut Esser (Hg.), Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland, Wiesbaden 2000; Rainer Zoll (Hg.), Ostdeutsche Biographien. Lebenswelt im Umbruch, Frankfurt a. M. 1999. 11 »Das Töpfchen und der Haß«, in: Der Tagesspiegel vom 11.5.1999, https://www.tagesspiegel. de/kultur/das-toepfchen-und-der-hass/77844.html [01.10.2018].

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gleichermaßen umstrittene) Deutungsmuster verliert über 30 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur merklich an Strahl- und Erklärungskraft. Wie stark kann eine knapp vierzigjährige DDR-Vergangenheit nach fast dreißig Jahren eigentlich (teil-)gesellschaftliche Mentalitäten, Wahrnehmungen und Wirklichkeiten noch maßgeblich prägen? In den Fokus der Debatten rückt damit also, wie beschrieben, zunehmend die im Jahr 1990 vermeintlich in einem »Happy End« abgeschlossene deutsche (National-)Geschichte. Was ist eigentlich nach dem Ende der DDR in Ostdeutschland passiert? Die bislang noch weitgehend unerforschten und öffentlich kaum diskutierten Nachgeschichten von DDR und Bonner Republik drängen also mit Nachdruck auf die wissenschaftliche Agenda. Während die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung schon seit einigen Jahren im Verschwinden begriffen war,12 beginnt nun die hiesige Zeitgeschichtsforschung, sich des Themenkomplexes anzunehmen, nicht zuletzt auch aus empirischen Gründen.13 Im Sinne einer »Problemgeschichte der Gegenwart« sind es dabei vor allem die semantisch vielfältig unter »Nachwende-Zeit«, »Einigungsprozess«, »Transformation«, »Um-« oder »Aufbau Ost« gefassten gesellschaftlichen Umbrüche und Übergänge in Ostdeutschland, die sich eines wachsenden Interesses erfreuen. Dabei scheint sich gerade die Geschichte der frühen 1990er Jahre erzählerisch nicht ohne weiteres an den bisher gesetzten, harmonischen Schlusspunkt anfügen zu lassen, denn die erheblichen Krisen- und Konfliktkonstellationen zwischen West und Ost passen nicht ins finalisierende wie harmonisierende Bild von »glücklich vollendeter« Einheit im Herzen eines demokratisch ausgesöhnten Europas.14 Doch welche Konsequenzen folgen aus diesem sich gegenwärtig vollziehenden Blickwechsel vom »Licht« der Revolutions- in die »Schatten« der Nachwendezeit? In diesem Zusammenhang blitzen verstärkt markante Deutungs- und Erzählmuster aus den zeitgenössischen Debatten auf. Aus der lange Zeit dominanten, liberal-konservativen Meistererzählung stellen die sich turbulent vollziehenden Vorgänge bei der kurzfristig zu realisierenden Umstellung von Planwirtschaft und Diktatur auf Marktwirtschaft und Demokratie in Ostdeutschland ein »alternativloses« Krisenmanagement-Szenario dar. Dessen Dynamiken hätten sich 12 Dazu bilanzierend: Heinrich Best (Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutsch-

land nach der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M. 2012; Stephan Weingarz, Laboratorium Deutschland? Der ostdeutsche Transformationsprozeß als Herausforderung für die deutschen Sozialwissenschaften, Münster 2003. 13 Vgl. Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28 (2001), S. 15–30; Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 331–351. 14 Siehe ausführlich: Marcus Böick, Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 1 (2011), S. 105–113, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/ 54133/juengste-zeitgeschichte [01.10.2018]; sowie auch: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.), NachBilder der Wende, Köln 2008.

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aus den beträchtlich drückenden »Erblasten« des SED-Regimes sowie übergeordneten ordnungspolitischen Handlungs- und Anpassungszwängen ergeben.15 Demgegenüber wurden diese regierungsamtlichen Erklärungs- und Rechtsfertigungsmuster von oppositionellen Kritikern aus dem politisch linken Lager als nationalistische wie kapitalistische (Schein-)Argumente massiv attackiert, die gleichermaßen einen kolonialen »Ausverkauf« Ostdeutschlands zugunsten westdeutscher Interessen legitimieren sollten.16 Der marktgläubige, ruckartige wie einseitige »Beitritt« (oder gar »Anschluss«) der ostdeutschen Gesellschaft an die westliche Bundesrepublik und die hiermit verbundenen, massiven individuellen wie biographischen Entwertungserfahrungen erschienen als zentrale Motive der Kritik.17 Eine national-harmonisierende Erfolgs- und Normalisierungsgeschichte schlägt in dieser Lesart in eine neoliberal-eskalierende Krisen- und Misserfolgsgeschichte um. Damit stellt sich die Frage: Was folgt daraus, wenn man den Umbau des deutschen Ostens nicht mehr als ein nationales, sondern vielmehr als neoliberales Projekt beschreibt?18 Mittlerweile scheint diese kritische Deutungsfigur zunehmend an Attraktivität zu gewinnen, da sie den Umbrüchen ihre vermeintlich naturgesetzliche Qualität raubt und mithin die unübersichtlichen Umbruchsdynamiken und ihre gesellschaftlichen Folgewirkungen überhaupt erst kritisch zur Debatte stellt. Die Geschehnisse im Ostdeutschland der 1990er Jahre scheinen sich so in dieser Lesart in eine regelrechte Kaskade, ja Eskalation »neoliberaler« Ideen und Praktiken einzufügen, die sich seit den 1980er Jahren über die westliche Welt auszubreiten begannen. In diesem Artikel soll daher nicht den nun häufig diagnostizierten neoliberalen Expansionen an sich, sondern vielmehr der Geschichte ihrer retrospektiven Popularisierung und Politisierung nachgegangen werden.19 Der Fokus ruht dabei auf den sich wandelnden kritischen Deutungs- und Wahrnehmungsweisen der politischen Linken zu den postsozialistischen Umbrüchen, die pragmatisch als heterogene Gruppe von Autorinnen und Autoren – Wissenschaftlern, Politikern, Journalistinnen oder Publizisten – in den weit gespannten, ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Traditionslinien der (neo-)marxistischen und sich als progressiv begreifenden Denkströmungen sowie sozialistischen beziehungsweise sozialde-

15 Vgl. Birgit Breuel, Michael C. Burda (Hg.), Ohne historisches Vorbild. Die Treuhandanstalt 1990 bis 1994. Eine kritische Würdigung, Berlin 2005. 16 Vgl. Rudolf Hickel, Jan Priewe, Nach dem Fehlstart. Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung, Frankfurt a. M. 1994. 17 Vgl. Rolf Reißig, Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft. Bilanz und Perspektiven der Transformation Ostdeutschlands und der deutschen Vereinigung, Berlin 2000. 18 Vgl. Philipp Ther, Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 105–114. 19 Vgl. Quinn Slobodian, Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge 2018; Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2014.

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mokratischen Gruppierungen und Parteien der organisierten Arbeiterbewegung verstanden wird. Diese erscheinen gerade nach 1989/90 in der (gesamt-)deutschen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit als Minderheitenperspektiven in den jeweiligen Diskursfeldern.20 Im Mittelpunkt dieser Exploration stehen also, theoretisch gesprochen, linke Diskursmuster und interpretative Aneignungsversuche, die sich kritisch mit den zeitgenössisch beobachteten ostdeutschen Vereinigungs- und Transformationsgeschehen nach 1990 auseinandersetzten. Es geht dabei um verschiedene Entwürfe und Angebote linker »Ideenpolitik« nach dem abrupten Ende des osteuropäischen Realsozialismus als ideeller Vorgeschichte einer gegenwärtigen (Wieder-)Entdeckung einer »neoliberalen« Transformationszeit.21 In einem ersten Schritt werden hierfür unmittelbare intellektuelle Reaktionen auf den unerwarteten »Utopieverlust« in den Jahren 1989/90 skizziert. Zweitens wird auf die während der frühen 1990er Jahre in den Sozial- und Kulturwissenschaften artikulierten post-kolonialen Kritikmuster eingegangen. Die allmähliche Revitalisierung linker Interpretationsangebote im Zuge der um die Jahrtausendwende aufkommenden internationalen Globalisierungskritiken wird in einem dritten Schritt verhandelt. Viertens wird schließlich der gegenwärtigen Popularisierung des Neoliberalismus als zentralem Deutungsmuster durch den geistes- und gesellschaftlichen Mainstream in den Jahren nach 2007/08 nachgegangen.

II. Kritik oder Selbstkritik? Der unverhoffte »Utopieverlust« im Jahr 1989/90 Eine umfassende Geschichte der verschiedenen Reaktions- und Verarbeitungsmuster aufseiten der politischen Linken des Westens auf den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus nach 1989/90 erscheint nach wie vor als erhebliches Desiderat der zeithistorischen Forschung.22 Im deutschen (Sonder-)Fall hatten der unverhoffte Mauerfall sowie die anschließende, sehr rasche Vereinigung das sich in den 1980er Jahren formierende rot-grüne Lager in eine abgrundtiefe Orientierungskrise gestürzt. Viele Grundsatzfragen trieben insbesondere linke Politiker und Intellektuelle in dieser Zeit um: Wie sollte man sich zu eigenständigen Reformbemühungen in der DDR oder zu Varianten des »Dritten Weges« verhalten? War die dauerhafte deutsche Teilung nicht auch ein legitimes Erbe von NS-Diktatur und »Auschwitz«? Bedrohte eine deutsche Wiedervereinigung möglicherweise das europäische Einigungsprojekt? Was würde aus dem »Sozialismus« als 20 Vgl. Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017. 21 Zum an Herfried Münklers Arbeiten angelehnten Konzept der »Ideenpolitik« siehe ausführlich: Harald Bluhm u. a. (Hg.), Ideenpolitik: Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011. 22 Hierzu aber demnächst: Konrad Sziedat, Erwartungen im Umbruch: Die westdeutsche Linke und das Ende des real existierenden Sozialismus, ersch. Berlin 2018.

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visionärem Zukunftsentwurf werden, der sich ja zu diesem Zeitpunkt auch noch prominent im Parteiprogramm der SPD fand? Die im Frühjahr 1990 aufflammenden Debatten innerhalb der westdeutschen Linken wurden jedoch durch die einigungspolitischen Dynamiken schnell beendet, ja buchstäblich abgebrochen.23 Nach der überraschenden Wahlniederlage der linken Parteien bei der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 unterlag schließlich auch eine von Oskar Lafontaine angeführte Opposition bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 einer bis Herbst 1989 eigentlich als amtsmüde geltenden christliberalen Bundesregierung unter Helmut Kohl; die westdeutschen Grünen verpassten gar den Wiedereinzug ins neue Bonner Parlament.24 Insbesondere mit Blick auf die im Frühjahr 1990 mit aller Macht auf die Agenda drängende Frage einer nationalen Wiedervereinigung präsentierte sich die deutsche Linke politisch wie ideell regelrecht zerrissen. Hatte man nicht mühsam gerade erst seinen Frieden mit der »postnationalen Konstellation« Westdeutschlands geschlossen25 und sah sich auf dem Weg in eine ökologisch-soziale Post-Moderne beziehungsweise europäische Konföderation,26 stand nun die kurzfristige Wiederherstellung oder gar »Restauration« eines deutschen Nationalstaates bevor, dessen dauerhafte Überwindung nach NS-Regime und Holocaust vielen Linken und Intellektuellen doch eigentlich als angemessener Zustand erschien.27 Schlimmer noch: Nicht nur kehrte der deutsche Nationalstaat ebenso plötzlich wie unverhofft auf die politische Bühne zurück und drohte damit postnationalen Identifikationsangeboten wie dem »Verfassungspatriotismus« die Grundlage zu entziehen. Darüber hinaus schien der vermeintlich überkommene Kapitalismus nun uneingeschränkt als wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Ordnungsmodell zu triumphieren, denn sein letzter großer ideeller wie politischer Kontrahent schien mit dem Fall der Mauer nachhaltig diskreditiert. Unter der Überschrift »Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf« diskutierte Jürgen Habermas, der führende Linksintellektuelle der Bonner Republik, bereits direkt zu Beginn des Jahres 1990 die grundlegenden Konsequenzen des sich gerade vollziehenden Untergangs des Realsozialismus für die politische Linke in Deutschland und Europa. Zwar kritisierte Habermas die in seinen Augen allgegenwärtige Einrede einer »Entzauberung des Sozialismus« und dem 23 Vgl. dazu: Ilse Fischer (Hg.), Die Einheit sozial gestalten. Dokumente aus den Akten der SPD-Führung 1989/90, Bonn 2009; Mike Schmeitzner, Die SPD und die deutsche Frage 1989/90, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 402–418. 24 Sebastian Richter, Der Weg zur freien Volkskammerwahl am 18. März 1990, in: Henke, Revolution und Vereinigung, S. 329–342. 25 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a. M. 1998. 26 Oskar Lafontaine, Deutsche Wahrheiten. Die nationale und die soziale Frage, München 1990. 27 Günter Grass, Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland, Göttingen 1993.

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von ihren Gegenspielern triumphal konstatierten »Scheitern einer Idee«.28 Die »nicht-kommunistische Linke« des Westens habe, so Habermas, »keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen«, könne aber andererseits »nicht so tun, als sei gar nichts passiert«: Zwar habe sie keine »Kontaktschuld für den Bankrott des Staatssozialismus« zu tragen, den sie immer wieder offen kritisiert habe. Dennoch müsse man sich aber fragen, »wie lange eine Idee der Wirklichkeit« standhalte, die gegenwärtig derart umfassend entwertet erschien.29 Letztlich gestand auch Habermas ein, dass »komplexe Gesellschaften« sich nicht reproduzieren könnten, wenn sie – wie die soeben kollabierenden osteuropäischen Regime – »die Logik der Selbststeuerung einer über Märkte regulierten Wirtschaft« durch zentralstaatliche Planung und politische Steuerung außer Kraft zu setzen versuchten.30 Die deutsche beziehungsweise europäische Linke solle letztlich Abschied nehmen von der Suche nach einer radikalen, utopischen Systemalternative und sich künftig auf die »soziale und ökologische Bändigung der Marktwirtschaft«31 konzentrieren. Der überkommene materielle Gegensatz von Arbeit und Kapital sei in den letzten Jahren weitgehend durch kulturelle Konflikte von Mehrheitsgesellschaft und um Anerkennung ringende Minderheiten abgelöst worden. Nach dem Ende des Kommunismus als großer Systemalternative müsse es der Linken darum gehen, einer drohenden »Entmoralisierung öffentlicher Konflikte« durch vermeintliche politische oder ökonomische Alternativlosigkeiten kritisch entgegenzutreten.32 Während Jürgen Habermas einer verunsicherten (west-)deutschen Linken bereits kurz nach dem unverhofft erlittenen »Utopieverlust« pragmatisch die zentrale Aufgabe einer »radikalreformistischen Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft« zuweisen wollte,33 fiel die Diagnose von Michael Schneider zum Ende des Revolutionsjahres 1990 deutlich düsterer aus. Schneider, einer der führenden Publizisten der aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen Neuen Linken der 1970er und 1980er Jahre,34 urteilte merklich schärfer und selbstkritischer. Der »plötzliche Ausbruch bislang tabuierter Nationalgefühle« habe die linken Kräfte in Ost und West regelrecht »sprachlos« werden lassen.35 Allerorten im linken Lager erkannte er »bedrücktes Schweigen«, »Resignation« und ein zu einer veritablen »Identitätskrise« ausgewachsenes »allgemeines Ohnmachtsgefühl«, als

28 Jürgen Habermas, Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozia-

lismus heute?, in: ders., Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt a. M. 1990. S. 179–204. 29 Ebd., S. 188. 30 Ebd., S. 197. 31 Ebd., S. 198. 32 Ebd., S. 200. 33 Ebd., S. 205. 34 Dazu als Überblick: Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a. M. 2014. 35 Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990, S. 11.

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Nationalismus und Kapitalismus plötzlich eine spektakuläre wie unverhoffte Renaissance erfuhren.36 Gerade die kapitalistische Marktwirtschaft, der eine risikosoziologisch aufmunitionierte Linke in den 1980er Jahren noch das ökologische Totenglöckchen geschlagen habe, feiere, so Schneider, nun »ungeahnte Triumphe«. Ihm erschien es als bittere »Ironie der Geschichte«, dass nun ausgerechnet der vermeintlich malade Spätkapitalismus in die überlegene »Rolle des Arztes am Krankenbett der darniederliegenden östlichen Volkswirtschaften« schlüpfe.37 Und insbesondere im sich rasch wiedervereinigenden Deutschland sei die »kapitalistische Freibeuter- und Marktexpansions-Wirtschaft« im Laufe nur weniger Monate zu einer »nahezu unangreifbaren Ideologie, zum zentralen Mythos der westlichen Wirtschaftssieger« geworden und werde allüberall als universelles »Wunderheilmittel« angepriesen.38 Schneiders düstere Diagnose schien drastisch wie eindeutig: Das überraschende Ende des Realsozialismus als Systemalternative sowie die rasche Wiederherstellung des kapitalistischen Nationalstaates hätten gerade die deutschen Linken die zentralen ideellen Eckpfeiler ihres politischen Denkens weggesprengt. Doch wie sah nun sein Therapievorschlag aus? Schneider mahnte seine verzagten Kampfgenossen, anders als Habermas, zu Rückzug und Klausur: »Keinem Linken, welcher Couleur auch immer«, bleibe nun eine »kritische Selbstbefragung« erspart; vielmehr müsse man das »gesamte Geschichtsbild« einer scharfen »Generalrevision« unterziehen, da der »demokratische Sozialismus« als »Utopie« letztlich vollständig durch die gesellschaftlichen Dynamiken des Jahres 1990 »zermalmt« worden sei.39 Der bekennende »68er« folgerte daher, sich von der »herrschenden Dromo- und Tempokratie, dem politischen und medialen Machtsystem der unaufhörlichen Beschleunigung« zu distanzieren und sich im Kleinen jenen grundsätzlichen Fragen zuzuwenden, »die der rasende Zeitgeist längst hinter sich« gelassen habe.40 Letztlich markierten Habermas und Schneider zwei entgegensetzte Pole an ideenpolitischen Reaktionsmustern aufseiten der (west-)deutschen Linken im Epochenjahr 1989/90. Während Habermas unter dem unmittelbaren Eindruck des Herbstes 1989 seine Mitstreiter pragmatisch zur kritischen Begleitung und Einhegung von Marktwirtschaft und Nationalstaat aufgefordert hatte, schien Schneider schon am Ende des Revolutionsjahres 1990 deutlich resignierter und mahnte eine Art interne Grundsatzdiskussion an. Beide schrieben im Kontext eines massiv empfundenen »Utopieverlusts«, der freilich begleitet und verstärkt wurde durch harsche Attacken aus dem liberalen oder konservativen Lager, die nun die Zeit für eine moralische Generalabrechnung mit den politischen Geg36 37 38 39 40

Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 16.

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nern gekommen sahen.41 Doch was folgte daraus? In den Schriften zweier zentraler und dezidiert linker Autoren wurden basale ideenpolitische Reaktionsweisen deutlich: Für Habermas schien in Zukunft die fortwährende Kritik der politischen Gegenkonzepte das zentrale Movens, für Schneider benötigte aber gerade die Linke hierfür erst einmal wieder eigene Zielvisionen beziehungsweise neue Utopien. Habermas’sche Kritik oder Schneider’sche Selbstkritik – dies schienen zwei alternative Deutungsvarianten für eine plötzlich orientierungslos gewordene politische Linke in Deutschland zu sein. Wohin würde man sich bewegen?

III. Kolonialisierungskritik als Rettungsanker? Die Linke in der »Vereinigungskrise« Eine protesthistorische Momentaufnahme zu Beginn des Jahres 1991 erscheint charakteristisch für den Zustand der politisch linksorientierten Oppositionskräfte im soeben wiedervereinten Deutschland. Während im »alten« Westen Ende Januar hunderttausende Menschen in Bonn – getragen vor allem von altbewährten Akteuren wie linken Parteien, Gewerkschaften und Friedensgruppen – massiv gegen die (finanzielle) Beteiligung der Bundesrepublik an der aufziehenden US-Invasion im Irak protestierten, trieb im Osten des soeben wiedervereinten Landes nicht etwa die Bush-Regierung, sondern die Treuhandanstalt und der von ihr verantwortete, rasche Umbau der Planwirtschaft die Menschen zehntausendfach auf die noch weitgehend unsanierten Straßen. Auch hier waren es zwar vor allem linke Kräfte wie die vormalige Staatspartei PDS, die ostwärts expandierenden Gewerkschaften (allen voran die IG Metall) oder ehemalige Dissidentenund Kirchenkreise, die als Hauptträger der Widerstands- und Protestaktionen hervortraten. Doch inhaltlich konnten die Ost-West-Kontraste letztlich kaum größer sein als im Frühjahr 1991: Während die Linke im Westen in pazifistischer Manier gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung ins Feld zog, protestierten in Ostdeutschland verzweifelte Belegschaften, Bevölkerung und Lokalpolitik ad-hoc für den Erhalt ihrer von der »Abwicklung« bedrohten Betriebe.42 Diese markante innerdeutsche Zweiteilung der Protestlandschaft wies auch ideenpolitisch den weiteren Weg. Der Osten und seine Probleme erschienen in den kommenden Jahren kaum als ein zentrales ideelles Betätigungs- oder Agitationsfeld der (west-)deutschen Linken – zu sehr prägte hier eine diffuse Wahrnehmung eines »Verrats« des lange erhofften »Dritten Weges« in Form eines ver41 Vgl. dazu: Martin Sabrow, Die Historikerdebatte über den Umbruch von 1989, in: ders. u. a. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, S. 114–137. 42 Weiterführend: Marcus Böick, »Aufstand im Osten«? Sozialer und betrieblicher Protest gegen die Treuhandanstalt und Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er-Jahren, in: Dieter Bingen u. a. (Hg.), Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989, Wiesbaden 2011, S. 167–185.

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meintlich kapitalistisch-konsumgetriebenem Votums für das von Helmut Kohl orchestrierte Parteienbündnis »Allianz für Deutschland« durch die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung gerade linke Wahrnehmungen und Deutungen. Die vom früheren Grünen- und gegenwärtigen SPD-Politiker Otto Schily am Wahlabend anlässlich der deutlichen linken Niederlage bei der Volkskammerwahl im März 1990 hämisch den versammelten Medienvertretern präsentierte Banane als »Wahlanalyse« avancierte zur regelrechten Ikone eines tiefen Bruchs zwischen (west-)deutscher Linker und ostdeutscher Bevölkerung, der letztlich auch langfristig zu einer nachhaltigen wechselseitigen Entfremdung führen sollte. Im Grunde blieb der Osten für lange Zeit eine regelrechte terra incognita auf den ideenpolitischen Landkarten einer ohnehin durch das abrupte Ende des Realsozialismus desorientierten Linken.43 Auf diese Weise konnte die im gesamtdeutschen Parteiensystem weitgehend als Paria geächtete PDS schon sehr bald eine Art Alleinvertretungsanspruch als einzig legitime Sachwalterin ostdeutscher Interessen und Identitäten für sich reklamieren. Und dies praktizierte die vormalige Staatspartei – gerade auch in den Protesten und Demonstrationen gegen Treuhandanstalt und Bundesregierung sowie in anderen gesellschaftlichen Ost-West-Auseinandersetzungen um Staatssicherheit44, Mauerschützen45 oder die »sozialen Errungenschaften« der DDR46 – mit erheblicher Energie und nachhaltigem politischem Erfolg.47 Die nach 1991 fortgesetzte Ost-West-Spaltung auch der politischen Linken in Deutschland sollte letztlich erst über anderthalb Jahrzehnte später mit dem Zusammengehen von WASG und PDS zur Linkspartei gleichermaßen überbrückt und zugleich weiter verfestigt werden. Übergreifenden linken Sammlungs- und Integrationsbewegungen oder rot-rot-grünen Regierungsmodellen blieb letztlich indes bis in die Gegenwart hinein kein nachhaltiger Erfolg beschieden.48 In den frühen 1990er Jahren bestimmten zunächst die beträchtlichen sozioökonomischen wie soziokulturellen Konflikte der Transformations- und Umbruchszeit die gesellschaftspolitische Agenda im wiedervereinten Deutschland. Die immensen Erwartungen des Jahres 1990 waren buchstäblich binnen Jahres43 »Mit Kanonen auf Bananen«, in: Der Spiegel vom 26.3.1990. 44 Vgl. Thomas Großbölting, Die DDR als »Stasi-Staat«? Das Ministerium für Staatssicher-

heit als Erinnerungsmoment im wiedervereinigten Deutschland und als Strukturelement der SED-Diktatur, in: ders. (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 50–73. 45 Roman Grafe, Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber, München 2004. 46 Dazu die verschiedenen Beiträge in Großbölting, Friedensstaat, Leseland, Sportnation. 47 Vgl. Manfred Behrend, Eine Geschichte der PDS. Von der zerbröckelnden Staatspartei zur Linkspartei, Köln 2006; Gero Neugebauer, Richard Stöss, Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler, Konkurrenten, Opladen 1996. 48 Vgl. dazu: »Sammeln oder spalten?«, in: Die Zeit vom 12.8.2018, https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2018–08/sammlungsbewegung-aufstehen-sahra-wagenknecht-oskar-lafontainepro-contra [01.10.2018]

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frist in heftige Enttäuschungen umgeschlagen. Spätestens seit 1991/92 hatte sich eine massive »Vereinigungskrise« zwischen Ost und West im Bewusstsein der besorgten wie hiervon überraschten Zeitgenossen entfaltet.49 Vor allem in der ostdeutschen (Teil-)Gesellschaft erzeugten die weitgehend exklusiv von westdeutschen Fach- und Führungskräften verantworteten, sehr umfassenden wie kurzfristigen Umgestaltungen von Politik, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Kultur, Konsum und Alltag nach bundesdeutschem Vorbild erhebliche gesellschaftliche Resonanzen, Reibungen und Resistenzen. Eben genau diese sozialen Eruptionen befeuerten schließlich nun weniger verzagte Selbstreflexionen oder visionäre Zieldiskussionen, wie sie Michael Schneider Ende 1990 angemahnt hatte, sondern riefen auch vermehrt Autoren aus Ost und West als scharfe, sich gleichsam nachdrücklich links positionierende Gegenwartskritiker auf den Plan.50 Den debattenpolitischen Zustand unter dezidiert linksorientierten Wissenschaftlern zur Mitte des Jahrzehnts brachte ein vom ostdeutschen Sozialwissenschaftler Wolfgang Dümcke und dem bekannten West-Berliner Politikwissenschafts-Professor Fritz Vilmar herausgegebener Sammelband zur »Kolonialisierung der DDR« auf den Punkt.51 Die beiden Herausgeber wollten sich mit ihrer Veröffentlichung gegen die so empfundene »Fatalität des Einigungsprozesses« stemmen und letztlich bestreiten, »daß dessen in hohem Maße katastrophaler Verlauf als schicksalhaft« hingenommen werden müsse, »wie die konservative Legendenbildung uns seit fünf Jahren unaufhörlich zu suggerieren« versuche.52 Die radikale Umgestaltung des Ostens erschien in dieser kritischen Lesart nicht als von der christliberalen Bundespolitik »relativ anständig gemeisterter […] Einigungsprozess«, sondern vielmehr als eskalierender »Vereinnahmungsprozeß«.53 Das knallrote Buchcover, auf dem ein gigantisch wirkender Helmut Kohl einen geradezu winzigen Lothar de Maiziére paternalistisch umarmt, ja geradezu erdrückt, versuchte die Stoßrichtung provokativ in ein ikonisch-polemisches Bild zu fassen. Offen blieb dabei, ob dieses seit den späten 1970er und 1980er Jahren aufseiten der politischen Linken der westlichen Welt unheimlich attraktive post-koloniale Begriffs- und Deutungsfeld von »Kolonialisierung« beziehungsweise »Kolonialismus« überhaupt sinnvoll auf die deutsch-deutschen Konstellationen nach 1990 anwendbar sein und auch jenseits linker Diskussionszirkel verfangen würde.54 49 Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995. 50 Exemplarisch: Rolf Hochhuth, Wessis in Weimar: Szenen aus einem besetzten Land, Ber-

lin 1993; Robert Kurz, Potemkins Rückkehr. Attrappen-Kapitalismus und Verteilungskrieg in Deutschland, Berlin 1993; im Überblick dazu diskursanalytisch: Raj Kollmorgen u. a. (Hg.), Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011. 51 Wolfgang Dümcke, Fritz Vielmar (Hg.), Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995. 52 Ebd., S. 7. 53 Ebd. 54 Vgl. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, Bielefeld 22015.

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Die beiden Herausgeber bejahten diese Frage mit Nachdruck. Gerade der post-kolonial geschärfte Blick auf die Folgen der inneren Einigung schien ihnen perspektivisch ein griffiges »Gegenmodell zu der herrschenden west- und ostdeutschen Selbstbezogenheit und Kommunikationsunfähigkeit« anzubieten. Das deutsch-deutsche Umbruchs- und Transformationsgeschehen nach 1990 wissenschaftlich als »Kolonialisierung« des Ostens durch den Westen zu betrachten, erschien in dieser Lesart als angemessen, wenn man einen umfassenden, erweiterten Begriff von »kolonialer Aneignung« zugrunde lege, so Dümcke und Vilmar: »Wenn man aber Kolonialisierung nicht mit dem Einmarsch von Kolonialtruppen à la Lettow-Vorbeck, mit Massakern an ›Eingeboren‹ etc. gleichsetzt, sondern das Entscheidende ins Auge fasst: die Zerstörung einer ›einheimischen‹ Wirtschaftsstruktur, der Ausbeutung der vorhandenen ökonomischen Ressourcen, die soziale Liquidation nicht nur der politischen Elite, sondern auch der Intelligenz eines Landes sowie die Zerstörung der gewachsenen – wie auch immer problematischen – Identität einer Bevölkerung, so hat sich in der Tat in der ehemaligen DDR im präzisen Sinne des Begriffs ein Kolonialisierungsprozeß vollzogen.«55

Die »gravierenden Dominanzphänomene« im Ost-West-Verhältnis wollten Dümcke und Vilmar vor allem in vier kolonialen Dimensionen beim gegenwärtigen »Umbau Ost« herausstellen: Als solche erschien erstens die vollständige »Übernahme« beziehungsweise sofortige »Installation« der bundesdeutschen Institutionen- und Rechtsordnung ohne jede Reformdiskussionen, Kompromisse oder Übergangsvarianten. Zweitens hoben sie die radikale Transformation der sozioökonomischen Eigentumsverhältnisse von (DDR-)Staatseigentum in westdeutsches Privateigentum durch die Treuhandanstalt hervor, die die ostdeutsche Bevölkerung nahezu vollständig zugunsten westdeutscher Konzern- und Kapitalinteressen »enteignet« habe. Drittens strichen sie die umfassende »soziale Liquidierung der gesellschaftlichen Eliten« und ihre fast vollständige Ersetzung durch westdeutsches Fach- und Expertenpersonal heraus. Schließlich erschien viertens der sich aufgrund »totale[r] Westdominanz« materialisierende »enorm[e] Anpassungsdruck« auf der ostdeutschen Bevölkerung entscheidend, der auf nichts weniger gezielt habe als auf die vollständige »Zerstörung einer ostdeutsche[n] Identität« durch biographische »Abwertung, Evaluierung, Überprüfung und nur mehr begrenzte Sicherung der wirtschaftlichen Existenz« unter den Bedingungen von gestiegenen Lebenshaltungskosten und rasch angewachsener Arbeitslosigkeit.56 Die düstere Pointe dieser kritischen Gegenwartsdiagnose aus dem Jahr 1995 blieb schließlich die Prognose, dass die beschriebene, vieldimensionale »Kolonialisierung« des Ostens durch den Westen sich langfristig auch sehr nachteilig

55 Dümcke/Vilmar, Kolonialisierung, S. 13. 56 Ebd., S. 14–18.

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auf die parallel betriebene »Demokratisierung« der ostdeutschen Bevölkerung auswirken werde.57 Die beiden Sozialwissenschaftler hatten damit ein übergeordnetes Erzählund Deutungsangebot kondensiert und in den Osten Deutschlands übertragen, welches sich in ihren Augen von einer anfänglichen »Provokation« im Laufe empirischer Forschungen und weiterer Diskussionen zu einer »Tatsache« gewandelt hatte. Das kritische Kolonialismus-Konzept war bewusst als pointiertes »Gegenmodell« zur vermeintlichen »Alternativlosigkeit« einer »konservativen« und nationalen Meistererzählung zum Einigungsprozess angelegt, die ohnehin nur den selbstgenügsamen Blick der »Kolonialherren« widerspiegeln musste. Interessanterweise tauchte in dieser sozialwissenschaftlichen Streitschrift sowie den hier versammelten Aufsätzen ein anderer Begriff noch vergleichsweise selten auf – der des Neoliberalismus. Denn ihren zeitgenössischen Kritikern aus dem linken Spektrum erschienen die mit merklichem Schrecken beobachteten Enteignungsund Entfremdungsprozesse im postsozialistischen Ostdeutschland vor allem »national(-istisch)«, »konservativ« und »kapitalistisch«, aber eben (noch) nicht in diesem Sinne »neoliberal«. Auch übergeordnet erwies sich das Kolonialismus-Motiv in den frühen 1990er Jahren als überaus wirkmächtig, gerade bei kritischen westdeutschen Autoren. Mit »Kolonie im eigenen Land« überschrieben zwei linksliberale Wirtschaftsjournalisten bereits 1991 ein vielbeachtetes Enthüllungsbuch.58 Der Journalist Otto Köhler beschrieb 1994 in grellen Farben die »große Enteignung« als Landnahme des kapitalistischen Westens im Osten.59 Der Publizist Rüdiger Liedtke veröffentlichte in seinem polemisch-pointierten Sammelband »Die Treuhand und die zweite Enteignung der Ostdeutschen« im Jahr 1993 einen umfangreichen Beitrag des Regisseurs Armin Steuer, der universalhistorisch ausgreifende Linien »von den Conquistadores zur Treuhand« zog.60 Wenn man sich also in der westdeutschen Linken näher mit dem turbulenten Geschehen im Osten befasste, bediente man sich bevorzugt aus dem ideenpolitischen Arsenal der Neuen Sozialen Bewegungen der 1980er Jahre und den dort bestens vertrauten, post-kolonialen Formeln und Deutungen.61 Doch schienen selbst diese linken Kritiker unsicher, ob die sozioökonomischen wie soziokulturellen Umwälzungen in Ostdeutschland als koloniale Prozesse auch angemessen zu beschreiben seien; die kritische Kolonial-Metaphorik legte möglicherweise drastische Vergleiche und historische Assoziationen nahe, die zumindest problematisch oder politisch diskutabel erschie57 Ebd., S. 18 ff. 58 Peter Christ, Ralf Neubauer, Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirt-

schaftskatastrophe der fünf neuen Länder, Berlin 1991. 59 Otto Köhler, Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte, München 1993. 60 Rüdiger Liedtke (Hg.), Die Treuhand und die zweite Enteignung der Ostdeutschen, München 1993. 61 Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft.

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nen. Eigene oder gar neue, übergeordnete Deutungsformeln tauchten aufseiten der politischen Linken indes zu diesem Zeitpunkt noch kaum auf; insbesondere der Neoliberalismus spielte in diesen frühen Entwürfen keine nennenswerte oder gar zentrale Rolle. Doch über die zu Beginn der 1990er Jahre bevorzugt geschlagene (post-)koloniale »Brücke« sollte mittelfristig auch eine weitere, langfristig wirkmächtige Deutungsformel in den vereinigungskritischen Diskurs der Linken einwandern – und zwar ausgerechnet aus Richtung Amerika.

IV. Globalisierung der Kritik? Die »Schocktherapie« nach der Jahrtausendwende Mitte der 1990er Jahre war die »heiße« Phase der Transformation in Ostdeutschland mit ihren massiven gesellschaftlichen Umwälzungen und Kontroversen abgeklungen und zumindest vorerst relative Ruhe eingekehrt. Für die (west-)deutsche Linke schien »der Osten« ohnehin, wie gezeigt, seit den Wahlen von 1990 und dem abrupten Ende der DDR als schwergängiges Terrain von unbelehrbaren »Kohl-Wählern« oder gar potenziellen Rechtsradikalen, wie die hitzigen Diskussionen um die Ausschreitungen in Rostock oder Hoyerswerda 1991/92 verdeutlichten. Das postsozialistische Ostdeutschland avancierte aus diesem Grunde gerade nicht zum Kristallisationskern der bevorzugten politischen Auseinandersetzung oder gar ideenpolitischen Theoriearbeit.62 Letztlich belebte ein um die Jahrtausendwende mit Macht anhebender Diskurs in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit auch die Linken in Deutschland ideenpolitisch aufs Neue: die bald allgegenwärtige Rede von der Globalisierung und insbesondere die Kritik ihrer Folgen.63 Mit diesem allerorten umfassend diagnostizierten und diskutierten Großtrend gelangten an der weltweiten Peripherie entwickelte, globalisierungskritische Narrative auch ins vereinte Deutschland und damit ins ideenpolitische Diskussions- und Deutungsarsenal der politischen Linken. Nach dem »DotCom-Crash« an den internationalen Börsen um 2000, den spektakulären Terroranschlägen vom 11. September 2001 sowie den hierauf folgenden militärischen Feldzügen in Afghanistan (2001) und im Irak (2003) formierten sich nun zahlreiche linke Kritiker des seit 1990 dominanten westlich-globalkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Eines der griffigsten Deutungsangebote war dabei die Rede von der »neoliberalen Schocktherapie«. Dass der Neoliberalismus sich gerade im Gefolge des selbst als schockartig empfundenen Zusammenbruchs des Realsozialismus im Jahr 1989/91 nahezu ungebremst und weitgehend unwidersprochen in Osteuropa und in Ostasien habe 62 Dazu: André Brie, Deutsch-deutsche Fremdheiten. Mentale Unterschiede und ihre sozia-

len Ursachen, in: Hannes Bahrmann / Christoph Links (Hg.), Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz. Berlin 2005, S. 208–220. 63 Jüngst: Jan Eckel, »Alles hängt mit allem zusammen.«. Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre, in: Historische Zeitschrift 307 (2018), S. 42–78.

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ausbreiten können, war letztlich ein zentraler Befund der kanadischen Publizistin Naomi Klein. Diese sollte mit ihrem in den Jahren nach 2004 entstandenen und 2007 veröffentlichten Buch zur »Shock Doctrine« rasch zu einem internationalen Star und Stichwortgeberin der globalisierungskritischen Szene avancieren.64 Klein entfaltete in ihrem Beststeller eine regelrechte Gewaltgeschichte der »Chicago School« um Milton Friedman, die ihren »Marktfundamentalismus« in den 1970er Jahren in scharfer Opposition zur Welt der keynesianischen Nachkriegsordnung entwickelt und danach mit großem Geschick propagiert habe. Friedmann und seine Mitstreiter hätten vor allem einschneidende wie unverhoffte Krisen, Konflikte und Katastrophen in der ganzen Welt genutzt, um desorientierten Gesellschaften und Eliten ihre marktradikalen Therapien in überfallartigen politischen Handstreichen zu verordnen.65 Dieser neuartige neoliberale »Katastrophen-Kapitalismus« habe seinen eigentlichen Aufstieg im Gefolge von rechtsautoritären Umstürzen im Südamerika der 1970er Jahre (vor allem in Chile) begonnen. In den 1980er Jahren hätten sich nun marktradikale Ideen – getragen von umtriebigen Friedman-Schülern als bestens vernetzten Experten in neoliberalen Think Tanks, dem IWF oder der Weltbank – unter dem apokalyptischen Eindruck eines »Zweiten Kalten Krieges« in den USA unter Ronald Reagan durchgesetzt. In Großbritannien hätte zugleich auch die Thatcher-Regierung Wirtschaftskrisen und den Falkland-Krieg für tiefgreifende, entstaatlichende Reformen (Deregulierungen, Privatisierungen und Sozialkürzungen) zu nutzen gewusst. Der plötzliche Zusammenbruch der sowjetkommunistischen Hegemonie in Osteuropa habe den marktmissionarisch motivierten »Chicago Boys« indes völlig neue Betätigungsfelder nach 1989/90 insbesondere in Polen unter Leszek Balcerowicz und Russland unter Boris Jelzin eröffnet. In der Folge dieser postsozialistischen Umwälzungen habe die neoliberale »Schock-Therapie« in Kleins Augen ihren verheerenden Siegeszug um den Globus ungebremst fortgesetzt: etwa eher verborgen in China nach dem Tian’anmen-Massaker (1990), in Fernost nach der Asien-Krise (1997/98), den USA nach ›9/11‹ (2001) sowie im US-besetzten Irak (nach 2003).66 Ihre besondere ideenpolitische Stoßrichtung offenbarte Klein am Ende ihres Manifests. So wie es nach 1989/90 eine grundlegende »Aufarbeitung« der »großen Verbrechen« des Sowjet-Kommunismus durch eine umfassende Öffnung der Archive und harsche geschichtspolitische Debatten gegeben habe, müsse nun endlich auch der hieran unmittelbar anschließende neoliberale »Kreuzzug« um den Erdball mit all seinen Verheerungen, Kosten und Konsequenzen kritisch hinterfragt werden.67 Für die kanadische Journalistin galt es im Jahr 2007, eine scheinbar allmächtige, sich universal-anthropologisch-alternativlos gebende und 64 65 66 67

Naomi Klein, The Shock Doctrine. The Rise of Disaster Capitalism, New York 2007. Ebd. Ebd. Ebd., S. 19 f.

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global ungebremst agierende Markt-Ideologie anzugreifen. Bezeichnenderweise tauchte der deutsch-deutsche »(Sonder-)Fall« eines ausgesprochen abrupten wie krisenhaften Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft in Kleins detaillierten Analysen zur »Schocktherapie« in Osteuropa gar nicht auf. Auch hier hatte sich zwar der Übergang zur neuen Markt- und privaten Eigentumsordnung sehr rasch, aber gerade nicht unter dem bestimmenden Einfluss markt- oder neoliberaler Denker aus Chicago vollzogen – vielmehr in einer besonderen, bundesdeutsch-ordoliberal geprägten Form und in einem eigentümlichen Spannungsfeld von Ost und West.68 Interessanterweise hatte eine Reihe linker Sozialwissenschaftler in Deutschland um Helmuth Wiesenthal zwar bereits Mitte der 1990er Jahre versucht, das Konzept der »Schocktherapie« analytisch-kritisch fruchtbar zu machen, damit jedoch noch keinen breiten Widerhall in den einschlägigen Debatten der massiv expandierenden Transformationsforschung gefunden.69 Kleins griffige Kapitalismus- beziehungsweise Neoliberalismus-Kritik sollte, neben anderen programmatischen globalisierungskritischen Entwürfen dieser Zeit,70 die einen als hegemonial empfundenen »neoliberalen Zeitgeist«71 gerade auch ideell herauszufordern suchten, auch in der deutschen Linken umfassend rezipiert werden.72 Nach 1998 hatten sich allerdings in Deutschland die politischen und mithin auch die ideenpolitischen Kontexte nochmals entscheidend verschoben: Während die politische Linke allmählich begann, sich vom ideellen »Schock« des 1990 erlittenen »Utopieverlusts« zu erholen und ihr Heil nun vor allem in einer neuartigen, übergeordneten Globalisierungskritik suchte, war in Deutschland erstmals eine rot-grüne Bundesregierung ins Amt gelangt. Gerade dieses gemäßigt-linke Regierungsbündnis sollte durch seine pragmatische Politik in den folgenden Jahren bis 2005 mit ausgedehnten Kriegs- und Anti-Terror-Einsätzen, umfassenden Deregulierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen sowie einschneidenden Sozialstaatsreformen die politische Linke in Deutschland in ein regelrechtes Schisma manövrieren: Während sich die kritische Linke (später auch in Form einer neuformierten Linkspartei) vehement am »Neoliberalismus« 68 Vgl. weiterführend: Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung, Göttingen

2018, v. a. S. 149 ff. 69 Andreas Pickel, Helmut Wiesenthal, The Grand Experiment. Debating Shock Therapy,

Transition Theory, and the East German Experience, Boulder 1997; Helmut Wiesenthal (Hg.), Einheit als Privileg. Vergleichende Perspektiven auf die Transformation Ostdeutschlands, Frankfurt a. M. 1996. 70 Vgl. Noam Chomsky, Profit over People. Neoliberalism and Global Order, New York 1999; Michael Hardt, Antonio Negri, Empire. Globalization as a new Roman order, awaiting its early Christians, Harvard 2001. 71 Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006. 72 Vgl. hierzu v. a. Elmar Altvater, Neoliberalismus – Militarismus – Rechtsextremismus: Die Gewalt des Zusammenhangs, Wien 2001; Christoph Butterwegge, Rudolf Hickel, Ralf Ptak, Sozialstaat und neoliberale Hegemonie. Standortnationalismus als Gefahr für die Demokratie, Berlin 1998; Stephanie Blankenburg, Herbert Schui, Neoliberalismus. Theorie, Gegner, Praxis, Hamburg 2002.

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und bald auch vornehmlich an der »neoliberalen« Politik der rot-grünen Bundesregierung sowie dem von ihr betriebenen »Sozialabbau« abarbeitete, hatte sich wiederum die gemäßigte Linke aus SPD und Grünen gezielt an die Spitze umfassender europäischer, umfassend marktbezogener Reform- und Liberalisierungsbemühungen im Kontext einer nun breit diskutierten »Zivilgesellschaft« zu setzen versucht – in Deutschland unter Gerhard Schröder wie auch in Großbritannien unter Tony Blair.73 Bis Mitte der 2000er Jahre war es also diese bemerkenswerte Gleichzeitigkeit beziehungsweise das unvermittelte Nebeneinander von globalisierter Neoliberalismus-Kritik auf der einen sowie inkrementellen Adaptions- und Anpassungsbemühungen in der politischen Praxis auf der anderen Seite, die für das zunehmend gespaltene linke Lager in Deutschland um die Jahrtausendwende charakteristisch werden sollte.74 Die ostdeutsche Transformation war zu diesem Zeitpunkt – sieht man von der kurzen, aber heftigen Debatte um die eruptiven »Hartz-IV«-Proteste gerade in Ostdeutschland ab – weitgehend von der ideenpolitischen Bildfläche der Linken, aber auch aus Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik als Thema verschwunden.75 Selbst aus dem globalen Diskurs kommende Deutungen wie die neoliberale »Schocktherapie« führten bis weit ins neue Jahrtausend noch nicht zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Transformations- und Umbruchszeit, sodass vorwiegend die bereits zeitgenössisch befestigten Meisterzählungen eines durchaus schmerzhaften, aber im Ganzen alternativlosen Weges hin zu Nationalstaat, Demokratie und Marktwirtschaft weitgehend unangefochten fortbestanden. Dies sollte sich jedoch in den Jahren nach 2007/08 grundlegend ändern.

V. Eine neue Universalformel? Der Aufstieg des »Neoliberalismus« nach der Weltwirtschaftskrise Der Lehman-Crash und seine weltwirtschaftlichen Folgen in den Jahren 2007/08 sowie die hiermit verschränkte Euro-Krise nach 2010 erscheinen ideenpolitisch als tiefste Zäsuren seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/91. Mit Ausbruch der Weltwirtschafts- und Finanzkrise in den USA und Europa wurde das sich um die Jahrtausendwende formierende globalisierungs-, kapitalismusund insbesondere auch neoliberalismuskritische linke Minderheitendiskursfeld auch für den öffentlichen wie auch wissenschaftlichen Mainstream wieder attrak73 Hierzu als Skizze: Dietmar Süß, Idee und Praxis der Privatisierung. Eine Einführung, in: ders. / Norbert Frei (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 11–31; hierzu bereits auch: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik, 1945 bis zur Gegenwart, München 2009. 74 Hierzu als Zusammenschau kritischer Stimmen: Christoph Butterwegge u. a. (Hg.), Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2008. 75 Vgl. dazu bilanzierend: Thomas Ahbe (Hg.), Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig 2009.

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tiv und anschlussfähig. Im Jahr 2005 hatte der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering noch für erhebliches Aufsehen gesorgt, als er die US-amerikanischen Investmentgesellschaften als US-amerikanische »Heuschreckenschwärme« und ihre überzogenen Renditeerwartungen attackierte.76 Müntefering hatte nicht zuletzt versucht, seine damals durch die Agenda-Reformen erheblich unter Druck geratene Partei durch eine Initiative zur »Kapitalismuskritik« wieder in die Offensive zu bringen.77 Galt im Jahr 2005 allein die Nennung des aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nach 1990 weitgehend verschwundenen (weil marxistisch-kontaminierten) Kapitalismus-Begriffs durch einen führenden SPD-Politiker fast als eine Art öffentlicher Tabubruch, hatte sich das Gesamtbild im Jahr 2008 bereits dramatisch gewandelt: Eine betont kritische Auseinandersetzung mit einem »neoliberal« radikalisierten Kapitalismus gehörte nun schon fast zum guten akademischen Ton.78 Die massiven Schockwellen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise spülten in den folgenden Jahren also das ideenpolitische Repertoire linker Globalisierungs- und Neoliberalismus-Kritik in den Mainstream gerade auch der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in Deutschland, die sich in den Jahren zuvor im Gefolge zahlreicher kultureller Wenden und Turns während der 1990er und 2000er Jahre kaum noch für übergeordnete wirtschafts- oder sozialhistorische Zusammenhänge interessiert und weitgehend mikroperspektivisch der Selbstbeziehungsweise Subjektebene zugewandt hatten.79 Sprechende Titel wie das 2010 veröffentliche und vielrezipierte Buch »Geist des Kapitalismus« des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl griffen nun mit umso größerer Verve die Vorherrschaft ökonomischer Denkungsweisen und umfassender Marktphantasien als wirkmächtige zeitgenössische Fiktionen frontal an und setzten einen dezidiert kapitalismuskritischen Grundton, der vor allem das »neoliberale Denken« als hegemoniale Ideologie identifizierte und kritisierte.80 Interessanterweise war es die nachdrückliche wie eruptive Wiederentdeckung vormals linker (Kampf-)Begriffe, die nun auch den Rückblick auf die jüngste Zeitgeschichte nach 1989/90 zu verschieben begann. Am unmittelbaren 76 Siehe hierfür (um ein zweites »dazu« zu umgehen): Alessandro Schwarz, Die »Heuschre-

cken«-Debatte in der deutschen Wirtschaftspresse. Eine Inhaltsanalyse, Stuttgart 2012. 77 »Müntefering will ›Debatte forcieren‹«, in: Focus vom 4.5.2005, https://www.focus.de/politik/ deutschland/kapitalismus-kritik_aid_94219.html [01.10.2018]. 78 Vgl. als Überblick: Thomas Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2012; exemplarisch hierzu: Byung-Chul Han, Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a. M. 2014; Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus: Postdemokratie II, Frankfurt a. M. 2011; Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung: Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt a. M. 2012. 79 Hierzu (selbst-)kritisch: Hartmut Berghoff, Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004; Daniel Speich u. a. (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014. 80 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010. Vgl. den Beitrag von Lisa Suckert in diesem Band.

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Vorabend der großen Krise verfasst und wenig später veröffentlicht, traf die konzeptionelle Programmschrift »Nach dem Boom« von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel daher einen zeitdiagnostischen Nerv: Indem sie kritisch den Aufstieg eines »digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus« in der westlichen Welt infolge eines gesellschaftlichen »Strukturbruchs« Mitte der 1970er Jahre herausarbeiteten, lieferten sie damit ein neues, dezidiert Kapitalismus- sowie insbesondere auch Neoliberalismus-kritisches Grundmotiv zu einer unmittelbaren »Problemgeschichte der Gegenwart«.81 Als bezeichnend erwies sich bei Raphael und Doering-Manteuffel zugleich aber auch der vergleichsweise marginale Stellenwert, den man den osteuropäischen Umbruchs- und Transformationsprozessen zuwies: Die »Implosion« des Realsozialismus nach 1989/91 sei letztlich lediglich eine »Begleiterscheinung« des neuen neoliberalen Paradigmas gewesen; Osteuropa erschien aus dieser westlich geprägten Leitperspektive eher als peripherer Durchlauferhitzer für entsprechende neoliberale Experten, Praktiken und Experimente.82 »Nach dem Boom« löste in der Folge umfassende Diskussionen in der deutschen Zeitgeschichtsforschung aus,83 wobei das sich eröffnende Themenfeld »Neoliberalismus/Kapitalismus« mit wenigen Jahren publizistischer Verzögerung einen eindrucksvollen wie noch immer anhaltenden Forschungsboom erlebte.84 Während das osteuropäische Transformationsgeschehen in der Programmschrift aus dem Jahr 2008 noch als bloße Fußnote erschien, rückte Philipp Ther dieses in seinem ebenfalls vielbeachteten, 2014 veröffentlichten Buch »Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent« in den Fokus. Für Ther erschien der Osten Europas eben nicht nur als abgelegenes »Experimentierfeld« am Rande.85 Vielmehr habe gerade das dramatische »Scheitern der graduellen Reformen im Ostblock und das Ende der östlichen Systemkonkurrenz« letztlich die globale »Hegemonie des Neoliberalismus« ganz wesentlich katalysiert. Zwar wollte Ther keine »mittlerweile modische Fundamentalkritik« des Neoliberalismus üben, wie er herausstellte. Dennoch richtete sich seine Aufmerksamkeit überaus kritisch auf »dessen Anwendung und soziale Folgen«.86 Mit Nachdruck stellte er dabei die beträcht81 Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeit-

geschichte seit 1970, Göttingen 2008. 82 Ebd., v. a. S. 12 f. 83 Als (selbstgezogene) Zwischenbilanz: Anselm Doering-Manteuffel u. a. (Hg), Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016. 84 Vgl. stellvertretend: Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014; Sören Brandes, Malte Zierenberg (Hg.), Praktiken des Kapitalismus, in: Mittelweg 36 (2017); Gunilla Budde, Kapitalismus: Historische Annäherungen, Göttingen 2011; Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013; Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010 sowie jüngst sehr umfassend als Gegenposition: ders., Das Kalte Herz. Kapitalismus: Geschichte eine andauernden Revolution, Berlin 2019. 85 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 26. 86 Ebd. S. 19 f.

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lichen Rückwirkungen der neoliberalen Praktiken in Osteuropa auf den Westen und Süden des europäischen Kontinents als hochwirksame »Ko-Transformationen« heraus.87 Interessanterweise war der deutsche »(Sonder-)Weg« bei Ther bevorzugt als negative Folie und damit nur am Rande präsent. Dennoch fügte sich auch dieser letztlich in ein historisches Gesamtpanorama ein: Der Neoliberalismus funktionierte bei Ther wie ein disruptiver Ideen-Bumerang, der aus der postsozialistischen Praxis des Ostens schließlich um die Jahrtausendwende auch mit Macht in den Westen des Kontinents zurückschnellte.88 Thers Entwurf steht also letztlich exemplarisch für einen größeren zeithistoriographischen Trend, die osteuropäischen Transformationsgesellschaften und die sich hier vollziehenden, umfassenden Umbrüche nun vermehrt durch eine refokussierte Linse der Neoliberalismus-Kritik(er) neu- beziehungsweise wiederzuentdecken.89 Bereits 2012 hatte Dietmar Süß in einem programmatischen Beitrag dazu aufgerufen, die von neoliberalen Experten und Praktikern propagierte »Totalisierung des Markt-Prinzips« als strahlkräftiges »Politikmodell« seit den 1970er Jahren kritisch zu untersuchen90 – und zugleich warnend die Frage aufgeworfen, wie man »diese Geschichte noch erzählen« könne, »ohne ausschließlich in Untergangs- und Verfallsgeschichten einzustimmen«.91 In jedem Falle haben die jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrisen und ihre gravierenden gesellschaftlichen wie politischen Folgewirkungen damit – auch durch ihre sich hier vollziehende Politisierung und Popularisierung des Neoliberalismus als kritischem Deutungs- und Erklärungsmuster – einer grundlegenden Neuperspektivierung dieser Zeitphase nach dem Fall des Sowjetimperiums erheblichen Vorschub geleistet. Der Universalismus der Markteuphoriker scheint dabei bisweilen geradezu dialektisch in einen Universalismus ihrer Generalkritiker umgeschlagen zu sein; die linken Minderheitenperspektiven haben damit erstmals seit 1989/90 wieder – zumindest in Teilen von Wissenschaft und Öffentlichkeit – einen übergeordneten Stellenwert erringen können und prägen damit als griffiges Interpretament den ideenpolitischen, größtenteils Kapitalismus-skeptischen Grundsound unserer krisensensiblen Gegenwart.92

87 Ebd.; vgl. auch: Philipp Ther, Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Ge-

schichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 105–114. 88 Ebd., S. 21. 89 Dazu konzeptionell: Ariane Leendertz, Zeitbögen, Neoliberalismus und das Ende des Westens, oder: Wie kann man die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 191–217. 90 Dietmar Süß, Idee und Praxis der Privatisierung. Eine Einführung, in: ders./Frei, S. 11–31, hier S. 12. 91 Ebd., S. 30. 92 Vgl. als aktuelle Zusammenschau der gegenwärtigen, stark Neoliberalismus-kritischen Zeitdiagnostik: Heinrich Geiselberger, Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017.

255

256 Marcus Böick

VI. Fazit: Der neue »Neoliberalismus« – Dekonstruktionswerkzeug oder Pauschalformel? Wie »neoliberal« war sie denn nun aber eigentlich, die Transformation des deutschen Ostens nach 1990? Diese Frage ist sicher bei näherer Betrachtung keineswegs einfach zu beantworten. Lag der wirtschaftlichen und ökonomischen Umgestaltung der ostdeutschen Zentralplanwirtschaft eine Art lange gehegter, neoliberaler »Masterplan« einer »Schocktherapie« im Sinne einer »feindlichen Übernahme« des Ostens durch den Westen zugrunde?93 Bei zeithistoriographisch-differenzierter Betrachtung erscheinen an dieser pauschalen These erhebliche Zweifel angebracht. Letztlich deutet vieles darauf hin, dass die politischen, wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Umgestaltungen in Ostdeutschland in einer komplexen und vor allem auch zu Beginn bisweilen chaotischen Gemengelage von teils überforderten Akteuren in Prozessen gestaltet wurden, die über weite Strecken in den entscheidenden Jahren 1990/91 improvisiert und situativ erscheinen. In einer unerwarteten wie unübersichtlichen Situation, in der in Ost und West niemand über einen detailliert ausgearbeiteten Plan verfügte, ergab sich der deutsch-deutsche Transformationspfad also gerade nicht aus neoliberalen Lehrbüchern oder marktradikalen Pamphleten aus Chicago, auch wenn der transnational staatsskeptische Zeitgeist der 1980er Jahre durchaus eine bedeutsame ideenpolitische Hintergrundfolie zahlreicher Weichenstellungen bildete.94 In der Sonderkonstellation der deutsch-deutschen »Vereinigungsgesellschaft«95 vermischten sich letztlich, um es zumindest grob anzudeuten, ordoliberale ökonomische Ideen, protektionistische Unternehmensinteressen, korporatistisch-sozialpolitische Abfederungsstrategien und industriepolitische Interventionen untrennbar miteinander: Während der Glaube an ein »zweites Wirtschaftswunder« im Frühjahr 1990 unter Bonner Beamten den Wunsch nach möglichst raschen Entstaatlichungen im Modus von Privatisierungen beförderte,96 waren die westdeutschen Unternehmen in der damals noch formierten »Deutschland AG« an einer zügigen Integration und Abschirmung des ostdeutschen »Binnen-

93 Vgl. Olaf Baale, Abbau Ost. Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden, München 2008; Klaus Behling, Die Treuhand. Wie eine Behörde ein ganzes Land abschaffte, Berlin 2015; Ralph Hartmann, Die Liquidatoren. Der Reichskommissar und das wiedergewonnene Vaterland, Berlin 22008; Dirk Laabs, Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand, München 2012. 94 Vgl. Andreas Wirsching, Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012. 95 Thomas Großbölting, Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017. 96 Dazu weiterführend: Marcus Böick, Eine Behörde als simuliertes Unternehmen. Die Treuhandanstalt in der Unschärferelation zwischen Transformationspolitik, Wirtschaftsumbau und Umbruchsgesellschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 58 (2017) 2, S. 489–512.

WIE NEOLIBERAL WAR DER UMBAU OSTDEUTSCHLANDS NACH 1990?

marktes« gegen ausländische Wettbewerber interessiert.97 Demgegenüber setzten die ostwärts expandierenden Gewerkschaften gezielt auf eine Hochlohnstrategie in Ostdeutschland sowie bald auch – im Gleichschritt mit der Bundesregierung – auf eine umfassende sozialpolitische Abfederung der mit dem Systemumbruch einhergehenden Massenarbeitslosigkeit.98 Schließlich forcierten auch die neu gegründeten Bundesländer, vor allem nach 1992, den Erhalt regional bedeutsamer »Industrieller Kerne« aus industrie- und strukturpolitischen Erwägungen, als der scharfe Privatisierungskurs der Treuhand an sein Ende gelangte.99 Kurzum: Die deutsch-deutsche »Schocktherapie« war damit eine situativ-improvisierte sowie chaotisierend-konfliktreiche Komposition mit zahlreichen Akteuren, verwickelten Interessenlagen und konfligierenden Wahrnehmungsmustern. Es gab sich daraus eine ganz besondere Melange von Ordoliberalismus, Korporatismus, Protektionismus und Interventionismus, die ihre besondere gesellschaftspolitische Sprengkraft vor allem aus den beträchtlichen politischen, ökonomischen wie kulturellen Ost-West-Asymmetrien zog.100 Jenseits derartiger Differenzierungen scheint jedoch perspektivisch der Trend interessanter, dass in den letzten Jahren vor allem Politiker, Journalisten und Wissenschaftler die lange Zeit kaum noch näher behandelte, ja in Deutschland nahezu vergessene postsozialistische Transformations- und Umbruchszeit in Ostdeutschland verstärkt durch eine neoliberalismuskritische Perspektive neuentdecken und mithin in einen trans- beziehungsweise internationalen Kontext einzuordnen. Ironischerweise, so könnte man zuspitzen, musste die weitgehend vom eigenen Osten abgewandte deutsche Linke und mit ihr zugleich auch der Mainstream der Transformationsforschung seit der Jahrtausendwende und vor allem nach der Weltwirtschaftskrise den weiten ideenpolitischen Umweg über Lateinamerika und Ostasien gehen, um sich neuerlich einen (kritischen) Begriff von den Umbrüchen und Konflikten vor der eigenen Haustür (oder besser: im eilig renovierten Seitenflügel des eigenen Hauses?) zu machen. Die in den frühen 1990er Jahren etablierten und verfestigten Ost-West-Dichotomien erscheinen damit nach wie vor als überaus komplexe Herausforderungen sowohl in der Forschungspraxis als auch in den geschichtspolitischen Debatten über diese Zeit.101

97 Vgl. dazu Ralf Ahrens u. a. (Hg.), Die »Deutschland AG«. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013. 98 Detlev Brunner (Hg.), Gewerkschaften im deutschen Einigungsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation, Bielefeld 2018. 99 Vgl. Markus Danwerth, Die Erhaltung industrieller Kerne in den neuen Bundesländern: eine kritische Würdigung, in: Hans Bertram u. a. (Hg.), Systemwechsel zwischen Projekt und Prozeß. Analysen zu den Umbrüchen in Ostdeutschland, Wiesbaden 1998, S. 125–168. 100 Vgl. dazu vertiefend Böick, Die Treuhand. 101 Eine detaillierte Analyse sowie weiterführende Literatur in: Marcus Böick, Constantin Goschler, Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt, Bochum 2017, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Studien/wahrnehmung-bewertung-derarbeit-der-treuhandanstalt-lang.html [01.10.2018].

257

258 Marcus Böick

Vor allem mit Blick auf die hier exemplarisch untersuchten, aufseiten der politischen Linken formulierten Deutungen und (Gegen-)Perspektiven ist diese Tendenzwende überaus interessant. Hatten linke Denker unmittelbar nach 1989/90 mit den ideenpolitischen Folgen eines massiven »Utopie-Verlusts« zu kämpfen, hatte man dort die nachfolgenden Umbrüche im Osten in den frühen 1990er Jahren eher nur am Rande und mithilfe einer konventionellen Kolonialisierungs-Kritik begleitet. Erst um die Jahrtausendwende und insbesondere nach 2007/08 avancierte dann eine inflationäre Neoliberalismus-Kritik (etwa an der »Schocktherapie«) zum neuen konzeptionellen Herzstück einer revitalisierten, globalen und letztlich damit auch post-sozialistischen Kapitalismus-Kritik, die nun auch jenseits des linken Lagers zunehmend Verbreitung und Zustimmung fand. Langfristig betrachtet erwies sich damit der politische Kampf- beziehungsweise Gegenbegriff des »Neoliberalismus« als eine Art ideenpolitische (Über-)Lebensversicherung für eine nach 1989/90 weitgehend desorientierte wie desillusionierte politische Linke, die sich mit diesem Leitmotiv hegemonialen ökonomischen Deutungen einer vermeintlichen »Alternativlosigkeit« von global-digitalen Vermarktlichungsprozessen entgegenzustellen vermochte.102 Man war, wenn man so will, den Habermas’schen Vorschlägen gefolgt – und hatte sich zugleich den Schneider’schen Wünschen nach einer neu formulierten, linken (Gegen-)Utopie weitgehend verweigert. Was folgt aus dieser ideenpolitischen Tendenzwende nun für die Zeitgeschichtsschreibung? In diesem Kontext erweist sich die in den letzten Jahren spürbar gewachsene Attraktivität neoliberalismuskritischer Deutungen gerade in der hiesigen Forschung zum einen als durchaus produktiv. Oder besser: in destruktiver Weise konstruktiv, indem sie vermeintlich universelle ökonomische (Markt-)Gewissheiten aus den zeitgenössisch etablierten Erzählweisen perspektivisch aufzubrechen und als immens wirkmächtige zeitgenössische Deutungskonfigurationen zu dekonstruieren hilft. In dieser disruptiven Lesart erweist sich das turbulente Umbruchsgeschehen der 1990er Jahre eben nicht nur als bloßer, quasi naturgesetzlicher »Vollzug« oder rein handwerklich-praktisches »Management« von Markteinführungsprozessen in einem »maroden« postsozialistischen Großindustrie-Setting, das letztlich keinerlei Alternativen oder Diskussionen ermöglicht habe. Gleichermaßen macht dieser Perspektivwechsel auch die hiermit aufs Engste verflochtenen und zeitgenössisch bereits als »Kolonialisierung« attackierten Interaktionen zwischen Ost und West offen zum Thema. Auch die Frage nach den Beziehungsgeschichten von kapitalistischer Markwirtschaft und repräsentativer Demokratie (sowie langfristig auftretender, populistischer Flieh- und Gegenkräfte) lässt sich so grundsätzlich aufs Neue stellen. Schließlich rückt eine derartige Perspektive die deutsch-deutsche Konstellation nach 1990 in übergrei-

102 Vgl. als Überblick: Ralf Ahrens u. a., Vermarktlichung. Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015), S. 393–402.

