Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Strafrecht: Eine Untersuchung zur Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts unter Berücksichtigung der bisherigen Anwendungsfälle der §§ 370 AO und 284 StGB [1 ed.] 9783428548033, 9783428148035

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Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Strafrecht: Eine Untersuchung zur Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts unter Berücksichtigung der bisherigen Anwendungsfälle der §§ 370 AO und 284 StGB [1 ed.]
 9783428548033, 9783428148035

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 270

Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Strafrecht Eine Untersuchung zur Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts unter Berücksichtigung der bisherigen Anwendungsfälle der §§ 370 AO und 284 StGB

Von

Simon Wroblewski

Duncker & Humblot · Berlin

SIMON WROBLEWSKI

Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Strafrecht

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 270

Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Strafrecht Eine Untersuchung zur Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts unter Berücksichtigung der bisherigen Anwendungsfälle der §§ 370 AO und 284 StGB

Von

Simon Wroblewski

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Hans Kudlich, Erlangen Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-14803-5 (Print) ISBN 978-3-428-54803-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84803-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde an der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft – in Hamburg unter der Betreuung von Prof. Dr. Erich Samson begonnen. Nach dessen tragischem Tod wurde sie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bei Prof. Dr. Hans Kudlich fortgesetzt. Sie wurde im März 2015 als Dissertation angenommen. Das Promotionsverfahren fand mit der mündlichen Prüfung am 1. Juli 2015 seinen Abschluss. Rechtsprechung und Literatur konnten im Wesentlichen bis September 2014 berücksichtigt werden. Die Promotion wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Herzlicher Dank gebührt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Hans Kudlich. Er hat mir nach dem Tod von Prof. Dr. Erich Samson in einer schwierigen Situation geholfen, indem er die Arbeit voller intellektueller Neugier und Offenheit übernommen, diese geduldig und verständnisvoll begleitet sowie durch wertvolle Anregungen bereichert hat. Daneben gilt besonderer Dank meiner Familie. München, im Januar 2016

Simon Wroblewski

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prozessuale Konstellationen und gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . II. Der systematische Rahmen: Die Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts unter Ausschluss der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidungsausspruch bei Unbegründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Appellentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis: Der systematische Rahmen der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unvereinbarerklärung und Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Weitergeltungsanordnung: Grundsätzliches und Rechtsfolgen . . . . . 3. Historische Entwicklung der Unvereinbarerklärung und Begründungsmuster des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dogmatische Grundlagen und die daraus folgenden Voraussetzungen . . 5. Folgen des Fristablaufs ohne Tätigwerden des Gesetzgebers . . . . . . . . . . 6. Exkurs: Verfassungswidrigkeit des weitergeltenden Gesetzes? . . . . . . . . IV. Ergebnisse Abschnitt B.: Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und das Strafrecht – eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relevante Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steuerrechtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. BVerfGE 115, 276 (Sportwettenentscheidung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung und Literatur zu § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung und Literatur zu § 284 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 29 31 31 33 33 34 75 78 80 81 81 96 98 104 137 143

146 149 149 149 188 201 201 270

8

Inhaltsübersicht III. Ergebnisse Abschnitt C.: Bestandsaufnahme Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung . . I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen zur regulären Unvereinbarerklärung auf Aussage zur Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu § 79 Abs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis zur Untersuchung einfachgesetzlicher Normen . . . . . II. Lösungsansatz: Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslegungsfrage: Die Anordnung der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . 2. Dogmatische Herleitung der Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchung der vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322 322 323 333 339 340 341 357 384

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 F. Anhang: Strafrechtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . . 406 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prozessuale Konstellationen und gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . II. Der systematische Rahmen: Die Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts unter Ausschluss der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidungsausspruch bei Unbegründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tenorierung und Varianten der Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dogmatische Grundlage und Rechtsfolgen der Nichtigerklärung . . . aa) Nichtigkeitsdogma: Unwirksamkeit ipso iure und ex tunc . . . . . bb) Vernichtbarkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abstreiten der ipso-iure-Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Flexibilisierung des Zeitpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsvergleichende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Argumentation der Nichtigkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Wortlaut des Art. 100 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Systematische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Der Vorrang der Verfassung; Rechtsgeltungs- und Kollisionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Unverbrüchlichkeit der Verfassung . . . . . . . . . . . . . (cc) Trennung von verfassungsgebender und gesetzgebender Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Systematik des Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . (ee) Art. 31 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ff) Art. 123 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Argumentum ad absurdum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Historische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Argumentation der Vernichtbarkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Wortlaut und Systematik des Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . .

27 27 29 31 31 33 33 34 35 36 36 38 39 40 42 42 43 44 44 44 44 45 46 46 46 47 47 48 50 50

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Inhaltsverzeichnis (b) Systematische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Rechtsatzkontrollvorschriften als „normative Alternative“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die Systematik der Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG . . (cc) Der Vergleich zu rechtswidrigem Recht . . . . . . . . . . (dd) Der Vergleich zu anderen Staatsakten . . . . . . . . . . . . (ee) Systematik des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (ff) Fehlende Umsetzung der Ex-tunc-Nichtigkeit in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Rechtssicherheit; tatsächliche Unmöglichkeit der rückwirkenden Unwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . (hh) Vereinbarkeit mit anderen Entscheidungsvarianten (c) Unzulässigkeit des „Traditions-Arguments“ . . . . . . . . . . . (d) Untragbare Folgen der Nichtigkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . (3) Abwägungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Der Abwägungsgedanke bei Söhn und Moench . . . . . . . (b) Die Abwägungslehre Blüggels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Dogmatische Analyse und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Dogmatische Schnittmenge der beiden Auffassungen . . . . . . (a) Fehlende Vertretbarkeit einer „strengen“ Nichtigkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gemeinsamkeit hinsichtlich der grundsätzlichen Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Gemeinsamkeit hinsichtlich der Rolle des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Zwischenergebnis: „Nichtigkeitsgrundsatz“ . . . . . . . . . . . (e) Verfassungsrechtliche Fundierung des Nichtigkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Eingriffe in Grundrechte nur auf Grundlage verfassungsgemäßer Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Der Vorrang und die Unverbrüchlichkeit der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Zwischenergebnis zur verfassungsrechtlichen Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Zwischenergebnis dogmatische Analyse; verbleibender Streitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Zwischenergebnis der Untersuchung der dogmatischen Grundlagen der Nichtigerklärung: „Eingeschränkte Nichtigkeitslehre“ c) Rechtsfolge: Wiederaufleben der Vorgängerregelung . . . . . . . . . . . . . .

51 51 53 53 54 54 54 55 55 55 55 57 57 58 60 61 61 61 63 64 64 65 65 67 67 68 68 68 71 72

Inhaltsverzeichnis d) Modifikation durch § 79 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zu § 79 Abs. 2 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zu § 79 Abs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis der Untersuchung zur Nichtigerklärung . . . . . . . . 3. Die Appellentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliches und Tenorierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fallgruppen von besonderer praktischer Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis: Der systematische Rahmen der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unvereinbarerklärung und Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliches, Terminologie und Tenorierung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reguläre Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geltung und Anwendbarkeit der Norm; rückwirkende Neuregelung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Geltungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Anwendungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Endgültige Rechtslage durch (rückwirkende) Neuregelung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Beseitigung der verfassungswidrigen Lage durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zeitlicher Umfang der vorzunehmenden Neuregelung . . (aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Ausnahmen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unterschiede zur Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 79 Abs. 2 BVerfGG und die Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . dd) Besonderheit des Steuerrechts: § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO . . . . ee) Zwischenergebnis: Reguläre Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Weitergeltungsanordnung: Grundsätzliches und Rechtsfolgen . . . . . 3. Historische Entwicklung der Unvereinbarerklärung und Begründungsmuster des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 72 73 74 74 75 75 76 77 78 78 80 81 81 82 82 83 83 83 86 86 86 87 88 88 89 91 91 92 94 96 96 98 99

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Inhaltsverzeichnis aa) Keimzelle: Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss . . . . . . bb) Erweiterung auf alle gleichheitswidrigen Gesetze . . . . . . . . . . . . . cc) Ausweitung auf andere Verstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgenargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ende der Anwendung auf Verstöße gegen Freiheitsgrundrechte? . . . . d) Gesetzgeberisches Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dogmatische Grundlagen und die daraus folgenden Voraussetzungen . . a) Die Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsprozessrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die materiell-rechtlichen Grundlagen der Unvereinbarerklärung und die daraus folgenden Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die besondere Struktur des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . (a) Dogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inhalt der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Grundsatz der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . (bb) Ausnahmsweise Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . (c) Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Falsche Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) „Konkrete“ Verfassungswidrigkeit beider Normen . (cc) Lokalisierbarkeit des Verfassungsverstoßes . . . . . . . (dd) Vereinbarkeit von Gestaltungsfreiheit und Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Innere Widersprüche der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . (ff) Art. 117 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Unvereinbarkeit von Gleichheitssatz und Anspruch auf Besserstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Dogmatische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inhalt der Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ebene der Gesetzestechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Überzeugende Argumente der Vertreter der Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) „Fiat iustitia et pereat mundus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Ausweichen auf Appellentscheidungen als Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Systematische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Untragbare Rechtsfolge bei Untätigkeit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 100 101 102 103 104 104 105 105 106 107 107 108 108 110 111 111 111 112 112 113 113 114 114 114 115 116 116 117 118 118 118 120

Inhaltsverzeichnis (ff) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inhaltliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Grundsatz der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Vertiefung des Gleichheitsverstoßes durch Beseitigung der gleichheitswidrigen Norm . . . . . . . . . . . . . (cc) Integration in die Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis: Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsprozessrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Materiell-rechtliche Grundlagen und die daraus folgenden Voraussetzungen einer Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Auffassung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechtsfolgenargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Wechsel der Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Inhaltliche Spezifizierung des Rechtsfolgenarguments (BVerfGE 109, 190 et al.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Literaturmeinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zu den dogmatischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zum Fehlen einer gesetzlichen Grundlage . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis: Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Folgen des Fristablaufs ohne Tätigwerden des Gesetzgebers . . . . . . . . . . a) Nichtigkeitslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erneute Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . bb) Nichtigkeitsautomatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mögliche Lösung: Rückfall auf die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Lösung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis: Rechtsfolgen des Fristablaufs . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Exkurs: Verfassungswidrigkeit des weitergeltenden Gesetzes? . . . . . . . . a) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konsequenzen des Wegfalls der Verfassungswidrigkeit . . . . . . . . . . . c) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnisse Abschnitt B.: Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 121 121 121 125 126 127 128 128 129 129 129 130 132 134 135 135 136 136 137 138 138 139 139 139 140 143 143 143 144 144

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C. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und das Strafrecht – eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Inhaltsverzeichnis I.

Relevante Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Steuerrechtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) BVerfGE 84, 239 (Besteuerung von Zinseinkünften) . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Abstrakte Würdigung der Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Verankerung und Grundsätze: Budgetrecht des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Betroffenheit des Budgetrechts bei der Nichtigerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Betroffenheit des Budgetrechts bei der regulären Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Zwischenergebnis: Bei Steuernormen ist die Weitergeltungsanordnung in der Regel gerechtfertigt . . (b) Anwendung auf den konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) BVerfGE 93, 121 (Vermögensteuerentscheidung) . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechtfertigung durch Erfordernisse des gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Rechtfertigung durch Erfordernisse verlässlicher Finanzund Haushaltsplanung bzw. einer stetigen Veranlagung . cc) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . dd) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entscheidungen zum Erbschaftsteuergesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) BVerfGE 93, 165 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung . . . . . . . . .

149 149 149 150 151 153 154 157 158 158 159 159 161 163 165 166 169 169 169 171 171 171 172 173 175 177 178 178 178 179 181

Inhaltsverzeichnis (4) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) BVerfGE 117, 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung . . . . . . . . . (4) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstige steuerrechtliche Entscheidungen mit strafrechtlicher Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. BVerfGE 115, 276 (Sportwettenentscheidung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Variante 1: § 284 StGB setzt „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis nach Landesrecht voraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Folge: Art. 12 Abs. 1 GG gebietet Normvernichtung . . . . . . (2) Forderung des Normerhalts durch das Budgetrecht des Parlaments? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Forderung des Normerhalts durch die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Variante 2: § 284 StGB setzt keine „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis voraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung und Literatur zu § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick über die relevanten Normen: § 370 AO und § 2 StGB . . . aa) § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Abgrenzung normative Tatbestandsmerkmale/Blankettmerkmale: „Unvollständigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Konsequenzen der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Geltung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes (b) Behandlung von Irrtümern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schlüsse für § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . (3) „Zeitgesetze“ i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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182 182 183 184 186 187 187 188 188 192 193 194 194 195 196 197 198 200 201 201 202 202 203 204 204 204 205 206 206 207 208 209 210

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Inhaltsverzeichnis (a) Zeitgesetze im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zeitgesetze im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Änderung auf Grund des Wandels tatsächlicher Verhältnisse vs. Änderung wegen geläuterter Rechtsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Maßgebliches Kriterium: Erkennbarkeit des Übergangscharakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) OLG Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Weitergeltendes Recht bedarf des Schutzes durch das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . bb) LG München II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) § 79 Abs. 1 BVerfGG ist einschlägig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) § 2 Abs. 3 StGB lässt Strafbarkeit entfallen . . . . . . . . . . . . . . (3) Vermögensteuergesetz insbes. kein Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) BFHE 191, 240 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . (2) Auslegung der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Systematische Untrennbarkeit von Steuerrecht und Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Drohendes Vollzugsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) § 79 Abs. 1 BVerfGG wegen Weitergeltungsanordnung unbeachtlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . dd) LG Itzehoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) § 79 Abs. 1 BVerfGG als Zulässigkeitsvorschrift . . . . . . . . . . (2) Begründetheit: Auslegung der Weitergeltungsanordnung . . . (3) Spezialität der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) § 2 Abs. 3 StGB ist nicht einschlägig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) BFHE 193, 63 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Spezifizierung der Argumente des Zweiten Senats . . . . . . . . (2) Neue Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Begründung der „Weitergeltungsanordnung“ . . . . . . . . . . (b) Aspekte des Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Rechtsgutbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) OLG Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vermögensteuergesetz als „Zeitgesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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211 212 212 213 213 213 214 214 215 216 216 217 217 217 218 218 218 219 220 220 220 221 221 221 222 223 223 224 224 225 225

Inhaltsverzeichnis (2) Steuerrecht minderer Qualität systemwidrig . . . . . . . . . . . . . gg) Der Bundesgerichtshof: BGHSt 47, 138 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . (2) Auslegung der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Wegfall der Strafbarkeit führt zu Vollzugsdefizit . . . . . . . . . (4) Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . (5) Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) § 79 Abs. 1 BVerfGG tritt auf Kollisionsebene zurück . . . . . (7) Keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . hh) Das Bayerische Oberste Landesgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Zwischenergebnis: Die herrschende Rechtsprechung und ihre Kernargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Methodik der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Argumente für die Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumente (a) Wortlaut, Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung (b) Keine Verfassungswidrigkeit der Norm in der Übergangszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Noltes These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Differenzierung nach Art des Verfassungsverstoßes . . . (aa) Röckls These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht einschlägig, da § 370 normative Tatbestandsmerkmale enthält . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Strafrechtliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Wortlaut und Gesetzessystematik der Abgabenordnung (aa) §§ 3 Abs. 1, 4 AO sprechen für die Einbeziehung unvereinbarer Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Rechtsgut des § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Blankettcharakter des § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Argumente gegen die Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumente (a) § 79 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (aa) Verleugnung der Verbindlichkeit der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Nieblers Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Auslegung der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . (cc) Prüfungsmaßstab gibt Reichweite der Weitergeltungsanordnung vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung . . . . (ee) Rechtscharakter der Weitergeltungsanordnung . . . . (c) Gleichmäßiger Verwaltungsvollzug und evtl. Ungleichbehandlungen infolge der Straflosigkeit können Strafbarkeit nicht rechtfertigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Grundrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . (2) Strafrechtliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vergleich zum Betrugstatbestand: Rechts- und sittenwidrige Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Vergleichsfall nach Plewka/Heerspink . . . . . . . . . . . (bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Neubestimmung des Rechtsguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Salditts Rechtsgutsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Methodische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Noltes Kritik und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die grundlegenden Prinzipien des Strafrechts . . . . . . . . . (aa) Verstoß gegen das Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Fehlende Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip . . . . . . . . (dd) Verstoß gegen das Ultima-ratio-Prinzip . . . . . . . . . . (ee) Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . dd) Entfall der Strafbarkeit wegen § 2 Abs. 3 StGB? . . . . . . . . . . . . . (1) Die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Rechtslage nach Fristablauf als „milderes Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 3 StGB liegen vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Gegenauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Kein „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . (b) Keine „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Das Vermögensteuergesetz als Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (aa) Ablehnung der Zeitgesetzeigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Nolte: Keine Befristung und keine Vorhersehbarkeit des Außerkrafttretens . . . . . . . . . . . . . . (b) Geläuterte Rechtskenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . (g) Telos des § 2 Abs. 4 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Kein Nachweis, dass das Vermögensteuergesetz als Zeitgesetz i. w. S. einzustufen ist . . . . . (e) Vermögensteuer auf Dauer angelegt . . . . . . . . . (z) Weitergeltungsanordnung auch hier nicht zu berücksichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Gegenauffassung: Vermögensteuergesetz ist Zeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme zu § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zur Gesetzeseigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . (b) Zur Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . (c) Zur Zeitgesetzeigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB . . . . . (aa) Zeitgesetz im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Zeitgesetz im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zwischenergebnis zu § 2 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung und Literatur zu § 284 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick zu § 284 StGB und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überblick zu § 284 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verwaltungsakzessorietät; Blankettcharakter . . . . . . . . . . . . . (2) Präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abgrenzung I: Verbotsirrtum gemäß § 17 Abs. 1 StGB, Einstellung aus Opportunitätsgründen und Europarechtswidrigkeit der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung II: Problematik der Altfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) OLG Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . (2) Strafbarkeit rechtsstaatswidrig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Weitergeltungsanordnung strafrechtlich ohne Bedeutung . . (4) Verstoß gegen das Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) LG Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) OLG München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausschluss der strafrechtlichen Schuld durch Unzumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Information über Konsistenz subjektiv unzumutbar . . . . . . . (3) Prozessuale Rechtslage: Bestrafungsverbot . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (4) Abgrenzung zur Rechtslage bei § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . dd) OLG Bamberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) OLG Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) KG Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strafrechtliche Wirkungslosigkeit der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot . . . . . . (5) Abgrenzung zur Rechtslage bei § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . gg) Zwischenergebnis: Die herrschende Rechtsprechung und ihre Kernargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Befürworter der Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Der Legalisierungseffekt der Weitergeltungsanordnung . (aa) Der Legalisierungseffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Hinreichende Legitimierung des Legalisierungseffekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Weitergeltungsanordnung auch auf dem Gebiet des Strafrechts wirksam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Auslegung: Der Verweis an die Strafgerichte . . . . . . . . . . (d) Drohender Widerspruch zur Rechtsprechung zu § 370 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Strafrechtliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Tatbestandsstruktur des § 284 StGB: Die „verfassungsrechtliche Neutralität der Strafnorm“ . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Trennbarkeit von verfassungswidriger Erlaubnisausgestaltung und verfassungsgemäßer Verbotsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Begründung mit der Verwaltungsakzessorietät des § 284 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Hinreichende Bestimmtheit des § 284 StGB . . . . . . . . . . (aa) Bestimmtheit des § 284 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Irrelevanz des Maßgabevorbehalts . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gegner der Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Telos und Charakter der Weitergeltungsanordnung . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (b) § 79 Abs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Grundrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Strafrechtliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Tatbestandsstruktur des § 284 StGB: Der Zusammenhang zwischen der Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts und der Strafnorm . . . . . . . . . . . (aa) Allgemeine Formulierung eines Zusammenhangs . (bb) Zusammenhang der Verwaltungsakzessorietät . . . . (cc) § 284 StGB als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Differenzierung zwischen präventiven und repressiven Verboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) § 284 StGB als präventives Verbot . . . . . . . . . . (b) Die grundlegenden Prinzipien des Strafrechts . . . . . . . . . (aa) Das Gesetzlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Fehlende Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Dogmatische Verortung: Teleologische Reduktion . . . . . d) Stellungnahme zur Sonderproblematik der strafrechtlichen Konsequenzen des Maßgabevorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die vertretenen Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Herstellung von Konsistenz als Bedingung der Weitergeltung? . . cc) Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts auf die Verfassungsmäßigkeit des § 284 StGB . . (1) Die vertretenen Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verwobenheit von Straf- und Erlaubnisausgestaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) § 284 StGB enthält präventives Verbot . . . . . . . . . . . . . . (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Umsetzung: Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Ansicht der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Argumente aus dem Problemkreis der Strafbarkeit in der Übergangszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Hauptgrund: Strafrechtliche Behandlung einer fehlenden landesrechtlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Frage der Bestimmtheit gemäß Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . (1) Geltungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . (2) Prüfungskompetenz der Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Bestimmtheit des Maßgabevorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 299 300 301 301

301 302 302 302 302 303 305 305 306 307 307 308 309 310 310 311 311 312 313 313 313 314 314 315 315 316 316 317 317

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Inhaltsverzeichnis ff) Zwischenergebnis zum Maßgabevorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 III. Ergebnisse Abschnitt C.: Bestandsaufnahme Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung . . I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen zur regulären Unvereinbarerklärung auf Aussage zur Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu § 79 Abs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Tatbestand: Die Frage des „Beruhens“ auf einer für unvereinbar erklärten Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Frage des „Beruhens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die ablehnende Literaturauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . (3) Auslegung des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsfolgen des § 79 Abs. 1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wirkung des § 79 Abs. 1 BVerfGG bei einer regulären Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Fall 1: Unvereinbarerklärung, kein rechtskräftiges Strafurteil (a) Anwendungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Aussetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Alternative 1: § 2 Abs. 3 StGB ist anwendbar . . . . (a) Entfallen der Strafbarkeit durch die Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inhaltliche Milderung durch die Neuregelung? (bb) Alternative 2: § 2 Abs. 3 StGB ist nicht anwendbar (c) Modifikation der Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fall 2: Unvereinbarerklärung, rechtskräftiges Strafurteil . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konsequenzen für den Fall der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO . . . . . . . . . a) Konsequenzen für die hier untersuchte Frage: Argumentum a fortiori? b) Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Telos des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzgebungsgeschichte des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322 322 323 323 323 324 324 324 325 325 326 327 327 327 327 328 328 329 329 330 331 331 332 332 333 334 334 334 335 336 336

Inhaltsverzeichnis (2) Gesetzgebungsgeschichte des § 165 Abs. 1 AO . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis zur Untersuchung einfachgesetzlicher Normen . . . . . II. Lösungsansatz: Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Auslegungsfrage: Die Anordnung der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . a) Die Abgrenzung der herrschenden Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . b) Relevanz der Frage für Folgeargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf der Grundlage verfassungswidriger Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendbarkeit der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung auf Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . cc) Die Äußerung des Ersten Senats in der Sportwettenentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . (1) BVerfGE 109, 190 (Sicherungsverwahrung I) . . . . . . . . . . . . (a) Die Auffassung der Senatsmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Auffassung der Senatsminderheit . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) BVerfGE 128, 326 (Sicherungsverwahrung II) . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Konsequenzen für die Auslegung der untersuchten Weitergeltungsanordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Berücksichtigung der verfassungsprozessrechtlichen Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung bei der Auslegung . . . . . . . . . . . . . aa) Relevanz der verfassungsprozessrechtlichen Voraussetzungen für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reichweite der Abwägung in den relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis zur Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dogmatische Herleitung der Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansatzpunkte in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Dogmatik der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Generelle Unzulässigkeit der strafrechtlichen Wirkung? . . . . . . . . . . aa) Gesetzlichkeitsprinzip und Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 337 338 339 340 341 341 342

342 343 344 347 347 348 348 350 350 351 352 354 355 355 356 356 357 358 358 359 359 361 362

24

Inhaltsverzeichnis dd) Das Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 ee) Das Ultima-ratio-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 ff) Zwischenergebnis: Das Prinzip der praktischen Konkordanz . . . 364 d) Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 365 aa) Ausnahmsweise Gebotenheit einer verfassungsrechtlichen Argumentation im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 bb) Die Wechselwirkung zwischen verfassungsrechtlicher Relevanz und den Voraussetzungen der jeweiligen Entscheidungsvariante . 366 cc) Die verfassungsrechtlichen Abwägungspositionen auf Seiten der strafrechtlichen Normvernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 (1) Hinsichtlich der Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 (2) Hinsichtlich der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 (a) Art. 14 Abs. 1 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 (b) Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 (3) Hinsichtlich des mit der Verurteilung verbundenen sozialethischen Tadels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 (4) Betroffenheit der Grundrechte bereits durch die Strafnorm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 (5) Das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 dd) Materielle Gewichtbarkeit der Grundrechtseingriffe durch Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (1) In der Strafzumessung zum Ausdruck kommende Gewichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 (2) Die Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . 375 (a) Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips bei der Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 (b) Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips durch die Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 ee) Abwägungsregel für die Zulässigkeit der strafrechtlichen Wirkung einer Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 (1) Bezüglich der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe . . . . . . . . 377 (2) Bezüglich der Verurteilung zu einer Geldstrafe . . . . . . . . . . . 379 (a) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 (b) Vereinbarkeit mit der Auslegung der Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 (3) Zwischenergebnis: Normspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 ff) Exkurs: Strafprozessuale Konsequenzen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Grundlage später mit einer Weitergeltungsanordnung versehener Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Inhaltsverzeichnis gg) Zwischenergebnis: Die strafrechtliche Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Untersuchung der vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Steuerrechtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) In der Abwägung zu berücksichtigende, den strafrechtlichen Normerhalt fordernde Verfassungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Budgetrecht des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Bezug zwischen Wegfall der Strafbarkeit und Steueraufkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zeitliche Dimension der strafrechtlichen Weitergeltungsanordnung: Wirkung nur pro futuro? . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verhinderung eines Vollzugsdefizits . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ungleichbehandlung des steuerehrlichen Bürgers gegenüber dem steuerunehrlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ungleichbehandlung gegenüber sonstigen Steuerhinterziehern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Untersuchung der steuerrechtlichen Sachverhalte . . . . . . . . . . . . (1) BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die zeitliche Dimension der Weitergeltungsanordnung . (b) Abwägung im Übrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Rechtfertigung durch das Budgetrecht . . . . . . . . . . (bb) Belange des Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) BVerfGE 93, 121 (Vermögensteuerentscheidung) . . . . . . . . . (a) Rechtfertigung durch das Budgetrecht . . . . . . . . . . . . . . . (b) Belange des Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Entscheidungen zum Erbschaftsteuergesetz . . . . . . . . . . b) Die Sportwettenentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

384 384 385 385 385 385 387 388 388 389 390 390 391 391 392 392 394 395 395 396 397 398 400

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 F. Anhang: Strafrechtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . . 406 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

A. Einleitung I. Einführung und Fragestellung Das Bundesverfassungsgericht trifft seine Entscheidungen nicht in einem abstrakten, von der Wirklichkeit entkoppelten Raum des Rechts – es gestaltet Wirklichkeit. „Es wirkt durch seine Rechtsprechung [. . .] gestaltend, bewahrend und regulierend auf das Verfassungsleben und machtverteilend und machtbegrenzend auf die anderen Verfassungsorgane ein. Hierdurch ist es als Gericht in eine ganz andere Ebene als alle anderen Gerichte gerückt.“ 1

Deswegen hat das Gericht in seinen Entscheidungen nicht allein die Dogmatik des materiellen Verfassungsrechts zu beachten, die ein bestimmtes Urteil – bei der Normenkontrolle das Urteil „verfassungsgemäß“ oder „verfassungswidrig“ – fordert. Als „oberster Hüter der Verfassung“ 2, dessen stolzes Selbstverständnis es ist, „durch seine Rechtsprechung zugleich an der Ausübung der „obersten Staatsgewalt“ zu partizipieren“ 3, hat es auch die tatsächlichen Folgen seiner Entscheidung zu bedenken. „Fiat iustitia et pereat mundus“ – „Es herrsche Gerechtigkeit, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht“ 4 darf für das Bundesverfassungsgericht nicht gelten. Aus dieser Erkenntnis hat sich eine Entscheidungsvariante entwickelt, die dem rechtsstaatlichen Empfinden zusetzt: Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung. Statt eine verfassungswidrige Norm mit einer Nichtigerklärung zu eliminieren, erklärt das Bundesverfassungsgericht hier ein Gesetz zwar für verfassungswidrig, gleichzeitig aber während einer Übergangszeit für weiter an1 Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma vom 03.06.1953, JÖR 6 (1957), 194 (199). 2 Status-Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27.06.1952, JÖR 6 (1957); 144, vgl. dazu Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 27; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 1 Rn. 1 f. 3 Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma vom 03.06.1953, JÖR 6 (1957), 194 (199). 4 Auf Papst Hadrian VI. (1459–1523) zurückgehende Aussage, Übersetzung und historische Herleitung von Höffe, Gerechtigkeit, S. 54. Dieser sieht – mit Kant – die ursprüngliche Bedeutung des Satzes darin, dass auch die Mächtigen der Gerechtigkeit zu unterwerfen sind. Er versteht also unter „Welt“ die „Großen und Mächtigen“. Höffe hält die naheliegende Bedeutung im Sinne eines Fanatismus, der die Gerechtigkeit auch zum Preis eines Weltuntergangs durchsetzen will, für historisch unzutreffend, verweist im Sinne dieses Verständnisses aber auf Luthers Predigt vom 10. Mai 1535. Ebenso verstanden von Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 161.

28

A. Einleitung

wendbar. Die Folgen sind erheblich: Der Betroffene hat Eingriffe in seine Grundrechte auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidrigen Rechts zu dulden. Diese Entscheidungsvariante sucht den Zwiespalt zwischen Recht und Wirklichkeit zu überbrücken, indem sie bei verfassungswidrigen Gesetzen ein „flexibles Folgenmanagement“ 5 ermöglicht. Dies strapaziert ohnehin unsere Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und gewinnt in strafrechtlichem Zusammenhang noch zusätzlich an Brisanz. Es gibt Strafgesetze, die sich auf außerstrafrechtliche Normen beziehen, indem sie etwa den Verstoß gegen diese Normen mit Strafe bedrohen. Wird nun eine solchermaßen in Bezug genommene, außerstrafrechtliche Norm für mit der Verfassung unvereinbar, aber weiter anwendbar befunden, so kann der Verstoß gegen verfassungswidriges Recht – das ist die Auffassung der herrschenden Meinung6 – strafbar sein. Praktisch relevant wurde dies bislang bei der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO und dem unerlaubten Veranstalten eines Glücksspiels gemäß § 284 StGB. In Zukunft kann die Problematik jedoch überall dort zu Tage treten, wo Strafgesetze – sei es über normative Tatbestandsmerkmale, Blankettmerkmale oder verwaltungsakzessorische Tatbestandsmerkmale – außerstrafrechtliche Normen in Bezug nehmen. Die weitere Zuspitzung resultiert daraus, dass auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts das schärfste Schwert der Rechtsordnung, die ultima ratio staatlichen Handelns, eingesetzt wird. Der Betroffene hat Eingriffe in das Grundrecht der Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG – dem nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter den Grundrechten ein besonders hoher Rang zukommt7 – zu dulden. Die strafrechtliche Literatur hat darauf teilweise mit wütendem Protest reagiert. So wird die Auffassung vertreten, Strafen auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts ließen sich nur als „Akte furchtbarer Juristen“ begreifen.8 Dazu wird ausgeführt, es könne „in einem Rechtsstaat [. . .] nicht Aufgabe des Strafrechts sein, eine Unrechtsordnung zu schützen, zu gewährleisten, zu bewähren oder zu stabilisieren. Wird an willkürliche Gesetzesvorschriften eine Strafe geknüpft, so wird auch die Strafe zum Willkürakt.“ 9

Andere betonen, dass verfassungswidrige Steuern zu verfassungswidrigen Strafen führen würden.10 Polemisierend wird davon gesprochen, dass jedem 5

Vgl. Steiner, NJW 2001, 2919 (2922). Dies ist herrschende Meinung jedenfalls zu § 370 AO, dazu ausführlich im Verlauf der Bearbeitung: C.II.1.b) (S. 212), C.II.1.c)bb) (S. 233), C.II.2.c)aa) (S. 290). 7 BVerfGE 22, 180 (219); 104, 220 (234); vgl. ebenfalls BVerfGE 130, 372 (388). 8 Tipke, PStR 2000, 143 (144). 9 Tipke, FS Kohlmann, S. 574. 10 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (165). 6

II. Gang der Untersuchung

29

Strafrechtler „förmlich die Haare zu Berge“ stehen „bei der Vorstellung, dass auf Grund einer als verfassungswidrig anerkannten Norm bestraft werden soll.“ 11 Die vorliegende Arbeit erörtert die polarisierende Frage, ob erkanntermaßen verfassungswidrige, aber kraft Anordnung des Bundesverfassungsgerichts weiterhin anwendbare Normen Grundlage der Strafbarkeit sein können. Da sich das Thema auf der Schnittstelle zwischen Verfassungsprozessrecht und Strafrecht bewegt, wird für den Lösungsansatz besonderes Augenmerk darauf gerichtet sein, eine Verknüpfung zwischen diesen Rechtsgebieten herzustellen.

II. Gang der Untersuchung Die zu untersuchende Problematik basiert auf einer besonderen Entscheidungsvariante des Verfassungsprozessrechts: Der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung. Die Frage der Strafbarkeit kann daher nur auf dem dogmatischen Fundament des Verfassungsprozessrechts beantwortet werden. Zunächst wird deswegen im verfassungsprozessrechtlichen Abschnitt B. der Arbeit auf die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts eingegangen. Dazu wird in die prozessualen Konstellationen, in denen solche Entscheidungen gefällt werden, und die relevanten Vorschriften des Verfassungsprozessrechts eingeführt. Danach werden die Entscheidungsvarianten unter Ausschluss der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und damit deren systematischer Rahmen vorgestellt. Anschließend werden die dogmatischen Grundlagen, die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung und der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung aufbereitet. Im Abschnitt C. folgt eine Bestandsaufnahme der bislang in der Praxis aufgetretenen Fälle und des Meinungsstands in Rechtsprechung und Literatur zur Frage der Strafbarkeit auf Grundlage von mit der Verfassung unvereinbaren, aber weitergeltenden Normen. In einem ersten Schritt werden die strafrechtlich relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dargestellt und verfassungsprozessrechtlich gewürdigt. Dann wird der Meinungsstand der strafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur aufbereitet. Dies geschieht zunächst zur Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO, gefolgt von der Darstellung zur unerlaubten Veranstaltung eines Glücksspiels gemäß § 284 StGB. Im abschließenden Abschnitt D. der Arbeit wird im Rahmen einer Analyse die Antwort auf die Frage der Strafbarkeit entwickelt. Dabei werden die Erkenntnisse aus dem verfassungsprozessrechtlichen Abschnitt B. und der strafrechtlichen Argumentation des Abschnitts C. miteinander in Bezug gesetzt.

11

Burkhard, Stbg 2000, 122 (124).

30

A. Einleitung

Zunächst werden hierzu jene einfachgesetzlichen Normen untersucht, denen eine Aussage zur Frage der Strafbarkeit entnommen werden könnte. Dem folgend werden die bislang ergangenen, strafrechtlich relevanten Weitergeltungsanordnungen des Bundesverfassungsgerichts dahingehend ausgelegt, ob das Bundesverfassungsgericht auch die strafrechtliche Weitergeltung der Normen angeordnet hat. Daran anschließend wird die Frage der strafrechtlichen Wirksamkeit einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung in das im verfassungsprozessrechtlichen Abschnitt B. erarbeitete dogmatische System der Entscheidungsvarianten eingebunden. An dieser Stelle wird aus der Dogmatik des Verfassungsprozessrechts hergeleitet, ob und unter welchen Voraussetzungen einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung strafrechtliche Wirkung beizumessen ist. Zuletzt wird untersucht, ob in den insoweit relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Anordnung strafrechtlicher Wirkungen nach diesen Grundsätzen möglich war.

B. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Verfassungsprozessrechts Die im Fokus stehende Problematik ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung einer außerstrafrechtlichen Norm einerseits und einer Strafnorm andererseits. Dabei nimmt die Strafnorm die von der Entscheidung betroffene außerstrafrechtliche Norm in Bezug. Deshalb werden im Folgenden die dogmatischen Grundlagen, die Rechtsfolgen und Voraussetzungen dieser besonderen Entscheidungsvariante1 dargelegt. Dazu wird zunächst in die prozessualen Konstellationen, in denen eine solche Entscheidung gefällt werden kann, und die relevanten Normen des Verfassungsprozessrechts eingeführt (I.). Danach wird der systematische Rahmen der Unvereinbarerklärung abgesteckt, indem die dem Bundesverfassungsgericht zur Verfügung stehenden Entscheidungsvarianten bei Normenkontrollentscheidungen – mit Ausnahme der Unvereinbarerklärung – dargestellt werden (II.). Anschließend wird auf die Unvereinbarerklärung und die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung eingegangen (III).

I. Prozessuale Konstellationen und gesetzliche Grundlagen Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist die gesetzgebende Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere die Grundrechte, gebunden. Die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes kann allein das Bundesverfassungsgericht feststellen. Dieses sog. Verwerfungsmonopol ist insbesondere in Art. 100 Abs. 1 GG verankert.2 Verfahren, in denen das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheidet, sind neben der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sowie die Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist das Gesetz unmittelbarer, bei der Urteils1 Gleiche Terminologie bei Rupp-v. Brünneck, AÖR 102 (1977), 1 (19); dies., Verfassung, S. 359; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 117 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 394 ff. 2 BVerfGE 7, 1 (15); 22, 373 (378); Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 100 Rn. 1; Sieckmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 100 Abs. 1 Rn. 2.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

verfassungsbeschwerde mittelbarer Prüfungsgegenstand. Da in den genannten Verfahrensarten die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zum Entscheidungsinhalt gehört (§ 78 S. 1 BVerfGG3, § 82 Abs. 1 BVerfGG i.V. m. § 78 S. 1 BVerfGG, § 95 Abs. 3, S. 1, 2 BVerfGG), werden die in diesen Verfahren ausgesprochenen Entscheidungen als Normenkontrollentscheidungen4 bezeichnet.5 Die Entscheidungsformeln dieser Entscheidungen werden gemäß § 31 Abs. 2 S. 3 BVerfGG im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und haben gemäß § 31 Abs. 2 S. 1, 2 BVerfGG Gesetzeskraft. Damit ist noch nichts über die Folgen einer Entscheidung ausgeführt, in der eine Norm für verfassungswidrig befunden wurde. Das „Rechtsschicksal“ der verfassungswidrigen Norm ist in der Verfassung nicht ausdrücklich bestimmt.6 Anders verhält es sich mit dem einfachen Recht: Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthält Bestimmungen darüber, welche Folgen die Verfassungswidrigkeit für die betroffene Norm hat. Zu nennen sind hier insbesondere §§ 31, 78, 79 und 95 BVerfGG. § 78 S. 1 BVerfGG ordnet an, dass mit dem Grundgesetz unvereinbare Normen für nichtig zu erklären sind. Diese Norm gilt auf Grund ihrer systematischen Stellung grundsätzlich nur für die abstrakte Normenkontrolle, wird aber in § 82 Abs. 1 BVerfGG bezüglich der konkreten Normenkontrolle für entsprechend anwendbar erklärt. Für die Verfassungsbeschwerde enthalten § 95 Abs. 3 S. 1, 2 BVerfGG eine entsprechende Aussage: Auch bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden (S. 1) und sonstigen Verfassungsbeschwerden7 (S. 2) ist ein Gesetz für nichtig zur erklären, wenn es für verfassungswidrig befunden wird. Zwei weitere Entscheidungsvarianten werden im Bundesverfassungsgerichtsgesetz ebenfalls erwähnt: § 31 Abs. 2 S. 2 Var. 1, S. 3 Var. 1 BVerfGG sehen die Möglichkeit vor, ein Gesetz für mit der Verfassung vereinbar zu erklären, § 31 3 Soweit nicht gesondert ausgewiesen: BVerfGG vom 11.08.1993, BGBl. I 1993, 1473, zuletzt geändert durch Gesetz v. 21.12.2010, BGBl. I 2010, 2248. 4 Entscheidung fungiert dabei als Oberbegriff zu Urteilen und Beschlüssen: Findet – was selten der Fall ist, vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 371 – eine mündliche Verhandlung statt, so entscheidet das Bundesverfassungsgericht durch Urteil, sonst durch Beschluss, § 25 Abs. 2 BVerfGG. 5 Gleiche Terminologie bei: Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 120 ff.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 14, 128. Verfassungsbeschwerden gegen Urteil und Gesetz werden im Verfassungsprozessrecht zwar nicht den sog. Normenkontrollverfahren zugerechnet. Dies ändert jedoch nichts daran, dass materiell (mittelbar oder unmittelbar) über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entschieden wird. Siehe dazu Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 121. 6 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 15; Hoffmann, JZ 1961, 193 (194). 7 Der Begriff der „Entscheidung“ des § 95 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 umfasst gerichtliche Erkenntnisse wie Verwaltungsentscheidungen, vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, § 95 Rn. 13.

II. Der systematische Rahmen

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Abs. 2 S. 2 Var. 2, S. 3 Var. 2 und § 79 Abs. 1 Var. 1 BVerfGG erwähnen die Möglichkeit, ein Gesetz für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären. In diesem Rahmen haben sich Entscheidungsvarianten mit unterschiedlichen Rechtsfolgen entwickelt, die im Gesetz normiert, in diesem vorausgesetzt oder aber Entwicklungen des Bundesverfassungsgerichts sind. Sie werden nachfolgend vorgestellt, um in Abgrenzung zu den übrigen Entscheidungsvarianten die Besonderheiten und Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung herauszuarbeiten.

II. Der systematische Rahmen: Die Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts unter Ausschluss der Unvereinbarerklärung Das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen der Normenkontrolle die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Um das Ergebnis dieser Prüfung auszudrücken, steht dem Gericht ein differenziertes Spektrum an Entscheidungsvarianten zur Verfügung. Mit Hilfe dieses Instrumentariums kann bei der Zurückweisung eines Antrags als unbegründet bzw. der Vereinbarerklärung einerseits eine vorbehaltlose Normbestätigung als Folge der Verfassungsmäßigkeit ausgedrückt werden (1.). Andererseits kann mit der Nichtigerklärung eine klare Normverwerfung als Folge der Verfassungswidrigkeit ausgesprochen werden (2.). Daneben gibt es weitere Entscheidungsvarianten, deren Rechtsfolgen im Bereich zwischen Normbestätigung und Normverwerfung angesiedelt sind. Pestalozza spricht insoweit von einer „grauen Zone verfassungsimperfekter Zustände“, die sich zwischen Nichtigkeit und makelloser Verfassungsmäßigkeit entwickelt hat.8 Zu dieser grauen Zone sind Appellentscheidung (3.) und verfassungskonforme Auslegung (4.) zu rechnen. 1. Entscheidungsausspruch bei Unbegründetheit Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichtsgesetz regeln den Inhalt eines Entscheidungsausspruchs als Folge des Misserfolges eines Antrags nicht.9 Das Bundesverfassungsgericht greift daher auf die allgemeine Gerichtspraxis zurück:10 Kommt es zur Sachentscheidung und wird der Antrag dabei für unbegründet befunden, wird der Antrag in der Regel „zurückgewiesen“.11 Wird ein Antrag ge8

Pestalozza, FS 25 Jahre BVerfG I, S. 540. Gesetzlich geregelt sind nur Ausschnitte; die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung gemäß §§ 93b S. 1, 93d Abs. 1, 3 BVerfGG und die a-limine-Verwerfung eines Antrags gemäß § 24 BVerfGG. 10 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 372. 11 Bspw. BVerfGE 62, 1 (4); 63, 45; 66, 66; 87, 1 (4); Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 73; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 372. 9

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

mäß § 24 S. 1 BVerfGG als offensichtlich unbegründet befunden, so wird er in der Regel „verworfen“.12 Das Bundesverfassungsgericht muss sich bei Normenkontrollentscheidungen jedoch nicht darauf beschränken, einen Antrag als unbegründet zurückzuweisen bzw. zu verwerfen – dies ist eine Besonderheit des Bundesverfassungsprozessrechts. Es kann die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz vielmehr auch positiv feststellen (vgl. § 31 Abs. 2 S. 2 Var. 1, S. 3 Var. 1 BVerfGG), sog. Vereinbarerklärung.13 Eine solche Entscheidung erwächst gemäß § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG in Gesetzeskraft. Davon macht das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsbeschwerden allerdings kaum Gebrauch – eine erga omnes wirkende Vereinbarerklärung ist bei einer Verfassungsbeschwerde, bei der die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm unter dem ganz speziellen Gesichtspunkt individueller Betroffenheit angesprochen wird, bedenklich14 – so dass die Vereinbarerklärung de facto nur bei der konkreten und abstrakten Normenkontrolle verwendet wird.15 Die Zurückweisung als unbegründet und – in gesteigerter Form – die ausdrückliche Vereinbarerklärung sprechen eine vorbehaltlose Normbestätigung aus. 2. Die Nichtigerklärung Der in §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG16 vorgesehene „Normalfall“ bzw. „Regelfall“ 17 für alle Normenkontrollentscheidungen ist, dass das Gesetz bei Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt wird. 12 Bspw. BVerfGE 83, 1 (4); 97, 350 (351); Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 73 m.w. N. 13 Vgl. Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 70; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 9. 14 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 409. 15 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 409; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 372. 16 Vgl. zu diesen Vorschriften soeben B.I. (S. 31). 17 In BVerfGE 90, 60 (104) wird die Nichtigkeit eines Gesetzes als die „Regelfolge der Verfassungswidrigkeit“ bezeichnet. Als „Normalfall“ sieht Geiger, FS Maunz, S. 139 die Nichtigerklärung an. Blüggel stellt fest, dass die Nichtigkeit eines Gesetzes zwar nicht in quantitativer Sicht als Normalfall bezeichnet werden könne. Bis einschließlich des 94. Bandes seien in den in der offiziellen Sammlung veröffentlichten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 123 Unvereinbarerklärungen und nur etwa doppelt so viele Nichtigerklärungen ergangen, im Steuerrecht sei die Unvereinbarerklärung sogar der Normalfall. Die Bezeichnung als Normalfall sei aber deswegen richtig, weil die Nichtigerklärung im Gegensatz zur Unvereinbarerklärung nicht begründungsbedürftig sei, Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 30 f., insbes. Fn. 95. Vgl. ebenfalls Hufen, Beschränkung, S. 19, der einerseits feststellt, „im Normalfall der Verfassungswidrigkeit“ lasse sich der Verfassungsverstoß durch die Nichtigerklärung beheben, andererseits bei gleichheitswidrigen Gesetzen von einem „umgekehrten Regel-Ausnahme-Verhältnis“ ausgeht, ebenda, S. 20 Fn. 21. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht,

II. Der systematische Rahmen

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a) Tenorierung und Varianten der Nichtigerklärung Wird das gesamte Gesetz für verfassungswidrig und daher nichtig befunden, wird dies im Tenor üblicherweise dadurch zum Ausdruck gebracht, dass eine Norm mit einer Regelung des Grundgesetzes für „unvereinbar und (daher) nichtig“ befunden wird.18 Grundsätzlich bewirkt aber die Nichtigkeit einer oder mehrerer Bestimmungen eines Gesetzes nicht die Nichtigkeit des ganzen Gesetzes.19 Vielmehr ist der gesetzgeberische Wille – aus Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber – soweit aufrecht zu erhalten, wie es sinnvoll ist.20 Die Nichtigkeit wird deswegen in der Regel nicht für das gesamte Gesetz, sondern nur für bestimmte Teile (einzelne Norm(en) innerhalb eines Gesetzes, Absätze, Sätze, Satzteile, Regelungsalternativen) erklärt; sog. Teilnichtigkeit.21 Sie führt im Ergebnis zu einer Reduzierung des Wortlauts der Norm(en) um den verfassungswidrigen Teil.22 Dies wird im Tenor entweder dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Paragraph, Absatz, Satz oder Satzteil im Tenor bezeichnet wird,23 oder dadurch, dass ein „(in)soweit“-Satz verwendet wird, in dem der nichtige Teil in indirekter Rede wiedergegeben wird.24 Die beiden genannten Varianten beziehen sich auf den Normtext, indem sie die gesamte Norm oder bestimmte Teile des Normtextes für nichtig erklären. Deswegen wird insoweit von quantitativen Nichtigerklärungen gesprochen.25 Rn. 1251 bezeichnen die Nichtigerklärung als „gesetzlichen Regelfall“; ebenso Moes, StuW 2008, 27 (28). Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 145 sieht die Nichtigerklärung als „primäre gerichtliche Entscheidungsform an“. Heußner, NJW 1982, 257, spricht vom „Grundsatz der Nichtigerklärung“; ebenso Nolte, Hinterziehung, S. 5. Steiner, NJW 2001, 2919 (2922) geht dagegen davon aus, dass die Unvereinbarerklärung „im Vergleich zur Nichtigkeitsfeststellung fast schon die Regel geworden ist“. Das gleiche Ergebnis stellt Kirchhof, IFSt-Schrift Nr. 362 (07/1998), 14 (29) für das Steuerrecht fest. 18 Bspw.: BVerfGE 61, 149 (151); 67, 299; 68, 384 (385); 101, 54 (55). Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 379. 19 BVerfGE 8, 274 (301); 57, 295 (334); 65, 325 (358); vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1263; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 100; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384. Ein Beispiel für die Nichtigerklärung eines ganzen Gesetzes liefert BVerfGE 61, 149 (151). 20 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1263. 21 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1263; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384. 22 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1264; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 100; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384. 23 Bspw.: BVerfGE 63, 181; 65, 1 (3); 68, 384 (385); 101, 54 (55). 24 Bspw.: BVerfGE 26, 281 (282); 60, 162; 63, 131 (132); 67, 299 f.; 81, 156 (157); vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384. 25 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1264; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 90 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 386.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Daneben gibt es noch qualitative Nichtigerklärungen ohne Normtextreduzierung: Bei diesen wird die Norm in Bezug auf bestimmte, im Wortlaut nicht gesondert ausgewiesene Anwendungsfälle für nichtig befunden.26 Auch dies wird im Tenor durch einen (in)soweit-Satz ausgedrückt, der den entsprechenden Anwendungsfall nennt.27 b) Dogmatische Grundlage und Rechtsfolgen der Nichtigerklärung Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis: Die Unvereinbarerklärung ist eine Ausnahme der als gesetzlicher Regelfall vorgesehenen Nichtigerklärung. Die Anwendungsvoraussetzungen der Unvereinbarerklärung hängen vom Verständnis der Nichtigerklärung ab.28 Im Folgenden ist daher auf die dogmatischen Grundlagen der Nichtigerklärung einzugehen, die auch das dogmatische Fundament der Unvereinbarerklärung bilden. Dabei stehen sich zwei Lehren gegenüber: Das Nichtigkeitsdogma und die Vernichtbarkeitslehre. aa) Nichtigkeitsdogma: Unwirksamkeit ipso iure und ex tunc Nach traditioneller deutscher Auffassung29 ist ein Gesetz, das gegen die Verfassung verstößt, ipso iure und ex tunc30 unwirksam (sog. Nichtigkeitsdogma bzw. Nichtigkeitslehre).31 Das Nichtigkeitsdogma ist ein Kind des Frühkonstitu26 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1264; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 386; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 92 ff. Vgl. zu beidem auch mit anderer Terminologie Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99 ff. 27 Bspw.: BVerfGE 8, 51 (52); 60, 16 (17); 61, 291 (291 f.); 62, 117 (118 f.); 81, 228 (229); vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 101; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 386. 28 Vgl. Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 101. 29 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 142; § 78 Rn. 7; vgl. ebenfalls: Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 11 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 379; Maurer, DÖV 1963, 638; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 95. 30 Die Begrifflichkeit der ex-tunc-Nichtigkeit ist nicht glücklich, da eine Bezeichnung des Zeitpunktes mit den Begrifflichkeiten ex tunc/ex nunc eigentlich nur dort Sinn macht, wo die Rechtsfolge durch eine besondere Rechtshandlung ausgelöst wird; genau das wird durch die Nichtigkeitslehre gerade bestritten, überzeugend Ipsen, Rechtsfolgen, S. 150 f.; vgl. ebenfalls Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 135 f.; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 4 f. Fn. 2. Da die Terminologie dennoch gängig ist und die Streitigkeit unter den Schlagworten der Nichtigkeit ipso iure/ex tunc diskutiert wird, wird sie auch in der hiesigen Bearbeitung verwendet. 31 Diese Lehre wird u. a. vertreten von: Arndt, DÖV 1959, 81 ff., Bachof, AÖR 87 (1962), 1 (34 f.); Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 145 ff.; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 78 Rn. 4; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 382; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 92 ff., insbes. S. 96 f.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 531a f., 548; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 159 ff.; Röckl, Steuerstrafrecht, S. 207; Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 271; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 Rn. 84.

II. Der systematische Rahmen

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tionalismus und findet seinen historischen Ursprung in einem Beitrag von Karl Ernst Schmid aus dem Jahre 1821.32 Dieses Dogma beinhaltet zwei Aussagen: Eine über den Zeitpunkt, ab welchem die Rechtsunwirksamkeit einsetzt, und eine darüber, auf welche Weise die Rechtsunwirksamkeit einer Norm einsetzt.33 Ex-tunc-Unwirksamkeit besagt, dass das Gesetz von Anfang, d.h. von Verkündung bzw. – wenn die Kollision mit höherrangigem Recht erst nach der Verkündung des Gesetzes eintritt – dem Zeitpunkt der Normkollision an unwirksam ist.34 Ipso-iure-Unwirksamkeit meint, dass die Unwirksamkeit des Gesetzes von Rechts wegen eintritt und nicht erst durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konstitutiv per Gestaltungsentscheidung herbeigeführt wird. Die Nichtigkeit wird vielmehr durch das Bundesverfassungsgericht in der Nichtigerklärung deklaratorisch festgestellt.35 Es stellt sich allerdings die Frage, warum es überhaupt einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedarf, um die Nichtigkeit einer Norm herbeizuführen, wenn die Norm doch schon ipso iure nichtig ist. Das ist allein dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts geschuldet. Dieses besagt, dass das Recht und die Pflicht, ein förmliches Gesetz für unwirksam zu erklären, allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist.36 Das ist keine Selbstverständlichkeit: Unter der Weimarer Reichsverfassung hatte jedes Gericht eine umfassende Befugnis zur Normenkontrolle und Normverwerfung.37 Heute gilt dies nur noch für nichtförmliche Gesetze, vor allem Rechtsverordnungen.38 Das Verwerfungsmonopol schützt das Parlament vor dem Fachgericht39 und soll im Interesse der Rechtseinheit und Rechtssicherheit einander widersprechende Gerichtsentscheidungen über die Gültigkeit von Gesetzen und die Ausuferung des richterlichen Prüfungsrechts vermeiden.40 Es findet seinen prozessualen Ausdruck und

32 Karl Ernst Schmid, Lehrbuch des gemeinen deutschen Staatsrechts, S. 125, zitiert nach Ipsen, Rechtsfolgen, S. 24. Vgl. ebenda, S. 24 ff. zur historischen Entwicklung. 33 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 149. 34 BT-Drucks. I/788, 34; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 141, § 78 Rn. 7; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 137; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 12. 35 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 7 f., § 31 Rn. 140; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 93; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 35; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 380. 36 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 100 Rn. 1. 37 Ebenda. 38 Dazu nur Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 100, Rn. 7, 10. 39 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 142 f.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 93. 40 BVerfGE 97, 117 (122); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 100 Rn. 7.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

damit seine Absicherung in der Pflicht zur Richtervorlage des Art. 100 Abs. 1 GG.41 Allein diese kompetenzielle Barriere bedingt, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes in der Nichtigerklärung feststellen muss, bevor die Rechtswirkungen der Nichtigkeit tatsächlich eintreten können.42 Deswegen wird teilweise der Ausdruck der Nichtigerklärung kritisiert: Vorgeschlagen wird, stattdessen von Nichtigkeitsfeststellung zu sprechen.43 Vor der Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht ist das Gesetz nach der Nichtigkeitstheorie zwar nichtig; die Nichtigkeit aber „kann erst auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltend gemacht werden. Sie wird erst von diesem Zeitpunkt an rechtlich erheblich.“ 44 Das Bundesverfassungsgericht führt also gemäß der Nichtigkeitslehre mit der Nichtigerklärung die Nichtigkeit der Norm nicht konstitutiv herbei, diese besteht schon von Gesetzes wegen. Trotzdem ist die Nichtigerklärung erforderlich, damit die Rechtswirkungen der Nichtigkeit eintreten können. Auf den Punkt gebracht besagt die Nichtigkeitslehre demnach: Mit Erklärung des Bundesverfassungsgericht ist die verfassungswidrige Norm vom Zeitpunkt der Normenkollision an (ex tunc) ipso iure unwirksam. bb) Vernichtbarkeitslehre Gegen diese Ansicht wendet sich die sog. Vernichtbarkeitslehre.45 Sie hat ihren Ursprung in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.46 Ihr damali41 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 142 f.; vgl. auch BVerfGE 97, 117 (122). 42 Dieser Zusammenhang wird – soweit ersichtlich – nicht ausdrücklich betont, klingt aber vor allem bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 168 an: „Wenn Gerichte nicht befugt sind, für verfassungswidrig erachtete Normen ohne weiteres außer Anwendung zu lassen, so ist auch das nicht auf die Rechtsgeltung dieser Gesetze zurückzuführen, sondern darauf, dass Art. 100 Abs. 1 GG die Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert.“ Vgl. auch Scheuner, BB 1960, 1253 (1255); Bachof, AÖR 87 (1962), 1 (34). 43 Vgl. Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 146 und insbesondere auch den alten Gesetzeswortlaut unten B.II.2.b)dd)(1)(c) (S. 48). 44 Geiger, BVerfGG, Erl. zu § 78 S. 249 nach Hoffmann, JZ 1961, 193 (197 Fn. 50); ebenso Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 548. Bachof, AÖR 87 (1962), 1 (34) dagegen sieht in jedem Berufen auf die Nichtigkeit einer Norm in Vertragsbeziehungen, Prozessen und durch den vorlegenden Richter ein Geltendmachen, so dass die Nichtigkeit seiner Ansicht nach sehr wohl vor Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltend gemacht werden kann. 45 Diese wird u. a. vertreten von: Böckenförde, Nichtigkeit, S. 62 f., 64, 122 ff. (mit Einschränkungen, aber der Sache nach der Vernichtbarkeitslehre zuzuordnen); Götz, NJW 1960, 1177 ff.; Hoffmann, JZ 1961, 193 ff.; Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 275 ff., 280; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 34; ders., BayVBl.