WIE NEOLIBERAL WAR DER UMBAU OSTDEUTSCHLANDS NACH 1990?

fende, europäisch-globale Zusammenhänge und löst diese somit auch aus ihrer eigentümlichen Nischenrolle als spezifischem »Sonderfall« heraus. Auf der anderen Seite ist der regelrechte Herdentrieb zur kritischen (Wieder-)Entdeckung einer »neoliberalen« Ära als neuer zentraler Deutungsfolie für die jüngste Zeitgeschichte durchaus auch mit Skepsis zu betrachten. Gerade in seinen politischen Ursprüngen als zeitgenössischer Kampf-Begriff schlummert die erhebliche Gefahr einer neuen Pauschalformel, die insbesondere zeithistoriographisch eigentlich dringend notwenige Differenzierungen erschweren könnte. Eine bloße Umkehrung der narrativen Vorzeichen zur Transformationszeit von Plus auf Minus dürfte daher kaum befriedigen. Wenn die vorher von den beteiligten Zeitzeugen gehegten Gewissheiten von universellen wie unhintergehbaren Marktdynamiken nun in neue Gewissheiten von neoliberal-marktradikalen »Verschwörungen« umschlagen, droht letztlich auch der Neoliberalismus zu einer bloßen Hohlformel zu degenerieren, die den zeithistorischen Rückblick in der Forschungspraxis mehr vernebelt als verklart.103 Aktuelle zeithistorische Debattenbeiträge deuten die Komplikationen und Ambivalenzen an, einen schwer konturierbaren Neoliberalismus-Begriff als heuristisches Interpretations-Werkzeug zu fassen oder gar als makroperspektivisches Forschungsprogramm auszubuchstabieren. So hat Ariane Leendertz unlängst dafür geworben, den Neoliberalismus als »geeigneten Interpretationsrahmen« für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts zu nutzen, um »die Transformationen der nationalen und internationalen politischen Ökonomie sowie gesamtgesellschaftlichen Wandel« zu analysieren – ohne jedoch dabei auf die postsozialistischen Umbrüche nach 1989/90 näher einzugehen.104 Die Debatte um den Neoliberalismus als Epochenbegriff für die Zeitphase »nach dem Boom« griff jüngst auch ein zeithistorischer Sammelband auf, der eben die berechtigte Frage nach den »Grenzen des Neoliberalismus« in den Fokus rückte.105 Auch hier wurde einerseits der »Siegeszug des Neoliberalismus« in der westlichen Welt seit Mitte der 1970er Jahre konstatiert, der »sich nicht allein auf die Ökonomie im engeren Sinne« bezogen, »sondern eine gesellschaftliche Ausbreitung von Markt und Wettbewerb in andere Lebensbereiche« gefordert habe. Der dabei propagierte »Rückzug des Staates« sollte demnach »alle Lebensbereiche gleichermaßen erfassen und transformieren«.106 Auf der anderen Seite werben die Herausgeber zugleich mit guten Argumenten dafür, konkrete neoliberale Praktiken, kritische Gegenbewegungen sowie ideologische Inkonsistenzen in den Blick zu nehmen. Dabei gelte es empirisch scharf zwischen neoliberalem 103 Vgl. »Der falsche Feind«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25./26.8.2018, S. 24; jüngst auch: Wendy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Frankfurt a. M. 2018. 104 Leendertz, Zeitbögen, S. 194. 105 Frank Bösch u. a., Grenzen des Neoliberalismus. Der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, in: ders./Hertfelder/Metzler (Hg.), Grenzen des Neoliberalismus, S. 13–36. 106 Ebd., S. 22.

259

260 Marcus Böick

»Projekt« sowie dessen (oft durchaus begrenzten) praktischen Realisierungsversuchen zu unterscheiden.107 Im vorliegenden Zusammenhang besonders interessant erscheint die vorgeschlagene Unterscheidung einer neoliberalen »roll-back«-Phase der 1980er Jahre, in denen konservative Regierungen in Großbritannien sowie den USA vornehmlich den Wohlfahrtstaat ins Visier genommen hatten und einer »roll-out«-Phase der 1990er Jahre, als neoliberale Ideen nach dem unverhofften Ende des Kalten Krieges nun auch zunehmend unter dem Eindruck von Globalisierung und Digitalisierung die politische Linke erfasst hätten.108 Wie und ob die dabei konstatierte »Binnenzäsur« Mitte der 1990er Jahre mit den postsozialistischen Umbruchs- und Transformationsprozessen verknüpft ist, bedürfte hingegen weiterer Diskussionen. Den Postsozialismus jedoch als neoliberales »Experiment« oder gar »Laboratorium« zu deuten, in dem dieser aus der Theorie schließlich endgültig in die Praxis durchgebrochen sei, dürfte dabei jedoch als sozialwissenschaftliche wie auch stark technokratisch unterlegte Deutungs- und Beschreibungsformel kaum hinreichend sein.109 Die aufziehende zeithistoriografische Debatte um den Neoliberalismus als kritisch-polemischen Quellen- oder epochal-zentralen Analysebegriff steckt damit gewissermaßen noch in den Kinderschuhen. Doch könnte an dieser Stelle gerade der differenzierte Blick auf die frühen 1990er Jahre überaus produktiv sein. Im Mittelpunkt der gegenwärtig vermehrt einsetzenden empirischen Forschungen zur Nachwendezeit sollten, so ließe sich abschließend festhalten, also vor allem handlungsleitende Ideen, spezifische Akteure und konkrete Praktiken dieser vielfältigen Übergangs- und Umbruchskonstellationen stehen – sowie die zugleich in dieser Zeit gesellschaftlich konstituierten kulturellen Ost-WestDichotomien sowie die hiermit verbundenen Deutungs- und Wahrnehmungsweisen. Die vielfältig verwickelten Geschichten der unübersichtlichen Transformationszeit in Deutschland und Europa erweisen sich damit als komplex-komplizierte Vorgeschichten unserer Gegenwart, die freilich keineswegs den randständigen Status einer östlichen »Regionalgeschichte« haben sollten.110 Im Sinne einer »kreativen Zerstörung« kann sich also die aufseiten der intellektuellen Linken seit den 1990er Jahren zunächst in der politische Nische formulierte Neoliberalismus-Kritik durchaus als hilfreiches heuristisches Werkzeug erweisen, um neue Fragestellungen und interessante Perspektiven zu generieren – aber eben nicht als pauschal-politisierte Leerformel, um lediglich vorgefertigte Antworten vorschnell zu bestätigen.

Ebd., S. 27. Ebd., S. 26. Vgl. dazu Weingarz, Laboratorium. Dazu die zum Teil kontroversen Beiträge in: Ulrich Mählert (Hg.): Die DDR als Chance. Stand und Perspektiven zeithistorischer Forschung zur SED-Diktatur und zum geteilten Deutschland, Berlin 2016.

107 108 109 110

LES »TRENTE GLORIEUSES«. EUROPÄISCHE WOHLFAHRTSREGIME IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS IM VERGLEICH

Ilona Ostner

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? Schweden und die Niederlande zwischen Modell und Krise

E

nde der 1970er Jahre gehörten Schweden und die Niederlande zu den Ländern mit den höchsten Sozialausgaben. Der Grad der Inklusion der Bevölkerung in die Systeme sozialer Sicherheit war hoch, die Leistungen waren großzügig bemessen. Der Befund überraschte damals. Zwar hatten alle westlichen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegende sozialpolitische Reformen und Innovationen auf den Weg gebracht. Aber Reformtempo und -radikalität in den beiden Ländern verblüfften die Öffentlichkeit. Denn beide, die Niederlande sehr viel mehr noch als Schweden, waren lange Zeit Nachzügler in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Nun näherte sich die niederländische staatliche Sozialpolitik in Anspruch und Wirklichkeit jedoch rasch der expansiven schwedischen an. Bald übertrafen die Sozialausgaben der beiden Länder sogar die der Bundesrepublik, des einstmaligen Pioniers. Dabei waren die schwedische und (traditionell) die niederländische Wirtschaft exportorientiert und weltmarktoffen. Die steigenden Sozialausgaben stellten offenbar keinen Wettbewerbsnachteil dar, denn die dominierenden großen Unternehmen bewährten sich sehr erfolgreich in der internationalen Konkurrenz, was Schweden und vor allem die Niederlande in den 1980er Jahren zu den führenden kapitalistischen Ländern werden ließ. Entgegen gängiger Vorbehalte müssen sich großzügige Wohlfahrtsstaatlichkeit und internationale wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit nicht widersprechen; sie können unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine ideale Verbindung eingehen. Von »übersteigerter Wohlfahrtsstaatlichkeit« kann man daher erst dann sprechen, wenn diese Verbindung gekappt ist, wenn das sozialpolitische Engagement des Staates und seine Wohlfahrtsausgaben auf längere Sicht der Wirtschaftskraft der Gesellschaft davonlaufen, und wenn keine Lösung für dieses

264 Ilona Ostner

Missverhältnis in Sicht ist, weil es an Problemlösungskapazität fehlt.1 Die 1970er und 1980er Jahre markierten auch in Schweden und in den Niederlanden eine Phase einer solchen »übersteigerten Wohlfahrtsstaatlichkeit«. Aber beiden Ländern ist es trotz wiederholter Krisen bis in die jüngste Gegenwart immer wieder gelungen, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ihre großzügige Wohlfahrtsstaatlichkeit zu schaffen und zu erfüllen. Warum und wie dies gelang, soll im Folgenden skizziert werden. Ich beginne mit dem Nachkriegskontext, in dem sich die Niederlande und Schweden von Nachzüglern zu Pionieren wohlfahrtsstaatlicher Expansion entwickelten, stelle dann die gemeinsamen Prinzipien der Modelle »Schweden« und »Niederlande« und die je spezifischen Wege der beiden Länder zu einem »Wohlfahrtskapitalismus« vor, in dem die »Dualität von Wohlfahrtsstaatlichkeit und privater Kapitalakkumulation« überwunden beziehungsweise versöhnt zu sein schien.2 Der verbleibende Teil meines Essays behandelt Gründe für die sozialpolitische Krise der 1970er und 1980er Jahre und skizziert die politischen Ideen und Mechanismen, die der schwedischen und niederländischen Politik bis heute geholfen haben, solche Krisen zu bewältigen. Jeweils ist es beiden Ländern gelungen, eine immer noch großzügige Wohlfahrtsstaatlichkeit gegenüber neuen globalen sozioökonomischen und kulturellen Herausforderungen zu behaupten. Inwieweit dies auch weiterhin gelingen wird, inwieweit Universalismus und hohe wohlfahrtsstaatliche Inklusion angesichts zunehmender sozialer Heterogenität aufrechterhalten werden können, ist freilich offen. Noch sind beide Länder Vorbilder geblieben. Man kann von ihnen aber angesichts der spezifischen, historisch gewachsenen, kulturell fundierten Politischen Ökonomie ihrer Wohlfahrtsstaatlichkeit nur bedingt lernen.

I.

Schweden und die Niederlande – von Nachzüglern zu Pionieren

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen bildeten den Motor des Aufstiegs des Wohlfahrtsstaats in Westeuropa zwischen 1945 und 1970. Hans Günter Hockerts nennt zusammenfassend drei Auslöser für das neue sozialpolitische Denken, das die bis heute einmalige Expansion staatlicher Sozialpolitik motivierte:3 1 Luhmann erklärt die expansive Dynamik des Wohlfahrtsstaats und dessen prinzipielle Nicht-

steuerbarkeit aus der Unbegrenztheit des Bedarfs an Kompensation, vgl. Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981; dazu auch Hans Günter Hockerts, Die Entwicklung vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, in: Peter A. Köhler / Hans F. Zacher (Hg.), Beiträge zu Geschichte und aktueller Situation der Sozialversicherung. Colloquium des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, Berlin 1983, S. 141–166, hier: S. 157, 159. 2 Göran Therborn, ›Pillarization‹ and ›Popular Movements‹. Two Variants of Welfare Capitalism: the Netherlands and Sweden, in: Francis C. Castles (Hg.), The Comparative History of Public Policy, Oxford 1989, S. 192–241, hier S. 237 (eigene Übersetzung). 3 Hockerts, Die Entwicklung, S. 161 f.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 265

(1) die (neuerliche, nun keynesianisch begründete) Einsicht in den wirtschaftlichen Wert der Sozialpolitik, vor allem, wenn diese die Vollbeschäftigung förderte und der wirtschaftlichen Stabilisierung diente; (2) der kriegsbedingte Siegeszug von Konzept sowie Programm der »social security«, von Roosevelt und Churchill zunächst als »positives Kriegsziel« und »moralische Waffe« formuliert, die sich (3) dann im britischen Beveridge-Plan von 1942 kristallisierten und unter anderem von der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) ab 1947 gefördert wurden.4 Beveridge und die Internationale Arbeitskonferenz von Philadelphia (1944) schlugen Reformen vor, die zum Teil von der in einigen Ländern verankerten, traditionellen Sozialversicherungslogik abwichen oder über diese hinausreichten. Vorgeschlagen wurde (1) die »Einbeziehung der gesamten Nation in die soziale Sicherung« und damit die Abkehr von einer (status-)gruppenspezifischen Sozialpolitik, wie sie für Frankreich, die Niederlande, teils auch noch für (nun West-)Deutschland oder Österreich konstitutiv war;5 ferner (2) Konzepte zur Armutsvermeidung bei Erwerbseinkommensverlust, zum Beispiel im Fall von Krankheit, Invalidität oder Alter, oder zum Schutz der Familie vor Verarmung; (3) eine organisatorische und administrative Vereinheitlichung zur Steigerung der »Verwaltungseffizienz« und effizienteren Bereitstellung von Leistungen;6 schließlich (4) die Garantie eines nationalen pauschalisierten armutsfesten Minimums (»flat national minimum«) für »jeden Bürger« (sic!) ohne Bedarfsprüfung, das mit der lohnbezogenen Differenzierung von Sozialeinkommen radikal brach,7 das allerdings, um moral hazard zu vermeiden, beitrags- und nicht steuerfinanziert sein sollte.8

Ebd., S. 143. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Hockerts betont, für mein Argument der zu gelingenden Verbindung zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit wichtig, dass der Beveridge-Plan in seiner Beschränkung auf eine Grundsicherung »nachhaltig von liberalem Gedankengut geprägt« war; Anreize zur »Eigeninitiative, Selbstvorsorge und Leistungsstreben« sollten erhalten bleiben. Ebd., in Anschluss an Peter Kaim-Caudle. 4 5 6 7 8

266 Ilona Ostner

Tabelle 1: Ausdehnung des öffentlichen Sektors 1950 und 1975, ausgewählte Länder – in Prozent des BSP.

Bundesrepublik Frankreich Großbritannien Niederlande Schweden Schweiz

1950

1975

30,8 28,4 30,4 27,0 37,5 20,8

45,6 42,4 46,1 54,3 51,0 27,4

Angaben aus Hockerts, Die Entwicklung, S. 150 f.

In diesem Kontext entwickelten sich Schweden und die Niederlande zwischen 1950 und 1970 »sprungartig«, nicht »schrittweise« zu Ländern mit einem massiv ausgedehnten öffentlichen Sektor (gemessen am Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt) und den höchsten Sozialausgaben in Westeuropa (vgl. Tabellen 1 und 2).9 Die Sozialausgaben spiegelten die hohe Inklusion der Gesamtbevölkerung in die Systeme sozialer Sicherheit, in die »Volksversicherungen« und »Arbeiterversicherungen«, und die vergleichsweise großzügigen (Einkommensersatz-)Leistungen. Beide, die neuen schwedischen und die niederländischen Systeme sozialer Sicherheit, hatten ihren Ursprung im Armenrecht des späten 19. Jahrhunderts, den sie nun mit ihrer Orientierung an den universalistischen Prinzipien des Beveridge-Plans endgültig hinter sich ließen. Tabelle 2: Sozialausgaben in Prozent des BIP – ausgewählte Länder und Jahre, 1960–2016.

Bundesrepublik Finnland Frankreich Niederlande Schweden OECD

1950

1960

1975

1980

1990

2000

2010

2016

14,8 k. A. 11,5 k. A. k. A. k. A.

16,0 8,0 13,0 10,0 11,0 k. A.

23,5 k. A. 24,1 26,8 26,2 k. A.

21,8 17,7 20,2 23,3 24,8 14,9

21,4 23,3 24,3 24,0 27,2 16,9

25,4 22,6 27,5 18,4 26,8 18,0

25,9 27,4 30,7 22,1 26,3 21,1

25,3 30,8 31,5 22,0 27,1 21,0

Angaben zu 1950 und 1975 aus Hockerts, Die Entwicklung, S. 151; zu 1960 vgl. OECD (Hg.), Social Expenditure Update (October 2016) www.oecd.org/els/Soc/OECD2016-Social-Expenditure-Update.pdf. 1980–2016: OECD (Hg.), Social Expenditure, Aggregated Data https://stats.oecd.org/Index.aspx?Data SetCode=SOCX_AGG [31.08.2018]. Sozialausgaben umfassen Geldleistungen, Güter und Dienste und Steuervergünstigungen für soziale Zwecke. »Sozial« sind die in den Ausgaben erfassten Maßnahmen, sofern sie zwischen Haushalten umverteilen oder obligatorisch sind (Pflichtversicherungen). Eigene Zusammenstellung

9 Ebd., S. 155.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 267

Die meisten westeuropäischen Länder hatten spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts typische Risiken der Lohnabhängigkeit (Einkommensverlust durch Arbeitsunfall, Altersinvalidität oder Krankheit) auf die eine oder andere Weise abgesichert: zum Beispiel durch die Einführung obligatorischer Sozialversicherungen (der deutsche Fall), durch die staatliche Anerkennung und Förderung kollektiver Selbsthilfe oder mit Hilfe von zunächst noch rudimentären Volksversicherungen (vgl. Übersicht 1). Schweden hatte bereits 1913 mit der »Volksrente« die weltweit erste universelle, nicht mehr nach Berufsgruppen differenzierende, soziale Sicherung etabliert, die nur die (ohnehin wenigen) sehr Reichen des Landes ausschloss.10 Seit den 1930ern entwickelte es sein System sozialer Sicherung allmählich, seit Mitte der 1950er Jahre forciert, so weiter, dass es immer mehr soziale Risiken (auch familienbedingte) und einen immer größeren Kreis seiner Bevölkerung, also auch die Bessergestellten, mit einheitlichen Geld-, später auch Dienstleistungen, absicherte. Ergänzt wurde diese Einkommensausfallssicherung schließlich durch einkommensbezogene Zusatzleistungen. Dabei hatte, ganz im Sinne des Beveridge-Plans, die Ausweitung und organisatorische Vereinheitlichung der lohnbezogenen sozialen Sicherheit im »goldenen Zeitalter« wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung Priorität.11 Übersicht 1: Pioniere, Nachzügler und Dynamik staatlicher Sozialpolitik*

Bundesrepublik Deutschland/

Unfallversicherung

Krankenversicherung

Rentenversicherung

1884 Pflichtversicherung für Arbeiter und Angestellte unter der Einkommensgrenze in ausgewählten Industriebetrieben 1925 Berufskrankheiten 1942 für alle abhängig Beschäftigte

1883 Pflichtversicherung für Arbeiter und Angestellte unter der Einkommensgrenze (Krankengeld, freie ärztliche Leistungen, Arznei- und Heilmittel, Wöchnerinnenhilfe) 1914 für Landarbeiter, Dienstboten 1930 Regelleistung für Familienangehörige 1941 für Rentner 1970 Lohnfortzahlung auch für Arbeiter** 1971 für Landwirte

1889 Pflichtversicherung für Arbeiter und Angestellte unter der Einkommensgrenze in ausgewählten Industriebetrieben 1911 Hinterbliebene, Angestellte 1938 selbstständige Handwerker 1957 Landwirte 1957 Dynamisierung, Lebensstandardsicherung, Umlageverfahren 1967 Aufhebung Altersgrenze für abhängig Beschäftigte 1972 flexible Altersrente, vorgezogener Renteneintritt

10 Vgl. Therborn, ›Pillarization‹ and ›Popular Movements‹, S. 207. 11 Vgl. Mats Benner / Torben Bundgaard Vad, Sweden and Denmark: Defending the Welfare

State, in: Fritz W. Scharpf / Vivien A. Schmidt (Hg.), Welfare and Work in the Open Economy. Bd. 2. Diverse Responses to Common Challenges, Oxford 2000, S. 399–466, hier: S. 404, 406.

268 Ilona Ostner

Unfallversicherung

Krankenversicherung

Rentenversicherung

Niederlande

1901 Pflichtversicherung für ausgewählte Industriebetriebe (Arbeiterentschädigungsgesetz) 1921 für alle nichtlandwirtschaftlichen Betriebe 1967 Invalidengesetz: ausgedehnte Erwerbsunfähigkeitsversicherung ***

1930 Pflichtversicherung mit Einkommensgrenzen, nur Krankengeld 1941 auch Sachleistungen 1967** Volksversicherung gegen chronische Krankheiten

1913 provisorische Invalidenund Altersrente, umgesetzt 1919 (mit Bedürftigkeitsprüfung) 1956 Volksversicherung für Altersrenten, Hinterbliebene 1967 Invalidengesetz

Schweden

1901 Haftpflicht für Industriebetriebe 1927 Pflichtversicherung 1929 Berufskrankheiten 1955 Berufsschadenversicherung

1891 Subventionierung freiwilliger Versicherung 1955 Volksversicherung (durch Ausdehnung der staatlichen Subvention auf alle; einkommensbezogenes Krankengeld), Lohnfortzahlung **

1913 Volksrente für Alter und Invalidität (graduierte Leistung plus bedarfsgeprüfte Ergänzungsleistung) 1946 Volksrente (bedingungslose, universelle, einheitliche Leistung) 1959 Zusatzpflichtversicherung mit einkommensbezogenen Leistungen 1969 bedarfsgeprüfter Zuschlag zur Volksrente

*Hinter den Daten und Bezeichnungen verbergen sich sehr unterschiedlich ausgestaltete Programme **Lohnfortzahlung (Ersatzrate 70–100 %) mit oder ohne (BRD) Karenztage *** Die Erwerbsunfähigkeit in den Niederlanden ist durch die drei Systeme abgesichert Eigene Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen, insb. Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a. M. 21987, S. 233 f.; Peter Baldwin, Politics of Social Solidarity. Class Bases of the European Welfare State 1875–1975, New York 1990, S. 134 f. und Abram de Swaan, Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 232 f.

Überraschend waren, wie einleitend bemerkt, vor allem die Radikalität und das Tempo der niederländischen Entwicklung zum ausgebauten westeuropäischen Wohlfahrtsstaat seit Ende der 1950er Jahre, waren die Niederlande doch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch Nachzügler in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung gewesen (Übersicht 1). Absicherungen typischer Risiken des Einkommensverlusts waren, soweit vorhanden, lückenhaft und folgten religiösen-säkularen Spaltungslinien.12 Das änderte sich in der Nachkriegszeit. Inspiriert vom Beveridge-Report führten die Niederlande in den 1950er Jahren einheitliche »Volks12 Vgl. Kees van Kersbergen / Uwe Becker, The Netherlands: A Passive Social Democratic Welfare State in a Christian Democratic Ruled Society, in: Journal of Social Policy 17 (1988), S. 477–499, S. 482 f.; Robert E. Goodin / Anneloes Smitsman, Placing Welfare States: The Netherlands as a Crucial Test Case, in: Journal of Comparative Policy Analysis 2 (2000), S. 39–64, S. 43;

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 269

versicherungen« (Grundsicherungen) für Hinterbliebene (Witwen und Waisen), Rentner (universalisiert 1957) und Familien (Kindergeld) ein. Als zweite Säule wurden »Arbeiterversicherungen« gegen den Einkommensverlust bei Krankheit (1946), Arbeitslosigkeit (1949) und Erwerbsunfähigkeit (1967) etabliert. Ergänzt wurde das System 1965 durch eine dritte Säule, der Sozialhilfe.13 Geldleistungen im Fall von Arbeitslosigkeit oder Krankheit waren lohnbezogen (70–80 Prozent des Lohns), im Altersfall einheitlich (flat-rate) am Mindestlohn ausgerichtet (100 Prozent des Mindestlohns für Paare, 70 Prozent für Alleinstehende).14 Jedenfalls war die niederländische Sozialpolitik Ende der 1960er Jahre in Art und Umfang »schwedischer« geworden. Diese Entwicklung erschwert übrigens bis heute eine Einordnung des niederländischen Wohlfahrtsstaats in die bekannte Typologie Esping-Andersens.15 Deshalb wird er meist als »hybrid« bezeichnet.16 Kategorisiert man ihn auf der Grundlage seiner historischen Entwicklung sowie der relevanten Leitideen, Interessen (Akteurskonstellationen) und Institutionen, erscheint der niederländische Wohlfahrtsstaat als »korporatistisch« und ähnelt dem Sozialstaat der Bundesrepublik.17 Betrachtet man dagegen die zentralen Charakteristika der verschiedenen Sozialpolitiken (zum Beispiel Inklusionsgrad, Universalismus, Einheitlichkeit der Leistungen, Lohnersatzraten oder Relevanz von Bedarfsprüfungen), dann gehören die Niederlande dem »sozialdemokratischen« Wohlfahrtsstaatstypus an (Prototyp Schweden). Die hohe Relevanz von Mindestsicherungen rückt das niederländische System der Einkommenssicherung auf den ersten Blick wiederum in die Nähe des »liberalen« Modells (Prototyp USA). Tatsächlich befanden sich die Niederlande seit den 1970er Jahren aber auf dem Weg zu einem Grundeinkommen für alle Bürger, also zum Universalismus im Einkommenssicherungsbereich. Dazu passt, dass es der niederländischen Sozialpolitik gelang, recht effizient Armut zu verringern und die Einkommensungleichheit einzudämmen – und dies trotz vergleichsweise niedriger Erwerbsbeteiligung, insbesondere der Frauen (Tabelle 3).18

Wim van Oorschot, The Dutch Welfare State: Recent Trends and Challenges in Historical Perspective, in: European Journal of Social Security 8 (2006), S. 57–76, S. 59. 13 Zur Erinnerung: Ein (allerdings weniger großzügiges) Recht auf Sozialhilfe wurde in der Bundesrepublik 1961 mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) etabliert. 14 Goodin/Smitsman, Placing Welfare States, S. 50; van Oorschot, The Dutch Welfare State, S. 64. 15 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. 16 van Oorschot, The Dutch Welfare State, S. 57. 17 So auch Esping-Andersen. Vgl. zum Folgenden Goodin/Smitsman, Placing Welfare States, S. 40, 48 f.; die beiden Autoren hinterfragen die Herangehensweise Esping-Andersens und kommen auf überzeugende Weise zu anderen Zuordnungen. 18 Uwe Becker, Welfare state development and employment in the Netherlands in comparative perspective, in: Journal of European Social Policy 10 (2000), S. 219–239, hier: S. 228.

270 Ilona Ostner

Tabelle 3: Wohlfahrtsregimespezifische Armut, Einkommensungleichheit und Erwerbsbeteiligung (1987) Bundes­ republik (»konservativ«)

Niederlande (»hybrid«)

Schweden (»sozialdemokratisch«)

USA (»liberal«)

Armutsquoten vor Transfers nach Transfers

24,2 7,3

23,4 5,3

k. A. 7,6

21,8 18,4

Einkommensungleichheit Gini Dezil-Verhältnis (90:10)

0,250 3,2

0,268 2,8

0,220 2,7

0,341 6,0

Erwerbsbeteiligung in Prozent der Bevölkerung Männer Frauen

79,9 51,9

75,0 43,1

83,9 79,4

85,3 66,0

Angaben aus Goodin/Smitsman, Placing Welfare States, S. 56 [Auszug]. Eigene Zusammenstellung

II. Triebkräfte wohlfahrtsstaatlicher Expansion 1950–1970 Der wissenschaftliche und technische Fortschritt, demographische Veränderungen, steigende Lebenserwartung, Geburtenrückgang und der »Aufbruch« der Frauen in die Erwerbswelt bildeten wesentliche Triebkräfte der Nachkriegsexpansion staatlicher Sozialpolitik in allen Staaten Westeuropas. Allerdings wäre die Ausweitung der Sozialausgaben »ohne den beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung«, den nicht nur die Bundesrepublik erlebte, unmöglich gewesen.19 Das stetige Wirtschaftswachstum verbreiterte die Steuerbasis (»Expansion des Steuerstaates«), erhöhte öffentliche Ressourcen und verbesserte dadurch die Möglichkeit, die steigenden Ausgaben nun auch (längerfristig, so der Glaube damals) zu finanzieren. So erlaubten diese günstigen Umstände Ende der 1950er Jahre den Niederlanden, Schweden ebenso wie zum Beispiel der Bundesrepublik, die länger anvisierte, aber kostenträchtige »sozialpolitische Absicherung des Lebensstandards« endlich zu verwirklichen.20 Der ökonomische Strukturwandel nach dem Krieg (endgültig weg vom primären, hin zum sekundären und verstärkt zum tertiären Sektor) war mit einer »ständig steigenden Arbeitnehmerquote«, also der, wie es Hockerts zutreffend bezeichnet, »Verallgemeinerung der abhängigen Arbeit« verbunden.21 Damit 19 Hockerts, Die Entwicklung, S. 152. 20 Ebd., S. 153. Vgl. zur Etablierung der Lebensstandardsicherung in Schweden Peter Baldwin,

The Politics of Social Solidarity. Class Bases of the European Welfare State 1875–1975, New York 1990, S. 222. 21 Hockerts, Die Entwicklung, S. 153.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 271

wuchs die Nachfrage nach (stetig zu verbessernder) sozialer Sicherung für das wachsende Heer der Lohnabhängigen. Denn immer mehr gesellschaftliche Gruppen sahen sich nun vergleichbaren Risiken ausgesetzt und dies bei sinkender Fähigkeit, diese Risiken selbst durch das Erwerbseinkommen abzusichern. Daher schwand in vielen westeuropäischen Ländern (so zum Beispiel in Frankreich, der Bundesrepublik, den Niederlanden oder in Schweden) der Widerstand des »selbstständigen Mittelstandes«, der Gewerbetreibenden, Handwerker oder Landwirte, auch der bessergestellten Angestellten, gegen eine Pflichtversicherung, auch gegen deren Vereinheitlichung (zur sukzessiven Einbeziehung dieser Gruppen in die soziale Sicherung, vgl. Übersicht 1). Peter Baldwin beschreibt das Zusammenspiel von eigener (beziehungsweise gruppenspezifischer) Risikobetroffenheit und der eigenen (beziehungsweise gruppenspezifischen) Fähigkeit, Risiken selbst abzusichern, als Hindernis für die / oder als Motor der (in ihrem Umfang nie klar zu definierenden) Umverteilung, die eine expandierende staatliche Sozialpolitik notwendig begleitet. Solange sich staatliche Sozialpolitik auf Bedarfe ausgewählter, meist gesellschaftlich und politisch schwacher Gruppen konzentriert, solange also die Hilfe zielgruppenspezifisch (kategorial), subsidiär (nachrangig, das heißt selbsthilfeorientiert) und bedarfsgeprüft gewährt wird, solange ferner unterstellt wird, dass Selbstständige und gut verdienende oder bessergestellte Mittelschichten sich selbst gegen Risiken absichern können (wenn auch oft steuerlich gefördert), entsteht keine moderne universalistische Wohlfahrtstaatlichkeit, die alle Bürger gleichermaßen einbezieht.22 Dieses »Solange« bestimmte die soziale Staatstätigkeit in vielen westeuropäischen Ländern bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, so in den Niederlanden, in Schweden, auch in Frankreich. Erst die Nachkriegssozialpolitik Westeuropas entfernte sich endgültig von ihrer Herkunft aus der Politik für spezifische Gruppen, insbesondere für Arme. Dies gelang, indem (nun horizontal gedacht) soziale Risiken und Risikogruppen, nicht mehr (vertikal) sozioökonomische Klassen und deren Armut, Not oder Mangellage, zur hauptsächlichen Basis »solidarischer« Reformen und Sicherungen wurden. Weil, so Baldwin, »Risiko« von »Bedürftigkeit« oder »Klassenlage« als Begründung staatlicher Sozialpolitik abgekoppelt und zur entscheidenden Rechtfertigung für staatliche Sozialpolitik wurde, verbreiterte sich die gesellschaftliche Interessensbasis für die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung in Westeuropa.23 Je stärker die Mittelschichten ihre Sicherheitsinteressen in der staatlichen Sozialpolitik vertreten sahen, sie also von ihr dauerhaft und nicht mehr nur punktuell, wenn überhaupt profitieren konnten, umso größer war ihre Bereitschaft, die Expansion der Sozialprogramme und -ausgaben zu unterstützen. Schließlich hatten sie jetzt, wie alle Bürger, ein Recht auf soziale (Risiko-Ab-)Sicherung; dagegen erhielten arme Bedürftige, die – aus welchen Gründen auch immer – aus 22 Baldwin, The Politics. 23 Ebd., S. 26 f.

272 Ilona Ostner

dem weit gespannten Netz der sozialen Risikoabsicherung herausfielen, Hilfe erst nach eingehender Prüfung und nach Ermessen. Nicht alle Risiken betrafen alle Bürger gleichermaßen: Armut nicht, Arbeitslosigkeit auch nicht, vor allem nicht die wiederholte oder anhaltende. Bestimmte sozialpolitische Maßnahmen fanden daher besonderen Anklang in den Mittelschichten, was sich bis heute in Umfragen zu Einstellungen der Bevölkerung zu bestimmten Sozialpolitiken zeigt. Andere, spezifischere Risiken betrafen eher einzelne Gruppen von Industriearbeiten und Tagelöhnern. »Familie«, »Elternschaft«, zum Beispiel, betraf dagegen alle und war ein wenig spezifisches kollektives Risiko im Erwerbstätigenleben. Die Ausdehnung der staatlichen Familienpolitik (der Transfers und der sozialen Dienste für Familien) seit den 1960er Jahren war (und ist bis heute) »mittelschichts«getrieben.24 Dies galt auch für die »lebensstandardsichernde« Sozialpolitik, so für die Lohnfortzahlung anstelle des knappen Krankengelds (vgl. Übersicht 1) und für die verschiedenen Rentenreformen der 1950er Jahre und folgende. Dieses Zusammenspiel von Inklusion der Mittelschichten und Entwicklung moderner umfassender Wohlfahrtsstaatlichkeit wird, so Baldwin, oft übersehen »Only occasionally has the bourgeois orientation of much social policy been recognized as an inherent aspect of the welfare state and then only sporadically, usually expressed with the insight that measures with something to offer also middle classes are politically more robust than those catering solely to the poor and dispossessed«.25

III. Der schwedische und der niederländische Weg zum universalistischen Wohlfahrtsstaat bis Ende der 1960er Jahre Wirtschaftswachstum, Verallgemeinerung der Lohnarbeit, Verbesserung der Staatsfinanzen und Inklusion der breiten Mittelschicht in die staatliche Absicherung der typischen Wechselfälle des Lebens erklären die wohlfahrtsstaatliche Expansion der 1950er und 1960er Jahre und deren Unterstützung durch die Bevölkerung in vielen westeuropäischen Ländern. Die Entwicklung zur umfassenden Wohlfahrtsstaatlichkeit verlief jedoch sehr unterschiedlich je nach politischen Kräfteverhältnissen, Politiktraditionen und institutionellem Erbe. Bekanntlich und Baldwins Argument folgend können »bürgerliche«, zum Beispiel christdemokratische, Parteien ebenso offen für eine expansive staatliche Sozialpolitik sein wie »linke«, zum Beispiel sozialdemokratische. Sie unterschieden sich allerdings bis Ende der 1990er Jahre in der Wahl der Mittel: eher Geld24 Ebd., S. 27. In Frankreich, dem Pionier staatlicher Familienpolitik, ging es historisch um den

Schutz der arbeitenden Mütter und ihrer Kinder. In den Niederlanden und in England bestimmte lange Zeit die Tradition des Armenrechts die Hilfen für Familien. 25 Ebd.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 273

transfers (die »Bürgerlichen«) als Dienstleistung (die »Linken«), eher Förderung von Ehe und Familie (»Konservative«) als Förderung der Erwerbsarbeit für alle (»Linke«) und so weiter. Ungeachtet der gewählten Mittel stiegen jeweils die Sozialausgaben.26 Die Niederlande und Schweden beschritten nach dem Krieg diese beiden grundverschiedenen Wege zum modernen Wohlfahrtsstaat – allerdings, wie in Tabelle 3 angedeutet, mit vergleichbar gutem gesellschaftlichem Ergebnis und mit Hilfe althergebrachter Formen der Konsensfindung. Dieser moderne Wohlfahrtsstaat entstand in beiden Ländern aus einem außergewöhnlichen Zusammenspiel von kapitalistischer Entwicklung und älteren gesellschaftlichen Strukturen und Kräften, das zunächst die Expansion staatlicher Sozialpolitik verhinderte, diese später aber begünstigte. Erst der Niedergang beziehungsweise die Umwandlung dieser »konservativen«, gegen eine Expansion gerichteten Kräfte in eine Pro-Wohlfahrtsstaat-Koalition beförderte den Wohlfahrtsstaat in Schweden und den Niederlanden.27

(1) Schweden Schweden hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine soziale Sicherung vor dem Hintergrund der deutschen (»Bismarckschen«) Sozialgesetzgebung und Sozialversicherung mit ihrem spezifischen Fokus auf städtische Industriearbeiter diskutiert und entwickelt. Aber anders als in Deutschland sollten in Schweden noch jahrzehntelang »ländliche« Interessen, vor allem die der selbstständigen Bauern und ländlichen Handwerker, den Ausgang des politischen Wettbewerbs um sozialpolitische Lösungen und deren Finanzierung entscheiden.28 Die von der Regierung und den Sozialdemokraten angedachte obligatorische Sozialversicherung (Alters- und Invaliditätsrente) sollte nur die städtischen Arbeiter einschließen, wurde daher von den noch mächtigen Vertretern des »Landes« blockiert. Letztere favorisierten ein universalistisches Programm der Absicherung des Alters, das auch sie einschloss, das ferner keine Arbeitgeberbeiträge, von denen sie betroffen gewesen wären, erhob, sondern die Finanzierung durch allgemeine Steuern sicherte und dadurch auf alle Schultern, vor allem auch auf die der städtischen Steuerzahler, verteilte.29 Diese ländlichen Interessen setzten sich im Volks26 Dazu ausführlich Harold L. Wilensky, Leftism, Catholicism, and Democratic Corporatism: The Role of Political Parties in Recent Welfare States, in: Peter Flora / Arnold J. Heidenheimer (Hg.), The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick 1981, S. 345–392, hier: S. 345 f. 27 Während der Historiker Baldwin, The Politics, die tragende Rolle der Mittelschichten und der sie vertretenden Konservativen für die Entwicklung des schwedischen Wohlfahrtsstaats detailliert herausarbeitet, unterschätzt der Soziologe Therborn, ›Pillarization‹, systematisch deren Beitrag, überschätzt dagegen die Rolle von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie. 28 Therborn, ›Pillarization‹, S. 217 f. 29 Vgl. Baldwin, The Politics, S. 87, 93; Therborn, ›Pillarization‹, S. 207.

274 Ilona Ostner

rentengesetz von 1913 durch.30 Die Absicherung des Einkommensverlusts im Krankheitsfall blieb noch Jahrzehnte eine Angelegenheit freiwilliger Vorsorge, sie wurde jedoch steuerlich gestützt. »Deal«s, »Politikgeschäfte«, zwischen konservativ-ländlichen und städtischen sozial-liberalen Kräften sollten auch zukünftig über die sozialpolitische Entwicklung Schwedens entscheiden. Dies zeigte sich wieder in den 1930er Jahren. Allerdings bewirkte die Allianz nun einen Richtungswechsel in der Sozialpolitik, der die Schwerpunkte des zukünftigen schwedischen Wohlfahrtsstaats vorzeichnete. Die Depression hatte die Arbeitslosigkeit auf die politische Agenda gesetzt und die Sozialdemokraten an die Regierung gebracht.31 Nun gewannen alte (lutherische) Ideen, die von Konservativen wie Linken und vor allem von der Landbevölkerung geteilt wurden und bis heute dem schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell zugrunde liegen, politische Bedeutung: Ideen des Vorrangs der Arbeit vor der Geldleistung sowie der Hilfe zur Arbeit. Diese Ideen motivierten umfassende öffentliche Maßnahmen der Aktivierung der Arbeitslosen, vor allem der geringqualifizierten. Die Vertreter des »Landes« unterstützten die von den Sozialdemokraten geforderte Anhebung der niedrigen Löhne Unqualifizierter sowie öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; im Gegenzug blieb die Landwirtschaft weiterhin geschützt und die Arbeitsbereitschaft bedürftiger Hilfeempfänger streng kontrolliert. Gleichzeitig entdeckte die politische Elite – Ideengeber waren hier vor allem Gunnar und Alva Myrdal32 – die »Bevölkerungsfrage« und das Volk als »soziale Ressource«.33 Geburtenrückgang und Emigration sollten aufgehalten, die Bevölkerung nicht nur wachsen (quantitativ), sondern ihr Potential entwickelt, Ehe und Kinderhaben für Frauen attraktiver und die Qualität der Kinder und der Umwelt, in der diese aufwuchsen, verbessert werden.34 Die 1930er Jahre bildeten den Auftakt eines bis heute virulenten spezifisch schwedischen social engineering, einer expertengetriebenen Steuerung der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung, in der die Eliten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft konsensuell bestimmten, was dem Gemeinwohl diente.35 Einige 30 Therborn, ›Pillarization‹, S. 218: »The radical yeoman tradition with its conception of far-

mer-worker equality had won farmers’ support for people’s pensions, but for the rest, the ancient concern with public thrift was enshrined in the (…) general rural culture of the country. There was still a significant non-monetarised economy, not only among farmers and farm workers, but also for workers for the combined enterprises of forestry, timber processing and iron and steel-making who were paid partly in kind«. 31 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 218 f. 32 Vgl. z. B. Alva Myrdal, Nation and Family, New York 1941; Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal. Social Engineering in Schweden. Bielefeld 2011. 33 »The population was a social resource, the quality as well as the quantity of which had to be enhanced«, Therborn, ›Pillarization‹, S. 219. 34 Ebd. Anders als Schweden sahen die Niederlande nach dem Krieg den Bevölkerungszuwachs als »burden«. 35 Vgl. zur langen Tradition des schwedischen »social engineering«: Thomas Etzemüller, Die Romantik des Reißbretts. Social engineering und demokratische Volksgemeinschaft in Schwe-

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 275

der ergriffenen Maßnahmen erscheinen aus heutiger Sicht für die damalige Zeit »feministisch«: unter anderem die Abschaffung frauenspezifischer Lohngruppen vor allem im Öffentlichen Dienst, die Liberalisierung von Verhütung und Abtreibung, die Einführung des Mutterschaftsgeldes, Vorsorgeuntersuchungen für Mütter und Säuglinge; andere eher pronatalistisch, so zum Beispiel die günstigen Darlehen für junge Paare, Hilfen, unter anderem Sozialwohnungen, für Kinderreiche, teils waren sie negativ eugenisch, wie die Zwangssterilisationen, die erst in den späten 1970er Jahren abgeschafft wurden.36 Schwedens Durchbruch zum Pionier moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit nach dem Krieg war jedenfalls in den Aktivitäten der Ende der 1930er Jahre eingerichteten Bevölkerungs- und der Sozialreformkommission bereits vorgezeichnet. Der wichtigste Schritt auf dem Weg zum spezifisch schwedischen egalitär-universalistischen Wohlfahrtsstaat, der mit dem Äquivalenzprinzip radikal brach, also jede Beziehung zwischen Beitrag und Leistung auflöste, bildete das Rentengesetz von 1946. Es garantierte anders als die Volksrente von 1913 nun allen Bürgern, also auch den wohlhabenden, eine bedingungslose, einheitliche Leistung (Grundsicherung). Nach wie vor gab es bedarfsgeprüfte Zusatzleistungen; das dominante Prinzip der Leistungsgewährung war von jetzt an jedoch der Rechtsanspruch des Bürgers, nicht mehr seine Bedürftigkeit. Alle Parteien, konservativ, liberal oder links, befürworteten eine Erhöhung der Rente und die Abschaffung der Bedarfsprüfung, da diese, so die Überzeugung der Protagonisten, die Selbsthilfefähigkeit beeinträchtigte und zum Betrug einlud.37 Der wohlfahrtsstaatliche Universalismus kam zudem den Interessen der Konservativen entgegen, gewährte er doch den eigenen Anhängern gleiche Leistungen und verteilte deren Kosten breit auf die Schultern der Masse der Lohnabhängigen. Typisch für universalistische Wohlfahrtspolitik bediente er auch diejenigen, die Hilfe am wenigsten brauchten – ein Dilemma für die Sozialdemokraten damals.38 Die neue Volksrente wurde hauptden, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 445–466, hier: S. 445 f.; Sven Steinmo, Governing as an Engineering Problem: The Political Economy of Swedish Success, in: Armin Schäfer / Wolfgang Streeck (Hg.), Politics in the Age of Austerity, Oxford 2013, S. 84–107 hier: S. 84 f.; zur »top-down« Steuerung des Volkes durch unangefochtene Staatskirche und lokalen Pfarrern als Vertretern der Krone: Heiko Droste, Das schwedische Volksheim – ein Erbe frühzeitlicher Staatsbildung, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne, Frankfurt a. M. 2008, S. 129–148, hier: S. 129 f. 36 Gunnar Broberg / Mattias Tydén, Eugenics in Sweden: Efficient Care, in: Gunnar Broberg / Nils Roll-Hansen (Hg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996, S. 77–149, hier: S. 77 f. 37 Ähnlich und aktueller: Bo Rothstein, The Universal Welfare State as a Social Dilemma, in: Rationality and Society 13 (2001), S. 213–233, hier: S. 213 f. 38 Peter Baldwin, The Politics, S. 143, bezeichnet die »universalistische Reform« nach dem Krieg zutreffend als »a feast with something for every appetite, bringing all to the table, [while] the bill still had to be paid«. In der Fußnote 144 zu seinen Ausführungen auf derselben Seite zitiert er aus Erinnerungen der damals beteiligten Akteure: »That pensions were not conditional on means tests, was largely the work of the Conservatives, M. Skoglund and A. Hagård. This

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sächlich aus allgemeinen Steuern finanziert, die Ausweitung der Sozialausgaben, zum Beispiel für die Allgemeine Krankenversicherung (1955), die Arbeitsunfallversicherung (1955) und die einkommensbezogene Zusatzrente (1959), später für den Mutterschutzurlaub (1963) sowie das Elterngeld (1973) dagegen durch steigende Lohn- und Konsumsteuern sowie Arbeitgeberbeiträge. Der egalitär-universalistische Wohlfahrtsstaat, der nun Gestalt annahm, bildete die eine Säule des weltweit bestaunten schwedischen Modells – die andere eine von der schwedischen Sozialdemokratie beförderte besondere politische Ökonomie. Damit ist eine spezifisch schwedische Form der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gemeint, die alles andere als sozialistisch, sondern die vielmehr darauf ausgelegt war, die Interessen und Bedarfe der schwedischen Unternehmen, die sich im internationalen Wettbewerb bewähren mussten, zu bedienen. »Rather than fight against capitalism and capitalists, the Swedish Social Democrats decided to work with the system«.39 Verschiedene Faktoren, strukturelle, ideelle und institutionelle, waren für das »Modell Schweden« konstitutiv, legten diese kapitalismusfreundliche Strategie nahe und ermöglichten sie auch. Zu den förderlichen Faktoren kann man das Gewicht der wenigen großen, international agierenden schwedischen Unternehmen seit Ende des 19. Jahrhunderts zählen, ferner die geringe Bevölkerungszahl und die hohe soziale und kulturelle, vor allem auch konfessionelle, Homogenität im Land, damit verbunden gemeinsame Werthaltungen, so die Idee des »guten Wirtschaftens«, wozu Arbeit- sowie öffentliche und private Sparsamkeit gehörten. Schließlich wurde das »Modell« institutionell durch typisch schwedische Formen der korporatistischen und zugleich technokratischen politischen Steuerung gestützt. Der Politikwissenschaftler Sven Steinmo erinnert an die alten Wahlregeln, die bis in die 1970er Jahre galten und die die jeweils an die Macht gekommene Partei durch Zusatzmandate begünstigte (zunächst die Konservativen, dann, ab den 1950ern, die Sozialdemokraten), ferner an die enge Kooperation zwischen den großen Unternehmen beziehungsweise ihres Dachverbands SAF, der LO (der »Landesorganisation«, dem Dachverband der ursprünglich arbeiterbewegungsnahen Gewerkschaften) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) sowie an die Bereitschaft der »Sozialpartner«, Probleme mit aktiver Hilfe von Experten technokratisch, in diesem Sinne »entpolitisiert«, zu lösen. Was zählte, war das Politikergebnis, weniger der demokratische Prozess der Entscheidungsfindung.40 was just and right, but also expensive. A worried Conservative asked me if it was true that even Wallenberg [Mitglied der reichsten und einflussreichsten Familiendynastie Schwedens, I. O.] would get a pension. ›Absolutely‹, I answered. ›He may need one if this tax policy continues‹«. 39 Steinmo, Governing, S. 86; ähnlich Mats Benner / Torben Bundgaard Vad, Sweden and Denmark: Defending the Welfare State, in: Fritz W. Scharpf / Vivien A. Schmidt (Hg.), Welfare and Work in the Open Economy. Bd. 2. Diverse Responses to Common Challenges, Oxford 2000, S. 399–466, hier: S. 401. 40 Steinmo, Governing, S. 86 f. Hier kommt die klassische Unterscheidung zwischen input und output Legitimation der Politikergebnisse ins Spiel: das Demokratiedefizit (fehlende Beteili-

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 277

Ein wichtiges Element des schwedischen Modells war das traditionelle (bereits 1938 formalisierte) zentralisierte Tarifverhandlungssystem.41 Es setzte im Interesse der großen exportorientierten Unternehmen auf Lohnzurückhaltung und drängte weniger oder nicht mehr profitable (vor allem inländisch agierende, oft kleinere) Firmen, die sich die vergleichsweise hohen Löhne der hegemonialen Unternehmen nicht leisten konnten, vom Markt. Dadurch trugen die Beschäftigten die Hauptlast der Folgen fortwährender wirtschaftlicher Anpassung. Diese Schieflage zulasten der Lohnabhängigen erklärt die traditionell große Bedeutung der Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik in Schweden und den Vorrang der erwerbsabhängigen Sozialleistungen und ihres Ausbaus. Zum Modell zählte auch das schwedische Nachkriegssteuersystem, das ebenfalls darauf ausgelegt war, profitable Unternehmen auf Kosten der schwachen zu konsolidieren, den Anteil der Steuern auf Lohneinkommen und der Konsumsteuern an der Finanzierung der Sozialausgaben kontinuierlich auszuweiten und zugleich die Steuerprogression, folglich die redistributiven Effekte des Systems, zu erhöhen.42 Wieder waren es die Lohnabhängigen, die die Hauptlast der Steuerpolitik trugen: »Swedish capital enjoyed one of the lightest tax burdens in the advanced world, while Swedish workers bore the heaviest tax burden in the world […]«.43 Die Regierung begann auch die Frauenerwerbsbeteiligung zu fördern, ohne dass dies vom normalen Partei- oder Gewerkschaftsmitglied (im Unterschied zu den politischen Eliten) gefordert worden wäre (eine nennenswerte Frauenbewegung gab es noch nicht). Für dieses Ziel wurden 1970 die gemeinsame Besteuerung von Paaren abgeschafft, die Besteuerung also individualisiert, 1974 die Elternversicherung, die Elternzeit und -geld gewährte, eingeführt und Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder erwerbstätiger (nicht arbeitsloser!) Eltern ausgebaut. Die Mobilisierung der Frauen diente damals in erster Linie der flexiblen Anpassung an flukturierende Arbeitskräftebedarfe, nicht dem abstrakten Ziel einer Geschlechtergleichheit.44 Denn Schweden wollte anders als zum Beispiel die Bundesrepublik in den 1960er Jahren, diese Bedarfe nicht durch temporäre gung der Bürger = input) des technokratischen Politikprozess wird durch das für alle vorteilhafte Politikergebnis (output) legitimiert. 41 In der Literatur wird es meist nach seinen Protagonisten »Rehn-Meidner«-Modell genannt, vgl. Steinmo, Governing, S. 87. 42 Benner/Bundgaard Vad, Sweden and Denmark, S. 402. 43 Steinmo, Governing, S. 88. »… in the late 1950s the Social Democrats introduced consumption taxation even though there was no immediate fiscal pressure … Unsurprisingly, the labour unions and the working class in general were opposed to the introduction of a new tax that explicitly would burden them the most. But the government … was able to push through this regressive tax …« Ebd. 44 Zur Tradition des technokratischen Blicks auf Frauen, zunächst bei Gunnar und Alvar Myrdals, dann aktuell bei Esping-Andersen, vgl. Gøsta Esping-Andersen, Towards the Good Society, Once Again?, in: ders. u. a. (Hg.), Why We Need a New Welfare State, Oxford 2002, S. 1–25, hier: S. 1 f., insb. S. 9 f., kritisch dazu Ilona Ostner, Kinder und Frauen zuerst!? Ein Review-Essay, in: Zeitschrift für Sozialreform 50 (2004), S. 211–217, hier: S. 211.

278 Ilona Ostner

Zuwanderung decken, weil Zuwanderer, historisch vor allem aus Finnland oder Norwegen, relativ rasch ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhielten.45 Tabelle 4 illustriert den Zusammenhang zwischen steigender Frauenbeschäftigung und gebremster Einwanderung in Schweden zwischen 1960 und 1975. Die Frauenerwerbsquote (Frauen im Alter 16–64) stieg von fünfzig Prozent zu Beginn der 1960er Jahre auf über achtzig Prozent 1990, während die der Männer im gleichen Zeitraum von 89 auf 85 Prozent sank.46 Tabelle 4: Frauenbeschäftigung und Einwanderung. Anteil weiblicher Beschäftigter an männlicher Beschäftigung in Prozent Bundesrepublik Frankreich Schweden

Durchschnittliche jährliche Einwanderung pro 100 Personen

1960

1970

1960–1975

2000

0,60 0,50 0,51

0,56 0,55 0,65

1,16 0,59 0,50

0,78 0,84 0,91

Quelle: Jordan, Mothers, Wives, and Workers, S. 1117 (eigene Übersetzung)

Das schwedische Modell wollte die Wohlfahrt der Bürger durch Wirtschaftswachstum, kontinuierliche Erwerbschancen und stetige, aber moderate Lohnzuwächse fördern, nicht durch die übliche Umverteilung von Kapital zu Arbeit oder durch arbeitgeberfinanzierte Sozialprogramme.47 Investiert wurde folgerichtig in Bildung, Gesundheit und Kinderbetreuung. Die korrespondierenden öffentlichen sozialen Dienste expandierten, Ausgaben für diese Bereiche stiegen kontinuierlich. Jedenfalls gehörte Schweden zu Beginn der 1970er Jahre zu den weltweit reichsten und zu den egalitärsten westlichen Ländern. Es hatte Armut erfolgreich bekämpft und besaß ein gut gebildetes flexibles Arbeitskräftepotential. Finanziert wurde dieser – im internationalen Maßstab immer noch moderate (keineswegs »übersteigerte«) – Wohlfahrtsstaat überwiegend durch Lohnsteuern der unteren und mittleren Schicht. Dies war unproblematisch, weil (und solange wie) das Modell die Zwei-Verdiener-Haushalte der Mittelschichten durch gesicherte 45 Steinmo, Governing, S. 88 f. mit Hinweis auf Jason Jordan, Mothers, Wives, and Workers: Explaining Gendered Dimensions of the Welfare State, in: Comparative Political Studies 39 (2006), S. 1109–1132, hier: S. 1109 f. Außerdem folgerte das Finanzministerium, dass: »(A)dmitting women to the workforce (…) would develop a more flexible labour force that would prove to have fewer social problems for society«, zitiert in Steinmo, Governing, S. 89. Die Mitglieder der SAP mussten allerdings von der Nützlichkeit der Förderung der Frauenerwerbsarbeit erst überzeugt werden, vgl. ebd., Fußnote 7, S. 291. 46 Anita Nyberg, Women and Men’s Employment in the Recessions of the 1990s and 2000s in Sweden, in: Revue de l’OFCE 2014, S. 303–334, S. 310. Beide Quoten fielen rezessionsbedingt Mitte der 1990er Jahre erheblich. Seitdem haben sich beide wieder erholt und sich stark angenähert, verlaufen also fast parallel, ohne dass die männliche Quote den Vorrezessionswert wieder erreicht hätte (letzter ermittelter Wert 2013), ebd. 47 Steinmo, Governing, S. 89.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 279

Erwerbsperspektiven und großzügige, egalitäre wohlfahrtsstaatliche Leistungen, die die vergleichsweise hohen Steuern kompensierten, begünstigte. Der Politologe Bo Rothstein spricht von einer systemisch notwendigen win-win-Situation für die steuerzahlende Mittelschicht, die in Schweden lange Zeit bestand, und erklärt dies durch den besonderen redistributiven Effekt des universalistischen (schwedischen) Wohlfahrtsstaates, den er an einem fiktiven Beispiel illustriert (Tabelle 5).48 Tabelle 5: Die umverteilende Wirkung des universalistischen Wohlfahrtsstaats. Einkommensgruppe (Quintile) A (20 Prozent) B (20 Prozent) C (20 Prozent) D (20 Prozent) E (20 Prozent) Verhältnis A&E

Durchschnittseinkommen

Steuerrate 40 %

Transfereinkommen

Einkommen nach Steuer und Transfers

1000 800 600 400 200 5/1

400 320 240 160 80 (= 1200)

240 240 240 240 240 (1200/5 = 240)

840 720 600 480 360 2.33/1

Quelle: Rothstein, The Universal Welfare State as a Social Dilemma, S. 218 (eigene Übersetzung).

Rothstein teilt die Einkommensbezieher der Einfachheit halber in fünf gleich große Gruppen (A–E), wobei er annimmt, dass das Einkommen von A fünfmal höher ist als das von E (5/1). Die Steuerrate setzt er auf vierzig Prozent fest, was in etwa dem Anteil der Sozialausgaben am schwedischen Bruttosozialprodukt 2000 entspricht. Er geht ferner davon aus, dass alle Bürger im Durchschnitt die gleiche Summe an wohlfahrtsstaatlichen Transferleistungen erhalten (Universalismus). Die letzte Spalte zeigt die im Ergebnis beträchtliche Verringerung der Einkommensungleichheit zwischen den Gruppen A und E (2.33/1). Unterstellt man einen am Eigeninteresse orientierten, rational kalkulierenden Bürger und Wähler, würden sich die Gruppen A und B gegen, die Gruppen D und E aber für den universalistischen Wohlfahrtsstaat aussprechen. Nicht nur in Rothsteins Beispiel bildet die Gruppe C (vereinfacht: die »Mittelschicht«) das Zünglein an der Waage bei der Frage, ob sich ein universalistischer Wohlfahrtsstaat, wie der schwedische, halten kann, und in welche Richtung sich der Wohlfahrtsstaat bewegen wird: in die universalistisch-egalitär oder in die eher selektiv, gruppenspezifisch (kategorial) oder allein bedarfsgeprüft (residual) sichernde? Relevant ist diese »Mittelschicht« zunächst, weil sie (wie im Beispiel) so viel an Steuern zahlt wie sie vom Wohlfahrtsstaat zurückerhält.49 Sie bildet außerdem die Gruppe der typischen Wechselwähler (»swing voters«), die über politische Mehrheiten entscheidet. Schließt sie sich den oberen Einkommensgruppen (A/B) an, dann schwindet die 48 Rothstein, The Universal Welfare State. 49 Ebd., S. 219 f.

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Unterstützung für den universalistisch-egalitären Wohlfahrtsstaat, da höhere sozioökonomische Schichten der Umverteilung traditionell skeptischer gegenüberstehen.50 Bis heute ist die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaats in der schwedischen Mittelschicht hoch, nicht nur weil sie von seinen Leistungen profitiert, sondern weil wichtige prozedurale, funktionale und normative Voraussetzungen für diese Akzeptanz noch gewährleistet sind. Sie bleibt eventuell auch dann recht hoch, wenn (ceteris paribus) Gruppe C den sozioökonomischen Abstieg befürchtet – so zumindest der Befund vor der aktuellen schwedischen Migrationskrise.51

(2) Die Niederlande Am Beginn des niederländischen Wohlfahrtsstaats standen »bruchstückhafte« und »halbherzige« Initiativen der Etablierung verschiedener Sozialversicherungen (Bismarckscher Prägung).52 Ein Gesetz zur Entschädigung der Arbeiter bei Arbeitsunfällen trat 1901 in Kraft, 1913 eine einkommensgeprüfte Rente für Bürger über siebzig, die allerdings erst ab 1919, nun für Bürger ab 65, auch tatsächlich ausgezahlt wurde. Die 1913 eingebrachte Krankenversicherungsvorlage (freiwillige Versicherung gegen den krankheitsbedingten Einkommensausfall) passierte erst 1930 das Parlament, weiterentwickelt wurde sie 1941 von den deutschen Besatzern (Gewährung von Sachleistungen), eine endgültige Regelung musste jedoch bis in die 1960er Jahre warten. Die gesetzliche (nicht mehr bloß freiwillige) Arbeitslosenversicherung trat erst 1950 in Kraft. Nach diesen zögerlichen Anfängen entwickelten sich die Niederlande ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre für Außenstehende unerwartet und rasant zu einem umfassenden, äußerst großzügigen und beinahe durchgängig universalistischen Wohlfahrtsstaat. Nun wurden in rascher Abfolge zunächst (1957) eine universalistische, steuerfinanzierte Volksrente auf Grundsicherungsniveau (ohne amtliche Bedürftigkeitsprüfung) eingeführt, 1963 die Kindergeldversicherung, 1965 die Kranken(volks)- und die Invaliden(volks)versicherung verabschiedet, schließlich 1968 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, dessen Höhe an die Lohnentwicklung gekoppelt war. Die Höhe sämtlicher Grundsicherungen orientierte sich wiederum am Mindestlohn, was Einkommensdifferenzen nivellierte und die vergleichsweise niedrige Einkommensungleichheit und -armut in den Niederlanden erklärt – was aller50 Stefan Svallfors, Worlds of Welfare and Attitudes to Redistribution: A Comparison of Eight Western Nations, in: European Sociological Review 13 (1997), S. 283–304, hier: S. 292; zum Wahlverhalten der Mittelschichten: Torben Iversen / David Soskice, Electoral Institutions and the Politics of Coalitions: Why some democracies distribute more than others, in: American Political Science Review 100 (2006), S. 165–181, hier: S. 165. 51 Stefan Svallfors, A Bedrock of Support? Trends in Welfare Attitudes in Sweden, 1981–2010, in: Social Policy & Administration 45 (2011), S. 806–825, hier: S. 806 f. 52 Abram de Swaan, Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 232.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 281

dings die Volksversicherungen verteuerte.53 Die Grundrente entsprach in etwa hundert Prozent des Bruttomindestlohns. Die Geldleistungen für Arbeitslose (Arbeitslosenhilfe) betrugen ab 1965 nun für alle Betroffenen, nicht mehr nur für arbeitslose Haushaltsvorstände (in der Regel Familienväter), achtzig Prozent des zuletzt erhaltenen Entgelts. Mit diesen Leistungshöhen sollte nicht nur Armut bekämpft werden, man ging vielmehr nach wie vor davon aus, dass eine Frau im Fall der Arbeitslosigkeit ihres Ehemannes nicht erwerbstätig werden würde.54 Das Allgemeine Beihilfegesetz von 1963/1965, das das seit 1921 gültige Armengesetz abschaffte und nun ein Bürgerrecht auf Sozialhilfe begründete (über das auch öffentlich informiert wurde), und das Invaliditätsgesetz (Erwerbsunfähigkeitsgesetz) von 1967 eröffneten die unbürokratische Möglichkeit des auch längeren Ausstiegs aus dem Arbeitsmarkt (beziehungsweise Nichteinstiegs). Diese sozialpolitischen Innovationen trugen zur sprunghaften Steigerung der Ausgaben für Einkommenstransfers bei. Die Absicherung der Erwerbsunfähigkeit war umfassend und mit einer Geldleistung von mindestens achtzig Prozent ausgesprochen großzügig. Sie funktionierte quasi auf der Basis der Beweislastumkehr: die Behörden führten bei Antragstellung die fehlende Erwerbsfähigkeit umstandslos auf eine Behinderung zurück, bis zum Beweis des Gegenteils.55 Dies ermöglichte es Erwerbsfähigen wie Unternehmen, Probleme der Erwerbsintegration »hinter Krankheit und Invalidität« zu verstecken.56 Das Sozialhilfegesetz bildete in den Augen niederländischer Sozialpolitikexperten den Schlussstein der Entwicklung zum niederländischen »Versorgungsstaat«, zu einem umfassenden System staatlicher Sorge, das die kollektive soziale Wohlfahrt seiner Bürger auf umfassende Weise garantieren wollte.57 Konkret beinhaltete diese Sorge den Schutz gegen typische Lebensrisiken oder Wechselfälle der modernen Gesellschaft (Arbeitsunfälle oder Nichtverfügbarkeit für den Arbeitsmarkt aus welchen Gründen auch immer), ferner einen garantierten Mindestlohn beziehungsweise eine mit dem Mindestlohn korrespondierende Grundsicherung, auch im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit, der Nichtverfügbarkeit oder des Alters, außerdem die Bereitstellung von Bildung, Wohnraum oder ärztlichen Leistungen, die jeder Bürger benötigt, und schließlich die Förderung der individuellen Lebensqualität, des individuellen Wohlbefindens (»well-being«), durch Maßnahmen und Hilfen, die die Bürger ermutigen sollten, ihre individu53 Rolf G. Heinze / Josef Schmid / Christoph Strünck, Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbs-

staat. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den 90er Jahren, Opladen 1999, S. 216. 54 Therborn, ›Pillarization‹, S. 213. 55 de Swaan, Der sorgende Staat, S. 238: Das Recht auf Sozialhilfe »schuf eine tragfähige und sichere Alternative zur Erwerbstätigkeit«, das Invaliditätsgesetz »ermöglichte einen ziemlich komfortablen Rückzug aus der Plackerei«. 56 Ebd., Anmerkung 190, S. 317 f. 57 »de Nederlandse verzorgingsstaat«, im Englischen meist übersetzt als »the Dutch caring state«. Der deutsche Begriff »Versorgungsstaat« hat traditionell eine pejorative Bedeutung gehabt.