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ger Ausgangspunkt war das Problem der Normenkontrollbefugnis der Verwaltung. Diese ließ sich dogmatisch überzeugender verneinen, wenn der Grundsatz der ipso-iure-Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze angegriffen wurde.47 Ihre eigentliche Bedeutung gewann sie jedoch – nachdem die Frage der Normenkontrollbefugnis der Verwaltung durch das Bundesverfassungsgericht bejahend entschieden worden ist48 – in der Frage der Rechtsfolgen einer Nichtigerklärung.49 (1) Abstreiten der ipso-iure-Nichtigkeit Die Vernichtbarkeitslehre richtet sich in erster Linie gegen den Grundsatz der ipso-iure-Nichtigkeit:50 Sie geht davon aus, dass eine verfassungswidrige Norm nicht von Rechts wegen nichtig ist, sondern vielmehr erst durch eine konstitutive Gestaltungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vernichtet wird.51 Dabei ist zu betonen, dass bei Verfassungswidrigkeit auch nach Ansicht der Vernichtbarkeitslehre grundsätzlich eine Nichtigerklärung auszusprechen ist.52 Das ergebe sich aus der positiven Normierung der Nichtigerklärung in den §§ 78 S. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG sowie aus der Tatsache, dass allein die Nichtigerklärung unmittelbar zu einer Beseitigung der verfassungswidrigen Sinngehalte sowie zu einer Übereinstimmung der Gesetzeslage mit der Verfassung führe.53

1980, 513 (516 f.); Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 114 ff., 145; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16; Schneider, Normenkontrolle, S. 51 ff., 97, 227 f.; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 13 ff.; wohl auch Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 93 Rn. 37; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13. Der Begriff der Vernichtbarkeitslehre geht zurück auf Ipsen, Rechtsfolgen, S. 75. 46 Damit ist allerdings nur die Vernichtbarkeitslehre gemeint, die vom Grundgesetz ausgeht. Sie geht zurück auf die Beiträge von Götz, NJW 1960, 1177 ff.; Hoffmann, JZ 1961, 193 ff. Dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 77. „Abstrakt“ gab es die Vernichtbarkeitslehre freilich schon vor Zeiten des Grundgesetzes, bspw. bei Kelsen, vgl. Fn. 45. 47 Vgl. zu den dogmatischen Wurzeln Ipsen, Rechtsfolgen, S. 76 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 381. 48 BVerfGE 12, 180 (186). 49 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 79. 50 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 99 ff.; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 12 f.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 92 ff.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 34 f., 40 ff. 51 § Götz, NJW 1960, 1177 (1179); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 34; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13; vgl. auch Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 17b. 52 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 145 f., insbes. Fn. 16; Schneider, Normenkontrolle, S. 143. 53 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 145 f., insbes. Fn. 16; ausdrücklich nur auf das zweite Argument Bezug nehmend Schneider, Normenkontrolle, S. 143.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Im Unterschied zur Nichtigkeitslehre wird der Automatismus „Verfassungswidrigkeit = Nichtigkeit“ bestritten,54 womit andere Rechtsfolgen – insbesondere die der Unvereinbarerklärung – dogmatisch ermöglicht werden. (2) Flexibilisierung des Zeitpunktes Differenzierter stellt sich die Lage bezüglich des Zeitpunktes der Unwirksamkeit dar. Mit der Aussage, dass die Norm durch die Nichtigerklärung konstitutiv vernichtet wird, ist noch keine Aussage darüber getroffen, ob die Unwirksamkeit ex nunc oder ex tunc einsetzt.55 Bisweilen liest man, die Vernichtbarkeitslehre gehe von einer Unwirksamkeit ex nunc, d.h. mit Rechtswirkungen nur für die Zukunft, aus.56 Das trifft für Teile des Spektrums der Vernichtbarkeitslehre auch zu.57 Andere Teile der Literatur wiederum stellen die Nichtigkeit ex tunc auch aus Perspektive der Vernichtbarkeitslehre als unstreitig dar58 bzw. gehen von dieser aus.59 Zum Verständnis der Zeitpunktproblematik60 muss man sich den Ausgangspunkt der Vernichtbarkeitslehre nochmals vor Augen führen: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Nichtigkeit der Norm ausspricht, führt die Nichtigkeit konstitutiv herbei. Da das Urteil causa der Nichtigkeit ist, ist damit theoretisch die Möglichkeit eröffnet, den Zeitpunkt der Nichtigkeit zu definieren. Eine durch das Bundesverfassungsgericht angeordnete Nichtigkeit ex nunc bzw. ab einem zukünftigen Zeitpunkt (pro futuro) ist von diesem theoretischen Ausgangspunkt jedenfalls leichter begründbar als aus Perspektive der Nichtigkeitslehre.61 Nach dieser hat das Bundesverfassungsgericht schließlich keinerlei Zugriff auf die Rechtsfolge. Causa der Nichtigkeit des Gesetzes ist nach der Nichtigkeitslehre gerade die Verfassung und nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.62 54 Vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 122; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 45. 55 Hoffmann, JZ 1961, 193 (198) Fn. 62. 56 Vgl. bspw.: März, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 31 Rn. 46; Hoffmann, JZ 1961, 193 (198) Fn. 62; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 390. 57 Bspw. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 147 ff. 58 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 12 spricht von „allgemeiner Auffassung“. 59 Vgl. bspw. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 34. 60 Sicherlich geht ein Teil der einander widersprechenden Aussagen auf fehlende terminologische Präzision zurück, vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 135. 61 Dies ist wohl auch Grundlage der durch Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13 getätigten Aussage, die Vernichtbarkeitslehre vertrage sich besser mit den durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Tenorierungsvarianten. Vgl. insoweit ebenfalls März, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 31 Rn. 46. 62 Vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 120.

II. Der systematische Rahmen

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Andererseits muss eine auf Anwendbarkeit de lege lata63 bedachte Vernichtbarkeitslehre § 79 Abs. 2 BVerfGG64 im Blick haben: Diese Norm besagt, dass „die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt [bleiben, Anm. d. Verfassers].“ Indem die Norm die Wirksamkeit von nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen anordnet, geht sie mit den Folgen einer – durch Nichtigerklärung grundsätzlich herbeigeführten – rückwirkenden Nichtigkeit um und modifiziert diese. Sie geht demnach von einer rückwirkend eintretenden Nichtigkeit aus; andernfalls ergäbe sie keinen Sinn.65 Dementsprechend ging der Gesetzgeber bei der Erschaffung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eindeutig von der ex-tuncNichtigkeit aus.66 Zudem fängt die Norm die praktischen Auswirkungen der rückwirkend eintretenden Unwirksamkeit im Interesse der Rechtssicherheit ab.67 Damit erweisen sich die gröbsten Bedenken gegen eine grundsätzliche ex-tuncUnwirksamkeit als unbegründet. Auch das Bundesverfassungsgericht vertritt explizit die ex-tunc-Wirkung der Nichtigerklärung.68 De lege lata scheidet eine prinzipielle Nichtigkeit ex nunc bzw. pro futuro infolge der Nichtigerklärung demnach aus. Eine auf Anwendbarkeit bedachte Vernichtbarkeitslehre muss daher auch im Grundsatz von einer durch die Nichtigerklärung herbeigeführten Unwirksamkeit ex tunc ausgehen.69 63 Teilweise wird auch gerade auf Grundlage von § 79 BVerfGG eine ex-nunc-Wirkung gefordert, vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 147 ff. Hauptargument ist dabei, dass die Verfassung keinen Grundsatz formulieren könne, der sich praktisch nicht durchhalten lasse und daher einer grundsätzlich geltenden Ausnahme bedürfe: Das widerstrebe der Einheit der Verfassung, Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 158. Dieser Einwand ändert jedoch nichts daran, dass es des § 79 Abs. 2 gar nicht bedürfte, wenn die Nichtigkeit nicht ex tunc eintreten würde. 64 Vgl. zu dieser Vorschrift noch ausführlich unten B.II.2.d) (S. 72). 65 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1252. 66 BT-Drucks. I/788, 34; dazu: BVerfGE 115, 51 (62) m.w. N.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 147. 67 Vgl. dazu noch unten B.II.2.d)aa) (S. 73). 68 Siehe nur: BVerfGE 1, 14 (37): „Aus der Feststellung der Nichtigkeit des Gesetzes ergibt sich, dass es wegen Widerspruchs mit dem Grundgesetz von Anfang an rechtsunwirksam war“; BVerfGE 7, 377 (387): „Die Feststellung der Nichtigkeit wirkt ex tunc“; BVerfGE 8, 51 (71): „Soweit Rechtsvorschriften für nichtig erklärt werden, gilt die Nichtigkeit rückwirkend vom Zeitpunkt ihres ersten Inkrafttretens an.“ Vgl. ebenfalls Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 531a; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 147. 69 Götz, NJW 1960, 1177 (1179) als Pionier der Vernichtbarkeitslehre bringt seinen Ansatz wie folgt auf den Punkt und geht somit von einer ex-tunc-Nichtigkeit des durch das Gestaltungsurteil vernichteten Gesetzes aus: „Verfassungswidrige nachkonstitutionelle Gesetze sind also nicht ipso iure nichtig, sondern durch Gestaltungsurteil des Bundesverfassungsgerichts mit prinzipieller Rückwirkung vernichtbar.“ Vgl. auch ebenda, 1181 Fn. 46, wo Götz seinen Ansatz der Vernichtbarkeitslehre explizit im Gegensatz zur ex-nunc-Lösung der österreichischen Verfassung sieht. Auch Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 51 f., geht von einer grundsätzlichen ex-tunc-Wir-

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Aus Sicht der Vernichtbarkeitslehre richten sich jedoch die gleichen Vorbehalte, die gegen die ipso-iure-Nichtigkeit sprechen, auch gegen die ausnahmslose ex-tunc-Nichtigkeit.70 Der Zeitpunkt der Unwirksamkeit wird durch die Vernichtbarkeitslehre dogmatisch einer Flexibilisierung zugänglich gemacht; das Bundesverfassungsgericht hat über diesen Zeitpunkt zu entscheiden.71 Die vorangehenden Überlegungen zeigen: Grundsätzlich tritt auch nach der Vernichtbarkeitslehre72 die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführte Unwirksamkeit ex tunc ein. Dabei sind jedoch Ausnahmen möglich. (3) Zwischenergebnis Zusammengefasst besagt die so verstandene Vernichtbarkeitslehre: Verfassungswidrige Gesetze sind grundsätzlich rückwirkend (ex tunc) für unwirksam zu erklären. Die Unwirksamkeit tritt durch die Erklärung des Bundesverfassungsgerichts ein. cc) Rechtsvergleichende Betrachtung Eine rechtsvergleichende Betrachtung zeigt, dass sich für beide Ansichten Bestätigungen in ausländischen Rechtsordnungen finden. So ist bspw. in Art. 140 Abs. 5 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes73 angeordnet, dass ein verfassungswidriges Gesetz erst durch die konstitutive Aufhebung des Verfassungsgerichtshofes ex nunc bzw. in einem durch das Gericht bestimmten zukünftigen Zeitpunkt (pro futuro) außer Kraft tritt.74 Der Österreichischen Verfassung kung aus, indem er formuliert: „Aus der Entscheidung des Verfassungsgebers für einen materiellen Rechtsstaat folgt lediglich [. . .], dass kraft Verfassungsrecht gültige (verfassungswidrige) Gesetze nicht endgültig sanktionslos (aufrechterhalten) werden dürfen, dass der verfassungswidrige Rechtssatz mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben wird, sofern eine solche Entscheidung tatsächlich realisierbar ist, und dass ein Verzicht auf eine Kassation ex tunc vorrangige Forderungen der Rechtssicherheit verwirklicht.“ 70 Vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 135 f., der allerdings von einer generellen ex-nunc-Wirkung ausgeht. 71 Vgl. Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 31 f. 72 „Die“ Vernichtbarkeitslehre gibt es freilich nicht, insbesondere in der Zeitpunktfrage ist der Diskussionsstand alles andere als eindeutig. Hier ist eine Variante dieser Lehre gemeint, die im Hinblick auf die geltende Gesetzeslage (insbes. § 79 Abs. 2 BVerfG, siehe B.II.2.b)bb)(2) (S. 40)) anwendbar ist. 73 Art. 140 Abs. 5 des Österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes i. d. F. v. 18.03. 2011 lautet: „Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben wird, verpflichtet den Bundeskanzler oder den zuständigen Landeshauptmann zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung. [. . .] Die Aufhebung tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt. Diese Frist darf 18 Monate nicht überschreiten.“

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liegt demnach die Vernichtbarkeitslehre zu Grunde. In Italien dagegen geht die wohl herrschende Auffassung bei der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes von einem deklaratorischen Feststellungsurteil75 des Corte Constitionale und einer Unwirksamkeit ex tunc76, also von der Nichtigkeitslehre aus. In Brasilien bspw. gilt ebenfalls die Nichtigkeitslehre.77 Das Europarecht geht bei einer Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV von der konstitutiven Wirkung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs und damit von der Vernichtbarkeit der genannten Rechtsakte aus. Zwar wirkt die Nichtigerklärung hier ex tunc, allerdings steht dem Gericht gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV ein weiter Entscheidungsspielraum dahingehend zu, die Wirkungen der Nichtigkeit zeitlich einzuschränken.78 Dies verdeutlicht, dass eine eindeutige Lösung ausscheidet; beide Ansichten sind umsetzbar. dd) Stand der Diskussion Der soeben angedeutete Streitstand beschäftigt die verfassungsrechtliche Literatur seit den ausgehenden fünfziger Jahren.79 Dabei sind die Positionen der Akteure alles andere als klar. Über die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts selbst herrscht Uneinigkeit. Teilweise wird davon ausgegangen, dieses vertrete die Nichtigkeitslehre,80 teilweise wird sich mit der Feststellung begnügt, dessen 74 Vgl. zu den Wirkungen der Entscheidung: Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 236 ff.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 95; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 107 f.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 53 f.; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 26 ff.; Willers, Übergangsfristen, S. 33 f. Die genannten Fundstellen basieren teilweise auf älteren, jedoch im Wesentlichen inhaltsgleichen Fassungen des BundesVerfassungsgesetzes. Vgl. in zeitlicher Hinsicht auch Schmitz/Krasniqi, EuR 2010, 189 (196 ff., insbes. Fn. 73). 75 Vgl. dazu Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 241; Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 16, 18 f.; Dietrich, Der italienische Verfassungsgerichtshof, S. 168. 76 Dietrich, Der italienische Verfassungsgerichtshof, S. 165: Die Wirkung erfasst alle anhängigen Verfahren, nicht aber diejenigen Rechtsverhältnisse, die keiner Änderung mehr zugänglich sind (verjährte Forderungen, unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte, in Rechtskraft erwachsene Urteile). Ausnahme sind auch hier rechtskräftige Strafurteile, die auf für verfassungswidrig erklärten Normen beruhen; der Vollzug dieser Urteile sowie alle strafrechtlichen Wirkungen enden. Die italienische Regelung ähnelt damit der des § 79 BVerfGG, siehe dazu unten B.II.2.c) (S. 72). 77 Mendes, Normenkontrolle, S. 194 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 379 Fn. 21. 78 Dazu m. N. Willers, Übergangsfristen, S. 35 f. 79 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 75. 80 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 97, belegt mit Verweis auf BVerfGE 1, 14 (37), welche in der Tat in Richtung der Nichtigkeitslehre deutet: Die Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes bedeute, „dass es wegen Widerspruchs mit dem Grundgesetz von Anfang an rechtsunwirksam war.“ Zu dem gleichen Urteil gelangen Hein, Unvereinbarerklärung, S. 12, 92; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 383; Röckl, Steuerstrafrecht, S. 207.

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Ansicht sei nicht zu ermitteln,81 teilweise wird (in der älteren Literatur) behauptet, die einschlägigen Entscheidungen ließen sich allesamt als Belege gegen die ipso-iure-Nichtigkeit anführen.82 Ähnlich verhält es sich mit der Deutung, ob das Nichtigkeitsdogma herrschende Lehre ist oder nicht: Diese beinhaltet ein Spektrum von herrschender Lehre83 bis zu einem ausgeglichenen Ergebnis84. Die Entscheidung zwischen den beiden Auffassungen ist für das Verständnis der Rechtsfolgendogmatik von erheblicher Bedeutung. Deshalb werden im Folgenden die wesentlichen Begründungsmuster vorgestellt. (1) Argumentation der Nichtigkeitslehre Die Nichtigkeitslehre wird mit dem Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG sowie mit systematischen und historischen Argumenten begründet. (a) Wortlaut des Art. 100 GG Gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG muss ein Gericht, sofern es „ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt“, für verfassungswidrig hält, das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen. Aus dem Wort „Gültigkeit“ wird geschlossen, dass die Existenz der Norm bereits vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Streit stehe: Auf die Gültigkeit des Gesetzes könne es nur ankommen, wenn das verfassungswidrige Gesetz ungültig, also nichtig sei.85 (b) Systematische Argumente Diese auf den Wortlaut des Art. 100 GG bezogene Argumentation wird durch systematische Erwägungen ergänzt. (aa) Der Vorrang der Verfassung; Rechtsgeltungs- und Kollisionsmodell Zwei wesentliche Begründungsmuster für die Nichtigkeitslehre sind das „Kollisionsmodell“ und das „Rechtsgeltungsmodell“ 86, die beide auf dem Vorrang der Verfassung fußen. 81 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 48; Willers, Übergangsfristen, S. 39 f. 82 Götz, NJW 1960, 1177 (1179); Röckl, Steuerstrafrecht, S. 207. 83 Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 34. 84 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13; vgl. auch Willers, Übergangsfristen, S. 37. 85 Weißauer/Hesselberger, DÖV 1970, 325 (326 f.); Bettermann, AÖR 86 (1961), 129 (172); Ipsen, Rechtsfolgen, S. 165 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 382.

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Ausgangspunkt des Kollisionsmodells ist die Einheit der Rechtsordnung. Innerhalb dieser Rechtsordnung seien Widersprüche unmöglich.87 Danach muss eine von zwei einander widersprechenden Regelungen weichen. Die Kollision zwischen Verfassung und dem späteren verfassungswidrigen Gesetz wäre theoretisch auch nach dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori auflösbar. Legte man diese Kollisionsregel zu Grunde, würde sich das spätere Parlamentsgesetz gegen die Verfassung durchsetzen. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung muss also um den Vorrang der Verfassung ergänzt werden, um die Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes nach dem Grundsatz lex superior derogat legi inferiori zu begründen.88 Die Rangüberlegenheit der Verfassung gegenüber dem einfachen Recht ergibt sich wiederum aus der Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), die es dem Gesetzgeber verbietet, verfassungswidrige Gesetze zu erlassen89 sowie aus 79 Abs. 3 GG.90 In der Kollision zwischen Verfassung und Gesetz muss das rangniedere Gesetz weichen; es ist nichtig.91 Auch das Rechtsgeltungsmodell setzt die Gedanken der Einheit der Rechtsordnung und des Vorrangs der Verfassung voraus92 und begreift die in der Verfassung enthaltenen Regelungen prinzipiell als Rechtsgeltungsbedingungen, die ein Gesetz erfüllen muss, wenn es zustande kommen will.93 Verfassungswidrige Gesetze erlangen nach diesem Erklärungsmodell bereits gar keine Rechtsgeltung. (bb) Unverbrüchlichkeit der Verfassung Auch die Unverbrüchlichkeit der Verfassung94 wird für das Nichtigkeitsdogma ins Feld geführt. Da der Grundsatz des Vorrangs der Verfassung sich vornehmlich 86

Die Terminologie geht zurück auf Ipsen, Rechtsfolgen, S. 73. Arndt, DÖV 1959, 81 (82); vgl. dazu jeweils m.w. N. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 73; Hartmann, DVBl. 1997, 1264. 88 Vgl.: Ipsen, Rechtsfolgen, S. 74, 164; Hartmann, DVBl. 1997, 1264; Sigloch, JZ 1958, 80 f.; Weißauer/Hesselberger, DÖV 1970, 325 (327). 89 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 74; vgl. Sigloch, JZ 1958, 80 (81); Weißauer/Hesselberger, DÖV 1970, 325 (327 f.). 90 Zu Art. 1 Abs. 3 GG: Ebenda; zu Art. 20 Abs. 3, 79 Abs. 3 GG: Weißauer/Hesselberger, DÖV 1970, 325 (327 f.); vgl. auch Arndt, BB 1960, 993 (994); Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 142; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 103; Hufen, Staatsrecht II, § 4 Rn. 4. 91 Weißauer/Hesselberger, DÖV 1970, 325 (327); Sigloch, JZ 1958, 80 (81). 92 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 74. 93 Brinckmann, DÖV 1970, 406 (407); Merkl, FS Kelsen, S. 292 f.; Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 7 ff., 196 f., 215 ff., 271, 275; v. Olshausen, JZ 1967, 116 (117); Schilling, Rang und Geltung, S. 163, 557 ff.; Lippold, Der Staat 29 (1990), 185 (190 f.); vgl. Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1264, 1265 f.) m.w. N.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 74 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 41 m.w. N. 94 Dazu: Ipsen, Rechtsfolgen, S. 159 f. 87

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auf das Verhältnis zwischen Verfassung und Gesetz beziehe, also relative Bedeutung habe, sei er nicht hinreichend aussagekräftig. Für das Gesamtphänomen der unbedingten Geltung der Verfassung sei der Grundsatz der Unverbrüchlichkeit der Verfassung treffender.95 Dieser in den Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 1 S. 1, 79 Abs. 3 und 146 GG normativ verankerte Grundsatz beinhaltet schlicht den Geltungsanspruch der Verfassung; das Grundgesetz verlangt insoweit „unbedingte, dauerhafte und nur die selbst statuierten Ausnahmen zulassende Geltung“.96 Aus diesem Grundsatz ergebe sich, „dass nicht ist, was [nach der Verfassung, Anm. des Verfassers] nicht sein darf.“ 97 (cc) Trennung von verfassungsgebender und gesetzgebender Gewalt Arndt argumentiert, dass man – messe man dem mit der Verfassung unvereinbaren Gesetz auch nur irgendeine Geltung bei – das Gesetz insoweit als verfassungsänderndes Gesetz anerkennt. Das Grundgesetz jedoch trenne verfassungsgebende und verfassungsändernde Gewalt einerseits und gesetzgebende Gewalt andererseits, namentlich durch Art. 20 und 79 GG. Handelten die gesetzgebenden Körperschaften in ihrer Eigenschaft als mit der gesetzgebenden Gewalt betraute Verfassungsorgane, seien sie absolut unzuständig, verfassungsändernde Gewalt auszuüben. Jedes verfassungswidrige Gesetz sei deshalb auch ein ohne Kompetenz erlassenes Gesetz.98 (dd) Systematik des Art. 100 Abs. 1 GG Auch die Systematik des Art. 100 Abs. 1 GG wird für die Nichtigkeitslehre ins Feld geführt. Diese Vorschrift setze gerade voraus, dass der Fachrichter die verfassungswidrige Norm ohne das in Art. 100 Abs. 1 GG ausgedrückte Verwerfungsmonopol nicht anwenden würde. Die Befugnis zur Nichtanwendung könne sich nur aus der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze ergeben.99 (ee) Art. 31 GG Ebenfalls der Systematik des Grundgesetzes ist das argumentum ex Art. 31 GG entnommen, der den Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ enthält. Diese Vorschrift zeige, dass das Grundgesetz eine widerspruchsfreie Rechtsordnung gewährleisten solle. Niemand käme dementsprechend im Rahmen des

95 96 97 98 99

Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160 f. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160. Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266). Arndt, DÖV 1959, 81 (82 f.). Hein, Unvereinbarerklärung, S. 96; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 166.

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Art. 31 GG auf die Idee, Bundesrecht widersprechendes Landesrecht als fehlerhaft, aber gültig und lediglich anfechtbar anzusehen.100 (ff) Art. 123 Abs. 1 GG Ipsen101 sieht in der Regelung des Art. 123 Abs. 1 GG ein entscheidendes Argument für die Nichtigkeitslehre. Gemäß Art. 123 Abs. 1 GG gilt Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages fort, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht. Die dem Grundgesetz widersprechende, vorkonstitutionelle Norm tritt damit ipso iure102 außer Kraft103. Wenn Art. 123 Abs. 1 GG die Rechtsfolge des Widerspruchs vorkonstitutionellen Rechts zum Grundgesetz ipso iure eintreten lasse, dann sei es merkwürdig, warum die Rechtsfolge für nachkonstitutionelle Gesetze anders aussehen solle. Dieses Argument ergänzt Stern um einen weiteren Aspekt: Nach der Vernichtbarkeitslehre gebe es zwei Arten der Normenkontrollentscheidung: Bei vorkonstitutionellen Normen gebe es ein deklaratorisches Feststellungsurteil104 und bei nachkonstitutionellen Normen ein konstitutives Gestaltungsurteil. Für eine solche Differenzierung aber böten weder das Grundgesetz noch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Grundlage.105 (gg) Argumentum ad absurdum Als systematisches argumentum ad absurdum106 wird angeführt, dass – vorausgesetzt der Bürger wäre auch dem verfassungswidrigen Gesetz unterworfen – 100

Arndt, DÖV 1959, 81 (82); Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 101. Rechtsfolgen, S. 161 ff. 102 Darüber hinaus tritt die Wirkung auch ex tunc ein. „Ex tunc“ bezeichnet nämlich nicht zwingend den Zeitpunkt des Entstehens der verfassungswidrigen Norm, sondern vielmehr auch den Zeitpunkt der Kollision mit dem Grundgesetz, vgl. oben B.II.2.b)aa) (S. 36). Ipsen nimmt eine andere Begriffsprägung vor (vgl. Rechtsfolgen, S. 150 f.), die der geläufigen, oben dargestellten widerspricht. Deswegen spricht er in Zusammenhang mit Art. 123 Abs. 1 GG nicht von „ex tunc“, sondern verwendet die Umschreibung des Zeitpunkts der Kollision mit dem Grundgesetz. Dies wiederum erfüllt die obige Definition. Zwecks Einheitlichkeit wird hier die oben verwendete Terminologie aufgegriffen. 103 Hier wird der Terminus „Nichtigkeit“ vermieden, da die Unwirksamkeit des Gesetzes i. R. d. Art. 123 Abs. 1 GG ein „nachträgliches Außerkrafttreten“ ist, Ipsen, Rechtsfolgen, S. 161; Holtkotten, in: BK-GG, Art. 123 Abs. 1 Erl. II 6. Letzteres ist die i. R. d. Art. 123 Abs. 1 GG geläufige Begrifflichkeit, vgl. nur Jarass/Pieroth, GG, Art. 123 Rn. 10.Art. . Im Sinne der obigen Terminologie (vgl. oben B.II.2.b)aa) (S. 36)) der Nichtigkeitslehre, d.h. der Unwirksamkeit ex tunc und ipso iure, könnte man allerdings auch hier von Nichtigkeit sprechen. 104 Das folgt – ohne dass Stern dies ausdrücklich sagt – aus Art. 123 Abs. 1 GG. 105 Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 272. 106 Die Bezeichnung stammt von Ipsen, Rechtsfolgen, S. 74; vgl. auch Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 101. 101

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

ein auf dieses Gesetz gestützter Einzelakt vor der Nichtigerklärung einen Kläger nicht in seinen Rechten verletzen könne. Der Einzelakt habe ja gerade eine Rechtsgrundlage. Eine gegen den auf verfassungswidrigem Gesetz beruhenden Einzelakt gerichtete Anfechtungsklage wäre daher immer unzulässig, ohne dass es zu einer konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG kommen könne.107 (c) Historische Argumente Auch historische Argumente werden für die Nichtigkeitslehre angeführt: Die Nichtigkeitslehre entspreche der „deutschen Verfassungstradition“ 108. Bis zur Geltung des Grundgesetzes sei die Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze nahezu unbestritten geblieben. Hätte das Grundgesetz von der Rechtslage unter der Weimarer Reichsverfassung abweichen wollen, wäre dies deutlich zum Ausdruck gekommen.109 Das Nichtigkeitsdogma liege auch den parlamentarischen Beratungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zu Grunde.110 Der Wortlaut des § 78 S. 1 BVerfGG der ursprünglichen Fassung111 aus dem Jahr 1951 lautete dementsprechend: „Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, dass Bundesrecht mit dem Grundgesetz (. . .) unvereinbar ist, so stellt es in seiner Entscheidung die Nichtigkeit fest“.

Dieser ursprüngliche Wortlaut spreche für die Nichtigkeitslehre.112 Der heutige Wortlaut („erklärt [. . .] für nichtig“) scheint dagegen für die Vernichtbarkeitslehre zu sprechen.113 Das wird jedoch – wiederum aus historischen Gründen – bestritten: Den heutigen Wortlaut hat § 78 S. 1 BVerfGG durch das Vierte Gesetz zur Änderung des BVerfGG vom 21. Dezember 1970114 erhalten.115 Die gleiche Veränderung hat § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG erfahren.116

107 Sigloch, JZ 1958, 80 (81); vgl. dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 74 Fn. 34 mit anderer Interpretation. 108 Ausdruck von Hein, Unvereinbarerklärung, S. 95; vgl. auch Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 138 f.; ferner die Nachweise in Fn. 29 (S. 36). 109 Sigloch, JZ 1958, 80 (81). 110 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 72, Begründung und Nachweise finden sich auf S. 69 ff. 111 Fassung vom 12. März 1951, BGBl. I 1951, 243 (250 f.). 112 Haubold, BWNotZ 2000, 156 (158 f.); vgl. auch Sigloch, JZ 1958, 80 (81); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1249. 113 So Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 47. 114 BGBl. I 1970, 1765 (1766). 115 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 15 Fn. 15; Haubold, BWNotZ 2000, 156 (158). 116 Vgl. die Fassung vom 3. August 1963, BGBl. I 1963, 589, „die Nichtigkeit [. . .] festgestellt hat“, im Vergleich zur Fassung vom 21. Dezember 1970, BGBl. I 1970, 1765 (1766), „für nichtig erklärt“.

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Die Änderung des Wortlauts in Nichtigerklärung habe keine Bedeutung für die Frage der Rechtsfolgen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.117 Zum einen sei der Gebrauch des Wortes „Erklärung“ in diesem Zusammenhang schon immer inkonsistent gewesen, die Worte des Gesetzgebers seien deswegen nicht auf die Goldwaage zu legen: §§ 78 S. 2, 79 Abs. 1, 2 S. 1 und 95 Abs. 3 BVerfGG hätten seit 1951 von Nichtigerklärung gesprochen, während gleichzeitig in §§ 78 S. 1 und 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG von „Feststellung“ die Rede gewesen sei.118 Zum anderen sei der eigentliche Zweck der genannten Wortlautänderungen gewesen, weitergehende Änderungen vorzubereiten, die dem Bundesverfassungsgericht großen Spielraum hinsichtlich des Zeitpunkts und der Folgen der Nichtigkeit hätten einräumen sollen. Diese Änderungen seien allerdings letztlich nicht realisiert worden.119 Zwar wollte der Gesetzgeber mit den Änderungen die gestaltende Wirkung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung betonen. Er führt insoweit aus: „Der Vorschlag [. . .] sieht vor, dass die Nichtigkeitserkenntnisse nicht mehr als Feststellungsurteile umschrieben werden sollen. Die Rechtslage wird erst mit einem Nichtigkeitserkenntnis des Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht und verbindlich geklärt; diesem ist also eine gestaltende Funktion wesenseigen.“ 120

Das steht deswegen nicht im Widerspruch zur Nichtigkeitslehre, weil auch deren Vertreter davon ausgehen, dass dem – nach Auffassung der Nichtigkeitslehre – deklaratorischen Feststellungsurteil gestaltende Wirkungen zu eigen sind;121 Stern spricht insoweit von einer „quasi-gestaltenden Feststellung“.122 Die Rechtsfolgen der Nichtigkeit könnten erst nach der Nichtigerklärung von jedem Gericht angenommen werden123 – dies folgt aus dem Verwerfungsmonopol (Art. 100 Abs. 1 GG).124 Zudem seien an die Entscheidung die in § 79 BVerfGG bezeichneten Rechtsfolgen geknüpft, für welche die Entscheidung demnach konstitutiv sei.125 117 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1249; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 15 Fn. 15; Haubold, BWNotZ 2000, 156 (158); Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 14. 118 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 14. 119 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1249; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 15 Fn. 15; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 14. 120 BT-Drucks. V/3816, S. 7; vgl. auch BT-Drucks. VI/388, S. 9. 121 Diese Wirkungen werden betont von: Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 15 Fn. 5; Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 273; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1250; kritisch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 151 f.; vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 14, der auf die Bindungswirkung bzw. Gesetzeskraft (§ 31 BVerfGG) der verfassungsgerichtlichen Entscheidung verweist. 122 Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 273; vgl. ebenfalls Sachs, RdA 42 (1989), 25 (27). 123 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1250; Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 273. 124 Dazu bereits oben B.II.2.b)aa) (S. 36).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Dass der heutige Wortlaut zumindest nicht gegen die Nichtigkeitslehre angeführt werden kann, wird auch durch eindeutige Äußerungen des Gesetzgebers gestützt: Dieser hat betont, dass es sich bei der Änderung des § 78 S. 1 BVerfGG um eine rein redaktionelle Verbesserung handelt, die den materiellen Inhalt der Vorschrift nicht abwandeln und insbesondere die Frage der Rückwirkung der Nichtigkeitserkenntnisse nicht berühren soll.126 (2) Argumentation der Vernichtbarkeitslehre Die Vertreter der Vernichtbarkeitslehre führen ebenfalls Wortlaut und Systematik des Art. 100 Abs. 1 GG neben einer Vielzahl anderer systematischer Argumente ins Feld. Neben diesen eigenen Begründungsansätzen wird insbesondere das Traditionsargument des Nichtigkeitsdogmas angegriffen. (a) Wortlaut und Systematik des Art. 100 Abs. 1 GG Dreh- und Angelpunkt der Argumentation der Vertreter der Vernichtbarkeitslehre war von Anfang an127 Art. 100 Abs. 1 GG. Diese Verfassungsnorm schließe – anders als von den Anhängern der Nichtigkeitslehre behauptet – die ipso-iureNichtigkeit als Folge der Verfassungswidrigkeit aus.128 Sie setze die Existenz verfassungswidriger Gesetze gerade voraus. Mit den Worten Söhns: „Was ipso iure nichtig ist, kann nicht binden, was zur Vorlage zwingt, bindet, und jede Bindungswirkung setzt die Zugehörigkeit dieser bindenden Norm zur geltenden Rechtsordnung voraus.“ 129

Auf der anderen Seite sei die anhand des Wortes „Gültigkeit“ geführte Argumentation der Gegenansicht130 ein „klassischer Zirkelschluss“: Der Gegenbegriff zu Gültigkeit sei Ungültigkeit, nicht Nichtigkeit. Ungültigkeit bedeute aber nur Unanwendbarkeit. Man könne also keinesfalls unterstellen, Art. 100 Abs. 1 GG 125 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1250; kritisch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 152; Bachof, AÖR 87 (1962), 1 (34 f.). 126 So der Rechtsausschuss in BT-Drucks. VI/1471, S. 5: „Die Änderung stellt nur eine redaktionelle Verbesserung dar. Die in § 78 Abs. 1 enthaltene Formulierung [. . .] soll an die Sprachregelung des Gesetzes in § 78 Satz 2, § 95 Abs. 3 Satz 1 sowie an die vorgeschlagene Fassung des § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 angepasst werden. Der Ausschuss legt Wert auf die Feststellung, dass der materielle Inhalt der Bestimmung hierdurch nicht berührt wird. Insbesondere hat die Änderung keinerlei Bedeutung für die Frage der Rückwirkung der Nichtigkeitserkenntnisse“; dazu Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 47; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 40. 127 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 76 ff. 128 Götz, NJW 1960, 1177 (1178 f.); Böckenförde, Nichtigkeit, S. 61 ff.; Hoffmann, JZ 1961, 193 (197); Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 14; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 123. 129 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 14. 130 Dazu oben B.II.2.b)dd)(1)(a) (S. 44).

II. Der systematische Rahmen

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halte alle ungültigen Normen für nichtig. Art. 100 Abs. 1 GG lasse sich vielmehr nur die verfassungsgerichtliche Kompetenz zur Nichtigerklärung, also die Gestaltungsbefugnis im Falle der Rechtswidrigkeit entnehmen.131 Eine Rechtsordnung mit richterlichem Verwerfungsmonopol sei auch auf die Nichtigkeit ipso iure nicht angewiesen. Diese habe Berechtigung allenfalls in einem „self-executing“ Rechtssystem ohne autoritative Entscheidungsinstanzen.132 Teilweise wird noch absoluter formuliert, die Nichtigkeitslehre sei nicht mit dem in Art. 100 Abs. 1 GG normierten Verwerfungsmonopol vereinbar.133 Ein Gesetz, dessen Nichtigkeit nicht jedermann geltend machen könne, solange eine Nichtigerklärung fehle, sei bis zu diesem Zeitpunkt gültig.134 Diese Folgerung könne nicht mit dem Hinweis entkräftet werden, die Norm sei auch vor der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nichtig, wobei sich wegen des Verwerfungsmonopols niemand auf diese Nichtigkeit berufen könne.135 Dieser Einwand sei eine formaljuristische Spielerei ohne jeden materiellen Gehalt.136 (b) Systematische Argumente Wie die Nichtigkeitslehre stützt sich die Vernichtbarkeitslehre auf eine Vielzahl systematischer Argumente. (aa) Die Rechtsatzkontrollvorschriften als „normative Alternative“ Auf Kelsen fußend hat Söhn den Versuch unternommen, die Vernichtbarkeitslehre mit der Theorie von den Rechtsgeltungsnormen137 in Einklang zu bringen. Seiner Auffassung nach widerspricht die Vernichtbarkeitslehre letztlich nicht der Theorie von den Rechtsgeltungsnormen und damit nicht dem Vorrang der Verfassung. Dazu hat er die Rechtssatzkontrollvorschriften des Grundgesetzes, insbesondere Art. 100 Abs. 1 GG, als Ausdruck einer „normativen Alternative“ im Sinne Kelsens qualifiziert.138 131

Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16. Ebenda. 133 Böckenförde, Nichtigkeit, S. 62; vgl. ebenfalls Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16. 134 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 15, 19. 135 Vgl. zu diesem Erklärungsansatz oben B.II.2.b)aa) (S. 36). 136 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 20. 137 Siehe dazu oben B.II.2.b)dd)(1)(b)(aa) (S. 44). 138 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 28 ff. Den Begriff der „normativen Alternative“, hat Kelsen – zumindest in den entsprechenden Passagen der Reinen Rechtslehre – nicht verwendet. Er selbst spricht vom „Charakter von Alternativbestimmungen“ bzw. vom „Alternativcharakter“ der Bestimmungen, welche die Gesetzgebung regeln, siehe Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 277 f. Den Begriff 132

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Kelsen hat einerseits die Theorie der Rechtsgeltungsnormen vertreten. Diese begreift die in der Verfassung enthaltenen Regelungen prinzipiell als Rechtsgeltungsbedingungen, die ein Gesetz erfüllen muss, wenn es zustande kommen will. Verfassungswidrige Gesetze erlangen nach diesem Ansatz eigentlich keine Rechtsgeltung.139 Um die bereits zu seinen Zeiten geltende Regelung der österreichischen Bundesverfassung, wonach verfassungswidrige Normen lediglich vernichtbar waren, mit seiner Lehre von den Rechtsgeltungsnormen in Einklang zu bringen, hat Kelsen die Lehre von der normativen Alternative140 entwickelt.141 Die normative Alternative sei unter anderem in den Vorschriften über das verfassungsgerichtliche Verfahren enthalten: „Ist die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze einem einzigen Gericht vorbehalten, kann dieses ermächtigt sein, die Geltung des als „verfassungswidrig“ erkannten Gesetzes nicht nur für den einen konkreten Fall, sondern für alle Fälle, auf die sich das Gesetz bezieht, das heißt das Gesetz als solches, aufzuheben. Bis zu diesem Zeitpunkt aber ist das Gesetz gültig und von allen rechtsanwendenden Organen anzuwenden. Ein solches Gesetz kann viele Jahre in Geltung stehen und angewendet werden, bevor es durch das zuständige Gericht als „verfassungswidrig“ aufgehoben wird. Das bedeutet aber, dass die Vorschriften der Verfassung betreffend die Aufhebung von Gesetzen, die den direkten, die Gesetzgebung regelnden Bestimmungen der Verfassung nicht entsprechen, den Sinn haben: dass auch Gesetze, die diesen Bestimmungen nicht entsprechen, gelten sollen, soweit sie nicht und solange sie nicht in der von der Verfassung vorgeschriebenen Weise aufgehoben werden. Die sogenannte [sic] „verfassungswidrigen“ Gesetze sind verfassungsmäßige, aber in einem besonderen Verfahren aufhebbare Gesetze.“ 142

Deswegen hätten die Bestimmungen der Verfassung, welche die Gesetzgebung regeln, „Alternativcharakter“. Der Gesetzgeber hätte die Wahl zwischen zwei Wegen, gültige Gesetze zu erlassen: Der eine sei der, welcher durch die Verfassung direkt bestimmt sei.143 Das ist der Erlass von Gesetzen, die der Verfassung entsprechen. Der andere sei der Weg des Erlasses von Gesetzen, die gegen die Verfassung verstoßen. Der Unterschied zwischen beiden bestehe lediglich darin, dass nach dem zweiten Weg zustande gekommene Gesetze gültig, aber – in einem besonderen Verfahren – aufhebbar seien.144 „normative Alternative“ hat wohl Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 28 ff. erstmals verwendet. 139 Dazu oben B.II.2.b)dd)(1)(b)(aa) (S. 44), insbes. auch die Nachweise in Fn. 93 (S. 45). 140 Siehe zur Terminologie Fn. 138 (S. 51). 141 Diesen Zusammenhang hat Ipsen, Rechtsfolgen, S. 53 f., 171 entwickelt. Dies aufgreifend Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1265 f.). Die Lehre von der normativen Alternative findet sich bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Auflage, S. 84 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 275 ff. 142 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 278. 143 Ebenda. 144 Ebenda.

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Dies aufgreifend hat Söhn Art. 100 Abs. 1 GG entnommen, dass dieser Ausdruck einer normativen Alternative sei: Er ordne an, dass verfassungswidrige Normen bis zur Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht gültig seien.145 Die Rechtssatzkontrollvorschriften setzen demnach somit das verfassungswidrige, aber gültige Gesetz als Gegenstand der konstitutiven Nichtigerklärung voraus.146 Als alternative Rechtsgeltungsnormen würden sie somit einem einfachgesetzlichen Rechtssatz, der andere Rechtsgeltungsnormen verletze, vorläufige verfassungsmäßige Gültigkeit verleihen.147 (bb) Die Systematik der Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG Ferner sei es unzutreffend, aus den Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG zu schließen, dass verfassungswidrige Gesetze nichtig seien. Dies tun die Begründungsansätze der Nichtigkeitslehre, die auf dem Vorrang und der Unverbrüchlichkeit der Verfassung fußen.148 Aus den genannten Verfassungsnormen ergebe sich lediglich, was dem Gesetzgeber verboten sei: Der Erlass verfassungswidrigen Rechts. Das sei der gesamte normative Gehalt der Vorschriften. Sollte nun der Verstoß gegen die Verfassung, insbesondere gegen Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG, die Rechtsfolge der Nichtigkeit haben, bedürfe dies der expliziten Anordnung eines weiteren Rechtssatzes; ein solcher existiere aber nicht.149 (cc) Der Vergleich zu rechtswidrigem Recht Gegen die Nichtigkeitslehre spreche ferner ein Vergleich zu der Situation, in der ein Fachgericht ein Gesetz im nichtformellen Sinne für rechtswidrig hält.150 Zwar könne dieses Gericht das rechtwidrige Recht hier zuständigerweise unangewendet lassen.151 Das sei zwar gesetzlich nicht geregelt, § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG152 gehe aber davon aus. An diese Entscheidung seien andere Gerichte aber nicht gebunden. Diese dürften und müssten das Gesetz vielmehr weiter anwenden, hielten sie es für rechtmäßig. Das vertrage sich nicht mit der Nichtig145 Siehe zu diesem Argument soeben B.II.2.b)dd)(2)(a) (S. 50), sowie den Nachweis in Fn. 134 (S. 51). 146 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 29. 147 Ebenda. 148 Vgl. oben B.II.2.b)dd)(1)(b)(aa) (S. 44). 149 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 9 f.; vgl. auch Böckenförde, Nichtigkeit, S. 55 f. 150 Zu denken ist hier bspw. an eine Rechtsverordnung, die einem Gesetz im formellen Sinne widerspricht. 151 Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG gilt hier gerade nicht. 152 Pestalozza argumentiert mit § 76 Nr. 2 BVerfGG vom 12.03.1951, BGBl. I 1951, 243, in der Fassung vom 12.12.1985, BGBl. I 1985, 2226, welche der aktuellen Fassung des § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG vom 11.08.1993, BGBl. I 1993, 1473 in der Fassung vom 21.12.2010, BGBl. I, 2248, entspricht.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

keitslehre,153 da ein Gesetz im nichtformellen Sinne bei der Kollision mit einem Gesetz im formellen Sinne somit gerade nicht ipso iure nichtig zu sein scheint. (dd) Der Vergleich zu anderen Staatsakten Es sei zudem widersprüchlich, einerseits das Schweigen der Verfassung im Falle der Rechtswidrigkeit von Normen als beredt zu deuten, das heißt für die Nichtigkeit ipso iure, andererseits dem Schweigen der Verfassung bezüglich anderer Staatsakte nicht diese Bedeutung beizumessen.154 Es mache keinen Sinn, ausgerechnet bei (verfassungs-)rechtswidrigen Normen – anders als in der Regel bei Einzelakten – von der Nichtigkeit auszugehen, da doch die Folgen dieser Nichtigkeit meist viel unkontrollierbarer seien als die der Nichtigkeit eines Einzelakts.155 (ee) Systematik des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes Auch die Systematik des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes spreche gegen die Nichtigkeitslehre. So könne in einem Organstreitverfahren eine Rechtsnorm zwar inzident überprüft werden, die Möglichkeit der Nichtigerklärung aber sei im Bundesverfassungsgerichtsgesetz gerade nicht vorgesehen. Hier könne das Bundesverfassungsgericht lediglich die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen. Die verbindliche Feststellung der Nichtigkeit im Tenor werde also im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht als notwendige Folge der Verfassungswidrigkeit angesehen. Dies wiederum widerspreche der Nichtigkeitslehre. Das Gleiche gelte für das Wahlprüfungsverfahren.156 (ff) Fehlende Umsetzung der Ex-tunc-Nichtigkeit in der Praxis Der Nichtigkeitslehre wird ferner entgegengehalten, dass in der Praxis von der Nichtigkeit ex tunc nicht zuletzt wegen § 79 BVerfGG157 nicht viel übrig bleibe.158 Die Verfassung könne sinnvollerweise keinen Grundsatz bedingen, der sich in der Praxis nicht durchführen lasse, vielmehr durch eine regelmäßig notwendige Ausnahme überdeckt werde.159 153

Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16. Ebenda; vgl. Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 45 f. 155 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16. 156 Pestalozza, FS 25 Jahre BVerfG I, S. 521 f.; vgl. Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 45 f. 157 Zu dieser Norm noch ausführlich unten B.II.2.d) (S. 72). 158 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16; vgl. ebenfalls Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 158; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 34. 159 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 158. 154

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(gg) Rechtssicherheit; tatsächliche Unmöglichkeit der rückwirkenden Unwirksamkeit Auch der Grundsatz der Rechtssicherheit wird zugunsten der Vernichtbarkeitslehre angeführt. Die aus dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 2, 3 GG abgeleiteten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geböten die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit vom Staat gesetzter und demgemäß rein tatsächlich „gewirkt habender“ Rechtssätze.160 Es bestehe deswegen ein Rechtsschein zugunsten der Gültigkeit der Rechtsnorm.161 Böckenförde argumentiert, die Norm sei bereits deshalb wirksam, weil sie angewendet worden sei; diese Wirksamkeit könne auch nicht mehr rückwirkend beseitigt werden.162 (hh) Vereinbarkeit mit anderen Entscheidungsvarianten Der Vernichtbarkeitslehre wird ferner zugutegehalten, dass sie besser mit den übrigen Tenorierungsvarianten vereinbar ist, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat.163 Wie noch zu zeigen sein wird, führt insbesondere die Unvereinbarerklärung nämlich nicht zur Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes, sondern ermöglicht in Verbindung mit einer Weitergeltungsanordnung sogar die weitere Anwendbarkeit verfassungswidrigen Rechts. (c) Unzulässigkeit des „Traditions-Arguments“ Für schlicht unzulässig befunden wird das sog. Traditions-Argument. Die Tatsache, dass die Nichtigkeitslehre für über hundert Jahre für richtig befunden wurde, entbinde nicht von der Pflicht nachzuweisen, dass auch das Grundgesetz diese tradierte Rechtsauffassung übernommen habe.164 (d) Untragbare Folgen der Nichtigkeitslehre Ein zentrales Argumentationsmuster der Vernichtbarkeitslehre sind die untragbaren Folgen der Nichtigkeitslehre. Der ipso-iure-Automatismus, der bei Verfassungswidrigkeit automatisch die Nichtigkeit des Gesetzes annimmt, führt nach Ansicht der Vernichtbarkeitslehre zu untragbaren Ergebnissen für den Gesetzes160 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 128, 157 f.; vgl. ebenfalls Böckenförde, Nichtigkeit, S. 112 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 34; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 39 ff. 161 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 93 Rn. 34. 162 Böckenförde, Nichtigkeit, S. 115 ff., insbes. S. 118. 163 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 13; vgl. ebenfalls März, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 31 Rn. 46. 164 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 139.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

adressaten wie das Gemeinwesen und damit zu neuen Widersprüchen zur Verfassung. Die Nichtigkeitslehre verfahre nach dem Prinzip „fiat constitutio, pereat res publica“ bzw. „fiat iustitia et pereat mundus“ 165. Mit res publica bzw. mundus sei gleichzeitig auch die iustitia bzw. constitutio in Frage gestellt.166 Das zeige bereits der Blick auf einige vom Bundesverfassungsgericht entschiedene Sachverhalte:167 So entstünden im Steuerrecht168 im Falle einer Nichtigkeit unter Umständen erhebliche Ausfälle von Steuereinnahmen, die im Haushalt bereits verplant seien, viele Milliarden überschritten und nicht kompensierbar seien. Zudem seien die Folgen für die Betroffenen nicht kalkulierbar; Unternehmer etwa könnten nicht kalkulieren, wenn das Umsatzsteuergesetz für nichtig erklärt würde und damit zu rechnen sei, dass später ein rückwirkendes Steuergesetz erlassen werde.169 Ähnliche Unwägbarkeiten fänden sich im Staatsangehörigkeitsrecht170 – hier müssten im Falle der Nichtigkeit Neugeborene für staatenlos erklärt werden, Anträge auf Einbürgerung könnten nicht bearbeitet werden.171 Auch bei Gesetzen, die Institutionen konstituieren und ihre Verfahren regeln – beispielsweise Wahlgesetze sowie Gesetze, die den Zugang zu Hochschulen regeln – seien die Folgen der Nichtigkeit schier untragbar: Bei Hochschulzugangsgesetzen172 sei unklar, ob bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber keine oder umgekehrt alle Bewerber zur Hochschule zuzulassen seien.173 Müsste eine durch Gesetz erfolgte verfassungswidrige Wahlkreiseinteilung174 für nichtig erklärt werden, so führe die Nichtigerklärung des Gesetzes einerseits zum Wegfall eines auf Grundlage des Gesetzes gewählten Parlaments. Andererseits könnte kein neues Parlament gewählt werden.175 Eine Nichtigerklärung dürfe vielmehr dann nicht erfolgen, wenn sie „zu einer evidenten schwerwiegenden Verböserung der Verhältnisse (zur Rechtsunsicherheit, zur handgreiflichen Ungerechtigkeit, zur Funktionsunfähigkeit eines Verfas165 Vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 132 bzw. S. 161. Zu diesem Sprichwort bereits Fn. 4 (S. 27). 166 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 132, 161. 167 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 130. 168 Moench bezieht sich ausdrücklich auf BVerfGE 21, 12; 23, 242. 169 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 130 f. 170 Darüber war in BVerfGE 37, 217 zu befinden. 171 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 131. 172 Über solche war in BVerfGE 33, 303 zu richten. 173 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 131. 174 Eine solche Konstellation lag BVerfGE 16, 130 zu Grunde, in der das Bundesverfassungsgericht eine Appellentscheidung ausgesprochen hat, vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 15 f.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 84 ff. 175 Maunz, BayVBl. 1980, 513 (517); vgl. dazu ebenfalls Hein, Unvereinbarerklärung, S. 15 f.; Rupp, JuS 1963, 469 (473).

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sungsorgans, zur Lähmung der Verwaltung oder zur Zerrüttung des Staatshaushalts)“ 176 führe. (3) Abwägungslehren Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben sich die hier so genannten Abwägungslehren entwickelt. Diese begreifen die Rechtsfolge, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ausspricht, als Ergebnis eines Abwägungsprozesses. (a) Der Abwägungsgedanke bei Söhn und Moench Der Abwägungsgedanke taucht bereits bei Söhn und Moench auf.177 Beide sind freilich Vertreter der Vernichtbarkeitslehre;178 der Abwägungsgedanke stützt bei beiden diese Lehre und richtet sich gegen die Nichtigkeitslehre. Söhn begreift die Rechtsfolge, die das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung anordnet, als Ergebnis der Abwägung zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit: „Aus der Entscheidung des Verfassungsgebers für einen materiellen Rechtstaat folgt lediglich [. . .], dass kraft Verfassungsrecht gültige (verfassungswidrige) Gesetze nicht endgültig sanktionslos (aufrechterhalten) werden dürfen, dass der verfassungswidrige Rechtssatz mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben wird, sofern eine solche Entscheidung tatsächlich realisierbar ist, und dass ein Verzicht auf eine Kassation ex tunc vorrangige Forderungen der Rechtssicherheit verwirklicht.“ 179

Demnach gelte der Grundsatz: „Soviel materielle Gerechtigkeit wie möglich und soviel Rechtssicherheit wie nötig.“ 180 Auch bei Moench – dem in diesem Punkt Teile der Literatur gefolgt sind181 – liegt der Abwägungsgedanke der Rechtsfolgendogmatik zu Grunde. Gegen die Nichtigkeitslehre führt er aus: „Eine Verfassung, die zur Sicherung und Optimierung ihrer Normativität Kontrollmechanismen institutionalisiert, muss dies in einer Weise tun, dass sich die Schutzmechanismen nicht gegen sie selbst richten, indem sie neue Friktionen mit der Verfassung hervorrufen [. . .]. Was aus der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes folgt, kann also nur die Verfassung als systemische Struktur und Einheit beantworten.“ 182 176

Geiger, FS Maunz, S. 139; ebenso Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 131 f. Dies hat Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266) erarbeitet. 178 Siehe oben Fn. 45 (S. 38). 179 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 51, Hervorhebungen des Originals sind nicht wiedergegeben. Vgl. in anderem Zusammenhang bereits Fn. 69 (S. 41). 180 Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 51. 181 Vgl. bspw.: Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 107 f.; Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266); Schneider, Normenkontrolle, S. 134 ff. 182 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 142. 177

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Aus dem in den Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 3 GG verankerten Vorrang der Verfassung könne deswegen nicht geschlossen werden, dass ein verfassungswidriges Gesetz zwangsweise nichtig sei. Vielmehr ordne dieser nur an, dass der verletzten Verfassungsnorm wieder Geltung zu verschaffen sei, ohne eine Aussage über das „Wie“ zu treffen.183 Die Form des Vollzugs dieses Vorrangs der Verfassung sei „als Konkretisierung der Verfassung eine Variable einer zwischen verschiedenen, in einem Spannungsverhältnis zueinander stehenden, verfassungsrechtlichen Strukturelementen vorzunehmenden Optimierung [. . .]. Der Vorrang der Verfassung verlangt deshalb keineswegs unter einseitiger Maximierung der Normativität der verletzten Verfassungsnorm zwangsläufig unmittelbar die Nichtigerklärung des kollidierenden Gesetzes, sondern nur die baldmögliche (optimale) Beseitigung des Normverstoßes unter Beachtung aller verfassungsrechtlichen Normprogramme.“ 184

(b) Die Abwägungslehre Blüggels Ende der neunziger Jahre hat Blüggel der festgefahrenen Diskussion eine entscheidende neue Wendung gegeben. Zum einen hat er den Abwägungsgedanken und die Vernichtbarkeitslehre dogmatisch voneinander gelöst. Zum anderen hat er die Abwägungslehre zu einer ausdifferenzierten Lehre fortentwickelt. Die neuere Literatur zur Unvereinbarerklärung hat sich der von ihm entwickelten Lehre zum Teil angeschlossen.185 Blüggels Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Auseinandersetzung zwischen Nichtigkeits- und Vernichtbarkeitslehre nicht überzeugend entschieden ist. Er wirft die Frage auf, ob es überhaupt erforderlich ist, zu diesem Disput abschließend Stellung zu nehmen. Dies sei dann entbehrlich, wenn beide Positionen keine absolute Geltung beanspruchen würden und sich demnach nicht gegenseitig ausschlössen.186 Dabei sei die Nichtigerklärung ein geeignetes Mittel, um die Unverbrüchlichkeit der Verfassung sicherzustellen. Diese Aussage sei auch allgemein konsensfähig. Sie sei aber rechtslogisch nicht zwingend, wie Rechtsordnungen, die eine bloße Aufhebbarkeit verfassungswidriger Normen vorsähen,187 zeigen würden.188 183

Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 142 f. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 143. 185 Vgl. nur: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 105 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 113. 186 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 142 f. 187 Dabei verweist er auf die österreichische, italienische, portugiesische, die rheinländ-pfälzische Verfassung sowie auf Art. 174 Abs. 2 EGV v. 31.08.1992, ABl. EG Nr. C 224/62, der dem heutigen Art. 264 AEUV v. 30.03.2010, ABl. EU Nr. C 83/163, entspricht: Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 144 Fn. 86. Vgl. zur Rechtsvergleichung auch oben B.II.2.b)cc) (S. 42). 188 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 143 f. 184

II. Der systematische Rahmen

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Das Nichtigkeitsdogma zeige lediglich, was rechtlich gesollt sei, habe somit lediglich normativen, aber keinen logischen Charakter. Das Dogma sei somit eine Rechtsnorm.189 Diese Rechtsnorm habe die Funktion, die normative Kraft der Verfassung zu wahren und die Unverbrüchlichkeit der Verfassung bzw. den Vorrang der Verfassung zu sichern;190 sie lasse sich somit verfassungsrechtlich ableiten und grundgesetzlich verankern.191 Sie sei demnach Verfassungsnorm und im Normalfall auch geeignet, den Vorrang der Verfassung sicherzustellen; durch Eliminierung der Norm werde (im Normalfall) der Verfassungsverstoß beseitigt.192 Sodann qualifiziert er – i. S. d. Terminologie Alexys193 – die Verfassungsnorm Nichtigkeitsdogma als Prinzip. Alexy unterteilt nämlich Verfassungsnormen in Prinzipien und Regeln.194 Prinzipien sind dabei „Normen, die gebieten, dass etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird.“ 195 Prinzipien seien also Optimierungsgebote,196 im Gegensatz zu Regeln, die Normen enthielten, „die stets nur erfüllt oder nicht erfüllt werden können.“ 197 Würden zwei Prinzipien kollidieren, so trete eines zurück, ohne dass das zurücktretende Prinzip für ungültig zu erklären oder eine Ausnahmevorschrift in dieses aufzunehmen sei.198 Kollidieren dagegen zwei Regeln, so ist nach Alexy das Gegenteil der Fall: Entweder sei eine Ausnahmevorschrift in eine der Regeln einzufügen oder mindestens eine der Regeln sei für ungültig zu erklären.199 Prinzipienkonflikte fänden demnach in der „Dimension der Gewichtung“, Regelkonflikte in der „Dimension der Geltung“ statt.200 Die Qualifikation des Nichtigkeitsdogmas als Prinzip nimmt Blüggel induktiv vor: Er untersucht dazu exemplarisch einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts201, in denen dieses Unvereinbarerklärungen ausgesprochen hatte. 189

Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 145. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 143 unter Verweis auf Hesse, Grundzüge, Rn. 42 ff.; ders., Die normative Kraft der Verfassung, S. 1 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 160. Den Vorrang der Verfassung nennt Blüggel auf S. 151. 191 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 145. 192 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 16 f., 151. 193 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71–125. 194 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71. 195 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 146. 196 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 146. 197 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 146. 198 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 f.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 147. 199 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 146. 200 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 147. 201 BVerfGE 83, 130; 85, 191 und den beamtenbesoldungsrechtlichen Komplex BVerfGE 34, 9; 56, 146; 56, 175. 190

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

In diesen untersuchten Entscheidungen habe das Gericht jeweils eine Abwägung kollidierender Verfassungsnormen vorgenommen: Auf der einen Seite der steht dabei jeweils die Verfassungsnorm, die durch das verfassungswidrige Gesetz verletzt wird und die eine Vernichtung dieses Gesetzes fordert. Auf der anderen Seite steht jeweils eine Verfassungsnorm, die eine Erhaltung der verfassungswidrigen Norm gebietet. Da die Verfassung wolle, dass beide Normen gelten, finde die Kollision in der Dimension der Gewichtung, nicht der Geltung statt: Es handele sich daher auf beiden Seiten um Prinzipien.202 Ergebnis dieser dogmatischen Einordnung ist es, dass das Nichtigkeitsdogma einer Abwägung zugänglich gemacht ist: Ob es gilt, ist eine Frage der Abwägung von kollidierenden Verfassungsnormen im Einzelfall. Da das Nichtigkeitsdogma keine absolute Geltung beanspruche, müsse zu der Kontroverse zwischen dem Nichtigkeitsdogma und der Vernichtbarkeitslehre nicht abschließend Stellung genommen werden.203 Damit ist gleichzeitig eine weitere – wie sich noch zeigen wird zentrale – Aussage verbunden: Das Aufrechterhalten einer Norm müsse durch eine Verfassungsnorm gefordert, das Zurücktreten des Nichtigkeitsprinzips gerechtfertigt sein.204 (4) Zwischenergebnis Es ist unmöglich, auf Grundlage der Argumentation der beiden Lehren eine eindeutige Überlegenheit einer Ansicht auszumachen. Die jüngere Literatur vermeidet es deshalb, hier Stellung zu beziehen.205 Eine Entscheidung auf Grundlage der vorgetragenen Argumente kann letztlich nicht befriedigen; es ist nicht abzustreiten, dass beide Seiten – auf abstrakter Ebene – gute Argumente auf ihrer Seite haben.206 Insbesondere die für beide Lehren zentrale Argumentation zu und um Art. 100 Abs. 1 GG207 neutralisiert sich wechselseitig. Es kann deshalb durchaus von einem argumentativen Patt gesprochen werden.208 202 203 204 205

Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 147 ff. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 151. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 152 f., 186 f. Vgl. bspw. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 142 f.; Willers, Übergangsfristen,

S. 40. 206 Eine sehr überzeugende Darstellung der Nichtigkeitslehre findet sich bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 159 ff. Die Vernichtbarkeitslehre wird überzeugend von Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 142 ff., und Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 13 ff. vertreten, vgl. zu beiden oben B.II.2.b)dd)(3)(a) (S. 57). 207 Dazu oben B.II.2.b)dd)(1)(a) (S. 44), B.II.2.b)dd)(1)(b)(dd) (S. 46), B.II.2.b)dd) (2)(a) (S. 50), B.II.2.b)dd)(2)(b)(aa) (S. 51). 208 Auch Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 142, kommt im Jahr 1998 zu dem Ergebnis, der Streitstand sei nach wie vor nicht überzeugend entschieden.