282 Ilona Ostner

ellen Ansprüche und Lebensziele zu realisieren und am öffentlichen Leben, der Politik und Kultur teilzunehmen.58 Tabelle 6: Ausgaben für passive und aktive Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik pro arbeitslose Person in Prozent des Bruttosozialprodukts (pro-Kopf) – ausgewählte Länder, 1986, 1990 und 1995. Passive Maßnahmen* Bundesrepublik Niederlande Schweden USA***

Aktive Maßnahmen

1986

1990

1995

1986

1990

1995

36,18 72,02 62,24 16,5

37,29 63,17 73,10 16,36

53,79** 99,74 67,61 12,44

19,19 10,12 99,44 7,01

27,21 12,17 94,80 7,27

25,64 16,95 58,03 5,68

*Passive Maßnahmen, zum Beispiel Renten, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld; aktive Maßnahmen, zum Beispiel Umschulung, Weiterbildung **Vereinigungsbedingter Anstieg in Deutschland ***USA, der liberal-kategoriale Wohlfahrtsstaat als Kontrastfall (Vorrang von Individuum, Markt, Familie und Gemeinschaften vor dem Staat in der Wohlfahrtsproduktion) Quelle: Becker, Welfare State Development and Employment in the Netherlands, S. 227.

Jedenfalls hatten die Niederlande in den 1960er Jahren »ihre« Variante eines universalistischen Wohlfahrtsstaats entwickelt. Diese zeichnete sich durch einen hohen Anteil an »passiven« Leistungen im Unterschied zu den »aktiven« (aktivierenden) schwedischen aus, so zum Beispiel durch den Vorrang von Geldleistungen vor den sozialen Diensten und die geringe Bedeutung von Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik (Tabelle 6), ferner durch großzügige, transfergestützte Möglichkeiten, sich dem Arbeitsmarkt zu entziehen.59 Und anders als Schweden hielten die Niederlande weiterhin an der Hausfrauenehe, am »Ernährermodell« und an der häuslichen Versorgung und Erziehung der Kinder durch ihre Mütter fest; Erwerbsarbeit wurde von Ehefrauen und verheirateten Müttern noch lange nicht erwartet.60 Nur etwa 16 Prozent der Frauen waren um 1960 herum erwerbstätig im Vergleich zu etwa dreißig Prozent in den nördlichen Ländern. Interessanterweise erlaubten die universalistische Logik und die Großzügigkeit der neuen Sozialhilfe nun auch ledigen Müttern, zu Hause bei den Kindern zu bleiben, und wirkten für diese Gruppe dadurch durchaus befreiend.61 Denn die 58 Vgl. Trudie Knijn, Fish without Bikes: Revision of the Dutch Welfare State and Its Conse-

quences for the (In)dependence of Single Mothers, in: Social Politics 1 (1994), S. 83–105, hier: S. 94 f. 59 Becker, Welfare State Development, S. 227; Kees van Kersbergen, Religion and the Welfare State in the Netherlands, in: Kees van Kersbergen / Philip Manow (Hg.), Religion, Class Coalitions and Welfare States, Cambridge 2009, S. 119–145, hier: S. 135. 60 Die Zölibatsregel (Arbeitsverbot für verheiratete Frauen) im öffentlichen Dienst wurde erst 1957 abgeschafft, vgl. van Kersbergen, Religion, S. 136. 61 Dazu ausführlich Knijn, Fish without Bikes, S. 92 f.

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bis 1965 gültige, noch am alten Armengesetz orientierte Sozialhilfe hatte von ledigen Müttern, aber nicht von verheirateten, erwartet, für den eigenen Unterhalt (und den der Kinder) selbst zu sorgen, da sie auf keinen »Ernährer-Ehemann« zurückgreifen konnten. Öffentliche Hilfe war bis dahin grundsätzlich subsidiär gedacht, was auch bedeutet hatte, dass es so gut wie keine öffentliche Kinderbetreuung für alleinerziehende Mütter gab. Mit der Sozialhilfereform wurde der Staat beziehungsweise die Gesellschaft nun zum »Ernährer« der alleinerziehenden Mutter und ihrer Kinder, was für Frauen, die einer schlechten Ehe entronnen waren, einen Fortschritt und eine große Verbesserung darstellte. Die viel beachtete soziologische Studie von Bram van Stolk und Cas Wouters aus dem Jahr 1983 offenbart, wie wenig sich Alleinerziehende fortan um Geld sorgten, weil sich der Staat um sie und ihre Kinder kümmerte, und wie selbstverständlich sie die Hilfe vom Staat (weil ihr Recht) nun annahmen.62 Dieses Bürgerrecht auf staatliche Sorge veränderte wiederum die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, da es Frauen eine Stimme und, wurde diese nicht gehört, die Möglichkeit gab zu gehen, ohne in Armut zu fallen. In Schweden, in dem das individualisierte Zwei-Verdiener-Modell seit den 1970ern vorherrscht, mussten (und müssen) alleinerziehende Mütter nicht nur erwerbstätig sein, sondern häufig ihre tägliche Arbeitszeit verlängern, um das fehlende zweite Einkommen zu kompensieren.63 Auch im niederländischen Fall kann das eigentümliche Zusammenwirken von ideellen, institutionellen und strukturellen Faktoren die verzögerte Entwicklung, dann die späte wohlfahrtsstaatliche Expansionsdynamik erklären. Die Industrialisierung und die Organisation der Lohnabhängigen und Unternehmer, die wichtigsten Motoren staatlicher Sozialpolitik, setzten in den Niederlanden später ein als in den Nachbarländern. Außerdem hatte in den kulturell-konfessionell heterogenen Niederlanden der Staat-Kirchen-Konflikt (staatliches versus konfessionelles Schulwesen) lange Zeit Auseinandersetzungen rund um die entstehende soziale Frage überlagert.64 Parteien, Gewerkschaften, Lohnabhängige 62 Ebd., S. 93; Bram van Stolk / Cas Wouters, Vrouwen in Tweestrijd, Deventer 1983 (deutsch:

Frauen im Zwiespalt, Frankfurt a. M. 1987). 63 Dazu Anne Skevik, Lone Motherhood in the Nordic Countries: Sole Providers in Dual-

Breadwinner Regimes, in: Anne Lise Ellingsæter / Arnlaug Leira (Hg.), Politicising Parenthood in Scandinavia. Gender Relations in Welfare States, Bristol 2006, S. 241–264, hier: S. 241. Alleinerziehende müssen nicht nur mehr Arbeitsstunden als »verpartnerte« Mütter leisten, um ein vergleichbares Haushaltseinkommen zu erzielen, sie haben zugleich schlechtere Arbeitsmarktchancen und ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko, vgl. ebd. S. 256 f. 64 Ein vergleichbarer Staat-Kirche Konflikt konnte in Schweden nicht entstehen, da der monarchische Staat im 16. Jahrhundert in Zuge der Reformation Land, Vermögen und Personal der (nun lutherischen) Kirche samt ihrer traditionellen Aufgaben usurpierte, eine »Staatskirche« mit Pfarrern als quasi Staatsbeamten etablierte, keine Religionsfreiheit zuließ, sondern andere Konfessionen verbot, verfolgte und, falls existent, aus Machtpositionen ausgrenzte. Diese derart privilegierte Staatskirche sollte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Politik, Gesellschaft und Alltagsleben steuern; erst in den 1870ern erhielten Schweden das Recht zum Konfessionswechsel (man war lutherisch von Geburt an), volle Religionsfreiheit erst 1951.

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und Arbeitgeber, Gruppen und Vereine organisierten sich entlang konfessioneller Trennlinien (sozusagen in »Säulen« unter dem gemeinsamen nationalen Dach), »allgemeine«, überkonfessionelle Zusammenschlüsse bildeten lange Zeit die Ausnahme.65 Jede Säule kümmerte sich um die sozialen Belange ihrer Angehörigen und stellte eigene soziale Dienste bereit, so gab es zum Beispiel das Rote Kreuz in drei Varianten: weiß-gelb für Katholiken, orange-grün für Calvinisten und grün für nicht-konfessionell Gebundene.66 Diese Versäulung prägte die niederländische Gesellschaft zwischen 1930 und 1960. Konfessionelle Parteien, eine calvinistische und insbesondere eine katholische, die sich im Kampf gegen den Laizismus verbündet hatten, dominierten das Politikgeschehen. Beide setzten auf Subsidiarität, Selbsthilfe (kollektiv und individuell) und Familie: die katholische Seite auf den Vorrang der kleineren, vertrauten Einheit vor der entfernteren, größeren bei der Bearbeitung sozialer Fragen, die calvinistische auf die Souveränität im eigenen Lebenskreis. Beide teilten das Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen, die Calvinisten allerdings sehr viel mehr als die Katholiken, die den Staat in der Pflicht sahen, den Menschen aktiv zur Teilhabe zu befähigen, ohne seine Selbsthilfefähigkeit zu schwächen. Neben der Versäulung bestimmte ein katholisch geprägter Korporatismus, hier: die kontinuierliche tripartistische Zusammenarbeit von Sozialpartnern und Staat, die politische Konsensbildung, ferner die positive Haltung der niederländischen Bevölkerung zu beziehungsweise ihr Vertrauen in technokratische(n) Lösungen. Den Durchbruch zum universalistischen Wohlfahrtsstaat ermöglichten erst neuartige, teils pfadabhängige Umstände: so der Wunsch von Eliten und Volk, nach den Verwerfungen von Krieg und Besatzung die Einheit des Landes wiederherzustellen und die »bitteren Erinnerungen an die große Krise« vergessen zu machen; dann der massive Industrialisierungsschub der Nachkriegszeit; ferner die Zunahme der lohnabhängigen Bevölkerung beziehungsweise Schrumpfung der Zahl der Selbständigen;67 schließlich der Niedergang des konfessionellen Einflusses, der neue parteipolitische Allianzen ermöglichte und Widerstände gegen forcierte Staatstätigkeit im Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik verringerte.68 Vorteilhaft war zudem, dass bereits vor dem Krieg mit neuen Formen der Arbeitsbeziehungen experimentiert worden war, woraus in den 1950er Jahren »ein höchst effizientes System der Konsultation zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und

Zur Trennung von Staat und Kirche und damit dem Ende der Staatskirche kam es im Jahr 2000, vgl. Karen M. Anderson, The Church as Nation: The Role of Religion in the Development of the Swedish Welfare State, in: Kees van Kersbergen / Philip Manow (Hg.), Religion, Class Coalitions and Welfare States, Cambridge 2009, S. 210–235, hier: S. 211, 217; Droste, Das schwedische Volksheim. 65 de Swaan, Der sorgende Staat, S. 233. 66 Goodin/Smitsman, Placing Welfare States, S. 43. 67 de Swaan, Der sorgende Staat, S. 237. 68 Heinze u. a., Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat, S. 116.

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›Vertretern der Krone‹ entstand«.69 Schließlich konnten die sozialpolitisch interessierten Akteure, so die 1946 gegründete neue, nun eher christlich-sozialistisch, nicht mehr kommunistisch ausgerichtete Arbeiterpartei, – eine Art Volkspartei, die die Interessen einer breiteren Schicht, insbesondere der lohnabhängigen Mittelschicht, bedienen wollte,70 – sowie (nach wie vor) katholische Politiker und Arbeitgeber, auf Pläne für »ein wenig umstrittenes Sozialversicherungswesen« des Besatzungsregimes und der holländischen Exilregierung zurückgreifen.71 Die vorgesehene Selbstverwaltung der Sozialversicherungen erleichterte die Durchsetzung dieser Pläne und den unaufhörlichen Ausbau der Leistungen; ferner taten sich Möglichkeiten auf, die Expansion der Sozialpolitik durch Erträge aus dem internationalen Handel und den neu entdeckten holländischen Gasvorkommen auch nachhaltig zu finanzieren.72 Expansionsfördernd war außerdem die sozialkatholische Idee des gerechten Lohns, der die Ankoppelung auch der nicht erwerbsbezogenen Sozialleistungen an die Lohnentwicklung erklärt.73 So entstand das oben skizzierte spezifisch niederländische universalistische Wohlfahrtsstaatsregime aus einer Koalition von gemäßigten Sozialdemokraten und Katholiken, ihren Parteien und Verbänden. Hauptakteur und -ideengeber dieser einschneidenden Sozialreformen war der Katholik Veldkamp, Sozialminister in der entscheidenden Phase der Expansion von 1961–1966.74 Das universalistische Wohlfahrtsstaatsregime der Niederlande unterschied sich pfadbedingt offensichtlich in wesentlichen Punkten vom schwedischen, so in der starken Rolle der Familie als Wohlfahrtsproduzentin und den hohen Anreizen zum Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig dominierte in beiden Ländern eine ähnliche Politische Ökonomie. Wirtschaft und Gesellschaft wurden hier wie dort technokratisch und im tripartistischen Konsens gesteuert; die makroökonomischen Ziele und die Funktionen, die dem Wohlfahrtsstaat im vorrangigen Interesse der Wirtschaft zugewiesen wurden, ähnelten sich ebenfalls. Jeweils handelt es sich um vergleichsweise kleine Länder und kleine Wirtschaftsräume, die daher auf besondere Weise dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt waren (sind) und diesen nur bedingt inländisch kompensieren konnten (können). Wie Schweden setzten daher auch die Niederlande und ihre wechselnden politischen Koalitionen in den Jahrzehnten nach dem Krieg auf beschleunigte Industrialisierung und Modernisierung der Wirtschaft im Interesse einer primär exportorientierten Wirtschafts- (Erholungs- und Aufhol-) Strategie. Ihr dienten Maßnahmen wie die Integration in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die de Swaan, Der sorgende Staat, S. 237. van Kersbergen, Religion, S. 130. de Swaan, Der sorgende Staat, S. 237. Ebd., 233. Therborn, ›Pillarization‹, S. 212. Ebd., S. 211. Nach dem Krieg regierte eine Koalition aus Arbeiterpartei und Katholiken, die 1958 endete; danach, zwischen 1958 und 1972, stellten die konfessionellen Parteien die Premier-Sozialminister. 69 70 71 72 73 74

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Absenkung der Unternehmenssteuern, Lohnzurückhaltung, dies auch zur Förderung der (männlichen in den Niederlanden!) Vollbeschäftigung, ferner eine restriktive Preispolitik und ausgeglichene Haushaltssalden, schließlich, auf der anderen Seite, kompensatorische Sozialpolitiken und deren Ausweitung. Tatsächlich gelang es bis in die 1960er Jahre, Löhne und Inflation vergleichsweise niedrig zu halten, dadurch die Beschäftigung kontinuierlich auszuweiten und dabei auch die wirtschaftlichen Folgen, die mit dem Verlust der niederländischen Kolonien verbunden waren, zu kompensieren. Die christlichen und sozialdemokratischen Gewerkschaften trugen diese Politik wegen der positiven Beschäftigungseffekte und im Austausch gegen sozialpolitische Zugeständnisse mit.75 Zwar fürchteten die Arbeitgeber Vollbeschäftigung als Lohntreiberin, das technokratisch-korporatistische Arrangement garantierte ihnen jedoch lange Zeit Lohnzurückhaltung und Arbeitsfrieden.76 Therborn fasst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des schwedischen beziehungsweise niederländischen polit-ökonomischen Modells unter Rückgriff auf die Hirschmansche Unterscheidung von »exit«, »voice« und »loyality« überzeugend zusammen:77 »The public policies of Sweden as well as of the Netherlands have developed on the basis of a fundamental loyalty to the capitalist market economy. But on that common basis the two countries have diverged in their mode of accommodating this loyalty to important non-market principles of public policy-making. […] The Swedish manner of bringing markets and public policy goals into a viable coexistence is to regulate who may speak in the market, at what pitch, and at what time, and to raise a strong state voice in the market. The Dutch mode, on the other hand, is to provide, to organize, or to facilitate exits from markets. The Swedish authorities are anxious not to leave the marketplace to the free marketeers, and the Dutch to keep the public voice low or quiet.«78

IV. Überdehnung, Reform und neue Herausforderungen Der universalistische Wohlfahrtsstaat – gleich welcher Prägung – ist, soll er Bestand haben und von seinen entscheidenden Trägerschichten (Tabelle 5) weiterhin gewollt werden, sehr voraussetzungsvoll. Er fußt auf politisch-ökonomischen Voraussetzungen, die die Politik immer wieder schaffen muss: auf internationaler Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, harter Währung, ausgeglichenen Haushalten, Vollbeschäftigung, Lohnzurückhaltung und Arbeitsfrieden qua institutionalisierter Konsenspolitik. Zum Schutz vor Überdehnung ist dieser Wohlfahrtsstaat zu75 76 77 78

van Kersbergen, Religion, S. 134 f. Ebd., S. 133. Alfred Hirschman, Exit, Voice, and Loyality, Cambridge 1970. Therborn, ›Pillarization‹, S. 226.

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gleich auf Regeln und Werthaltungen angewiesen, die er aus sich selbst heraus nicht herstellen, aber durch falsche Politikentscheidungen gefährden kann. Er verlangt ein hohes Maß an System- und Sozialvertrauen: Die zu sichernden Risiken müssen überzeugend als allgemeine, kollektive, gelten – sie dürfen nicht als selbstverschuldete Problemlagen einzelner angesehen werden. Der Wohlfahrtsstaat muss seine Leistungsversprechen, zum Beispiel Rentenzusagen, glaubwürdig einhalten; Leistungen dürfen nicht willkürlich oder diskriminierend, sie müssen vielmehr nach Prinzipien der Fairness und Gerechtigkeit (universalistisch) gewährt werden. Allerdings dürfen sie die Bürger nicht zur Trittbrettfahrerei oder zum Missbrauch verleiten, sie müssen vielmehr das Prinzip der Reziprozität stützen; jedenfalls müssen die (vielen regelbefolgenden) Bürger überzeugt sein, dass sich ausreichend Mitbürger verhalten wie sie selbst.79 Die Überdehnung und die folgende Krise waren im niederländischen Fall des »passiven« Wohlfahrtsstaats in der Ankoppelung der Leistungshöhen an die Lohnentwicklung, in den großzügigen Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Arbeitsmarkt, im Fehlen von Maßnahmen der Wiedereingliederung und einer eingehenderen Bedürftigkeitsprüfung bei der Beantragung der Sozialhilfe angelegt. Anreize, die eigene Situation durch Arbeitsplatzsuche zu verändern, existierten daher so gut wie nicht.80 Denn kaum jemand hatte bei der Institutionalisierung dieser Regeln vorausgesehen, dass die lange Phase sozialer Sicherheit vorbei und Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig hoher Nichterwerbsbeteiligung der arbeitsfähigen Niederländer den Wohlfahrtsstaat gefährden könnten. So stiegen in den 1970er Jahren (nicht nur konjunkturbedingt) die Arbeitslosigkeit, die Kosten im Gesundheitswesen, das Haushaltsdefizit und insgesamt der Anteil der niederländischen Bevölkerung, »der auf Transfereinkommen angewiesen war«. Als ein besonderes Problem erwies sich die Invaliditätsversicherung: »Jeder siebte Niederländer arbeitet[e] nicht, weil er als arbeitsunfähig [galt]«.81 Dieses System diente noch bis Anfang der 1980er Jahre, als sich die hohe Arbeitslosigkeit noch weiter verfestigt hatte, als Auffangbecken für arbeitslose oder schwer vermittelbare

79 Rothstein, The Universal Welfare State, S. 222. Die Zustimmung der Bürger zum großzügi-

gen Wohlfahrtsstaat ist kontingent: »… achieving sufficient support … presupposes that three conditions be fulfilled. … (1) Citizens regard the good to be produced in itself as valuable. We will call this the question about substantial justice. (2) Citizens consider the administrative process needed to implement this value to be organized in keeping with procedural justice; that is, that the government will deliver what it has promised to deliver in fair and impartial way. (3) Citizens believe that their fellow citizens also contribute to the program on a solidaristic basis (insignificant freeloading, or none at all).« Ebd., S. 223. Vgl. dazu auch: Femke Roosma / Wim van Oorschot / John Gelissen, The Achilles’ Heel of Welfare State Legitimacy. Perspectives over Overuse and Underuse of Social Benefits in Europe, in: Journal of European Public Policy 23 (2016), S. 177–196, hier: S. 177 f. 80 Heinze u. a., Vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat, S. 117. 81 Ebd., 116.

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Gruppen.82 Becker erwähnt das Beispiel der Künstler, die Leistungen beantragten, weil sie den Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Werke nicht bestreiten konnten.83 Trotz der einsetzenden Krise setzte die seit 1972 amtierende Arbeiterpartei-Regierung die Ausgabenexplosion durch die Ankoppelung Mindestsicherung an den Nettomindestlohn fort, sodass die Mindestleistungshöhe ab 1974 achtzig Prozent des Mindestlohns betrug.84 Die neue Regierung verabschiedete sich vom Prinzip der Subsidiarität, wie es sich in der Familienideologie ihrer Vorgängerin, ausgedrückt hatte. Stattdessen wurde der individuelle Rechtsanspruch auf soziale Leistungen vor jeder Bürgerpflicht und jenseits des Reziprozitätsprinzips betont.85 Dies entsprach nicht nur dem damaligen sozialdemokratischen und emanzipatorischen Zeitgeist. Es war auch Ergebnis gestiegener Erwartungen der Bürger an den Wohlfahrtsstaat, der diese wiederum im dauernden feedback loop durch seine großzügigen Leistungen nährte, vor allem wenn diese nicht von vergleichbaren Pflichten begleitet wurden.86 Gefährdeten die hohe Zahl der nichterwerbstätigen Leistungsempfänger, steigende Sozialausgaben und das Haushaltsdefizit das niederländische Modell, so geriet das schwedische durch den Zusammenbruch der technokratischen Steuerung und des zentralisierten Lohnfindungssystem und durch nachfolgende Lohnzuwächse in die Krise.87 Am Anfang der Krise stand ein wilder Streik 1979 in Nordschweden, der sich offensichtlich gegen die Politik der hegemonialen LO und ihrer Verbündeten, SAP und Technokraten, in Stockholm richtete. Gewerkschafts- und SAP-Mitglieder forderten nun Lohnsteigerungen und eine volksnähere Steuer- und Wirtschaftsförderungspolitik, die sich jetzt nicht mehr am Prinzip der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit orientieren, zum Beispiel regionale Arbeitsmobilität erzwingen, sollte. Die Lohnabhängigen sollten nun mehr Mitbestimmungsrechte erhalten. Vorgeschlagen wurden auch Arbeitnehmer-Fonds, finanziert durch Steuern auf Gewinne und Löhne, die die Kapitalmarktabhängigkeit der Unternehmen verringern und die Beschäftigten letztendlich zu Eigentümern machen sollten. Um geringere Lohnzuwächse zu kompensieren, wurden die Lohnsteuern zu Lasten der Arbeitgeber gesenkt. Außerdem begann der Staat Fragen der Arbeitsbeziehungen, die bisher zwischen den Sozialpartnern auf freiwilliger Basis ausgehandelt worden waren, durch Gesetze zu regeln. Wenig überraschend störten diese Entwicklungen die bislang harmonische Zusammenarbeit 82 Therborn, ›Pillarization‹, S. 233: Die Entlastung des Arbeitsmarkts wurde in der Nachkriegs-

zeit auch durch die Förderung der Emigration betrieben. 83 Becker, Welfare state development, S. 224. 84 Ebd., S. 223. 85 »Generally, the idea of civic rights to be achieved through politics became widely acknowledged, whereas obligations tended to be forgotten and understanding of the limitation of state capacity decreased.« Ebd., S. 224. 86 Ebd. 87 Zum Folgenden Steinmo, Governing, S. 91 f.; Benner/Bundgaard Vad, Sweden and Denmark, S. 416 f.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 289

zwischen Kapital, Arbeit und Sozialdemokratie. Die exportierenden Unternehmer hatten schon in den 1960er Jahren dem zentralisierten Lohnverhandlungssystem skeptisch gegenübergestanden. Nun verschärften sich auch innerhalb der LO die Konflikte zwischen den Vertretern unterschiedlich gelagerter Interessen: der besser und der schlechter entlohnten, der Zentrale und der lokalen Gewerkschaftszweige und so weiter. Die Führungsrolle der Exportindustrie, dem Kern der LO, bei den Lohnverhandlungen wurde immer weniger akzeptiert, der expandierende öffentliche Sektor immer öfter zum Lohnführer. Als sich die globale und mit ihr auch die wirtschaftliche Lage in Schweden im Laufe der 1970er verschlechterte, setzte die Regierung entgegen dem Rat der Experten ihre expansive Politik fort: Beschäftigungsverluste im industriellen Sektor versuchte man durch die Ausdehnung öffentlicher Beschäftigung aufzufangen, um auch auf diese Weise am Ziel der Vollbeschäftigung festhalten zu können. Die Elternversicherung wurde weiter ausgedehnt und das Renteneintrittsalter von 67 auf 65 Jahre gesenkt.88 In der Folge stiegen die öffentlichen Ausgaben für Subventionen und Sozialleistungen von 9,3 Prozent des BIP 1960 auf 16,2 Prozent 1970 und 30,4 Prozent 1980, während sich private Investitionen verringerten.89 Zudem machte der internationale Kontext das Hochsteuerland Schweden immer weniger wettbewerbsfähig. Jedenfalls befand sich Schweden Anfang der 1980er Jahre in einer schweren wirtschaftlichen und vor allem Steuerkrise. Die Arbeitslosigkeit erhöhte sich bei allerdings relativ hoher Beschäftigung auf eine für schwedische Verhältnisse ungewohnte Rate, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit sollte auch in den nächsten Jahrzehnten recht hoch bleiben. Löhne und Steuern gerieten selbst für durchschnittliche Verdiener in ein Missverhältnis, Steuerhinterziehung und, zumindest in der Wahrnehmung vieler Bürger, Sozialleistungsbetrug mehrten sich. Die vom Durchschnittsbürger verlangte Solidarität war in Gefahr.90 Das spezifische Problem, dem sich die schwedische Regierung, letztlich der schwedische Wohlfahrtsstaat, konfrontiert sahen, bestand daher darin, das Vertrauen der Bürger, vor allem der Mittelschichten, in ihre Institutionen wiederherzustellen.91 Die Richtung der Reformen lag in beiden Ländern auf der Hand. Wollte man den universalistischen Wohlfahrtsstaat ohne größere Abstriche erhalten, mussten das staatliche Finanzierungssaldo ausgeglichen, die Expansion des öffentlichen Sektors gestoppt, Wachstum und Beschäftigung gefördert, Arbeitslosigkeit gesenkt und dafür Lohnzurückhaltung geübt, und schließlich Reziprozität in der Gewährleistung sozialer Leistungen gesichert bleiben.92 Priorität hatten dabei die Fortentwicklung der erwerbsbezogenen Sozialleistungen und die Sicherung Ebd. Steinmo, Governing, S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Dies geschah in Schweden unter anderem durch die Verringerung der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, auch in den Kommunen, was im Widerspruch zur Rolle dieses Sektors bei der Förderung der Frauenbeschäftigung steht. So betraf ein Großteil der Kürzungen geringer 88 89 90 91 92

290 Ilona Ostner

der Vollzeitbeschäftigung; Ziel war eine Quote von achtzig Prozent. Für Steinmo waren es weniger die (notwendigen) konkreten Maßnahmen, die in Schweden zur wirtschaftlichen Erholung und gesellschaftlichen Konsolidierung beitrugen, die Banken- und die Steuerreform, die Umstrukturierung (kaum Kürzungen) der Sozialleistungen, die diese krisenfester und nachhaltiger machen sollte, sondern vor allem die Wiederherstellung des alten Steuerungsmodells, das diese Reformen ermöglichte: »… a massive problem was approached as a technical issue, which was eventually (indeed remarkably quickly) solved through close and ongoing relationships between the key actors in the political system and/or the political economy. In each case, a very small group of actors engaged with the problem and produced technical solutions that were then passed on to the government, which then presented the legislation to the Riksdag. In each case, the conforming laws passed through Parliament with little significant controversy because the package had already been agreed to by the key elites representing the main parties.«93

Derart elitegetrieben, »output«-orientiert und weitgehend »behind closed doors« wurde das Rentenversprechen gegenüber der Bevölkerung eingelöst, indem das staatliche System zweigeteilt wurde: in eine garantierte Grundrente, die universalistisch allen Bürgern einen angemessenen Lebensstandard unabhängig von ihrem Erwerbsverlauf sicherte, und in ein individuelles Rentenkonto mit festen Beiträgen, in das 2,5 Prozent der Sozialversicherungssteuer flossen, die dann durch oder für den Kontoinhaber angelegt werden. Die Höhe der Grundrente variierte wiederum mit der Lohnentwicklung, sodass Rentner am Wirtschaftswachstum teilhatten, die Renten aber nur stiegen, wenn das Volkseinkommen stieg.94 In den Niederlanden änderte sich die Einstellung von Politik und Gesellschaft zur steigenden Zahl nichterwerbstätiger, »invalider« Bürger, die von Sozialleistungen lebten, in den 1980er Jahren grundlegend.95 Das Missverhältnis zwischen den Erwerbstätigen, die durch ihre Beiträge und Steuern (zusammen mit den Arbeitgebern) den Wohlfahrtsstaat finanzierten, und der im Ländervergleich sehr hohen Zahl an Nichterwerbstätigen im Leistungsbezug war zu groß geworden. Die Arbeitslosigkeit stieg auf zwölf Prozent, auf hundert Beschäftigte kamen Ende der 1980er Jahre fünfundsechzig nichterwerbstätige Leistungsbezieher. Die Niederlande versuchten dieser Überdehnung ihres Wohlfahrtsstaates, wie gewohnt und vergleichbar mit Schweden, durch konsensorientierte Koalitionen und Konsultationen zu begegnen. In diesen Verfahren wurden die Regeln für die

entlohnte oder Teilzeitarbeitsgelegenheiten von Frauen, vgl. Benner/Bundgaard Vad, Sweden and Denmark, S. 433. 93 Steinmo, Governing, S. 94 f. 94 Ebd., S. 95 f.; siehe auch Joakim Palme, Features of the Swedish pension reform, in: The Japanese Journal of Social Security 4 (2005), S. 42–53, hier: S. 42 f. 95 Zum Folgenden, Knijn, Fish without Bikes, S. 99 f.

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 291

Inanspruchnahme vor allem der Leistungen bei Invalidität verschärft und mehrfach das Einfrieren und Absenken des Mindestlohns beschlossen. Eine wichtige Rolle spielten nun neue Strategien der Erhöhung der Beschäftigung, vor allem durch Arbeitszeitverkürzung und die Förderung der Teilzeitarbeit von Frauen und Männern. Das Ernährermodell wurde dadurch teilweise aufgebrochen und flexibilisiert, Alleinerziehende wiederum wenigstens zur Teilzeitbeschäftigung aufgefordert. Der Leistungsmissbrauch sollte unbedingt bekämpft werden. Kontrolle und Aktivierung richteten sich deshalb bevorzugt auf drei Gruppen: auf ehemals Beschäftigte, die die Invaliditätsrente der Arbeitslosenhilfe vorzogen; auf Leistungsbezieher, die »schwarz« arbeiteten, sowie auf vermeintlich alleinlebende Alleinerziehende, die tatsächlich mit einem Partner zusammenlebten, der über ein Einkommen verfügte. Das alte, am Armengesetz haftende Stigma des Alleinerziehens wurde nun durch das neue des »Sozialleistungsmissbrauchs« abgelöst.96 Eine der schwedischen vergleichbare Individualisierung der Geschlechterbeziehungen fand allerdings nicht statt. So waren die lokalen Behörden wieder verpflichtet vor der Gewährung der Sozialhilfe an eine Alleinerziehende das Einkommen des Kindsvaters oder Ex-Ehemannes zu prüfen. Tabelle 7: Erwerbs- und Beschäftigungsquoten in Prozent, 1983–1997. Erwerbsquoten Allgemein Deutschland* Niederlande Schweden

Beschäftigungsquoten Frauen

Allgemein

Teilzeit Frauen

1983

1990

1997

1983

1997

1983

1990

1997

1983

1996

67,5 59,0 83,0

69,1 66,8 80,4

70,4 71,5 76,8

52,5 40,2 78,3

61,4 61,3 74,5

62,2 52,0 80,2

64,8 61,7 84,4

63,6 68,1 70,7

30,0 49,7 45,9

33,8 66,1 39,0

*1995 statt 1996 Quelle: Becker, Welfare State Development, S. 232.

Tatsächlich stieg in der Folgezeit die niederländische Erwerbsquote, vor allem die weibliche, kontinuierlich, allerdings geschah dies in erheblichem Umfang durch die Erhöhung der Teilzeitquote, vor allem im Fall der Frauen (Tabelle 7). In Schweden fluktuierte sie dagegen zwischen den Werten von etwa achtzig bis über siebzig Prozent, die Teilzeitquote von Frauen sank sogar im Zeitraum zwischen 1983 und 1996. Zwar ist die schwedische Arbeitslosigkeit, insbesondere die der Jugendlichen, und die der Zugewanderten seit den 1990er Jahren recht hoch gewesen, so auch 2018 (Tabelle 8). Aber Schweden hat die Langzeitarbeitslosigkeit durch umfassende Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik besser bekämpft als die Vergleichsländer in Tabelle 9, darunter die Niederlande, und dies bei einer wesentlich höheren Erwerbs- und Beschäftigungsquote. Es ist Schweden also 96 Ebd., S. 100.

292 Ilona Ostner

immer wieder gelungen, das traditionelle, den universalistischen Wohlfahrtsstaat stützende Ideal der »Arbeitsgesellschaft« und ihrer Arbeitsethik aufrechtzuerhalten – sehr viel mehr jedenfalls als den Niederlanden. Tabelle 8: Arbeitslosenquoten Juni 2018* – ausgewählte Länder.

Deutschland Niederlande Schweden Eurozone EU 28

Insgesamt

Jugendliche

im Ausland Geborene**

3,4 3,9 6,2 8,3 6,9

6,2 7,2 16,1 16,9 15,2

6,4 8,9 15,4 k. A. 13,1 (9,1***; 23,3****)

Quellen: *Statista 2018 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160142/umfrage/arbeitslosenquote-in-den-eu-laendern/ [07.01.2019]. **International Migration Outlook, OECD 2018, S. 87, 91; *2017; ***Geburtsregion: EU+EFTA; ****Geburtsregion: Nordafrika Eigene Zusammenstellung Tabelle 9: Langzeitarbeitslosigkeit von Männern (Frauen)* – ausgewählte Länder, Altersgruppen und Jahre in Prozent, 2000–2015. Jugendliche 15–24

Erwachsene 25–54

2000

2007

2014

2015

2000

2007

2014

2015

Deutschland

23,7 (23,2)

33,5 (30,4)

26,1 (18,8)

24,4 (19,8)

49,1 (52,9)

57,9 (57,0)

46,2 (41,7)

46,2 (41,7)

Niederlande

k. A.

12,2 (13,0)

19,0 (19,4)

20,3 (17,0)

k. A.

45,9 (42,7)

41,8 (43,5)

46,7 (44,4)

Schweden**

11,0 (6,4)

3,3 (3,7)

5,2 (3,8)

4,4 (4,4)

30,1 (22,1)

18,9 (14,0)

23,1 (21,3)

24,0 (19,3)

OECD

18,8 (20,8)

16,9 (15,5)

22,9 (20,6)

20,9 (18,4)

32,5 (35,2)

31,6 (32,5)

38,2 (39,2)

37,1 (37,5)

*Anteil an der Arbeitslosigkeit in der jeweiligen Gruppe **Jugendliche (16–24 Jahre) Quelle: OECD (Hg.), OECD Employment Outlook 2016, Paris 2016, S. 235 f. Eigene Zusammenstellung

ÜBERSTEIGERTE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT? 293

V. Ausblick: Voraussetzungen großzügiger Wohlfahrtsstaatlichkeit Schweden und die Niederlande erfüllten in der langen Nachkriegszeit wesentliche polit-ökonomische, institutionelle und kulturelle Voraussetzungen für die Entwicklung und das Überleben eines universalistischen Wohlfahrtsstaats. Von heute aus betrachtet kann man die nachfolgende Geschichte der Krisen und Reformen des niederländischen und schwedischen Wohlfahrtsstaats als kontinuierlichen Kampf gegen die in ihm angelegten Dilemmata, seine Überdehnung und institutionelle Erschöpfung, die sich in den 1970er und 1980er Jahren zeigten, und als erfolgreiches Ringen um die Wiederherstellung seiner Funktionsbedingungen, einschließlich seiner normativen Grundlagen, schreiben. Zu diesen Grundlagen gehörte vor allem das Vertrauen der Bürger, dass der Wohlfahrtsstaat das lieferte, was er versprach und dies auf faire Weise, und dass sich alle an die Regeln hielten, die seine großzügigen Leistungen rechtfertigten. Noch heute unterstützt der Wohlfahrtsstaat beider Länder eine höchst kompetitive Spielart des Kapitalismus durch günstige Unternehmensbesteuerung, ausgeglichene oder sogar positive Haushaltssalden, moderate Löhne und Sozialpolitiken, die Wettbewerbsfähigkeit fördern oder zumindest nicht untergraben sollen.97 Dies erklärt zum großen Teil die zögerliche Haltung Schwedens gegenüber dem Beitritt zum Euro und der Niederlande gegenüber einer weiteren Vertiefung der Eurozone. In der Forschung stellt die Zunahme der kulturellen (ethnischen) Vielfalt durch Einwanderung eine besondere Herausforderung für den Wohlfahrtsstaat dar, vor allem für den universalistischen. Das klassische Argument lautet, dass die Unterstützung für wohlfahrtsstaatliche Umverteilung sinkt, wenn der Anteil der Gruppen in der Bevölkerung steigt, deren Werte und Gewohnheiten die einheimische Bevölkerung nicht kennt, man also nicht weiß, ob sich diese Gruppen an wohlfahrtsstaatliche Reziprozitätsregeln halten werden.98 Hinzu kommt, dass Schweden wie die Niederlande lange Zeit eine starke Wohlfahrtsstaatlichkeit mit egalitären Politiken kombinierten, die den Multikulturalismus förderten, was – im Ergebnis durchaus paradox und unbeabsichtigt – die kulturelle Integration erschwerte.99 Ganz generell ist die Beschäftigungsquote bestimmter Einwanderergruppen und hier wiederum insbesondere der Frauen in diesen Gruppen niedriger als die der Einheimischen und die Arbeitslosigkeit höher, so zum Beispiel die Arbeitslosigkeit von Zuwanderern nordafrikanischer oder arabischer 97 Vgl. Philipp Genschel / Peter Schwarz, Tax Competition and Fiscal Democracy, in: Schäfer/ Streeck, Politics, S. 59–83, hier: S. 59; aktuell für Schweden: Philip Mehrtens, Staatsschulden, Haushaltskonsolidierung und staatlicher Gestaltungsspielraum in Schweden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), S. 24–30, hier: S. 24. 98 Vgl. Alberto Alesina / Edward L. Glaeser, Fighting Poverty in the US and Europe: A World of Difference, Oxford 2004. 99 Ruud Koopmans, Trade-Offs between Equality and Difference: Immigrant Integration, Multiculturalisms and the Welfare State in Cross-National Perspective, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 36 (2010), S. 1–26, hier: S. 1.

294 Ilona Ostner

Herkunft.100 Dieses Faktum trifft auch auf die Niederlande und Schweden zu. Kulturell heterogene, großzügige Wohlfahrtsstaaten wie die Niederlande oder Schweden stehen daher vor der schwierigen Aufgabe, die Zugangsregeln zu Sozialleistungen für Zuwanderer so zu gestalten, dass sie längerfristig die Akzeptanz und das Überleben eines nach wie vor universalistischen Wohlfahrtsstaats sichern helfen und zugleich rechtspopulistischen Rufen nach einer nach wie vor expansiven, nun partikularistischen Sozialpolitik für regeltreue, »verdiente«, Einheimische entgegenwirken.

100 OECD (Hg.), International Migration Outlook 2018, Paris 2018, S. 87, 91.

Almuth Ebke

THATCHER ALS ZÄSUR? Die IWF-Krise 1976, gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und das Narrativ des »British Decline«

D

er unerwartete Aufstieg Margaret Thatchers zunächst zur Parteichefin der Conservative Party im Jahr 1975 und dann zur Premierministerin im Jahr 1979 fiel in eine Zeit, die in der kollektiven Erinnerung Großbritanniens als Periode der Krise gilt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und soziale Spannungen1, »Stagflation«2, Währungskrisen und »Ölpreisschock« stellten die Regierungen sowohl der Conservative als auch der Labour Party in den 1970er Jahren vor große wirtschaftspolitische Herausforderungen, an denen die bisher verwendeten und bewährten Instrumente der keynesianisch orientierten Globalsteuerung zu scheitern drohten.3 Ökonomische Krisen galten bald in der britischen Wirtschaft als endemisch; ein Zustand, gegen den Margaret Thatcher und weitere wirtschaftliche Reformer innerhalb der Conservative Party mit teils rabiaten Methoden vorgehen wollten. Im Gegenzug wurden Thatcher und ihre Regierung von vielen Zeitgenossen, aber auch historiographisch als Vorboten und Phalanx des Endes konsensualer Wirtschafts- und Sozialpolitik gesehen. Auch heute noch ruft ihr politisches Erbe in der öffentlichen Auseinandersetzung, aber auch in der britischen Historiographie teils heftige Debatten hervor. Ihr pragmatischer Politikstil gab Anlass für eine Reihe von Anekdoten und geflügelten Worten, nicht zuletzt

1 Vgl. beispielsweise George Lurcy Bernstein, The Myth of Decline. The Rise of Britain since

1945, London 2004, S. 269. 2 Hohe Inflationsraten und stagnierendes Wirtschaftswachstum im gleichen Zeitraum. Vgl.

Nicholas Woodward, The Management of the British economy, 1945–2001, Manchester 2004, S. 122–123. 3 Vgl. Jim Tomlinson, The Politics of Decline. Understanding postwar Britain, Harlow 2001, S. 84.

296 Almuth Ebke

das bekannte »the Lady’s not for turning« auf dem Parteitag der Konservativen im Jahr 1980.4 Die Person Thatcher ist dabei eng mit einem Programm ökonomischer und sozialer Erneuerung verknüpft, mit dem Wirtschaft, Staat und Gesellschaft grundlegend reformiert werden sollten. Es wurde unter dem Begriff »Thatcherismus« bekannt, dessen wirtschaftliche Komponente vom ehemaligen Schatzkanzler Nigel Lawson aus der Rückschau als Versuch beschrieben wurde, eine niedrige Inflationsrate mit einem kleinen Staat und freien Märkten durch die enge Kontrolle der Geldmenge, Beschneidung der Macht der Gewerkschaften sowie durch Privatisierungen zu erreichen5 – ein Programm, das schon zeitgenössisch von Kritikern als Kernbestandteil einer »neoliberalen Wende« gesehen wurde. Das wirtschaftspolitische Reformprogramm wurde eingerahmt von der Forderung nach der Rückkehr zu traditionellen, gar zu »viktorianischen Werten« sowie einem außenpolitisch offensiven Kurs. Rhetorisch verpackt wurden diese Maßnahmen durch die sogenannten »conviction politics«, also der Behauptung, die eigene politische Praxis beruhe weniger auf politischem Taktieren denn auf fundamentalen persönlichen Prinzipien.6 Der »Thatcherismus« gilt heute in den öffentlichen, aber auch historiographischen Darstellungen als Wasserscheide der britischen Nachkriegsgeschichte. Den Aufstieg der Premierministerin und das mit ihrem Namen verbundene politische Projekt allein aus der wirtschaftspolitischen Lage zu erklären, ist jedoch zu kurz gegriffen. Dieses Urteil hat selbst viel mit dem intellektuellen Klima der Zeit wie auch der Selbststilisierung einer Machtpolitikerin zu tun, in der politische Widersprüche bewusst überdeckt wurden.7 Neben der ökonomischen Entwicklung und den Reaktionen der politischen Elite auf die daraus erwachsenden Herausforderungen ist an dieser Stelle der ideengeschichtliche Hintergrund entscheidend, vor dem sich die Debatten und Entscheidungsprozesse abspielten. In diesem Beitrag geht es daher darum, grundlegende Denkmuster der Zeitgenossen herauszuarbeiten und diese zu historisieren. Denn Entscheidungen entstehen immer in 4 Vgl. Margaret Thatcher, ›Speech to Conservative Party Conference‹, Thatcher Archive, Chur-

chill Archive Centre, Cambridge, CCOPR 735/80, 10.10.1980. 5 »Thatcherism attempts to promote low inflation, the small state, and free markets through tight control of the money supply, privatisation and constraints on the labour movement.« Vgl. Nigel Lawson, The View from No. 11. Memoirs of a Tory Radical, London 1992, S. 64. 6 Vgl. beispielsweise Mark Bevir / R. A. W. Rhodes, Narratives of »thatcherism«, in: West European Politics 21, (1998), 1, S. 97–119; Eric J. Evans, Thatcher and Thatcherism, London 1997, S. 3; Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2002, S. 13–14, 418–419; Ben Jackson / Robert Saunders, ›Introduction‹, in: dies. (Hg.), Making Thatcher’s Britain, Cambridge 2012, S. 12–13. 7 Allerdings bedeutete das nicht, dass auf einen starken Staat verzichtet werden sollte. Gerade in Bezug auf den Umgang mit den Gewerkschaften oder der Lokalverwaltung zeigte sich, dass Thatcherism durchaus auf einen starken und durchsetzungsfähigen Staat baute. Vgl. Andrew Gamble, The Free Economy and the Strong State. The Politics of Thatcherism, Basingstoke 1988, S. 128–138.

THATCHER ALS ZÄSUR? 297

Auseinandersetzung mit zeitgenössisch als selbstverständlich betrachteten Denkund Handlungsmustern, die die individuelle Wahrnehmung strukturierten.8 In der britischen Nachkriegsgeschichte ist vor allem das Narrativ des »Niedergangs« von Bedeutung, das häufig als Interpretament für die machtpolitischen, wirtschaftlichen, industriellen und kulturellen Wandlungserscheinungen der Zeit wirkte. Aus dem Kontext des Decline heraus wird die Überhöhung parteipolitischer Polarisierung erklärbar, in der wirtschaftliche Theorien als gesellschaftliche Ordnungsentwürfe verstanden und stilisiert wurden. Aus diesem Grund soll zunächst auf das Narrativ des »British Decline« eingegangen werden, um dann in einem zweiten Schritt anhand der im Kabinett geführten Debatte anlässlich der IWF-Krise 1976 das Zusammenspiel des Decline-Narrativs mit britischer Parteipolitik in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren aufzeigen. Auf diese Weise ist es möglich zu zeigen, wie seit Mitte der 1970er Jahre in Großbritannien politische Programme, die ihren Ursprung in einer wahrgenommenen Krise der sozialen Marktwirtschaft hatten, im Kontext des aufgeheizten Diskurses des »Decline« zu gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen überhöht wurden.

I.

Das Narrativ des »British Decline«

Das Erklärungsmuster des Niedergangs wurde im akademischen und journalistischen Kommentar der Zeit meist als gegeben vorausgesetzt und als nachweisbare historische Entwicklung verstanden.9 Der teils als relativ, teils als absolut verstandene Abstieg Großbritanniens wurde entlang der zwei Erzählstränge des wirtschaftlichen (economic decline) und des machtpolitischen Niedergangs (imperial decline) konstruiert.10 Die Debatte über die Ursachen für diese Ent8 Vgl. hierzu Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter,

Frankfurt a. M. 52006, S. 355; Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2008, S. 96; Lutz Raphael, »Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit«. Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogrammes«, in: Lutz Raphael / Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006, S. 12. 9 Vgl hierzu Edward Goldsmith, Can Britain survive?, London 1971; Isaac Kramnick (Hg.), Is Britain dying?. Perspectives on the Current Crisis, Ithaca 1979; Samuel H. Beer, Britain against itself. The Political Contradictions of Collectivism, London 1982; Patrick Hutber (Hg.), What’s Wrong with Britain?, London 1978. Zur Wirkungskraft in der Geschichtswissenschaft vgl. beispielsweise die folgenden Bücher, in denen der »British Decline« als feststehende Tatsache behandelt wird: Martin J. Wiener, English Culture and the Decline of the Industrial Spirit, 1850–1980, Cambridge 1981; Correlli Barnett, The Audit of War. The Illusion and Reality of Britain as a Great Nation, Nachdruck, London 2001; Peter Wende, Großbritannien 1500–2000, München 2010. 10 Vgl. Andrew Gamble, Theories and Explanations of British Decline, in: Richard English / Michael Kenny (Hg.), Rethinking British Decline, Basingstoke 2000, S. 3; Peter Mandler, The English National Character. The History of an Idea from Edmund Burke to Tony Blair, New Haven 2006, S. 215.

298 Almuth Ebke

wicklung wurde seit den 1950er und 1960er Jahren geführt und erreichte in den 1970er Jahren neue Prominenz. Sie griff auf Diskussionen des späten 19. Jahrhunderts zurück, in denen die wirtschaftliche Stärke des Vereinigten Königreichs angesichts des Aufstiegs der USA und des Deutschen Reichs gefährdet schien. Die wirtschaftlichen, industriellen und politischen Entwicklungen der 1970er Jahre schienen diese Interpretation der britischen Nachkriegsgeschichte als Verfallsgeschichte zu bestätigen: Strukturwandel, globale ökonomische Krisenphänomene wie der »Ölpreisschock« 1973 und die sich daran anschließende weltweite Rezession 1974/5 sowie die Streikwellen 1972, 1973/4 und 1978/9 überlagerten sich in der zeitgenössischen Wahrnehmung.11 Mit dem Topos des »Decline« war es möglich, diese Ereignisse in längerfristige Entwicklungen einzuordnen und ihnen somit Sinn zu verleihen. Die Interpretation des wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergangs wurde zeitgenössisch zum wirkmächtigen Narrativ, das in engem Zusammenhang mit einem allgemeinen Krisenbewusstsein stand, das über den wirtschaftlichen Rahmen hinausging: Die sozialen Konsequenzen der Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien und das Erstarken des schottischen und walisischen Nationalismus waren nur zwei Entwicklungen, die als Krisen gedeutet wurden. Im Kontext von Schottland und Wales wurde unter Rückgriff auf Tom Nairn schon bald vom drohenden »break up of Britain« gesprochen.12 Der Beitritt des Vereinigten Königreichs in die Europäischen Gemeinschaften, der Bürgerkrieg in Nordirland sowie die vermehrt auftretenden wirtschaftlichen Engpässe führten nicht nur dazu, dass der Begriff der »Krise« weit verbreitet war, sondern dass diese auch als besonders tiefgehend betrachtet wurde. Die Rhetorik der Krise stieg in diesem Kontext zu einem Mittel der Politik auf: Indem sie auf den Topos der Krise Bezug nahmen, war es Politikern beider großer Parteien möglich, die von ihnen propagierten Maßnahmen als notwendige Konsequenz widriger Umstände zu legitimieren, beziehungsweise ihre Vorgänger als Verursacher der Krise zu diskreditieren.13 Die Träger dieses Narrativs waren vor allem kulturelle und politische Eliten. Journalisten, Wissenschaftler und Akademiker verwendeten den Topos des »British Decline« parteiübergreifend, auch wenn man eine Tendenz von linker gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Kritik in den 1960er Jahren hin zu mehr Kritik von konservativer Seite in den 1970er Jahren feststellen kann. Der dem politisch 11 David Edgerton konstatiert dies für die 1980er Jahre; eine Feststellung, die angesichts der Dauer der genannten Entwicklungen auch auf die 1970er ausgeweitet werden kann. Vgl. David Edgerton, The Decline of Declinism, in: The Business History Review 2 (1997), S. 201–206, S. 201. 12 Vgl. Tom Nairn, The Break-up of Britain. Crisis and Neo-nationalism, London 1977, S. 11–14. 13 Zur Funktionsweise von Krisen im politischen Kontext vgl. beispielsweise Rüdiger Graf, Die »Krise« im intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer / Rüdiger Graf (Hg.), Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005, S. 77–106.

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linken Spektrum zuzuordnende Journalist Anthony Sampson ist dafür ein prominentes Beispiel: Während er in seinem 1962 erstmals publizierten und durch fünf überarbeitete Neuauflagen gehenden Werk »The Anatomy of Britain« britische Eliten und Wirtschaftsstrukturen kritisch untersuchte,14 haben darauffolgende Arbeiten anderer Autoren die These des »Imperial Overstretch« vertreten oder auf kulturelle Faktoren wie die anti-industrielle Haltung britischer Eliten hingewiesen.15 Der sogenannte Niedergang Großbritanniens im Vergleich zu anderen OECD-Staaten wurde von der Mehrheit der Kommentatoren als Tatsache betrachtet. Erst in den 1990er Jahren haben Wissenschaftler begonnen, diese Vorstellung weniger als politische und historische Realität denn als kulturelles Konstrukt zu betrachten, das jedoch nicht minder handlungsleitend geworden war.16

II. Wirtschaftspolitik in der Krise Nach Jahren des Wachstums war die britische Wirtschaft seit Ende der 1960er Jahre in der Krise. 1968 musste das Pfund abgewertet und ein weiteres Darlehen beim Internationalen Währungsfond (IWF) beantragt, die Zinsen und Steuern erhöht und Löhne und Preise eingefroren werden. Zu Beginn der 1970er Jahre war die britische Wirtschaft trotz einer relativ ausgeglichenen Zahlungsbilanz durch internationale währungspolitische Turbulenzen, eine modernisierungsbedürftige Industrie, ein angespanntes Verhältnis zu den Gewerkschaften und durch das beunruhigende Phänomen der »Stagflation« geprägt.17 Die wirtschaftlichen Probleme, mit denen in den 1970er Jahren zunächst die konservative Regierung Edward Heaths, im Anschluss die von Labour gestellten Regierungen der Premierminister Harold Wilson und James Callaghan konfrontiert waren, widersprachen der bisherigen ökonomischen Orthodoxie: Denn die neuartige Kombination 14 Vgl. Anthony Sampson, Anatomy of Britain, London 1962. 15 Für eine konzise Übersicht der unterschiedlichen Argumente, die in den 1970er Jahren vor-

gebracht wurden (allerdings aus einer deklinistischen Perspektive) vgl. Andrew Gamble, Britain in Decline. Economic Policy, Political Strategy and the British State, London 41994, S. 26 ff. 16 Jim Tomlinsons Veröffentlichungen haben in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle eingenommen, vgl. Jim Tomlinson, Economic »Decline« in Post-War Britain, in: Paul Addison (Hg.), A Companion to Contemporary Britain 1939–2000, Malden 2007; ders., The Decline of the Empire and the Economic »Decline« of Britain, in: Twentieth Century British History 3 (2003), S. 201–221; ders., The Politics of Decline; ders., Inventing »Decline«. The Falling Behind of the British Economy in the Postwar Years, in: Economic History Review 49 (1996), 4, S. 731–757. Zur Konstruktion von »Declinism« vgl. auch Almuth Ebke, »The Party is Over«? Britische Wirtschaftspolitik und das Narrativ des »Decline«, 1970–1976, Frankfurt a. M. 2012; Philippa Levine, Decline and Vitality: the Contradictions and Complexities of Twentieth-Century Britain, in: Twentieth Century British History 21 (2010), 3, S. 396–404; Richard English / Michael Kenny, Conclusion: Decline or Declinism?, in: Richard English / Michael Kenny (Hg.), Rethinking British Decline, Basingstoke, Hampshire 2000. 17 Vgl. Woodward, The Management of the British Economy, S. 135–136.

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einer gleichzeitig steigenden Inflationsrate und stagnierenden Wirtschaftswachstums hatte sich als resistent gegen die nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik erwiesen, die Regierungen beider Parteien – grob gesprochen – seit Ende des Zweiten Weltkriegs verfolgt hatten. Eine im Kern auf John Maynard Keynes zurückgehende Politik der antizyklischen Globalsteuerung hatte bis in die 1970er Jahre die Grundlage britischer Wirtschaftspolitik gebildet. Keynes selbst hatte unter Eindruck der »Großen Depression« eine interventionistische, primär am Ziel der Sicherung von Vollbeschäftigung orientierte staatliche Wirtschaftspolitik entwickelt. In volkswirtschaftlicher Theorie und politischer Praxis des Vereinigten Königreichs, aber auch vieler weiterer Länder erlangte der Keynesianismus nach dem Zweiten Weltkrieg weite Verbreitung.18 Die Schwierigkeiten, auf die die jeweiligen Regierungen bei dem Versuch stießen, diese wirtschaftlichen Herausforderungen anzugehen, lagen zum Teil auch an der Weise, in der die Arbeitsbeziehungen im Vereinigten Königreich organisiert waren. Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat waren kaum gesetzlich geregelt. Anstelle dessen bestand das System des Free Collective Bargaining, also der Tarifautonomie basierend auf individuellen Absprachen der einzelnen Gewerkschaft mit dem jeweiligen Betrieb.19 Die Gewerkschaften waren seit dem Trade Disputes Act von 1906 weitgehend vor Schadensersatz und Haftungsansprüchen geschützt. Die Stellung der Arbeitnehmervertretungen war nach 1945 dadurch zusätzlich gestärkt worden, dass sie in der keynesianischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit eine immer bedeutendere Position einnahmen und sich auf diese Weise zu einer ernstzunehmenden wirtschaftlichen und politischen Kraft entwickelt hatten. Im Rahmen der wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten wurden die Gewerkschaften zunehmend als eine zentrale Ursache der Probleme betrachtet: Das in vielen traditionellen Betrieben praktizierte System des closed shops,20 die zunehmende Zahl teils ›wilder‹ Streiks, die rechtliche Immunität der Streikenden, das Fehlen einer allgemeinen staatlichen Regelung der Tarifverhandlungen sowie die schier unüberschaubare Anzahl teils kleinster Gewerkschaften21 nährten seit Ende der 1960er sowohl in der Bevölkerung als auch bei Politikern

18 Diese Eigenschaften zeigten sich besonders, als der Nachkriegskonsens in die Krise geriet. Vgl. beispielsweise Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 610–613; Winfried Süß, Der keynsianische Traum und sein langes Ende. Sozioökonomischer Wandel und Sozialpolitik in den siebziger Jahren, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht?, Göttingen 2008, S. 120–123. 19 Vgl. Duncan Gallie, Social radicalism in the French and British working classes: some points of comparison, in: British Journal of Sociology 30 (1979), 4, S. 500–524, S. 516. 20 In einem Closed Shop sind alle Arbeitnehmer eines Betriebs verpflichtet, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein oder es nach ihrem Betriebseintritt zu werden. Vgl. Mergel, Großbritannien seit 1945, Göttingen 2005, S. 52. 21 Die Gewerkschaften waren in Großbritannien nicht nach Branchen, sondern Berufsgruppen geordnet, sodass in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften operieren konnten.

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beider Parteien die Vorstellung von der destruktiven Kraft der Arbeitnehmerverbände.22 Das Problem wurde für die Labour Party dahingehend verschärft, dass Gewerkschaftsmitglieder nicht nur ein automatisches Stimmrecht auf den Parteitagen hatten, sondern darüber hinaus auf den Mitgliederversammlungen bis Mitte der 1990er Jahre die parlamentarischen Kandidaten en bloc bestimmten. »One member, one vote« wurde in voller Konsequenz erst 2014 unter dem damaligen Labour-Vorsitzenden Ed Miliband eingeführt. Das Problem zu großer Gewerkschaftsmacht wurde als eine Ursache für die mangelnden Investitionen in die britische Industrie gedeutet, eines der Grundübel, das für den relativen wirtschaftlichen Abstieg Großbritanniens verantwortlich sei.23 Die Neuordnung der Gewerkschaftsbeziehungen wurde daher als eine Hauptaufgabe der neuen Regierung wahrgenommen, schienen sie doch Grundlage für die Reorganisation des britischen Wirtschaftslebens insgesamt zu sein. Bereits 1969 hatte Barbara Castle als Secretary of State for Employment and Productivity der Labour-Regierung versucht, das Verhältnis zwischen Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften gesetzlich zu regeln; ihr Vorschlag wurde allerdings nicht einmal im Parlament abgestimmt, da er auf heftigen internen Widerstand im Kabinett und bei den Gewerkschaften gestoßen war. Auch der konservative Premierminister Edward Heath war drei Jahre später an einer Gewerkschaftsreform gescheitert.24 Geht es um die Wirtschaftsgeschichte »nach dem Boom«, werden als dominante Zäsur der 1970er Jahren in der Regel der »Ölpreisschock« und die darauffolgende Wirtschaftskrise in mehreren westlichen Ländern genannt.25 Obgleich diese Krise dadurch, dass sie im Vereinigten Königreich mit ausgedehnten Streiks der Bergarbeiter und einer Neuwahl verbunden war, dezidiert von politischem Interesse sowohl für die Conservative als auch die Labour Party war und dazu beitrug, die Bergarbeiter zu einem Symbol einer angesichts der thatcherschen ›Tendenzwende‹ untergehenden Wirtschaftsordnung zu stilisieren, eignet sich die rund zwei Jahre später stattfindende IWF-Krise besser, um die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ansätze aufzuzeigen, die angesichts Großbritanniens fortlaufender wirtschaftlicher Probleme vorgebracht wurden.26 Vor allem die gestei22 Vgl. Bernstein, The Myth of Decline, S. 210. Ein Indikator für die steigende Besorgnis über

die wachsende Zahl der Streiks stellt die Tatsache dar, dass ab 1966 in den Gallup Polls die Rubrik »strikes« als mögliche Antwort für die Frage »What would you say is the most urgent problem facing the country at the present time?« aufgeführt wurde. Vgl. Anthony Stephen King / Robert J. Wybrow, British political opinion, 1937–2000. The Gallup polls, London 2001, S. 263 f. 23 So zum Beispiel vom konservativen Premierminister Edward Heath, vgl. Edward Heath, The course of my life. My autobiography, London 1998, S. 325. 24 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier, Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 262. 25 Für eine Kritik an dieser Sichtweise vgl. Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin 2014, S. 24–25. 26 So lässt sich unter anderem auch der Symbolcharakter erklären, der dem rund zehn Jahre später stattfindendem Bergarbeiterstreik 1984/85 zeitgenössisch und in Teilen der wissenschaftlichen Forschung zugeschrieben wurde.

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gerte Bedeutung, die Inflationswerten zeitgenössisch beigemessen wurden, tritt hier deutlich hervor. Der Handlungsspielraum, über den die Labour-Regierung Mitte der 1970er Jahre verfügte, war dabei durch das enge Wechselverhältnis von Niedergangsdiskurs, den in Parteiorganisation und Konvention liegenden politischen Verbindlichkeiten gegenüber den Gewerkschaften, innerparteilichen Streitigkeiten und internationalem Druck gekennzeichnet.