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ee) Dogmatische Analyse und Stellungnahme Um das auf Grundlage der herkömmlichen Argumentation kaum auflösbare Problem einer Lösung zuzuführen, werden beide Ansichten einer Analyse unterzogen. Die Problemlösung wird dadurch erschwert, dass sich die Argumentation vom zu Grunde liegenden dogmatischen Problem weitgehend verselbständigt hat: Auf beiden Seiten werden – auf abstrakter Ebene – zwei scheinbar absolut gegensätzliche Lehren gegenübergestellt. Dabei werden Argumente ausgetauscht, ohne dass im Einzelnen genau ersichtlich ist, wo Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede der beiden Auffassungen liegen; die wichtigsten Determinanten der Auseinandersetzung liegen im Unklaren. Die tatsächlich vertretenen Auffassungen sind in ihrer konkreten Anwendung sehr viel differenzierter, als diese abstrakte Gegenüberstellung vermuten lässt. Es gilt auch an dieser Stelle, dass die Wahrheit nicht auf abstrakter Ebene zu finden ist, sondern im Konkreten.209 Daher soll anhand einer konkreten Betrachtung eine gemeinsame Position beider Ansichten – im Sinne eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ – formuliert und somit gleichzeitig die tatsächlich streitigen Unterschiede erarbeitet werden. Die Ansichten sollen dabei nicht auf ihre Kernaussagen reduziert werden, sondern in ihrer Gesamtheit einfließen [(1)]. So soll eine dogmatische Ausgangsposition für die Entscheidung zwischen den beiden Ansichten [(2)] erarbeitet werden. (1) Dogmatische Schnittmenge der beiden Auffassungen Bei eingehender Betrachtung ist auffallend, dass die Gemeinsamkeiten der beiden Auffassungen größer sind, als der aufwändig geführte Streit vermuten lässt. (a) Fehlende Vertretbarkeit einer „strengen“ Nichtigkeitslehre Eine wichtige Erkenntnis aus der Argumentation der Vernichtbarkeitslehre ist, dass die ex-tunc-Unwirksamkeit verfassungswidriger Gesetze keinesfalls ausnahmslos gelten darf – insoweit ist der Vernichtbarkeitslehre in jedem Fall Recht zu geben. Diese Lehre streitet gegen ein sehr streng verstandenes Nichtigkeitsdogma an, das ausnahmslos die ex-tunc-Unwirksamkeit aller verfassungswidrigen Gesetze beinhaltet.210 Eine solche „strenge“ Nichtigkeitslehre ist in der Tat kaum vertretbar; sie muss die in ständiger Rechtsprechung angewendete Unvereinbarerklärung gänzlich ablehnen. Diese führt nämlich gerade nicht zur ex-tuncUnwirksamkeit verfassungswidriger Gesetze. Im Zusammenhang mit einer Wei209

Nach Hegel, Bd. 17, S. 221; vgl. ebenfalls Bd. 13, S. 100; Bd. 16, S. 38. Vgl. bspw. die Formulierung des Nichtigkeitsdogmas bei Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 130. 210

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

tergeltungsanordnung kann das verfassungswidrige Gesetz sogar weiterhin angewendet werden.211 Die Verfassung darf jedoch nicht zu einem Tunnelblick verleiten. Sie kann nicht um des Nichtigkeitsdogmas willen andere Verfassungsnormen außer Betracht lassen: Es muss zumindest möglich sein, dass andere Verfassungsnormen die Nichtigkeitsrechtsfolge außer Kraft setzen. Andernfalls würde das Nichtigkeitsdogma dazu führen, dass zwecks Beseitigung der Verletzung eines Grundrechts andere, sogar schwerste Verfassungsverletzungen hingenommen würden. Eine solch einseitige Maximierung ist unzulässig und wird der Differenziertheit der grundgesetzlichen Ordnung nicht gerecht, die vielmehr einen schonenden, verhältnismäßigen Ausgleich, praktische Konkordanz zwischen Verfassungsgütern anstrebt.212 Dies haben die Abwägungslehren Söhns, Blüggels und Moenchs überzeugend nachgewiesen.213 Auch ist es zutreffend, dass eine so streng verstandene Nichtigkeitslehre in der Praxis untragbare Konsequenzen hätte.214 Als pars pro toto kann hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge) genannt werden. Dort wurde letztlich der gesamte Einkommensteuertarif für verfassungswidrig befunden.215 Von einer Nichtigerklärung wären Einnahmen betroffen gewesen, die rund ein Drittel der jeweiligen Einnahmen des Bundes und der Länder in einem Haushaltsjahr ausmachten.216 Die Rechtsfolgendogmatik muss dies zur Kenntnis nehmen und ein hinreichend flexibles „Folgenmanagement“ 217 durch das Bundesverfassungsgericht ermöglichen. Bemerkenswert ist, dass eine derart strenge Nichtigkeitslehre, gegen die berechtigterweise so vehement vorgegangen wird – zumindest unter den neueren Beiträgen – von den meisten Befürwortern der Nichtigkeitslehre gar nicht vertreten wird. Diese gehen vielmehr davon aus, dass die Unvereinbarerklärung grundsätzlich zulässig ist.218 Gestritten wird lediglich über deren Voraussetzungen.219

211

Dazu noch ausführlich unten B.III. (S. 81). Vgl. dazu nur Hesse, Grundzüge, Rn. 317 ff.; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, Einl. Rn. 221; Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 31. 213 Siehe dazu oben B.II.2.b)dd)(3) (S. 57). 214 Siehe dazu oben B.II.2.b)dd)(2)(d) (S. 55). 215 Zu dieser Entscheidung noch ausführlich unten C.I.1.b) (S. 153). 216 Dazu ausführlich und mit Nachweisen unten C.I.1.b)bb)(2)(b) (S. 166). 217 Vgl. Steiner, NJW 2001, 2919 (2922). 218 Vgl. bspw. die oben (Fn. 31, S. 36) genannten Vertreter der Nichtigkeitslehre, von denen die Unvereinbarerklärung ausdrücklich zulassen: Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 396, 402, 410; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 213 f., 220 f.; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 207 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 Rn. 89. Ebenso wohl auch Lechner/Zuck, BVerfGG, § 78 Rn. 8 ff.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 538 ff., unkritisch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts referierend. Von der generellen Unzulässigkeit der Unvereinbarerklärung gehen 212

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Es gilt hier also: Verfassungswidrige Gesetze sind keinesfalls ausnahmslos ex tunc unwirksam. (b) Gemeinsamkeit hinsichtlich der grundsätzlichen Rechtsfolge Zudem ergibt sich aus beiden Auffassungen, dass eine verfassungswidrige Norm im Grundsatz letztlich ex-tunc unwirksam sein muss. Diese Aussage lässt sich als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen Nichtigkeits- und Vernichtbarkeitslehre formulieren; es herrscht demnach Einigkeit hinsichtlich der letztendlichen, grundsätzlichen Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit einer Norm. Für die Nichtigkeitslehre ist diese Aussage selbstverständlich: Sie geht davon aus, dass verfassungswidrige Gesetze ipso iure und ex tunc unwirksam sind. Die genannte Rechtsfolge wird hier automatisch erreicht; das Bundesverfassungsgericht stellt sie lediglich deklaratorisch in einer Nichtigerklärung fest. Zur Begründung dieser Aussage führt die Nichtigkeitslehre den Vorrang und die Unverbrüchlichkeit der Verfassung sowie eine Vielzahl anderer systematischer Argumente an.220 Auch die Vernichtbarkeitslehre geht bei genauer Betrachtung von diesem Ergebnis aus. Das Bundesverfassungsgericht spricht nach dieser Ansicht bei Verfassungswidrigkeit grundsätzlich eine Nichtigerklärung aus. Die Begründung ist jedoch verfassungsprozessrechtlich geprägt: Die §§ 78, 95 Abs. 3 BVerfGG gingen erkennbar von der Nichtigerklärung als Regelfall bei der Verfassungswidrigkeit einer Norm aus.221 Auch die Vernichtbarkeitslehre muss zudem wegen § 79 Abs. 2 BVerfGG von der rückwirkenden Unwirksamkeit als Grundsatz ausgehen.222 Auch nach ihr ist letztendlich ein verfassungswidriges Gesetz im Grundsatz ex tunc unwirksam. Uneinigkeit herrscht allerdings darüber, wie diese Rechtsfolge herbeigeführt wird: Die Vernichtbarkeitslehre geht davon aus, dass die Rechtsfolge vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen wird und erst dadurch eintritt, wohingegen die Rechtsfolge auf Grundlage der Nichtigkeitslehre ipso iure, „automatisch“ eintritt.

dagegen aus: Sachs, NVwZ 1982, 657 (660 f.); Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 277 ff., insbes. 285. Stern betrachtet dabei das Nichtigkeitsdogma bei Verfassungswidrigkeit zwar als ausnahmslos, will aber bereits die Verfassungswidrigkeit der Norm ablehnen, wenn die Fortgeltung der Norm von der Verfassung gefordert wird. 219 Dazu noch ausführlich unten B.III.4. (S. 104). 220 Dazu oben B.II.2.b)dd)(1)(b)(aa) (S. 44). 221 Dazu oben B.II.2.b)bb)(1) (S. 39). 222 Dies gilt freilich nur dann, wenn sie de lege lata anwendbar sein möchte, vgl. im Einzelnen B.II.2.b)bb)(2) (S. 40).

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(c) Gemeinsamkeit hinsichtlich der Rolle des Bundesverfassungsgerichts Einvernehmen herrscht auch bezüglich der Rolle des Bundesverfassungsgerichts: Erst auf Grund der Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht kann die Nichtigkeit geltend gemacht werden, vorher ist die Norm zumindest nicht als nichtig zu behandeln – das ist Ausfluss des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts. Diese Tatsache ist für die Vernichtbarkeitslehre eine Selbstverständlichkeit, da diese von der Wirksamkeit des Gesetzes bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgeht,223 und wird auch von der Nichtigkeitslehre nicht bestritten.224 (d) Zwischenergebnis: „Nichtigkeitsgrundsatz“ Es hat sich somit gezeigt: Eine strenge Nichtigkeitslehre, die als Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit ausnahmslos die Nichtigkeit des Gesetzes kennt, ist in jedem Fall abzulehnen. Gleichzeitig aber teilen beide Ansichten die Aussage: Grundsätzlich sind verfassungswidrige Gesetze letztlich225 ex-tunc unwirksam, d. h. nichtig. Ausnahmen dazu sind möglich. Die Rechtswirkungen der Nichtigkeit können erst ab einer Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden. Diese Aussagen lassen sich zusammengefasst als „Nichtigkeitsgrundsatz“ bezeichnen. Dieser Nichtigkeitsgrundsatz kommt auch in der häufig getroffenen Aussage zum Ausdruck, die Nichtigkeit eines Gesetzes sei die Regelfolge der Verfassungswidrigkeit.226 Die wichtigste Erkenntnis des Nichtigkeitsgrundsatzes ist, dass ein Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht: Die Nichtigkeit des Gesetzes ist bei Verfassungswidrigkeit die Regel, ein Abweichen von der Nichtigkeitsrechtsfolge begründungsund rechtfertigungsbedürftige Ausnahme.227 Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis liefert eine Struktur für die gesamte Rechtsfolgendogmatik. Für den Verfassungs-

223

Vgl. oben B.II.2.b)bb) (S. 38). Vgl. oben B.II.2.b)aa) (S. 36). 225 Nach der Vernichtbarkeitslehre tritt diese Rechtsfolge erst durch die Nichtigerklärung ein, nach der Nichtigkeitslehre ipso iure. Die Art und Weise des Eintretens der Rechtsfolge wird durch den Nichtigkeitsgrundsatz noch nicht entschieden. 226 Vgl. Fn. 17 (S. 34). 227 Dies hat Blüggel überzeugend ausgeführt, vgl. dazu oben B.II.2.b)dd)(3)(b) (S. 58). Er nennt dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis „Nichtigkeitsprinzip“. So – ohne weitere Begründung – vorher bereits Maurer, FS Weber, S. 346. 224

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richter, der über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes und deren Rechtsfolgen zu entscheiden hat, ist damit vorgegeben: Es ist grundsätzlich eine Nichtigerklärung auszusprechen. Damit sind die Gemeinsamkeiten der beiden Ansichten bei näherer Betrachtung groß, was jedoch in der Darstellung des Meinungsstreits häufig nicht deutlich wird. Das liegt daran, dass insbesondere die Vernichtbarkeitslehre häufig verkürzt verstanden und dargestellt wird. Sie wird auf die Aussage reduziert, verfassungswidrige Gesetze seien vernichtbar. Dabei wird außer Acht gelassen, dass auch nach dieser Auffassung grundsätzlich eine ex-tunc-Vernichtung der verfassungswidrigen Norm zu erfolgen hat. Der dogmatische Ausgangspunkt für die Rechtsfolgendogmatik ist demnach der Nichtigkeitsgrundsatz. (e) Verfassungsrechtliche Fundierung des Nichtigkeitsgrundsatzes Der Nichtigkeitsgrundsatz wurde hier aus den beiden dargestellten Lehren abgeleitet, die sich – soweit es um die grundsätzliche Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit geht – hauptsächlich auf den Vorrang bzw. die Unverbrüchlichkeit der Verfassung (die materielle Begründung der Nichtigkeitslehre)228 bzw. verfassungsprozessrechtliche Erwägungen (die Vernichtbarkeitslehre) berufen.229 Über diese Begründungsansätze hinaus soll das Augenmerk hier auf einen weiteren Aspekt gelenkt werden, welcher die Nichtigkeit eines Gesetzes als Regelfall der Verfassungswidrigkeit gebietet und der den Nichtigkeitsgrundsatz umso folgerichtiger erscheinen lässt: Das Abweichen von der Nichtigkeitsrechtsfolge hat auch eine grundrechtliche Dimension. (aa) Eingriffe in Grundrechte nur auf Grundlage verfassungsgemäßer Normen Es ist eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, dass in ein Grundrecht nur durch ein verfassungsgemäßes Gesetz eingegriffen werden darf. Das „Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage [für den Eingriff in Grundrechte, Anm. des Verfassers] ist nur erfüllt, wenn diese selbst wirksam, d. h. verfassungsgemäß ist. Verstößt die Eingriffsgrundlage ihrerseits gegen formelles oder materielles Verfassungsrecht, dann kann sie einen Eingriff nicht legitimieren.“ 230

Das ergibt sich nicht zuletzt aus Art. 2 Abs. 1 GG. Diese Norm umfasst nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „den grundrecht228 229 230

Dazu oben B.II.2.b)aa) (S. 36). Dazu oben B.II.2.b)bb)(1) (S. 39). Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 12.

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lichen Anspruch, durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist.“ 231 Nach einem modernen Verfassungsverständnis folgt die Notwendigkeit einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Eingriffsgrundlage nicht nur aus Art. 2 Abs. 1 GG, sondern vielmehr aus jedem Grundrecht.232 Hiergegen wird bei einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung offensichtlich verstoßen: Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist festgestellt, dass die Norm verfassungswidrig ist.233 Die Norm bleibt trotzdem existent und anwendbar, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, der vom Bundesverfassungsgericht genannt wird.234 In diesem Zeitraum rechtfertigt die erkanntermaßen verfassungswidrige Norm tatsächlich weiterhin Eingriffe in das betroffene Grundrecht. Deswegen berufen sich letztlich auch die Begründungsmuster für den Nichtigkeitsgrundsatz – mittelbar – auf die direkt betroffene Grundrechtsnorm. So sagt Moench, ein verfassungswidrige Gesetz sei grundsätzlich für nichtig zu erklären, weil sich bei der Nichtigerklärung die „Optimierung der Verfassung [. . .] insoweit mit der Maximierung der (verletzten) Einzelnorm“ decke.235 Auch Blüggel erkennt diesen Zusammenhang, indem er zwar ausführt, dass zwischen dem Nichtigkeitsdogma und anderen Verfassungsnormen abzuwägen ist236, tatsächlich aber eine Abwägung zwischen dem verletzten Grundrecht und anderen Verfassungsnormen vornimmt.237 Das ist auch konsequent: Die Abwägungslehren sind auf eine Inbezugnahme des verletzten Grundrechts angewiesen: Anhand welcher Normen sollte sonst abgewogen werden? Das Nichtigkeitsdogma als solches eignet sich dazu nicht; es entbehrt eines eigenen materiellen Gewichts bzw. einer Gewichtbarkeit. Vielmehr muss auf einer Seite der Abwägung die verletzte Norm stehen, welche die Vernichtung der verfassungswidrigen Norm fordert, auf der anderen Seite eine andere Verfassungsnorm, die ihre Erhaltung verlangt. Sobald man dies hinnimmt, akzeptiert man, dass die verletzte Grundrechtsnorm grundsätzlich die Eliminierung der verletzenden Norm gebietet.238

231 BVerfGE 9, 83 (88); vgl. ebenfalls BVerfGE 80, 137 (153); 65, 297 (303); 59, 275 (278); 50, 256 (262); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 12 m.w. N. 232 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 221; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 57. 233 Zur Frage der Verfassungswidrigkeit der weitergeltenden Norm unten B.III.5. (S. 137). 234 Dazu ausführlich unten B.III.2. (S. 96). 235 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 146. 236 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 151. 237 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 147 ff. 238 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 148 ff., spricht im Rahmen der Herleitung des Nichtigkeitsprinzips bei den von ihm untersuchten Beispielen aus der Rechtsprechung

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Der natürlichste und einfachste Weg, die Grundrechtsverletzung auszuräumen, ist die verletzende Norm für nichtig zu erklären. Dieser Weg ist im Normalfall ein geeignetes Mittel, den Verfassungsverstoß zu beseitigen.239 Dies drücken auch die Normen des Verfassungsprozessrechts aus, die beinhalten, dass die Nichtigerklärung die Regelfolge der Verfassungswidrigkeit ist.240 Auch sie beinhalten die Aussage: Das verletzte Grundrecht gebietet grundsätzlich die Eliminierung der Norm; sie sind Ausdruck eines durch das verletzte Grundrecht vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses, nicht aber Ursprung desselben, wie die verfassungsprozessrechtliche Begründung des Nichtigkeitsgrundsatzes241 vorgibt. (bb) Der Vorrang und die Unverbrüchlichkeit der Verfassung Auch die Grundsätze des Vorrangs der Verfassung bzw. der Unverbrüchlichkeit der Verfassung242 berufen sich mittelbar auf die verletzte Grundrechtsnorm: Wessen Vorrang soll denn eigentlich sichergestellt werden, welcher Bruch verhindert? Der Vorrang bzw. der Bruch der verletzten Norm. Insoweit beinhalten auch diese Grundsätze die Aussage: Das verletzte Grundrecht gebietet grundsätzlich243 die Eliminierung der Norm. (cc) Das Rechtsstaatsprinzip Dass ein Abweichen von der Nichtigkeitsrechtsfolge außergewöhnlich und begründungsbedürftig ist, wird auch aus der Perspektive des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 S. 1 GG244) deutlich: Wesentliche Elemente der grundgesetzlichen Ordnung und damit des Rechtsstaats245 sind die Grundrechte246, die Bindung aller staatlichen Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG)247 sowie die umfassende gerichtliche

des Bundesverfassungsgerichts jeweils davon, dass das verletzte Grundrecht die Vernichtung der Norm fordere bzw. vom „Postulat der Normvernichtung“. 239 Das hat Blüggel zutreffend erkannt, vgl. oben Fn. 192 (S. 59). 240 Dazu oben B.II.2. (S. 34) sowie die Nachweise in Fn. 17 (S. 34). 241 Dazu oben B.II.2.b)bb)(1) (S. 39). 242 Siehe zu beiden Grundsätzen oben B.II.2.b)dd)(1)(b)(aa) (S. 44). 243 Eine absolute Aussage verbiet sich, siehe oben B.II.2.b)ee)(1)(a) (S. 61). 244 So noch BVerfGE 2, 380 (403), mittlerweile beruft es sich häufig nur noch auf Art. 20 bzw. Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. mit Nachweisen und zur strittigen Herleitung insgesamt Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 4. 245 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 30; Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 749, 751. 246 Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 11; v. Münch/Mager, Staatsrecht I, Rn. 652 f.; Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht, § 12 Rn. 2, 12; vgl. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 750. 247 Vgl. Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 13; v. Münch/Mager, Staatsrecht I, Rn. 648, 652; Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 750.

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Kontrolle staatlicher Akte (Art. 19 Abs. 4, 93 Nr. 4 lit. a GG)248. Diese Elemente betonen, dass der Rechtsstaat gerade auf die Verhinderung grundrechtswidriger Zustände ausgelegt ist. Gegen dieses Ziel – zugleich geradezu eine Binsenweisheit – des Rechtsstaats wird verstoßen, wenn auf Grundlage verfassungswidriger Gesetze in Grundrechte eingegriffen wird. Auch das Rechtsstaatsprinzip verlangt somit grundsätzlich die Beseitigung versfassungswidriger Gesetze.249 (dd) Zwischenergebnis zur verfassungsrechtlichen Fundierung Der materielle Gehalt des Nichtigkeitsgrundsatzes lautet: Das verletzte Grundrecht selbst und – dieses absichernd – das Rechtsstaatsprinzip sowie der Vorrang und die Unverbrüchlichkeit der Verfassung gebieten grundsätzlich eine zeitlich möglichst weitgehende Eliminierung, d.h. die Unwirksamkeit des verfassungswidrigen Gesetzes ex tunc. Kurz: Die Grundrechtswidrigkeit indiziert die Nichtigkeit des Gesetzes. (f) Zwischenergebnis dogmatische Analyse; verbleibender Streitpunkt Bisher ist nachgewiesen, dass beiden Ansichten der Nichtigkeitsgrundsatz zu entnehmen ist. Die verfassungsrechtliche Betrachtung hat belegt, dass dieser Grundsatz durch die Verfassung geboten ist. Herrscht somit über das grundsätzliche „Ergebnis“ der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen noch Einvernehmen, steht die Art und Weise der Herbeiführung des Ergebnisses in Streit. Die Nichtigkeitslehre geht davon aus, dass dieses Ergebnis grundsätzlich von der Verfassung selbst ipso iure herbeigeführt wird. Das Verfassungsgericht stellt dieses Ergebnis deklaratorisch fest. Mit dieser Feststellung treten die Rechtswirkungen der ipso-iure-Nichtigkeit ein. Die Vernichtbarkeitslehre hingegen geht davon aus, dass dieses Ergebnis grundsätzlich durch eine Gestaltungsentscheidung herbeigeführt werden muss. Der verbleibende Streit reduziert sich demnach auf die Frage, ob die Nichtigkeit grundsätzlich mit oder durch die Nichtigerklärung des Bundesverfassungsgerichts eintritt. (2) Stellungnahme Es war nach Gegenüberstellung der beiden Lehren festzustellen, dass ein argumentatives Patt vorliegt.250 Dies geht zu Lasten der Vernichtbarkeitslehre: Es ist 248 Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 23; vgl. ebenfalls: v. Münch/Mager, Staatsrecht I, Rn. 652; Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht, § 12 Rn. 12; Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 809 ff. 249 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 Rn. 84; Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 15. 250 Siehe oben B.II.2.b)dd)(4) (S. 60).

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unstrittig, dass historischer Ausgangspunkt der Rechtsfolgendogmatik das Nichtigkeitsdogma war. Die Vernichtbarkeitslehre hat es in nunmehr 60 Jahren nicht verstanden, die Nichtigkeitslehre zu verdrängen und endgültig zu widerlegen. Sie ist allerdings als die jüngere Auffassung in der Bringschuld. Der Einwand, allein die Vernichtbarkeitslehre vermöge die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Entscheidungsvarianten zu erklären,251 schlägt nicht durch. Dem liegt eine streng verstandene Nichtigkeitslehre zu Grunde, die kaum vertretbar ist und von den meisten Vertretern der Nichtigkeitslehre auch nicht vertreten wird.252 Auch auf Grundlage der Nichtigkeitslehre lassen sich Ausnahmen vom Nichtigkeitsgrundsatz schlüssig und dogmatisch überzeugend erklären; einen Ansatz dazu bietet die Abwägungslehre, die auch auf Grundlage der Nichtigkeitslehre253 vertreten werden kann.254 Indem von der Nichtigkeitsrechtsfolge Ausnahmen zugelassen werden, nimmt sie zudem die berechtigten Einwände der Vernichtbarkeitslehre255 gegen die ausnahmslose ex-tunc-Nichtigkeit auf. Die Nichtigkeitslehre begründet in ihrer Argumentation zudem überzeugender, dass die Nichtigkeit eines Gesetzes bei Verfassungswidrigkeit der von der Verfassung vorgegebene Regelfall ist. Wie aufgezeigt wurde, hat der Nichtigkeitsgrundsatz nämlich eine materielle, verfassungsrechtliche Dimension.256 Dem wird man eher gerecht, wenn der Nichtigkeitsgrundsatz mit dem Vorrang und der Unverbrüchlichkeit der Verfassung begründet und damit aus der Verfassung 251

Dazu oben B.II.2.b)dd)(2)(b)(hh) (S. 55). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(a) (S. 61). 253 Blüggel hat die Abwägungslehre zwar von der Vernichtbarkeitslehre gelöst, sich dabei aber nicht auf Seiten der Nichtigkeitslehre geschlagen. Seine Aussage, dass das Nichtigkeitsdogma eine Rechts- und Verfassungsnorm darstellt, ist letztlich ebenso richtig wie seine Einordnung dieser Norm als Prinzip i. S. Alexys (siehe zu Blüggels Auffassung die Zusammenfassung oben B.II.2.b)dd)(3)(b) (S. 58)). Er bleibt jedoch den Nachweis schuldig, woraus sich der – behauptete – Normcharakter des Dogmas ergeben soll. Er vollzieht den Schritt von der Nichtigkeit als einer Möglichkeit zur Gewährleistung der Unverbrüchlichkeit der Verfassung zum normativen Charakter des Dogmas ohne weitere Ausführungen: Woraus sich ergeben soll, dass das Nichtigkeitsdogma „rechtlich gesollt“ ist, erwähnt er nicht. Zwischen Möglichkeit und grundsätzlicher Gebotenheit besteht allerdings ein erheblicher Unterschied. Die Gebotenheit ergibt sich aus der „verfassungsrechtlichen Dimension“ des Nichtigkeitsgrundsatzes, vgl. oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). Blüggel vermeidet unter Hinweis auf die Überflüssigkeit einer Entscheidung, sich auf Seiten der Nichtigkeitslehre zu positionieren. Beide Lehren seien miteinander vereinbar. Dies ist zwar im Hinblick auf das, was hier als Nichtigkeitsgrundsatz bezeichnet wurde, richtig. Nichtigkeitsdogma wie Vernichtbarkeitslehre gehen letztlich von der Nichtigkeit als Regelfolge der Verfassungswidrigkeit aus. Allerdings bleibt die Art und Weise des Eintretens der Nichtigkeit streitig. Hier schließen sich beide Lehren gegenseitig aus, so dass eine Entscheidung sehr wohl erforderlich ist, vgl. dazu oben B.II.2.b)ee) (S. 61). 254 Zu den einzelnen Begründungsmustern der Unvereinbarerklärung noch unten B.III.4.a)bb) (S. 106). 255 Dazu insbesondere oben B.II.2.b)dd)(2)(d) (S. 55). 256 Vgl. oben B.II.2.b)ee)(1)(d) (S. 64). 252

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

selbst abgeleitet wird (so die Nichtigkeitslehre257) als mit der eher verfassungsprozessrechtlichen Begründung der Vernichtbarkeitslehre258. Der letztlich entscheidende Streitpunkt zwischen den beiden Lehren ist, ob die Nichtigkeitsrechtsfolge durch das Bundesverfassungsgericht mittels einer Gestaltungsentscheidung konstitutiv herbeigeführt werden muss oder ob sie ipso iure eintritt und lediglich deklaratorisch festgestellt werden muss. Hier lässt sich tatsächlich von einer Frage ohne praktische Auswirkungen und von eher „rechtsmetaphysischer Bedeutung“ 259 sprechen. Diese Frage spielt insbesondere für den zur Entscheidung berufenen Verfassungsrichter keine Rolle; für ihn ist allein relevant, dass er nach beiden Auffassungen grundsätzlich eine Nichtigerklärung auszusprechen hat und unter welchen Voraussetzungen er davon abweichen darf. Dies spricht für die Nichtigkeitslehre. Da die Entscheidung zwischen den beiden Auffassungen nur theoretische Bedeutung hat und keine wesentlichen Folgen an ihr hängen, sollte der Auffassung der Vorzug gegeben werden, welche – in der Theorie – die Autorität der Verfassung stärker zur Geltung bringt. Ausdruck der Autorität der Verfassung ist ihre „normative Kraft“. Dazu bemerkt Konrad Hesse in seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1959: „Die rechtliche Verfassung ist [. . .] nicht nur Ausdruck der jeweiligen Wirklichkeit. Vermöge ihres normativen Elements ordnet und gestaltet sie ihrerseits die politische und soziale Wirklichkeit. Aus dieser korrelativen Zuordnung von Sein und Sollen ergeben sich die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der normativen Kraft einer Verfassung. Die rechtliche Verfassung vermag der Wirklichkeit, auf die sie bezogen ist, ,Form und Modifikation‘ zu geben. Sie vermag die ,Kraft, die im Wesen der Dinge ruht‘, zur Tätigkeit zu reizen. Sie vermag darüber hinaus selbst tätige Kraft zu werden, welche in der politischen und sozialen Wirklichkeit wirkt und sie bestimmt. Diese Kraft vermag sich gegenüber Widerständen um so besser durchzusetzen, je mehr der Gedanke der Unverbrüchlichkeit der Verfassung vom allgemeinen Bewusstsein getragen wird, je mehr er vor allem im Bewusstsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen lebendig ist. Die Intensität der normativen Kraft der Verfassung ist damit in erster Linie eine Frage des Willens zur Norm, des Willens zur Verfassung.“ 260

Die normative Kraft der Verfassung wirkt auf Basis der Nichtigkeitslehre originär, nicht vermittelt durch das Bundesverfassungsgericht. Auch der Gedanke der Unverbrüchlichkeit der Verfassung lässt sich nicht nachhaltiger im Bewusstsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen – insbesondere des Bundesverfassungsgerichts – verankern, als durch das Zugeständnis einer originär reinigenden Kraft der Verfassung. Sie betont die „dienende Funktion“ aller Verfas257

Dazu oben B.II.2.b)aa) (S. 36). Diese muss nämlich zur Begründung des Nichtigkeitsgrundsatzes auf §§ 78, 79 Abs. 2, 95 Abs. 3 BVerfGG zurückgreifen, dazu oben B.II.2.b)bb)(1) (S. 39). 259 So Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Aufl., Art. 93 Rn. 39. 260 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 16 f. 258

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sungsorgane – auch des Bundesverfassungsgerichts – gegenüber der Verfassung. Zuletzt ist sie Ausdruck des ultimativen „Willens zur Verfassung“, da dieser Wille kaum nachdrücklicher zum Ausdruck gebracht werde kann, als durch die – in der Theorie – „verstoßzerstörende“ Kraft der Verfassung. Die Nichtigkeitslehre ist demnach insbesondere hinsichtlich der Frage, auf welche und Weise die grundsätzliche Rechtsfolge der Nichtigkeit ex tunc herbeigeführt wird, vorzugswürdig. ff) Zwischenergebnis der Untersuchung der dogmatischen Grundlagen der Nichtigerklärung: „Eingeschränkte Nichtigkeitslehre“ Auf Basis der bisherigen Argumentation ist eine Entscheidung des Disputs zwischen Nichtigkeits-261 und Vernichtbarkeitslehre262 kaum zu erreichen.263 Die gebotene Analyse hat ergeben, dass eine ausnahmslose Geltung des Nichtigkeitsdogmas nicht der Differenziertheit der grundgesetzlichen Ordnung entspricht und untragbare Konsequenzen hätte.264 Beide Lehren sind sich auch insofern einig, als die Nichtigkeit nicht vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltend gemacht werden kann.265 Somit muss eine verfassungswidrige Norm nach beiden Lehren grundsätzlich letztlich ex tunc unwirksam sein (Nichtigkeitsgrundsatz). Der Nichtigkeitsgrundsatz ist durch das verletzte Grundrecht selbst, durch die Unverbrüchlichkeit bzw. den Vorrang der Verfassung sowie das Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich geboten.266 Hinsichtlich der verbleibenden strittigen Frage, auf welche Art und Weise dieses Ergebnis herbeigeführt wird, ist die Nichtigkeitslehre vorzugswürdig.267 Es gilt nach alledem eine „eingeschränkte Nichtigkeitslehre“ bzw. ein „eingeschränktes Nichtigkeitsdogma.“ Diese Lehre bzw. dieses Dogma lautet: Grundsätzlich sind verfassungswidrige Normen mit Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ex tunc und ipso iure unwirksam. Diese eingeschränkte Nichtigkeitslehre ist Synthese einer strengen Nichtigkeitslehre und der Vernichtbarkeitslehre, indem sie den dogmatischen Ausgangspunkt der ipso-iure-Nichtigkeit teilt, dabei allerdings die berechtigten Einwände der Vernichtbarkeitslehre aufnimmt und Ausnahmen zulässt.

261 262 263 264 265 266 267

Zu dieser Lehre grundsätzlich oben B.II.2.b)aa) (S. 36). Zu dieser B.II.2.b)bb) (S. 38). Siehe oben B.II.2.b)dd)(4) (S. 60). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(a) (S. 61). Siehe oben B.II.2.b)ee)(1)(c) (S. 64). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). Siehe oben B.II.2.b)ee)(2) (S. 68).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

c) Rechtsfolge: Wiederaufleben der Vorgängerregelung Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Eliminierung der verfassungswidrigen Norm für ihre Vorgängerregelung268 hat. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Vorgängerregelung durch die Nichtigerklärung grundsätzlich wieder auflebt bzw. noch wirksam269 ist.270 Das gilt jedoch nicht ausnahmslos: Ein Wiederaufleben kommt nicht in Betracht, wenn der Gesetzgeber mit der (verfassungswidrigen) Neuregelung die Vorgängerregelung unabhängig von der Geltung der Neuregelung aufheben wollte. Das gleiche gilt, wenn eine Norm nicht ursprünglich – d. h. mit Inkrafttreten – verfassungswidrig war, sondern erst mit der Zeit verfassungswidrig geworden ist; in diesem Fall ist die Vorgängerregelung durch (zunächst) wirksames Recht aufgehoben worden.271 d) Modifikation durch § 79 BVerfGG Somit ist nun festgestellt, dass mit der Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht die betreffende Norm grundsätzlich rückwirkend nichtig ist, womit grundsätzlich die Vorgängerregelung wieder auflebt. Doch diese Feststellung ist weitestgehend dogmatischer Natur: Die tatsächlichen Folgen der Nichtigerklärung werden durch den bereits zitierten § 79 BVerfGG geregelt. Dabei enthält § 79 Abs. 2 die grundsätzlichen Rechtsfolgen, Abs. 1 regelt eine Ausnahme für den Bereich des Strafrechts. § 79 Abs. 1 BVerfGG lautet: „Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung zulässig.“

Abs. 2 lautet: „Im übrigen bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Die Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung ist unzulässig. Soweit die Zwangsvollstreckung nach den

268 Vorgängerregelung meint diejenige Norm, die die von der verfassungswidrigen Norm geregelten Sachverhalte vor deren Erlass regelte. Dies kann ein allgemeineres Gesetz oder ein ebenso spezielles, früheres Gesetz sein, vgl. Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 127. 269 Zur Terminologie zutreffend Ipsen, Rechtsfolgen, S. 258. 270 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 21; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 127; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 159; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 258. 271 Zu beiden Ausnahmen: Pestalozza, § 20 Rn. 127.

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Vorschriften der Zivilprozeßordnung durchzuführen ist, gilt die Vorschrift des § 767 der Zivilprozeßordnung entsprechend. Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind ausgeschlossen.“

§ 79 BVerfGG regelt die Rechtsfolge der Nichtigerklärung demnach so, dass von der dogmatischen Aussage der grundsätzlichen Nichtigkeit ex tunc nicht viel übrig bleibt.272 Die Vorschrift gilt unmittelbar für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, gemäß §§ 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 3 BVerfGG entsprechend für die übrigen Normenkontrollentscheidungen. Die Vorschrift regelt das Schicksal derjenigen Rechtsanwendungsakte, die auf einer verfassungswidrigen Norm beruhen und nicht Streitund Entscheidungsgegenstand273 sind.274 „Entscheidungen“ im Sinne der Vorschrift sind beispielsweise Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen.275 aa) Zu § 79 Abs. 2 BVerfGG § 79 Abs. 2 BVerfGG regelt die grundsätzlichen Folgen der Nichtigkeit eines Gesetzes. Dabei gebührt nach der Wertung der Norm dem Gedanken der Rechtssicherheit wegen der unabsehbaren Folgen für den Rechtsverkehr der Vorrang vor Berücksichtigung der Einzelfallgerechtigkeit.276 Dies bedeutet, dass – bei Bestands- oder Rechtskraft des Normvollzugsakts – grundsätzlich keine Rückabwicklung der auf dem nichtigen Gesetz beruhenden Normvollzugsakte erfolgt.277 Vielmehr bestätigt § 79 Abs. 2 BVerfGG die Bestands- und Rechtskraft der jeweiligen Entscheidungen, lässt jedoch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes keine weitere Vollstreckung mehr zu.278 Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG ausdrücklich anerkannt und festgestellt, dass die Höhergewichtung des Prinzips der Rechtssicherheit gegenüber dem Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall nicht gegen die Verfassung verstößt; beide hätten als Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang. Es stünde dem Gesetzgeber frei, welchem von beiden Grundsätzen er den Vorzug geben wolle.279 Auch eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG sei nicht gegeben, da auch die § 79 Abs. 2 BVerfGG imma272 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 390; vgl. auch Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 548. 273 Ist ein Einzelakt – wie im Falle der Verfassungsbeschwerde gegen einen Einzelakt – Entscheidungsgegenstand, wird er gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. 274 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 73. 275 Vgl. BVerfGE 53, 115 (130 f.). 276 BVerfGE 32, 387 (389 f.); 53, 115 (130). 277 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 26 m.w. N. 278 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 75. 279 BVerfGE 7, 194 (196). Bestätigt durch BVerfGE 11, 263 (265); 20, 230 (235). Vgl. auch die Ausführungen in BVerfGE 2, 380 (404 f.).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

nente verschiedene Behandlung der Betroffenen wiederum durch das Rechtsstaatsprinzip gerechtfertigt sei.280 bb) Zu § 79 Abs. 1 BVerfGG Im Bereich des Strafrechts gilt gemäß Abs. 1 – als Ausnahme – das Gegenteil: Hier hat materielle Gerechtigkeit wegen der besonderen Belastung, die eine strafrechtliche Verurteilung darstellt, den Vorzug vor der Rechtssicherheit erhalten.281 Die Vorschrift durchbricht die Rechtskraft einer strafrechtlichen Entscheidung und ergänzt quasi „als Nr. 7“ die in § 359 Nr. 1–6 StPO aufgelisteten Wiederaufnahmegründe um ein absolutes Wiederaufnahmerecht. 282 Dieser Vorschrift liegt der Rechtsgedanke zu Grunde, dass „niemand gezwungen sein soll, den Makel einer Strafe auf sich lasten zu lassen, die auf einem verfassungswidrigen Strafgesetz beruht.“ 283 Vielmehr soll der Verurteilte die Möglichkeit haben, den Makel nach den Vorschriften der Strafprozessordnung durch Aufhebung oder Berichtigung des auf verfassungswidriger Grundlage ergangenen Urteils zu beseitigen.284 e) Zwischenergebnis der Untersuchung zur Nichtigerklärung Der Nichtigerklärung und der gesamten Rechtsfolgendogmatik liegt die „eingeschränkte“ Nichtigkeitslehre zu Grunde, nach der grundsätzlich verfassungswidrige Normen mit Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ex tunc und ipso iure unwirksam sind.285 Praktisch wird diese rein dogmatische Aussage jedoch nicht relevant: Gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG werden die auf einer nichtigen Norm beruhenden bestands- bzw. rechtskräftigen Normvollzugsakte im Interesse der Rechtssicherheit grundsätzlich aufrechterhalten. Eine Vollstreckung auf Grundlage dieser Akte ist allerdings unzulässig. Etwas anderes gilt gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG, wonach gegen rechtskräftige Strafurteile im Interesse individueller Gerechtigkeit eine Wiederaufnahme nach den Vorschriften der StPO zulässig ist. Rechtsfolge der Nichtigerklärung ist – vollumfänglich nur für die Zukunft – eine klare Normverwerfung. 280

BVerfGE 7, 194 (196 f.). Vgl. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 1. 282 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 79 Rn. 25; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 75; vgl. auch BVerfGE 115, 51 (63); LG München II, DStR 1999, 2115; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 11. 283 BVerfGE 12, 338 (340); vgl. auch BVerfGE 115, 51 (63). 284 BVerfGE 115, 51 (63). 285 Dazu oben B.II.2.b)ee) (S. 61). 281

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3. Die Appellentscheidung Der Unvereinbarerklärung ähnlich ist die sog. Appellentscheidung.286 a) Grundsätzliches und Tenorierung Diese hat keine gesetzliche Grundlage und ist eine Schöpfung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht stellt in einer solchen Entscheidung fest, das Gesetz sei „noch“ verfassungsgemäß, appelliert aber an den Gesetzgeber, tätig zu werden, um einen voll verfassungsmäßigen Zustand herzustellen oder eine in der Zukunft drohende Verfassungswidrigkeit abzuwenden.287 In diesem Falle appelliert das Gericht häufig ausdrücklich an den Gesetzgeber, die Entwicklung weiter zu beobachten und den Eintritt der Verfassungswidrigkeit zu vermeiden.288 Die Appellentscheidung kann mit einer Frist verbunden werden, binnen welcher der Gesetzgeber tätig zu werden hat.289 Der Appell wird in der Regel nicht in den Tenor aufgenommen290 – der grundsätzlich wie bei der Zurückweisung als unbegründet formuliert wird291 – sondern in der Entscheidungsbegründung ausgeführt.292 In diesem Fall ist er obiter dictum.293 Dem Appell kommt dabei – rechtlich gesehen – keine Verbindlichkeit zu.294 Er entfaltet weder eine Bindungswirkung für den Gesetzgeber, noch erwächst er in Rechtskraft.295

286 Vgl. zur Terminologie nur Rupp-v. Brünneck, Verfassung, S. 221; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 32 Fn. 75; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 431 m.w. N. 287 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 431; vgl. ebenfalls Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1279. 288 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 10; Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 72; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 110; Maunz, BayVBl. 1980, 513 (518). 289 Siehe bspw. BVerfGE 78, 249 (251, 286 f.); 84, 239 (284 f.); Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 72; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 438. 290 Freilich gibt es auch Urteile, bei denen der Appell im Tenor steht, bspw. BVerfGE 78, 249 (251). 291 Dazu oben B.II.1. (S. 33). 292 Vgl. Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 73. 293 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1280; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 31 ff., insbes. Fn. 75. 294 Er hat freilich tatsächliche Wirkungen, dazu Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1280. 295 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 439; dies gilt selbst dann, wenn der Appell im Tenor aufgeführt wird, Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1280; Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 319; a. A. Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 110.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Die Entscheidungsvariante enthält (zunächst) kein Unwerturteil und bildet somit einen Unterfall der Vereinbarerklärung;296 das überprüfte Gesetz ist verfassungsgemäß. Der ihr innewohnende Appell an den Gesetzgeber drückt jedoch Handlungsbedarf aus und stellt die Ähnlichkeit zur Unvereinbarerklärung her. b) Systematisierung Eine überzeugende Systematisierung dieser Entscheidungsvariante findet sich bei Pestalozza.297 Dieser unterteilt die einschlägigen Entscheidungen in zwei Gruppen; das „dynamische Noch“ und das „tolerante Noch“: Das dynamische Noch ist dadurch gekennzeichnet, dass die einschlägige Norm rechtswidrig wird, weil sich die tatsächlichen Umstände, welche die Norm regeln soll und in die sie eingebettet ist, verändern und mit ihnen die Ansprüche, welche die Verfassung an sie stellt. Das Gericht entscheidet dabei zu einer Zeit, in der diese Entwicklung begonnen hat, aber noch nicht abgeschlossen ist, so dass die Norm zum Zeitpunkt der Entscheidung noch rechtmäßig ist.298 Das tolerante Noch ist dadurch gekennzeichnet, dass die Prüfungsnorm die Toleranzen der Verfassung „nahezu ausschöpft, aber eben gerade noch einhält.“ 299 Das „Noch“ ist dabei nicht zeitlich, sondern inhaltlich zu verstehen. Gründe für die Toleranz des Bundesverfassungsgerichts sind besondere300 Schwierigkeiten für den Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Normsetzung.301 Zum einen handelt es sich dabei um Schwierigkeiten des Erkennens. Der Gesetzgeber hätte hier beim besten Willen vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Rechtslage, der er gerne entsprochen hätte, kaum erkennen können, etwa wegen althergebrachter Staatspraktiken oder gewichtiger Stimmen in der Lehre.302 Zum anderen werden Schwierigkeiten des Vorausschauens genannt. Die Normgebung hängt hier von der Prognose der tatsächlichen Entwick296 Vgl. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 10; Schlaich/ Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 431. 297 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 109 f. 298 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 109. 299 Ebenda. 300 Neben den folgenden Fallgruppen gibt es noch den aus der Frühzeit der Bundesrepublik stammenden Spezialfall, dass politische Rahmenbedingungen (hier das Besatzungsstatut) das Erreichen eines verfassungsrechtlichen Optimums unmöglich machen. Diese sog. Übergangsrechtsprechung wird teilweise gesondert neben der Appellentscheidung behandelt, vgl. etwa Hein, Unvereinbarerklärung, S. 18 ff.; wohl auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214 f. Da aber auch diese Stimmen Überschneidungen mit der Appellentscheidung zugestehen, vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 18, ist die Systematisierung Pestalozzas hier vorzugswürdig. 301 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 109. 302 Ebenda.

II. Der systematische Rahmen

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lung der zu regelnden Umstände und der Bewährung der Norm ab, wobei dem Normgeber ein gewisser Spielraum zugestanden wird und die ex-ante-Perspektive des Normgebers eingenommen wird.303 Zuletzt fallen hierunter noch Schwierigkeiten des Gestaltens, insbesondere wegen Neuheit oder Komplexität der geregelten Materie.304 c) Fallgruppen von besonderer praktischer Relevanz Praktisch relevant ist die Appellentscheidung insbesondere in zwei Fallgruppen305, die dieser Systematisierung entsprechen: Die erste behandelt Entscheidungen, bei denen es um die Entwicklung tatsächlicher Umstände ging, die zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht, bei einem weiteren Zuwarten jedoch in Zukunft zur Verfassungswidrigkeit führt.306 Ein Beispiel hierfür ist das in Veränderung befindliche gesellschaftliche Rollenverständnis von Mann und Frau, das im Jahre 1975 „noch“ erschwerende Voraussetzungen der Witwerrente gegenüber der Witwenrente und somit eine Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 2 u. 3 GG) rechtfertigte.307 Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der sich angleichenden wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse der neuen Bundesländer im Vergleich zu den alten, die im Jahre 2003 noch die unterschiedliche (Art. 3 Abs. 1 GG) Besoldung von Beamten in neuen und alten Bundesländern rechtfertigten.308 In der Terminologie Pestalozzas ist dies ein dynamisches Noch. Bei der zweiten Fallgruppe geht es um komplexe, in der Entwicklung befindliche Sachverhalte.309 Bei solchen gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen zeitlichen „Anpassungsspielraum“ zu.310 Das bedeutet, dass „die mit einer gröberen Typisierung und Generalisierung verbundenen Unzulänglichkeiten [. . .] erst dann Anlass zu einer verfassungsrechtlichen Beanstandung [geben, Anm. d. Verfassers], wenn der Gesetzgeber eine spätere Überprüfung und fortschreitende Differenzierung trotz ausreichenden Erfahrungsmaterials für eine sachgerechte Lösung unterlässt.“ 311 303

Ebenda. Ebenda. 305 Vgl. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 10; vgl. ferner Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 434 f. Weitere Fallgruppen bei Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 72. 306 Bspw. BVerfGE 16, 130; 39, 169; 107, 218. 307 BVerfGE 39, 169 (187 ff.). 308 BVerfGE 107, 218 (248 ff.). 309 Bspw. BVerfGE 33, 171 (189 ff.); 37, 104 (118 ff.); 53, 257 (312 f.); 56, 54 (81 ff.). 310 BVerfGE 54, 173 (202); 56, 54 (81 f.). 311 BVerfGE 33, 171 (189 f.); 37, 104 (118). 304

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Ein Beispiel für einen derartig komplexen Sachverhalt ist die Lösung der Aufgabe, eine gerechte Zulassung zum Studium nach dem Grad der Qualifikation im gesamten Bundesgebiet zu gewährleisten. Die Komplexität rechtfertigte trotz guter Gegenargumente im Jahre 1974 (noch) den Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG durch eine auf Grundlage der Landesdurchschnittsabiturnote berechnete bonusmalus Regelung312.313 Ein weiteres ist die Bekämpfung des Fluglärms. Hier war das Bundesverfassungsgericht 1981 der Auffassung, dass noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Grenzen zumutbarer Belastungen vorlagen und der dem Gesetzgeber zugestandene Erfahrungs- und Anpassungsspielraum noch nicht abgelaufen war. Damit war die aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG folgende Schutzpflicht (noch) nicht verletzt.314 In der Terminologie Pestalozzas ist dies ein tolerantes Noch, wobei die Toleranz des Bundesverfassungsgerichts aus Schwierigkeiten des Gestaltens für den Gesetzgeber herrührt. d) Zwischenergebnis Die Appellentscheidung ist prinzipiell eine Normbestätigung, drückt jedoch gleichzeitig einen verfassungsimperfekten Zustand aus und droht die Normverwerfung als Folge zukünftiger Verfassungswidrigkeit konkludent an.315 4. Die verfassungskonforme Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung ist eine Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts ohne gesetzliche Grundlage und wird von diesem seit dem Jahr 1953 angewendet.316 Die Entscheidungsvariante ist von großer praktischer Bedeutung.317 Sie wird dann gewählt, wenn der Wortlaut einer Norm mehrere Auslegungsmöglichkeiten eröffnet, von denen nicht alle, zumindest aber eine mit dem Grundgesetz vereinbar sind.318 Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: 312 Diese beinhaltete pauschale Abzüge/Zuschläge auf den erreichten numerus clausus abhängig vom Bundesland, in dem das Abitur erreicht wurde. 313 BVerfGE 37, 104 (119). 314 BVerfGE 56, 54 (81 ff.). 315 Vgl. Pestalozza, § 20 Rn. 32; vgl. auch Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 72, der die Appellentscheidung auch „als Vorstufe der Nichtig- oder Unvereinbarerklärung“ ansieht. 316 Die erste verfassungskonforme Auslegung erfolgte in BVerfGE 2, 266 (282); vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 440. Diese weisen darauf hin, dass sich die verfassungskonforme Auslegung vorher schon in der Rechtsprechung des U.S. Surpreme Court findet. Streng genommen hat das Bundesverfassungsgericht diese somit nicht entwickelt, sondern aufgegriffen. 317 Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 440. 318 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 9; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 442.

II. Der systematische Rahmen

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„Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, so ist eine Auslegung geboten, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht.“ 319

Eine Besonderheit der verfassungskonformen Auslegung gegenüber den übrigen hier behandelten Entscheidungsvarianten besteht darin, dass sie nicht dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist. Vielmehr ist jeder Rechtsanwender zu verfassungskonformer Auslegung berechtigt und verpflichtet. Verfassungskonforme Auslegung obliegt somit jedem Richter.320 Dies führt dazu, dass eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nur dann in Betracht kommt, wenn das vorlegende Gericht von der Unmöglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und somit von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt ist.321 Damit korrespondiert der Vorrang der verfassungskonformen Auslegung: Ein Urteil über die Verfassungswidrigkeit einer Norm darf nur ergehen, wenn die verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist.322 Teilweise wird auch vom Gebot der verfassungskonformen Auslegung gesprochen.323 Grundlage der verfassungskonformen Auslegung und ihres Vorrangs ist nach dem Bundesverfassungsgericht die Vermutung, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist.324 Diese Vermutung ist dem Respekt vor dem demokratischen Gesetzgeber geschuldet.325 Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung bilden der Wortlaut und der erkennbare Wille des Gesetzgebers.326 Hinsichtlich der Tenorierung ist zwischen der Verfassungsbeschwerde einerseits und der konkreten wie abstrakten Normenkontrolle andererseits zu differenzieren: Bei einer Verfassungsbeschwerde erfolgt die verfassungskonforme Auslegung in der Regel nur in den Gründen.327 Bei den Normenkontrollverfahren wird

319

BVerfGE 69, 1 (55) m.w. N. BVerfGE 68, 337 (344); vgl. ebenfalls BVerfGE 32, 373 (383); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1284; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 441. 321 BVerfGE 48, 40 (45 f.); 68, 337 (344); 85, 329 (333 f.); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1284 m.w. N.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 441. 322 BVerfGE 49, 148 (157); 69, 1 (55), beide zum Verhältnis zur Nichtigerklärung; allgemeiner Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1284. 323 BVerfGE 32, 373 (383 f.); vgl. BVerfGE 64, 229 (242); Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 9; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 443. 324 BVerfGE 2, 266 (282). 325 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1286. 326 BVerfGE 54, 277 (299); 99, 341 (358); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1285; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 443, jeweils m.w. N. 327 Vgl. bspw.: BVerfGE 54, 251 (275 f.); 61, 260 (288); Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 445. 320

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

die verfassungskonforme Auslegung im Tenor angedeutet:328 In der Regel lautet dieser, das Gesetz sei „in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.“ 329 Daraus folgen Unterschiede bei der Bindungswirkung der Entscheidung: Zwar ist letztlich jede verfassungskonforme Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht für den Rechtsanwender verbindlich, kein Gericht darf die durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig befundene Interpretation für verfassungsgemäß halten.330 Unterschiedlich ist jedoch die gesetzliche Grundlage der Bindungswirkung. Bei Verfassungsbeschwerden, bei denen die verfassungskonforme Auslegung in den Gründen erfolgt ist, folgt die Bindungswirkung aus § 31 Abs. 1 BVerfGG.331 Im Rahmen von Normenkontrollverfahren mit dem oben dargestellten Tenor ergibt sich die Bindungswirkung aus der Gesetzeskraft der Entscheidung (§ 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG).332 Eine verfassungskonforme Auslegung drückt grundsätzlich eine Normbestätigung aus, da die Norm ja gerade für mit der Verfassung vereinbar befunden wird. Gleichzeitig werden jedoch bestimmte Auslegungsmöglichkeiten für verfassungswidrig befunden und somit für die Zukunft verboten.333 5. Zwischenergebnis: Der systematische Rahmen der Unvereinbarerklärung Die bisher untersuchten Entscheidungsvarianten haben unterschiedliche Inhalte und Rechtsfolgen. Eine eindeutige Bestätigung einer verfassungsgemäßen Norm ist die Zurückweisung eines Antrags als unbegründet bzw. die Vereinbarerklärung.334 Die Nichtigerklärung dagegen hat die – für die Zukunft unein-

328 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1287; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 445. 329 Vgl. bspw.: BVerfGE 30, 1 (3); 51, 304; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 445; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1287; vgl. (ohne Differenzierung) Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 28. 330 BVerfGE 72, 119 (121); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1288. 331 BVerfGE 40, 88 (94); 42, 258 (260). 332 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 445. 333 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 446 gehen deswegen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht eine teilweise Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung ausspricht. Von einer qualitativen Teilnichtigerklärung wird sie wie folgt abgegrenzt: Bei der verfassungskonformen Auslegung werden – wie soeben dargelegt – bestimmte Auslegungsvarianten der Norm für mit der Verfassung unvereinbar erklärt und damit ausgeschlossen. Bei der qualitativen Teilnichtigerklärung werden dagegen bestimmte Anwendungsfälle (dazu oben B.II.2.a) (S. 35)) ausgeschlossen, dazu Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 63; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 446. 334 Dazu oben B.II.1. (S. 33).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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geschränkte, für die Vergangenheit über § 79 BVerfGG begrenzte – Verwerfung einer verfassungswidrigen Norm zur Folge.335 Dazwischen liegen Appellentscheidung und verfassungskonforme Auslegung, die beide verfassungsgemäße Normen zum Gegenstand haben: Erstere ist zunächst zwar Bestätigung einer noch verfassungsgemäßen Norm, drückt jedoch gleichzeitig einen verfassungsimperfekten Zustand aus und droht die zukünftige Normverwerfung durch das Bundesverfassungsgericht konkludent an.336 Die verfassungskonforme Auslegung drückt ebenfalls die Bestätigung einer verfassungsgemäßen Norm aus, konkretisiert dabei aber den Bedeutungsgehalt der Norm und verbietet für die Zukunft bestimmte Auslegungsvarianten.337

III. Unvereinbarerklärung und Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung In Abgrenzung zu den bisher dargestellten Entscheidungsvarianten sollen nun im Folgenden die Spezifika der Unvereinbarerklärung dargelegt werden. Dabei geht es vor allem um den Sonderfall der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung. Da die Entscheidungsvarianten nur in Anbetracht ihrer Rechtsfolgen verständlich sind, werden zunächst – neben einer grundsätzlichen Einführung in Terminologie und Tenorierung – die Rechtsfolgen einer Unvereinbarerklärung (sogleich 1.) und der Weitergeltungsanordnung (2.) dargestellt. Anschließend werden die Begründungsmuster des Bundesverfassungsgerichts für die Unvereinbarerklärung in ihrer historischen Entwicklung nachvollzogen (3.). Dem folgend ist auf die dogmatischen Grundlagen der Unvereinbarerklärung und der Weitergeltungsanordnung einzugehen, wobei insbesondere die Voraussetzungen dieser Entscheidungsvarianten erarbeitet werden (4.). Danach bleiben die Folgen des Falles zu untersuchen, in dem der Gesetzgeber innerhalb der in einer Weitergeltungsanordnung gesetzten Frist keine Neuregelung vornimmt (5.). Abschließend ist auf die Frage einzugehen, ob eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung tatsächlich eine verfassungswidrige Norm zum Gegenstand hat (6.). 1. Die Unvereinbarerklärung Zunächst wird auf die Unvereinbarerklärung eingegangen, welche die Basis für die Weitergeltungsanordnung bildet.