III. Die IWF-Krise 1976, »British Decline« und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen Der Wertverlust des Pfundes stellte in der britischen Nachkriegszeit ein gravierendes finanzpolitisches Problem dar. Nicht zuletzt als Folge der weltweiten Rezession im Zuge der Ölkrise sowie der Geldwert-, Fiskal- und Einkommenspolitik der Regierungen Heath, Wilson und Callaghan hatte sich dessen Kursverfall Mitte der 1970er Jahre noch weiter verschärft:27 1975 schienen sowohl die öffentlichen Ausgaben als auch die Lohnerhöhungen außer Kontrolle geraten zu sein. Inflation, bis dahin mehrheitlich als Nebenprodukt einer als notwendig erachteten Stimulierung britischer Wirtschaft zur Sicherung von Arbeitsplätzen betrachtet, wurde mehr und mehr als ernstzunehmende Schwierigkeit gesehen; nicht zuletzt deshalb, weil Großbritannien Gefahr lief, seine internationalen Verpflichtungen durch den Wertverfall des Pfundes nicht mehr begleichen zu können.28 Mit steigender Teuerungsrate gab es zu Beginn des Jahres 1975 in der Presse sogar Diskussionen über Hyperinflation und den möglichen Zusammenbruch der Demokratie.29 Anfang 1976 schien die Inflationsrate mit dem wirtschaftspolitisch unorthodoxen Vorgehen von Haushaltskürzungen in Zeiten der Rezession sowie der erprobten Methode einer kooperativen Einkommenspolitik im Rahmen eines Abkommens mit den Gewerkschaften (»Social Contract«) wieder unter Kontrolle gebracht. Die Spitze der Geldentwertung war im Frühjahr 1975 erreicht worden, 1976 war sie schon wieder auf 15 Prozent gesunken, 1977 auf 14 Prozent 27 Vgl. Kathleen Burk / Alec Cairncross, »Goodbye, Great Britain«. The 1976 IMF crisis, New

Haven 1992, S. 12. 28 Vgl. ebd., S. 16. 29 Vgl. beispielsweise Record Gains for Share Prices as Investors Fear Hyperinflation, in: The

Times, 18.4.1975, S. 17; Francis Kinsman, The Hyper-Inflation Basic Survival Kit, in: The Times, 18.1.1975, S. 18; W. J. Bishop, Danger of Playing Down Spectre of Hyper-Inflation. Letters to the Editor, in: The Times, 13.3.1975, S. 20. Vgl. auch Woodward, The Management of the British Economy, 1945–2001, S. 144. Margaret Thatcher griff als Oppositionsführerin 1975 diese Diskussionen auf und versuchte, sie zu ihrem politischen Vorteil zu instrumentalisieren, vgl. Margaret Thatcher, Progress through Interdependence, in: ders. (Hg.), Let our children grow tall. Selected Speeches 1975–1977, London 1977, S. 15–27, hier S. 18. Vgl. hierzu auch Keith Joseph, Speech at Preston. Inflation is Caused by Governments, unter: http://www.margaretthatcher. org/document [14.11.2018].

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und 1978 schließlich auf 11 Prozent.30 Doch auch wenn die Inflationskrise 1976 überwunden schien, war das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte in die Leistungsfähigkeit der britischen Wirtschaft nachhaltig erschüttert worden. Eine zunehmende Anzahl von Streiks und vergleichsweise schlechte Wirtschaftsdaten führten international zu dem Eindruck, dass es mit der Volkswirtschaft Großbritanniens bergab gehe. Dieser Vertrauensverlust erstreckte sich auch auf das Pfund, das in der Folge erneut an Wert verlor. Jedoch lösten nicht allein die hohen Inflationsraten der Jahre 1973–1975 die sogenannte »Sterlingkrise« des Jahres 1976 aus: Der Treasury und die Bank of England verordneten im März 1976 eine leichte Abwertung des Pfundes zur Ankurbelung des britischen Exports. Die Folgen an den Märkten waren deutlich:31 Sie interpretierten die Maßnahme als staatlich verordnete Abwertung und somit als Indiz für künftige Verluste und verkauften die britische Währung in großen Mengen – der Auftakt für ein kontinuierliches Sinken des Sterlingwerts im Verlauf der nächsten Monate weit über den intendierten Betrag hinaus. Um das Vertrauen der internationalen Märkte wiederherzustellen, versuchte die Regierung zunächst, die Währung mit Stützungskäufen zu stabilisieren; Mitte Juni sollte ein Darlehen von rund 3 Milliarden £ (5,6 Milliarden $) der Bundesrepublik Deutschland, der USA, Kanadas, Frankreichs, der Schweiz und Japans den Fall des Pfundes für das Erste abfangen.32 Als das Darlehen allein nicht ausreichte, um das Vertrauen der Investoren wiederzuerlangen, wurden am 22. Juli 1976 auf Druck von Schatzkanzler Denis Healey Kürzungen der öffentlichen Ausgaben von rund 2 Milliarden $ für das Haushaltsjahr 1977/1978 verabschiedet. Ziel war, durch eine strengere Finanzpolitik die Märkte zu beruhigen.33 Drohende Streiks der National Union of Seamen und der Arbeiter des Automobilherstellers British Leyland sowie die Publikation schlechter Handelszahlen im September trugen jedoch nicht dazu bei, Vertrauen in das Pfund zu erzeugen: Die Bank of England musste am 6. September 1976 die monetäre Unterstützung des Pfundes aufgeben, 30 Vgl. Max-Stephan Schulze / Nicholas Woodward, ›The Emergence of Rapid Inflation‹, in: Richard Coopey / Nicholas Woodward (Hg.), Britain in the 1970s, London 1996, S. 114 f. 31 Denis Healey schiebt in seinen Memoiren die Schuld für den Vertrauensverlust der Märkte im März 1976 auf die Bank of England; allerdings vergisst er dabei, dass die Senkung der Zinssätze, wie sie beispielweise am 5. März 1976 vorgenommen wurde, nicht ohne die Zustimmung des Treasury geschehen konnte. Vgl. Burk/Cairncross, »Goodbye, Great Britain«, S. 24; Andy Beckett, When the Lights Went Out. Britain in the Seventies, London 2009, S. 330 f. Nach den Angaben seines engsten Mitarbeiters, Edmund Dell, sprach sich Healey vehement gegen eine Abwertung des Sterling aus. Vgl. Edmund Dell, A Hard Pounding. Politics and Economic Crisis 1974–1976, Oxford 1991, S. 206–208. Die Finanzjournalisten Stephen Fay und Hugo Young waren 1978 der Ansicht, dass die Abwertung des Pfundes einer Strategie folgte, die allerdings fehlschlug. Vgl. Stephen Fay / Hugo Young, The Day the £ Nearly Died, London 1978, passim. 32 Die kreditgebenden Staaten hofften so, eine von der geschwächten britischen Wirtschaft ausgehende internationale Währungskrise abwenden zu können. Vgl. Kevin Hickson, The IMF Crisis of 1976 and British Politics, London 2005, S. 88. 33 Vgl. Burk/Cairncross, »Goodbye, Great Britain«, S. 50.

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da ihre Goldreserven zur Neige gingen. Am 27. September 1976 verzeichnete das Pfund ein Rekordtief von 1,68 $.34 Angesichts des akuten Werteverlusts, der mit herkömmlichen Mitteln nicht aufzuhalten schien, entschloss sich die britische Regierung am Abend des 28. Septembers, einen Darlehensantrag beim Internationalen Währungsfonds einzureichen. Dies war zunächst kein außergewöhnlicher Schritt; das Vereinigte Königreich hatte zwischen 1947 und 1971 mehr als jedes andere Land vom IWF geborgt, allein in den 1960er Jahren nahezu jährlich.35 Diese Privilegierung hatte jedoch bereits in der Vergangenheit für Unwillen gesorgt.36 1976 war der IWF jedoch bemüht, jeden Anschein einer Bevorzugung zu vermeiden; nicht nur, weil die britische Regierung bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres um Hilfe bat, sondern da auch Italien, Portugal und Mexiko Darlehensanträge gestellt hatten.37 Die britische Regierung sah sich daher 1976 mit einem raueren Verhandlungsklima konfrontiert: Die finanzpolitischen Auswirkungen der Ölkrise, des Vietnamkriegs und des Zusammenbruchs von Bretton Woods waren auch an der amerikanischen Wirtschaft nicht spurlos vorübergegangen. Durch den fortschreitenden Wertverlust des Dollars war die Begrenzung der Inflationsrate eine Priorität im Denken der amerikanischen Verwaltung und Regierung geworden. Anstelle wie noch wenige Jahre zuvor die Staaten nach keynesianischer Tradition zu ermutigen, die Rezession nach der Ölkrise durch Investitionen zu bekämpfen, übten amerikanische Finanzexperten als größter Kreditgeber innerhalb des IWF Druck auf kreditnehmende Länder aus, ebenso wirtschaftsliberale Politiklinien einzuführen.38 Die Unterhändler forderten daher im Gegenzug für die Gewährung eines Darlehens an Großbritannien noch tiefgreifendere Einschnitte in die öffentlichen Ausgaben, da sich die Krise nicht allein durch einen Liquiditätszufluss lösen lasse.39 Da das Vereinigte Königreich bereits Ende des Jahres 1975 ein Darlehen beim Internationalen Währungsfond beantragt hatte, war seine Kreditmarge ausgeschöpft; weitere finanzielle Unterstützung war nach den IWF-Regularien nur noch mit handfesten Auflagen zu bekommen – eine Vorgehensweise, wie sie bisher nur bei Entwicklungsländern angewandt worden war, und die das Umdenken innerhalb des IWF verdeutlicht. Die unterschiedlichen Handlungsoptionen, die im Zuge der Sterlingkrise im Kabinett erörtert wurden, legen Zeugnis davon ab, wie sich das wirtschaftspolitische Denken Labours angesichts der offensichtlichen Wirkungslosigkeit der keynesianischen Globalsteuerung verändert und polarisiert hatte. Drei Hand-

34 Vgl. Beckett, When the Lights Went Out, S. 332 f. 35 1961–1965, 1967 und 1969. Vgl. ebd., S. 319. 36 Unter anderem 1967, als das Land einmal mehr den in den Augen vieler anderer Staaten

wohlverdienten Sanktionen entging. Vgl. Burk/Cairncross, »Goodbye, Great Britain«, S. 10–11. 37 Vgl. Beckett, When the Lights Went Out, S. 69. 38 Vgl. Hickson, The IMF Crisis of 1976, S. 41. 39 Vgl. Beckett, When the Lights Went Out, S. 320.

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lungsoptionen wurden diskutiert: eine »Alternative Economic Strategy«, Keynesianismus und eine Form von »modifiziertem Monetarismus«.40 Diese Alternativen stehen jedoch nicht nur für unterschiedliche Handlungsoptionen im Umfeld der IWF-Krise, sondern auch für grundlegend verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Tony Benn, der sich im Lauf der 1970er Jahre zur Speerspitze der Linken mauserte, entwickelte zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Vereinigten Königreichs im Allgemeinen und der IWF-Krise im Besonderen die »Alternative Economic Strategy«. Der Energieminister lehnte weitere Haushaltskürzungen als schädlich ab: Sie bedrohten Arbeitsplätze und stellten damit das erst 1974 geschlossene Abkommen mit den Gewerkschaften (»Social Contract«) zur Disposition; die Investitionsbereitschaft britischer und internationaler Unternehmer und somit die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie werde trotzdem weiter sinken.41 Benn präsentierte stattdessen einen Plan, der vorsah, Großbritannien vom Weltmarkt abzuschotten, um innerhalb eines Zeitraums von vier bis fünf Jahren die britische Industrie zu regenerieren – passend für den erklärten Gegner von Großbritanniens Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften. Import- und Devisenkontrollen, niedrigere Zinssätze für die Sterlingguthaben privater Währungshändler zur Belebung der Investitionen in die Industrie sowie eine Stärkung des National Enterprise Board (NEB) sollten diese Erholung möglich machen. Der Befürchtung, dass die industrielle Basis Großbritanniens nicht nur durch die Inkompetenz von Regierung und Management, sondern auch durch die Aktivitäten internationaler Finanzmärkte bedroht wurde, versuchten Benn und seine Kollegen42 das Ideal einer abgeschotteten Wirtschaft, nationalisierten Industrie und verstärkter staatlicher Planung entgegenzusetzen. Benns Vorschläge zeichnen sich durch eine bewusste Abwehrhaltung gegenüber den Realitäten einer beginnenden Globalisierung und der Abhängigkeit der britischen Wirtschaft von Importen aus.43 Die übergeordnete Absicht Benns war die Transformation eines von ihm bislang als defizitär betrachteten politischen,

40 Richard Coopey und Nicholas Woodward haben diesen Begriff geprägt, vgl. Richard Coopey / Nicholas Woodward, ›The British Economy in the 1970s: an Overview‹, in: Richard Coopey / Nicholas Woodward (Hg.), Britain in the 1970s, London 1996, S. 11. 41 Vgl. The National Archives, CAB/129/193/7, Memorandum: the Real Choices Facing the Cabinet, 1.12.1976, London, S. 1–3; The National Archives, CAB/ 128/60/13, Cabinet Conclusions, 1.12.1976, London, S. 2. 42 Die Alternative Economic Strategy war von Tony Benn, Eric Heffer, Judith Hart und Michael Meacher in Gemeinschaftsarbeit erarbeitet worden. 43 Zur beginnenden Globalisierung vgl. Daniel J. Sargent, The United States and Globalization in the 1970s, in: Niall Ferguson / Charles S. Maier / Erez Manela / Daniel J. Sargent (Hg.), The Shock of the Global, Cambridge, MA 2010, passim; Charles S. Maier, »Malaise«: the Crisis of Capitalism in the 1970s, in: Ferguson/Maier/Manela u. a. (Hg.), The Shock of the Global, Cambridge 2010, S. 33.

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wirtschaftlichen und industriellen Systems;44 mittelfristiges Ziel war die Einführung sozialistischer Strukturen, um das ursprüngliche Versprechen Labours, schrittweise den Sozialismus einzuführen, mit neuem Leben zu füllen:45 Denn der 1918 eingeführte und erst 1995 unter der Führung von Tony Blair abgeschaffte berühmte »Clause IV« der Labour Party Constitution verpflichtete Labour zu einer Nationalisierungspolitik.46 Den Hintergrund für sein Positionspapier stellte die ideologische Radikalisierung des linken Labour-Flügels in den Oppositionsjahren 1970 bis 1974 dar. Die Wurzeln dieses alternativen Entwurfes gingen in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre zurück: Enttäuscht von den Ergebnissen der Labour-Regierung Harold Wilsons, besonders dem Versuch Barbara Castles, die Gewerkschaftsbeziehungen zu reformieren, und besorgt über den zunehmenden Einfluss multinationaler Unternehmen auf die britische Wirtschaft, hatte der linke Flügel innerhalb der Labour Party angefangen, die Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Arbeitern neu zu definieren.47 Der Schwerpunkt der Kritik richtete sich vor allem gegen die Bürokratie und Finanzinstitutionen; die EG wurden als Einflusssphäre vor allem letzterer betrachtet. Benns im Kabinett präsentierter Entwurf sah vor, die Kompetenzen des Staates zu stärken – im bisherigen keynesianischen System keine revolutionäre Forderung – und die Gewerkschaften deutlich aufzuwerten. Gerade die Betonung der Rechte der Industriearbeiter zeigt, wie sehr dieser Entwurf aus der Reaktion auf und Abwehr von längerfristigen Trends geboren wurde – des Industriesterbens seit den 1950er Jahren, der zunehmenden transnationalen Verflechtung vormals national verstandener Volkswirtschaften sowie der Verteidigung staatlicher Souveränität angesichts staatlicher Kontrolle entzogener multinationaler Unternehmen. Karl Marx war die dominante Inspiration, auch wenn Tony Benn das Kommunistische Manifest erst 1976 als Weih-

44 Vgl. The National Archives, Memorandum: the Real Choices Facing the Cabinet, 1.12.1976, S. 5. 45 Benn erwähnt den Begriff »Sozialismus« im Verlauf des Dokuments kein einziges Mal; dennoch scheint er in den Formulierungen durch: Benn ist der Ansicht, die Labour Party baue mit seiner Strategie auf Werte auf, die in der Partei schon lange geschätzt würden. Zudem beschreibt er das zeitgenössische Wirtschaftssystem, in dem die Gesellschaft weder alle Vorzüge genießen könne, noch bei seinem Versagen vor Leid geschützt war, als »unfair« und »undemocratic«. The National Archives, Memorandum: the real choices facing the Cabinet, 1.12.1976, S. 5. 46 Vgl. Tudor Jones, Remaking the Labour Party. From Gaitskell to Blair, London 1998, S. 103 ff. Zur Alternative Economic Strategy vgl. Ian Budge, ›Relative Decline as a Political Issue. Ideological Motivations of the Politico-Economic Debate in Post-War Britain‹, in: Contemporary Record 7 (1993), 1, S. 1–23, S. 18 f.; Alwyn W. Turner, Crisis? What Crisis? Britain in the 1970s, London 2009, S. 188; Noel Thompson, ›Economic ideas and the Development of Economic Opinion‹, in: Richard Coopey / Nicholas Woodward (Hg.), Britain in the 1970s, London 1996, S. 76 f.; Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 189 f. 47 Vgl. Richard Hill, The Labour Party and Economic Strategy, 1979–97. The Long Road Back, Basingstoke 2001, S. 26.

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nachtsgeschenk seiner Frau erhielt und bis dahin nie gelesen hatte.48 Der gesellschaftliche Anspruch der »Alternative Economic Strategy« zeigt sich auch in den später vorgetragenen Forderungen, die Privilegien der Mittel- und Oberschicht zu bekämpfen, beispielsweise durch die Abschaffung von Privatschulen (»public schools«);49 Bereiche, die der ehemalige Viscount Stansgate Anthony Wedgewood Benn als Alumnus einer Privatschule aus persönlicher Erfahrung kannte. Benn und seine Mitstreiter lehnten damit nicht nur das bisherige kapitalistische System ab, sondern auch bedeutende Teile der gesellschaftlichen Ordnung. Der Energieminister befand sich mit diesen Vorschlägen während der IWF-Krise in der Position des Außenseiters im Kabinett. Seine Ideen fanden jedoch an der Basis und bei den Gewerkschaften Zuspruch, teils in abgemilderter Form; nicht zuletzt im Wahlprogramm 1983.50 Außenminister Anthony Crosland lehnte wie Benn die Auflagen des IWF ab, wollte allerdings keine grundlegende Neuorganisation des britischen Wirtschaftssystems, sondern zeigte sich dem bis dahin praktiziertem Keynesianismus verhaftet:51 Die bereits getroffenen Maßnahmen seien ausreichend und es fehle lediglich an Zeit, damit sie wirksam werden könnten.52 Der Außenminister wandte sich in seinen Ausführungen explizit gegen die Vorschläge Benns, dem er vorwarf, eine Belagerungswirtschaft (»siege economy«) einzurichten, die zu einer Welt geprägt von Protektionismus führen und sowohl den Zusammenhalt der EG als auch Großbritanniens militärischen Beitrag zur Verteidigung des Westens in Frage stellen werde.53 Genau in diesem Negativszenario lag für Crosland jedoch auch die Verhandlungsstärke der Regierung: Um den Weg in den Protektionismus abzuwenden, werde der IWF Großbritannien das Darlehen letztendlich auch ohne größere Auflagen gewähren.54 Für Crosland stellte die Höhe der öffentlichen Ausgaben hingegen kein ernstzunehmendes Problem dar, zumal Kürzungen schon 1975 und im Januar 1976 beschlossen worden waren. Im Gegenteil: Bei 48 Zur Bedeutung von Marx vgl. Tony Benn, Against the Tide. Diaries 1973–76, London 1989, S. 12. 49 Vgl. Bob Rowthorn, The Politics of the Alternative Economic Strategy, in: Marxism Today, Januar 1981, S. 4–10. 50 Das Wahlprogramm Labours zur Wahl 1983 wurde von Labour MP Gerald Kaufman berühmterweise als »The longest suicide note in history« bezeichnet. Vgl. Malcolm L. Pearce / Geoffrey Stewart, British Political History, 1867–2001. Democracy and Decline, London 32002, S. 525. 51 »Throughout the lifetime of this Government our central objective has been to avoid massive deflation while at the same time to close our appalling trade deficit, to stimulate growth, and to reduce the rate of inflation.« The National Archives, CAB/129/193/14, Memorandum: A Strategy for Planned Expansion, 30.11.1976, London, S. 1. Zu Anthony Crosland vgl. The National Archives, Memorandum: Economic Strategy – the IMF, 29.11.1976, S. 2. 52 Vgl. The National Archives, CAB/129/193/8, Memorandum: Economic Strategy – the IMF, 29.11.1976, London, passim. 53 Vgl. ebd., S. 2. 54 Vgl. ebd.

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weiteren Einschnitten drohe eine Deflation, die die bestehenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt noch weiter verschärfen würde.55 Anthony Crosland stand als Sinnbild der revisionistischen Bewegung der 1950er Jahre für die keynesianische Orthodoxie innerhalb der Labour Party: Als Autor des 1956 publiziertes »The future of socialism« hatte Crosland argumentiert, dass mit den von der Regierung Clement Attlees nach Ende des Zweiten Weltkriegs vorgenommenen Verstaatlichungen zentraler Industrien den Forderungen von Clause IV im Grundsatzprogramm der Labour Party genüge getan sei. Crosland argumentierte während der IWF-Krise für den Status quo, der jedoch dadurch, dass die Entwürfe seiner Kabinettskollegen entweder durch sie selbst oder ihre (innerparteilichen) Gegner ideologisch aufgeladen wurden, in den Status eines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells erhoben wurde. Schatzkanzler Denis Healey hingegen vertrat im Kabinett eine diametral entgegengesetzte Position. Für ihn stellte sich nicht die Frage, ob fiskalische Anpassungen vorgenommen werden müssen, sondern wo und in welcher Höhe.56 Finanzpolitische Maßnahmen seien aufgrund der britischen Haushaltslage zwingend erforderlich, nicht nur, weil der IWF sie zur Auflage für die Gewährung eines neuen Darlehens gemacht habe. Das Vereinigte Königreich gelte international als verschwenderisch und erhalte daher von den internationalen Finanzmärkten keine Anleihen mehr, benötige diese aber, um die Rückzahlung internationaler Kredite zu finanzieren. Ein Kredit des IWF werde helfen, langfristig die verloren gegangene Kreditwürdigkeit wiederherzustellen, kurzfristig die finanziellen Probleme Großbritanniens zu lösen. Einschnitte sollten – möglichst schmerzfrei – vor allem in den öffentlichen Ausgaben vorgenommen werden, da eine höhere Einkommenssteuer aufgrund eines Abkommens mit den Gewerkschaften nur schwer umsetzbar und die Märkte besonders durch die hohen Staatsausgaben Großbritanniens beunruhigt seien. Daher schlug Healey Einsparungen im Wert von 1,5 Milliarden £ für 1977–8 und von 2 Milliarden £ für das Haushaltsjahr 1978/9 vor.57 Sollte sich die Wirtschaft in den kommenden Monaten wider Erwarten erholen, plante Healey eine weitere Senkung der Einkommenssteuer. Diese Maßnahmen sollten ferner um die Einführung eines »selective investment

55 Vgl. The National Archives, Memorandum: A Strategy for Planned Expansion, 30.11.1976, S. 2. Zu Anthony Crosland vgl. The National Archives, Memorandum: Economic Strategy – the IMF, 29.11.1976, S. 1. 56 Vgl. Benn, Against the Tide, S. 670; The National Archives, CAB/128/60/14, Cabinet Conclusions, 2.12.1976, London, S. 1. 57 Von den 1,5 Milliarden £ für das Jahr 1977–8 stammten 500 Millionen £ aus dem Verkauf von BP-Anteilen. Healey konnte sich bezüglich der Einkommenssteuer nicht durchsetzen: Von 2 Milliarden £ für das Haushaltsjahr 1978–9 sollten 500 Millionen £ nun doch durch höhere Einkommenssteuern erhoben werden. Vgl. The National Archives, CAB/128/60/15, Cabinet Conclusions, 6.12.1976, London, S. 2. Zur Rekonstruktion der Kabinettssitzung vgl. Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 345–355.

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scheme« ergänzt werden, ein System zur gezielten regionalen Unterstützung der britischen Industrie.58 Healey wurde von seinen innerparteilichen Gegnern der Vorwurf gemacht, dem Druck nachzugeben, monetaristische Wirtschaftspolitik einzuführen – Maßnahmen, die seit 1975 vor allem mit der Conservative Party unter Führung Margaret Thatchers in Verbindung gebracht wurden.59 Für Thatcher und ihre Verbündeten stellte die IWF-Krise hingegen eine Bestätigung ihrer bereits bestehenden wirtschaftspolitischen Überzeugungen dar. Geoffrey Howe, zentrale Figur in Thatchers Regierungsteam und von 1979 bis 1983 Schatzkanzler, sandte der Oppositionsführerin während der IWF-Krise einen Ausschnitt einer Rede zu, in der er bereits 1975 die Krise vorhergesagt hatte. Die Ausgaben der Regierung machten es aus seiner Sicht unmöglich, die Geldmenge unter Kontrolle zu halten: »It will not be long before anxiety about Government borrowing [will] become well nigh universal. The grave danger is that the Government will have no choice but to make a major change in its monetary and financial policies.«60 Der von Thatcher und ihren Mitstreitern propagierte Monetarismus bezeichnet nicht nur ein ökonomisches Modell, sondern war mit seinem implizierten Anti-Sozialismus und der Ablehnung der bisherigen britischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auch ein dem Keynesianismus diametral entgegengesetzter Gesellschaftsentwurf – ein Entwurf, der sich jedoch gegen Labour und die »alte« konservative Partei zugleich richtete, hatte diese doch auch die keynesianische Grundüberzeugungen in der Wirtschaftspolitik vertreten. Thatcher fasste diese Haltung in einer Rede an der Universität Zürich im Jahr 1977 in Worte: »I have reason to believe that the tide is beginning to turn against collectivism, socialism, statism, dirigism, whatever you call it. And this turn is rooted in a revulsion against the sour fruit of socialist experience. It is becoming increasingly obvious to many people who were intellectual socialists that socialism has failed to fulfil its promises, both in its more extreme forms in the Communist world, and in its compromise versions.«61

In den Kabinettsdiskussionen konnten Benns oder Croslands Vorschläge keine Mehrheit für sich verbuchen; mit Unterstützung des Premierministers setzte letztendlich Denis Healey seine Empfehlungen durch. Das Sparpaket wurde

58 Vgl. The National Archives, Memorandum: Economic policy and the IMF credit, 30.11.1976, S. 3–5. 59 Vgl. Kevin Hickson, Economic Thought, in: Anthony Seldon / Kevin Hickson (Hg.), New Labour, Old Labour, London 2004, S. 45. 60 Geoffrey Howe, Economy: Ryder Note (Howe Speech Predicting IMF Crisis), Thatcher MSS, Churchill Archive Centre, Cambridge, Thatcher MSS (2/1/3/9), 22.10.1976. 61 Margaret Thatcher, Speech to Zurich Economic Society (»The New Renaissance«), https:// www.margaretthatcher.org/document/103336 (14.3.1977) [12.06.2018].

310 Almuth Ebke

am 21.12.1976 mit den Stimmen der Opposition im Unterhaus verabschiedet;62 21 Gegenstimmen und 30 Enthaltungen aus der Labour-Fraktion zeugen davon, wie umstritten die Maßnahmen innerhalb der Partei waren.63 Healey, der zum konservativen Rand der Labour Party zählte, zeigte durch die Annahme der deflationären Forderungen, dass er zumindest bereit war, ein Lippenbekenntnis zu den Forderungen des Internationalen Währungsfonds zu leisten. Doch obgleich der Schatzkanzler die Notwendigkeit von Kürzungen herausstellte und das Finanzministerium tentative Geldmengenziele ab Oktober 1976, also schon zu Beginn der Verhandlungen mit dem IWF, formuliert hatte, bleiben doch Zweifel an der Darstellung von Healeys Konversion zum Monetarismus: Zwar wurden mit dem IWF-Abkommen Maßnahmen eingeführt, die von monetaristischen Theoretikern befürwortet wurden. Wie Kevin Hickson dargelegt hat, bedeutete dies aber keineswegs, dass die neoliberalen Politiklinien, für die die Regierung Margaret Thatchers bekannt werden sollte, bereits zu dieser Zeit umgesetzt wurden.64 Das IWF-Abkommen stellte vielmehr eine Anpassung der bisherigen keynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik Labours an ein verändertes internationales Umfeld dar; die Aufnahme einiger später als neoliberal bezeichneter Maßnahmen erfolgte weiterhin in einem keynesianisch definierten Rahmen. Die Sterlingkrise kann auf diese Weise auch als ein weiterer Schritt in einem Anpassungsprozess betrachtet werden, der seinen Ausgang in der Stagflation von 1974 und den Haushaltskürzungen von 1975 genommen hatte: Das IWF-Abkommen war damit das offizielle Eingeständnis der Labour-Regierung, dass angesichts der veränderten wirtschaftlichen Lage neue politische Linien vonnöten waren. Das Interpretament des »British Decline« wurde in den Diskussionen über die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik angesichts der ökonomischen Krisen der 1970er Jahre als rhetorische Strategie verwendet: Die Analyse von Positionspa62 Healey konnte 18 von 23 möglichen Stimmen für sich verbuchen. Zur Abstimmung vgl. The National Archives, Cabinet Conclusions, 1.12.1976, S. 7. Vgl. auch Denis Healey, Letter of Intent, in: Kathleen Burk / Alec Cairncross (Hg.), »Goodbye, Great Britain«. The 1976 IMF Crisis, New Haven and London 1992, S. 231. Der Großteil der Kürzungen wurde an dem als ineffektiv betrachteten Arbeitsmarktstimulus »Regional Employment Premium« (320 Tausend £) sowie im Verteidigungshaushalt (300 Tausend £) vorgenommen; neben dem Wohnungsbau (280 Tausend £) traf es außerdem die nationalisierten Industrien (240 Tausend £) und die Lebensmittelsubventionen (217 Tausend £). Im Bereich der Bildung und des Wohlfahrtsstaats wurden hingegen kaum Einschnitte vorgenommen. Zudem legte sich die Regierung auf Geldmengenziele fest, die sie durch die Beschränkung von Bankdarlehen zu erreichen suchte. Vgl. ebd., S. 234 f. Vgl. auch Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 355. 63 Vgl. The National Archives, Cabinet Conclusions, 2.12.1976, S. 3. Vgl. auch Benn, Against the Tide, S. 670. 64 So sollten die Märkte und damit indirekt die IWF-Funktionäre beruhigt werden: »In order to satisfy the markets, I began to publish the monetary forecasts we had always made in private, and then described them as targets, although I knew […] that I was simply redesigning my cross.« Denis Healey, The Time of My Life, London 51989, S. 434. Vgl. auch Hickson, Economic Thought, S. 45.

THATCHER ALS ZÄSUR? 311

pieren, Kabinetts- und Parlamentsprotokollen wie auch von Reden zeigt, dass das Erklärungsmuster besonders dann von den parteiinternen Kritikern des Keynesianismus in der Labour Party und Conservative Party aufgegriffen wurde, wenn kontroverse Politiklinien zur Bekämpfung der ökonomischen Probleme beschlossen werden sollten. Am deutlichsten haben dies die Entwürfe gemacht, die ideologisch am weitesten vom keynesianischen Konsens entfernt waren: Dies betraf besonders Tony Benns isolationistische Alternative Economic Strategy sowie den von Thatcher und ihren Beratern propagierten Monetarismus. Durch die Betonung des angeblich »fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergangs« in den einzelnen Positionspapieren wurden in der politischen Rhetorik die eigenen Vorschläge als nahezu alternativlos dargestellt und Handlungsdruck erzeugt.65 Denn es galt aus Sicht ihrer Verfasser erstens, den Niedergang durch neue Politikansätze zu verlangsamen oder zu stoppen. Zweitens war damit auch das Versprechen verbunden, diesen historischen Trend doch noch umzukehren: Denn im Konzept des »British Decline« war sein programmatisches Gegenstück, »national recovery«, zumindest implizit stets mit enthalten.66 Durch die Verortung ihrer politischen und wirtschaftlichen Programme im Narrativ des Niedergangs wurde diesen Gruppierungen, sei es die radikalisierte Linke um den Labour-Abgeordneten Tony Benn oder die »Neue Rechte« um Margaret Thatcher, ein kraftvolles rhetorisches Mittel zur Legitimierung ihrer Politikvorschläge, die mit bisherigen Herangehensweisen brachen, an die Hand gegeben. Der Topos des »Decline« war inhaltlich unbestimmt genug, um mit ihm umfassende Kritik an der bisherigen Politik üben und Alternativlösungen aufzeigen zu können, ohne sich jedoch auf allzu konkrete politische Ziele oder Umsetzungsstrategien festlegen zu müssen. Ein Vorteil, den nicht nur die parteiinternen Kritiker erkannten: Das Niedergangskonzept wurde vor allem in denjenigen Dokumenten als rhetorische Strategie verwendet, die sich mit der ideologischen Ausrichtung der beiden großen Parteien beschäftigten, das heißt in Wahlprogrammen oder Weißbüchern. In der konkreten Tagespolitik hingegen finden sich zwar ebenfalls sprachliche Referen-

65 Als Beispiele für die Übernahme des Interpretaments des Decline durch die »Neue Rechte« vgl. »Monetarism is not enough. […] If we shirk the cure, […] we shall experience accelerated worsening of job prospects, the growing flight of those with professional skills, talent and ability to other countries, and an increase in the shabbiness and squalor of everyday lives.« Keith Joseph, Stockton Lecture. »Monetarism Is Not Enough«, 5.4.1976, unter: http://www. margaretthatcher.org/document/110796. Vgl. auch Margaret Thatcher, Speech to West Midlands Conservatives. 31.10.1975, unter: http://www.margaretthatcher.org/document/102791; Margaret Thatcher, Speech to the Industry Conference. A Programme for Industrial Recovery, 9.7.1976, unter: http://www.margaretthatcher.org/document/103073; Joseph, Speech at Preston. Inflation is caused by Governments, unter: http://www.margaretthatcher.org/document/110607. 66 Vgl. Paul Widmer, Niedergangskonzeptionen zwischen Erfahrung und Erwartung, in: Reinhart Koselleck / Paul Widmer (Hg.), Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, Stuttgart 1980, S. 12–30, hier S. 17.

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zen an ein erhöhtes Krisenbewusstsein, selten jedoch an den »British Decline«: Er fand vor allem dann Verwendung, wenn sich die Ebene der Tagespolitik mit parteiinternen Strategiediskussionen überlagerte.

IV. Thatcherismus als Ende des Nachkriegskonsenses? Die von journalistischen und politischen Eliten vertretene Rede vom Niedergang Großbritanniens erfüllte jedoch noch eine zweite Funktion: Sie trug zu einem intellektuellen Klima bei, in dem durch die Überhöhung konkurrierender wirtschaftspolitischer Modelle als gesellschaftliche Ordnungsentwürfe die britische Nachkriegsgeschichte neu geordnet wurde. Im Kontext dieser Stilisierung von Wirtschaftsmodellen zu Gesellschaftsordnungen gewann zeitgleich die Vorstellung an Überzeugungskraft, dass die Zeit seit ungefähr 1950 bis in die Mitte der 1970er eine Zeit eines überparteilichen, keynesianisch inspirierten wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Konsenses gewesen sei. Dieser Konsens habe demnach auf vier Säulen geruht: dem Streben nach Vollbeschäftigung mittels makroökonomischer Nachfragesteuerung (demand management), um auf diese Weise eine Massenarbeitslosigkeit wie zur Zeit der großen Depression zu vermeiden; eine Mischung aus Staat- und Privatwirtschaft (mixed economy); institutionalisierte Kooperation der Regierung mit den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband (Confederation of British Industry, CBI) sowie dem grundlegenden Verständnis des Staates als »Sozialstaat« (welfare state).67 Aber auch hier stellt weniger Thatchers Amtsantritt oder ihre Übernahme des Vorsitzes der Conservative Party die Zäsur dar. Vielmehr wurde bereits seit den 1960er Jahren die wirtschaftliche und politische Ordnung Großbritanniens, die sich vor allem durch die Reformen der von Labour geführten Regierung Clement Attlees (1945–51) herausgebildet hatte, im sozialwissenschaftlichen Kontext zunehmend als »postwar consensus« bezeichnet. Dieser war bereits als Rückblick formuliert und verwies damit schon auf die Wahrnehmung des Endes dieses Konsenses.68 Der konservative Journalist Ronald Butt sprach beispielsweise bereits im Oktober 1970 von einem »Konsens«, der unter Beschuss stehe; er beschreibt ihn als einen »consensus of ideas fashioned in the 1940s about the shape of society.«69 Tony Benn notierte am 5. Oktober 1976, also mitten in der IWF-Krise, in seinem Tagebuch: »Then we talked about the collapse of Keynesianism, the

67 Vgl. beispielsweise Geppert, Thatchers konservative Revolution, S. 145 ff. 68 Vgl. Samuel H. Beer, Modern British politics. A Study of Parties and Pressure Groups, Lon-

don 1965, S. 359. 69 Ronald Butt, Challenging the Consensus, in: The Times, 8.10.1970, S. 11. Von Gewerkschaftsseite wurde der Nachkriegskonsens als eine Form der Zusammenarbeit mit der Regierung betrachtet. Vgl. David Basnett, Consensus Can Replace Confrontation in Industry, in: The Times, 30.8.1974, S. 14.

THATCHER ALS ZÄSUR? 313

collapse of the Beveridge idea and when the consensus died: was it during the Wilson or the Heath government?«70 In der Geschichtswissenschaft tauchte der Begriff des »Konsenses« in diesem Zusammenhang erstmals 1975 in Paul Addisons Publikation »The road to 1945« auf – interessanterweise genau zu der Zeit, als die keynesianische Nachfragesteuerung angesichts der Ölkrise und der Rezession erstmals auf ernsthafte Schwierigkeiten stieß.71 Im Kern der frühen Auseinandersetzung über den »Konsens« ging es zunächst darum, die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die britische Politik und Gesellschaft einzuschätzen. Im Zuge der parteipolitischen Polarisierung der 1970er und 1980er Jahre wurde die Auseinandersetzung jedoch fest in die historiographische Debatte eingebunden, die die Ursprünge des wirtschaftlichen und machtpolitischen Abstiegs des Vereinigten Königreichs in seiner Politik und Geschichte suchte. Im Zuge dessen ging es nicht mehr allein darum, ob und wo ein Konsens zu finden, sondern auch, wie dieser zu bewerten war. Die konservative Wirtschaftspolitik unter Thatcher wurde auf diese Weise zu einem betonten Bruch mit den bisherigen Formen und Konventionen der Wirtschaftsund Industriepolitik überhöht. Auf der Ebene der Rhetorik mag dies auch zutreffend gewesen sein. Allerdings verdeutlicht die Debatte, die innerhalb des LabourKabinetts anlässlich der IWF-Krise 1976 geführt wurde, dass auf der Ebene der Wirtschaftspolitik die Zäsur weitaus weniger ausgeprägt war. Thatchers Wirtschaftspolitik stellte damit weder einen so deutlichen Einschnitt dar, wie es von ihr oder ihren Anhängern dargestellt wurde, noch etablierte sie ein komplett neues System politischen Handelns. Die Bedeutung des »Thatcherism« bemisst sich vor allem auf diskursiver Ebene: Auf diese Weise wurde ihr politisches Projekt zu einem neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnungsentwurf, dessen intellektuelle Nachwehen bis heute anhalten. Dem Narrativ des »British Decline« kam dabei die Funktion des intellektuellen Ermöglichungsraums zu.

V. Zusammenfassung An den Diskussionen, die in den 1970er Jahren innerhalb der Kabinette Edward Heaths, Harold Wilsons und James Callaghans geführt wurden, wird daher nicht nur der wirtschaftspolitische Umbruchscharakter dieser Zeit deutlich: Die 1970er Jahre wurden auch zu einer Wasserscheide zwischen mehreren Wirtschaftsmodellen, die eng mit ideologischen Ordnungsvorstellungen verknüpft waren. Der von Thatcher und ihren Mitstreitern propagierte Monetarismus bezeichnet nicht nur ein ökonomisches Modell, sondern ist mit seinem implizierten Anti-Sozialismus und der Ablehnung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 70 Benn, Against the Tide, S. 619. 71 Vgl. Paul Addison, The road to 1945. British Politics and the Second World War, London

1975.

314 Almuth Ebke

auch ein dem Keynesianismus diametral entgegengesetzter Gesellschaftsentwurf. Die auf der Seite Labours entwickelte »Alternative Economic Strategy« mit dem Ziel, das Vereinigte Königreich vom Weltmarkt abzuschotten und sich im Schutz hoher Zölle und Importbeschränkungen zu regenerieren, war ebenso wenig ein rein ökonomisches Modell, sondern strebte ein dem Sozialismus angelehntes politisches System an.72 Die Vorstellung antizyklischer keynesianischer Globalsteuerung, bis dahin wirtschaftspolitische Orthodoxie, wurde in dieser aufgeheizten politischen Debatte auch zu einem Gesellschaftmodell, nämlich dem des Status quo – eine Vorstellung, die am deutlichsten in der politischen Öffentlichkeit Niederschlag fand, aber auch in der historiographisch verbreiteten Vorstellung des »Konsenses«, der in dieser Zeit zu Ende gegangen sei: In der Debatte über das Ende des Konsenses wurde die keynesianische Ordnung angesichts der Herausforderungen von links und rechts in ihrem Wandel sichtbar. Diese Ordnung war jedoch weitaus tiefgehender, als es der Fokus des Konsens-Paradigmas auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik vermuten lässt. Dies wird besonders deutlich am weiteren Kontext der Debatte, hier besonders die Auseinandersetzungen um schottischen und walisischen Nationalismus und Einwanderung aus den (ehemaligen) Kolonien, die zeitgleich abliefen. Das Narrativ des »British Decline« lieferte als Denkmuster das nötige geistige Umfeld, um über radikale Lösungsansätze nachzudenken, und wurde als rhetorisches Instrument zur Legitimierung jener Maßnahmen verwendet. Seine Existenz und Wirkmächtigkeit besonders in den 1970er Jahren zeugen von der Unsicherheit der betroffenen Akteure angesichts tiefgreifender Transformationsprozesse in Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft.

72 Zu dem Konzept von Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert vgl. Anselm Doering-Man-

teuffel, Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–64, hier besonders S. 44 f.; Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 8, 15. Vgl. auch Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–20, hier S. 18–19.

Massimiliano Livi

DAS ITALIENISCHE WELFARE UND DIE KRISE EINES REGULATIVEN UND MACHTPOLITISCHEN INSTRUMENTS

A

m 1. Dezember 2017 trat in Italien ein neues Sozialgesetz in Kraft, das wenige Monate zuvor unter der Regierung von Paolo Gentiloni beschlossen worden war. Es handelt sich um die Sozialleistung Re di inclusione (Teilhabeeinkommen, REI), welche aus einem variablen monatlichen Zuschuss und einem begleitenden Sozial- und Wiedereingliederungsprojekt besteht.1 Trotz des Namens ähnelte das REI in vielerlei Hinsicht mehr den »Hartz IV«-Regelungen als dem Teilhabepacket des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Damit wurde jedenfalls eine große Lücke im Sozialsystem geschlossen, da bis dato Italien das einzige Land in der EU ohne ein staatliches System zur Absicherung gegen soziale Not war. Die durch eine Social Card ausgezahlten Sozialleistungen sind wie bei »Hartz IV« an strenge Bedingungen geknüpft. Demgegenüber betraf das REI jedoch vornehmlich nicht die Langzeitarbeitslosen, sondern diejenigen Menschen in Italien, welche im Armutsrisiko oder -zustand leben. Im Jahr 2016 waren es 4,7 Millionen Bürger bzw. 1,6 Millionen Haushalte, die sich weder Güter noch Dienstleistungen für einen minimal akzeptablen Lebensstandard leisten konnten.2 Trotzdem überstieg das REI selten den Betrag von 450 Euro im Monat pro Haushalt. In einem von nunmehr seit über zehn Jahren von der Wirtschafts- und Finanzkrise geprägten Kontext kann es bei Weitem nicht allen Bedürftigen zu1 D. Lgs. 15 settembre 2017, n. 147: Disposizioni per l’introduzione di una misura nazionale di

contrasto alla povertà. 2 Vgl. das Dossier ISTAT, La povertà in Italia. Anno 2017. https://www.istat.it/it/files//2018/06/

La-povertà-in-Italia-2017.pdf [08.08.2018].

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gutekommen.3 Es wundert daher nicht, dass das neue Gesetz bereits vor seinem Inkrafttreten im Kreuzfeuer der Polemik stand. Es basiert zwar auf dem Konzept des aktivierenden Sozialstaates wie in Frankreich oder den Niederlanden, für manche ist es aber nur eine weitere neoliberale Maßnahme innerhalb eines zunehmend deregulierten und von Lohndeflation dominierten Arbeitssystems.4 Eine solche Maßnahme habe in einem Land mit einer der höchsten Jugendarbeitslosenquoten in Europa – so einige Kritiker – keinen Einfluss auf die Umverteilung des Einkommens.5 Es überrascht angesichts dieser Brisanz nicht, dass das Thema soziale Sicherung im Wahlkampfjahr 2017/2018 in allen politischen Lagern prominent vertreten war. Bei allen Unterschieden sind sich während des Wahlkampfes alle politischen Akteure darüber einig gewesen, dass nicht nur die bewegungsarme römische Politik, sondern vor allem die strikten Austerity-Auflagen der Europäischen Union an der komplexen sozialen Lage Italiens Schuld seien. Darum drehte sich im März 2018 beinahe die gesamte (und letztlich erfolgreiche) Wahlkampagne des Movimento 5 Stelle (kurz: M5S). Bereits im Jahr 2013 war das sogenannte Bürgereinkommen (Reddito di cittadinanza) ein Hauptthema der neuen politischen Bewegung. Knapp fünf Jahre später aber wurde das Versprechen einer 2 Milliarden starken Investition für die Reform der italienischen Arbeitsämter sowie der Einführung eines armutsbedingten garantierten Mindesteinkommens und – nicht weniger wichtig – der Vorschlag einer allgemeinen Verkürzung der Arbeitszeit als Arbeitslosenbekämpfungsmaßnahme zum (vermutlich) entscheidenden Argument für 32 Prozent der italienischen Wähler. Denn anders als das REI blickte der Vorschlag des Movimento nicht auf die absolute, sondern auf die relative Armut. Somit würde das Bürgereinkommen bei einer hypothetischen Umsetzung statt nur 40 Prozent der von Armut betroffenen Haushalte etwa 20 Prozent aller Haushalte in Italien betreffen. Die tatsächliche Durchsetzbarkeit des sozialstaatlichen Projektes schien im Juni 2018 zunächst durch die zentrale Wahlkampfforderung der Lega Nord, des Regierungskoalitionspartners von M5S, finanziell erschwert.6 Diese versprach die Wiederein3 Siehe Ministero del Lavoro e delle Politiche Sociali, Linee guida REI. http://www.lavoro.

gov.it/temi-e-priorita/poverta-ed-esclusione-sociale/focus-on/Reddito-di-Inclusione-ReI/ Documents/Linee-guida-REI.pdf [08.08.2018]. 4 Stephan Lessenich, »Aktivierender« Sozialstaat: eine politisch-soziologische Zwischenbilanz, in: Reinhard Bispinck u. a. (Hg.), Sozialpolitik und Sozialstaat. Festschrift für Gerhard Bäcker, Wiesbaden 2012, S. 41–53. 5 Für eine wissenschaftliche Darstellung der Materie vgl. Anna Alaimo, Il reddito di inclusione attiva: note critiche sull’attuazione della legge n. 33/2017, in: Rivista del Diritto della Sicurezza Sociale 3 (2017), S. 419–452. Statistiken zur Jugendarbeitslosigkeit (15–24-Jährige als Anteil der Erwerbspersonen der gleichen Altersklasse) im europäischen Vergleich sind abzufragen unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/jugendarbeitslosigkeit-in-europa/ [25. Januar 2019]. 6 Seit April 2019 ist das REI trotz vieler Bedenken von Ökonomen und Arbeitsmarktexperten in das Bürgereinkommen einbezogen worden. Das während des Wahlkampfes 2018 verspro-

DAS ITALIENISCHE WELFARE 317

führung der Frührente (Quota Cento) sowie die Erhebung nur noch einer Einheitssteuer mit einem festen Satz von 15 Prozent. All diese Maßnahmen wurden sowohl von der Lega als auch vom M5S als Grundlage einer neuen Wachstumspolitik präsentiert. Es schien also der gleichzeitige Vorschlag eines klassischen keynesianischen Mechanismus (wie das Bürgereinkommen) und einer genuin neoliberalen Forderung (wie die Flat-Tax) für ihre Wählerschaft jedoch keinen Widerspruch darzustellen. Diese grundsätzliche Unvereinbarkeit schien durch einen für Italien neuartigen, kommunitaristischen, ja tendenziell ethno-nationalen und europa-kritischen Begründungskontext einer Welfare Community vorerst ausgeblendet worden zu sein. Denn die Vorschläge der beiden Parteien gingen nicht in die Richtung des klassischen Universalismus, das heißt in die Richtung der Förderung einer partizipativen Teilhabe und der Stärkung des sozialen Zusammenhaltes als Grundlage der Gesellschaft. Im Gegenteil haben sie durch Parolen wie Prima gli Italiani einen selektiven Universalismus gefördert, der Migranten und ethnische Minderheiten ausschließt. Gleichzeitig stellen diese Parolen einen mehrschichtigen Slogan zweier politischer Subjekte dar, womit auch gegen das gesamte politische System sowohl der Zweiten Republik als auch der Europäischen Union gewettert wird.7 Die Zweite Republik wurde aufgrund des Abbaus des Sozialstaates und einer koalitionsübergreifenden neoliberalen Politik über zwei Jahrzehnte von Lega und M5S für die Entwicklung neuer Formen von Prekarisierung und Marginalisierung verantwortlich gemacht. In den letzten Jahren banden sich immer häufiger Verlustängste mit einer realen Verschärfung der sozialen Ungleichheit und der Rückkehr eines diffusen Armuts- bzw. Absturzgefühls, und zwar wie noch nie seit der Nachkriegszeit. Durch solche Parolen und Vorschläge sind beide Parteien in der Lage gewesen, Unbehagen und soziale Ausgrenzung abzufangen und somit zu einem Konsens zu kommen.8 Aus zeithistorischer Perspektive ist es interessant festzuhalten, dass die Regierung des cambiamento von Giuseppe Conte keinen Bruch darstellte, sondern in der Tat an eine langandauernde italienische Tradition in puncto Sozialstaat in chene Bürgereinkommen soll insgesamt ca. 8 bis 9 Millionen Menschen betreffen, welche um die Armutsgrenze von etwa 780 Euro pro Monat leben. Ausgezahlt werden bei einer Familie von vier Personen bis zu 1950 Euro pro Monat. 7 Diese Formel von Gianfranco Pasquino bezieht sich auf die neue politische Landschaft, die sich mit den Wahlen für die XII. Wahlperiode (April 1994) abgezeichnet hat. Vgl. Gianfranco Pasquino, The Birth of the »Second Republic«, in: Journal of Democracy 5 (1994), S. 107–113, hier S. 107; siehe auch Carol Mershon / Gianfranco Pasquino, Italian Politics. Ending the First Republic, Boulder 1995 sowie Massimiliano Livi, Das politische System Italiens seit den 1970er Jahren. Legitimationskrise oder Formwandel der Demokratie?, in: Stefano Cavazza u. a. (Hg.), Massenparteien im 20. Jahrhundert. Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien, Stuttgart 2018, S. 229–256. 8 Siehe dazu Cecilia Biancalana / Pasquale Colloca, Elezioni politiche 2018. Il voto per il Movimento 5 stelle: caratteristiche e ragioni di un successo (2018). http://www.cattaneo.org/wpcontent/uploads/2018/03/Analisi-Istituto-Cattaneo-Elezioni-Politiche-2018-Movimento-5-stelle8-marzo-2018–1.pdf [08.08.2018].

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Italien anknüpfte. Denn die vorgeschlagenen Maßnahmen der sozialen Versicherung lassen sich, in Abgrenzung zu der vermeintlich verfehlten Sozialpolitik der sogenannten Zweiten Republik, als eine populistische Reaktualisierung einer traditionellen Vorstellung des Sozialstaates als nicht universalistisches bzw. als fragmentiertes Sozialhilfesystems fassen, wenn auch mit einem neuen Fokus.9 Im Folgenden beschäftigt sich dieser Beitrag mit eben jener Kontinuität sowohl in der machtpolitischen Konzeption des italienischen Welfares seit seinen Ursprüngen als auch mit Blick auf die rücksichtlose Ausgabenpolitik, die der Stabilisierung des politischen Machtsystems zugrunde liegt.10

I.

Ursprünge des fragmentierten italienischen Modells: Liberalstaat, Faschismus und Katholische Kirche

Als 1890 eine einkommensabhängige und berufsständisch gegliederte Sozialversicherung nach bismarckschem Vorbild eingeführt bzw. die Armenfürsorge staatlich geregelt wurde, schlug damit auch in Italien die Geburtsstunde des Wohlfahrtsstaates. Ähnlich wie in Deutschland wurde auch in Italien, hier allerdings erst drei Jahrzehnte nach der Staatsgründung 1861, ein System der staatlichen Fürsorge entwickelt. Damit reagierte der Staat auf die sich verschärfende soziale Frage als Folge der Industrialisierung und somit auf die Forderungen der Arbeiterbewegung. Während des gesamten 19. Jahrhunderts hatten die unterschiedlichen Staatlichkeiten auf der Halbinsel (darunter auch der savoyische Staat) zwar eine Verpflichtung und eine Notwendigkeit des Staates erkannt, auf die subjektiven Bedürfnisse der Bürger einzugehen und die alten Formen der kollektiven Solidarität zu ergänzen. Trotzdem blieb eine Ausarbeitung eines individuellen Anspruchs auf staatliche Hilfeleistung bis zum Ende des Jahrhunderts noch vage. Trotz des sowohl konfessionellen als auch säkular-philanthropischen, reformistischen Drucks basierte das sozialpolitische Modell des liberalen Staates weiterhin auf einer Verflechtung von Subventionen und selbstorganisierter Hilfsvereine (die Società di Mutuo Soccorso), womit die eigentliche administrative Ebene bei den Kommunalverwaltungen angesiedelt wurde.11 Das Crispi-Gesetz von 1890 definierte auf der einen Seite die Rolle der kommunal organisierten karitativen Kongregationen und rationalisierte das Netz der konfessionellen Hilfswerke 9 Für eine Gesamtdarstellung über die Vorgeschichte der aktuellen Probleme des italienischen

Wohlfahrtsstaates siehe unter anderem Armando Vittoria, Il welfare oltre lo stato: profili di storia dello stato sociale in Italia, tra istituzioni e democrazia, Torino 2012. 10 In diesem Aufsatz werden die Begriffe Wohlfahrt, Sozialstaat und Welfare synonym und deskriptiv-neutral verwendet. Die terminologische Präferenz liegt jedoch bei Welfare, da dies die gängige Bezeichnung im italienischen Diskurs und der Literatur ist. 11 Siehe Luigi Tomassini, L’associazionismo operaio: aspetti e problemi della diffusione del mutualismo nell’Italia liberale, in: Stefano Musso (Hg.), Tra fabbrica e società. Mondi operai nell’Italia del Novecento, Milano 1999, S. 3–41.

DAS ITALIENISCHE WELFARE 319

und Einrichtungen in einem neuen öffentlich-rechtlichen System. Auf der anderen Seite setzte es aber auch einen Prozess der späteren Ausweitung der Sozialhilfe sowie des Unfall-, Gesundheits- und Sozialversicherungsschutzes in Gang.12 Damit wurde auch jene Dialektik zwischen einem versorgungspolitischen und einem universalistischen Ansatz bekräftigt, die für lange Zeit das italienische System prägte.13 Diese entfaltete sich in dem Spagat zwischen den Positionen eines staatlichen Interventionismus und der Forderung nach sozialstaatlichen Maßnahmen seitens der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Parteien. Die gesellschaftlichen Akteure fragten nach neuen sozialstaatlichen Interventionen als Gegenmaßnahme zu den Folgen eines industriellen Aufschwungs in einem von Rückständigkeit geprägten Gefüge. Ihrerseits betrachteten aber die ersten italienischen Regierungen die Einführung eines organisierten Wohlfahrtssystems zuvörderst als ein Instrument der Legitimation des Staates selbst und nicht direkt als einen Versuch, die hohen Kosten der ansonsten gefeierten Modernisierung einzudämmen.14 Tatsächlich wurde ein (noch uneinheitliches und auf Ermessensspielraum basierendes) Leistungssystem von Renten-, Invaliden- und Arbeitslosenpflichtversicherungen für alle Arbeitnehmer erst 1919 eingeführt, als durch den Krieg die Notwendigkeit eines sozialen Schutzes dringend geboten schien. Damit sollte zumindest teilweise eine Gegenleistung für die enormen Opfer bereitgestellt werden, die von der Bevölkerung aufgebracht worden waren. Die Schwierigkeit einer politischen Vermittlung zwischen versorgungspolitischen und universalistischen Positionen bzw. zwischen den unterschiedlichen Auffassungen von Sozialisten und Moderaten, Laizisten und Katholiken setzte während der Regierungszeit von Crispi die Gründung einer Vielzahl von Einrichtungen in Gang, die das Angebot auf dem sozialen Markt fragmentierten und nachhaltig berufsständisch sowie klientelorientiert gestalteten. Während des faschistischen Regimes wurde diese Prägung beibehalten und durch eine ausführliche Bürokratisierung der Wohlfahrt sogar weiter ausgebaut, um dadurch eine breite politische Unterstützung von der Bevölkerung zu mobilisieren. Dies geschah zum Beispiel im Bereich des Mutterschutzes, der durch weitere ideologisch begründete Sozialleistungen erweitert wurde. Dergleichen passierte auch mit der Umgestaltung des Versicherungssystems für die Arbeitnehmer durch die Gründung des Istituto nazionale fascista per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (1933) und später des Ente mutualità fascista (1943). Gleichzeitig trennte das Regime grundsätzlich den Bereich der ständisch organi12 Neben dem erwähnten Legge Crispi über Wohlfahrtsanstalten, Frauen und Kinder führte die savoyische Regierung im Jahr 1898 auch eine Pflichtversicherung bei Arbeitsunfällen ein. Für eine ausführliche Sammlung von Quellen vgl. Gianni Silei, Lo stato sociale in Italia. Storia e documenti, Manduria 2003. 13 Siehe Arnaldo Cherubini / Italo Piva, Dalla libertà all’obbligo. La previdenza sociale fra Giolitti e Mussolini, Milano 1998. 14 Franco Della Peruta, Società e classi popolari nell’Italia dell’800, Milano 2005.

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sierten Wohlfahrt von jenem der Armenfürsorge. Während die erste zentral und bürokratisch organisiert wurde, war die zweite von der Partei (PNF) bewusst auf kommunaler Ebene gehalten. Die Armenfürsorge wurde durch die Kooperation von Kommunen und Kongregationen weiterhin in einem Geflecht von Hilfs- und karitativen Strukturen organisiert, die dann ab 1931 durch das Ente opere assistenziali (Eoa) koordiniert wurden.15 Die Partei reagierte somit auf die große Wirtschaftskrise des Jahres 1929, indem sie auf jene Bedürfnisse der Bevölkerung einging, die nicht durch das Versicherungssystem abgedeckt werden konnten. Die Themen der Fürsorge, vor allem auf lokaler Ebene, hatten zudem eine starke Imagewirkung auf die vom Regime selbst geschaffenen Massen. Darin kann man einen Widerspruch der Sozialpolitik des Faschismus erkennen: Er war nicht in der Lage, sich das sozialstaatliche Handeln anders als Reglementierung der Gesellschaft oder Propaganda vorzustellen. Das Ergebnis bedeutete, trotz des zentralistischen und bürokratisierenden Ansatzes, eine evidente Fragmentierung der sozialen Intervention. Selbst in Bezug auf die Arbeitnehmer gab es oft eine paternalistische und fragmentierte Verwaltung sowohl hinsichtlich der Maßnahmen als auch der einzelnen Begünstigten, wie sich etwa am Beispiel der Patronati ablesen lässt.16 Ein wichtiger Akteur auf der lokalen Ebene und Verfechter eines nicht-universalistischen Ansatzes war neben den Kommunen von Anfang an sicherlich auch die Katholische Kirche. Diese betrachtete die soziale Fürsorge vor allem aus der Perspektive der eigenen Strukturen und als eine ihrer wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben. Sie stellte sich daher seit dem Pontifikat von Leo XIII. (1878–1903) entschieden gegen einen wachsenden staatlichen Einfluss in diesem Bereich.17 Dies war nicht dem offenen Konflikt der Kirche mit dem Italienischen Staat, der sogenannten Questione Romana,18 sondern auch der Durchschlagkraft der Katholischen Soziallehre geschuldet, welche bereits mit der Enzyklika »Rerum Novarum« (1891) die Grundlagen für ein modernes und katholisch geprägtes Wohlfahrtprinzip legte.19 In ihrem Mittelpunkt standen der Schutz der unveräußerlichen Würde des Menschen und eine Aufforderung zu einem gemeinsamen sozialen Handeln zwischen Kirche, Staat, Arbeitnehmern und -gebern. Gerade auf der Grundlage der Solidarität und Subsidiarität forderte Leo XIII. die italie15 Seit 1937 wurde das durch das Ministerium mitfinanzierte Ente comunale di assistenza (Eca) übernommen. 16 Die Patronati sind öffentlich-rechtliche Institutionen zum Schutz der Arbeitnehmer. Es handelt sich dabei meist um gewerkschaftliche Strukturen. Ihre Aufgabe ist es, den Bürgern bei der Antragstellung und Verwaltung von Sozialversicherungs-, Gesundheits- und Sozialleistungen zu helfen. 17 Mario Toso, Chiesa e welfare state: il magistero sociale dei Papi di fronte alla crisi dello Stato del benessere, Roma 1987. 18 Über die Questione Romana siehe Roberto Pertici, Chiesa e Stato in Italia. Dalla Grande Guerra al nuovo Concordato (1914–1984), Bologna 2009. 19 Leone XIII, Rerum Novarum. Lettera enciclica, Roma 1891.

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nischen Katholiken auf, Hilfsorganisationen und gemischte Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen zu gründen.20 In der Tat erlebte die karitative Arbeit der Katholischen Kirche zwischen Jahrhundertwende und dem Ende des Ersten Weltkrieges und trotz des offenen Kontrastes zu den Reformmaßnahmen von Francesco Crispi eine rasante Entwicklung in Bezug auf die Präsenz und das Agieren religiöser Kongregationen und Ordensgemeinschaften in Hospizen, Krankenhäusern und Kinderheimen. Das brachte mit sich, dass auch tendenziell laizistische Regierungen des liberalen Staates, wie zum Beispiel die Nitti-Regierung (1919/1920), die Ausrichtung der Kirchenhierarchie und die entstehende katholische Arbeiterbewegung berücksichtigen und sie in ihrer Strategie der Eindämmung sozialer Konflikte miteinbeziehen mussten. Bereits vor dem Konkordat 1929 und der Beendigung der Questione Romana stand die Katholische Kirche dem partikularistischen korporativen Vorschlag des faschistischen Regimes und seiner Kritik am wirtschaftlichen Individualismus und Kapitalismus alles andere als kritisch gegenüber – nicht zuletzt, weil sie darin eine Alternative zum kollektivistischen Sozialismus der Sowjetunion sah. 1929 war aber auch das Jahr der großen Weltwirtschaftskrise, weshalb die Kirche sich mit der Enzyklika »Quadragesimo anno« (1931) verpflichtet fühlte, ihre Interpretation des »gegenwärtigen Wirtschaftsregimes« (QA, n. 99) zu popularisieren und somit ihre soziale Aufgabe zu reaktualisieren. Vierzig Jahre nach »Rerum Novarum« stellte Pius XI. fest, dass es »die neuen Bedürfnisse unserer Zeit und der veränderte Zustand der Dinge« (QA, Nr. 40) notwendig machen würden, sowohl die Rolle der Institutionen als auch die der Sitten zu überdenken (QA, Nr. 78).21 Aus Sicht des Papstes war es Aufgabe des Staates, sich gegen den zunehmenden Individualismus einzusetzen und neben dem Solidaritäts- auch das Subsidiaritätsprinzip zu bekräftigen.22 Mit anderen Worten müsse sich der Staat darauf beschränken, seine legitimen Aufgaben wahrzunehmen und so den Zusammenhalt des Sozialkörpers zu stärken. Die Gesellschaft wiederum konnte und sollte soziale Konflikte durch den Interklassismus und die berufsständische Zusammenarbeit überwinden. Wie bei der Enzyklika »Rerum Novarum« wurde auch in »Quadragesimo Anno« der Zusammenhang zwischen Subsidiaritätsprinzip und Solidarität in den Vordergrund gerückt. Beide Leitlinien sollten als Richtschnur gegen das Abdriften des kapitalistischen Systems dienen, das von Pius XI. 20 Ebd., Nr. 36; Toso Mario, »Solidarietà e sussidiarietà nell’insegnamento sociale della Chiesa«, in: La Società 3 (1998), S. 515–550. 21 Die Zitate stammen aus Pio XI, Lettera enciclica quadragesimo anno del sommo pontefice Pio XI ai venerabili fratelli patriarchi, primati, arcivescovi, vescovi e agli altri ordinari locali che hanno pace e comunione con la sede apostolica, sulla ricostruzione dell’ordine sociale nel 40° anniversario della Rerum Novarum, Roma 1931 und aus Ildefonso Camacho Laraña, La crisi del 1929 e la Quadragesimo anno, in: Aggiornamenti Sociali, Ottobre (2015), S. 706–709. 22 Pio XI, Lettera enciclica quadragesimo anno, Nr. 80–81, vgl. auch Giorgio Feliciani, Sussidiarietà, in: Centro di ricerche per lo studio della dottrina sociale della Chiesa (Hg.), Dizionario di dottrina sociale della Chiesa, Milano 2004, S. 92.