335 336 337

Dazu insbes. oben B.II.2.a) (S. 35), B.II.2.d) (S. 72). Dazu oben B.II.3. (S. 75). Dazu oben B.II.4. (S. 78).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

a) Grundsätzliches, Terminologie und Tenorierung Die Unvereinbarerklärung ist neben der Nichtigerklärung die einzige Entscheidungsvariante, die eine verfassungswidrige Norm zum Gegenstand hat. Im Normalfall spricht das Bundesverfassungsgericht bei der Verfassungswidrigkeit der überprüften Norm eine Nichtigerklärung aus. Im Tenor wird dies dadurch ausgedrückt, dass die Norm mit einer Regelung des Grundgesetzes für „unvereinbar und (daher) nichtig erklärt wird.“ 338 Bei der Unvereinbarerklärung beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht darauf, die betreffende Norm im Tenor mit einer bestimmten Regelung des Grundgesetzes für „unvereinbar“ 339 bzw. „nicht vereinbar“ 340 zu erklären. Die Terminologie ist hier keineswegs einhellig: Teilweise wird diese Entscheidungsvariante auch Verfassungswidrigerklärung341, Unvereinbarkeitserklärung342 und Feststellung der Verfassungswidrigkeit343 bezeichnet. Der Begriff der Unvereinbarerklärung fügt sich allerdings am besten in die Tenorierung durch das Bundesverfassungsgericht und den Wortlaut der §§ 31 Abs. 2 S. 2 und 3, 79 Abs. 1 BVerfGG ein und ist zudem zumindest in der neueren Literatur der geläufigste.344 Die Unvereinbarerklärung ohne Weitergeltungsanordnung wird im Folgenden als „reguläre Unvereinbarerklärung“ bezeichnet. b) Reguläre Rechtsfolgen Die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung waren lange Zeit umstritten, wozu auch die unübersichtliche und zum Teil widersprüchliche Judikatur des Bundesverfassungsgerichts beigetragen hat.345 Heute dürfen sie jedoch wegen mehrerer 338 339

Dazu oben B.II.2. (S. 34). Bspw. BVerfGE 33, 303 (304); 73, 40 (41 f.); 83, 130; 87, 114 (115); 101, 54

(55). 340

Bspw. BVerfGE 61, 319 (320); 93, 386. Zurückgehend auf Maurer, FS Weber, S. 345; gleiche Terminologie bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 107. 342 Herter, Unvereinbarkeitserklärung, S. 1; Moes, StuW 2008, 27 (29); Seer, NJW 1996, 285; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 2. Aufl., S. 804; allerdings mit abweichender Terminologie (Unvereinbarerklärung) ders., in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl., S. 1408. 343 Vgl. Pestalozza, FS 25 Jahre BVerfG I, S. 523; allerdings mit abweichender Terminologie (Unvereinbarerklärung) ders., Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 9 Fn. 15. 344 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 97; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 12; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 13; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 103; Schlaich/ Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 400. Vgl. auch den Wechsel der Terminologie bei Löwer und Pestalozza in Fn. 342, 343. 345 Vgl. die Übersichten bei Hein, Unvereinbarerklärung, S. 123 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 417 ff. 341

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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klärender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als weitestgehend unstreitig gelten. aa) Geltung und Anwendbarkeit der Norm; rückwirkende Neuregelung durch den Gesetzgeber Die unmittelbaren Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung sind nach der Geltungsebene [(1)] und der Anwendungsebene [(2)] zu unterscheiden. Wesentliche Rechtsfolge ist darüber hinaus die Verpflichtung des Gesetzgebers zu einer rückwirkenden Neuregelung [(3)]. (1) Geltungsebene Schon aus der Tenorierung im Vergleich mit derjenigen der Nichtigerklärung – das Bundesverfassungsgericht verzichtet bei der Unvereinbarerklärung auf den Ausspruch der Nichtigkeit346 – ergibt sich die Bedeutung der Unvereinbarerklärung: Das Gesetz wird mit Erklärung des Bundesverfassungsgerichts nicht nichtig, sondern bleibt in der Rechtsordnung existent.347 (2) Anwendungsebene Mit dieser Aussage zur Geltung der Norm ist jedoch noch kein Urteil über ihre Anwendbarkeit gesprochen. Zunächst ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die für unvereinbar erklärte Norm weiterhin anwendbar bleibt und dem Gesetzgeber ein Auftrag zur Neuregelung gegeben ist.348 Bei Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht die Gerichtsentscheidungen der Anlassverfahren – die Verfahren, die jeweils den Anstoß zur Normprüfungsentscheidung gegeben haben349 – aufgehoben und an die Fachgerichte zurückverwiesen. Das wurde mit dem Hinweis darauf verbunden, dass die Anlassverfahren bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszusetzen sind.350 Bei 346

Siehe soeben B.III.1.a) (S. 82). Das ist unstreitig, vgl. nur: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 128 f.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 91; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 182; Heußner, NJW 1982, 257 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 155; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl., S. 1411; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 403, 425; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 170; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 126. 348 Dies wurde aus BVerfGE 32, 199 (217 f.); 34, 9 (43 f.) geschlossen. Beide Entscheidungen beriefen sich in ihrer Begründung der Unvereinbarerklärung nämlich darauf, dass die Rechtsfolge einer Nichtigerklärung – die Eliminierung des Gesetzes – untragbar sei. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 418 Fn. 104; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 125 f. 349 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 134. 350 BVerfGE 22, 349 (363); 23, 1 (11 f.); 25, 101 (111 f.); 25, 236 (255 f.); 29, 57 (70 f.). 347

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

konkreten Normenkontrollen verfuhr es entsprechend, indem die vorlegenden Gerichte verpflichtet wurden, die Anlassverfahren auszusetzen, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen hat.351 Dies sollte im Anlassfall für individuelle Gerechtigkeit sorgen, indem sichergestellt wurde, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens von einer ihn eventuell begünstigenden Neuregelung profitiert.352 Die Anwendbarkeit der Norm wurde also in den Anlassfällen durch Aussetzung der Verfahren suspendiert, in allen Parallelfällen – d. h. bei allen auf die Norm gestützten Anwendungsakten mit Ausnahme des Anlassfalls353 – hingegen blieb die Norm anwendbar. Das prozessuale Vorgehen im Anlassfall gilt auch heute noch.354 Mit seiner Entscheidung im 37. Band hat das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung inhaltlich jedoch in zweierlei Hinsicht korrigiert und die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung eindeutig vorgegeben: „Wird die Verfassungswidrigkeit einer Norm lediglich festgestellt [m. a. W.: Wird eine Unvereinbarerklärung ausgesprochen, Anm. d. Verf.], so hat dies verfassungsrechtlich die gleiche Wirkung wie die Nichtigerklärung: die Norm darf ab sofort, d.h. vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, in dem sich aus dem Tenor ergebenden Ausmaß nicht mehr angewandt werden.“ 355

Das Gericht ordnete somit ab der Entscheidung eine Anwendungssperre356 der für unvereinbar erklärten Norm an.357 Die zweite wesentliche Änderung des Urteils war die erstmalige Ausweitung der bisher nur für Anlassfälle ausgesprochenen Aussetzungspflicht358 auf alle Parallelfälle. 359 351

BVerfGE 28, 324 (363); 29, 71 (83); 31, 1 (7 f.). Vgl. BVerfGE 22, 349 (363); 23, 1 (11); 25, 101 (111 f.); 25, 236 (255 f.). 353 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 135; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 94 Fn. 465. 354 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1275; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 134 a. E.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 413 ff.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 162 ff.; Schmalz, Staatsrecht, Rn. 742. 355 BVerfGE 37, 217 (261). 356 Gleiche Terminologie bei: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1275; Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 129; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 413, 421; Gerontas, DVBl. 1982, 486 (488); Heußner, NJW 1982, 257 (258); Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 155; Mayer, Nachbesserungspflicht, S. 70; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 45; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1274. 357 Dies wurde allerdings in einigen späteren Entscheidungen nicht aufgegriffen bzw. relativiert, Hein, Unvereinbarerklärung, S. 126, 129. Bestätigt wurde die Anwendungssperre u. a. in BVerfGE 55, 100 (110); 61, 319 (356). Vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 94 m.w. N. 358 Gleiche Terminologie bei: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 130; Gerontas, DVBl. 1982, 486 (488); Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 414; Heußner, NJW 1982, 257 (258). 352

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Beide Aspekte hat das Bundesverfassungsgericht – nach einigen ambivalenten Entscheidungen in der Zwischenzeit360 – später verfestigt: Die Anwendungssperre gilt für alle Gerichte und Verwaltungsbehörden361 und umfasst alle Parallelfälle362. Entsprechendes gilt für die Aussetzungspflicht; auch sie bezieht sich auf alle Parallelfälle 363 und auf gerichtliche wie behördliche364 Verfahren. Anwendungssperre wie Aussetzungspflicht in der soeben dargestellten Form entsprechen mittlerweile einer gefestigten Rechtsprechung365 und der heute wohl unbestrittenen Ansicht in der Literatur.366 Die Anwendbarkeit der Norm ist damit durch die Unvereinbarerklärung generell suspendiert, alle entsprechenden Verfahren sind auszusetzen. Dies dient dem Zweck, die Verfahren gewissermaßen einzufrieren, um sie später auf Grundlage der Neuregelung des Gesetzgebers fortzusetzen. Dogmatisch begründet werden diese Rechtsfolgen in der Literatur durch einen Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG: Verwaltung und Gerichten sei es untersagt, verfassungswidrige Einzelakte zu erlassen. Durch die Unvereinbarerklärung sei aber die Verfassungswidrigkeit der Norm mit Wirkung erga omnes festgestellt; somit seien auch auf die Norm gestützte Einzelakte offensichtlich und unbestreitbar verfassungswidrig.367 Teilweise wird auch auf den Vorrang der Verfassung verwiesen.368 359

BVerfGE 37, 217 (265); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 126. Vgl. die Übersicht bei Hein, Unvereinbarerklärung, S. 126 ff. 361 Das betont das Bundesverfassungsgericht seit BVerfGE 55, 100 (110) ausdrücklich. Dazu Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 94 Fn. 464 m.w. N. 362 Das Bundesverfassungsgericht formuliert insoweit: „Die beanstandeten Vorschriften dürfen bis zur Neuregelung weder in anhängigen Verfahren noch in Neufällen angewandt werden“, BVerfGE 87, 234 (262). Dazu Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 94 m.w. N. 363 Das Bundesverfassungsgericht formuliert: „Bis zur gesetzlichen Neuregelung sind Verfahren, in denen die Entscheidung von der verfassungswidrigen Norm abhängt, auszusetzen“, BVerfGE 88, 5 (17). Dazu Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 95 m.w. N. 364 BVerfGE 84, 1 (5); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 95 Fn. 470 m.w. N. 365 Vgl. nur BVerfGE 87, 153 (178); 87, 234 (262 f.); 91, 389 (404); 93, 386 (402 f.); 125, 1 (39); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 94 f. m.w. N. 366 Siehe bspw.: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 129 f.; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1274 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 413 ff., Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 94 f.; Geiger, FS Maunz, S. 136; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 131 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 156 m.w. N.; Maurer, FS Weber, S. 362; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 171. A.A. sind Teile der älteren Literatur, vgl. bspw. Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 60 sowie die Nachweise bei Maurer, FS Weber, S. 363 Fn. 51. 367 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 217 f. Ebenso: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 129; Mayer, Nachbesserungspflicht, S. 69 f.; Maurer, FS Weber, S. 362. 368 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1274; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 156. 360

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Zu betonen ist, dass auch die Unvereinbarerklärung gewissermaßen ex tunc369 wirkt; sie besagt grundsätzlich, dass die Norm zu jeder Zeit verfassungswidrig gewesen ist und wirkt über die Anwendungssperre und Aussetzungspflicht auch zeitlich in den Zeitraum vor der Unvereinbarerklärung.370 (3) Endgültige Rechtslage durch (rückwirkende) Neuregelung durch den Gesetzgeber (a) Beseitigung der verfassungswidrigen Lage durch den Gesetzgeber Eine Besonderheit der Unvereinbarerklärung gegenüber der Nichtigerklärung ist, dass sie die verfassungswidrige Lage nicht durch Eliminierung der verfassungswidrigen Norm selbst beseitigt. Die Beseitigung ist vielmehr Sache des Gesetzgebers. Deswegen gehört zu den Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung auch die Verpflichtung zur Neuregelung durch den Gesetzgeber. Die Verpflichtung, eine der Verfassung entsprechende Neuregelung zu treffen, ergibt sich verfassungsrechtlich wiederum aus Art. 20 Abs. 3 GG.371 Diese Verpflichtung spricht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ausdrücklich in der Entscheidung aus.372 Dabei wird diese Verpflichtung teilweise mit einer Frist versehen.373 Tut das Bundesverfassungsgericht dies nicht, geht es davon aus, der Gesetzgeber müsse in angemessener Zeit eine Regelung finden.374 Mit der Neuregelung endet die Aussetzung der Verfahren; diese werden nunmehr auf Grundlage der verfassungsgemäßen Neuregelung fortgesetzt. (b) Zeitlicher Umfang der vorzunehmenden Neuregelung Hinsichtlich der zeitlichen Reichweite der Neuregelung hat das Bundesverfassungsgericht einige Leitlinien vorgegeben. Diese sind in der historischen Entwicklung der Unvereinbarerklärung mehrfach geändert worden, so dass eine et369

So ausdrücklich Heußner, NJW 1982, 257 (258). Ipsen, Rechtsfolgen, S. 218; vgl. auch Heußner, NJW 1982, 257 (258). 371 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 134; Kleuker, Gesetzgebungsaufträge, S. 32; Heußner, NJW 1982, 257 (258); Heyde, FS Faller, S. 54; Gerontas, DVBl., 486 (488); Willers, Übergangsfristen, S. 53. 372 Vgl. nur BVerfGE 34, 9 (44); 93, 165 (166, 178); 94, 241 (242, 266); 125, 1 (39); 125, 175 (257 f.); BVerfG NZS 2011, 53 (54); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 108 m.w. N. 373 Bspw. BVerfGE 94, 241 (242, 266); 92, 158 (186 f.); 90, 263 (276 f.); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 109 f. m.w. N.; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 71. 374 BVerfGE 82, 126 (155); 81, 363 (384). Teilweise wählt das Gericht andere Formulierungen, es geht jedoch immer von einer zeitlichen Begrenztheit der Umsetzungsfrist aus, vgl. BVerfGE 92, 158 (186 f.); 87, 114 (151), jeweils „unverzüglich“; BVerfGE 88, 5 (17), „alsbald“. Dazu m.w. N. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 109. 370

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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was unübersichtliche Lage entstanden ist.375 Hier soll und kann nur der Status quo wiedergegeben werden. (aa) Grundsatz Ausgegangen wird dabei von zwei Entscheidungen im 87. Band, in denen das Gericht seine Rechtsauffassung bezüglich der Regelungsverpflichtung zusammengefasst hat.376 In BVerfGE 87, 153 führt das Gericht aus: „Die Verpflichtung des Gesetzgebers, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen, erstreckt sich im Grundsatz auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum und erfasst zumindest alle noch nicht rechtskräftigen Entscheidungen, die auf den für verfassungswidrig erklärten Regelungen beruhen.“ 377

Diese Verpflichtung entspricht somit der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG, da – im Umkehrschluss – nicht mehr anfechtbare Entscheidungen der Verwaltung und Gerichte von der Neuregelung ausgeschlossen werden können. Das Bundesverfassungsgericht verweist dementsprechend auch ausdrücklich auf eine Analogie.378 In BVerfGE 87, 114 führt das Gericht aus: „Der Gesetzgeber darf sich zwar [. . .] nicht allgemein damit begnügen, erst vom Inkrafttreten der Neuregelung an für Abhilfe zu sorgen. Er muss vielmehr die verfassungswidrige Lage grundsätzlich jedenfalls von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an beseitigen und kann sogar gehalten sein, für die davorliegende Zeit Regelungen zu treffen, die der verfassungsrechtlichen Beschwer der Betroffenen abhelfen [. . .].“ 379

Aus den beiden Entscheidungen ergeben sich zwei Zeitpunkte, die für die Neuregelung relevant sind: Der Zeitpunkt der Unvereinbarerklärung des Bundesverfassungsgerichts und der Zeitpunkt der Neuregelung.380 Klar ist nach den oben genannten Entscheidungen, dass der Gesetzgeber grundsätzlich den Zeitraum ab der Unvereinbarerklärung verfassungsgemäß zu regeln hat. Nur in Ausnahmefällen darf er sich darauf beschränken, den Zeitraum ab der Neuregelung zu regeln. Unklar bleibt lediglich, was mit dem Zeitraum vor der Unvereinbarerklärung zu geschehen hat. Während BVerfGE 87, 153 den Grundsatz formuliert, dass sich die Neuregelungsverpflichtung auf den gesamten von der Unvereinbarerklärung 375

Vgl. zur Entwicklung Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 111 ff. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 113. 377 BVerfGE 87, 153 (178); ebenso BVerfGE 81, 363 (384); die Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung betont ebenfalls BVerfGE 55, 100 (110 f.). 378 BVerfGE 81, 363 (384); 94, 241 (266 f.); vgl. auch BVerfGE 99, 165 (184 f.), wo auf den Grundgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG verwiesen wird. 379 BVerfGE 87, 114 (136 f.). 380 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 113. 376

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

umfassten Zeitraum bezieht und zumindest alle noch anfechtbaren Entscheidungen erfasst, spricht BVerfGE 87, 114 lediglich davon, dass die Verpflichtung den Zeitraum vor der Unvereinbarerklärung umfassen kann. Eine Regelung entsprechend der des § 79 Abs. 2 BVerfGG – der die zeitlichen Folgen der Nichtigerklärung bestimmt – ist auch hier sinnvoll: Er stellt ein ausgewogenes Verhältnis von Belangen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit her.381 Die gleiche Problematik gilt es auch bei der Unvereinbarerklärung zu regeln. Demgemäß ist davon auszugehen, dass die Neuregelung entsprechend den Ausführungen in BVerfGE 87, 153 grundsätzlich auch den Zeitraum vor der Unvereinbarerklärung, exklusive der nicht mehr anfechtbaren Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen, zu umfassen hat.382 Auch die neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen erkennen, dass das Gericht von einer solchen Verpflichtung ausgeht.383 Es gilt also: Der Gesetzgeber muss grundsätzlich eine verfassungsmäßige Neuregelung treffen, die zeitlich den gesamten Zeitraum der Verfassungswidrigkeit abdeckt.384 Dabei kann er nicht mehr anfechtbare Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen von der Regelung ausnehmen.385 (bb) Ausnahmen (a) Die Ausnahmen des Bundesverfassungsgerichts Diese Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung gilt nicht ausnahmslos. In der bereits eben zitierten Entscheidung BVerfGE 87, 114 führt das Gericht aus: „Für die Zeit vor der Neuregelung kann keine Abhilfe verlangt werden, wenn sie nach der tatsächlichen Lage nicht mehr durchführbar wäre oder den Betroffenen keinen tatsächlichen Nutzen mehr bringen könnte oder wenn sie nur unter unverhältnismäßig großer Beeinträchtigung anderer schutzwürdiger Belange möglich wäre.“ 386 381

Vgl. oben B.II.2.d)aa) (S. 73). Zu diesem Ergebnis kommen auch Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 134; Schlaich/ Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 427, die betonen, dass nur Verfassungsgründe eine Ausnahme hierzu rechtfertigen können; Willers, Übergangsfristen, S. 54. 383 BVerfGE 125, 1 (39); 116, 96 (135); 104, 126 (150); vgl. ferner BVerfGE 125, 175 (258), wo von der Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung des Zeitraums bis zum Inkrafttreten der verfassungswidrigen Norm ausgegangen wird, dann allerdings eine Ausnahme dazu angenommen wird. 384 Normalerweise ist das der Zeitraum ab Inkrafttreten der Norm, es sei denn, die Kollision mit der Verfassung entsteht erst später. 385 Dafür gelten auch keine besonderen Voraussetzungen, da eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Regelung dieser Entscheidungen nicht besteht, vgl. BVerfGE 116, 96 (135); 104, 126 (150). 386 BVerfGE 87, 114 (137). 382

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Insbesondere im – für den strafrechtlichen Zusammenhang besonders relevanten – Steuerrecht stünden allerdings die schutzwürdigen Belange einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung sowie einer entsprechenden Finanz- und Haushaltswirtschaft einer rückwirkenden Neuregelung entgegen. Dort reiche es aus, für die Zukunft eine Neuregelung zu treffen.387 Eine Ausnahme von der Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung nimmt das Gericht ferner an, wenn „die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt war und dem Gesetzgeber aus diesem Grund eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist.“ 388 Diese letzte Ausnahme ist unglücklich gewählt. Die Entscheidungen verweisen insoweit auf BVerfGE 84, 239 – eine Appellentscheidung.389 Dort passt das Argument, um zu begründen, dass die Norm „noch“ verfassungsgemäß ist.390 Die Übernahme in eine Unvereinbarerklärung – die eine verfassungswidrige Norm zum Gegenstand hat – macht dogmatisch keinen Sinn. Die vom Gericht definierten Ausnahmen für die Zeit vor der Neuregelung müssen erst recht391 für den Zeitraum vor der Unvereinbarerklärung gelten.392 (b) Kritik Bei den Ausnahmen zur Verpflichtung einer rückwirkenden Neuregelung verfolgt das Bundesverfassungsgericht einen unnötig komplizierten Weg. Denn eine solche Ausnahme muss bei genauerer Betrachtung gar nicht eigenständig begründet werden. Vielmehr ist in den einschlägigen Konstellationen ohnehin eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung auszusprechen. Diese hat zum Inhalt, dass das verfassungswidrige Gesetz bis zum vom Bundesverfassungs387 BVerfGE 87, 153 (178 f.); 125, 175 (258); zur Kritik mit Nachweisen Schlaich/ Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 427. 388 BVerfGE 120, 125 (168); 125, 175 (258), verwiesen wird zur Begründung der Ansicht letztlich auf BVerfGE 84, 239 (284 f.). Diese Ausnahme wurde in BVerfGE 125, 175 (258) bspw. für die dort in Streit stehenden Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums angenommen. Nach welchen verfassungsrechtlichen Maßstäben sich die Bemessung solcher Leistungen im Einzelnen richtet, war in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht bis zu dieser Entscheidung nicht geklärt. 389 Dazu noch ausführlich unten C.I.1.a) (S. 149). 390 Dazu oben B.II.3.b) (S. 76). 391 Das argumentum a maiore ad minus ergibt sich daraus, dass der Zeitraum zwischen Entscheidung und Neuregelung noch regelungsbedürftiger ist als der vor der Entscheidung, da hier die Verfassungswidrigkeit bereits festgestellt ist. 392 Vgl. BVerfGE 125, 175 (258), wo nur von der Verpflichtung zur rückwirkenden Beseitigung die Rede ist – was den Zeitraum vor der Entscheidung mit einschließt. Auf diese Verpflichtung werden die Ausnahmen bezogen. Ähnlich BVerfGE 117, 1 (70). So – allerdings ohne Begründung – auch Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 134.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

gericht genannten Zeitpunkt angewendet werden darf.393 Somit muss auch die Neuregelung nur ab diesem Zeitpunkt und damit pro futuro gelten. Aus der Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung folgt automatisch die Rechtfertigung einer Neuregelungsverpflichtung nur für die Zukunft. Eine reguläre Unvereinbarerklärung ohne Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung gibt es nicht. Die regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung – Anwendungssperre und Aussetzungspflicht – machen nämlich ohne Pflicht zur rückwirkenden Neuregelung keinen Sinn. Diese Rechtsfolgen dienen ja gerade dazu die Rechtslage einzufrieren, um die Verfahren später auf Grundlage der verfassungskonformen Neuregelung fortzuführen. Die vor der Neuregelung verwirklichten Sachverhalte würden aber hier mangels Rückwirkung von dieser gar nicht erfasst. Vielmehr entstünde ohne Weitergeltungsanordnung ein Regelungsvakuum – die Neuregelung erfasst den Sachverhalt nicht, die alte Norm darf wegen der Anwendungssperre als Folge der Unvereinbarerklärung nicht angewendet werden. In diesen Fällen wird die Unvereinbarerklärung deswegen logischerweise mit einer Weitergeltungsanordnung versehen, so dass bis zum Zeitpunkt der Neuregelung weiterhin das verfassungswidrige Recht anzuwenden ist. Die Weitergeltungsanordnung wird vom Bundesverfassungsgericht neben der Ausnahme zur Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung eigenständig dogmatisch begründet.394 Eine solche Anordnung beinhaltet gerade, dass die Anwendung der verfassungswidrigen Norm bis zum vom Bundesverfassungsgericht genannten Zeitpunkt gerechtfertigt ist;395 die rückwirkende Neuregelung ist deswegen aus dieser Perspektive nicht erforderlich. Mit anderen Worten gehen die Ausnahme zur Verpflichtung der rückwirkenden Neuregelung und die Anwendungsfälle der Weitergeltungsanordnung Hand in Hand. Dieser Zusammenhang ist auch vom Bundesverfassungsgericht bereits betont worden.396 Entweder wird eine Unvereinbarerklärung mit Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung ausgesprochen oder eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, bei der die Neuregelung erst ab dem vom Bundesverfassungsgericht genannten Zeitpunkt wirken muss. Deswegen sollte sinnvollerweise auch die doppelte Begründung – der Ausnahme zur Verpflichtung einer rückwirkenden Neuregelung einerseits und der Weitergeltungsanordnung anderseits – aufgegeben werden. Das eine bedingt das andere; ist eine Weitergeltungsanordnung gerechtfertigt, so ist auch keine rückwirkende Neuregelung geboten. Die kasuistischen und dogmatisch inkonsequenten Ausnahmen zur Verpflichtung 393

Dazu ausführlich unten B.III.2. (S. 96). Sowohl in BVerfGE 125, 175 (177) als auch in BVerfGE 120, 125 (126) wurden Weitergeltungsanordnungen ausgesprochen und dogmatisch eigenständig begründet. 395 Dazu noch B.III.2. (S. 96). 396 Vgl. BVerfGE 110, 94 (138). 394

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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der rückwirkenden Neuregelung könnten aufgegeben werden. Liegen die Voraussetzungen einer Weitergeltungsanordnung vor, so entfällt auch die Verpflichtung zur rückwirkenden Neuregelung. (4) Zwischenergebnis Grundsätzlich führt die Unvereinbarerklärung somit dazu, dass die Rechtslage durch Anwendungssperre und Aussetzungspflicht eingefroren wird. Die Betroffenen sind sodann in die Neuregelung des Gesetzgebers einzubeziehen. Danach werden die Verfahren wieder aufgenommen und nunmehr anhand der verfassungsgemäßen Neuregelung entschieden. Der Nachteil für die Grundrechtsträger besteht hier lediglich in der Verzögerung der Herbeiführung der verfassungsgemäßen Rechtslage. bb) Unterschiede zur Nichtigerklärung Die Darstellung der Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung hat somit ergeben, dass diese grundsätzlich dazu führt, dass die Norm unanwendbar ist und alle Verfahren die auf dieser Norm beruhen, auszusetzen sind; das Bundesverfassungsgericht formuliert in diesem Zusammenhang sogar, dass die Unvereinbarerklärung verfassungsrechtlich die gleiche Wirkung habe wie die Nichtigerklärung.397 Damit drängt sich allerdings die Frage auf, worin denn eigentlich der Mehrwert der Unvereinbarerklärung gegenüber der Nichtigerklärung besteht. Existierten keinerlei Unterschiede, so wäre diese Entscheidungsvariante neben der Nichtigerklärung überflüssig.398 Sie zieht ihre Rechtfertigung ja auch gerade daraus, dass die Rechtsfolgen der Nichtigerklärung in manchen Fällen nicht tragbar sind.399 Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch, dass das Zitat des Bundesverfassungsgerichts missverständlich ist. Im Wesentlichen ergeben sich nämlich drei Unterschiede:400 397

BVerfGE 37, 217 (261); vgl. das Zitat auf S. 84. Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 419. 399 Vgl. oben B.II.2.b)dd)(2)(d) (S. 55), B.II.2.b)ee)(1)(a) (S. 61). 400 Diese hat Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 159 ff. herausgearbeitet. Sie geht allerdings davon aus, dass noch ein vierter Unterschied besteht: Die Unvereinbarerklärung wirke – anders als die Nichtigerklärung – nicht auf den Kollisionszeitpunkt zurück, vgl. dies., Entscheidungsvarianten, S. 160. Dies ist aus drei Gründen unzutreffend. Zum einen bezieht sich der in der Unvereinbarerklärung ausgedrückte Befund der Verfassungswidrigkeit auf den gesamten Zeitraum ab der Kollision mit der Verfassung, vgl. BVerfGE 81, 363 (383 f.); Hein Unvereinbarerklärung, S. 199 f. Bereits deswegen findet sich bei Heußner, NJW 1982, 257 (258) die Aussage, die Unvereinbarerklärung wirke ex tunc; ähnlich Bethge, ZfWG 2007, 169 (174). Auch die Rechtsfolgen der Entscheidung – Anwendungssperre und Aussetzungspflicht – wirken zurück, dazu oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83). Darüber hinaus wirkt die Unvereinbarerklärung auch über die Neuregelungsverpflichtung auf den Kollisionszeitpunkt zurück: Der Gesetzgeber ist 398

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Die Nichtigerklärung eliminiert die verfassungswidrige Norm. Konsequenz dessen ist, dass grundsätzlich die Vorgängerregelung der verfassungswidrigen Norm wieder auflebt.401 Genau das geschieht bei der Unvereinbarerklärung nicht;402 da die Unvereinbarerklärung die Existenz der verfassungswidrigen Norm unangetastet lässt, kann auch die Vorgängerregelung nicht wieder aufleben bzw. weiterhin wirksam sein. Ebenfalls an die Besonderheit der Existenz der Norm auf Geltungsebene knüpft der wohl wichtigste Unterschied der Unvereinbarerklärung zur Nichtigerklärung an: Nur auf Grundlage der Unvereinbarerklärung kann eine Weitergeltungsanordnung ausgesprochen werden; nur eine existente Norm kann anwendbar sein. Die Nichtigerklärung aber vernichtet gerade die Existenz der Norm. Die Unvereinbarerklärung bildet die Basis403 bzw. den Ausgangspunkt404 für eine Weitergeltungsanordnung. Der dritte und letzte Unterschied findet sich in den Konsequenzen der Entscheidung. Die Nichtigerklärung führt unmittelbar zur Herstellung der verfassungsgemäßen Lage durch Elimination der verfassungswidrigen Norm. Selbstverständlich kann der Gesetzgeber auch infolge einer Nichtigerklärung aktiv werden; er muss dies aber nicht tun, um die verfassungswidrige Lage zu beseitigen. Anders ist dies bei der Unvereinbarerklärung; dort ist die Beseitigung der verfassungswidrigen Lage gerade Sache des Gesetzgebers. Dieser muss (Art. 20 Abs. 3 GG) aktiv werden und eine Neuregelung erlassen.405 Somit wird die Bereinigung der verfassungswidrigen Lage dem Gesetzgeber überantwortet. cc) § 79 Abs. 2 BVerfGG und die Unvereinbarerklärung § 79 Abs. 2 BVerfGG – der die Unvereinbarerklärung anders als dessen Abs. 1 nicht ausdrücklich nennt406 – ist nach der herrschenden Meinung auf die Unvereinbarerklärung analog anzuwenden.407

nämlich grundsätzlich dazu verpflichtet, eine Neuregelung für den gesamten Zeitraum der Verfassungswidrigkeit zu treffen, vgl. oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). 401 Dazu oben B.II.2.c) (S. 72). 402 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1274; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 218 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 159 f.; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 127. 403 Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 161. 404 Bethge, ZfWG 2007, 169 (173 f.). 405 Dazu oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). 406 Vgl. den Wortlaut der Vorschrift oben B.II.2.d) (S. 72). 407 BVerfGE 115, 51 (64 f.); 81, 363 (384); 37, 217 (262 f.); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 199 f.; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 79 Rn. 18; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 170; Heußner, NJW 1982, 257 (258); a. A. Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 157 ff.