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für die zeitgenössische Verschlechterung der Situation der Arbeiterklasse verantwortlich gemacht wurde. Die Kritik der Enzyklika am Kapitalismus, das heißt der Wunsch nach Profit ohne jede Einschränkung, eröffnete innerhalb des italienischen politischen Katholizismus eine breite Debatte über die Notwendigkeit, den sozialen Charakter der Wirtschaft durch soziale Gerechtigkeit und Nächstenliebe wiederherzustellen. In den folgenden Jahren näherte sich der italienische politische Katholizismus durch den »Codice di Camaldoli« (1943) immer mehr der Perspektive eines demokratischen Wohlfahrtsstaates an.23 Der Kodex plädierte dafür, dass die Hauptaufgabe des Staates die soziale Gerechtigkeit sei, wobei die tragende Säule des sozialen Zusammenhalts die Arbeit sein solle. Als »von Gott gewolltes Mittel zur Vervollkommnung der menschlichen Person« betrachtet, wird die Arbeit in dem Kodex daher zu einer moralischen Pflicht, sowohl des Einzelnen als auch des Staates. Letzterer hätte seinerseits mit gezielten Interventionen jede »ungerechtfertigte Bereicherung durch Verarmung anderer Menschen« verhindern und korrigieren sollen.24 Im Zuge der Säkularisierung der italienischen Gesellschaft während der Trente Gloriouses verringerte sich zwar der normative Einfluss der Kirche auch auf die Democrazia Cristiana (DC).25 Diese ließ sich allmählich immer mehr von der keynesianischen Doktrin beeinflussen und am Ende der 1960er kamen einige universalistische Maßnahmen im Bereich der Gesundheit und der Bildung zu. Trotzdem prägte dieser auf Subsidiarität, Solidarität und Eigenverantwortung basierende Ansatz weiterhin nachhaltig die republikanische Zeit26 – nicht zuletzt wegen seiner beinahe direkten Übernahme in die italienische Verfassung, worauf weiter unten eingegangen wird.27 Im Allgemeinen bedeutsam war aber vor allem die parteiübergreifende Aufnahme der Soziallehre, welche der Kirche nach 1945 stets die Ausübung eines moralischen, wenn nicht gar normativen Einflusses auf

23 Vgl. Per la comunità cristiana. Principi dell’ordinamento sociale a cura di un gruppo di stu-

diosi amici di Camaldoli, in: Civitas, Gennaio-Febbraio (1982), S. 63–156. 24 Vgl. die Punkte 55 und 56 des Kodex und Michele Dau, Il Codice di Camaldoli, Roma 2015. 25 John F. Pollard, Catholicism in Modern Italy. Religion, Society, and Politics, 1861 to the Present, London u. a. 2008; Detlef Pollack / Gergely Rosta (Hg.), Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M. 2015, S. 175–195. 26 Siehe zum Beispiel den Plan Ina-Casa von Amintore Fanfani als gleichzeitige Arbeitslosenbeschäftigungsmaßnahme und als Lösungsansatz für das seit langem bestehende Problem der Wohnungsnot in: Omar Ottonelli (Hg.), Il piano Fanfani Ina-Casa: una risposta ancora attuale. Atti del convegno Firenze, Auditorium del Consiglio Regionale 16 gennaio 2009, Firenze 2013. 27 Vgl. Loreto Di Nucci, Lo Stato sociale in Italia tra fascismo e Repubblica: La ricezione del Piano Beveridge e il dibattito alla Costituente, in: Carlotta Sorba (Hg.), Cittadinanza: individui, diritti sociali, collettività nella storia contemporanea. Atti del Convegno annuale SISSCO, Padova, 2–3 dicembre 1999, Roma 2002, S. 161–188 und die Artikel 4 und 38 der italienischen Verfassung. Für eine vollständige Übersetzung siehe http://www.verfassungen.eu/it/ital48.htm [15.07.2018].

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die sozialpolitische Agenda der Regierungen ermöglichte.28 In den frühen 1990er Jahren erlangten die katholischen Grundwerte und die Soziallehre sogar eine neue Relevanz als Bezugspunkt für die sozialpolitische Agenda der sogenannten Zweiten Republik. Mit der impulsgebenden Initiative von Johannes Paul II. fand zum Beispiel das Prinzip der Subsidiarität in der jüngsten Republikanischen Zeit ein neues Leben, und zwar als eine Art Reaktualisierung der von der katholischen Kirche vertretenen Wirtschafts- und sozialen Ordnung für Italien.29 Diese wurde vor allem von der Bischofskonferenz und von der ekklesialen Bewegung Comunione e Liberazione erfolgreich als Lösungsangebot für die verunsicherte italienische Gesellschaft in den Vordergrund der politischen Debatte gebracht.30 Sie stellten sich damit sowohl gegen den paternalistischen Sozialstaat der Ersten Republik als auch gegen die individualisierten und subjektivierten Risiken der Late Modernity. Gleichzeitig setzten sie sich für eine neue solidarische, gemeinschaftliche Dimension des Welfares ein.31

II. Die nicht-universalistische Prägung der republikanischen Nachkriegsordnung Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die konstituierenden Elemente des republikanischen Wohlfahrtsmodells dieselben, die sich während der liberalen Phase und des faschistischen Regimes etabliert hatten. Der Rahmen der republikanischen sozialstaatlichen Ordnung wurde in der verfassungsgebenden Versammlung (1946/1947) geschaffen. Dort wurde die Beibehaltung einiger Elemente des Liberalstaates (1861–1922) als Grundlage der republikanischen Ordnung durchgesetzt, etwa die Fortsetzung der vom Faschismus gegründeten Institutionen (und somit der Trennung zwischen Versicherungs- und Unterstützungsempfänger) sowie die Fokussierung auf einige Elemente der Katholischen Soziallehre (zum Beispiel die Zentralität der Person oder des Arbeiters). Die Tradition des konservativen sozialstaatlichen Systems32 stand seit 1942 so wie in Deutschland auch in Italien zunächst in Konkurrenz mit dem aus Groß-

28 Wichtig sind außerdem die weiteren sozialen Enzykliken der katholischen Kirche: Mater et Magistra (1961) von Papst Johannes XXIII., Populorum progressio (1967) von Papst Paul VI., Centesimus annus (1991) von Johannes Paul II., in: Franco Pierini (Hg.), Le encicliche sociali: Dalla Rerum Novarum alla Centesimus annus, Miano 2003. 29 Vgl. Mario Toso, Chiesa e welfare state, Roma 1987. 30 Vgl. Massimiliano Livi, The Ruini System and ›Berlusconismo‹. Synergy and Transformation between the Catholic Church and Italian Politics in the ›Second Republic‹, in: Journal of Modern Italian Studies 3 (2016), S. 399–418. 31 Commissione ecclesiale Giustizia e Pace Cei, Nota pastorale. Stato sociale ed educazione alla socialità, Milano 1995, Nr. 44. 32 Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Hoboken 2013.

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britannien stammenden universalistischen Modell des Beveridge-Reports.33 Die britischen Überlegungen hinsichtlich einer Ausdehnung der Versicherungspflicht auf nahezu die gesamte Bevölkerung fanden unmittelbar nach dem Krieg in der Bundesrepublik im linken politischen Lager und bei den Gewerkschaften Unterstützung. Diese Kräfte wurden allerdings von den Parteien der Regierungskoalition überstimmt, die wiederum für die Wiederherstellung der traditionellen deutschen Sozialversicherung eintraten.34 In Italien fand ein vergleichbarer Wechsel zu einem universalistischen Modell sowohl aus wirtschaftlichen (wegen der übermäßigen finanziellen Belastungen, die neu entstanden wären) als auch ideologischen Gründen nicht statt.35 Gewiss verfolgten die antifaschistischen Parteien nach der totalitären Erfahrung des Faschismus eine Idee von Freiheit und Demokratie, die auf Chancengleichheit und gleicher sozialer Würde für alle Bürger beruhte. Trotzdem wurde der Beveridge-Plan zwar zunächst für gut befunden, aber nur partiell rezipiert.36 Denn nach dem Krieg war keine der demokratischen Parteien bereit, den Plan als solchen in der entstehenden Demokratie einzuführen. Vielmehr blieb er für alle ein formaler Bezug bei dem Versuch, im Zuge des Übergangs vom Faschismus zur Republik Brüche und Kontinuitäten zu organisieren.37 Kommunisten und Sozialisten zum Beispiel machten sich in der verfassungsgebenden Versammlung zwar für eine Sicherung der sozialen Rechte in der Verfassung stark. Dies galt vor allem in Bezug auf Arbeit, Gesundheit und Bildung. Insgesamt behielten sie aber dem Beveridge-Plan gegenüber eine zumindest ambivalente Haltung, da sie darin

33 Gemeint ist der von William Beveridge 1942 an das britische Parlament herangetragene Vorschlag, nach dem die Prinzipien des universalistischen Welfares der Nachkriegszeit gelegt wurden. Vgl. William Beveridge, Social Insurance and Allied Services: Memoranda from Organizations, London 1942. 34 Manfred Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland: Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 2015. 35 Ministero del Lavoro e della Previdenza Sociale, Commissione per la riforma della previdenza sociale, Relazione sui lavori della Commissione. (4 Luglio 1947–29 Febbraio 1948), Roma 1948; Mario Alberto Coppini, Prime valutazioni sul costo di un Piano Beveridge per l’Italia, Milano 1945. 36 Vgl. Livio Marsico, Il contributo della London School of Economics al welfare state italiano, in: Eunomia. Rivista semestrale di Storia e Politica Internazionali 1 (2017), S. 91–114. Im Übrigen wurde der Plan in Italien selbst von den Faschisten, und zwar noch im Jahr 1943, mit ambivalentem Interesse betrachtet, vgl. Riccardo Del Giudice, Il Piano Beveridge: Dalla culla alla bara, in: Le Assicurazioni Sociali 1 (1943), S. 1–17; Note e dibattiti. Sicurezza sociale, in: Rivista degli infortuni e delle malattie professionali 3 (1945), S. 331. 37 Carlo Andrea Stazzi, »And Now – Win the peace!«. I laburisti inglesi e il Welfare State (1945–1948), in: Diacronie. Studi di Storia Contemporanea 1 (2012), S. 1–13, hier S. 11; für einen Überblick der Debatte in der verfassungsgebenden Versammlung, siehe Di Nucci, Lo Stato sociale.

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einen eher konservativen und liberalistischen Ansatz zur Sicherung traditioneller bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen sahen.38 Im italienischen Wohlfahrtsbegriff der Nachkriegszeit war das personalistische Prinzip zwar tendenziell mit dem solidarischen und dem egalitären verbunden, aber es blieb in einem engen Verhältnis zwischen sozialem Schutz und Beschäftigung verankert und bot nur den in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden Arbeitnehmern ein hohes Sicherheitsniveau.39 Die Zentralität der Arbeit als Grundlage des neuen republikanischen Staates wurde bereits im ersten Artikel der Verfassung bekräftigt.40 Daraus ergab sich eine exklusive Übertragung der sozialen Rechte und de facto der sozialen Teilhabe (cittadinanza sociale) auf die Arbeitnehmer. Erwerbs-, Mittel- und Arbeitslose wurden hingegen vor allem Empfänger einer individuellen Sozialpolitik. Artikel 32 der Verfassung legt zum Beispiel den Grundsatz fest: »Die Republik hütet die Gesundheit als Grundrecht des einzelnen und als Interesse der Gemeinschaft und gewährleistet den Bedürftigen kostenlose Behandlung«.41 Damit wird der Fokus eindeutig auf das (bedürftige) Individuum und nicht auf den Bürger gelegt. In diesem Sinne blieb eine universalistische Ausweitung des Wohlfahrtstaates für einige Jahrzehnte ausgeschlossen.42 Die erste große italienische universalistische Reform wurde 1962 in Bezug auf die schulpflichtige Ausbildung eingeführt. Damit wurde zum ersten Mal ein durch die allgemeine Besteuerung finanziertes System einheitlicher Leistungen für alle eingeführt. 1969 folgte noch die Sozialrente und damit die erste Form eines Sozialschutzes für jene Bürger, die mit ihrer Arbeit keinen Anspruch auf eine Altersrente erlangen konnten. Doch erst 1978 wurde die Universalisierung der Gesundheitsversorgung durch die Einrichtung eines nationalen Gesundheitsdienstes erreicht. Dieser war eindeutig vom britischen National Health Service inspiriert.43 Insgesamt fand in Italien eine Implementierung eines universalistischen Modells auch deshalb nicht statt, weil von Anfang an die gesamte republikanische Ordnung die Sozialpolitik als regulierendes Element der Spannungen zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Wählerschaft betrachtete. Bei den meisten Krisen, die Italien im Laufe der Nachkriegszeit erlebte, war die Sozialpolitik oft zugleich Lösung und Ursache dieser Spannungen. Während der Trente Glo-

38 Vgl. Stefano Battilossi, Cultura economica e riforme nella sinistra italiana dall’antifascismo al neocapitalismo, in: Studi Storici 3 (1996), S. 771–811. 39 Marsico, Il contributo, S. 102. 40 »Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik«, Art. 1 der italienischen Verfassung. http://www.verfassungen.eu/it/ital48.htm [10.08.2018]. 41 Ebd., Art. 32. 42 Di Nucci, Lo Stato sociale in Italia, S. 186–187. 43 Ugo Ascoli, Le caratteristiche fondamentali del Welfare State italiano, in: Carlotta Sorba (Hg.), Cittadinanza. Individui, diritti sociali, collettività nella storia contemporanea. Atti del Convegno annuale SISSCO, Padova, 2–3 dicembre 1999, Roma 2002, S. 215–224, S. 217.

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riouses war die Sozialpolitik zwar zweifellos eine tragende und stabilisierende Säule des Systems. Diese wurde durch ihre Reformbedürftigkeit nach dem Boom aber auch zu einem der entscheidenden Destabilisierungsfaktoren der politischen Ordnung der Ersten Republik Italiens.

III. Welfarepolitik als regulatives Instrument des politischen Systems? Die Funktion des Sozialstaates in Italien war immer eng mit der Rolle bzw. der Zentralität der Parteien im politischen System verbunden. Mit einer sehr treffenden Formel definierte ihn 1997 Pietro Scoppola als Republik der Parteien.44 Denn die Parteien bestimmten bis in die 1990er Jahre hinein exklusiv jeden Aspekt des öffentlichen Lebens. Das traf nicht nur für die Democrazia Cristiana (DC), die bis 1981 alle 38 Regierungen der Republik führte, sondern für alle Parteien des Arco Costituzionale zu. In einem politischen System, dessen Gründungsdevise war, dass nur Volksparteien die Italiener vom faschistischen Regime und seinem Erbe erlösen und gleichzeitig alle Facetten der Gesellschaft integrieren und repräsentieren könnten, waren alle Parteien wiederum bemüht, durch partikularistische Formen der Umverteilung (vor allem in Bezug auf die Rentenpolitik) gerade jenes aus dem Faschismus geerbte System von sozialpolitischen Klientelbeziehungen zu pflegen und beizubehalten. Während der gesamten Ersten Republik basierte die Stabilität der Parteien weiterhin auf der noch großen Stammwählerschaft und einem komplett fehlenden Wechsel zwischen Mehrheit und Opposition. Somit fokussierten sie sich lediglich entweder auf die makropolitische Ebene oder auf die Mikroebene der Befriedigung von Partikularinteressen, ohne eine echte MidLevel-Policy in Bezug auf Steuer-, Industrie-, Bildungs- und Wohlfahrtspolitik zu entwickeln. Mitte der 1990er Jahre betrachteten einige italienische Sozialwissenschaftler, und zwar abweichend von der klassischen Definition von Gøsta Esping-Andersen, die Entwicklungen des italienischen sozialstaatlichen Systems als Teil eines südeuropäischen Modells, welches durch eine eher negative Zentralität der familiären Wohlfahrt charakterisiert sei.45 In das Modell gehören nach einer Definition von Silvia Vogliotti und Sara Vattai jene Länder, »die für Geldtransfers und

44 Pietro Scoppola, La repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico 1945– 1996, Bologna 1997. 45 Chiara Saraceno, The Ambivalent Familism of the Italian Welfare State, in: Social Politics 1 (1994), S. 60–82; Maurizio Ferrera, The »Southern Model« of Welfare in Social Europe, in: Journal of European Social Policy 6 (1996), S. 17–37; Rossana Trifiletti, Southern European Welfare Regimes and the Worsening Position of Women, in: Journal of European Social Policy 9 (1999), 1, S. 49–64, hier S. 386; Chiara Saraceno, Mutamenti della famiglia e politiche sociali in Italia, Bologna 2013.

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Pflegedienste nur wenige Ressourcen ausgeben, da sie diese Spesen als Unkosten und nicht als Investition in die Zukunft des eigenen Landes betrachten«.46 Tatsächlich wurden im italienischen sozialstaatlichen Modell der 1950er vor allem Beamte, Angestellte und Unternehmer begünstigt, weniger Frauen, Jugendliche und Familien – und dies, obwohl in der christdemokratischen Gesellschaftsvorstellung die Familie im Mittelpunkt stand. Das klientelbasierte System aus der Zeit des Faschismus wurde im Gegenteil ab den 1960er Jahren mit den ersten Mittel-Links-Regierungen durch die Gewährung immer neuer (und vom Haushalt nicht abgedeckter) Einzelleistungen vor allem im Bereich der Rentenzahlungen sogar noch vertieft. Die Rentenreform von 1969 schrieb zum Beispiel – so der Politikwissenschaftler Ulrich Glassmann – »vergleichsweise einfache Bedingungen für eine großzügige Gewähr von Altersrenten fest«. Die italienischen Arbeitnehmer konnten dadurch nach nur 35 Jahren Erwerbstätigkeit und ungeachtet des tatsächlichen Lebensalters 70 Prozent des zuletzt erhaltenen Lohnes erhalten.47 Mit der Vollendung des 60. (Männer) bzw. 55. (Frauen) Lebensjahrs wurden »sogar 80 % des zuletzt erhaltenen Einkommens gezahlt«. Zu beachten ist allerdings, dass dieses System in einem Land und in einer Zeit eingeführt wurde, in dem im europäischen Vergleich eine kürzere schulische Laufbahn üblich war und daher entsprechend früher als anderswo der Einstieg in das Erwerbsleben stattfand.48 Die zweifache Auswirkung solcher Maßnahmen war auf der einen Seite sicherlich die Stärkung eines Klientelmarktes, wovon die politische Klasse profitierte. Auf der anderen Seite führten sie aufgrund der hohen Ausgaben auch zu massiven finanziellen Einschränkungen, zumal bei den familiären Sozialleistungen. Zumeist wurden in diesem Bereich vor allem vereinzelte und kurzfristige Maßnahmen durchgeführt, »die nur einigen spezifischen Problemen der Familie Abhilfe verschafften«, welche keine substantielle und vor allem einheitliche Familienpolitik darstellten.49 Allgemeine familienbezogene Dienstleistungen, die noch in den 1970er Jahren eingeführt wurden (zum Beispiel im Bereich der Kinderbetreuung oder der Betreuung von alten und behinderten Menschen), wurden zudem aus politischem und vor allem aus finanziellem Kalkül an die Kommunen delegiert. Eine weitere Konsequenz war unter anderem die Vertiefung der bereits existierenden sozialen cleavages zwischen urbanen und ländlichen Gebieten sowie zwischen Nord- und Südregionen. Abweichend von den anderen europäischen Ländern hat Italien traditionell nicht nur keine spezifische und mittelfristige Familienpolitik auf nationaler Ebene entwickelt, sondern bis zum Jahr 2000 auch keine einheitliche soziale Hilfe 46 Silvia Vogliotti / Sara Vattai, Der Wohlfahrtsstaat. Teil 2. Familienpolitik. Ein europäischer Vergleich, Bolzano 2015, S. 19. 47 Ulrich Glassmann, Der italienische Wohlfahrtstaat, in: Karoline Rörig / ders. / Stefan Köppl u. a. (Hg.), Länderbericht Italien, Bonn 2012, S. 376–400, hier S. 386. 48 Ebd. 49 Vogliotti/Vattai, Wohlfahrtsstaat, S. 18; für eine Gesamtdarstellung siehe Pierpaolo Donati, Famiglia risorsa della società, Bologna 2012.

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eingeführt. Kommunen und Gemeinden blieben bis Mitte der 1970er Jahre kraft der Gesetze von 1934 die eigentlich ausführenden Instanzen im Bereich der Familien- und Sozialpolitik. Erst mit der Entstehung der Regionen und dann mit den Dezentralisierungsgesetzen der 1990er (die sogenannte Devoluzione) relativierte sich diese Rolle der lokalen Verwaltung.50 Dies bedingte die Beibehaltung großer territorialer Unterschiede, vor allem zwischen nördlichen und südlichen Regionen. Hier bedingt die Kombination von Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen und mangelnden sozialen Leistungen heute immer noch die Familienabhängigkeit vieler Italiener.51 Anzumerken ist, dass mit der sogenannten Zweiten Republik dieses Modell der gleichzeitigen Rollenaufwertung und der finanziellen Vernachlässigung der Familie nicht verschwunden ist. Ganz im Gegenteil ist es in Verbindung mit der Umsetzung der europäischen Sparmaßnahmen (im italienischen politischen Jargon als Spending Review bekannt) seit 2012 immer expliziter geworden.52 Nicht verschwunden, sondern sogar noch verstärkt ist daher auch die Funktion der italienischen Familie als Dienstleisterin im Wohlfahrtssystem. Denn Italien war und bleibt ein auf der erweiterten Subsidiarität der Familien gegründetes soziales System, in dem ein solidarisches Verhalten der Familienmitglieder (und hier insbesondere von Frauen) erwartet (und vorausgesetzt) wird.53 Die traditionelle mediterrane moralische Verpflichtung, schwache Familienmitglieder zu unterstützen, sowie der Generationenpakt zwischen Eltern und Kindern werden immer noch im Großen und Ganzen durch eine solidarische Umverteilung des Bruttoinlandsproduktes innerhalb der Familien finanziert.54 Noch 2007 spielte die familiäre Umverteilung der Renten (meist Invalidenrente) dabei eine zentrale Rolle als Form der indirekten Unterstützung von Familien.55 Eine eindeutige Schieflage zwischen Subjekten der Sozialpolitik prägte das italienische System seit den 1950er Jahren nicht nur in Bezug auf die Familie, son50 Legge 8 giugno 1990, n. 142. Ordinamento delle autonomie locali und folgende. 51 Interessant wäre hierzu eine ausführliche Studie über die Korrelation zwischen den Effek-

ten der Schwächung von sozialen Leistungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten und der Bereitschaft, Steuern zu bezahlen bzw. als Kompensationsmaßnahme zu hinterziehen. Ein Beispiel wurde 2004 in Bezug auf Südtirol veröffentlicht in: Francesco C. Billari / Luigi Mauri, Dinamiche familiari e bisogni sociali: survey sociodemografica in Alto Adige, Milano 2004, S. 189–190; in Bezug auf den Süden Italiens siehe zum Beispiel Maurizia Pierri, Il welfare state e la cultura dell’illegalità, in: Cosimo Perrotta u. a. (Hg.), L’arretratezza del Mezzogiorno. Le idee, l’economia, la storia, Milano 2012, S. 210–229. 52 Chiara Agostini / David Natali, Italian Welfare Reforms: Missed Opportunities for a Paradigmatic Change?, in: Klaus Schubert (Hg.), Challenges to European Welfare Systems 2016, S. 395–418, hier S. 416. 53 Chiara Saraceno, La famiglia come tema centrale nella ricerca sociale e nel dibattito politico, in: Rivista delle politiche sociali 4 (2005), S. 27–42. 54 Siehe u. a. Barbara Da Roit / Stefania Sabatinelli, Il modello mediterraneo di welfare tra famiglia e mercato, in: Stato e Mercato 2 (2005), S. 167–290. 55 Vgl. OECD, Social and Welfare Statistics. Social Expenditure. Aggregated Data https://stats. oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=SOCX_AGG [10.08.2018].

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dern auch in Bezug auf Jugendliche und Arbeitslose. Diese Schieflage zeigte sich zum Beispiel in einer mangelhaften einheitlichen Arbeitslosenversicherung, welche aus einem traditionell fragmentierten System von Leistungen und Beiträgen bestand. Denn diese waren nicht nur von Beruf, Einkommen und Erwerbsbiographie abhängig, sondern konnten in Bezug auf die lokalen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sehr variieren. Zudem wurde je nach Einzelfall entschieden.56 Aufgrund dieser Politik sahen in den 1950er und bis zu Beginn der 1970er Jahre Millionen von arbeitslosen Italienern in der Auswanderung in den Nordwesten Italiens und ins Ausland eine Chance, die sozialstaatlichen Defizite – insbesondere in Bezug auf die Arbeitslosigkeit – zu überwinden. Während der 1960er Jahre haben die keynesianischen Interventionen und der wirtschaftliche Aufschwung der staatlich geförderten italienischen Chemie- sowie die Stahl- und Autoproduktion zwar zu einer Situation der annähernden Vollbeschäftigung im Norden geführt (1963 lag diese bei ca. 4 Prozent), das traditionelle Problem der Arbeitslosigkeit als zentrales Problem des Südens jedoch nicht gelöst.57 Seit den 1970er Jahren stieg die Arbeitslosenquote wieder an – mit dramatischen Folgen, allen voran für junge Menschen. Trotz einer stetigen Zunahme des Wohlstands wurde die Arbeitslosigkeit spätestens 1985 zu einem strukturellen Problem im ganzen Land, als sie zum ersten Mal die 10-Prozent-Marke überschritt. Sie blieb bis 1998 bei einem hohen Anteil, als sie sogar 12 Prozent erreichte, bevor sie 2007 auf ihren niedrigsten Stand von 6,1 Prozent zurückfiel.58 Selbst innerhalb der Hauptzielgruppe der Sozialpolitik – den Arbeitnehmern – gab es traditionell erhebliche Unterschiede, ja ist in Bezug auf den Zugang der verschiedenen Beschäftigungsgruppen zu Sozialversicherungsmaßnahmen ein Dualismus zu konstatieren. Diese Beschäftigten lassen sich in drei MakroGruppen zusammenfassen: die Garantierten (garantiti) mit einem sehr hohen Schutzniveau (Beschäftigte der öffentlichen Verwaltungen und Großunternehmen), die Halbgarantierten (semi-garantiti) mit einem mittleren Schutzniveau (Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen, insbesondere im Baugewerbe und in der Landwirtschaft sowie Handwerker) und die Nichtgarantierten (non garantiti) mit einem niedrigen Sozialschutzniveau (Arbeitslose oder in die Schattenwirtschaft verbannte Arbeitnehmer).59 Eine zentrale Maßnahme des italienischen Sozialstaats im Bereich der Arbeit, welche jenen Dualismus der Sozialpolitik paradigmatisch darstellt, ist die im Jahr 1951 erfolgte Einführung einer großzügigen Lohnersatzkasse (Cassa Integrazione Guadagni), die bis heute besteht. 56 Glassmann, Wohlfahrtstaat, S. 383. 57 Manfredi Alberti, Senza lavoro. La disoccupazione in Italia dall’Unità a oggi, Roma, Bari

2016. 58 ISTAT, Disoccupati – serie ricostruite dal 1977. https://www.istat.it/it/files//2013/04/Reportserie-storiche_Occupati-e-disoccupati2.pdf [08.08.2018]. Siehe hierfür auch die Fußnote 5. 59 Maurizio Ferrera, Le politiche sociali. L’Italia in prospettiva comparata, Bologna 2006, S. 46 f. Bei der letzten Kategorie sind auch die sich illegal im Land Aufhaltenden zu berücksichtigen, was ein weiteres akutes soziales Problem darstellt.

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Da diese jeweils vom Arbeitgeber bei der staatlichen Stelle beantragt wird, wenn »plötzlich auftretende betriebliche oder sektorale Krisenerscheinungen« abgefedert werden sollten, steht diese daher nur für die garantierten Beschäftigten zur Verfügung.60 Atypische Arbeitnehmer (Teilzeitkräfte, Leiharbeiter, Heimarbeiter usw.) sowie schwächere Kategorien blieben und bleiben unberücksichtigt. Dass solche Maßnahmen als selbstverständliche konstituierende Elemente eines Systems, welches die Operai (Fabrikarbeiter) und Impiegati (Angestellte) in den Mittelpunkt der sozialstaatlichen Konstruktion stellen, ohne dabei diese Schieflage zu berücksichtigen, spiegelt sich letzten Endes auch in gewerkschaftlichen Protesten der 1960er und 1970er Jahren wider. Auf der einen Seite ermöglichte zwischen 1969 und 1980 die Präsenz äußerst mächtiger und mitgliederstarker Gewerkschaften wie der Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL) oder der Unione Italiana del Lavoro (UIL) eine Verringerung der Einkommensunterschiede und die Einführung einer ganzen Reihe von Arbeits- und sozialen Reformen. 1970 wurde etwa der Kündigungsschutz sowie 1975 ein gleitender Inflationsausgleich (Scala Mobile) bei den Gehältern der Angestellten eingeführt. Auf der anderen Seite profitierten von diesen Maßnahmen jedoch wieder nur garantierte Arbeitnehmer, und zwar in einer Zeit, in der zum ersten Mal auch eine noch nie da gewesene hohe Akademikerarbeitslosigkeit bzw. Prekarisierung qualifizierter Arbeiter zu beobachten war. Schließlich zeigt auch das Verhältnis zwischen dem ununterbrochen bis 1998 erfolgten Wirtschaftswachstum61 und der im Wesentlichen zwischen 51 und 54 Prozent konstanten Beschäftigungsquote in der gesamten Ersten Republik, dass dieses Wachstum dann vollständig in Vertragsverlängerungen mit großzügigen Gehaltserhöhungen auf die bereits Beschäftigten übertragen wurde.62 Der Staatssektor stand bei diesem Prozess an der Spitze. Somit schließt sich der ideelle Kreis eines partikularistischen und auf direkten Geldtransfers und nicht auf der Erbringung von Dienstleistungen basierenden Wohlfahrtsstaates, in dem die staatlich subventionierte Arbeit in der öffentlichen Verwaltung als paternalistische und klientelorientierte Ersatzwelfare für die Familien und für die Regionen des Südens diente.63 Die bisher skizzierte Prägung der gesamten republikanischen Sozialpolitik hatte sicherlich eine eindeutig regulierende Note, wobei die Parteien durch gezielte (wie im Rückblick teilweise kurzsichtige) Maßnahmen die Spannungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Komponenten (Wählerschaft und Wirtschaft) entschärfen konnten. Gleichzeitig brachten gerade diese Prägung und die dadurch generierten Haushaltskosten sowohl mittel- als auch langfristig destabilisierende Effekte für das gesamte System mit sich. Zum Beispiel profi60 Glassmann, Wohlfahrtstaat, S. 382. 61 Vgl. die Tabelle 5 in Alberto Baffigi, Il PIL per la storia d’Italia. Istruzioni per l’uso, Venezia

2015, S. 209–213. 62 ISTAT, Disoccupati. 63 Ugo Ascoli, Le caratteristiche fondamentali, S. 222.

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tierte von der erwähnten instrumentellen Zuweisung von Mitteln und Schutzmaßnahmen sowie den Gehaltserhöhungen der Garantiti bis in die 1990er Jahre eine Generation, die bis Anfang der 1980er Jahre in die Arbeitswelt eingestiegen ist. Dies schaffte einen weiteren starken Dualismus innerhalb des Systems und zwar in Bezug auf den Generationenvertrag. Die Effekte dieses Dualismus zeigen sich spätestens seit der Krise 2007 nicht nur in einer beinahe komplett flexibilisierten und prekarisierten Arbeitswelt, sondern vor allem in einer für die gesamte Gesellschaft gefährlichen Schieflage hinsichtlich der Renten- und Lohnpolitik.64 Die Zunahme von prekären und Niedriglohnbeschäftigungen hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem fast vollständigen Stillstand der sozialen Mobilität geführt,65 was immense soziale Kosten nach sich zog: nicht nur ein weiterer drastischer Rückgang der Geburtenrate, sondern auch ein dramatischer Anstieg der Auswanderung junger Akademiker ins Ausland.66 Die Folgen sind jedoch nicht nur wirtschaftlicher Natur. Die Suche nach neuen Sicherheiten hat sowohl zu einer Verringerung der politischen Partizipation als auch zu einem Festhalten an antiglobalistischen und nationalistischen Vorschlägen geführt.

IV. Die Welfarepolitik als machtpolitisches Instrument Jenseits der regulierenden Funktion der Welfarepolitik zwischen Politik und Gesellschaft wurde die Sozialpolitik spätestens seit den Centro-Sinistra-Regierungen (1962–1976) und dann in den 1980er Jahren mit dem Pentapartito zum festen Bestandteil sowohl der staatlichen Subventionierung als auch der Lenkung der Wirtschaft und somit auch zu einem der wichtigsten Regulierungsinstrumente des italienischen Kapitalismus. Auch die kurzfristige Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens in den 1980er Jahren beruhte, wie wir sehen werden, in hohem Maße auf einer staatlichen Subventionierung.67 In dem zentralisierten italienischen Kontext spielten unter anderem die Parteien eine sehr wichtige Rolle, so auch als Verbindungsglieder, zum Beispiel für die lokale Wirtschaft, zwischen Zentrum und Peripherie oder als Ansprechpartner für kleine und große Interessengruppen sowie für die großen industriellen Familien wie Agnelli, Pirelli, Marzotto usw. Noch in der Übergangsphase zu einer postindustriellen Gesellschaft beharrte und überwog in Italien eine produktive Wirtschaftslandschaft, die von kleinen und kleinsten Familienunternehmen vor allem im Verarbeitungssektor geprägt war. Dies bedingte die Existenz eines Mit-

64 Aktuelle sowie historische Grunddaten sind unter http://dati.istat.it/ zugänglich. 65 Vgl. OECD, Understanding the Socio-Economic Divide in Europe. Background Report (2017).

https://www.oecd.org/els/soc/cope-divide-europe-2017-background-report.pdf [10.08.2018]. 66 ISTAT, Migrazioni internazionali ed interne della popolazione residente (2016). https://www. istat.it/it/files/2017/11/Report_Migrazioni_Anno_2016.pdf [10.08.2018]. 67 Glassmann, Wohlfahrtstaat, S. 397.

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telstandes und einer Mittelschicht, die weitgehend auf die wohlwollende Unterstützung der Parteien durch öffentliche Gelder angewiesen war, zum Beispiel durch einen bedenkenlosen Einsatz der Lohnersatzkasse. Das gleiche passierte auch mit den großen Unternehmen der Stahl- und vornehmlich der Chemieindustrie. Diese wurden teilweise in kürzester Zeit dank der massiven staatlichen Intervention aus einem mittelständischen Umfeld zu gigantischen Konzernen umgewandelt bzw. ausgebaut. Dafür steht zum Beispiel der Fall des Chemie-Unternehmens Montedison, das 1966 aus einer Fusion mehrerer Energie- und Chemieunternehmen hervorging. Dies war Teil der industriellen Strategie der italienischen Regierungen in den 1960er und 1970er Jahren. Mithilfe der staatlichen Holding IRI (Istituto per la Ricostruzione Industriale) versuchten sie, die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Dabei wurden Unternehmen und ganze Sparten finanziert, deren Anforderungen an Kapital sowie ihre technologische und organisatorische Komplexität öffentliche Interventionen erforderlich machten. Das Scheitern innerhalb des ambitionierten Projekts zum Aufbau eines großen Chemieunternehmens innerhalb von drei Jahrzehnten ist jedoch nach Ansicht einiger Analysten ein Indiz für die Folgen, die sich aus den strukturellen Grenzen des italienischen Systems ergeben. Eine davon ist sicherlich die Schwäche des privaten Kapitals. Der Zugang zum privaten Kapital sowie zu Formen des Investment-Bankings war sehr schwierig, da dieser massiv von persönlichen Beziehungen abhing, welche wiederum nur innerhalb der Parteikreise zu generieren waren. Eine weitere Grenze ist in der Entfremdung der Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft zu finden. Denn die Staatsbeteiligung an Unternehmen wurde weiterhin und zunehmend von den Regierungen als machtpolitisches Instrument genutzt.68 Obwohl das erklärte Ziel immer die Unterstützung des Arbeitsmarkts und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war, diente die Verlustfinanzierung von Konzernen wie Montedison aber de facto vor allem der Erhaltung der Zentralität der Parteien, die sogenannte Partitocrazia. Dabei war ein wichtiges Instrument die sogenannte Lottizzazione, das heißt die Besetzung von Posten innerhalb der Staatsunternehmen durch parteinahe Manager, welche oft – abgesehen von Loyalität – keine weitere Qualifikation in dem jeweiligen Bereich aufweisen konnten. Der Fall der Errichtung des Werkes Alfasud in der Nähe von Neapel im Jahr 1968, das der Herstellung von Mittelklasseautos diente, steht hierfür paradigmatisch, rettete dadurch der italienische Staat doch das insolvente Unternehmen Alfa Romeo und sicherte sich dank der verhinderten Firmenschließung weitere Wählerkreise.69 Unwirtschaftlich arbeitende Unternehmen wurden jenseits jedes Wirtschaftlichkeitsprinzips durch direkte und indirekte Finanzspritzen oder gar 68 Alves Marchi / Roberto Marchionatti, Montedison, 1966–1989. L’evoluzione di una grande impresa al confine tra pubblico e privato, Milano 1992. 69 Giuseppe Pesce, Alfasud, una storia italiana. La fabbrica di Pomigliano d’Arco dal fascismo alla globalizzazione, Roma 2014.

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durch ihre Verstaatlichung künstlich am Leben erhalten. Nicht nur die Umwälzung der Personal- und Kurzarbeitskosten auf die staatlichen Kassen, sondern auch das Niedrighalten der sozialen Abgabenanteile der Arbeitsgeber sowie die rekursive Abwertung der Lira in der Hoffnung, Wachstum durch Investitionen zu stimulieren, waren Bestandteile dieser Strategie, die sich allerdings nur durch eine zunehmende Staatsverschuldung finanzieren ließ.70 Diese nahm seit den 1980er Jahren in Italien wie in den meisten anderen europäischen Ländern stark zu. Allerdings trugen in Italien neben der Steigerung der Ausgaben für Gesundheit (seit der Reform des Sistema Sanitario Nazionale im Jahr 1978) und für die Renten auch die sinkende Steuereinnahmen (als Folge der verbreiteten Steuerflucht) und die monetaristische Wende der Banca d’Italia (nach dem Beitritt Italien zum Europäischen Währungssystem im März 1979) stark dazu bei.71 In diesem letzten Fall war die Verschuldung ein Effekt der nicht mehr vorhandenen Möglichkeit für die Regierungen, durch die Inflation die Währung zu entwerten.72 Die restriktiven antiinflationistischen Maßnahmen der Zentralbank konnten also von den Regierungsparteien nur durch einen Zuwachs an kompensatorischen Ausgaben umgangen werden, deren wichtigste Ziele die Aufrechterhaltung der Wahlklientel und die Verteidigung von Partikularinteressen waren. Mittelfristig bedeutete diese Politik einen endgültigen Verzicht der Regierungen der Fünf-Parteien-Koalitionen auf jegliche Modernisierungsprojekte für das Land und eine immer tiefer werdende Kluft zwischen Politik und Gesellschaft.73 Trotz des erneuten wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1980er Jahren74 schafften es tatsächlich weder Bettino Craxi (Ministerpräsident 1983–1987) noch Ciriaco De Mita (Ministerpräsident 1988–1989) die notwendigen Reformen der öffentlichen Verwaltung und der staatlichen Institutionen sowie eine Kontrolle der Staatsverschuldung durchzusetzen.75 Die Parteien der Ersten Republik 70 Livi, System Italiens. 71 Siehe Nino Andreatta u. a., L’autonomia della politica monetaria. Il divorzio Tesoro-Banca

d’Italia trent’anni dopo, Bologna 2011. 72 Die Inflation nahm in Italien zwischen der ersten und der zweiten Ölkrise mit Werten um die 20 Prozent dramatisch zu, während sie in Deutschland in demselben Zeitraum bei rund 5 Prozent konstant blieb. Vgl. http://de.inflation.eu/inflationsraten/italien/historische-inflation/vpiinflation-italien.aspx [08.08.2018] und http://de.inflation.eu/inflationsraten/deutschland/histori sche-inflation/vpi-inflation-deutschland.aspx [08.08.2018]. 73 Siehe Ennio Di Nolfo, La Repubblica delle speranze e degli inganni. L’Italia dalla caduta del fascismo al crollo della Democrazia cristiana, Firenze 1996; Luigi Musella, Craxi, Roma 2007; Agostino Giovagnoli, La crisi della centralità democristiana, in: Simona Colarizi (Hg.), Gli anni Ottanta come storia, Soveria Mannelli (Catanzaro) 2004, S. 65–102. 74 Das BIP wuchs zwischen 1983 und 1990 mit einer relativ hohen Rate von 3,1 Prozent pro Jahr, vgl. Alberto Baffigi, Il PIL per la storia, S. 212. 75 Sicherlich liegen die Wurzeln der Schuldenkrise zwanzig Jahre später in den Chancen, die von den Regierungen der 1980er Jahre nicht ergriffen wurden, siehe dazu Gianni Toniolo, La crescita economica italiana, 1861–2011, in: ders. (Hg.), L’Italia e l’economia mondiale. Dall’Unità a oggi, Venezia 2013, S. 37.

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schafften es auch nicht, eine Antwort auf die Krise des fordistischen Kapitalismus und auf das Zerbröckeln jenes fundamentalen Gleichgewichts der Nachkriegszeit zwischen Wohlfahrtsstaat, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung zu finden.76 Wenn sich dieser Umstand auf der Ebene der Wählerstimmen erst mit der Parlamentswahl 1992 als klare Infragestellung der Partitocrazia offenbarte, war die immanente Krise des italienischen politischen Systems bereits während der 1980er Jahre greifbar.77 Dabei spielten einige Entwicklungen auf der internationalen und vor allem europäischen Bühne eine zentrale Rolle. Außer des bereits erwähnten Beitritts Italiens zum Europäischen Währungssystem am Ende der 1970er Jahre zählen sicherlich die Unterzeichnung der »Einheitlichen Europäischen Akte« im Jahr 1986 und die Unterzeichnung des »Maastrichter Vertrages« 1992 dazu. Die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion stellten mittel- und langfristig für Italien zweifellos eine gewinnbringende Konstellation dar. Diese Entwicklungen änderten aber kurzfristig die internationalen und somit auch die nationalen Rahmenbedingungen für Italien grundsätzlich. Der Maastrichter Vertrag zum Beispiel schrieb durch die Bestimmung von wichtigen Konvergenzkriterien eine stärkere Kontrolle der Inflation und der Verschuldung vor. Außerdem resultierten aus der EU-Politik eingeschränkte Möglichkeiten, mittels der staatlichen Holding IRI öffentliche Aufträge und staatliche Subventionen an die Industrie zu verteilen. Dies stellte eine radikale Wende in der bis dato eher passiven politischen Rolle des italienischen Kapitalismus dar und leitete das Zusammenbrechen der alten Ordnung der italienischen Parteien ein.78 Eine neue aufstiegsorientierte Generation von Unternehmern, Akademikern und zivilgesellschaftlichen Aktivisten fühlte sich von der italienischen Gesellschaft aufgerufen, das Land und seine Politik durch ihre Professionalität und Kompetenz zu erneuern. Gleichzeitig machten die neuen Rahmenbedingungen von Maastricht radikale Eingriffe in den Haushalt notwendig, welche einen tiefen Einschnitt für die Konten der Italiener und vor allem für das System der Sozialkasse bedeuteten. Ab 1992 sahen sich alle Regierungen der sogenannten Zweiten Republik mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Haushalt neu zu definieren und vor allem die Staatsausgaben in Grenzen zu halten. Die erste Regierung von Giuliano Amato (1992/1993) setzte zum Beispiel das im Umsatz umfangreichste Haushaltsgesetz der Nachkriegszeit (100 Billionen Lire) mit unter anderem einer Vermögenssteuer in Form einer Zwangsabgabe von 0,6 Prozent aus den italienischen Girokonten durch.79 Es 76 Siehe Andrea Di Michele, Storia dell’Italia repubblicana. (1948–2008), Milano 2008, S. 267– 338. 77 Alfio Mastropaolo, La repubblica dei destini incrociati. Saggio su cinquant’anni di democrazia in Italia, Scandicci, Firenze 1996, S. 32. 78 Marco Gervasoni, Tangentopoli in prospettiva storica, in: Rivista di politica 3 (2015), S. 5–8. 79 D. L. 11 luglio 1992, n. 333. Misure urgenti per il risanamento della finanza pubblica, art. 7. Die Regierung von Amato handelte mitten im Sturm der Korruptionsskandale, bekannt als Tangentopoli. Die kategorische Notwendigkeit bestand darin, ein Minimum an Zuverlässigkeit

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folgte daraufhin eine erste Reform des Rentensystems durch eine Erhöhung der Rentenbeiträge, eine Einschränkung der Bedingungen für die Frühverrentung, die definitive Abschaffung der Scala mobile und weitere Maßnahmen, insbesondere im Bereich der Gesundheit.80 Diese von Amato selbst als ›Tränen und Blut-Manöver‹ benannte haushaltstechnische Maßnahme fand trotz ihrer Härte zunächst eine positive Resonanz in der Gesellschaft. Diese spiegelte sich im allgemeinen Empfinden der Italiener anfangs der 1990er wider, welche mehr Gerechtigkeit forderten, sich gegen die Verschwendungen der Politik wandten und für das Ende der Versorgungspolitik und der Privilegien der etablierten Kaste einsetzten. In dieser Spur bewegte sich auch die Regierung von Carlo Azeglio Ciampi (1993/1994), wodurch ein noch deutlicherer Bruch mit der Haushaltspolitik der Ersten Republik markiert war.81 Aus diesem Empfinden entstanden auch eine Reihe neuer politischer Bewegungen (Lega, Verdi, Alleanza Democratica, der Patto Segni und vor allem Forza Italia), die damals weniger Ausdruck eines antipolitischen Ressentiments waren, sondern vielmehr eine eher anti-parteiische Entwicklung mit einer technokratischen Komponente verbanden.

V. Ausblick In dem veränderten sozialen Kontext der Zweiten Republik, in dem unter anderem die Altersstruktur der Bevölkerung sowie das erhöhte Armutsrisiko der Familien zu den neuen sozialen Herausforderungen zählten, blieb das Thema Sozialstaat und die Rationalisierung sozialer Interventionen eine ebenso zentrale wie komplexe Angelegenheit. Obwohl die unterschiedlichen Regierungen nach 1992 die Notwendigkeit der Reformen in diesem Bereich weitgehend in den Mittelpunkt ihrer tagespolitischen Agenda gestellt hatten, führten weder die Mitte-Links- noch die Mitte-Rechts-Koalitionen substantielle nationale Reformen für die Konsolidierung des italienischen Wohlfahrtsstaates durch. Der Analyst Cristiano Gori sieht in ihrer tatsächlichen Aktion vielmehr eine Kontinuität der Sozialpolitik der 1980er Jahre, da der Fokus der Ausgaben ausschließlich auf Renten und Krankenhäusern blieb. Jene Ausgaben blieben trotz des Wachstums auf den Märkten wiederherzustellen. Letztere hingegen spekulierten auf weniger starke Währungen wie Lira und Peseta. Ziel war es, die Zinslast, die exponentiell wuchs und das Defizit in die Höhe trieb, zu verringern. Damals bestand auch in Europa die Gefahr, dass Dänemark gegen die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht gestimmt und dies einen Schneeballeffekt auf andere Länder zur Folge gehabt hätte. 80 Zum Beispiel durch das D. L. 30 dicembre 1992, n. 502. Riordino della disciplina in materia sanitaria und die Einführung eines Konzernprinzips in der Organisation der Gesundheitsstrukturen. 81 Siehe Pia Marconi u. a., Il contenimento della spesa, in: Giulio Vesperini (Hg.), I governi del maggioritario: obiettivi e risultati, Roma 1998, S. 127–157.

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indes deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Noch in der Zeit zwischen 2008 und 2013 (Regierung Berlusconi IV und Monti I) sind die staatlichen Mittel für die Sozialpolitik von gut 2,5 Milliarden (2008) auf 200 Millionen Euro (2013) zurückgegangen, was einem Rückgang von 92 Prozent entspricht.82 Gori führt in seiner Analyse dazu weiter aus, dass auch die jüngsten Regierungen (Monti, Letta, Renzi und Gentiloni) die Chance vertan hätten, drei notwendige Hauptreformen durchzuführen: 1) eine Aufstockung der Mittel für Kommunen und Regionen nach jahrelangen Kürzungen, die jedoch von Regeln begleitet werden müssten, welche eine kohärente Ausgabenpolitik gewährleisten; 2) die Einführung bestimmter, bis dato nicht vorgesehener sozialer Rechte, wie zum Beispiel eine angemessene öffentliche Unterstützung für arme Haushalte (die jetzt mit dem REI von Gentiloni teilweise vorhanden sind) oder das Recht auf öffentliche häusliche Pflege für abhängige Senioren; 3) die Stärkung der personenbezogenen Dienstleistungen, wie die Entwicklung und Konsolidierung von Kindergärten oder Ausbildungseinrichtungen usw., um die noch dominierenden Geldtransfers zu begleiten.83 Die neoliberale Prägung aller Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte in den Bereichen der Arbeits-, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik auf der einen sowie die globale Wirtschaftskrise seit 2007 auf der anderen Seite haben dazu beigetragen, dass die Schere zwischen Arm und Reich zunehmend größer geworden ist und sich die ohnehin bereits kritischen Bedingungen vieler älterer Menschen sowie vieler Familien am Rande des Existenzminimums oder mit kleinen Kindern nochmals (deutlich) verschärft haben.84 Gleichzeitig aber wurde die Familie in ihrer inzwischen traditionellen subsidiären Rolle bzw. als Grundlage (das heißt: zentraler Kostenträger) der italienischen Sozialpolitik wieder bestätigt. Die politische Auswirkung ist eine Vertiefung jener Kluft zwischen Politik und Gesellschaft bzw. zwischen dem Staat und den Bedürfnissen der Italiener. Wie zu Beginn dieses Beitrages gezeigt resultieren gerade aus dieser Kluft und den durch die neoliberalen und globalen Dynamiken generierte Unsicherheit die jüngsten politischen Entwicklungen.85 Was bleibt, ist – heute wie in früheren Zeiten – die Gewissheit seitens der Politik, dass die Verwaltung des Wohlfahrtsstaates die Basis sowohl für die Stabilität des politischen Systems als auch für dessen Krise ist. 2018/19 bestand die 82 Siehe Cristiano Gori / Ilaria Madama, Un bilancio della seconda repubblica, in: Welfare Oggi 1 (2012), S. 18–22. 83 Cristiano Gori, La fine della seconda repubblica e il welfare sociale: le riforme mancate (2013). http://www.lombardiasociale.it/2013/02/20/la-fine-della-seconda-repubblica-e-il-welfare-socialele-riforme-mancate/ [07.08.2018]. 84 Siehe hierfür Anmerkung 2. 85 Zum Thema der Distanz zwischen Politik und Gesellschaft in Italien siehe Massimiliano Livi, Die Stämme der Sehnsucht: Individualisierung und politische Krise im Italien der 1970er Jahre, in: Thomas Großbölting u. a. (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 215–248.

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Neuheit darin, dass für Lega Nord und M5S die Antwort auf die Nachfrage der italienischen Gesellschaft nach weiteren staatlichen Hilfeleistungen zum ersten Mal nach 25 Jahren nicht in Reformen und Rationalisierung lag, sondern vor allem in der Möglichkeit, die staatlichen Ausgaben wieder erhöhen zu dürfen. Es wundert daher nicht, dass sich ihre Vorschläge eines Bürgereinkommens und der Flat-Tax mit der gewünschten Rückkehr zu einer europäischen Struktur vor Maastricht vereinen konnten.

REPRÄSENTATIONEN, SUBJEKTIVE ANEIGNUNGEN UND SEMANTIKEN IM NEUEN KAPITALISMUS

Cornelia Koppetsch

SOZIALE UNGLEICHHEITEN Die Mittelschicht und die Zukunft des demokratischen Kapitalismus

D

ie Mittelschicht blickt auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte zurück. Seit Beginn der Bundesrepublik wuchs sie beträchtlich und trug auch in politischer Hinsicht zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Sie war »Integrationsinstanz und Aufstiegsmotor«, weil sie den unterprivilegierten Schichten ermöglichte, in die gesellschaftliche Mitte aufzuschließen.1 Sie galt lange Zeit als Ort der Sicherheit und Beständigkeit, da sie dazu beitrug, dass die Gesellschaft nicht von ihren Extremen unterlaufen wurde. Und sie war Normgebungsinstanz, da ihr Lebensentwurf – die Normalität der Arbeit, des Lebenslaufs und der bürgerschaftlichen Tugenden – für die Gesellschaft im Ganzen verbindlich wurde. Nicht die Eliten, sondern die Mittelschicht prägte das Modell eines gelungenen Lebens.2 Heute gilt die Mittelschicht als gefährdet. Darüber wird in prominenten sozialwissenschaftlichen Analysen aktuell diskutiert.3 Die Globalisierung von Unterneh1 Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010, S. 71. 2 Der Begriff der Mittelschicht ist unscharf. Zur Mittelschicht gehören alle jene, die sich nicht

zur Oberschicht oder zur Unterschicht zurechnen (lassen). Sie ist eher eine sozialstrukturelle Zone, denn ein klar definiertes Kollektiv. Die Mitte, das ist der Bereich des komfortablen Wohlstands, angesiedelt unterhalb der Eliten und oberhalb des Segments der unterprivilegierten Lebenslagen. Unabhängig von der tatsächlichen sozialen Lage ordnet sich die große Mehrheit der Deutschen der Mittelschicht zu. Wenn man Deutsche bittet, sich auf einer Unten-Oben-Skala zwischen 1 und 10 einzuordnen, geben Manager 6,6 an, umgekehrt platzieren sich selbst ungelernte Arbeiter immer noch bei 4,6. Die Selbstverortung stimmt daher nicht immer mit dem Urteil der Sozialwissenschaftler überein: Einer Erhebung von Grabka und Frick (2008) (Markus M. Grabka / Joachim Frick, Niedrige Arbeitslosigkeit sorgt für weniger Armutsrisiko und Ungleichheit, in: DIW Wochenbericht 38 (2008), S. 556–566) zufolge sind im Jahre 2005 20 Prozent der Deutschen oberhalb und 25 Prozent unterhalb der Einkommensmittelschicht anzusiedeln. 3 Vgl. hierzu Steffen Mau, Lebenschancen – Wohin driftet die Mittelschicht?, Frankfurt a. M. 2012; Rolf G. Heinze, Die erschöpfte Mitte. Zwischen marktbestimmten Soziallagen, politischer

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men führte zu Umbrüchen in der Arbeitswelt, die viele Arbeitnehmer schleichend oder drastisch zu spüren bekommen. Es ist ungemütlich geworden. Eine kollektive Erfahrung der Prekarisierung und Verwundbarkeit hat sich ausgebreitet, wodurch für viele die Zugehörigkeit zur Mitte infrage gestellt ist. Zudem zieht sich der Wohlfahrtsstaat zurück, sodass Gesundheit, Sicherheit und Bildung, die der Staat einst fraglos bereitstellte, zu privaten Gütern wurden, die eigene Anstrengungen erfordern. In diesem Prozess können nicht mehr alle mithalten, womit sich auch das soziale Klima verändert. Die Bereitschaft der Mittelschicht sich für Unterprivilegierte zu öffnen sinkt, stattdessen breitet sich eine Wagenburgmentalität aus. Die Mitte ist kein Fahrstuhl mehr, der allen, die sich die Werte der Mittelschicht aneignen, zum Aufstieg verhilft.4 Anstelle von Solidarität und Gemeinsinn treten Wettbewerb und Markt. Durch diese Entwicklungen kam die ehemals charakteristische Expansion der Mittelschicht zum Erliegen. Die Globalisierung von Wirtschaftskreisläufen entmachtete die Mittelschicht zudem in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Unternehmen, die Produktionsstandorte in andere Länder auslagern, haben das Interesse am Wohlergehen der Mittelschicht weitgehend verloren, sodass der Einfluss von Arbeitnehmern, Volksparteien und Gewerkschaften sinkt. Dadurch polarisiert sich die Mittelschicht immer mehr. Offenkundig befindet sich die Gesellschaft heute nicht mehr, wie Ulrich Beck behauptete, »jenseits von Klasse und Stand«, sondern ist auf dem Weg in eine transnationale Klassengesellschaft, in der die Umverteilungsfunktion des Wohlfahrtsstaates geschwächt und Geburt und Herkunft stärker denn je über Lebenschancen entscheiden.5 Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf die Legitimität demokratischer Gesellschaften und auf die Zukunft des demokratischen Kapitalismus? Welche Gefahren drohen der Demokratie durch wachsende Ungleichheiten? Ausgehend von der Annahme der politischen Theorie seit Aristoteles und der politischen Soziologie im Anschluss an Lipset6 und Geiger7 bis hin zu neueren Autoren8, wonach eine breite und politisch einflussreiche Mittelschicht ein Stagnation und der Chance auf Gestaltung, Weinheim/Basel 2011; Heinz Bude, Die verunsicherte Mitte. Die Signalfunktion des Bildungsthemas, in: Alfred Hirsch / Ronald Kurt (Hg.), Interkultur – Jugendkultur, Wiesbaden 2010, S. 135–144; Uwe Schimank, Wohlfahrtsgesellschaften als funktionaler Antagonismus von Kapitalismus und Demokratie. Ein immer labilerer Mechanismus, in: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (Hg.), MPIfG Working Paper 11/2, Köln 2011, S. 5–28; Münkler, Mitte und Maß; Christoph Deutschmann, Die Finanzmärkte und die Mittelschichten. Der kollektive Buddenbrooks-Effekt, in: Leviathan 36 (2008), S. 501–517. 4 Vgl. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 122. 5 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. 6 Seymor Martin Lipset, Political Man. The Social Bases of Politics, New York City 1960. 7 Theodor Geiger, Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes 7/10 (1930), S. 637–654. 8 Münkler, Mitte und Maß; Cornelia Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die verunsicherte Mitte, Frankfurt a. M. 2013.

SOZIALE UNGLEICHHEITEN 343

Bollwerk gegen nichtdemokratische Regierungsformen und folglich die Voraussetzung für Demokratie darstellt, werden im Folgenden drei unterschiedliche Ursachen für die Schwächung der Mittelschicht dargestellt: Erstens, die Mittelschicht schrumpft und verliert an Einkommensanteilen, während die Oberschicht ökonomisch und politisch mächtiger wird, zweitens, die Mittelschicht verliert infolge von Spaltungsprozessen den Charakter eines stilbildenden Großmilieus, wodurch sich gesellschaftliche Mentalitäten »ent-demokratisieren« und drittens, die Mittelschicht verliert aufgrund von Transnationalisierungsprozessen auch an politischem Einfluss. Diese Tendenzen führen zum Abdriften westlicher Gesellschaften von der Demokratie, wobei Letzteres, folgen wir Milanovic, gegenwärtig zwei verschiedene Formen annehmen kann: Die eine Form, die bereits heute charakteristisch für die schwachen Demokratien in den Schwellenländern ist und sich nun auch in den USA zunehmend herausbildet, ist die Plutokratie. Kennzeichnend für den europäischen Weg der Abkehr von der Demokratie ist hingegen der Populismus.9

I.

Die Mittelschicht schrumpft und die Oberschicht wird mächtiger

Die »natürliche« Affinität zwischen Mittelschicht und Demokratie erklärt sich nicht aus den besonderen moralischen Tugenden der Mittelschicht, sondern vielmehr daher, dass sie ein besonderes Interesse an der Demokratie als Gesellschaftsform besitzt. Sie will einerseits verhindern, dass sie von den Reichen dominiert wird und sie will andererseits die unteren Klassen davon abhalten, ihr Besitz und Privilegien zu nehmen, sie ist somit darauf ausgerichtet, sowohl die Macht der Reichen zu begrenzen als auch das Zerstörungspotenzial der Armen zu entschärfen.10 Dies kann allerdings nur gelingen, wenn die Mittelschicht groß ist, über gesellschaftliche Legitimität und politischen Einfluss verfügt. Gesellschaftliche Legitimität erlangt die Mittelschicht durch das Inklusionsversprechen an die Angehörigen der unteren Klassen, dass wer immer die Tugenden der Mittelschicht, nämlich die Mäßigung, die Arbeitsdisziplin und die Leistungsbereitschaft übernehme, gute Chancen habe, zur Mitte hin aufzuschließen. Dies verhinderte, dass die Unterschicht resigniert oder gar einen gewaltsamen Umsturz in Erwägung zieht. In Ländern, in denen die Mittelschicht groß ist, nähern sich nicht nur materielle Lagen, sondern auch Muster der Lebensführung, Haltungen und Mentalitäten einander an. Die Mittelschicht bildet die Mehrheitsklasse, welche die »natürliche« Verbündete und Hüterin von Demokratie und Stabilität darstellt. Über politischen Einfluss verfügt die Mittelschicht, wenn es ihr gelingt, die Einkommen und die Macht der oberen Schichten in Schach zu halten. 9 Vgl. Branko Milanovic, Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der

Mittelschicht, Berlin 2016, S. 202 ff. 10 Vgl. Milanovic, Welt, S. 204.

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Wachsende Ungleichheiten bedrohen nun die Existenz und die gesellschaftlichen und politischen Funktionen der Mittelschicht. Wie Milanovic11 und Piketty12 gezeigt haben, sind die Mittelschichten in den westlichen Demokratien in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur geschrumpft, auch ihr Anteil am Gesamteinkommen ist gesunken, wohingegen die Reichen an ökonomischer Stärke gewinnen konnten. Es kam durch Einkommenszuwächse und Vermögenskonzentration bei den Reichen zu einer Verschiebung der wirtschaftlichen Stärke von der Mitte hin zur Spitze. Dieser Wandel ist in den USA besonders ausgeprägt. Aber auch in anderen Ländern zeigt sich seit dem Ende der 1980er Jahre ein Rückgang des Bevölkerungsanteils und der Realeinkommen der Mittelschicht. In Deutschland ist die Mittelschicht geschrumpft13 und zudem sind zwischen 1992 und 2005 reale Einkommenszuwächse nur bei den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung angefallen14. Dies bedeutet, dass das gesamte Wirtschaftswachstum innerhalb dieses Zeitraums allein den ökonomisch Stärksten zukam. Neuere Auswertungen der Langzeitstudie des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) belegen, dass in den Jahren 2000–2013 die Einkommen der obersten zehn Prozent aller Haushalte um 13 Prozent gewachsen sind, wohingegen die der Mittelschicht faktisch stagnierten und die untersten 40 Prozent Einkommensrückgänge hinnehmen mussten.15 Das Gegenstück zum Niedergang der Mittelschicht ist der steigende Anteil der Gruppe an der Spitze der Einkommensverteilung. Das Einkommen der reichsten fünf Prozent der US-Amerikaner ist fast so hoch wie das der gesamten Mittelschicht des Landes.16 Auch in anderen Ländern steigt der Einkommensanteil der Reichen. Besonders irritierend erweist sich dabei der Umstand, dass Vorund Nachteile immer weiter kumulieren und sich zunehmend selbst verstärken. So hat sich seit den 1990er Jahren wieder eine stärker werdende Form der Statusvererbung durchgesetzt. Die nahtlose Übertragung des sozialen, kulturellen und auch ökonomischen Kapitals von einer auf die nächste Generation hat in den privilegierten Schichten zu einer Kumulation von Herkunftsvorteilen geführt. Vor allem die ökonomischen Erbschaften sind enorm gewachsen.17 Wie Thomas Piketty in seinem Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« gezeigt hat, steigen unter normalen Bedingungen, das heißt relativ geringen Wirtschaftswachstums, die Vermögen schneller als die Arbeitseinkommen.18 Die KaVgl. Milanovic, Welt. Vgl. Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014. Vgl. Grabka/Frick, Arbeitslosigkeit. Vgl. Stefan Bach, Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), 10/11, S. 15–19, hier S. 15. 15 Vgl. Markus M. Grabka / Jan Goebel, Rückgang der Einkommensungleichheit stockt, in: DIW Wochenbericht 46 (2013), S. 15. 16 Vgl. Milanovic, Welt, S. 207. 17 Vgl. Steffen Mau, Die halbierte Meritokratie, in: ders. / Nadine M. Schöneck (Hg.), Ungerechte Ungleichheiten, Berlin 2015, S. 36–45, hier S. 40 f. 18 Vgl. Piketty, Kapital. 11 12 13 14

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pitalrendite sichert ein beständiges Wachstum an Wohlstand für die Besitzenden, während Arbeitseinkommen nur sehr langsam zunehmen oder stagnieren. Ohne entsprechende Regulierung tendiert der Markt also dazu, den Einsatz von Finanzkapital, die Kapitalrendite, deutlich stärker zu honorieren, als den Einsatz von Humankapital.19 Doch anstatt die Vermögenden stärker zu besteuern, wurde mit verschiedenen Steuerinstrumenten das genaue Gegenteil bewirkt und mithin eine Umverteilung von unten nach oben herbeigeführt. Während die Vermögenssteuer in Deutschland nicht mehr erhoben wird, wurde der Einkommenssteuer-Spitzensatz, der während der Regierungszeit von Helmut Kohl noch bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent gesenkt. Kapitalerträge werden seit 2009 nur noch pauschal mit 25 Prozent belastet. Angehoben wurden hingegen die indirekten Steuern, wie etwa die Mehrwertsteuer und die Energiesteuer, welche die ärmeren Haushalte proportional stärker belasten als die wohlhabenden. Die Steuer auf Kapitalerträge ist heute viel geringer als die Steuer auf Arbeit, welche gemeinsam mit den Verbrauchersteuern ca. 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens ausmacht. Relevant ist die Verschiebung der wirtschaftlichen Macht von der Mitte hin zur Spitze nicht nur hinsichtlich des Wandels von Mentalitäten und Lebensformen, die Schwächung und Schrumpfung der Mittelschicht hat auch politische Auswirkungen, da sie zu einer überproportionalen Privilegierung der Oberschichten und der oberen Mittelschicht geführt hat. Zukünftig könnte dies dazu führen, dass wohlhabendere Bevölkerungsgruppen eine vollständige Sezession, eine Abspaltung von der Mehrheitsgesellschaft vornehmen, indem sie exklusive soziale Räume und Infrastrukturen (»Gated Communities«) herausbilden und nicht mehr in die öffentlichen Systeme investieren. In Ansätzen ist dieser Trend in allen westlichen Gesellschaften zu beobachten, er wurde durch die Schwächung des Sozialstaates noch verstärkt. Die Reichen steigen zunehmend aus den öffentlichen Infrastrukturen und den Systemen der Daseinsvorsorge aus und gehen dazu über, Dienstleistungen besserer Qualität, vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen, privat zu finanzieren. Der Abspaltungsprozess ist in den USA aufgrund der stärkeren sozial-räumlichen Segregation und der größeren Bedeutung privater Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdienstleistungen schon weiter fortgeschritten. Neu ist, dass wir ihn nun auch zunehmend in Europa beobachten können. In Deutschland sind dabei zwei Entwicklungen maßgeblich: Tendenzen zur sozialräumlichen Abschließung von Eliten und privilegierten Schichten durch die Herausbildung sozial-räumlicher Enklaven und gentrifizierter Stadtteile und die Tendenz zur Monopolisierung exklusiver Bildungschancen. Letzteres zeigt sich an der wachsenden Bedeutung kostspieliger Bildungsbiografien mit teuren Auslandsaufenthalten und internationalen Hochschulabschlüssen und an der

19 Vgl. Mau, Meritokratie, S. 42.

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Ausweitung von Privatschulen.20 Der Markt der freien Schulen expandiert. Im Jahre 2007 besuchten 7,8 Prozent der Schüler eine Privatschule, im Jahr 2009 waren es bereits 8,8 Prozent.21 Privatschulen bieten nicht unbedingt eine bessere Ausbildung als staatliche Einrichtungen, doch sie stiften exklusive Kontakte und Netzwerke, denn die Privilegierten bleiben hier gleichsam unter sich.

II. Die Mittelschicht: Kein stilbildendes Großmilieu mehr? Die Bundesrepublik Deutschland wurde seit Anbeginn und stärker als andere europäische Länder durch ihre breite, sozial integrierte und auch kulturell stilbildende Mittelschicht geprägt. Sie gewann Stabilität, ohne auf das Vorbild gesellschaftlicher Autoritäten zurückgreifen zu können und ohne ein starkes Klassenbewusstsein auszubilden. Dies unterscheidet sie bis heute von den meisten anderen europäischen Gesellschaften. Die Orientierung an der Mitte ist in der Vorgeschichte der Bundesrepublik verankert. Verglichen mit ihren europäischen Nachbarn oder den USA verfügen die Deutschen über keinen im engeren Sinne politischen Gründungsmythos: kein Sturm auf die Bastille, kein Unabhängigkeitskrieg wie in den USA und keine Erinnerung an eine imperiale Epoche wie in England.22 Im Schatten der Französischen Revolution fand der gern kleinstädtisch, fast kleinbürgerlich gezeichnete, deutsche Mittelstand seine Idealbilder.23 So beobachten etwa in Goethes Epos »Hermann und Dorothea« ein Gastwirt, ein Pfarrer und ein Apotheker in einem geputzten Städtchen und voller Abscheu die Flüchtlingsströme aus dem revolutionären Frankreich.24 Die kleinstädtische Idylle wurde zum Inbegriff des beschaulichen und mäßigen Lebens. Fleiß, Strebsamkeit und die Akzeptanz der eigenen 20 Vgl. Jürgen Gerhards u. a., Klassenlage und transnationales Humankapital. Wie Eltern der mittleren und oberen Klassen ihre Kinder auf die Globalisierung vorbereiten, Wiesbaden 2016. Zum Aspekt der »gated community« aus anthropologischer Perspektive Setha M. Low, Behind the Gates: Life, Security, and the Pursuit of Happiness in Fortress America, New York 2003. 21 Dabei sind die Kinder aus gebildeten Elternhäusern deutlich überrepräsentiert, da Schüler besser gestellter Eltern eher Privatschulen als ihre Peers aus schlechter gestellten Familien besuchen. Siehe Nora Knötig, Bildung im Spannungsfeld von Individualisierung und sozialer Distinktion, in: Nicole Burzan / Peter A. Berger (Hg.), Dynamiken (in) der gesellschaftlichen Mitte, Wiesbaden 2010, S. 331–354. Mit 59 Prozent hat die große Mehrheit mindestens einen Elternteil mit Abitur, obwohl diese Gruppe insgesamt nur gut ein Drittel der Schülerbevölkerung darstellt. In vielen Städten gibt es Elternstammtische, in denen man sich gegenseitig berät, welche Schule für die Kinder die beste wäre. Allein in Berlin sind inzwischen 80 freie Schulen auszumachen. Siehe Henning Lohmann u. a., Der Trend zur Privatschule geht an bildungsfernen Eltern vorbei, in: DIW-Wochenbericht 38 (2009), S. 640–646. 22 Vgl. Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 9. 23 Siehe etwa Mack Walker, German Home Towns. Community, State and General Estate 1648–1871, Ithaca 1971. 24 Vgl. Gustav Seibt, Die ewige Mitte, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.05.2008.

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Stellung wurden als etwas spezifisch Deutsches von dem revolutionären Geist der Franzosen abgegrenzt.25 Entsprechend unterschiedlich nimmt sich das Verständnis der gesellschaftlichen Mitte in Frankreich und Deutschland bis heute aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich die deutsche Gesellschaft auf die Mitte hin aus, nachdem die »deutsche Katastrophe« (Friedrich Meinecke) die Spitzen der Gesellschaft gekappt und die unteren Schichten nach oben befördert hatte. Die westdeutschen Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur übten sich in der Kunst der Unsichtbarkeit und kultivierten den Habitus mittelständischer Bescheidenheit. Machtpositionen und Privilegien zu betonen oder auch nur sichtbar zu machen, war tabu. Gleichheit und nicht Exzellenz oder Elite war das Maß, an dem sich gesellschaftliche Institutionen messen lassen mussten. Man glaubte, die Klassengesellschaft überwunden zu haben.26 Die unteren Schichten schienen in der Mittelschicht aufgegangen. Die mit Macht und Reichtum verbundenen Bürgertumsgruppen, zu denen Firmeneigner, Spitzenmanager und Großverdiener gehören, lebten meist abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Dies ließ den Eindruck entstehen, dass es sie nicht mehr gäbe.27 Die Mittelstands-Republik gewann nicht zuletzt dadurch an Glaubwürdigkeit, dass in Deutschland, anders als beispielsweise in Frankreich, Italien oder England, wo das Großbürgertum bis heute dominiert, Aufsteiger in die gesellschaftliche Oberschicht vordringen konnten.28 Dies war auch eine Folge des sozial durchlässigen Bildungs- und Hochschulsystems der Bundesrepublik, das peinlichst darum bemüht war, Chancengleichheit herzustellen. Analoges zu den englischen Eliteinstitutionen von Eton, Oxford und Cambridge, wo man die Zurückhaltung des »gentleman« kultiviert, oder zu den französischen Elitehochschulen (Grandes Écoles), aus denen sich bis heute die Spitzen in Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft rekrutieren, gab es in der frühen Bundesrepublik nicht.29 In der »reifen« Bundesrepublik erhielt das Idealbild der Mitte eine neue Qualität: Es wurde zur Grundlage des »Traums immerwährender Prosperität«30 25 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der »Deutschen Dop-

pelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 130–136. 26 Hans Braun, Helmut Schelskys Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und die

Bundesrepublik der 50er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 199–223. Inwiefern der Systemkonflikt mit der DDR zur Herausbildung dieser auf Egalität abzielenden Selbstwahrnehmung beigetragen hat, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 27 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, »Neue Bürgerlichkeit« zwischen Kanonensehnsucht und Unterschichten-Abwehr, in: Heinz Bude u. a. (Hg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum, München 2010, S. 56–70, hier S. 65. 28 Vgl. Paul Windolf, Sind Manager Unternehmer? Deutsche und britische Manager im Vergleich, in: Stefan Hradil / Peter Imbusch (Hg.), Oberschichten – Eliten – Herrschende Klassen, Opladen 2003, S. 299–336. 29 Vgl. Cornelia Koppetsch, Wissenschaft an Hochschulen. Ein deutsch-französischer Vergleich, Konstanz 2000. 30 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1984.

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»jenseits von Klasse und Stand«.31 Dieser kollektive Lebenstraum steht auf drei Säulen, die gemeinsam den bundesrepublikanischen Gesellschaftsvertrag der Nachkriegsepoche begründeten: Das Versprechen auf Wohlstand für alle, ausgelöst durch das anhaltende »Wirtschaftswunder« und flankiert durch den ausgebauten Wohlfahrtsstaat und sich angleichende Einkommen in unterschiedlichen Soziallagen; das Versprechen auf individuellen sozialen Aufstieg und kollektive kulturelle Teilhabe, das durch die Bildungsexpansion genährt wurde; und schließlich die kulturelle Aufwertung des Mittelstandes als gesellschaftlich stilbildendes »Groß-Milieu« des 20. Jahrhunderts, dessen Lebensstile, Wertmuster und Verhaltensformen für die Gesellschaft insgesamt verbindlich wurden.32 Daher konnte auch die Bundesrepublik auf mythische Sinnstiftung nicht ganz verzichten, nur war diese weniger in der Sphäre von Politik und Staat, als in der Sphäre des Konsums angesiedelt. Diese bekräftigte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen im kollektiven wirtschaftlichen Aufstieg: Die Deutsche Mark bestätigte das – sich im Übrigen auch im Egalitätswettbewerb mit dem anderen Deutschland entfaltenden – »Wirtschaftswunder«, der Volkswagen wurde zum Symbol des Dazugehörens und der Mercedes bewies den sozialen Aufstieg.33 Gleichzeitig streifte die industrielle Arbeiterschaft ihre proletarische Kultur zusehends ab.34 Die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse hatten sich denen der Mittelklasse materiell angenähert. Im Berufsalltag hatten sich die Standesunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben. Die berühmte Lohntüte verschwand und Arbeiter wurden zu Angestellten. Der Aufstieg fand jedoch nicht nur symbolisch statt, sondern auch ganz real: Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte man bereits 16 Prozent Angestellte, 1990 waren es bereits 42 Prozent. Gemeinsam mit den Beamten machten sie 54 Prozent aller Beschäftigten aus.35 Wie bedeutsam diese Entwicklung ist, lässt sich am besten ermessen, wenn man sie mit der sozialen Schichtung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vergleicht.36 Damals gehörten zwischen 70 und 80 Prozent der Bevölkerung der Unterschicht an, die Mittelschicht darüber umfasste maximal 20 bis 30 Prozent, gefolgt von einer sehr schmalen Oberschicht.37 Diese Gesellschaftsordnung wurde meist mit dem Bild einer Pyramide dargestellt, also durch eine breite Basis und 31 Beck, Risikogesellschaft, S. 121. 32 Vgl. Stephan Lessenich, Der Wohlfahrtsstaat nach der Krise oder Die doppelte Privatisie-

rung des Sozialen, in: Gegenblende 01 (November/Dezember 2009), http://www.gegenblende. de/01–2010, 2009, S. 4 [23.11.2018]. 33 Vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, S. 10 f. 34 Vgl. Josef Mooser, Abschied von der »Proletarität«. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze / Mario Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–186. 35 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 5: Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949–1990, München 2008, S. 146. 36 Vgl. Münkler, Mitte und Maß, S. 44. 37 Vgl. Stefan Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, Opladen 1999.

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eine schmale Spitze. Demgegenüber sind in der Zwiebel, die seit den 1960er Jahren die Pyramide als sozialstrukturelles Modell abgelöst hat, Basis und Spitze von nachrangiger Bedeutung, während die umfangreiche Mitte die spezifische Zwiebelgestalt bildet.38 Im Klartext heißt dies, dass in Zwiebelgesellschaften nicht mehr Unter- und Oberschicht, sondern die Mittelschichten Ordnung und Selbstbild der Gesellschaft prägen. Heute hat die Bundesrepublik aufgehört, eine Mittelstandsgesellschaft in diesem Sinne zu sein. Zwar existiert immer noch eine breite Mittelschicht, doch hat sich die Lebenssituation vieler Mittelschichts-Bürger deutlich verschlechtert. Hinzu kommt, dass der Lebensstil der Mitte nicht mehr für alle verbindlich ist, vielmehr orientiert man sich heute wieder verstärkt an den Eliten und möchte am liebsten selbst dazu gehören. Auch ist es für viele nicht mehr opportun, sich selbstgenügsam im Bestehenden einzurichten, was stattdessen häufig zählt, sind Erfolg und Eigeninitiative, Durchhaltevermögen und Flexibilität um jeden Preis. Doch wie konnte es passieren, dass eine Ökonomie des Sich-Abstrampelns auf alle Lebensbereiche übergegriffen hat und jeden Einzelnen – anscheinend freiwillig – verschärften Erfolgs- und Konkurrenzbedingungen ausliefert? Wieso konnten Ökonomismus und Winner-Take-all-Märkte bislang geltende Leistungsstandards und Bewährungsstrukturen außer Kraft setzen? Einigen scheint es so, als ob die Mitte ihr Maß verloren hätte, weil Vorstellungen des »klugen Maßhaltens« und der Mäßigung39 zugunsten des Steigerungs- und Beschleunigungsspiels40 in den Hintergrund getreten wären. Doch liegen die Dinge in Wirklichkeit etwas komplexer. Der kulturelle Bedeutungsverlust klassischer Mittelschichtstugenden kommt nicht von ungefähr. Die Ent-demokratisierung gesellschaftlicher Mentalitäten basiert im Wesentlichen auf der »totalen Mobilmachung« des Marktes, wodurch die Starken und Erfolgreichen und nicht mehr die Fleißigen und Prinzipientreuen, also die »Leistungsträger«, privilegiert werden. Familie, Wohlfahrtsstaat und Demokratie mussten sich den Imperativen von Märkten wesentlich anpassen. Zwar verschwinden die alten Bewährungsstrukturen nicht einfach, doch wo der Markt die Ziele vorgibt, scheint die alte Autonomie gesellschaftlicher Institutionen gebrochen. Die diffuse Macht des Marktes wird zur Disziplinierung von Belegschaften und Interessensvertretungen genutzt. Politiker wie Gelehrte, Arbeitssuchende wie Arbeitslose, Betriebe und Krankenhäuser sollen mit der Marktlage atmen sowie konjunkturelle Schwankungen und Krisen mithilfe eigener Ressourcen abfedern. Soziologische Untersuchungen stellen denn auch regelmäßig fest, dass die moderne Gesellschaft heute durch eine »sukzessive Vermarktlichung« aller

38 Vgl. Karl-Martin Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel, Opladen 1967. 39 Vgl. Münkler, Mitte und Maß, S. 62. 40 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne,

Frankfurt a. M. 2008.

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ihrer Lebensbereiche gekennzeichnet sei.41 In Arbeitsorganisationen und Wohlfahrtseinrichtungen, Familie und Partnerschaft, Kirche, Bildung und Wissenschaft herrschten demnach statt Solidarität und (Wert-)Bindung nunmehr Wettbewerb und Kalkül. Dadurch werden alle Lebensbereiche auf ihre wirtschaftliche Komponente hin untersucht. Im Endeffekt zählen nicht mehr die Anstrengungen, sondern nur noch die Erfolge. Und oftmals sind Markteinkommen von Leistungsgesichtspunkten vollständig entkoppelt, wie vor allem in der Finanzbranche sichtbar wird.42 Obgleich die Finanzkrise von 2008 Milliarden Euro an Staatsschulden und Wohlstandseinbußen gekostet hat, sind die Einkommen im Finanzsektor seither wieder kräftig gestiegen. Hinzu kommt, dass leistungsferne Einkommen durch Vermögensrenditen und Vermögensvererbung an Bedeutung gewonnen haben. Das reichste Zehntel aller Haushalte verfügte 1970 noch über 44 Prozent des gesamten Nettovermögens – heute sind es bereits über 66 Prozent des Gesamtvermögens.43 All dies hat bewirkt, dass Markterfolge im Bewusstsein des Einzelnen eine unermessliche Relevanz erlangt haben. Die Logik des Marktes macht selbst vor privaten Beziehungen nicht halt: Sind es nicht »soziale Beziehungen« und Freundschaften, in die heute laufend »investiert« wird und die sich »rentieren« sollen? Wo bleiben Solidarität und Hingabe? Schließlich haben sich auch soziale Anerkennung und persönliche Reputation aus konkreten Beziehungen herausgelöst. Waren Reputation und Anerkennung im 20. Jahrhundert noch an ein berufliches Ethos oder an die Erfüllung einer spezifischen Moral gebunden, so sieht man sie heute als »Münzen« in kulturindustriellen Aufmerksamkeitsökonomien, die durch Kapitalisierung symbolische wie auch monetäre Renditen abwerfen können.44 Dieser kollektive Bewusstseinswandel wäre allerdings kaum in dem Maße durchsetzbar gewesen, wenn die Mittelschicht nicht auch in materieller und politischer Hinsicht an Boden verloren hätte. Diese besitzt heute keinen nennenswerten Einfluss mehr auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes, da es ihr nicht mehr gelingt, das Kapital und seine Eigentümer zu domestizieren. Für den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Mittelschicht lassen sich unterschiedliche, teilweise miteinander verknüpfte Ursachen identifizieren: a) Die Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat. Kürzungen im öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen, steigende Gebühren für öffentliche Dienste wie Freibäder, Museen, Verkehrsbetriebe, Ärzte und Ausbildungskosten, die Anhebung des Rentenalters, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, welche die

41 Vgl. Ingo Bode / Hanns-Georg Brose, Die neuen Grenzen organisierter Reziprozität. Zum

gegenwärtigen Wandel der Solidaritätsmuster in Wirtschafts- und Nonprofit-Organisationen, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), S. 179–196. 42 Vgl. Deutschmann, Finanzmärkte und Mittelschichten. 43 Vgl. Bach, Einkommens- und Vermögensverteilung, S. 18. 44 Vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998.

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Marktrisiken auf Arbeitnehmer abwälzen, sind immer auch Angriffe auf die Mittelschicht, die, entgegen der Propaganda, dass der Wohlfahrtsstaat primär den Armen hilft, in Wahrheit selbst immer die größte Nutznießerin des Wohlfahrtsstaates war und ihn am entschlossensten verteidigt. Ein umfassender sozialstaatlicher Flankenschutz ist weder im Alter noch im Erwerbsleben vorgesehen. Selbstoptimierung und Weiterqualifizierung, eigenfinanzierte Altersvorsorge und private Zusatzversicherung, teure Ausbildungen der Nachkommen und deren Unterstützung in der langgezogenen, unsicheren Phase des Berufseinstiegs lassen Privilegien bröckeln. In vielen Bereichen der Mittelschicht sind Markteinkommen (Einkünfte vor Steuerung und Sozialabgaben) geschrumpft und Sozialleistungen reduziert worden. Gleichzeitig wurden die Sozialversicherungsbeiträge ständig angehoben, die Mehrwertsteuer erhöht und wichtige Ausgleichzahlungen gestrichen. Vielen Menschen ist es kaum noch möglich, vormalige Selbstverständlichkeiten wie Wohneigentum, Jahresurlaub oder den Zweitwagen zu finanzieren. Hinzu kommt, dass sich die subjektive Wahrnehmung der Lohngerechtigkeit vor allem in den mittleren Lagen verändert hat. Der Anteil derjenigen Erwerbstätigen, die sich ungerecht entlohnt fühlen, ist auf 35 Prozent gestiegen. Neben dieser gefühlten Lohnungerechtigkeit tritt der Eindruck von immerhin 67 Prozent aller Berufstätigen, dass sie zum Großteil nur für den Staat arbeiten und der Eindruck »heutzutage« genauso viel zu arbeiten wie »früher«, dafür aber weniger Lohn und Gehalt zu bekommen.45 Das Gefühl in einer gerechten Gesellschaft zu leben, will sich nicht mehr einstellen.46 b) »Die Mittelschicht« als einheitliche Sozialformation existiert nicht mehr.47 Vielmehr durchziehen unterschiedliche gesellschaftliche und sozialmoralische Spaltungslinien die Mittelschicht. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Übergang in die Wissensökonomie, der eine »Höherqualifikation des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters« nach sich gezogen hat.48 Waren 1991 die Fachlehrberufe (Lehrberufe im Rahmen der dualen betrieblichen Ausbildung) mit über 46 Prozent bei Erwerbstätigen mit deutscher Staatsangehörigkeit noch in der deutlichen relativen Mehrheit gegenüber den un- und angelernten und den höherqualifizierten Berufen, so macht der Anteil 2013 nur noch 29 Prozent aus. Diesem Bedeutungsverlust entsprach ein Anstieg der halbakademischen (Fachhochschule u. a. Semiprofessionen) und der akademi45 Vgl. Marg, Mitte, S. 168–173. 46 Vgl. hierfür auch die Überlegungen in historischer Perspektive in: Thomas Großbölting /

Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990: Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017. 47 Zwar fühlen sich in Deutschland nach wie vor mehr als 60 Prozent der Mittelschicht zugehörig (Marg, Mitte), doch verdeckt die Rede von »der Mitte« neue gesellschaftliche Frontverläufe. 48 Horst Kahrs, Jenseits der Statistiken sozialer Ungleichheit. Facetten modernisierter Beziehungen zwischen Arbeitswelt, Lebenswelt und Politik, in: Sozialismus 43 (2016), 7/8, S. 5–10, hier S. 6.

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schen Berufe. Ihr gemeinsamer Anteil stieg von knapp 32 Prozent im Jahr 1991 auf 47 Prozent 2013. Die Zahl der Facharbeiterberufe bricht hingegen in allen Bereichen ein.49 c) Aufgrund der Gleichzeitigkeit von Aufwärts- und Abwärtsdynamiken entwickeln sich auch Muster der Lebensführung innerhalb der Mittelschicht weiter auseinander.50 Der Lebensstil der oberen Mittelschicht ist kosmopolitisch, gesundheitsbewusst und an Wissensaneignung orientiert, während der Lebensstil der unteren Mittelschicht nicht nur weniger gesundheitsbewusst und wissensorientiert ist, sondern immer weiter davon abweicht.51 Die über Generationen gewachsene arbeitsweltliche Basis der Arbeitnehmergesellschaft wird zusehends schmaler und die Verdrängung traditioneller und traditionsbewusster Milieus aus dem Zentrum der Gesellschaft beschleunigt sich. Bislang einflussreiche Lebensformen der Arbeitnehmermitte und des konservativen Kleinbürgertums sind nicht mehr maßgeblich und wurden durch postindustriell-kosmopolitische Lebensformen verdrängt. Drei Ursachen dieses Mentalitätswandels drängen sich unmittelbar auf: Der wachsende Druck zur Höherqualifikation in den verbleibenden Lehrberufen (lebenslanges Lernen), die höheren Eintrittshürden in die Berufswelt und die Bedeutung von formaler akademischer Bildung für den Lebensweg der nachwachsenden Generation (Abiturzwang), die Unsicherheit in der Weitergabe erworbener Privilegien und Kapitalien in die nächste Generation. Damit wächst die Investition in die Statussicherung und der Zwang zur Anpassung und Modernisierung der Lebensführung.52 Es steigen auch die erforderlichen Investitionen in den Bildungserfolg und die Tendenzen zur Schließung. Moderne und traditionelle Milieus entwickeln sich kämpfend auseinander.53 Und auch Geschlechterverhältnisse verändern sich, da traditionelle Ordnungsmodelle, die mit dem Leitbild des männlichen Normalarbeiters und Familienernährers verbunden waren, zunehmend an Einfluss verlieren, wohingegen individualistische Modelle des Arbeitens und Lebens nunmehr den »Geist« des globalen wissensbasierten Kapitalismus der Gegenwart bestimmen.54

49 Ebd. 50 Vgl. Klaus Kraemer, Abstiegsängste in Wohlstandslagen, in: Burzan/Berger, Dynamiken,

S. 201–229. 51 Vgl. Renate Köcher, Produzieren wir eine Schicht sozialer Verlierer? Allensbach-Umfrage für die FAZ. www.faz.net/-gpg-6m6fk, 2011 [13.11.2018]. 52 Vgl. Mau, Lebenschancen; Koppetsch, Wiederkehr der Konformität. 53 Vgl. Michael Vester, »Orange«, »Pyramide« oder »Eieruhr«? Der Gestaltwandel der Berufsgliederung seit 1990, in: Burzan/Berger, Dynamiken, S. 55–78. 54 Vgl. Cornelia Koppetsch u. a., Karrierefrau und Märchenprinz? Geschlechterverhältnisse und sexuelle Praxis, in: Sven Lewandowski / Cornelia Koppetsch (Hg.), Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität, Bielefeld 2015, S. 275–297.

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d) Der Aufstieg der kosmopolitischen Eliten geht mit einer Erosion gesellschaftlichen Solidaritätsempfindens und einer Abkehr vom politischen Denken einher. Die Abkehr von politischer Gruppenbildung zugunsten eines hochgetriebenen Individualismus unter dem Vorzeichen von »mehr Eigenverantwortung«55 wird in öffentlichen Debatten unter dem Stichwort »Neoliberalismus« diskutiert.56 Die Durchsetzung neoliberaler Politikstile seit Thatcher und Reagan sind ja gerade darauf ausgerichtet, den Kollektivismus und das Denken in gesellschaftlichen Kategorien zu bekämpfen und damit auch die Grundlagen politischer Identitätsbildung und Intervention zu unterminieren. Allerdings ist der Neoliberalismus nicht vom heiteren Himmel gefallen und setzte sich nicht hinter dem Rücken der ahnungslosen Bürger durch. Vielmehr erhält der Neoliberalismus in der Kultur der Postmoderne, die Kreativität, Selbstverwirklichung und Individualität zum Leitbild gelungener Lebensführung erklärt, eine willige Komplizin. Die postmoderne Kultur wiederum wird durch die obere Mittelschicht, das progressive Bürgertum, getragen, das qua Abgrenzung gegenüber den unteren Regionen der Mittelschicht ein (latentes) Interesse an der Aufrechterhaltung neoliberaler Bewährungsmuster hat. Doch schwindet unter dem Einfluss von Neoliberalismus und Postmoderne auch die Grundlage für politische Repräsentation.57

III. Zur Transnationalisierung von Klassenstrukturen Auch in politischer Hinsicht verliert die Mittelschicht an Einfluss. Eine strukturelle Ursache dafür ist die Transnationalisierung der Volkswirtschaft durch globale Wertschöpfungsketten und die Herausbildung transnationaler Wissens- und Kulturindustrien, durch die soziale Lagen und Schicksale wachsender Bevölkerungsanteile nicht mehr im nationalen Rahmen besiegelt werden. Dadurch verändern sich auch die Frage der politischen Repräsentation und die Struktur politischer Klassenkonflikte. Drehte sich der politische Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch um die Forderung, den produzierten Reichtum innerhalb des Territoriums der Nation gerechter zu verteilen und die Ungleichheit der Chancen zwischen den sozialen Klassen zu bekämpfen, so resultiert der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufkeimende Konflikt aus der viel grundlegenderen Frage, welche gesellschaftlichen Kollektive im politischen Raum des Nationalstaates, der nationalen Regierung, überhaupt noch repräsentiert werden können. Die Brisanz dieser Frage ergibt sich daraus, dass wirtschaftliche Wertschöpfung

55 Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalis-

mus, Bielefeld 2008. 56 Vgl. den Beitrag von Philipp Ther in diesem Band. 57 Vgl. Simon Tormey, Vom Ender der repräsentativen Politik, Hamburg 2015.

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und Markttransaktionen wie auch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungstransaktionen durch die Transnationalisierung von Wertschöpfungsketten aus der gesellschaftlichen Klammer des Nationalstaates herausgelöst worden sind und die Welt in globale, nationale und lokale Zonen aufgeteilt haben.58 Dazu haben einerseits die Etablierung globaler Produktions- und Lieferketten und andererseits die Herausbildung neuer Kommunikationstechnologien und das Internet beigetragen.59 Soziale Klassen unterscheiden sich nun in der Frage, in welcher Zone sie ansässig sind, es entstehen neue transnationale Klassen. Dieser Prozess ist allerdings nicht mit Migration gleichzusetzen, da ganz unterschiedliche transnationale Lagen unter dem Dach ein und desselben Nationalstaates beherbergt sind. Die hochqualifizierten Arbeitnehmer der oberen Mitte stellen das transnationale Oben dar. Sie verfügen über transnational einsetzbares kulturelles Kapital, transnational verwertbare Bildung und Qualifikation und sind in dem Maße eher lose mit dem nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsraum verbunden wie ihre transnationale Verflechtung in den globalen Metropolen zunimmt. Über ihre soziale Lage wird immer weniger allein im eigenen Land entschieden. Eine Unternehmensberaterin in Frankfurt, ein Investmentbanker in London und eine Architektin in Taiwan bewohnen einen gemeinsamen Verkehrs- und Transaktionsraum, selbst wenn sie sich nie persönlich begegnet sind und stets innerhalb ihrer Länder verbleiben. Häufig teilen die transnationalen Experten, die sich vorrangig in den Beratungs-, Finanz- und Kulturindustrien finden, nicht nur eine gemeinsame professionelle Identität, sondern auch einen gemeinsamen kosmopolitischen Lebensstil, der aus dem Leben in globalen Metropolen resultiert.60 Die global cities stellen gewissermaßen kosmopolitische Enklaven dar, die in allen Ländern der Welt ähnliche Infrastrukturen und Konsumkulturen aufweisen. Zudem sind die unterschiedlichen Territorien durch das Internet miteinander verbunden. Dadurch werden sich ihre Lebensbedingungen zukünftig noch stärker international angleichen.61 Das Zugehörigkeitsgefühl der kosmopolitischen Oberschicht zur eigenen Nation lockert sich in demselben Maße, wie ihre transnationale Verflechtung innerhalb der Global Cities zunimmt.

58 Vgl. Robert Reich, Die neue Weltwirtschaft, Frankfurt a. M./Berlin 1993. 59 Die alten Produktionssysteme des Konzernkapitalismus wurden in Einzelteile zerlegt und

rund um den Erdball neu aufgebaut, wo immer sich Produkte am besten oder am billigsten fertigen lassen. Eine globale Kultur- und Wissensindustrie hat zur Erweiterung von Absatzmärkten für Kulturgüter beigetragen. Eine weltweite Konkurrenz um einerseits die billigsten und andererseits die fähigsten Arbeitskräfte ist entfacht worden. 60 Vgl. Saskia Sassen, Metropolen des Weltmarktes. Die neue Rolle der Global Cities, Frankfurt a. M. 1997. 61 Vgl. Cornelia Koppetsch, Glanz und Elend der Symbolanalytiker. Die Experten der Wissensgesellschaft, in: IBA Hamburg (Hg.), Bildung und Stadt, Hamburg 2009, S. 22–33; dies. (Hg.), Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. Zur Transformation moderner Subjektivität, Wiesbaden 2011.

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Wie gesagt, ist dieser Prozess nicht mit Migration gleichzusetzen. Auch »sesshafte« Künstler, IT-Fachkräfte, Wissenschaftlerinnen, Architekten, Sportlerinnen und politische Bewegungen bewegen sich auf transnationalen Märkten der Kulturgüter- und Aufmerksamkeitsindustrien und sind in multiple geografische und wirtschaftliche Kontexte eingebunden.62 Nur eine Minderheit lebt transnational in dem Sinne, dass sie sich geografisch über Grenzen hinwegbewegt und dass ihre Karriere und ihre Beziehungen langfristig plurilokal gestaltet sind. Für viele stellt eine internationale Berufstätigkeit jedoch eine Option dar. Weltläufigkeit ist zu einem Aspekt sozialer Lagen geworden, der die Identifikation mit dem Nationalstaat schwächt. Dies zeigt sich auch daran, dass die gehobene Mittelschicht internationalen Bildungsangeboten einen enormen Stellenwert zuschreibt.63 Das frühe Erlernen wichtiger Sprachen (etwa in Deutschland Englisch und in den USA Chinesisch), längere Auslandsaufenthalte schon während der Schulzeit und internationalisierte Bildungsabschlüsse dienen als Distinktionsmerkmale, in die erheblich investiert wird.64 Entsprechende Wanderungsbewegungen sind kein Privileg der reichen Länder, sondern sind in den Ober- und Mittelschichten ärmerer Länder schon länger etabliert.65 Ohnehin sind die Bildungssysteme im Globalen Süden an den Strukturen des kolonialen Mutterlandes orientiert und bieten so von vornherein eine mehrsprachige und international ausgerichtete Bildung. Vor allem von den Eliten der ärmeren Länder hat eine transnationale Ausrichtung als Aufstiegsschneise eine lange Tradition. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Transnationalisierungsprozesse die sozial-räumliche Autonomie privilegierter Schichten erhöhen und die Bindungen an den Nationalstaat lockern. Den transnationalen Akteuren steht es frei, sich dort niederzulassen, wo sie die besten Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden. Folglich sind sie schwerer dazu zu motivieren, sich an der Produktion von Kollektivgütern innerhalb ihrer Nation zu beteiligen, etwa das politische und soziale Leben zu verbessern und allgemeine Wohlfahrtsinstitutionen herauszubilden. Ihr Leben spielt sich zumeist in städtischen Arealen ab, die an sich schon transnationale Räume darstellen und in denen sie dank privat finanzierter Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und sozial homogener Stadtviertel zumeist unter sich bleiben. Die transnationalen Experten bewegen sich nicht länger in nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrträumen, weshalb ihre Identifikation mit dem Nationalstaat und seinen Einrichtungen geschwächt wird.66

Vgl. Anja Weiß, Soziologie Globaler Ungleichheiten, Berlin 2017, S. 167. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Gerhards u. a., Klassenlage. Vgl. Weiß, Soziologie, S. 95 f. Vgl. Ralf Dahrendorf, Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: Merkur 54 (2000), 619, S. 1057–1068; Richard Münch, Das Regime des liberalen Kapitalismus: Inklusion und Exklusion im neuen Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a. M./New York 2009. 62 63 64 65 66

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Auf der anderen Seite entsteht ebenfalls eine transnationale Klasse, ein »transnationales Unten«. Hier finden sich Geringverdiener aus unterschiedlichen Weltregionen, gering- und de-qualifizierte einheimische Arbeitnehmer und Migranten aus Entwicklungs- und Schwellenländern als modernes transnationales Dienstleistungsproletariat wieder. Für die einheimischen Arbeitnehmer entstehen daraus gravierende Nachteile, weil ihre Löhne an die niedrigeren internationalen Maßstäbe angeglichen werden.67 Für sie existiert die »soziale Rolltreppe« in die Mittelschicht nun nicht mehr, da sie als Arbeitnehmer innerhalb eines transnationalen Wirtschaftsraums faktisch nicht mehr unter dem Dach ihrer heimischen Volkswirtschaft angesiedelt sind, selbst wenn sie als Staatsbürger über alle politischen Rechte verfügen. Die Herausbildung des transnationalen ›Unten‹ wird durch zwei komplementäre Prozesse vorangetrieben: Einerseits werden geringqualifizierte Arbeitsplätze aus der Produktion in sogenannte Niedriglohnländer ausgelagert, wodurch Unternehmen ein Drohpotenzial in der Hand haben. Andererseits wandern Arbeitsmigranten aus ärmeren Ländern in Hochlohnländer ein und bieten die gleiche Arbeit günstiger an. Die polnische Altenpflegerin, der Wachschützer aus Sri Lanka und die Haushaltshilfe aus Mexiko machen den einheimischen Arbeitnehmern Konkurrenz. Geringer qualifizierte Arbeitnehmer aus Deutschland verlieren dadurch wichtige Wohlstands-Privilegien, die sich bislang aus ihrer Staatsbürgerschaft ableiteten. Zwischen dem transnationalen Oben aus Eliten und oberer Mittelschicht und dem transnationalem Unten befindet sich eine in den nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum eingebundene Mittelschicht, deren Wohlstandsniveau vorläufig noch weitgehend von innerstaatlichen Institutionen geprägt wird und für die die Staatsangehörigkeit in einem reichen nationalen Wohlfahrtsstaat ein erhebliches Privileg darstellt. Doch dieser Teil der Mittelschicht verliert zunehmend seinen Einfluss auf die Geschicke des Landes. Über Lebenschancen und Ressourcenzuteilungen entscheiden nun immer weniger die klassischen Anwälte der Mitte, wie etwa Gewerkschaften und die klassischen Volksparteien, sondern globale Wirtschaftsverflechtungen und transnationale Einrichtungen. Es zeichnet sich somit immer deutlicher eine zentrale Spaltungsachse innerhalb der Mittelschicht ab: Die akademisch ausgebildete obere Mittelschicht entwickelt sich zunehmend zu einer entbundenen, transnationalen Oberschicht, während die »eigentliche« Mitte noch im nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsraum angesiedelt ist und

67 Vgl. Martin Werding / Marianne Müller, Globalisierung und gesellschaftliche Mitte. Beob-

achtungen aus ökonomischer Sicht, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht. Frankfurt a. M. 2007, S. 103–161, hier S. 131 f. Hier findet aktuell ein internationaler Unterbietungswettbewerb um die niedrigsten Löhne und die geringsten Arbeitnehmerrechte statt. Besiegelt wird der kollektive Ausschluss der Geringverdiener aus den Mittelschicht-Milieus durch die »Krise des Wohlfahrtsstaates«, der ihre Einkommens- und Statusverluste beziehungsweise ihr »Überflüssigwerden« nicht mehr auffängt.

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ein Interesse an dessen Stärkung, notfalls auch durch Abkopplung von der Globalisierung, hat.

IV. Jenseits des demokratischen Kapitalismus? Die zunehmenden Ungleichheiten wecken Zweifel an der kapitalistischen Ideologie, wonach durch die Liberalisierung von Märkten bei allen Beteiligten Wohlstandsgewinne zu verzeichnen wären. Vielmehr bringen die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte eher die problematischen Seiten der Marktgesellschaft, ihre anti-demokratischen und ungleichheitsverschärfenden Tendenzen zum Vorschein. Sichtbar wird, dass der Kapitalismus eine Gesellschaftsordnung ist, die von sich aus kein Maß und keine normative Ordnung herausbildet.68 Diese muss von außen gegen die Dynamik des Kapitalismus und seine Tendenz, Traditionen und etablierte Strukturen zu untergraben, durchgesetzt werden. In der Durchsetzung solcher normativer Rückbindung bestand bislang die gesellschaftliche Leistung und Integrationskraft der Mittelschicht, weshalb ein demokratischer Kapitalismus sich in all jenen Ländern durchsetzen konnte, in denen die Mittelschicht breit, einkommensstark, kulturell und politisch einflussreich ist. In der alten Bundesrepublik geschah dies durch einen beständigen Interessensausgleich zwischen dem Kapital, also den Eigentümern und Managern von Unternehmen auf der einen Seite, und den durch die Gewerkschaften vertretenen Interessen der Arbeitnehmer auf der anderen Seite. Die Ungleichheit (der Klassen, der Berufsgruppen und der Geschlechter) blieb bestehen, wurde aber abgefedert, der bisherige Platz innerhalb einer Hierarchie gestufter Rechte und Pflichten war gesichert.69 Zudem gab es einen engen und direkten Zusammenhang zwischen dem Wohlergehen der Konzerne und dem der Bürger. Die großen Konzerne waren innerhalb der »Deutschland AG« Teil eines engen Geflechts von Unternehmen, Gewerkschaften und staatlicher Verantwortung. Mit wachsender Produktivität stiegen auch Löhne und Sozialleistungen und damit wiederum die Kaufkraft, wodurch die unternehmerischen Profite zunahmen. Die meisten Menschen kamen in den Genuss von mehr Sicherheit und Stabilität und eines größeren Anteils am Volkseinkommen als zu irgendeinem anderen, früheren oder späteren Zeitpunkt. Die realen Stundenlöhne stiegen bis Anfang der 1980er Jahre kontinuierlich.70

68 Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystem, Frankfurt a. M. 1978. 69 Vgl. Vester, »Orange«, S. 58 f. 70 Der reale Stundenlohn ist der Lohn, der der tatsächlichen Kaufkraft entspricht, das heißt der Gütermenge, die bei gegebenen Lebenshaltungskosten tatsächlich eingekauft werden kann. So kann zum Beispiel trotz steigender Löhne die tatsächliche Kaufkraft sinken. Dies ist seit den 1990er Jahren der Fall.

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Dieses alte System wird nun durch ein völlig neues ersetzt. Die Internationalisierung von Märkten und der Wettbewerb zwischen Ländern mit unterschiedlichen Lohn- und Produktivitätsniveaus sowie Sozialstandards hat die internationale Konkurrenz entfacht. Die Spaltung verläuft nicht länger nur zwischen den Staaten, sondern mitten durch die Sozialstruktur der reichen Länder hindurch und zerteilt auch die Mittelschicht. Transnationale Klassen bilden sich heraus, deren Schicksal nicht mehr innerhalb des Nationalstaates besiegelt wird. So wählte Deutschland den Weg des Exportweltmeisters, um im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Es bietet hochwertige Produkte zu günstigen Preisen am Weltmarkt an. Dazu wurden Löhne gekürzt und Arbeitskräfte eingespart. In der Folge sinkt der Wohlstand für die Mehrzahl der Arbeitnehmergruppen innerhalb des Landes trotz steigender Produktivität deutscher Unternehmen. Diese Tendenz zeigt sich nicht nur in Deutschland, sondern, wie gesagt, in allen OECD-Ländern. Da gegenwärtig jedoch eine überzeugende ideologische Alternative fehlt und da es keine starken politischen Parteien oder Gruppen gibt, die auf andere Lösungen drängen könnten, erscheint die Hegemonie eines entfesselten, ungleichheitsverstärkenden Kapitalismus fast unanfechtbar. Da die Rahmenbedingungen einer rückbindenden Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen besiegelt werden, ist es für das Kapital ein Leichtes, in globale Schlupflöcher abzutauchen. Eine Rückkehr zum demokratischen Kapitalismus wäre nur möglich, wenn sich die Mehrheit der Nationen zusammenschließen und neue Regulative für einen globalen Kapitalismus errichten würden. Hinzu kommt, dass extreme Ungleichheiten am oberen wie auch am unteren Ende der sozialen Hierarchie gegenwärtig politische Kräfte erstarken lassen, die ein weiteres Abdriften von der Demokratie wahrscheinlich werden lassen. Dazu gehören die wachsende Vormachtstellung der Reichen, ihre Abspaltung aus öffentlichen Infrastrukturen und ihr wachsender Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Da die Reichen sehr von der Globalisierung profitieren, während die Mittelschicht und die Armen davon wenig oder gar nicht profitieren und diese potenziell zum Stillstand bringen könnten, sind erstere an einer Beschränkung der Mitbestimmung letzterer und folglich an der Einschränkung der Demokratie interessiert, auch wenn die entsprechenden Maßnahmen nicht bewusst mit diesem Ziel ergriffen werden.71 Zu den Kräften, welche die Demokratie unterminieren, gehören auch die rechtspopulistischen Bewegungen, welche insbesondere die unteren mittleren und mittleren Schichten vertreten.72 Sie fordern den Rückzug aus der Globalisierung und nehmen dabei den Rückzug auch aus der Demokratie in Kauf, indem sie schrittweise grundlegende Rechte der Bürger beseitigen oder neu definieren. Da sie es ablehnen, Einwanderung zu nutzen, um 71 Vgl. Milanovic, Welt, S. 210 ff. 72 Vgl. Cornelia Koppetsch, Aufstand der Etablierten, in: Soziopolis (12.4.2017), https://sozio

polis.de/beobachten/ kultur/artikel/aufstand-der-etablierten/ [23.11.2018].

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den Bevölkerungsschwund in Europa zu bremsen und Talente ins Land zu holen, schränken sie auch die Fähigkeit Europas ein, umfassend und produktiv an der Globalisierung teilzunehmen. Folgen wir Milanovic, bemüht sich der Populismus im Interesse der unteren und mittleren Schichten um die Abkoppelung von der Globalisierung und erhält eine Scheindemokratie aufrecht, während die Plutokratie versucht, die Globalisierung fortzusetzen und dabei die Schlüsselelemente der demokratischen Mitbestimmung opfert.73

73 Vgl. Milanovic, Welt, S. 221.

Lisa Suckert

DIE WIRTSCHAFTSKRISE ALS CHANCE DER KAPITALISMUSKRITIK? Von den Schwächen des ›neuen‹ Kapitalismus und der Schwierigkeit, diese zu benennen

D

ie symbolträchtige Insolvenz der Investmentbank Lehmann Brothers im September 2008 stellt zweifelsohne einen markanten Wendepunkt der jüngeren Wirtschaftsentwicklung dar und wird mit einer Kaskade ökonomischer Verwerfungen in Verbindung gebracht, die sich bis in die Gegenwart erstreckt.1 Bereits seit dem Frühsommer 2007 zeichnete sich auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt eine Hypothekenkrise ab, die rasch auf den Bankensektor übergriff und international zahlreiche Finanzinstitute in den Konkurs trieb. Weltweit verzeichneten die Börsen besorgniserregende Einbrüche, Währungen verloren an Wert und Vertrauen. Die Realökonomie geriet schließlich ins Stocken und schrumpfte in vielen Ländern dramatisch. Eilig geschnürte Rettungspakte für verschuldete Banken und zahlungsunfähige Staaten verpfändeten das Geld künftiger Generationen. Die dadurch steigende Staatsverschuldung lieferte die nationalen Regierungen jedoch nur noch stärker den Schwankungen der Finanzmärkte aus. Der in der Folge vor allem in Südeuropa mit Nachdruck durchgesetzte Sparimperativ führte vielerorts zu besorgniserregend hoher Jugendarbeitslosigkeit, Armut und einer zunehmenden Perspektivlosigkeit vieler Bürger – was den idealen Nährboden für weitreichende politische Verwerfungen schuf. Wenngleich die vermeintliche Kausalkette zwischen einzelnen Eskalationsstufen nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Debatten ist, lässt sich festhalten, dass das kapitalistische Weltwirtschaftssystem durch die im Jahr 2007 einsetzende Krise ernsthaft erschüttert wurde. 1 Einen auf die ökonomischen Folgen fokussierten Überblick über den Verlauf der Krise aus

deutscher Sicht gibt Falk Illing, Deutschland in der Finanzkrise, Wiesbaden 2013.

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Für die Kapitalismuskritik zeigte sich die offen zutage tretende Krise des Kapitalismus zunächst als enormer Katalysator. Bereits die ersten wirtschaftlichen Stoßwellen wurden von einem anschwellenden Chor der Kritik begleitet. Diese diffundierte schnell über die klassischen kapitalismuskritischen und antikapitalistischen Milieus hinaus und die Rede von »zockenden Bankern«, vom globalen »Raubtierkapitalismus«, von »entfesselten Märkten«, die doch endlich »an die Leine« zu legen seien, fand ihren festen Platz in Massenmedien unterschiedlichster Couleur. Die kritische Auseinandersetzung mit dem »Geist des Kapitalismus«, seiner neoliberalen Logik und dem Mythos freier Märkte avancierte zum mit viel Verve vorgetragenen Mainstream. Im Zuge der kapitalismuskritischen Grundstimmung, die mit Einsetzen der Krise zu beobachten war, erschien es mancherorts, als wäre, wenn noch nicht das Ende des Kapitalismus, so doch die Zeit für eine Gegenbewegung gekommen.2 Eine Gegenbewegung, die, ganz im Polanyi’schen Sinne der Doppelbewegung, die kapitalistische Freiheit einschränkt und die Gesellschaft vor der »verderblichen Wirkung des Marktes«3 schützt. Rückblickend muss konstatiert werden, dass die aufkeimenden Hoffnungen der (linken) Kapitalismuskritiker weitgehend enttäuscht wurden. Der neoliberale Kapitalismus besteht unbeirrt fort4, markante Gegenbewegungen gegen einzelne Komponenten der ökonomischen Globalisierung haben sich allenfalls im rechten Spektrum gebildet. Der vorliegende Beitrag macht sich nichtsdestotrotz diese frühe Kapitalismuskritik im Zuge der einsetzenden Wirtschaftskrise zum Gegenstand und geht der Frage nach, inwiefern die Krise damals tatsächlich eine neue Form von Kritik befördert hat. Dabei steht nicht die quantitative Zunahme der Kritik, sondern vielmehr der qualitative, inhaltliche Wandel der Argumente im Vordergrund. Inwiefern unterscheidet sich die Kritik nach Einsetzen der Krise von jener zuvor? Welches Potential für weitreichende Transformationen konnte von einem derartigen diskursiven Wandel überhaupt ausgehen? Diesen Fragen wird im Rahmen einer qualitativen, an Foucault angelehnten und durch die Arbeiten von Boltanski und Chiapello5 inspirierten Diskursanalyse nachgegangen. Die dabei zutage tretenden Widersprüche können als ein Faktor für den mangelnden Erfolg der kapitalismuskritischen Bewegung betrachtet werden.

2 Wolfgang Streeck, How Will Capitalism End?. Essays on a Failing System, London/New York

2016. 3 Karl Polanyi, The Great Transformation – politische und ökonomische Ursprünge von Ge-

sellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1977, S. 172. 4 Colin Crouch, The Strange Non-Death of Neo-Liberalism, Cambridge 2011. 5 Luc Boltanski / Éve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006.

DIE WIRTSCHAFTSKRISE ALS CHANCE DER KAPITALISMUSKRITIK?

I.

Der Kapitalismus und seine Kritik: Ein konventionstheoretischer Zugang

Der Kapitalismus und die ihm entgegengebrachte Kritik stehen in einem paradoxen Wechselverhältnis. Insbesondere Luc Boltanski und Ève Chiapello haben überzeugend dargelegt, dass eine wesentliche Eigenart des kapitalistischen Systems darin besteht, Kritik zu vereinnahmen und die eigene Legitimität so weiter zu steigern. Der vorliegende Beitrag schließt an diese Forschung, aber auch ihre theoretischen Grundlagen, die Economie des Conventions (EC), an. In ihrem wegweisenden Werk, »Der neue Geist des Kapitalismus«, setzen sich Boltanski und Chiapello intensiv mit der Transformation des Kapitalismus im Frankreich der Nachkriegszeit sowie mit der Rolle der Kritik in diesem Prozess auseinander. Hierfür unterscheiden sie grundlegend zwischen dem Kapitalismus als Wirtschaftssystem, das einzig auf die unbegrenzte Kapitalakkumulation durch den Einsatz formell friedlicher Mittel zielt, und dem zugehörigen ›Geist‹ des Kapitalismus.6 Da der Kapitalismus in seiner Unersättlichkeit auf unbegrenztes Engagement und Mitwirken der Menschen angewiesen ist, jedoch selbst über keine moralische Motivationsbasis verfügt, bedarf er einer Ideologie, die ihm Sinn verleiht. Diese Ideologie, eine Art Metaphysik des Kapitalismus, bezeichnen die Autoren als »Geist des Kapitalismus«. Dieser Geist lässt den Kapitalismus als legitim erscheinen, schränkt ihn aber gleichzeitig ein, indem er ihn an moralische Normen bindet.7 Sowohl der Kapitalismus selbst als auch der jeweilige ›Geist des Kapitalismus‹ sind historische Konstrukte, die sich über die Zeit verändert haben. Boltanski und Chiapello identifizieren drei wesentliche Variationen: Der erste ›Geist des Kapitalismus‹ entsteht im ausgehenden 19. Jahrhundert und dient als Ideologie für die Frühphase der Industrialisierung. Er ist im Wesentlichen an Paternalismus, Pflichterfüllung, die Person des Unternehmers und das damit einhergehende Ehrgefühl gebunden. »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, die Analyse, in der sich Max Weber8 umfassend mit der Genese dieses ersten ›Geistes‹ auseinandersetzt, gilt nach wie vor als eine wesentliche Grundlage der modernen Sozialwissenschaften. Der zweite ›Geist‹, der bis 1960 seinen Höhepunkt erlangte, dient als ideologischer Überbau für den korporativen Kapitalismus und seine großindustrielle Massenproduktion. Er ist durch die umfassende Transparenz der Organisation, rechtliche Grundlagen, Mitbestimmung und bürokratische Sicherheitssysteme geprägt. Der dritte ›Geist des Kapitalismus‹, dem sich Boltanski und Chiapello insbesondere widmen, ist seit den 1990er Jahren in der Entstehung begriffen und daher noch nicht voll ausgebildet. 6 Ebd., S. 39. 7 Ebd., S. 42 ff. 8 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 32010

(1920).

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Das zugehörige kapitalistische System wird von Netzwerkstrukturen, von ortsunabhängiger Globalisierung und zunehmender Flexibilität charakterisiert.9 Ohne entsprechenden ›Geist‹, das heißt einen Rahmen, der einschränkt und zugleich moralische Legitimation verleiht, erscheint diese Form des ›neuen‹ Kapitalismus jedoch weitestgehend ›entfesselt‹. Boltanski und Chiapello stellen den Kapitalismus als per se amoralisch dar, das heißt ohne eine eigene, genuine Legitimationsbasis. Um gleichwohl Gerechtigkeitsvorstellungen bedienen und einen entsprechenden ›Geist‹ ausbilden zu können, bedarf es jedoch einer explizit moralischen Dimension. Der ›Geist des Kapitalismus‹ einer jeweiligen Epoche bezieht sich daher auf Rechtfertigungsprinzipien anderer Lebensbereiche. Hier greifen Boltanski und Chiapello auf das von Luc Boltanski und Laurent Thévenot entwickelte Konzept der Konventionen beziehungsweise der Poleis zurück,10 das ein wesentliches Fundament der EC darstellt.11 Unter Konventionen werden »übergeordnete gemeinsame Prinzipien verstanden, […], auf die sich die Individuen […] beziehen, um Einigung zu erzielen oder einen Streit auszufechten.«12 Es handelt sich also um allgemein akzeptierte Grundsätze, nach denen sich Menschen, Dinge und Argumente ihrer Wertigkeit nach anordnen lassen. Als legitim gelten derartige Ordnungen jedoch nur, wenn sie ein übergeordnetes Allgemeinwohl adressieren. So unterscheidet die industrielle Konvention beispielsweise Wertvolles (funktionierend, professionell, geplant, messbar) von Wertlosem (unproduktiv, chaotisch, unqualifiziert, riskant), indem auf die Effizienz als grundlegendes Prinzip abgestellt wird. Indem die ›Großen‹ – das heißt die Experten und Professionellen – die Welt optimieren, gestalten sie diese auch für die ›Kleinen‹ effizienter und damit besser. Der höhere Stellenwert und die Privilegien der ›Leistungsträger‹ lassen sich so durch Bezug auf die industrielle Konvention legitimieren. Ähnlich erscheint in der familialen Ordnung der Respekt, den der Patriarch von jenen erhält, die ihm hierarchisch untergeordnet sind, durch seine einhergehenden Fürsorgepflichten als gerechtfertigt. In der marktlichen Ordnung schließlich investiert der reiche Gewinner und befeuert so die Konkurrenz, die für alle Wachstum und Wohlstand hervorbringt. Elementar ist jedoch, dass in derselben Situation mehrere, widersprüchliche Konventionen existieren können. Während Boltanski und Thévenot in ihrem Grundlagenwerk neben den eben genannten Ordnungen noch die inspirierte, die öffentliche und die staatsbürgerliche Polis identifizieren, arbeiten Boltanski und Chiapello mit der projektbasierten Konvention eine zusätzliche Ordnung heraus. Hier besitzt

9 Boltanski/Chiapello, Der neue Geist, S. 54 ff. 10 Luc Boltanski / Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen

Urteilskraft, Hamburg 2007. 11 Vgl. Rainer Diaz-Bone, Die »Economie des conventions«. Grundlagen und Entwicklungen

der neuen französischen Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2015, S. 135 ff. 12 Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung, S. 103.

DIE WIRTSCHAFTSKRISE ALS CHANCE DER KAPITALISMUSKRITIK?

Wert, was flexibel, vernetzt, inklusiv und mobil ist. Diese neue Form der Rechtfertigung, so ihr zentrales Argument, bildete sich analog zum dritten ›Geist des Kapitalismus‹ erst allmählich heraus und dient Globalisierung, Leiharbeit und Projektorganisation als Legitimationsgrundlage.13 Die Crux des theoretischen Konzepts ist, dass Konventionen nicht nur zur Rechtfertigung dienen können, sondern eben auch die Grundlage für erfolgsversprechende Kritik bilden. Jeder Legitimierungsversuch kann ausgehend von entgegengesetzten Konventionen zur Zielscheibe von Kritik werden. Was gerade noch als wettbewerbsfähig (Markt) gepriesen wurde, kann alsbald als ineffizient (Industrie) oder verantwortungslos (Familie) gebrandmarkt werden. Der jeweils anderen Ordnung wird so unterstellt, dass sie keinem Allgemeinwohl, sondern lediglich Partikularinteressen dient. Die verschiedenen Konventionen bilden damit sowohl Ausgangspunkt für die Legitimation und damit den Erhalt des Kapitalismus als auch ein argumentatives Munitionslager für potenzielle Kapitalismuskritik. Indem Boltanski und Chiapello die Transformation des Kapitalismus in der französischen Nachkriegsgesellschaft nachzeichnen, arbeiten sie insbesondere die ambivalente Stellung heraus, die die Kapitalismuskritik in diesem Prozess einnimmt.14 Anders als in der eingangs erwähnten Konzeption Karl Polanyis, wird die Kritik dabei nicht primär als Gegenbewegung betrachtet, die den Kapitalismus eindämmt, sondern als Motor, der den Kapitalismus zu Veränderungen zwingt und gerade dadurch vor seinen immanenten Risiken schützt. Angetrieben durch die Kritik zeigt der Kapitalismus immer wieder neue Gesichter. Die Kritik scheint machtlos, da der Kapitalismus ihr immer einen Schritt voraus ist und ihr zu entgleiten droht. Die oft von Kapitalismuskritikern beklagte Resilienz des Kapitalismus entspringt damit seiner Fähigkeit, Kritik aufzugreifen und sich ihr dadurch zu entziehen. Die stetige Dynamik, als zentrale kapitalistische Eigenschaft, wird so als Funktion von Kapitalismuskritik begriffen. Den beiden französischen Autoren folgend lassen sich mit Korrektivkritik und Radikalkritik zwei grundlegend verschiedene Formen von Kritik unterscheiden.15 Die Korrektivkritik erfolgt entlang der zentralen Poleis, auf die sich der jeweilige ›Geist des Kapitalismus‹ beruft, das heißt vor allem entlang der industriellen und der marktlichen Konvention. Der Kapitalismus wird hier beispielsweise dafür kritisiert, kein echter Markt zu sein, weil bestimmte Unternehmen ein Monopol besitzen. Er entspricht also nicht dem Ideal der Marktpolis. Die Korrektivkritik geht häufig mit konstruktiven Reformvorschlägen einher, sie fordert keine grundlegende Abkehr. Die Radikalkritik stellt hingegen gerade jene Poleis in Frage, auf die sich der Kapitalismus zu seiner Verteidigung stützt. Der 13 Boltanski/Chiapello, Der neue Geist, S. 147 ff. 14 Vgl. auch Luc Boltanski und Eve Chiapello, Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Ka-

pitalismus und der normative Wandel, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), S. 459–477. 15 Boltanski/Chiapello, Der neue Geist, S. 75 f.

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Kapitalismus wird hier beispielsweise dafür kritisiert, dass die ruinöse Konkurrenz als Vorwand für verantwortungsloses Handeln dient. Die marktliche Konvention wird hier ausgehend von der traditionellen Polis, in der Vertrauen, Respekt, Ehre und Pflicht zählen, als illegitim entlarvt. Ausgehend von diesen beiden Formen der Kritik identifizieren Boltanski und Chiapello unterschiedliche Themen, die die Empörung über den Kapitalismus befeuern und machen die historischen Typen der Künstlerkritik und der Sozialkritik aus. Die Künstlerkritik geißelt den Kapitalismus für seine Entzauberung der Welt, seine mangelnde Authentizität und die Unterdrückung der menschlichen Individualität, während die Sozialkritik sich über die Ausbeutung, die Ungleichheit und den grundlegenden Egoismus empört. Sozialkritik und Künstlerkritik können sich widersprechen sowie von unterschiedlichen Trägern adressiert werden.16 Wie bewegen diese unterschiedlichen Formen der Kritik den Kapitalismus nun dazu, sich zu transformieren? Eine direkte Reaktion ist am ehesten von der Korrektivkritik zu erwarten. Da der Kapitalismus hier an den eigenen Werten gemessen wird, kann er sich, wenn er seine Legitimität nicht völlig verspielen möchte, dieser Kritik auf die Dauer nur schwer entziehen. Da die Korrektivkritik zudem in den bestehenden Bahnen umsetzbar ist, wird sie häufig aufgenommen. Ausgehend von der ihm entgegen gebrachten Korrektivkritik kann sich das kapitalistische System daher veranlasst sehen, sich wieder stärker nach den Konventionen auszurichten, auf die sich sein Geist bezieht. Entsprechend werden Institutionen geschaffen oder verschärft, die absichern, dass die grundlegenden Werte auch tatsächlich eingehalten werden. So kann im oben genannten Fall ein Kartellrecht eingeführt und entsprechende Kontrollen verstärkt werden, um einer Monopolbildung vorzubeugen. Das kapitalistische System wird dann, mit den Worten von Boltanski und Chiapello, »gestrafft«.17 Wenngleich die Korrektivkritik damit relativ aussichtsreich ist, um gewisse Verbesserungen zu erzwingen, setzen sich die Kritiker immer der Gefahr aus, vereinnahmt zu werden. Indem sie den Kapitalismus auf seine kleineren Unzulänglichkeiten aufmerksam machen, vor allem aber dessen eigene Logik perpetuieren, tragen sie letzten Endes zu seiner Legitimation bei und verschaffen ihm eine Schonfrist vor tiefergreifender Empörung. Die Reaktion auf Korrektivkritik ist zudem für die Träger des Kapitalismus in der Regel mit Kosten verbunden. Anstatt die Korrektivkritik aufzunehmen, und sie auf diesem Wege unschädlich zu machen, kann der Kapitalismus ihr ausweichen, indem er seinen Aktionsbereich und seine Strukturen verschiebt.18 Wird beispielsweise die Höhe der Löhne als zu niedrig und nicht der Leistung entsprechend bemängelt, kann eine Korrektur erfolgen, indem das Lohnniveau angehoben wird (Aufgreifen der Korrektivkritik). Eine ausweichende Lösung kann 16 Ebd., S. 79 ff. 17 Ebd., S. 529 ff. 18 Ebd., S. 76 f.; 544 ff.

DIE WIRTSCHAFTSKRISE ALS CHANCE DER KAPITALISMUSKRITIK?

jedoch zum Beispiel darin bestehen, Arbeitnehmer zu flexiblen, freien Mitarbeitern zu machen, die ihre Vergütung frei aushandeln. Durch etwaige Ausweichmanöver verschiebt sich das Gefüge des Kapitalismus und es entsteht auf Seite der Kritik Verwirrung. Denn nach welchen Kriterien ist beispielsweise der Preis für eine freie Arbeitsstunde zu bemessen? Sind die ›freien‹ Mitarbeiter nun Arbeitnehmer oder eher kapitalistische Unternehmer? Bestehende Modelle und Bewertungsmaßstäbe greifen in dieser Situation nicht mehr, die Kritik muss sich neu ordnen. Durch ein vermehrtes Ausweichen vor der Korrektivkritik entfernt sich der Kapitalismus als Allokationssystem aber immer stärker von seinem Geist und damit seiner Legitimationsbasis.19 Eine Wirtschaftsform, in der sich die arbeitende Bevölkerung frei und flexibel von Projekt zu Projekt hangelt, kann sich beispielsweise kaum mehr mit dem Verweis rechtfertigen, Sicherheit und Solidarität für alle zu stiften. An diesem Punkt kann nun die Radikalkritik ansetzen. Wenn der Kapitalismus und sein Geist nicht mehr zusammenpassen, vermag sie es, grundlegende legitimatorische Schwächen zu benennen. Um dies kraftvoll tun zu können, darf sie dabei nicht ausschließlich auf dem »alten« Geist, das heißt den kapitalistischen Poleis, beharren, sondern muss einen neue normative Basis schaffen, die den neuen Akkumulationsformen entspricht.20 Es müssen Bewertungsmaßstäbe jenseits der alten geschaffen werden, mit denen sich beurteilen lässt, ob die neue kapitalistische Ordnung gerecht ist oder nicht. Derartige neue Gerechtigkeitsideale lassen sich finden, indem Kompromisse zwischen bestehenden Rechtfertigungsordnungen geschlossen werden, oder aber, wie Boltanski und Chiapello dies für die gegenwärtige Situation erhoffen, neuartige Konventionen entstehen. Zudem bedarf es auch eines umfassenden Institutionengefüges, das diese neue Ordnung auch tatsächlich umsetzt. Ausgehend von diesen neuartigen Wertemaßstäben, so die Annahme von Boltanski und Chiapello, kann sich ein neuer ›Geist des Kapitalismus‹ herausbilden. Dieser stützt das veränderte kapitalistische System, indem er ihm erneut Sinn und Legitimation verleiht. Er weist es jedoch auch gleichzeitig in moralische Schranken, indem er es an ein Set von normativen Regeln bindet. Insgesamt zeigt sich, dass der Ansatz der Economie des Conventions mit seiner umfassenden Konzeption von Kritik sowie dem Prinzip der widerstreitenden Rechtfertigungsordnungen einen fruchtbaren theoretischen Werkzeugkasten bietet, um den Wandel der Kapitalismuskritik und ihr Potential für eine tiefergehende Transformation zu analysieren. Dabei kommen insbesondere die Vielschichtigkeit der Kritik, die Paradoxa und die notwendigen Kompromisse in den Blick.

19 Ebd., S. 550 ff. 20 Ebd., S. 561 ff.

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II. Kapitalismuskritik greifbar machen: Daten und Methode Dass kapitalismuskritische Äußerungen im Zuge der einsetzenden Wirtschaftskrise ab 2008 merklich zugenommen haben, lässt sich problemlos anhand von Schlagwortsuchen in entsprechenden Nachrichtendatenbanken aufzeigen.21 Der vorliegende Beitrag zielt jedoch nicht darauf, diese rein quantitative Zunahme nachzuweisen. Ein rein quantitatives Erstarken bedeutet nicht zwangsläufig, dass die geäußerte Kritik auch tatsächlich zur Quelle für weiterreichende Transformationen taugt, wie sie Boltanski und Chiapello skizzieren. Stattdessen wird untersucht, ob sich die quantitative Zunahme auch in einer neuen Qualität der Kritik niederschlägt, die den »neuen Geist« des Kapitalismus tatsächlich herauszufordern vermag. Kapitalismuskritik wird daher als umfassender Diskurs verstanden, dessen Argumente und Inhalte es qualitativ zu analysieren gilt. Der Beitrag schließt damit an Forschung zur diskursanalytischen Aufarbeitung der Krise an, wie sie zum Beispiel Bob Jessop22, Frank Nullmeier23, Ronny Scholz24 sowie zahlreiche Autoren des Sammelbandes »Ökonomie, Diskurs, Regierung«25 vorgelegt haben. Das methodische Vorgehen orientiert sich dabei an den Arbeiten Foucaults, bezieht sich aber insbesondere auf die wissenssoziologische Diskursanalyse nach Reiner Keller26 sowie auf die diskursanalytische Deutung der EC nach Rainer Diaz-Bone.27 21 Eine detaillierte Diskussion der methodologischen Grundannahmen und der methodi-

schen Umsetzung unter besonderer Berücksichtigung der Zeitlichkeit findet sich in: Julian Hamann / Lisa Suckert, Temporality in Discourse. Methodological Challenges and a Suggestion for a Quantified Qualitative Approach, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 19 (2018), 2, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/ view/2954/4216 [15.08.2018]. 22 Bob Jessop, Recovered Imaginaries, Imagined Recoveries. A Cultural Political Economy of Crisis Construals and Crisis-Management in the North Atlantic Financial Crisis, in: Mats Benner (Hg.) Before and beyond the Global Economic Crisis. Economics, Politics and Settlement, Cheltenham UK 2013, S. 234–254. 23 Frank Nullmeier, Marktwirtschaft in der Legitimationskrise?, Frankfurt a. M. u. a. 2014. 24 Ronny Scholz, Towards a post-material prosperity? An Analysis of Legitimising Narratives in German Crisis Discourses from 1973 and 2008, in: French Journal for Media Research 5 (2016), http://frenchjournalformediaresearch.com/index.php?id=614 [15.08.2018]. 25 Jens Maeße (Hg.), Ökonomie, Diskurs, Regierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2013. 26 Reiner Keller / Inga Truschkat, Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, Wiesbaden 2012; Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung Eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2011; Reiner Keller u. a., Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Köln 2005. 27 Rainer Diaz-Bone, Qualitätskonvention als Diskursordnungen in Märkten, in: ders. / Gertraude Krell (Hg.), Diskurs und Ökonomie, Diskursanalytische Perspektiven auf Märkte und Organisationen, Wiesbaden 2009, S. 267–292; Rainer Diaz-Bone, Sozio-Episteme und SozioKognition. Epistemologische Zugänge zum Verhältnis von Diskurs und Wissen, in: Willy Viehöfer u. a. (Hg.), Diskurs-Sprache-Wissen, Wiesbaden 2013, S. 79–96.

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Der zu analysierende Diskurs findet in einer Vielzahl von Arenen statt – von der Hauswand über den Stammtisch bis zum Feuilleton –, er integriert verschiedenste Akteure – vom politischen Aktivisten über den Fleischereifachangestellten bis zur Wirtschaftsprofessorin – und kann mannigfache Formen – vom Protestbanner über den Redebeitrag im Parlament bis zum Fachbuch – annehmen. Wo lässt sich Kapitalismuskritik also angemessen greifbar machen? Da es wenig praktikabel erscheint, Kapitalismuskritik in all ihren mannigfachen Erscheinungsformen zu erfassen, wird Kapitalismuskritik im Folgenden entlang zwei ihrer wichtigsten institutionellen Träger erfasst: dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der globalisierungskritischen Nicht-Regierungs-Organisation Attac. Der Perspektive Karl Marx’ verhaftet, lassen sich Gewerkschaften als ein wesentlicher Grundpfeiler der öffentlich vorgebrachten Kapitalismuskritik verstehen.28 Der DGB wurde 1949 gegründet und vertritt seitdem als Dachorganisation und politisches Sprachrohr der einzelnen Branchen-Gewerkschaften die Interessen der Arbeiterbewegung. Seine Blütezeit erlebte der DGB nach der Wiedervereinigung, als seine Mitgliederzahl auf knapp 12 Millionen anstieg. Seitdem ist die Zahl der Mitglieder zwar kontinuierlich gesunken, mit Einsetzen der Wirtschaftskrise wurde seit 2007 der Mitgliederschwund jedoch etwas gebremst. Seither stagniert die Mitgliederzahl an der Sechs-Millionen-Grenze.29 Neben den Gewerkschaften lassen sich ›neue‹ Träger der Kapitalismuskritik identifizieren. Zahlreiche globalisierungs- und marktkritische Bürgerinitiativen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) bilden die Vertreter einer neuen antikapitalistischen Bewegung. Attac, dessen Name sich vom Französischen »association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens« ableitet und dessen Kernforderung die sogenannte Tobin-Steuer darstellt, fungiert weltweit als übergeordnetes Netzwerk dieser Bewegung.30 Attac Deutschland, das im Jahr 2000 gegründet wurde, umfasst eine Vielzahl weiterer globalisierungskritischer Vereinigungen, hat jedoch als eigenständige Organisation auch selbst Mitglieder. Der stetige Zuwachs an Mitgliedern hat sich seit 2007, im Zuge der Wirtschaftskrise, weiter intensiviert.31

28 Zum Wandel der deutschen Gewerkschaften und ihrer Positionen vgl. Robert Lorenz, Ge-

werkschaftsdämmerung, Bielefeld 2013. 29 Deutscher Gewerkschaftsbund, Mitgliederzahlen: www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitglie derzahlen [29.05.2018]. 30 Die von James Tobin 1978 erdachte Besteuerung aller Devisentransaktionen zielt auf die Entschleunigung des Kapitalmarkts sowie die Stabilisierung der Wechselkurse und soll den Handlungsspielraum von Zentralbanken ausweiten. Vgl. Rainer Bartel, Die Tobin-Steuer. Ein Ansatz zur Beruhigung des internationalen Finanzmarktes und Stärkung der Weltwirtschaft. in: WISO 25 (2002), 1, S. 143–74. 31 Trägerverein e. V. attac, Mitglieder Attac Deutschland: http://www.attac.de/was-ist-attac/mit glieder/ [03.06.2014]).

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Die dargestellte Diskursanalyse versucht das Feld der öffentlichen Kapitalismuskritik abzubilden, indem zwei wesentliche Pole einbezogen werden: Attac als Repräsentant der ›neuen‹ Bewegung und der DGB, der stellvertretend für die klassische, gewerkschaftliche Position steht. Als Trägermedium wurden Pressemitteilungen beider Organisationen herangezogen, als Analysezeitpunkte wurden die Jahre 2004 und 2008 gewählt, um einen Vergleich des Diskurses vor und nach Einsetzen der Krise zu ermöglichen. Für beide Jahre wurden zunächst sämtliche Pressemitteilungen beider Organisationen gesammelt (n2004= 362; n2008= 413) und einer Ersteindrucksanalyse unterzogen.32 Dabei wurde einerseits sukzessive herausgearbeitet, was für die weitere Untersuchung im Einzelnen unter »Kapitalismus« und »Kapitalismuskritik« zu verstehen war und andererseits relevante Beiträge gewählt, die offensichtlich kapitalismuskritische Abschnitte enthielten. Insgesamt wurden so 68 Mitteilungen für das Jahr 2004 (Attac 36; DGB 32) und 107 Mitteilungen für das Jahr 2008 (Attac 64; DGB 43) ausgewählt. Die Kategorien für die weitere Feinanalyse wurden aus dem Material induktiv entwickelt. Die EC und der eingangs vorgestellte theoretische Rahmen dienten hierbei als grundlegende Heuristik. Die Umsetzung von Codierung und Auswertung erfolgte mit Hilfe der QDA-Software Atlas.ti. Ergänzend zur qualitativen Analyse wurden die erarbeiteten Codes auch einer quantitativen Auswertung unterzogen. Diese quantitativen Elemente wurden als Instrument genutzt, um im Zuge der qualitativen Interpretation einen epistemologischen Bruch zu befördern und eigene Vorannahmen zu reflektieren.

III. Die kapitalismuskritische Dramaturgie: Das Gute, das Böse und die Helden Die Diskursanalyse der Pressemitteilungen offenbarte eine Reihe von Unterschieden zwischen DGB und Attac. Beispielsweise scheint die gewerkschaftliche Argumentation viel stärker an dem, was Boltanski und Chiapello als Korrektivkritik bezeichnen, verhaftet. Im Folgenden sollen jedoch nicht die Differenzen zwischen alter und neuer kapitalismuskritischer Bewegung thematisiert werden. Stattdessen werden übergeordnete Tendenzen in den Blick genommen, die sich für beide Typen von Kritikern gleichermaßen abzeichnen. So wird in den untersuchten Diskursbeiträgen immer wieder dieselbe, scheinbar zeitlose Erzählung herangezogen, die einem klassischen Drama entnommen scheint: Das ›Reine‹ und ›Gute‹, das von den ›Helden‹ gegen das ›Böse‹ verteidigt werden muss. Dem Kapitalismus und seinen Repräsentanten kommt in der Darstellung der Kritiker selbstredend die Rolle des Schurken zu, das Gute wird 32 Sämtliche Pressemitteilungen des DGB sind online ab 1996 zugänglich, jene von Attac vom Jahr 2000 an. Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund, DGB-Bundesvorstand, Presse, http://www. dgb.de/presse [29.05.2014]; attac, Presse, Attac Deutschland, www.attac.de, http://www.attac.de/ presse/ [29.05.2014].

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durch jene Werte und Akteure verkörpert, die der Kapitalismus gefährdet oder zu Opfern macht; als Helden fungieren jene Lösungsvorschläge und Schutzmechanismen, denen die Kapitalismuskritiker zutrauen, die kapitalistische Zerstörungswut, wenn nicht abzuwehren, so doch wenigstens zu bremsen. Wenngleich sich diese Dramaturgie und das zugrundeliegende Narrativ in allen untersuchten Beiträgen wiederfindet, wird doch deutlich, dass sich die einzelnen Protagonisten und damit die Annahmen, die der Kapitalismuskritik zugrunde liegen, im Zuge der Krise verändert haben. Abbildung 1 und Abbildung 2 stellen die Grundkategorien der kapitalismuskritischen Erzählung für 2004 sowie für 2008 gegenüber. Die zentralen, charakteristischen Komponenten (schwarz dargestellt) werden dabei durch adressierte Repräsentanten (grau dargestellt) ergänzt. Die Textgröße gibt die relative Häufigkeit des jeweiligen Codes für das jeweilige Jahr wieder.33 Einen ersten Eindruck der tiefgreifenden Transformation bietet der Blick auf das Ziel der vorgebrachten Kritik, den Kapitalismus. Dabei wird deutlich, dass das Phänomen ›Kapitalismus‹ von seinen Kritikern als ein vielschichtiges Konstrukt wahrgenommen wird, das weit über den definitorischen Wortsinn der Kapitalakkumulation hinausgeht. Vor Ausbruch der Krise wird der Kapitalismus im Wesentlichen als partikularistisches System adressiert. Dies kommt in der Rede von Privatisierung, Privatinteressen, Herrschaft und Lobbying zum Ausdruck. Auch Liberalisierung und Neoliberalismus sowie die globale Ausdehnung werden als Quellen des Übels benannt. Interessant scheint, dass zu diesem Zeitpunkt noch Wirtschaft per se, Kommerz und Ökonomisierung als Elemente des ungeliebten Kapitalismus wahrgenommen werden. Auf Ebene der Repräsentanten werden entsprechend vor allem (große) Konzerne und Unternehmen, die nicht zuletzt die Rolle des Arbeitgebers ausfüllen, identifiziert. Zudem gelten auch »der Norden«, symbolisiert durch die USA und die Industrieländer sowie politische Institutionen wie WTO, Weltbank oder IMF als ›Handlanger des Bösen‹.

33 Für Details zur Genese dieser Wortwolken vgl. Hamann/Suckert, Temporality in Discourse.

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Abbildung 1: Die grundlegende Dramaturgie der Kapitalismuskritik 2004.

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Abbildung 2: Die grundlegende Dramaturgie der Kapitalismuskritik 2008.

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Mit Einsetzen der Krise verändert sich dieses Bild vom Kapitalismus jedoch grundlegend. Das kapitalistische Wirtschaftssystem wird nun in erster Linie als Finanzsystem adressiert. Einhergehend mit dem ökonomischen Fokus der Krise stehen die Finanzmärkte als Symbol im Zentrum dieser Kritik, Finanzprodukte wie Hedgefonds, Privat-Equity, Derivate und Devisenwechsel werden attackiert. Der Dominanz des Finanzwesens wird dabei immer wieder die Schuld am offensichtlich zu Tage tretenden Scheitern des Kapitalismus gegeben. Interessant ist dieser Fokus auf die Finanzmärkte als Quelle des Übels einerseits, da die Finanzmärkte, die materiell nahezu ungebunden aber doch global vernetzt sind, die in atemberaubender Geschwindigkeit agieren und in ihrer Anonymität nur schwer fassbar sind, den ›neuen‹ Kapitalismus, wie Boltanski und Chiapello ihn beschreiben, geradezu idealtypisch verkörpern.34 Die Kritik richtet sich somit an dieser Stelle sehr zielgerichtet auf die neue Dimension des Kapitalismus aus. Andererseits kommt durch den Fokus auf Finanzmärkte auch die übergeordnete Kritik am Prinzip des Marktes zum Ausdruck, die im Zuge der Krise massiv zunimmt. Märkte im Allgemeinen und Finanzmärkte im Speziellen stehen nun stellvertretend für das Phänomen Kapitalismus. Dabei werden Märkte weniger mit einem ›fairen‹ Wettbewerb, sondern vor allem mit Spekulation in Verbindung gebracht. Neben der Marktförmigkeit bleibt einzig die Kapitalakkumulation als zweite starke Komponente des Kapitalismusbegriffs erhalten, wobei auch hier den reinen Profiten und Gewinnen mit der Rendite eine Größe zur Seite gestellt, die vor allem auf den Finanzmärkten von Bedeutung ist. Andere Aspekte, wie beispielsweise die Funktion des Kapitalismus als ökonomisches System oder Arbeitswelt geraten hingegen mit Einsetzen der Krise in den Hintergrund. Diese veränderte, verengte Vorstellung des Kapitalismus schlägt sich letztlich auch auf Ebene der kapitalistischen Akteure, das heißt der Repräsentanten des Kapitalismus, nieder. Hier lösen die Banken – und mit ihnen die Investoren, Aktionäre, Banker, Fonds- & Privat-Equity-Manger – die Konzerne als vormalige Hauptrepräsentanten ab. Bemerkenswert scheint, dass Unternehmen mit Einsetzen der Wirtschaftskrise kaum noch, Unternehmer gar nicht mehr in der Rolle des ›Schurken‹ dargestellt werden. Stattdessen geraten 2008 Manager und Vorstände in den Fokus. Auch hier richtet sich die Kritik also zunehmend an jene Akteure, die begleitet von ausufernder Vergütung und hohen Boni, von Unternehmen zu Unternehmen weiterziehen und nicht mehr durch Verantwortung, Tradition oder Kapitalbesitz gebunden sind. Der Kritik im Zuge der Krise liegt somit eine veränderte Vorstellung vom ›Kapitalisten‹ zugrunde, die im Kern gerade jener Transformation entspricht, die Boltanski und Chiapello als ›dritten Geist‹ des Kapitalismus beschreiben: Der Kapitalismus erscheint als global entfesselt, flexibel und somit kaum greifbar. Dem Kapitalismus werden in der Erzählung der Kritiker eine Reihe von Gütern und Akteuren gegenübergestellt, die als schützenswert und ›gut‹, aber durch 34 Boltanski/Chiapello, Der neue Geist, S. 404 f.

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den Kapitalismus bedroht erachtet werden. Über die Zeit hinweg wird dabei die Opferseite als die Allgemeinheit (die vielen, die Mehrheit, die Menschen, die Bevölkerung) dargestellt, während die Täterseite als die Eliten, die privilegierte Minderheit oder die Wenigen beschrieben wird. Vor Beginn der Krise, 2004, betont die Kritik, dass der Kapitalismus vor allem eine Gefahr für die Sozialsysteme sowie für die Arbeitswelt darstellt. Indem die Bedeutung von umfangreichen Sozialleistungen, von Löhnen, Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen herausgestellt wird, werden die traditionellen Forderungen der Arbeiterbewegung adressiert. Bildung und Gesundheit gelten dabei als Voraussetzung für den Zugang zur Arbeitswelt. Darüber hinaus werden einige stärker abstrakte Güter, wie Gerechtigkeit, Würde, Freiheit, Familie, Sicherheit oder Menschenrechte als potenziell durch den Kapitalismus bedroht dargestellt. Diese klassische Auffassung setzt sich auf Akteursebene fort: 2004 werden vor allem Arbeitnehmer und Arbeitslose aber auch der globale Süden und die Entwicklungsländer, sowie Arme, Kinder, Frauen, Kranke und Schwache als ›die Guten‹ inszeniert. Im Zuge der Krise und angesichts der offen zutage tretenden kapitalistischen Verwerfungen, ändert sich nun das Bild, das die Kapitalismuskritik von dem, was es zu schützen gilt, entwirft. So taucht die Umwelt als zentraler Wert auf, der sich auch in der Sorge um Nachhaltigkeit, Ernährung, Landwirtschaft, Region und Heimat niederschlägt. Es scheint, als würde der populäre Umweltdiskurs von den Kapitalismuskritikern dankbar aufgegriffen, um den eigenen Anliegen eine neue Stoßrichtung zu geben. Erstaunlicher erscheint jedoch, dass sich auch Realwirtschaft und Volkswirtschaft auf dieser Seite des Erzählstrangs einfinden. Im selben Maße, wie Wirtschaft und Ökonomisierung durch die Krise aus der Wahrnehmung des ›bösen‹ Kapitalismus verdrängt werden, tauchen sie 2008 auf der Seite des Schützenswerten wieder auf. Die Finanzmärkte, als Symbol des neuen Kapitalismus, bedrohen nicht nur Arbeit, Solidarität und Umwelt, sondern auch die ökonomischen Grundlagen selbst. Der ›alte‹ Kapitalismus, geprägt durch Produktion, Kommerz und Materialismus, schlüpft so von der Täter- in die Opferrolle. Einhergehend wandelt sich auch die Wahrnehmung einzelner Akteure. Einige Gruppen, wie Arbeitslose, Arme, Kinder, Frauen, Schwache und Kranke werden kaum noch thematisiert. Dafür wird nun die schädliche Wirkung für Arbeitnehmer, Steuerzahler, die Mittelschicht, Unternehmen, Verbraucher und vereinzelt sogar Banken betont. Die Sorge gilt nun vor allem den vormaligen ›Leistungsträgern‹, das heißt all jenen, die durchaus leisten, aber nun durch die Krise und den ausufernden Finanzmarktkapitalismus um die vermeintlichen Früchte ihrer Arbeit gebracht werden. Dadurch werden jedoch all jene, die eben nicht in derselben Weise ›Leistung‹ erbringen können, sowie der solidarische Grundgedanke und der Wohlfahrtsstaat, die vor der Krise eine wichtige Rolle spielten, ein Stück weit aus dem Fokus der Kapitalismuskritik verdrängt. Die bis hierhin skizzierte Transformation zeigt sich auch in einer veränderten Vorstellung der möglichen Lösungen und Schutzmechanismen. In den kapitalis-

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muskritischen Beiträgen des Jahres 2004 finden sich noch weitreichende Bezüge auf Solidarität und Sozialleistungen. Die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates, so die Überzeugung, müssen gestärkt werden, um die Probleme und Gefahren des kapitalistischen Wirtschaftssystems auszugleichen. Proteste, Reformen, Politik und Mitbestimmung werden hierzu als adäquate Formen benannt, die einen solchen Prozess anstoßen können, der sich dann in entsprechenden Regulierungen, Kontrollen und Rechten niederschlägt. Darüber hinaus stellen die Kapitalismuskritiker 2004 auch auf Bildung, Investition, Wachstum und Wettbewerb ab, um den Erhalt von Arbeit, Sozialleistungen und Staatswesen zu gewährleisten. In der Phase vor der Wirtschaftskrise bringt die Kapitalismuskritik damit sehr klar jenen Kompromiss zum Ausdruck, den Boltanski und Chiapello als den »zweiten Geist des Kapitalismus« beschreiben: Wachstum und Wettbewerb sollen Wohlstand für alle generieren, die staatlichen Sozialleistungen etwaige Verwerfungen umfangreich abfedern. Die Erwartungen, die mit diesem konsensorientierten Szenario verknüpft waren, wurden jedoch spätestens im Zuge der Wirtschaftskrise grundlegend enttäuscht. 2008 sind Solidarität und Wohlfahrtsstaat als erstrebenswerte Schutzmechanismen weitgehend aus der Kritik verschwunden, ebenso wie der Glaube an allgemeinwohlförderndes Wachstum. Sie werden abgelöst von einem zwar mit Vehemenz vorgetragenen, aber abstrakten Ruf nach Regulierung und einem Systemwechsel. Wo doch einmal konkrete Maßnahmen benannt werden, findet sich ein heterogenes Bündel, das zum Beispiel Mindestlöhne, Enteignungen, Verbote, ein starres Währungssystem oder umfangreiche Haftungsmechanismen für Manager umfasst. Ein klares Bild, wie den ausufernden Finanzmärkten entgegenzutreten wäre, findet sich in den untersuchten kapitalismuskritischen Beiträgen nicht. Der ›zweite Geist des Kapitalismus‹ ist zerfallen, aber ein neuer, der geeignet wäre, den Kapitalismus zu binden, erscheint 2008 noch in weiter Ferne. Interessant ist hierbei, dass diese grundlegende Entwicklung sich sowohl für den DGB, der tendenziell der Korrektivkritik verbunden scheint, als auch für die Diskursbeiträge von Attac, die stärker durch eine systemkritische Haltung geprägt sind, erkennen lässt. Insgesamt zeigt sich, dass die Kapitalismuskritik zwar einer grundlegenden, zeitlosen Dramaturgie folgt, die das Böse dem Guten und den Helden gegenüberstellt. Die Vorstellungen, die den einzelnen Rollen zugrunde liegen haben sich jedoch im Vergleich von 2004 und 2008 stark gewandelt. Im Zentrum der Kritik steht 2008 ein verengter Kapitalismusbegriff, der vornehmlich auf das Finanzsystem und den Marktmechanismus zugespitzt ist. Der ›alte‹, korporative und national verankerte Kapitalismus wird hingegen zum Opfer dieser entfesselten ›Bestie‹ stilisiert. Es wird hier nicht zuletzt eine nostalgische Sehnsucht nach dem Vergangenen, das so schlecht doch gar nicht war, bedient. Durch diese Verschiebung der Opferrolle werden jedoch gefährdete Güter und Akteursgruppen, für die sich die Kapitalismuskritik vormals einsetzte, aus dem Fokus verdrängt.

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IV. Der Markt, das unbekannte Wesen Die Analyse der grundlegenden kapitalismuskritischen Narrative hat bereits illustriert, dass der Bezug auf Märkte als Teilkomponente des Kapitalismus im Zuge der Krise deutlich zugenommen hat. ›Der Markt‹ erscheint zunehmend als Synonym für den Kapitalismus. Dabei stützt der Kapitalismus seinen Überlegenheitsanspruch gerade auf den ›Segen der Konkurrenz‹, beziehungsweise jene Logik, die die Economie des Conventions als marktliche Polis bezeichnet. Gleich einer unsichtbaren Hand soll der Markt demzufolge bewirken, dass sich stets nur das Lohnende, die effektivsten Investitionen und die vielversprechendsten Innovationen durchsetzen. Der produktive Wettbewerb, so die Annahme, treibt die Menschen unermüdlich an, ›das Beste‹ aus sich herauszuholen. Mit ihrer verstärkten Kritik am Marktmechanismus zielt die Kapitalismuskritik nach 2008 damit auf ein kapitalistisches Kernelement. Doch wer oder was ist ›der Markt‹ in den Augen der Kritiker? Wie wird das Phänomen im Rahmen der Kritik adressiert und wofür wird es kritisiert? Vor der Krise werden die analysierten kapitalismuskritischen Beiträge von einer im weitesten Sinne räumlichen Vorstellung des Marktes dominiert. Der Markt wird vorrangig als ein Ort betrachtet, an, auf oder in dem sich kapitalistische Handlungen vollziehen: »Bei der Anlage der Gelder an den Finanzmärkten entstehen Gewinne für die Finanzkonzerne und durch mögliche Pleiten und Kursstürze Risiken für die Menschen« (P30)35

Der Markt als solches bleibt dabei aber stets passiv. Daneben findet sich in den Diskursbeiträgen des Jahres 2004 eine zweite Deutung des Begriffs, die den Markt eher als einen Mechanismus oder ein Instrument erscheinen lässt: »Es ist skandalös, innerhalb weniger Wochen die Weichen für einen euro-amerikanischen Markt stellen zu wollen, dessen Folgen überhaupt nicht abschätzbar sind.« (P11)

Der Markt entfaltet in solchen Ausführungen bereits eine gewisse Wirkung für seine Umgebung, er handelt jedoch nicht selbst, sondern bleibt ein Objekt, das von kapitalistischen Akteuren genutzt wird. Mit Einsetzen der Krise ändert sich diese Vorstellung merklich. Der Markt als passiver Ort, als Umfeld, an dem Kapitalismus stattfindet, verschwindet weitestgehend aus der Darstellung. Anstelle dessen wird der Markt nun als handelnder Akteur wahrgenommen. ›Der Markt‹ wird zum eigenständig denkenden und agierenden Subjekt, das immer wieder auch personifiziert wird, wie folgendes Beispiel zeigt: 35 Das Kürzel erlaubt es, die Pressemitteilung, aus der das jeweilige Zitat stammt, zu identi-

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»Insgesamt müssen die aufgeblähten Finanzmärkte zur Ader gelassen werden, um ihre Dominanz über die Realökonomie zu brechen« (P74)

Der Markt wird hier selbst zu einem lebenden Wesen, einem Akteur, der Intentionen hat und Macht über andere ausübt. Dieser Status als Subjekt erlaubt es zwar, den Marktmechanismus direkt und affektiv zu adressieren. Die Menschen, die sich den Markt als Instrument zunutze machen, werden damit aber ein Stückweit aus der Verantwortung entlassen. ›Der Markt‹ taugt zwar als emotional aufgeladenes Feindbild, lässt sich jedoch nur schwerlich zur Rechenschaft ziehen. Weshalb wird der Markt aber als problematisches Subjekt erachtet? Wofür wird er in den untersuchten Beiträgen kritisiert? Das soeben aufgeführte Beispiel vereint zwei Typen von personifizierter Kritik, die in den analysierten Beiträgen des Jahres 2008 zumeist getrennt voneinander in Erscheinung treten. Die erste beschreibt den Markt als ›dominanten Ausbeuter‹, wie auch nachfolgendes Beispiel belegt: »[…] dass die Finanzmärkte die Realökonomie unter Druck setzen und den Standortwettbewerb nach unten um die niedrigsten Löhne, Sozialabgaben und Unternehmenssteuern anheizen können.« (P97)

Diese Kritik erscheint wenig überraschend, nimmt sie doch das alte Motiv jenes Kritikstranges auf, den Boltanski und Chiapello als Sozialkritik beschreiben und der sich klassisch auf Marx und Polanyi zurückführen lässt. Der Markt wird hier, stellvertretend für den Kapitalismus, als Akteur beschrieben, der seine Dominanz nutzt, um andere auszubeuten und zu unterdrücken. Die Kritik entzündet sich somit an der zu großen Machtfülle der Märkte. Der zweite Typ personifizierter Kritik, auf die die Assoziation des »zu Ader lassen« bereits verweist, ist demgegenüber weitaus überraschender und findet sich in den Beiträgen auch erst mit Einsetzen der Wirtschaftskrise. Hier wird der Kapitalismus nicht für seine Stärke kritisiert, sondern als ›schwächlicher Versager‹ beschrieben. Dies illustrieren die folgenden beiden Beispiele: »Der freie Markt hat versagt.« (P46) »Die Hoffnung neoliberaler Ökonomen und Politiker, dass der reine Markt und der uneingeschränkte Wettbewerb es besser richten können, ist als Irrglaube entlarvt worden.« (P187)

Der Markt wird hier nicht als übermächtig, sondern als inkompetent, schwach oder gar hilfebedürftig dargestellt. Bei genauerer Betrachtung bedient sich die Kritik zu ihrer eigenen Legitimation jedoch eines zutiefst marktlichen Arguments: Der Markt erscheint den Kapitalismuskritikern nach 2008 problematisch, weil er keine ›Leistung bringt‹, weil er versagt und zunehmend unprofitabel wird. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Gewinner die Welt voranbringen,

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während die Verlierer wertlos bleiben und verdrängt werden müssen. Im Zuge der Krise zeigt sich entlang des Diskurses, dass der Kapitalismus verstärkt dafür angegriffen wird, nicht wettbewerbsfähig genug zu sein und nicht dem Idealbild eines guten Marktes zu entsprechen. Die Kritik wird somit zu einer Marktkritik auf Basis der Marktlogik. Einhergehend mit dem verstärkten Bezug auf Märkte als Subjekt fällt im Diskurs nach Einsetzen der Krise auf, dass verstärkt Metaphern für die Umschreibung des Marktmechanismus genutzt werden. Während 2004 noch nicht einmal jede dritte Pressemitteilung metaphorisch auf den Markt Bezug nahm, ist dies 2008 in mehr als der Hälfte aller Diskursbeiträge der Fall. Die wenigen verwendeten Metaphern sind 2004 dem Bereich der Mechanik und der Gewalt entlehnt. Vor der Krise werden marktliche Prozesse als »Globalisierungsmaschinerie«, als »Folterwerkzeug« und »Verteilungskampf« veranschaulicht. Der Markt tritt dabei als unmenschlicher, zerstörerischer Mechanismus auf, der jedoch stets von Menschen eingesetzt wird. Anders die Kapitalismuskritik im Jahr 2008: Der Markt wird nun mit einer Vielzahl unterschiedlicher Metaphern in Verbindung gebracht, die ihn zum Teil stärker als Subjekt inszenieren und dabei insbesondere auf die beiden oben skizzierten Rollen des ›dominanten Ausbeuters‹ und des ›schwächlichen Versagers‹ Bezug nehmen. Auf die zerstörerische Wirkung von Märkten stellen Metaphern ab, die den Kapitalismus als Naturkraft oder als »entfesseltes« Tier darstellen. Der Markt, der einem »Sog«, einer »Kernschmelze«, »Flammen« oder einer »Flut« gleicht, bedarf eines »leistungsfähigen Frühwarnsystems« oder gar eines sofortigen »Feuerwehreinsatzes«. Einmal mehr wird hier der Eindruck vermittelt, dass der Markt nicht vom Menschen gemacht wird, sondern im Gegenteil gleich einer Katastrophe über die Menschheit hereinbricht. In ähnlicher Weise wird der Markt als tödliche Krankheit oder schädliche Substanz dargestellt, der die Menschheit schwerlich entrinnen kann (zum Beispiel »tödliche Diät«, »wuchernd«, »die Droge absetzen«, »die falsche Medizin«). Die Domäne der Medizin wird jedoch auch genutzt, um die mangelnde Robustheit von Märkten zu beschreiben, und den Markt dadurch als schwach und kränklich darzustellen (zum Beispiel »schwere Hirnhautentzündung«, »mehr als Beruhigungspillen«, »zur Ader lassen«). Um die Schwäche der Märkte zu illustrieren, wird in den für das Jahr 2008 analysierten Kritikbeiträgen zudem eine Bildsprache herangezogen, die Anleihen in der Architektur nimmt. Der Markt wird als labiles, brüchiges Konstrukt beschrieben. Das »Kartenhaus«, die »Schuldenpyramide« und die »Blase« sind markante Beispiele hierfür. Die metaphorischen Figuren des zügellosen Spiels sowie des Aberglaubens werden hingegen genutzt, um Märkte als wenig seriös und irrational zu diskreditieren. So wird der Markt einerseits einem »Karussell« oder »Casino« gleichgesetzt. Märkte »jonglieren« und »zocken«, handeln also nicht überlegt. Andererseits wird die Sphäre der Religion bemüht (»auf dem Altar des Wettbewerbs geopfert«, »wie religiöse Fanatiker«, »Heilslehre«, »der Glaube an

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den Markt«), um deutlich zu machen, dass marktliche Prozesse nicht auf einem rationalen, stichhaltigen Fundament basieren, sondern zu allererst ideologisch geprägt sind. Im Zuge der Wirtschaftskrise hat die Kapitalismuskritik ihren Fokus somit nicht nur auf Märkte, als ein Kernelement des Kapitalismus verschoben. Vielmehr wird in den analysierten Beiträgen von 2004 und 2008 eine Umdeutung sichtbar, die das (imaginierte) Wesen des Marktes betrifft: Märkte wurden erstens stärker als eigenständige Subjekte verstanden, hinter denen ›der Kapitalist‹ als menschlicher Akteur verschwindet. Zweitens wurden Märkte jedoch nicht nur als starke ›Ausbeuter‹ wahrgenommen, sondern gerade für ihre Unfähigkeit zu ›leisten‹ kritisiert. Die gegenwärtige Ausprägung des Kapitalismus wird somit einerseits auf den Marktmechanismus reduziert, andererseits aber gerade dafür kritisiert, dass sie nicht dem marktlichen Ideal des ›Gewinners‹ entspricht. Das abschließende Fazit greift die Problematik dieser paradoxen Haltung für die Kapitalismuskritik im Zuge der Wirtschaftskrise auf.

V. Fazit Die dargestellte diskursanalytische Untersuchung hat deutlich gemacht, dass sich die öffentlich vorgebrachte Kapitalismuskritik im Zuge der Wirtschaftskrise nicht nur nach ihrem Umfang, sondern vor allem hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung gewandelt hat. Es konnte gezeigt werden, in welcher Weise die offen zutage tretende Krise des Wirtschaftssystems sich in der Argumentationslogik der Kapitalismuskritiker niederschlägt. Dabei wurde zunächst deutlich, dass sich die vorgebrachte Kritik in vielerlei Hinsicht tatsächlich vom ›zweiten Geist des Kapitalismus‹, wie ihn Boltanski und Chiapello beschreiben, löst. Das Vertrauen in Wachstum für alle und den ausgleichenden Wohlfahrtsstaat zeigt sich erschüttert, wohletablierte Kompromisse wurden aufgekündigt. Die Kritik entzündet sich zudem vor allem am Marktmechanismus im Allgemeinen und den Finanzmärkten im Speziellen, das heißt jenem Teilbereich des Wirtschaftssystems, der in vielerlei Hinsicht idealtypisch für den ›neuen‹ Kapitalismus steht. Dieser Wandel ist jedoch, wie gezeigt werden konnte, mit paradoxen Entwicklungen verbunden, die als problematisch begriffen werden müssen und das Potential der Kapitalismuskritik, einen tatsächlichen Transformationsprozess auszulösen, einschränken: Erstens bedient die Kritik mit ihrer oftmals metaphorisch untermauerten Deutung des Marktbegriffes unwillentlich ein neoliberales Narrativ. Der Markt wird zunehmend als eigenständiges Subjekt betrachtet, als Naturgewalt, die unausweichlichen Naturgesetzen folgt. Damit werden Märkte zwar erfolgreich zum personifizierten Adressaten gemeinsamer Empörung stilisiert, diese Empörung verstellt jedoch den Blick darauf, dass Marktphänomene keineswegs ›gottgegeben‹ sind, sondern von menschlichen Akteuren mit spezifischen Interessen ›ge-

DIE WIRTSCHAFTSKRISE ALS CHANCE DER KAPITALISMUSKRITIK?

macht‹ werden. Indem der Markt als eigenständige Naturgewalt behandelt wird, wird die Verantwortung für die sozialen Folgen immer schwerer zuschreibbar. Neoliberale ›Rettungspakete‹ können indes leichter als ›alternativlos‹ verkauft werden. Zweitens zeigt sich entlang der Analyse eine Verschiebung hinsichtlich der Werte und Akteure, für die die Kapitalismuskritik Partei ergreift, da sie als schützenswert gelten. Realökonomie, Unternehmen, Beitragszahler und Mittelstand, allesamt Werteträger des ›alten‹ Kapitalismus, werden zunehmend als ›neue‹ Opfer begriffen, die unter dem Diktat der entfesselten Finanzmärkte leiden. Diese Ausweitung erlaubt es zwar womöglich, eine breitere Koalition für die Argumente der Kapitalismuskritiker zu gewinnen, da sich große Teile der Bevölkerung als Leidtragende angesprochen fühlen. Andere, schutzbedürftigere Gruppen werden von der Kritik jedoch zunehmend ausgeblendet. Drittens hat sich gezeigt, dass der Kapitalismus nach Einsetzen der Wirtschaftskrise nicht nur – entsprechend dem von Boltanski und Chiapello beschriebenen Motiv der Sozialkritik – als ausbeutendes Subjekt beschrieben wird, sondern zunehmend als inkompetent, schwach und unprofitabel dargestellt wird. Diese Form der Kritik, die sich zu ihrer Legitimation der marktlichen Polis bedient, bestätigt damit jedoch eine Logik, die dem Kapitalismus selbst zugrunde liegt. Nur der Starke, nur der Leistungsfähige hat ein Recht auf Überleben im Wettbewerb. Diese ›Kritik der Schwäche‹ ist also nach Boltanski und Chiapello allenfalls als Korrektivkritik zu verstehen. Sie scheint zwar in gewisser Weise erfolgsversprechend, da der Kapitalismus nicht einfach über einen Angriff ›aus den eigenen Reihen‹ hinweg gehen kann. Kritik, die sich auf die grundlegenden Prinzipien des Kapitalismus bezieht, ist auch für die Kapitalisten selbst greifbar und erfährt einhergehend starke Resonanz. Jedoch droht der Korrektivkritik stetig die Gefahr, für die feindlichen Zwecke vereinnahmt zu werden. Eine umfassende Neuordnung des Wirtschaftssystems und dessen legitimatorischer Grundlagen ist von derartiger Kritik nicht zu erwarten. Allenfalls folgen aus ihr Wirtschaftsprogramme, die darauf zielen, den Kapitalismus wieder ›wettbewerbsfähig‹ zu machen. Eine neue Polis, die, wie von Boltanski und Chiapello erhofft, eine alternative, inklusive Gerechtigkeitsordnung begründen könnte, ist im Rahmen der analysierten Kapitalismuskritik nicht ersichtlich. Insgesamt vermittelt die Analyse die Einsicht, dass die Kapitalismuskritik im Zuge der Wirtschaftskrise zwar an Vehemenz gewonnen hat, jedoch zunehmend durch den ›alten‹ Kapitalismus, seine Wertmaßstäbe und Repräsentanten vereinnahmt wurde. Durch diese breite Allianz und die vermehrte Äußerung marktkonformer Korrektivkritik kann es den Kritikern zwar durchaus gelingen, größere Resonanz für ihre Belange im öffentlichen Diskurs zu erzeugen. Als tatsächlicher Impulsgeber für eine weitreichende Transformation des ökonomischen Systems taugt die hier dargestellte Kritik jedoch kaum. Die weitgehende Wirkungslosigkeit der Kapitalismuskritik im Rahmen der Wirtschaftskrise lässt sich auch vor diesem Hintergrund verstehen.

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SURVIVAL OF THE FITTEST Akteure der neuen Arbeitswelt zwischen Konformismus und Widerstand in aktuellen literarischen und filmischen Inszenierungen

I.

Auswirkungen des Strukturwandels der Arbeitswelt auf zeitgenössische Identitätskonzeptionen

Auch nach der digitalen Revolution scheint der Strukturwandel von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, den Daniel Bell bereits 1973 diagnostiziert hat, noch nicht abgeschlossen zu sein, bedenkt man beispielsweise die rasanten Entwicklungen auf dem Gebiet der Robotik und ihre noch nicht abzusehenden Konsequenzen für den Arbeitsmarkt.1 Zweifelsohne hat die flächendeckende Einführung von Computern und vor allem die des Internets seit den 1990er Jahren die Immaterialisierung, beziehungsweise Virtualisierung der Arbeit beschleunigt sowie zu einer räumlichen und zeitlichen Entgrenzung von Arbeitsprozessen und einer globalen wirtschaftlichen Vernetzung beigetragen. Die Transformation der Arbeitswelt lässt sich allerdings nicht bloß auf technische Neuerungen zurückführen. Lebensentwürfe, Wertvorstellungen und Geschlechterbilder haben sich verändert, der demografische Wandel, Zuwanderung und internationale Konkurrenz beeinflussen Wettbewerbs- und Lohnstrukturen, sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigungen sind befristeten Arbeitsverhältnissen gewichen (Werkverträge, Leiharbeit, Zeitarbeit), der Niedriglohnsektor wurde – in Deutschland insbesondere unter der Ägide der Sozialdemokratie mit der Agenda 2010 (2003– 2005) – ausgebaut.2 Mobilität und Flexibilität sind zu den neuen Tugenden der 1 Vgl. Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973. 2 Vgl. Kerstin Jürgens u. a., Arbeit transformieren!, Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung

189, Bielefeld 2017, S. 18 ff.

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Arbeitswelt avanciert, Arbeitslosigkeit und mangelnde Planungssicherheit sind ernstzunehmende Folgen dieser Deregulierung.3 Zugleich lässt sich ein unter dem Stichwort »Subjektivierung der Arbeit« zusammenfassbarer Wandel in den Unternehmenskulturen bemerken; autonomes Arbeiten bei erhöhter Verantwortlichkeit und Chancen zur kreativen Selbstentfaltung, flache Hierarchien, flexible Arbeitszeiten, die eine Verschränkung der Arbeits- und Privatsphäre nach sich ziehen sowie die Einbringung der gesamten Persönlichkeit in den Arbeitsprozess bei gleichzeitiger Aneignung der corporate identity zeichnen vor allem die Arbeitskultur der sogenannten New Economy der 1990er Jahre und ihrer Start-Up-Internetunternehmen aus. Dabei scheinen ihre Leitlinien auch auf Managementformen anderer Unternehmen überzugreifen4 und das Leistungsethos des Berufsmenschen im Allgemeinen neu zu definieren.5 Zeitgenössische Identitätskonzeptionen spiegeln nun den auf mehreren Ebenen vollzogenen Strukturwandel der Arbeitswelt wider: Nach Zygmunt Bauman (1993) trägt das postmoderne Subjekt Charakteristika eines »Landstreichers«6, der seine Identität zwar frei wählen, dafür aber nicht lange aufrechterhalten kann, dessen Lebenspläne von heute auf morgen verworfen werden können, dessen Beziehungen zu Orten und Menschen einem fliegenden Wechsel unterliegen und dessen Existenzbedingungen durch die Anforderungen eines unberechenbaren Marktes beständig neu austariert und angepasst werden müssen.7 Um den ›Drift‹, wie Richard Sennett die Erfahrung der fragmentierten Existenzweise nennt, erfolgreich zu meistern, benötigt der ›flexible Mensch‹8 Fähigkeiten zur Selbstführung, zum Selbstmanagement und zur Selbstoptimierung und muss, wie Ulrich Bröckling gezeigt hat, zum ›Unternehmer seiner selbst‹ werden.9 In der 3 Vgl. Ulrich Beck, Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt a. M. 2007. Beck spricht von einer »Bra-

silianisierung des Westens« (S. 104) und nennt die »politische Ökonomie der Unsicherheit, Ungewißheit und Entgrenzung« ein »Risikoregime« (S. 106). 4 Vgl. zu den neuen Managementkulturen seit Ende der 1960er Jahre und zur Verschränkung von Arbeit und Freizeit: Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 81 f. 5 Vgl. Alexander Meschnig, Das Dispositiv der New Economy und seine nachhaltigen Auswirkungen auf die Gesellschaftsstruktur, in: Jan Verwoert (Hg.), Die Ich-Ressource. Zur Kultur der Selbst-Verwertung, München 2003, S. 67–87, hier S. 67 ff. 6 Vgl. Zygmunt Bauman, Wir sind wie Landstreicher – Die Moral im Zeitalter der Beliebigkeit, in: Süddeutsche Zeitung, 16./17. November 1993, S. 17. Zur Metapher des ›Jobnomaden‹ vgl. auch Meschnig, Das Dispositiv der New Economy, S. 79. 7 Ronald Hitzler spricht von einer ›Bastelbiographie‹, vgl. ders., Kleine Lebenswelten – Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur, Opladen 1988; Harmut Rosa von einer ›situativen Identität‹, vgl. ders., Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. 8 So der deutsche Titel von Sennetts Buch: Vgl. Richard Sennett, The Corrosion of Character, The Personal Consequences Of Work In the New Capitalism, New York 1998. 9 Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Berlin 2007; vgl. auch Günter Voß / Hans Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der »Ware Arbeitskraft«?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50,1 (1998), S. 131–158.

SURVIVAL OF THE FITTEST 385

gegenwärtigen Arbeitswelt scheint das Prinzip des Survival of the fittest zu dominieren, der Erfolg der Angepassten scheint allerdings nur von flüchtiger Dauer sein zu können.

II. Schöne neue Arbeitswelten in Literatur und Film Die Gegenwartsliteratur und aktuelle Filmproduktionen liefern Einblicke in zeitgenössische Arbeitswelten und legen Zeugnis ab über den neuen Existenzkampf auf dem Arbeitsmarkt.10 Im Folgenden sollen acht exemplarische Arbeitsrepräsentationen aus dem italienisch-, französisch-, deutsch- und englischsprachigen Raum, die in den letzten zwanzig Jahren publiziert wurden, näher betrachtet werden, um rekurrente Themen herauszuarbeiten sowie eine Charakterisierung der Akteure vorzunehmen. Im Zentrum der vier zuerst behandelten Werke, »Volevo solo dormirle addosso«, »Das Jahr der Wunder«, »The Circle« und »99 francs«, stehen vier ambitionierte ›Karriere-Konformisten‹, drei Männer, eine Frau, im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 30. Die zuletzt vorgestellten vier Werke, »La loi du marché«, »I, Daniel Blake«, »Giorni e Nuvole« und »Mobbing«, behandeln das Schicksal von jeweils vier männlichen Protagonisten zwischen Ende 40 und Ende 50, die aus ihrem langjährigen Arbeitsverhältnis entlassen wurden und sich um einen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt bemühen.

II.1 »Ich opfere mich gerne auf« – Die ›Karriere-Konformisten‹ In den folgenden Unterkapiteln werden vier Romane vorgestellt (wobei in drei Fällen kontrastiv und ergänzend auch auf die Verfilmungen der literarischen Vorlage eingegangen wird), die implizit Aufschluss über die Verfasstheit des Subjekts in zeittypischen Berufsbildern, im Personalmanagement, in der Kundenbetreuung eines Internetkonzerns sowie als Kreativarbeiter in der Werbeagentur und über das jeweilige Arbeitsambiente geben, wobei in drei Fällen kontrastiv und ergänzend auch auf die Verfilmungen der literarischen Vorlage eingegangen wird. Während die Figuren der ersten drei Werke auf unteren Karrierestufen anzusiedeln sind – Mae Holland (II.1.3) und Christian Schlier (II.1.2) müssen sich als Arbeitseinsteiger noch in ihrer neuen Position orientieren, sodass der Leser Zeuge ihres überdurchschnittlichen Engagements wird, Marco Pressi (II.1.1) wiederum wechselt innerhalb der Firma die Position und will der Geschäftsführung seine Expertise 10 Nachdem die Selbstbespiegelungs- und Innerlichkeitsliteratur der 1980er Jahre soziale Fra-

gen und politisch relevante Themen ausgeklammert hatte, lässt sich ab dem Jahr 2000, das mit dem ›Platzen‹ der sogenannten Dot-Com-Blase verbunden ist, ein Anstieg literarischer Produktionen zum Thema »Arbeit« bemerken. Vgl. Annemarie Matthies, Spielbälle: Neuverhandlungen der Arbeitswelt im Medium Literatur, Konstanz 2016, S. 87.

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beweisen – nimmt Octave Parango (II.1.4) als selbstbewusster, gutsituierter und bereits beruflich etablierter Werbefachmann vor den anderen eine Sonderstellung ein, da er als einziger die Mechanismen der Subjektivierung innerhalb seines Arbeitskontextes durchschaut und seine Lebensgrundsätze zu hinterfragen beginnt.

II.1.1 Massimo Lollis »Volevo solo dormirle addosso« (1998) In Massimo Lollis autobiographischen Roman »Volevo solo dormirle addosso«11 von 1998, einem Vorläufer der italienischen Narrative, die sich dem neoliberalen Managementdiskurs widmen, geht es um den jungen Motivationstrainer Marco Pressi, der zum Personalmanager befördert wird, um im Zuge einer fusionsbedingten Rationalisierungsmaßnahme innerhalb von drei Monaten 25 Kollegen zu kündigen, wofür er mit einem großzügigen Bonus entlohnt werden soll. Während Pressi im Roman mit seiner Brille und seinen weißen Haaren als verstockter und greiser Jüngling beschrieben wird und bereits im ersten Kapitel von seiner nach zwei Wochen abrupt endenden Liebschaft mit einer jungen Frau berichtet, die sich nur kurz von seinem antrainierten Wertschätzungsvokabular hatte blenden lassen, dramatisiert Eugenio Cappuccio in seiner größtenteils werktreuen gleichnamigen filmischen Adaption des Romans (2004), an deren Produktion Lolli beteiligt war, den Wandel vom entspannten und beliebten Mitarbeiter zum gefürchteten ›Rausschmeißer‹, indem der Handlungsverlauf der literarischen Vorlage leicht verändert wird und die Figur Pressi als Publikumssympathieträger optisch und charakterlich beschönigt wird: Mit dem knabenhaften, attraktiven Giorgio Pasotti in der Hauptrolle wird das Bild eines charmanten und kollegialen Aufsteigers gezeichnet, der sich in einer festen Beziehung befindet, die erst später scheitert, als er die sozialen Codes, die er perfekt internalisiert hat, durch seine neue Position zu verlieren beginnt. Cappuccio lässt den Film mit einer Szene beginnen, in der Pressi als erfolgreicher Motivationstrainer vorgestellt wird, der sich mit der Wertschätzungspolitik des Managements identifiziert und mit Überzeugung vor der Chefetage über die Bedeutung von Anerkennung für die Angestellten referiert. Den Raum ziert das Firmenmotto »People first«, seinen Vortrag beendet er mit »Ich halte viel von euch«12, einer Floskel, die im weiteren Verlauf mehrfach fällt und den Protagonisten als ›Automaten‹ charakterisiert, der stets dieselbe professionelle Gefühlsrhetorik, ob in Gesprächen mit der Freundin, der Mutter oder mit Mitarbeitern oder gar in dem einleitenden Voice-Over, an das Publikum gerichtet, gebraucht.

11 Zu Deutsch: »Ich wollte nur auf ihr schlafen«. Vgl. Massimo Lolli, Volevo solo dormirle ad-

dosso, Arezzo 1998; Eugenio Cappuccio, Volevo solo dormirle addosso, Mikado Film / Dolmen Home Video (I) 2004. 12 Cappuccio, Dormirle addosso, TC: 0:02:25. Im Original: »vi stimo molto«, wörtlich eigentlich: »Ich schätze euch sehr«. Im Englischen wurde die Floskel mit »I truly respect you« übersetzt, so auch der Filmtitel der englischen Version.

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Als er die Stelle als Personalmanager annimmt, wird Pressis sprechender Name zu seinem Schicksal; zunächst übt die Geschäftsführung Druck (›pressione‹), auf ihn aus, dann übt er Druck auf sich selbst und die Kollegen aus, die auf ihre Rechte pochen und die Entlassung nicht akzeptieren wollen. Der Wettlauf gegen die Zeit – eigentlich ein typisches Element des Actiongenres – beginnt, dabei entfalten die stets gleich kadrierten Kündigungsszenen eine gewisse ›schwarze Komik‹, kann der Zuschauer hinter den vorgeladenen Mitarbeitern eine Schale mit Äpfeln erkennen und hinter Pressi ein Miniaturmodell eines Katapults, in dessen Wurfschale die Äpfel zu passen scheinen. Pressis gesamtes Wesen und seine Wirkung auf die Kollegen unterliegen einem Wandel; für ein smartes Lächeln und selbstbewusstes Schäkern auf dem Gang bleibt weder Zeit, noch kann er es sich zwischenmenschlich erlauben; die gesamte Kollegenschaft fürchtet, auch bald von ihm vorgeladen zu werden. Da bei Ablauf der Frist nur 24 Mitarbeiter entlassen werden konnten, legt Pressi seine eigene Kündigung vor, womit er den Bonus erhält und die Firma, in der er sich ohnehin unbeliebt gemacht hat, verlässt.13 In einem Voice-Over am Ende des Films fragt der Protagonist, ob er richtig gehandelt habe. Die Erinnerung an soziale Verantwortung wird, jetzt da er selbst ohne Job dasteht, wachgerufen; Pressi streift durch das leere Großraumbüro, schaut sich die von Kindern gemalten Bilder an den Bürowänden seiner Kollegen an und ruft endlich seine Mutter zurück, die er mehrfach vertröstet hat. Der angedeutete Gewissenskonflikt scheint jedoch keine tieferen Spuren zu hinterlassen: Optimistisch und zugleich verdrängend resümiert Pressi, dass ihm ein Headhunter schon bald wieder einen neuen Job anbieten werde: »Die Arbeitswelt funktioniert genau so, Wünsche und Ziele, Wünsche und Ziele, und über den Rest denke ich nicht mehr nach. Ich muss arbeiten.«14 Der Bogen wird zum Anfang des Films gespannt, wo sich Pressi den Zuschauern als Mann ohne ›Zukunftsperspektiven‹ vorgestellt hat: »Ich hatte nie Pläne für die Zukunft. Nur Wünsche und Ziele, Wünsche und Ziele, Pläne nie.«15 Pressi entspricht dem Typus des »flexiblen Menschen« – bemerkenswert ist, dass Sennetts Buch im selben Jahr wie Lollis Roman (1998) erschienen ist –, der sich bloß reaktiv immer neuen Anforderungen anzupassen versteht und daher nur kurzfristige Ziele kennt.16 Im Roman macht Pressis Vorgesetzter ihm 13 Das Thema des Personalers, der nur für Kündigungen engagiert wird, behandelt Jason Reit-

man in seinem Film »Up in the air« (2009). 14 Cappuccio, Dormirle addosso, TC: 1:32:16–26. Übersetzung C. R. 15 Ebd., TC: 0:00:40–46. Übersetzung C. R. 16 Darunter leidet auch seine Freundin Laura, die ihn zu einem verbindlichen Statement drängt. Die Beziehung scheint Pressi jedoch jeden Tag erneut auf den Prüfstand legen zu müssen, da er keine andauernden Gewissheiten kennt: »[…] wenn du mich fragst, ob ich dich liebe, sage ich dir, dass du in mir bist und dass ich so weitermachen will. Jeden Abend frage ich mich: Will ich sie morgen sehen? Und ich sage mir ja. Deshalb sage ich dir: lass uns einfach leben.« Lolli, Dormirle addosso, S. 89. Übersetzung C. R. Pressis Bedürfnis nach Unverbindlichkeit zeigt sich schließlich auch in seinem Verhältnis zu einer Prostituierten.

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paradoxerweise seinen auf Selbstausbeutung beruhenden Erfolg zum Vorwurf: »Du quetschst dich selbst aus wie eine Zitrone.«17 Die Entscheidungen des Managements zur Personalkürzung werden nicht thematisiert, das Schicksal Pressis in dessen eigene Hände verlegt – ob er tatsächlich eine andere Wahl gehabt hätte, muss der Leser oder Zuschauer entscheiden.

II.1.2 Rainer Merkels »Das Jahr der Wunder« (2001) Ähnlichen Zwängen unterliegt der Protagonist aus Rainer Merkels »Das Jahr der Wunder« von 2001, dem ersten deutschsprachigen Roman, der die Arbeitswelt der New Economy beschreibt.18 Christian Schlier beginnt nach einem abgebrochenen Medizinstudium auf Empfehlung seines Freundes Titus ein unbezahltes Volontariat in einer Multi-Media-Agentur und hofft, sich dort profilieren zu können. Engagement und Präsenz zeigt er, indem er auch seine Wochenenden im Firmengebäude verbringt, Anpassungsfähigkeit beweist er, indem er den koketten Habitus der Kreativarbeiter übernimmt, beziehungsweise aufgeschnappte Phrasen im selben Tonfall zu kopieren beginnt. Schlier, dem es an Selbstsicherheit mangelt, reflektiert beständig seine mögliche Wirkung auf Kollegen und studiert genau deren Verhalten. Bei Titus registriert er eine eigentümliche Form der »Selbstvergessenheit«: »Sein Knie, das den Takt vorgibt, den Rhythmus, mit dem er in seine Selbstvergessenheit versinkt. Steinzeitmenschen, Jäger und Sammler müssen so gewesen sein, immer auf dem Sprung und trotzdem so mit ihrem Ziel verbunden als befänden sie sich in einem luftleeren Raum.«19

Der Arbeits-Flow, in dem sich Nervosität, Getriebenheit und Konzentration paart, erinnert an den existentiellen, nomadischen Seinsmodus eines beschleunigten Bauman’schen Landstreichers.20 »Ich bin unterwegs, ich befinde mich in einem Zustand des Übergangs«21, konstatiert Schlier auch später, wobei sich die Aussage einerseits als Urteil über seine Situation als Berufseinsteiger ohne festen Arbeitsvertrag verstehen lässt, andererseits das »Unterwegssein« auf das Identitätsmodell des mobilen und flexiblen Menschen anspielt, der niemals ›ankommt‹. Lassen sich weitere Beschreibungen des Ich-Erzählers wie der Gang durch die Firmenzentrale 17 Lolli, Dormirle addosso, S. 167. Übersetzung C. R. 18 Rainer Merkel, Das Jahr der Wunder, Frankfurt a. M. 2001, S. 8. Der Roman wurde von

Matthies eingehend untersucht, vgl. Matthies, Spielbälle, S. 98 ff. 19 Merkel, Jahr der Wunder, S. 8. 20 Dem Phänomen des »berauschenden, betäubenden und vom Denken befreienden Aktionsstrudel[s]« in der beschleunigten Moderne widmet sich Nicole Aubert in dem Aufsatz »Dringlichkeit und Selbstverlust in der Hypermoderne«, in: Vera King (Hg.), Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung, Frankfurt a. M. 2009, S. 87–100, hier S. 87. 21 Merkel, Jahr der Wunder, S. 11.

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als »willenloses Gleiten« in einem »Zustand der Verflüssigung«22 vor allem mit der Bauman’schen Terminologie aus seinem Werk »Liquid Modernity« (2000)23 analogisieren, wird auf Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie sogar explizit Bezug genommen: Schlier sieht das Buch »Überwachen und Strafen«, in dem Foucault die Subjektivierungsstrategien von totalen Überwachungsregimen behandelt, die eine Selbstdisziplinierung zum Ziel haben, auf dem Schreibtisch des Vorgesetzten Grassi liegen.24 Dessen sprechender Name (grasso, italienisch für ›fett‹, ›ölig‹) evoziert nicht nur das Bild einer feisten, saturierten, sondern auch einer schmierigen, zwielichtigen Gestalt, die der naive Protagonist aber als solche nicht wahrzunehmen scheint. Grassi erläutert Schlier zwar knapp das von Foucault aufgegriffene Bentham’sche Modell des Panopticons, rät ihm aber zugleich: »Aber kaufe es [das Buch] dir besser nicht. Wir brauchen dich hier.«25 Schlier reflektiert das ›Herrschaftswissen‹ Grassis und dessen Motive nicht weiter. Die durch ihn gewonnenen lückenhaften Informationen nutzt er lediglich für einen dilettantischen Flirtversuch mit einer Frau, die er im Bus bei der Lektüre von »Überwachen und Strafen« beobachtet. An ihr erprobt er gleich drei »Stimmen«, die herzliche, die unverfrorene und die verständnisvolle, die er sich von zwei Kollegen und von Grassi angeeignet hat.26 Weniger als um einen tiefergehenden zwischenmenschlichen Kontakt geht es Schlier dabei um Selbstvergewisserung in der Performance. Indem er den Jargon der beruflich Etablierten kopiert, glaubt er, sich seinen sozialen Aufstieg zu sichern und auch an Attraktivität zu gewinnen. Für die Gedanken und Gefühle anderer bleibt er dabei aber blind. Über diese Referenzen hinaus findet sich ein impliziter Bezug auf das Werk Foucaults auch in der Beschreibung der Architektur der Agentur. Hatte in der von Jeremy Bentham27 entworfenen panoptischen Gefängnisanlage noch der Aufseher von einem zentralen Turm aus Einblick in die Zellen der Insassen, die ihn jedoch nicht sehen konnten, sich aber in ständiger Überwachung wähnen mussten, sind in zeitgenössischen Unternehmen mit Glaswänden und Open-Space-Büroräumen nun alle einer totalen Sichtbarkeit unterworfen.28 In Merkels Szenario übernimmt zwar die Empfangsdame Beatrice29 die Rolle des Gefängnisaufsehers (»[…] Beatrice, von der ich mir vorstelle, sie würde uns mit einer fest installierten Kamera die ganze Zeit beobachten«30) und Ebd., S. 18. Vgl. Zygmunt Baumann, Liquid Modernity, Cambridge 2000. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1975, S. 260. Merkel, Jahr der Wunder, S. 67. Vgl. Merkel, Jahr der Wunder, S. 124 ff. Die 1787 erschienene Schrift ist seit einigen Jahren auch auf Deutsch erhältlich, vgl. Jeremy Bentham, Das Panoptikum, Berlin 2013. 28 Carmen Losmann bietet in ihrem Dokumentarfilm »Work hard – Play hard« von 2012 einen beklemmenden Einblick in jene gläsernen Arbeitswelten. 29 Der Name erinnert an Dantes Führerin aus der »Divina Commedia«, die von ihrer Position im Paradies aus bereits den Wanderer Dante von Beginn seiner Reise an im Blick hat, da sie ihm für seinen Weg durch die Hölle und das Fegefeuer den Begleiter Vergil an die Seite stellt. 30 Merkel, Jahr der Wunder, S. 43 f. 22 23 24 25 26 27

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auch die einzelnen Arbeitsplätze sind für alle Mitarbeiter einsehbar, das Leistungsprinzip hat Schlier allerdings bereits selbst internalisiert: »Eine Weile habe ich sogar ein schlechtes Gewissen, und es ist mir unangenehm, dass wir uns jetzt ausruhen. Ich habe das Gefühl, dass das nicht richtig ist«31. Da die Arbeit in der Agentur als ›Privileg‹32 verkauft wird, braucht der Vorgesetzte Grassi dabei nicht mit disziplinarischen Methoden auf das Arbeitssubjekt Schlier einzuwirken, der aus Sorge, er könne seine vertraglich ungeschützte Position verlieren, keine Bezahlung für seine Arbeit einfordert. »Ich weiß gar nicht, warum ich Dir überhaupt Geld gebe […] eigentlich müsstest Du mir Geld geben«33, bestärkt Grassi Schliers Vermutung und spielt mit schein-emphatischer Rhetorik: »›Du opferst dich hier auf und fragst dich, wozu.‹ ›Ich opfere mich gerne auf‹, sage ich schnell und schiebe die Tastatur zur Seite, so als wollte ich sie als Erstes opfern. ›Es macht mir großen Spaß.‹«34 Schlier hinterfragt seinen vorauseilenden Gehorsam nicht – über die Abwesenheit jeglicher kritischer Gedanken oder Klagen des autodiegetischen Erzählers inszeniert Merkel eine entäußerte Subjektivität und eine Bewusstseinsstruktur, die negative Elemente der Außenwelt verschleiert oder schlicht ausblendet. Obwohl Schlier bei seiner ersten Projektpräsentation scheitert, lässt er sich nicht demotivieren und macht mit gesteigertem Ehrgeiz weiter. Der Roman, der sich als Entwicklungsroman ohne Reifeprozess liest, endet damit, dass sich Schlier vornimmt, täglich noch vor Sonnenaufgang zur Firma zu joggen, womit der Misserfolg auf eine ungenügende Selbstoptimierung zurückgeführt wird. Die Laufmetapher schließt an seine Aussage vom Anfang an: Schlier ist immer noch ›unterwegs‹, jetzt nur noch gehetzter.

II.1.3 Dave Eggers »The Circle« (2013) Die Tücken eines ›humanisierten‹ Managements, das den ›ganzen Menschen‹ vereinnahmt, indem der Arbeitsplatz Elemente der Freizeitgestaltung integriert und die Arbeitsatmosphäre ›familiarisiert‹ und ›emotionalisiert‹ wird, legt Dave Eggers in seinem 2013 erschienenen dystopischen Roman »The Circle«35 offen, der 2017 von James Ponsoldt unter gleichnamigem Titel verfilmt wurde. Protagonistin ist die junge Mae Holland, die in dem florierenden Internetkonzern Circle eine Stelle als Kundenbetreuerin antritt. Die ringförmige, durchtechnisierte und gläserne Unternehmenszentrale des Circle, die die Größe einer 31 Ebd., S. 168. 32 Zum Thema unbezahlte Arbeit in einem ›hippen‹ Unternehmen als Investment vgl. Mesch-

nig, Das Dispositiv der New Economy, S. 78. 33 Merkel, Jahr der Wunder, S. 59. 34 Ebd., S. 158. 35 Vgl. die deutsche Ausgabe: Dave Eggers, The Circle, Köln 2014; James Ponsoldt, The Circle, Image Nation Abu Dhabi, Playtone, Likely Story, IM Global / STXfilms, EuropaCorp (US), 2017.

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Kleinstadt hat, weist eine panoptische Architektur auf, darüber hinaus spiegelt sich das panoptische Prinzip in den social networks wider: Die Circle-Mitarbeiter, oder vielmehr ›Anhänger‹, sind offiziell zur Selbst- und Fremdausleuchtung sowie stetigen Optimierung angehalten, alle stehen über ein unternehmensinternes Netzwerk à la Facebook in permanentem Austausch und ihre Leistungsbilanz, die über ein öffentliches Ranking sichtbar gemacht wird, sowie ihr Gemütszustand, der über Persönlichkeitsprofile beständig aktualisiert wird, bestimmen ihren Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad, der wiederum ihren Karriereweg beeinflusst. Im sozialen Netzwerk und auf dem Firmencampus, der Wohnmöglichkeiten, Freizeit- und Vergnügungsaktivitäten zur Verfügung stellt, findet ein oberflächlich-heiterer Austausch zwischen den Angestellten statt, keiner von ihnen pflegt jedoch tiefergehende Beziehungen zu Menschen außerhalb des Circle. Mae, von der Kundenbetreuerin rasch zu einem ›Star‹ des Konzerns aufgestiegen, erklärt sich dazu bereit, eine Webcam zu tragen, die eine 24-Stunden-Aufnahme ihres Lebens über das Internet überträgt. Im Gegenzug zahlt der Konzern ihrem Vater eine Therapie zur Behandlung seiner Multiplen Sklerose.36 Unter dem Motto ›Privacy is theft‹ verkaufen die Gründerväter der Firma (in der Adaption Ponsoldts unter anderem gespielt von Tom Hanks) die totale Transparenz als Korrektiv und Chance zur Selbstzensur; sie fördere effizientes Arbeiten, stachele den Ehrgeiz an, lasse keinen Raum für Bequemlichkeiten und Grenzübertritte, vermindere Kriminalität und schaffe Sicherheit dank schneller Reaktionsmöglichkeiten bei Gefahren. Durch die digitale Dokumentation wird allerdings die Angst vor dem Gesichtsverlust geschürt, eine soziale Entfremdung ist die Folge dieser totalitär organisierten Unternehmenskultur, die ein außengeleitetes, gefälliges, wohltemperiertes Verhalten im »Modus der Uneigentlichkeit«37 befördert. Mae, Maskottchen und Werbegesicht für die Transparenzkampagne des Unternehmens, merkt nicht, dass ihre Eltern und ihr Ex-Freund Mercer, der als technikkritischer, handwerkender Naturbursche eine Kontrastfigur darstellt, Abstand von ihr nehmen. Als Mae Mercer beim Autofahren von einer Drohne verfolgen lässt, um ihn ihren Followern vorzuführen, gerät dieser in Panik und hat einen tödlichen Unfall. Auch als Maes beste Freundin Annie, die selbst beim Circle arbeitet und ein Burn-Out erleidet, – hier weicht der Roman vom Film ab – am Ende im Krankenhaus liegt, fühlt Mae die ›Gewalt der Transparenz‹38 nicht, im Gegenteil scheint ihr Größenwahn zuzunehmen. Am Krankenbett stehend, bedauert Mae, das Unterbewusstsein der Komatösen nicht durchdringen zu können:

36 Hier wird ein typisch amerikanisches Problem verhandelt: Die Aufgaben des Sozialstaats übernehmen Privatunternehmen, die sich die Loyalität ihrer Angestellten durch die Garantie eines Versicherungsschutzes sichern. 37 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 192006, S. 44. 38 Vgl. Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2012.

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»Es war ein Affront, ein Entzug, ihr gegenüber und der Welt gegenüber. Sie würde das bei Stenton und Bailey und bei der Vierzigerbande zur Sprache bringen, bei nächster Gelegenheit. Sie mussten dringend über Annie reden, über die Gedanken, die sie dachte. Wieso sollten sie die nicht wissen?«39

Die letzte (bisher) unerreichte Bastion, die sich der totalen Kontrolle entzieht, ist die Bewusstlosigkeit, im Schlaf, in der Ohnmacht und im Tode.40 Der Film wiederum nimmt am Schluss eine Wendung, die auf einen Bewusstseinswandel der Hauptfigur verweist.41 Mae, die sich durch die Internalisierung der Leitlinien des Unternehmens an dessen Spitze gearbeitet hat, führt die beiden Firmenchefs vor versammelter Mitarbeiterschaft und den Zuschauern ihrer Webcam vor, indem sie behauptet, dass auch sie als Gründer mit gutem Beispiel vorangehen und ›transparent werden‹ wollten. Transaktionen und interne Kommunikationsdokumente, die auf Veruntreuung verweisen, werden auf einen Schlag öffentlich gemacht, womit die Tarnkappe des vermeintlich tugendhaften Machtzentrums gelüftet wird.

II.1.4 Frédéric Beigbeders »99 francs« (2000) Kleidet Rainer Merkel seine in einer Werbeagentur gewonnenen Erfahrungen in ein fiktionales Narrativ, rechnet auch Frédéric Beigbeder in seinem 2000 erschienenem Roman »99 francs«42 mit seiner Vergangenheit in der Branche der Werbetexter ab. Die stilistisch postmodern anmutende, durch eine fragmentierte Schreibweise, ein ironisches Spiel mit Versatzstücken von Werbeslogans und durch Intertextualität gekennzeichnete Satire inszeniert die Konsumkritik allerdings genießerisch und reißerisch, sodass es schwerfällt, dem autodiegetisch 39 Eggers, The Circle, S. 557 f. Eggers wählt geschickt die Form der erlebten Rede, die eine Be-

wusstseinsstruktur offenlegt, ohne die Gedanken Maes explizit wiedergeben zu müssen. 40 Wie kürzlich in der ZEIT zu lesen war, wirbt Facebook bereits damit, durch reine Gehirnaktivität Nachrichten auf dem Smartphone zu generieren. Die Möglichkeit, das neuronale System anzuzapfen, kurz Brainhack, scheint in unmittelbarer Reichweite zu liegen. Vgl. Miriam Meckel, Der Spion in meinem Kopf, in: ZEIT 16 (2018). 41 Die Kritiken, die auf Eggers »holzschnittartige Überwachungsdystopie«, die nicht den Stellenwert eines Orwell’schen »1984« einzunehmen vermöge, ebenfalls schon gespalten reagiert hatten, haben die Verfilmung größtenteils aufgrund ihrer schwachen Dramaturgie und Figurenentwicklung verrissen. Auch für das Ende fand Juliane Liebert keine lobenden Worte, da offenbliebe, ob Mae nun »selbst zum Guru der paternalistischen Transparenz« aufsteige oder für eine »faire Transparenz« plädiere, womit der Film die »Ideologie des Silicon Valley übernehme[], dass alle Probleme technisch gelöst werden können«. Vgl. den Artikel vom 10.9.2017 auf http:// www.sueddeutsche.de/kultur/the-circle-im-kino-the-circle-ist-fuer-arme-1.3654035 [08.04.2018]. 42 Vgl. Frédéric Beigbeder, 99 francs, Paris 2000. Der Titel des Romans entspricht dem damaligen französischen Buchpreis und wurde 2001 für die deutsche Ausgabe mit »39,90« übersetzt. Nach der Euro-Wende ist das Buch in Frankreich auch unter den Titeln »14,90« und »5,90« erschienen.

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erzählenden Protagonisten den Willen zum Ausbruch aus der Scheinwelt der Werbung abzukaufen.43 Beigbeders Alter Ego Octave Parango erinnert an den hedonistischen, amerikanischen Finanzhelden der 1980er Jahre, der es sich zwischen Arbeit, Sex, Koks und wilden Partys in der Welt der Simulakra44 eingerichtet hat. Die simulierte Welt der Werbung, mit der Octave seinen Lebensunterhalt verdient, scheint für ihn die gesamte Wirklichkeit zu überlagern. In der Verfilmung von Jan Kounen (2007)45 wird Wirklichkeitsverlust und Weltfremdheit eindrücklich in einer Szene dargestellt, in der Octave mit einem Kollegen auf dem Motorrad durch eine Industrie-Landschaft fährt, deren Echtheit vom Zuschauer angezweifelt werden kann; undurchsichtig bleibt nämlich, was genau den Vorder-, was den Hintergrund der Szenerie bildet, denn das comichaft stilisierte Fabrikgelände wirkt genauso hyperreal wie das am Fahrstreifen aufgestellte Werbeplakat, das zwei ballspielende Kinder zeigt, was sich als Verbildlichung von Octaves Indifferenz zwischen der Sphäre der Produktion (Fabrik) und der Sphäre des Tauschs (Werbung) deuten ließe. Octave ist jedoch nicht der Einzige, der dem Verblendungszauber erliegt – die ganze Branche und natürlich auch die Konsumenten sind in den Manipulationskreislauf verstrickt: Als Octave nach einer geeigneten Schauspielerin für einen Werbespot zu Markenjoghurt sucht und eine Prostituierte mit Silikonbrüsten, farbigen Kontaktlinsen und Haarextensions probefilmt, macht diese auf die Produktionsleitung paradoxerweise den Eindruck einer idealtypischen unschuldigen, französischen Hausfrau – nur in der Postproduktion soll ihr Gesicht aufgehellt werden, da sie zu ›afrikanisch‹ wirke, damit die Zielgruppe besser angesprochen werden könne. Das Spiel mit der authentischen Inszenierung von Künstlichem verliert für Octave allerdings den Reiz, als ihm seine ebenfalls in der Agentur arbeitende Freundin ihre Schwangerschaft verkündet: Plötzlich drängt sich ihm die Wirklichkeit auf und Octave schreckt vor der abverlangten Verantwortung als Vater zurück, woraufhin sich seine Freundin von ihm trennt. Octave erleidet einen psychischen Zusammenbruch, nach dem er nicht mehr professionell weiterzuarbeiten vermag, da ihn die Scheinwelt, als deren Teil er sich begreift, zusehends abstößt. Als der Werbespot mit der schönen Prostituierten abgedreht ist, lässt er, ohne das Wissen der Produzenten, eine neue konsumkritische, antikapitalistische, 43 Vgl. Kai Nonnenmacher, Cioran als Werbetexter? Frédéric Beigbeders Roman 99 francs: In-

szenierung einer Warenbeichte als Beichtware, in: Giulia Eggeling (Hg.), Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen, Tübingen 2003, S. 218–238, hier S. 218. Nach Nonnenmacher überbiete Beigbeder Bret Easton Ellis’ »American Psycho« (1991) insofern, dass er es nicht bei der Dekonstruktion eines Markenfetischismus belasse, sondern auch die Literaturproduktion als Werbemittel enttarne. Vgl. ebd., S. 236. 44 Nach Jean Baudrillard Wirklichkeitssimulationen der Warentauschgesellschaft, die sich nicht mehr auf ein Modell aus der wirklichen Welt beziehen, sondern nur wirkliche Welten imitieren, vgl. ders., L’échange symbolique et la mort, Paris 1976. 45 Vgl. Jan Kounen, 39,90, Légende Entreprises / Euro Video (F) 2007.

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schockierende Version desselben Spots drehen, die aber nicht als Provokation verstanden, sondern in Cannes mit einer Goldenen Palme geehrt wird, was noch einmal mehr zeigt, dass im Medium Film Fiktion und Fakten, Kritik und Propaganda egalisiert und konsumierbar gemacht werden. Der Film weicht hier von der literarischen Vorlage ab, da Kounen, ähnlich wie Cappuccio in seiner Adaption von Lollis Roman, ein simpleres Erklärungsschema für den Gesinnungswandel des Protagonisten wählt: Ist es im Film der Bruch mit der Freundin, der Octave zur Rebellion veranlasst, ist es im Buch eine, an den Protagonisten aus »American Psycho«46 erinnernde, zynische Indifferenz und Perversion, die ihn zur Verhöhnung des Konsumentenpublikums und sogar auch zu einem Mord treibt. Im Film sowie im Roman wird dem Zuschauer schließlich die Wahl zwischen zwei Alternativenden gelassen: dem Selbstmord Octaves durch einen Sprung vom Agenturgebäude und dem Ausstieg aus der Marketingbranche. In zweiter Variante zieht sich Octave auf eine Insel zurück und kehrt der Zivilisation den Rücken. Der Film endet damit, dass die Ex-Freundin mit der gemeinsamen Tochter auf die Insel kommt und sie sich in die Arme fallen. Die letzte Einstellung wird allerdings mit einem Greenscreen überlagert, dessen Einsatz nicht nur die Arbeitstechniken der Werbeindustrie, sondern auch metafiktional die des Spielfilms selbst offenbart: Das Filmbild transformiert sich in ein Werbeplakat, das ein Urlaubsparadies für die junge, glückliche Familie zeigt. Dieses sieht Octave während seines Sturzes vom Hochhaus in der ersten Version des Filmendes, womit das hoffnungsvolle Alternativende dekonstruiert wird und die Frage nach Schein und Sein, nach der Möglichkeit eines Ausstiegs aus den Denkstrukturen des Marketings am Ende unbeantwortet bleiben muss.

II.2 »Farbe bekennen« – Die aufrechten Arbeitslosen In den im Folgenden vorgestellten Werken, drei Filmen und einem Roman, sind die Protagonisten allesamt männlich und tendenziell im höheren Alter, sie gehören unterschiedlichen Berufsgruppen und Gehaltsklassen an und waren als Angestellte in der Automobilindustrie (Thierry, II.2.1) und in der Stadtverwaltung (Joachim, II.2.4), als Zimmermann (Dan, II.2.2) und als Firmenchef (Michele, II.2.3) tätig. Der Plot der Werke wird durch den Verlust der Arbeit (II.2.1–3), beziehungsweise den Kampf um den Arbeitsplatz motiviert (II.2.4); nur in »I, Daniel Blake« (II.2.2) wird mit dem Tod des Protagonisten der Handlung ein kon46 In Ellis’ postmodernem Roman beginnt der hedonistische Wall-Street-Yuppie Patrick Ba-

teman Menschen grausam abzuschlachten. Ihr Verschwinden wird jedoch von der Gesellschaft nicht bemerkt, was einerseits als deren Indifferenz gegenüber amoralischem Verhalten bewertet werden kann oder als Zeichen dafür, dass es sich bloß um Mord-Fantasien Batemans gehandelt hat, die niemals umgesetzt wurden.

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kretes Ende gesetzt, in den anderen Werken verlieren die Protagonisten ihre im Verlauf der Handlung neugewonnenen Übergangstätigkeiten wieder beziehungsweise sind mit den Bedingungen ihrer neuen Anstellung unzufrieden, womit dem Leser beziehungsweise dem Zuschauer ein offenes Ende präsentiert wird. Verbindendes Moment der Narrative ist ihr ernster Duktus und die Konzeption der Protagonisten als moralische Figuren, die zur Anpassung an eine Ordnung gezwungen werden, die sie als erniedrigend und ungerecht empfinden.

II.2.1 Stéphane Brizés »La loi du marché« (2015) Das Thema der Selbstführung und Supervision – Topoi, denen wir schon bei Merkel und Eggers begegnet sind – wird in Stéphane Brizés »La loi du marché«47 aus dem Jahre 2015 verhandelt. Maschinist Thierry Taugourdeau ist 51, ehemaliger Teamleiter in einem Automobil-Subunternehmen, führt eine glückliche Ehe und hat einen behinderten, fast erwachsenen Sohn, der ein Studium anstrebt, für das er einen persönlichen Assistenten bräuchte. Da Thierry seine Arbeit aufgrund von Restrukturierungsmaßnahmen verloren und bereits einen Schuldenberg angehäuft hat, versucht er, durch Umschulungen beim Arbeitsamt an eine neue Stelle zu kommen. Sich mit seinen ehemaligen Kollegen zu solidarisieren, um gemeinsam gegen die Chefetage zu klagen, lehnt Thierry ab; er erscheint innerlich gebrochen und sehnt sich nach Sicherheit in einem neuen Job. Nach einem zwecklosen Lehrgang zum Kranführer – zwecklos, weil er erst nach vier Monaten darüber aufgeklärt wird, dass er ohne Arbeitserfahrung auf der Baustelle nicht als Krankführer arbeiten dürfe – nimmt Thierry an weiteren Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt teil. Während eines Bewerbungstrainings wird Thierry von den anderen Teilnehmern, die zur Evaluation eines simulierten Bewerbungsgesprächs angehalten sind, schonungslos kritisiert; er wirke nicht sympathisch, seine Haltung sei schlapp, sein Sprachtempo lahm, sein Blick müde, als wäre er nicht ganz bei der Sache, als würde er die Arbeit gar nicht richtig wollen. Von allen Seiten – selbst beim Tanzkurs mit seiner Frau, den sich die beiden trotz prekärer finanzieller Lage gönnen – wird Thierry stets nur belehrt und zur Selbstobjektivierung und Selbstkorrektur angehalten. Nach 20-monatiger Arbeitslosigkeit nimmt Thierry schließlich einen Job als Kaufhausdetektiv an. Nun übernimmt er die Rolle des aufmerksamen Observators hinter der Kamera, der Taschendiebe ausfindig machen, aber auch Fehlverhalten des eigenen Personals melden soll. Als er eine Kassiererin, die Rabatt-Coupons von Kunden einsteckt, beim Management denunziert, woraufhin sie gekündigt wird, nimmt sich diese das Leben. Nachdem Thierry abermals eine Kassiererin gemeldet hat, die Treuepunkte von Kunden auf ihre eigene Bonus47 Vgl. Stéphane Brizé, La loi du marché, Arte France Cinéma, Nord-Ouest Films / Liberty

Productions (F) 2015. Zu Deutsch wörtlich ›Marktgesetz‹. Der deutsche Titel des Films lautet allerdings »Der Wert des Menschen«.

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karte abrechnet, verlässt er abrupt das Verhörzimmer, packt seine Sachen und steigt in sein Auto, womit der Film endet. Eine Besonderheit an Brizés Film ist, dass, bis auf die Kernfamilie, die Rollen von Laiendarstellern verkörpert werden, die ›sich selbst‹ spielen und in Originalschauplätzen improvisieren. Der Realismus wird verstärkt durch Handkameraaufnahmen und die Abwesenheit von extradiegetischer, emotionalisierender Musik. Auffällig ist die Wortkargheit des Protagonisten – die Marktgesetze (loi du marché) zwingen Thierry in einen Konkurrenzkampf nach dem Prinzip des ›Fressen oder Gefressen werden‹, dabei bleibt der intersubjektive Austausch, der nicht nur zur Selbstermächtigung, sondern auch zur Solidarisierung mit der Schicksalsgemeinschaft der entlassenen Kollegen hätte führen können, auf der Strecke.48

II.2.2 Ken Loachs »I, Daniel Blake« (2016) Ken Loach, der sich seit den 1960er Jahren in seinen Filmen mit der britischen Arbeiterklasse auseinandersetzt, widmet sich in seinem 2016 erschienenen Drama »I, Daniel Blake« ebenfalls dem Thema Arbeitslosigkeit.49 Ähnlich wie Brizé, und wie in seinen älteren Filmen, setzt Loach dabei auf einen naturalistischen Stil, wählt weniger bekannte Schauspieler, die in Originalschauplätzen ihre Dialoge selbst weiterentwickeln, filmt mit der Handkamera und verzichtet auf musikalische Untermalung und häufige Schnitte. Nach einem erlittenen Herzinfarkt versucht der Zimmermann Daniel Blake, genannt Dan, der auf 40 Jahre Berufserfahrung im Sägewerk zurückblickt, seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend zu machen, der ihm jedoch verwehrt wird, da ihn eine Gesundheitsfachkraft im Jobcenter über einen punktbasierten Fragenkatalog als arbeitstauglich einstuft. Während er auf einen Termin wartet, um Widerspruch einlegen zu können, wird er zu Auflagen für den Empfang von Sozialhilfe verpflichtet. Paradoxerweise soll er 35 Stunden wöchentlich für Bewerbungen aufwenden, obwohl seine Ärzte ihm jede Form von Arbeit strengstens untersagt haben. Weigert er sich, an den ihm auferlegten Workshops teilzunehmen, drohen ihm Sanktionen. Bei seinem ersten Workshop macht sich Dan über die Hinweise des Referenten zum Verfassen von Bewerbungen lustig; seines Erachtens gebe es einfach zu wenig Arbeit für zu viele Menschen, woraufhin ihm der Referent entgegnet, dass 48 Laut Hélène Picard filmt der Regisseur »the face-to-face encounters in long and static close up shots rather than using a more dynamic, ›shot reverse shot‹ technique. This effectively emphasizes the polarisation of the interlocutors’ discourses and the isolation of subjective speech faced with the (objectified) ›criteria‹ and ›expectations‹ of the other party of the dialogue. Human relations are thus revealed to be reduced to a trade, a negotiation, in which everyone is trying to subjugate the other.« Hélène Picard, Two Days, One Night and The Measure of a Man Subjective struggles in the contemporary world of work: Fighting for what?, in: M@n@gement 19 (2016/2), S. 133–139, hier S. 135. 49 Vgl. Ken Loach, I, Daniel Blake, 2016.

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er daher Engagement beweisen müsse, um herauszustechen. An Engagement mangelt es Dan jedoch nicht, nur an den neuen skills: Während es bei Brizés Protagonisten um die Modellierung seines Auftritts, seiner Ausstrahlung und Affekte, und damit um ›commitment‹ und ›Glaubwürdigkeit‹ ging, wird von Loachs Figur zwar auch ein Einstellungswandel gefordert, insofern er mehr Demut vor den Behörden zeigen solle.50 Hauptsächlich aber mangelt es ihm an Computerkenntnissen, scheitert er schon daran, einen Antrag auf der Homepage des Jobcenters online auszufüllen und missachtet darüber hinaus die formalen Gepflogenheiten der Selbstdarstellung: Dass er mit seinem bleistiftgeschriebenen Lebenslauf in verschiedenen Werkstätten (sogar erfolgreich) vorgesprochen hat, hält die Sachbearbeiterin des Jobcenters für eine Provokation und ahndet das unprofessionelle Verhalten mit einem Leistungsentzug. Dan ist bereit, alles zu verlieren, außer seine Selbstachtung, worin er Thierry ähnelt. Einen kurzen Moment als Working-Class-Hero51 darf er feiern, nachdem er die Außenwand der Behörde mit einem Protestspruch besprayt hat und dafür Applaus und Anerkennung von Passanten bekommt. Als ihm endlich die Anhörung gewährt wird, erleidet er in der Behörde einen weiteren Herzinfarkt und stirbt. Eine junge arbeitslose, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, für die sich Dan beim Amt couragiert eingesetzt und die er auch privat väterlich versorgt hat, verliest beim Armenbegräbnis seinen vorbereiteten Widerruf; er sei kein Klient, kein Kunde, keine Nummer, kein Hund, sondern Bürger, der stets seine Abgaben gezahlt und seinen Nächsten geholfen habe. ›Hilfe‹ ist genau das, was ihm vonseiten des Sozialstaats verwehrt wurde; der ›Systemfehler‹ einer kafkaeske Züge tragenden Bürokratie, die fehlgeschlagene Kommunikation von Gesundheitswesen und Sozialamt, hat ihn das Leben gekostet.

II.2.3 Silvio Soldinis »Giorni e Nuvole« (2007) Silvio Soldini inszeniert in seinem 2007 erschienenen Film »Giorni e Nuvole«52, in dem er ebenfalls die Handkamera für den Realitätseffekt einsetzt, das Thema Arbeitslosigkeit als Krise des Ideals vom Mann als Alleinversorger der Familie.53

50 Die Anforderungen an den neuen Arbeitnehmer, der sich zum Marketing für seine Ich-AG verpflichtet und auch unqualifizierte Ein-Euro-Jobs »hoch identifiziert« angehen soll, werden ausführlich beschrieben in: Alexander Meschnig u. a. (Hg.), Arbeit als Lebensstil, Frankfurt a. M. 2003, vgl. hier bereits das Vorwort: S. 8. 51 Das Portal Filmdienst sieht Parallelen in der Leidensgeschichte des Handwerkers Dan zu der des Zimmermanns Jesus. Vgl. https://www.filmdienst.de/film/details/548117/ich-daniel-blake [30.03.18]. 52 Vgl. Silvio Soldini, Giorni e Nuvole, Lumière & Co., Amka Films e RTSI / Warner Home Video 2007. Zu Deutsch »Tage und Wolken«. 53 Vgl. Paolo Chirumbolo, Acrobati senza rete: Lavoro e identità maschile nel cinema di G. M. Tavarelli e M. Soldini, in: NEMLA Italian Studies 31, S. 1–24, hier S. 1.

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Protagonist Michele Olivieri, ehemaliger Produktionsleiter einer Schiffswerft in Genua, wurde von seinen Kollegen aus der Geschäftsführung gedrängt, da er sich gegen Restrukturierungsmaßnahmen zu Wehr gesetzt hatte, die das Outsourcing der Produktion ins Ausland und die Streichung von Arbeitsplätzen langjähriger, ansässiger Angestellter vorsahen. Spielen Werte wie Treue und Loyalität zu Mitarbeitern für Michele noch eine Rolle, atmen seine Kollegen bereits den ›Geist des neuen Kapitalismus‹, der flexible Vertragsformen gegenüber dauerhaften vorzieht.54 Ganze zwei Monate verheimlicht er seine Arbeitslosigkeit vor seiner Frau Elsa, damit diese in Ruhe ihr Kunstgeschichtsstudium beenden kann. Die Wahrheit trifft Elsa dann umso härter, als ihr bewusst wird, wie viel Geld sie in der Zwischenzeit verschleudert haben. Die schicke Wohnung im Zentrum Genuas muss verkauft werden, da Michele eine Hypothek zur Kapitalerhöhung der Firma aufgenommen hatte, auch von dem Boot und der ganztags eingestellten Haushaltshilfe müssen sie sich trennen. Der demente Vater wird in ein preiswerteres Doppelzimmer im Heim verlegt, die Eheleute beziehen ein kleines Apartment in einem Wohnblock in der Peripherie. Der Verlust des bürgerlichen Status und vor allem der verletzte Stolz Micheles stellen die Beziehung auf die Probe. Während ihm auf dem Amt dazu geraten wird, sich als ehemalige Führungskraft nicht unter seinem Wert zu verkaufen und ihm Mut gemacht wird, dass Berufstätige mit Erfahrung doch verstärkt gefragt sind, passt sich Elsa – deren Lebensabschnitt als Studentin soeben geendet hat – schneller und flexibler an die prekäre Lebensrealität an und nimmt sogleich einen Job im Callcenter an. Später verzichtet sie auch auf ihre ehrenamtliche Tätigkeit als Restaurateurin und arbeitet bis in die Nacht als Sekretärin. Michele, emotional verletzt und blockiert, hat Anpassungsschwierigkeiten. Als ihm klar wird, dass er nicht in höhere Positionen quereinsteigen kann, nimmt er kleine Aufträge als Kurier und Tapezierer an. Die Wut gegenüber den Entscheidungen seiner Kollegen überwiegt den Willen zur Unterordnung, daher kann Michele auch nicht in seine alte Firma zurückfinden. Als Michele heimlich Teile aus der Kunstsammlung Elsas verkauft, um Geld für das Pflegeheim aufbringen zu können, und Elsa das Fehlen der Objekte bemerkt, verliert sie die Achtung vor ihrem Mann. Elsa leidet unter dem Druck als Alleinversorgerin und macht Michele Vorwürfe, er würde nicht genug dafür tun, eine seiner Qualifikation entsprechende Arbeit zu finden. Michele nimmt sich dafür aber Zeit für seinen Vater im Heim sowie für seine Tochter, von der er Anerkennung erhält, weil er ihr bei der Buchhaltung in ihrem Restaurant behilflich sein kann. Elsa holt sich wiederum Bestätigung bei ihrem neuen heiteren und erfolgreichen Chef und lässt sich verführen. In der letzten Einstellung zoomt die Kamera aus einer Kapelle heraus, wir sehen Elsa auf dem Boden liegen, wie sie das Fresko, das von ihren Kolleginnen freigelegt wurde, betrachtet, Michele liegt neben ihr und lehnt seinen Kopf an ihre Schulter. Das Dominanzverhältnis hat sich gewandelt. Michele gesteht Elsa 54 Vgl. ebd., S. 15.

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seine emotionale und finanzielle Abhängigkeit und beide beschließen, gemeinsam von vorne anzufangen.

II.2.4 Annette Pehnts »Mobbing« (2007) Annette Pehnts autobiographischer Roman »Mobbing« (2007)55 wird aus der Perspektive der zweifachen Mutter und Ehefrau des entlassenen Stadtverwaltungsangestellten Joachim Rühler erzählt. Das Besondere an dieser Erzählhaltung ist, dass das titelgebende Leidensschicksal der Figur Joachim, das Mobbing, und später die zermürbende Erfahrung des Jobverlusts zwar von einer reflektierten und aufmerksamen Erzählinstanz geschildert wird, diese aber auf die vage Berichterstattung von Joachim angewiesen ist, der seine eigene Lage und die Beziehung zu seinen Kollegen kaum richtig einzuschätzen weiß. Unter Mobbing fasst Joachim unter anderem die Entziehung eines von ihm langjährig erfolgreich geführten Projekts sowie die Verdrehung von Tatsachen zu seinen Ungunsten; so wird ihm die Aufbewahrung einer Kassette mit Abrechnungsgeldern in seinem Schreibtisch als Unterschlagung ausgelegt, obwohl er kein Geld entwendet hat. Letztlich sprechen sich seine beiden Kollegen in einem offenen Brief auch explizit für die Entlassung Joachims aus. Die Ich-Erzählerin ist darum bemüht, ihr Vertrauen in den eigenen Mann nicht zu verlieren, den Auslöser für den Streit mit den Kollegen und das anschließende Mobbing kann sie jedoch nicht nachvollziehen: Als Joachim vor den Kollegen die Äußerung fallen lässt, er sei unausgelastet und möge keine ›Sekretärinnenarbeit‹ verrichten, ist die weibliche Kollegin aufgrund der vermeintlich diskriminierenden Bemerkung gegenüber Frauentätigkeiten beleidigt. Joachim sieht seinen Fehler nicht ein und entschuldigt sich nicht. Seine Frau macht ihm dafür Vorwürfe: »Ich: Warum warst du so stur. Er: Stur nennst du das. Ich: Warum konntest du nicht ablassen. Er: Du meinst, klein beigeben. Ich: Nein, ablassen. Für dich gibt es nur schwarz oder weiß. Er: Farbe bekennen. Ich: Der Klügere gibt nach. Er: Der Duckmäuser gibt nach. Ich: Der, der überleben will, gibt nach. Er: Der Mitläufer gibt nach. Der Arschkriecher gibt nach. Das sind Faschisten. Protofaschisten.

55 Vgl. Annette Pehnt, Mobbing, München 32008. Matthies hat dem Roman ebenfalls ein aus-

führliches Analysekapitel gewidmet, vgl. Matthies, Spielbälle, S. 120 ff.

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Ich: Und jetzt? … Jetzt bist du draußen. Und die Arschkriecher sind drinnen. … Du hast uns den Boden unter den Füßen entzogen, sage ich. Du bist stolz und gerecht geblieben, tapfer und ehrlich. Und wir stehen auf der Straße.«56

Der Streit der Eheleute pointiert die Verhaltensmöglichkeiten zwischen Souveränität und Unterwerfung; die Sicherung existentieller Bedürfnisse erscheint der Frau wichtiger als Recht und Wahrheit, für die Joachim einzutreten glaubt. Statt sich zu solidarisieren, eruiert die Frau, zwischen Anteilnahme und Vorwürfen pendelnd, die Umstände von Joachims Fehltritten, um die Schuldfrage zu klären. Nach den Auseinandersetzungen vermag allein das sorgenlose Spiel mit den beiden Kleinkindern die Eltern wieder zu erden, die Ehekrise wird durch den Fokus auf die Integrität der Familie zeitweilig eingedämmt. Die Arbeitslosigkeit erscheint zunächst als eine Phase von beschränkter Dauer, die dem anfangs noch kämpferisch auftretenden Familienvater, in dessen Redeweise sich die Metaphorik des ›Kampfes‹, den er als ›Krieger‹ zu führen hat, einschleicht, die Gelegenheit geben könnte, sich wieder mehr mit den Kindern zu beschäftigen oder Hobbies zu kultivieren. Bald registriert die Ich-Erzählerin jedoch, wie eine »Verlotterung«57 einsetzt, Joachim nur schwerlich aus dem Bett kommt und in Untätigkeit und Schwermut versinkt. Die Schikane wird auch nach der beim Arbeitsgericht juristisch erkämpften ›Wiederherstellung der Ordnung‹58 fortgeführt: Joachim wird wiedereingestellt, muss allerdings Tätigkeiten, für die er nicht qualifiziert ist, in einem provisorischen Container vor der Stadtverwaltung unter unwürdigen Bedingungen, was Raumklima und Ausstattung betrifft, verrichten, worauf er mit psychosomatischen Erkrankungen wie Dauermüdigkeit und Schlafunregelmäßigkeiten, die bald auch seine Frau anstecken, reagiert. Joachim nimmt sich vor, den Rechtsstreit fortzuführen, bis ihm die Anerkennung zuteilwird, die ihm seines Erachtens zusteht. Der Ausgang bleibt für den Leser ungewiss.

III. Fazit Bevor ein abschließender Vergleich erfolgt, ist zunächst festzuhalten, dass sich eine Analyse unter dem Aspekt ›Arbeit‹ nicht bei jedem der vorgestellten Werke sogleich als schlüssig erweist; so stechen vor allem Dave Eggers »The Circle« und Frédéric Beigbeders »99 francs« (sowie die Verfilmungen der beiden Werke) heraus und lassen sich nicht als ›reine Arbeitsrepräsentationen‹ lesen. In Eggers Dystopie und Beigbeders postmoderner Autofiktion geht es um Formen totaler 56 Vgl. Pehnt, Mobbing, S. 77 f. 57 Vgl., ebd. S. 22. 58 Matthies zieht eine Parallele zum Kleist’schen Drama und spricht von einem »Kohl-

haas’sche[n] Kampf um die gerechte Ordnung«. Vgl. Matthies, Spielbälle, S. 127.

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Herrschaft, bei Eggers um die Kontrollfunktionen neuer Computertechnologien, bei Beigbeder um die Propagandafunktionen der Werbung, beides Instrumente, die über visuelle Kanäle, Bildverarbeitung und -transmission, operieren und von privaten Firmen für ökonomische Zwecke eingesetzt werden. In beiden Fällen sind die Protagonisten Opfer der Subjektivierung durch ihre Arbeit und agieren zugleich als Täter, da sie zu obsessiven Experten auf ihrem Tätigkeitsfeld avancieren und dabei sogar den Verlust von Menschenleben in Kauf nehmen. Doch nicht nur Mae Holland und Octave Parango stellen moralisch zweifelhafte Figuren dar; auch Marco Pressi fügt sich emsig den Anforderungen der leitenden Managerriege, wodurch er letztlich nicht nur seine ehemaligen Kollegen, sondern auch sich selbst in die Arbeitslosigkeit befördert. Da die eigene materielle Existenzsicherung Priorität hat, wird über Handlungsalternativen und soziale Verantwortung nicht reflektiert. Rainer Merkels Protagonist schadet zwar niemandem, beutet sich aber konstant selbst aus, da er das Ziel der Personalführung, mit stimulierenden Methoden und subtilen Kontrollformen ein schuldiges, gehorsames und ehrgeiziges Arbeitssubjekt zu kreieren, das sich selbst führt, nicht durchschaut. Der Topos der Internalisierung einer heteronomen Ordnung dominiert damit nicht nur in Eggers Roman, auch bei Merkel finden sich, wie gezeigt wurde, auf mehreren Ebenen semantische Bezugspunkte zu gouvernementalen und panoptischen Strukturen. Wiewohl der Leser, beziehungsweise der Zuschauer womöglich nicht mit den Protagonisten der ersten Kategorie sympathisiert, laden die Werke zu einer Identifikation ein; fast wird der Rezipient auf dieselbe unkritische Bewusstseinsebene der Akteure gezogen, die einzig an ihrem eigenen Erfolg interessiert sind, der auch zum Anliegen des Lesers / des Zuschauers und damit zu einem ambivalenten Vergnügen wird: Wir freuen uns (wie über das Gelingen eines Bankraubs in einem Gangsterfilm), dass Marco Pressi zum Schluss die Managerriege austrickst und durch die Vorlage seiner eigenen Kündigung zu seinem Bonus kommt, wir solidarisieren uns nicht mit den Opfern der fusionsbedingten Kündigungsmaßnahme, wiewohl uns klar ist, dass Pressi die Ideale, die er zuvor gepredigt hat, verraten hat und Wertschätzung nicht mit fristlosen Kündigungen verbinden kann; wir hoffen, dass sich Mae Holland im digitalen Dschungel durchsetzen kann und nicht unter der Bürde der Selbstausleuchtung zusammenbricht, zugleich wünschen wir, dass sie zu einer Widerstandsfigur à la Winston Smith aus Orwells »1984« avancieren möge, und wundern uns, warum kein kritischer Gedanke ihren Bewusstseinshorizont durchkreuzt. Dass wir durch die interne Fokalisierung als Leser gegebenenfalls mehr wissen, als die Figuren selbst, also im Gegensatz zu Christian Schlier die Anspielungen auf Foucault in Beziehung zu seinem internalisiertem Leistungsdruck setzen können, während er sein Verhalten nicht reflektiert, und wir mit unseren Vorbehalten gegenüber dem »gläsernen Bürger« Mae Hollands naiver Verstrickung verständnislos gegenüberstehen, spricht für ein gewisses Raffinesse der Romane, deren Figuren als Negativfolien fungieren; konfrontiert mit ihrem Konformismus, ihrer Anpassungsleistung an die beruflichen

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Anforderungen, können wir ex negativo eine Kritik an den Strukturen unserer zeitgenössischen Arbeitswelt und ihren Subjektivierungsstrategien schälen. Auf der Ebene der Figurenkonzeption lassen sich weitere Gemeinsamkeiten in den Narrativen der ersten Kategorie finden: Marco Pressi, Christian Schlier, Mae Holland und Octave Parango sind allesamt Einzelkämpfer im Alter zwischen 25 und 35 und pflegen neben der Arbeit kein sinnerfülltes Privatleben; auch wenn Octave und Pressi zu Beginn der Handlung noch Partnerinnen haben, kommt es im Verlauf zu einer Trennung, bei Pressi, weil der Druck auf der Arbeit ihn emotional aushöhlt und er aufgrund mangelnder Planungssicherheit keine anspruchsvolle Bindung eingehen kann, bei Octave, weil er in der Vaterrolle seinen gewohnten verantwortungslosen, hedonistischen Lebensstil aufgeben müsste. Durchleben die Protagonisten in den Romanen Lollis, Merkels und Eggers keine Entwicklung und suggerieren die Enden, dass ihre Bereitschaft zur Anpassung an jedwede Bedingungen der Erwerbsarbeit nach wie vor ungebrochen ist – das Stehaufmännchen Pressi ist nach dem Kündigungsmarathon, der ihn seine Seelenruhe und seinen guten Ruf als kollegialer Mitarbeiter gekostet hat, gleich wieder bereit, sich neuen Anforderungen zu stellen (»ich muss arbeiten«), Mae Holland und Christian Schlier internalisieren perfekt die Leitlinien des Internetkonzerns beziehungsweise der Werbeagentur und stellen ihre ganze Person in den Dienst der Firmen – bildet sich bei dem Protagonisten in Beigbeders Roman ein kritisches Bewusstsein aus, das ihn zu einem Gegenschlag gegen die Welt der Werbung und zum Ausbruch aus den gewohnten Wahrnehmungsstrukturen veranlasst, wobei ungeklärt bleibt, ob es sich letzten Endes nur um eine Wunschvorstellung des Protagonisten handelt und er ebenfalls wie die anderen einer heteronomen Ordnung, jener der Werbung, unterliegt. Während Pressi, Schlier und Mae die Sprache der Anderen adaptieren, automatisierte Floskeln (Pressi) gebrauchen, den Tonfall von Kollegen imitieren (Schlier) oder ihre Rede, die für ein öffentliches Publikum bestimmt ist (Mae), zensieren, beziehungsweise an die Leitlinien der Unternehmenskultur anpassen, spricht Octave zwar auch die Sprache der Werbung, vermag ihre Regeln aber auch in seinem Protest-Werbespot gegen die eigene Branche umzukehren (in Ponsoldts Verfilmung spielt Mae das Transparenzideal schließlich auch gegen die Firmenchefs aus) und beweist damit einen gewissen Grad an Autonomie, die natürlich durch das Filmende wieder als unzureichend dekonstruiert wird, da die Grenzen des Werbekosmos nicht durchbrochen werden können. Haben die ersten Werke (obwohl drei von ihnen autobiographisch inspiriert wurden), einen hohen Fiktionsgehalt und Unterhaltungswert, weisen die Werke der zweiten Kategorie, insbesondere der reportageartig inszenierte Spielfilm Brizés und das im naturalistischen Stil gedrehte Sozialdrama Loachs, einen höheren Realismusgrad auf und evozieren Mitgefühl und Betroffenheit beim Zuschauer beziehungsweise Leser: Die Wahl von Originalschauplätzen und Laiendarstellern erinnert an Filme des italienischen Neorealismus der 1950er Jahre wie »Ladri di biciclette« (»Fahrraddiebe«) oder »Umberto D.« von Vittorio de Sica, in de-

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nen ebenfalls das Thema Arbeitslosigkeit verhandelt wird. Anders als vor knapp 70 Jahren rückt in den aktuellen Werken die Rolle des Sozialstaats verstärkt in den Vordergrund: In den Sozialämtern herrschen Missstände, die Sachbearbeiter sind desinformiert (Thierrys falsch zugewiesene Umschulung) oder zeichnen sich als gnadenlose Bürokraten (Dans Antrag auf Widerspruch) aus, die von ihren Kunden Flexibilität und Engagement verlangen, aber selbst nur unflexibel auf die individuellen Ansprüche der Bittsteller reagieren können.59 Die Maßnahmen, denen sich die beiden Protagonisten Thierry und Dan unterziehen müssen, und die Leistungen, die ihnen abverlangt werden, um selbst Anspruch auf Sozialleistungen zu haben, werden von den Protagonisten als Schikane erlebt. Während Loach in seiner Milieustudie das Bild des authentischen, sozial engagierten Arbeitslosen zeichnet, ist diese Figurenkonzeption auch zum Teil bei den Narrativen der zweiten Kategorie angelegt, da die Männer als verantwortungsbewusste, moralische Väter und Ehemänner in einen warmen familiären Beziehungszusammenhang eingelassen sind, was wiederum Identifikationspotentiale birgt. Während Frau und Kind in Brizés Film eine untergeordnete Rolle spielen, jedoch eine verlässliche Konstante im Leben von Thierry darstellen, und bei Loach die Frauenfigur mit ihren Kindern, zumal ihr Schicksal den Parallelstrang des Plots darstellt, in einem wechselseitigen Solidaritätsverhältnis zu der männlichen Hauptfigur Dan stehen, beleuchten Soldinis Film und auch Annette Pehnts Roman verstärkt die Destabilisierung des vormals durch den männlichen Ernährer aufrechtgehaltenen familiären Nukleus sowie die Perspektive der durch den Jobverlust des Mannes betroffenen Frau. In »Mobbing« und »Giorni e Nuvole« wird darüber hinaus gezeigt, dass gerade auch die Ursachen für den Verlust der Arbeit – in beiden Fällen waren es die Kollegen, die die Hauptfigur ausgebootet haben, während Brizés Protagonist durch eine Rationalisierungsmaßnahme, Loachs Protagonist aufgrund seines Herzleidens in die Arbeitslosigkeit gedrängt wurden – das Selbstvertrauen schwächen und einen Neuanfang erschweren, zumal die Angehörigen den Betroffenen eine Mitschuld, wenn nicht gar die Hauptschuld für ihr Schicksal geben. Zögert ein Charakter wie Marco Pressi kaum, sich zum Herrn über das Schicksal seiner Kollegen zu machen und ihnen ihre Lebensgrundlage zu entziehen, vermag Thierry seine Spitzel- und Denunziationstätigkeit nicht weiter auszuführen, auch wenn es für ihn, so mag der Zuschauer den Film weiterspinnen, wieder den Schritt zurück in die Arbeitslosigkeit bedeutet. Darin liegt nun die Tragik der Figuren der zweiten Kategorie; ihre charakterliche Stärke, ihr moralisches Rückgrat kann ihnen auch als Unfähigkeit oder mangelnde Anpassungsfähigkeit und Starrköpfigkeit ausgelegt werden. Während Joachim nun seinen individuellen Kohlhaas’schen Kampf für Gerechtigkeit im Privaten führt, macht Daniel Blake mit seiner Protestaktion vor der Behörde sein 59 In Loachs Film gibt es allerdings auch eine barmherzige Sachbearbeiterin, die Dans Ver-

zweiflung bemerkt und ihm zur Hand geht, wofür sie von der Chefin gerügt wird, da sie keine Sonderbehandlungen vornehmen darf.

404 Cora Rok

Einzelschicksal zu einem öffentlichen Politikum. Die Zukunft des arbeitenden Menschen scheint durch neoliberale Regierungsformen zu einem »Problem der Selbstsorge«60 geworden zu sein, sozialstaatliche Interventionen stehen auf dem Prüfstand. Ist das individualisierte, entsolidarisierte Arbeitssubjekt für den eigenen beruflichen Erfolg voll verantwortlich, muss es sich auch die Schuld für sein Scheitern geben.61 Die Verpflichtung zu Autonomie und dauerhaftem Engagement, so stellt Alain Ehrenberg bereits 1998 fest, kann allerdings zu Überforderung, Erschöpfung und Depression führen.62 Die Auswirkungen des Verlustes von Arbeit auf die körperliche und seelische Gesundheit und das Sozialleben, die sich in der Bedrohung der familiären und personalen Integrität, als Ehekrise und Verlust von Selbstwertgefühl und Unternehmergeist, ausdrückt, rücken in den Narrativen der zweiten Kategorie ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zwar scheinen die jungen, lernfähigen und opportunistischen Protagonisten der ersten vier Beispiele, die im Gegenzug zur älteren Generation bestens mit den neuen technologischen Medien vertraut sind, auf den ersten Blick als »fittest« den Kampf ums Überleben auf dem Arbeitsmarkt zu gewinnen, doch können auch die vermeintlich Erfolgreichen zu verspäteten Verlierern werden. In flexiblen Zeiten ist erstens nichts von langer Dauer, zweitens sind die Figuren emotional prekär und scheitern somit auf einer zwischenmenschlichen, privaten Ebene. Die Figuren beider Kategorien weisen Entfremdungsanzeichen auf, in den vier ersten Beispielen in Form von Selbstverlust durch Konformismus sowie mangelnde Sozialität und Solidarität, in letzteren in Form von Armut, gesellschaftlicher Marginalisierung und Selbstverlust durch den Mangel an beruflicher Anerkennung. Gemeinsam ist den gewählten Beispielen die Idee, dass Arbeit und Subjektivität aufs Engste verbunden sind; der Kampf um Arbeit wird zu einem Kampf um personale Integrität.

60 Thomas Lemke, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: Politische Vierteljahresschrift 41/1 (2000), S. 31–47, hier S. 38. Bereits Seneca erteilt in seinen Epistulae morales ad Lucilium den Rat zur »cura sui«, zu einer Selbstsorge als bewusstem Umgang mit sich zur erfolgreichen Lebensführung. Lemke bemerkt allerdings, dass das Individuum gegenwärtig Verantwortung auch für gesellschaftliche Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut zu tragen hat. 61 Vgl. hierzu Cornelia Koppetsch, Zur Privatisierung des Erfolgs. Diskretion und Herrschaftswissen in modernen Arbeitswelten, in: Kornelia Hahn (Hg.), Soziologie des Privaten, Wiesbaden 2011, S. 183–200, hier S. 194. Koppetsch verweist aber zugleich auch auf den Trugschluss des individuellen Geschicks als Garantie für Erfolg, der bisweilen auch von der Anpassungsfähigkeit an Teams abhängt. 62 Vgl. Alain Ehrenberg, La Fatigue d’être soi. Dépression et société, Paris 1998.

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Christopher Banditt hat an der Universität Potsdam Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Volkswirtschaftslehre studiert. Derzeit ist er als Doktorand am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam beschäftigt und wird durch ein Promotionsstipendium der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie historischen Sozialforschung. Aktuelle Publikationen: Das »Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder« in der Verfassungsdiskussion der Wiedervereinigung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Deutschland Archiv 2014, Bonn 2015, S. 45–59; Die gescheiterte Bürgerverfassung, in: Horch und Guck 25 (2016), 1–2, S. 88–91; Quantitative Erforschung der ostdeutschen Transformationsgeschichte, in: Zeitgeschichte-online (2019), URL: https://zeitgeschichte-online.de/thema/quantitative-erforschung-der-ostdeut schen-transformationsgeschichte.

Benedikt Brunner arbeitet derzeit am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Forschungsinteressen: Kirchliche Zeitgeschichte in Ost- und Westdeutschland, Kirchen- und Theologiegeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa sowie die Nordamerikanische Religionsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Vom reichen Christen und dem armen Lazarus. Die Auseinandersetzungen mit Sozialismus- und Marxismusideen in der protestantischen Sozialethik nach 1945, in: Matthias Casper u. a. (Hg.), Kapitalismuskritik im Christentum –Positionen und Diskurse in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2016, S. 237–275; Kirche für andere – Kirche für die Welt. Hunger und Armut als Katalysatoren des Wandels westdeutscher Kirchenkonzepte, in: Andreas Holzem (Hg.), Wenn Hunger droht. Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1980), Tübingen 2017, S. 255–273;

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Helmut Gollwitzer – theologische Virtuosität zwischen Christen- und Bürgergemeinde, in: Christine Aka / Dagmar Hänel (Hg.), Prediger, Charismatiker, Berufene. Rolle und Einfluss religiöser Virtuosen, Münster 2018, S. 185–200.

Marcus Böick lehrt als Akademischer Rat a. Z. Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die deutsche und europäische Zeit- und Wirtschaftsgeschichte. Zuletzt erscheinen seine Dissertation Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018, die BMWi-Studie zur Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt, Bochum 2017 sowie ein Themenheft der Zeithistorischen Forschungen zur »Vermarktlichung« (2015). Demnächst erscheinen ein Sammelband zur Organisationsgeschichte im 21. Jahrhundert (Hg., zus. mit Marcel Schmeer) sowie eine Quellenedition zu Benjamin B. Ferencz (Hg., zus. mit Constantin Goschler und Julia Reus). Derzeit arbeitet er an einem Projekt zur Geschichte zu privater Sicherheit in Unternehmen, Technologien und Selbstpraktiken im 20. Jahrhundert.

Almuth Ebke ist akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim. Zu ihren Interessen- und Forschungsgebieten gehören Ideengeschichte, britische Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte sowie die Geschichte anglo-amerikanischer Kulturwissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Britishness. Die Debatte über nationale Identität in Großbritannien. 1967 bis 2008, Berlin/Boston 2019; The Party is over? Britische Wirtschaftspolitik und das Narrativ des »Decline«, Frankfurt a. M. 2012; The decline of the mining industry and the debate about Britishness of the 1990s and early 2000s, in: Contemporary British History 32 (2018), 1, S. 121–141; From »bloody Brixton« to »burning Britain«: Placing the riots of 1981 in British post-imperial history, in: Knud Andresen / Bart van der Stehen (Hg.), A European youth revolt: European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, Houndmills u. a. 2015, S. 258–270.

Markus Goldbeck ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II am Historischen Seminar der WWU Münster. Forschungen u. a. zur Zeitgeschichte des geteilten Deutschlands und zur Organisations- und Kulturgeschichte der BStU. Ausgewählte Publikationen: Vergangenheit als politische Ressource. Das Beispiel der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) im Kontext der ›Stasi-Debatte‹, in: Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 213–224; Reli-

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gion, in: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 172–185 (gem. mit Thomas Großbölting); Die Ambivalenz staatlicher Förderung: Eine Chance für die DDR-Forschung oder »gefährliche Abhängigkeit«?, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2014), S. 1–16.

Cornelia Koppetsch ist seit 2009 Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie und promovierte in Soziologie bei Martin Kohli und Wolf Lepenies am Graduiertenkolleg »Gesellschaftsvergleich« der Freien Universität Berlin. Weitere wissenschaftliche Stationen waren die University of Chicago, die Universität Jena und die Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialen Ungleichheiten, der Geschlechterverhältnisse in Paarbeziehungen, der Biografieforschung sowie des Aufstiegs der neuen Rechtsparteien. Sie hat zahlreiche Publikationen zum Thema des Sammelbandes vorgelegt, etwa: Die Wiederkehr der Konformität, Frankfurt a. M./New York 2013, zuletzt: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld 2019.

Massimiliano Livi ist seit 2016 als Privatdozent für westeuropäische Geschichte an der Universität Trier sowie im Jahr 2019 als UniGR-CBS Chair in Border Studies tätig. Aktuell liegen seine Forschungsschwerpunkte in der historischen Erforschung von sozialen und kulturellen Trends seit den 1980er Jahren und ihren Auswirkungen auf Politik, Religion und Gesellschaft. Jüngere Publikationen: Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014 (Hg., gem. mit Thomas Großbölting und Carlo Spagnolo); Neotribalismus als Metapher und Modell. Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse emotionaler und ästhetischer Vergemeinschaftung in posttraditionalen Gesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 365–390.

Christoph Lorke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Aktuell arbeitet er an einer Studie zur Geschichte binationaler und interkultureller Eheschließungen in Deutschland zwischen 1870 und 1945. Seine weiteren Forschungsschwerpunkte sind die Kultur- und Sozialgeschichte der Armut, die Geschichte der Sozialen Ungleichheit und die Verflechtungsgeschichte im geteilten Deutschland. Die wichtigsten Publikationen aus diesem Zusammenhang sind: Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Rand-

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lagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M./New York 2015; »Unten« im geteilten Deutschland: Diskursive Konstruktionen und symbolische Anordnungen in Bundesrepublik und DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), 10, S. 11–17; Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M./New York, 2016 (Hg., gem. mit Eva Gajek).

Ursula Nothelle­Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Soziale Gerechtigkeit und Sozialstaat; Freiburger Schule und christliche Gesellschaftslehre, Digitalisierung und ihre Herausforderungen, (christliche) Religion in der Öffentlichkeit. Jüngste Veröffentlichungen: Grundelemente einer christlichen Schöpfungskonzeption im Ausgang von der Enzyklika Laudato si, in: Klaus Krämer / Klaus Vellguth (Hg.), Schöpfung. Miteinander leben im gemeinsamen Haus Freiburg 2017, S. 148–168; Digitalisierung – Globalisierung. Arbeit 4.0 im Kontext der Sozialen Marktwirtschaft, in: Theologie der Gegenwart 61 (2018), 3, S. 209–220; Ordnung – Freiheit – Gerechtigkeit. Historische und systematische Bemerkungen zur Kompatibilität von Neoliberalismus und Katholischer Soziallehre, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 17 (2016), 3, S. 403–422.

Jörg Roesler Seine letzte Arbeitsstelle war von 1992 bis 1995 am heutigen Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Nach Arbeitslosigkeit und ABM ab 1999 freischaffender Wirtschaftshistoriker. 1992, 1994/95 und 2006 Gastprofessuren in Montreal, Toronto (Kanada) und Portland/Oregon (USA). Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Sozialgeschichte der DDR und der Bundesrepublik sowie Geschichte der Wirtschaftsbeziehungen beider Staaten, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der neuen Bundesländer, Transformationsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft der DDR, Berlin 1978; Aufholen ohne Einzuholen. Ostdeutschlands rastloser Wettlauf 1965–2015. Ein ökonomischer Abriss, Berlin 2016; Geschichte der DDR, Köln 42018.

Cora Rok ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klassische und Romanische Philologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 2019 Promotion über ›Formen der Entfremdung in italienischen Arbeitsnarrativen des 21. Jahrhunderts‹. Forschungsinteressen: Literarische und filmische Arbeitsrepräsentationen; Italienische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts; Filmtheorie/Lite-

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raturverfilmungen. Ausgewählte Publikationen: Wozu Literatur(-Wissenschaft)? Methoden, Funktionen, Perspektiven, Göttingen 2019 (Hg., gem. mit Andreas Haarmann); Das Wirkungspotential der Montage untersucht anhand der Analogie des Filmschnitts zum Lidschlag, in: Marco Meli (Hg.), Le norme stabilite e infrante. Saggi italo-tedeschi in prospettiva linguistica, letteraria e interculturale, Firenze 2018, S. 105–123; Motivationsmeetings, Casual Fridays und Eigenevaluationen – (Selbst-)Entfremdung in literarischen Arbeitsrepräsentationen der italienischen und deutschen Gegenwartsliteratur, in: Knud Andresen u. a. (Hg.), Repräsentationen der Arbeit. Bilder – Erzählungen – Darstellungen, Bonn 2018, S. 109–127.

Ilona Ostner Soziologin, zuletzt Professur für Vergleichende Sozialpolitik, Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen. Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechterpolitik im Wohlfahrtsstaat, Familienpolitik im Vergleich, Arbeit und Sozialpolitik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Triggers and Drivers of Change in Framing Parenting Support in North-Western Europe, in: Guᵭný Björk Eydal / Tine Rostgaard (Hg.), Handbook of Family Policy, Cheltenham 2018, S. 152–166 (gem. mit Trudie Knijn und Claude Martin); Parents in the Spotlight. Parenting Practices and Support from a Comparative Perspective, Journal of Family Research / Zeitschrift für Familienforschung, Special Issue 11 (2016/2017) (Hg., gem. mit Tanja Betz und Michael-Sebastian Honig); Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Frankreich. Historisch-soziologische Annäherung an einen Sonderfall, in: Karl Gabriel u. a. (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen 2013, S. 141–175 (gem. mit Matthias Koenig).

Friedrun Quaas ist an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig tätig. Forschungsschwerpunkte: Ökonomische Ideengeschichte, Ordnungsökonomik und Soziale Marktwirtschaft, Evolutorische Ökonomik. Publikationen zum Thema: Der spezifische Liberalismus von Hayek im Spektrum des Neoliberalismus, Working Paper No. 158, Universität Leipzig, Wirtschaftswissenschaftliche Universität (2019), https://www.wifa.uni-leipzig.de/de/forschung/arbeitspapiere. html#c64375; Die Österreichische Schule der Nationalökonomie. Darstellung, Kritiken und Alternativen, Marburg 2013 (gem. mit Georg Quaas); Soziale Marktwirtschaft – riskante Ordnung oder stilsichere Integrationsformel?, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit. Die moralischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 139–158

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Rüdiger Schmidt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II am Historischen Seminar der WWU Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, Deutsche Zeitgeschichte, Geschichte der neuzeitlichen Stadt und Urbanisierung. Neuere Veröffentlichungen: Gedachte Stadt – Gebaute Stadt. Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945–1990, Köln u. a. 2015 (Hg., gem. mit Thomas Großbölting); Kein Zeitalter der Extreme. Die Mitte als gesellschaftliches Leitbild in der Bundesrepublik, in: Eva M. Gajek / Christoph Lorke (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier: Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M./New York 2016, S. 85–100; Die ökonomische Seite der Freiheit. Die Bürgerrechtsbewegung und das »Volkseigentum«, in: Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart 2017, S. 119–139; »Wer ist denn eigentlich Bürger?«. Der Wandel der SPD zur Volkspartei nach 1945, in: Stefano Cavazza / Thomas Großbölting / Christian Jansen (Hg.), Massenparteien im 20. Jahrhundert. Christ- und Sozialdemokraten, Kommunisten und Faschisten in Deutschland und Italien, Stuttgart 2018, S. 199–214.

Lisa Suckert ist Senior Researcher am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Die französische (Wirtschafts-)Soziologie bildet einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt ihrer Forschungsarbeiten, in denen sie sich mit Märkten und Organisationen, Kapitalismus und Nachhaltigkeit auseinandersetzt. Aktuell beschäftigt sie sich mit der Rolle von Zukunftsvorstellungen in ökonomischen und politischen Krisen. Neueste Publikationen: Der Brexit und die ökonomische Identität Großbritanniens: Zwischen globalem Freihandel und ökonomischem Nationalismus, MPIfG Discussion Paper, Köln 2019; Unravelling Ambivalence: A Field-Theoretical Approach to Moralised Markets, in: Current Sociology 66 (2018), 5, S. 682–703; Same same but different. Die Feldtheorien Fligsteins und Bourdieus und das Potenzial einer wechselseitig informierten Perspektive für die Wirtschaftssoziologie, in: Berliner Journal für Soziologie 27 (2017), 3–4, S. 405–430.

Hans­Ulrich Thamer ist emeritierter Professor am Historisches Seminar der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus; Ideen- und Sozialgeschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert; Kulturgeschichte von Museen und Ausstellungen; Historische Jugendforschung. Ausgewählte neuere Literatur: Französische Revolution. München 52018; Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napo-

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leon, München 22013; Kunst sammeln. Eine Geschichte von Leidenschaft und Macht, Darmstadt 2015; Berlin im Dritten Reich. Herrschaft und Alltag, Berlin 2014; Adolf Hitler. Biographie eines Diktators, München 2018.

Philipp Ther ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien, er leitet dort auch das Research Cluster for the History of Transformation (RECET). Sein Buch »Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa« (2014) wurde 2015 mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Frühere Monographien sind u. a. Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2011; In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien 2006; Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Berlin 2018.

Ines Weber arbeitet am Institut für Sozialwissenschaften/Politikwissenschaft der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel sowie an der Stabsstelle Gleichstellung, Familie und Diversität. Ihre Forschungsinteressen sind die DDR, sozialistische/sozialdemokratische Theorien und Feminismus. Veröffentlichungen: Sozialistisches Denken in der DDR. Robert Havemann und Rudolf Bahro, in: Andreas Heyer (Hg.), Diskussionen aus der DDR. Bd. 2 der Festschrift für Siegfried Prokop, Norderstedt 2015; Sozialismus in der DDR. Alternative Gesellschaftskonzepte von Robert Havemann und Rudolf Bahro, Berlin 2015; Die politische Theorie von Alain de Benoist, Marburg 2011.

n a s s au e r g e s p r äc h e

d e r f r e i h e r r - vo m - s t e i n - g e s e l l l s c h a f t

Herausgegeben von der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 0176–6023

Hans Pohl (Hg.) Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1985. 328 S., kt. ISBN 978-3-515-04327-4 Karl-Ernst Jeismann (Hg.) Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert Mobilisierung und Disziplinierung 1989. 436 S., kt. ISBN 978-3-515-05196-5 Jürgen Reulecke / Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hg.) Stadt und Gesundheit Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert 1991. 336 S., kt. ISBN 978-3-515-05552-9 Heinrich Siedentopf (Hg.) Europäische Integration und nationalstaatliche Verwaltung Deutsche Vereinigung und institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft 1991. VI, 251 S., kt. ISBN 978-3-515-05976-3 Karl Teppe / Eberhard Laux (Hg.) Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700 1998. 367 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07168-0

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Lothar Gall / Andreas Schulz (Hg.) Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert 2003. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-08226-6 Janbernd Oebbecke (Hg.) Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen 2005. 402 S. mit 4 Abb. und 3 Tab., kt. ISBN 978-3-515-08694-3 Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / Hans-Ulrich Thamer (Hg.) Die zweite Gründung der Bundesrepublik Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975 2010. 288 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09440-5 Wolfram Pyta / Carsten Kretschmann (Hg.) Bürgerlichkeit Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart 2016. 209 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11249-9 Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hg.) Deutschland seit 1990 Wege in die Vereinigungsgesellschaft 2017. 354 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11682-4

Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat, Kapitalismus und Neoliberalismus – der Diskurs über den sich verändernden Spannungsbogen von Ökonomie und Sozialem sowie den sich daraus ergebenden Folgen für die Gesellschaft beherrscht seit geraumer Zeit die wissenschaftliche und publizistische Debatte. Umfassende ökonomische, soziale und kulturelle Transformationen haben in Deutschland, Europa und der Welt neue Konfliktlagen evoziert, wodurch langjährige Gewissheiten ins Wanken geraten sind. Diese gegenwärtigen Beobachtungen sind Ausgangspunkt dieses Buches, das sich der jüngeren Vorgeschichte sowie den aktuellen Ausprägungen und Nachwirkungen jener Problemlagen widmet. Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Disziplinen thematisieren aus ihren jeweiligen Blickwinkeln zeitgenössische und aktuelle Krisendiagnosen sowie deren subjektive Aneignungen. Somit behandeln die Beiträge des Bandes fächerübergreifend die charakteristische Phase einer Übergangsgesellschaft, die im Kern die letzten beiden Jahrzehnte vor und die eineinhalb Jahrzehnte nach der Wende zum 21. Jahrhundert beschreibt.

ISBN 978-3-515-12506-2

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