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Eine planwidrige Regelungslücke408 wird teilweise bestritten: Der Gesetzgeber des 4. Änderungsgesetzes zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz409 habe die Unvereinbarerklärung bewusst nur in Abs. 1 der Vorschrift aufgenommen.410 In Bezug auf § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG – der den Bestandsschutz nicht mehr anfechtbarer Entscheidungen enthält – kann eine Regelungslücke tatsächlich bezweifelt werden, da die Rechtsfolgen der Anwendungssperre und Aussetzungspflicht411 ohnehin ähnliche Wirkungen haben, wie sie § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG anordnet. Bestands- oder rechtskräftige Normvollzugsakte werden von diesen Rechtsfolgen ohnehin nicht berührt.412 Relevant wird die Analogie jedoch für das in § 79 Abs. 2 S. 2, 3 BVerfGG geregelte Verbot der Vollstreckung einer unanfechtbaren Entscheidung. Insoweit liegt eine vergleichbare Interessenlage413 vor: In Unvereinbar- wie Nichtigerklärung wird die Verfassungswidrigkeit der Norm seit Bestehen der Normenkollision festgestellt. Erfordernisse der materiellen Gerechtigkeit verlangen in beiden Fällen gleichermaßen nach dem Vollstreckungsverbot. Deswegen sollte der Vollstreckungsschutz auch auf die reguläre Unvereinbarerklärung angewendet werden. Insofern liegt auch eine planwidrige Regelungslücke vor.414 Die herrschende Meinung ist zutreffend.

408 Die analoge Anwendung setzt eine solche voraus, vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 258 ff., insbes. S. 261; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 371; Schmalz, Methodenlehre, Rn. 385. 409 BGBl. I 1970, 1765. 410 Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 158 f. Diese führt dort ebenfalls an, dass die Unvereinbarerklärung ex nunc wirke und anders als bei der Nichtigerklärung die Einschränkung der ex-tunc-Wirkung gem. § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht erforderlich sei. Dies ist unzutreffend, die Unvereinbarerklärung wirkt selbstverständlich auf den Kollisionszeitpunkt zurück. In ihr wird ja gerade festgestellt, dass die Rechtslage für den gesamten Kollisionszeitraum mit der Verfassung unvereinbar war, vgl. BVerfGE 81, 363 (383 f.); Hein Unvereinbarerklärung, S. 199 f.; Heußner, NJW 1982, 257 (258). Auch die Rechtsfolgen der Entscheidung wirken zurück, vgl. oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83) sowie Fn. 400 (S. 91). Die Frage der Rückwirkung der Entscheidung stellt sich bei der Unvereinbarerklärung somit genauso wie bei der Nichtigerklärung. 411 Dazu oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83). 412 Die Anwendbarkeit einer Norm und die Aussetzung eines Verfahrens wird dann relevant, wenn eine Normvollzugsentscheidung entweder ansteht oder bereits gefällt ist, die Entscheidung aber noch anfechtbar oder bereits angefochten ist. 413 Vgl. zu diesem Erfordernis nur Schmalz, Methodenlehre, Rn. 389. 414 Vgl. BVerfGE 115, 51 (64 f.). Allerdings verkennt das Gericht, dass es bei der Unvereinbarerklärung des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG wegen der ähnlichen Rechtsfolgen der Anwendungssperre und Aussetzungspflicht nicht bedarf. In Bezug auf den in § 79 Abs. 1 BVerfGG ebenfalls geregelten Fall der verfassungskonformen Auslegung bedarf es allerdings auch des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Dem vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Beibehalten des Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 79 Abs. 2, 1 BVerfGG ist zuzustimmen: In Bezug auf die verfassungskonforme Auslegung macht die § 79 Abs. 1 BVerfGG zu entnehmende Ausnahme für Strafurteile nur im Zusammenhang mit der zugehörigen Regel des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG wirklich Sinn.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

dd) Besonderheit des Steuerrechts: § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO Eine Besonderheit bezüglich der Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung ergibt sich für das Steuerrecht aus § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO; hier gelten Anwendungssperre und Aussetzungspflicht nicht. Die Norm lautet im hier relevanten Umfang: „(1) Soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind, kann sie vorläufig festgesetzt werden. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn [. . .] 2. das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt hat und der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet ist, 3. die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei [. . .] dem Bundesverfassungsgericht [. . .] ist [. . .]. (2) Soweit die Finanzbehörde eine Steuer vorläufig festgesetzt hat, kann sie die Festsetzung aufheben oder ändern. Wenn die Ungewissheit beseitigt ist, ist eine vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären; eine ausgesetzte Steuerfestsetzung ist nachzuholen. [. . .]“

Sind die Tatbestandsvoraussetzungen des Abs. 1 S. 2 Nr. 2 erfüllt, müssen die Finanzbehörden vorläufig festsetzen: Ihr grundsätzlich durch den Wortlaut des § 165 Abs. 1 S. 2 i.V. m. S. 1 eröffnetes Ermessen („kann“) ist insoweit auf Null reduziert.415 Die Vorschrift gilt nur bei einer regulären Unvereinbarerklärung; im Falle einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung hat das Gesetz volle Gültigkeit416, die Steuer kann insoweit endgültig festgesetzt werden. Einer vorläufigen Festsetzung bedarf es gar nicht erst.417 Die vorläufige Festsetzung ist jedoch schon vorher möglich: Zwischen Eröffnung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht und der Unvereinbarerklärung ist eine vorläufige Festsetzung bereits gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO zulässig. Das Bemerkenswerte an § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO ist die Anordnung, dass die unvereinbare steuerrechtliche Norm für die vorläufige Festsetzung bis zum Zeitpunkt der Neuregelung gesetzliche Grundlage bleibt; die Norm bleibt insoweit anwendbar.418 Der vorläufige Bescheid löst die Fälligkeit aus, ist vollziehund vollstreckbar und bedingt gemäß § 171 VIII AO die Ablaufhemmung der Festsetzungsverjährungsfrist. Zudem ist eine vorläufig festgesetzte Steuer gemäß

415 BFH BB 1991, 1196 (1198); Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 24; vgl. auch Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 30. 416 Zu den Rechtsfolgen der Weitergeltungsanordnung sogleich B.III.2. (S. 96). 417 Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 16. 418 Vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 Rn. 26.

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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§ 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO tauglicher Gegenstand einer Steuerverkürzung.419 Die Vorschrift ermöglicht es der Finanzbehörde somit, die Steuer nach der für unvereinbar erklärten Rechtslage festzusetzen und zunächst auch zu vereinnahmen. Trifft der Gesetzgeber – seiner Verpflichtung entsprechend420 – später eine rückwirkende Neuregelung der von der Unvereinbarerklärung betroffenen Vorschrift, so ist die Festsetzung entsprechend zu ändern (vgl. § 165 Abs. 2 S. 2 AO).421 Sind die Steuerschulden insoweit schon beglichen, ergeben sich daraus Steuernachzahlungen oder -erstattungen. Letztlich wird der Steuerschuldner somit auf Grundlage der verfassungsgemäßen Neuregelung besteuert. Das führt dazu, dass die Norm keine hinreichende Verbesserung im Vergleich zur Situation bei einer Nichtigerklärung herbeiführt.422 Dementsprechend gering ist wegen der häufig ausgesprochenen Weitergeltungsanordnungen ihre praktische Bedeutung. § 165 AO soll generell verhindern, dass bis zur endgültigen Klärung der Sach- bzw. Rechtslage auf die Steuereinnahmen verzichtet werden muss und ermöglicht deshalb die vorläufige Festsetzung und Vereinnahmung der Steuer.423 Dies ist auch der wesentlichen Bedeutung der Steuereinnahmen für die öffentlichen Haushalte geschuldet. Insofern ist diese Regelung jedenfalls besser als keine Regelung, da sie verhindert, dass der Staat bei regulären Unvereinbarerklärungen mit einem Komplettausfall der Steuer in „Vorleistung“ treten muss. Zudem können bei regulären Unvereinbarerklärungen im Regelfall wohl relevante Anteile der vorläufig festgesetzten Steuern auch auf Grundlage der verfassungsgemäßen Ersatzregelung erhoben werden; in Höhe dieser Anteile bleiben sie dauerhaft erhalten. Die Norm vermag jedoch wegen der Abhängigkeit des Steueranspruchs von der zukünftigen Gesetzesänderung keine Planungssicherheit herbeizuführen, die jedoch eine entscheidende Rolle spielt. Diese Schwäche beantwortet auch die Frage, warum es im Steuerrecht der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung – die, wie bereits ausgeführt, gerade kein Anwendungsfall der vorläufigen Festsetzung gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO ist – überhaupt bedarf und warum im Steuerrecht so häufig von dieser Entscheidungsvariante Gebrauch gemacht wird.424 Diese Frage drängt sich auf, da bereits bei 419 Zu den Wirkungen Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 AO Rn. 37; dazu auch noch ausführlich unten D.I.2. (S. 333). 420 Dazu oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). 421 Dazu Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 49 f.; Rüsken, in: Klein, AO, § 165 Rn. 5, 47; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 38 ff.; Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 Rn. 44. 422 Vgl. zu den im Folgenden geschilderten Schwächen der Vorschrift ausführlich unten C.I.1.b)bb)(2)(a)(cc) (S. 163). 423 Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 Rn. 1, Stand 121. Lieferung (Oktober 2009); vgl. auch Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 2. 424 Vgl. nur die Beispiele unter C.I.1. (S. 149).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

einer regulären Unvereinbarerklärung die betreffende Steuernorm gem. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO anwendbar bleibt. Wirkliche Planungssicherheit vermag nur die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung mit der Konsequenz endgültiger Steuerfestsetzungen herbeizuführen. In Verbindung mit der Ermessensreduzierung auf Null ist die Vorschrift somit – von den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung abweichend – eine automatisierte, da gesetzlich angeordnete, zugleich aber eingeschränkte, weil lediglich vorläufige Weitergeltungsanordnung für steuerrechtliche Normen. ee) Zwischenergebnis: Reguläre Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung Zusammenfassend gilt bei einer regulären Unvereinbarerklärung: Die Norm bleibt auf der Geltungsebene existent.425 Auf der Anwendungsebene unterliegt sie jedoch – bezogen auf den Anlassfall wie auf alle Parallelfälle – einer Anwendungssperre, die entsprechenden Verfahren sind auszusetzen (Aussetzungspflicht).426 Der Gesetzgeber ist verpflichtet, den gesamten Zeitraum der Verfassungswidrigkeit rückwirkend neu zu regeln, wobei er nicht mehr anfechtbare Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen von der Regelung ausnehmen kann.427 Die ausgesetzten Verfahren werden auf Grundlage der Neuregelung fortgesetzt. Die Unterschiede zur Nichtigerklärung liegen darin, dass die Unvereinbarerklärung nicht zum Aufleben der Vorgängerregelung führt, nur auf Basis einer Unvereinbarerklärung eine Weitergeltungsanordnung ausgesprochen werden kann und dass der Gesetzgeber bei der Unvereinbarerklärung zur Beseitigung der verfassungswidrigen Lage tätig werden muss.428 Im Steuerrecht ist die mit der Verfassung unvereinbare Norm gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO – abweichend von den regulären Rechtsfolgen – vorläufig weiter anwendbar.429 2. Die Weitergeltungsanordnung: Grundsätzliches und Rechtsfolgen In Abweichung zu den soeben dargestellten regelmäßigen430 bzw. grundsätzlichen431 Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung kann das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarerklärung mit einer sog. Weitergeltungsanordnung432 oder 425

Vgl. oben B.III.1.b)aa)(1) (S. 83). Dazu oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83). 427 Dazu oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). 428 Dazu oben B.III.1.b)bb) (S. 91). 429 Dazu soeben B.III.1.b)dd) (S. 94). 430 BVerfGE 87, 114 (136). 431 BVerfGE 93, 386 (402). 432 So die Terminologie bei: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 130; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 35 Rn. 45; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 169. 426

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Fortgeltungsanordnung433 verknüpfen. Die Weitergeltungsanordnung setzt – dies wurde bereits festgestellt434 – eine Unvereinbarerklärung logisch voraus und kann nicht etwa mit einer Nichtigerklärung verbunden werden. Nur bei der Unvereinbarerklärung bleibt die verfassungswidrige Norm existent, und nur eine existente Norm kann anwendbar sein. Die Weitergeltungsanordnung ist damit ein Unterfall der Unvereinbarerklärung.435 Eine Weitergeltungsanordnung führt dazu, dass die auf der Geltungsebene weiterhin existente Norm auch auf der Anwendungsebene relevant wird. Sie bewirkt, dass Anwendungssperre und Aussetzungspflicht nicht gelten und die Norm anwendbar bleibt. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung wird im Tenor dadurch ausgedrückt, dass das Gericht einerseits ausdrücklich die Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz feststellt, dabei jedoch gleichzeitig anordnet, die jeweilige Norm dürfe „noch bis zum Erlass einer neuen gesetzlichen Regelung, längstens bis zum [Stichdatum, Anm. des Verfassers] 436 angewandt werden.“ 437 Das Gericht hat auch schon die weitere Anwendbarkeit angeordnet ohne eine konkrete Frist zu setzten. Dann geht es davon aus, der Gesetzgeber habe alsbald eine Neuregelung zu treffen.438 Der Zeitraum bis zum Erlass der Neuregelung bzw. dem Ablauf der durch das Bundesverfassungsgericht genannten Frist wird in dieser Arbeit als „Übergangszeit“ 439 bezeichnet.

433

So das Bundesverfassungsgericht, vgl. etwa BVerfGE 120, 125 (167); 126, 400

(431). 434

Vgl. oben B.III.1.b)bb) (S. 91). Vgl. die Darstellungen bei Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 96 ff.; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 226 ff.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 191 ff.; Hillguber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 538 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 417 ff. Das kommt auch in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck, in denen die Weitergeltungsanordnung immer mit einer Unvereinbarerklärung verknüpft wird, vgl. bspw. die Nachweise in Fn. 437. A.A. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 66 ff. m.w. N., der beide als voneinander zu trennende Entscheidungsvarianten begreift und die Verknüpfungspraxis des Bundesverfassungsgerichts kritisiert. 436 Teilweise wird auf eine Frist verzichtet und die Anwendbarkeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung angeordnet (vgl. sogleich Fn. 437). 437 Bspw.: BVerfGE 33, 303 (304 f.); mit leichten Abweichungen im Wortlaut BVerfGE 61, 319 (320 f.) (ohne Frist); 83, 130; 120, 125 (126); 128, 326 (329 ff., insbes. 332). 438 BVerfGE 90, 60 (105). 439 Der Begriff ist insoweit etwas missverständlich, als dass man zunächst geneigt ist, darunter den Zeitraum zwischen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und dem der Neuregelung bzw. des Fristablaufs zu verstehen. Das ist allerdings nicht richtig: Die Übergangszeit umfasst auch den Zeitraum vor der Entscheidung, da die Normen auch in Bezug auf diesen Zeitraum weiter anwendbar sind. Weil der Begriff in Rechtsprechung und Literatur geläufig ist, wird er auch hier – allerdings im ebengenannten Sinne – verwendet. 435

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Erst vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Weitergeltungsanordnung ist die Unvereinbarerklärung bzw. ihre Notwendigkeit vollends nachzuvollziehen: Die Unvereinbarerklärung in Verbindung mit der Weitergeltungsanordnung stellt eine Möglichkeit des flexiblen „Folgenmanagements“ durch das Bundesverfassungsgericht dar.440 Die Weitergeltungsanordnung kann mit einer inhaltlichen Modifizierung der für verfassungswidrig befundenen Norm verbunden werden.441 Insoweit ist die Grenze zu einer eigenen Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts fließend.442 3. Historische Entwicklung der Unvereinbarerklärung und Begründungsmuster des Bundesverfassungsgerichts Die Unvereinbarerklärung ist eine Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts, die Begründungsmuster des Gerichts443 werden daher im Folgenden anhand der historischen Entwicklung der Entscheidungsvariante nachvollzogen. Die erste Unvereinbarerklärung wurde im Jahr 1961444 ausgesprochen.445 Erst ab dem Jahr 1969 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch verstärkt von dieser 440

Vgl. Steiner, NJW 2001, 2919 (2922). Bspw. BVerfGE 39, 1 (2 f.) (allerdings infolge einer Nichtigerklärung); 93, 37 (41, 85); 128, 326 (332 ff., 405 ff.); dazu Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 35 Rn. 45; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1277. 442 Vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 100. Die Darstellung der Problematik eigener Übergangsanordnungen würde den Rahmen dieser Bearbeitung sprengen, vgl. dazu bspw. die Ausführungen von Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 182 ff.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 184 ff. Außerdem können modifizierende Weitergeltungsanordnungen und eigene Übergangsregelungen wegen des Verstoßes gegen das Gesetzlichkeitsprinzip in keinem Fall zu einer Strafbarkeit führen, vgl. dazu noch unten D.II.2.c)aa) (S. 359). 443 Dieser Ansatz krankt natürlich daran, dass die Begründungsmuster des Gerichts zum Teil nicht einheitlich verwendet werden und teilweise gar keine Begründung gegeben wird, vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 21 ff.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 108 Fn. 422. Eine Zuordnung zu einem Begründungsmuster ist deshalb nicht immer möglich. Deswegen hat Blüggel die Begründungsansätze des Bundesverfassungsgerichts anhand materieller Kriterien weiter untergliedert, ders., Unvereinbarerklärung, S. 31 ff. Die überwiegende (neuere) Literatur hat sich dieser überzeugenden Fallgruppenbildung angeschlossen, so Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 109; Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 123 (allerdings nur bezogen auf einen Teil der von Blüggel erarbeiteten Fallgruppen). Hier soll und kann indes kein Beitrag zur Fallgruppenbildung geliefert werden – insoweit sei auf Blüggel verwiesen – sondern nur ein Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegeben werden. Ähnlich der hier vorgenommenen Unterteilung an der Begründung des Bundesverfassungsgerichts orientiert Hein, Unvereinbarerklärung, S. 38 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 401 ff. 444 BVerfGE 13, 248. 445 Bereits das ist strittig, da sich auch frühere Entscheidungen auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit beschränkten, bspw. BVerfGE 7, 320. Die überwiegende Ansicht der Literatur sieht darin jedoch eher zufällige und unbewusste bzw. atypische Ent441

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Entscheidungsvariante Gebrauch gemacht.446 Bis heute hat sich die Unvereinbarerklärung zu einer wichtigen Entscheidungsvariante entwickelt: Blüggel hat erhoben, dass bis einschließlich des 94. Bandes – das heißt bis Mai 1996 – 123 Unvereinbarerklärungen ausgesprochen wurden, denen etwa doppelt so viele Nichtigerklärungen gegenüber stehen; somit wurde bei etwa einem Drittel aller verfassungswidrigen Normen eine Unvereinbarerklärung ausgesprochen.447 a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Ein Begründungsansatz des Bundesverfassungsgerichts für die Unvereinbarerklärung ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die durch die Unvereinbarerklärung gewahrt werden soll. aa) Keimzelle: Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss Die historische und dogmatische Keimzelle dieser Entscheidungsvariante bildet der sog. gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss.448 Ein solcher liegt vor, wenn eine Personengruppe durch ein Gesetz eine bestimmte Begünstigung erhält, eine andere – gleichheitswidrig – nicht.449 Der Begünstigungsausschluss kann konkludent ausgesprochen werden, indem die ausgeschlossene Personengruppe nicht in den Kreis der Begünstigten aufgenommen wird, oder ausdrücklich, indem ein Ausschlusstatbestand diese Gruppe erwähnt.450

scheidungen ohne dogmatischen Hintergrund und geht davon aus, dass die erste „wirkliche“ – d.h. dogmatisch fundierte und bewusste – Unvereinbarerklärung die ebengenannte Entscheidung im 13. Band ist, so Ipsen, Rechtsfolgen, S. 107; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 18, 194; vgl. ebenfalls Hein, Unvereinbarerklärung, S. 30 f.; a. A. Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 104; Herter, Unvereinbarkeitserklärung, S. 24. 446 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 107 f. Er geht davon aus, das bis 1969 lediglich zwei Unvereinbarerklärungen ausgesprochen wurden, nämlich außer der in Fn. 444 (S. 98) genannten Entscheidung aus dem 13. Band noch BVerfGE 18, 257. 447 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 30 Fn. 95. Es ist nicht zu erwarten, dass sich dieses Verhältnis zwischenzeitlich geändert hat, da Blüggel die Entwicklung über einen sehr langen Zeitraum ausgewertet hat. Zudem haben sich seitdem keine alternativen Entscheidungsvarianten etabliert. Auch andere Autoren gehen zu späteren Zeitpunkten von einem relevanten Anteil an Unvereinbarerklärungen aus. Steiner, NJW 2001, 2919 (2922) nimmt gar an, dass die Unvereinbarerklärung „im Vergleich zur Nichtigkeitsfeststellung fast schon die Regel geworden ist“. Das gleiche Ergebnis stellt Kirchhof, IFStSchrift Nr. 362 (07/1998), 14 (29) für das Steuerrecht fest. 448 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 32; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 39; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 401; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 108 f.; Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 106. 449 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 401; Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 107. 450 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 33 ff. mit Beispielen.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Begründet wird die Unvereinbarerklärung mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers: Die Beseitigung des Verfassungsverstoßes ist nämlich auf dreierlei Weise möglich: Erstens kann die ausgeschlossene Personengruppe in den Kreis der Begünstigten aufgenommen werden. Zweitens kann die Begünstigung ganz abgeschafft werden. Drittens kann der Kreis der Begünstigten gänzlich neu definiert werden.451 Die Entscheidung, welcher Weg zu wählen ist, sei Sache des Gesetzgebers, zumal diesem im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG ein weiter Ermessenspielraum zustehe.452 bb) Erweiterung auf alle gleichheitswidrigen Gesetze Diese Rechtsprechung wurde später auf alle Gleichheitsverstöße – d.h. auch auf gleichheitswidrige belastende Regelungen – ausgeweitet:453 Eine Unvereinbarerklärung sei dann geboten, wenn dem Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stünden, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das sei regelmäßig bei Verletzungen des allgemeinen Gleichheitssatzes der Fall.454 Damit gilt im Bereich der Gleichheitsverstöße zugleich ein umgekehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis: Die Unvereinbarerklärung ist die Regel, die Nichtigerklärung die Ausnahme.455 Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausnahmsweise eine Nichtigerklärung auszusprechen, wenn der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers durch diese nicht verletzt wird. Dies sei in zwei Konstellationen der Fall:456 Erstens, wenn der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum aus tatsächlichen Gründen nicht gegeben ist, d.h. die verfassungsgemäße Lage nur durch Beseitigung der verfassungswidrigen Norm hergestellt werden kann.457 Zweitens, wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber nach seinem „fiktiven 451 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 36; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 43; Maurer, Staatsrecht I, § 20 Rn. 84; ders., FS Weber, S. 348; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 401. 452 BVerfGE 22, 349 (361); dies bestätigend BVerfGE 93, 386 (395); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 36; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 43; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 401. 453 Die erstmalige Ausweitung auf Gleichheitsverstöße außerhalb des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses erfolgte in BVerfGE 23, 1 (10); vgl. dazu Hein, Unvereinbarerklärung, S. 40; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 38 f. 454 Ständige Rechtsprechung, vgl. aus jüngerer Zeit: BVerfGG 99, 280 (298); 105, 73 (133); 106, 166 (181); 107, 133 (148); 110, 94 (138); 117, 1 (69); 122, 210 (245); BVerfG NJW 2010, 2643 (2646). 455 So ausdrücklich BVerfGE 110, 94 (138) m.w. N.; vgl. ebenfalls BVerfGE 126, 400 (431). 456 Zu beiden Ausnahmen Blasberg, Entscheidungsvarianten, S. 115 f.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 41 ff.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 52 ff., 55; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 93 Rn. 48. 457 So bspw. in BVerfGE 22, 349 (362); 71, 81 (107); 74, 9 (28); 110, 94 (138 f.).

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Willen“ 458 seinen Gestaltungsspielraum dahingehend ausüben würde, die Regelung aufzuheben und so eine der Nichtigerklärung entsprechende Rechtslage herbeizuführen.459 Besonders relevant ist die Unvereinbarerklärung für das Steuerrecht, das insbesondere an Art. 3 Abs. 1 GG gemessen wird. Vor Aufkommen der Unvereinbarerklärung hat das Bundesverfassungsgericht auch Steuergesetze, die zu einem hohen Steueraufkommen führen, ungeachtet der damit verbundenen Steuerausfälle für nichtig erklärt.460 1967 hat das Gericht erstmals eine Unvereinbarerklärung im Steuerrecht ausgesprochen461 und seitdem keine wichtigen, zu einem hohen Steueraufkommen führenden Steuergesetze mehr für nichtig erklärt.462 Auch nach Aufkommen der Unvereinbarerklärung wurden Steuergesetze jedoch ausnahmsweise für nichtig erklärt; dies geschah in Fällen, in denen die finanziellen Auswirkungen der Entscheidung unerheblich waren.463 Gleichheitsverstöße bilden auch heute noch den Hauptanwendungsfall der Unvereinbarerklärung;464 über die Hälfte aller Unvereinbarerklärungen wurden anlässlich gleichheitswidriger Normen ausgesprochen.465 cc) Ausweitung auf andere Verstöße Das Bundesverfassungsgericht hat es allerdings nicht dabei belassen, den Begründungsansatz der Wahrung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nur auf gleichheitswidrige Normen anzuwenden. Vielmehr wurde dieser Begründungsansatz bald auch auf Verstöße gegen objektive Verfassungsprinzipien und Freiheitsgrundrechte angewendet. Das Gericht spricht auch hier Unvereinbarerklärungen aus, wenn es im konkreten Fall zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen:466 Die erste Entscheidung, in der sich das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der Un458

So Hein, Unvereinbarerklärung, S. 55. Vgl. bspw. BVerfGE 27, 391 (399); 38, 187 (205 f.); 88, 87 (101). 460 So bspw. in BVerfGE 6, 55 (84); dazu Herter, Unvereinbarkeitserklärung, S. 7. 461 BVerfGE 23, 1; Herter, Unvereinbarkeitserklärung, S. 24. 462 Herter, Unvereinbarkeitserklärung, S. 13. 463 Vgl. bspw. BVerfGE 66, 214; 67, 290 (291); dazu Hein, Unvereinbarerklärung, S. 32 Fn. 22. Die finanziellen Folgen waren in beiden Entscheidungen überschaubar, siehe ebenda. 464 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 32; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 93 Rn. 48; vgl. ebenfalls Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 401. 465 Hier ist wiederum auf die Erhebung bei Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 32 Fn. 99 zu verweisen: Bis einschließlich des 94. Bandes, d.h. bis Mai 1996, seien von 123 Unvereinbarerklärungen 72 der Fallgruppe des gleichheitswidrigen Gesetzes zuzuordnen. Vgl. für aktuelle Nachweise Fn. 454 (S. 100). 466 Vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 45 f. 459

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vereinbarerklärung auf die Gestaltungsfreiheit außerhalb gleichheitswidriger Normen berief, ist wohl BVerfGE 34, 71 aus dem Jahr 1972.467 In den ersten Unvereinbarerklärungen solcher Gesetze zitierte das Gericht zur Begründung des Entscheidungsausspruchs häufig Art. 3 Abs. 1 GG neben dem betroffenen Freiheitsrecht bzw. dem verletzten objektiven Verfassungsprinzip, um Kontinuität zu seiner früheren Rechtsprechung herzustellen.468 Die Unvereinbarerklärung wurde auch in diesen Entscheidungen damit gerechtfertigt, dass der Verfassungsverstoß in den jeweiligen Fällen auf mehreren Wegen beseitigt werden könne und deswegen die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu wahren sei.469 Unter Beibehaltung dieser Begründung hat das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarerklärung später endgültig von Art. 3 Abs. 1 GG gelöst und die (hilfsweise) Zitierung von Art. 3 Abs. 1 GG aufgegeben.470 b) Rechtsfolgenargument Allerdings wurde nicht nur der Anwendungsbereich dieses herkömmlichen Begründungsansatzes ausgebaut. Vielmehr wurde darüber hinaus ein zusätzlicher geschaffen. Dieser wird in der Literatur als „Rechtsfolgenargument“ bezeichnet.471 Hierzu gehört mit BVerfGE 32, 199 (217 f.) aus dem Jahr 1971 die historisch erste Unvereinbarerklärung, die nicht anlässlich eines gleichheitswidrigen Gesetzes ergangen ist.472 Hinter diesem Begründungsansatz steht die Erkenntnis, dass die Elimination der verfassungswidrigen Norm nicht immer zugleich den verfassungsgemäßen Zustand herzustellen vermag.473 Vielmehr kann die Elimination der Norm zu einem Zustand führen, der mit der Verfassung noch weniger in Einklang zu bringen ist als der unter Geltung der Norm. Vor diesem Hintergrund formuliert das Bundesverfassungsgericht im 119. Band:

467 Vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 79 f.: Die frühere Entscheidung BVerfGE 32, 199 bezieht sich zwar ebenfalls nicht auf ein gleichheitswidriges Gesetz, ist aber dem Rechtsfolgenargument zuzurechnen, vgl. dazu noch B.III.3.b) (S. 102). 468 So bspw. noch in BVerfGE 34, 71; 35, 79 (80 f.); 37, 217 f.; 43, 242 (244 f.); 48, 64 (65, 94); dazu Hein, Unvereinbarerklärung, S. 79 ff. 469 Vgl. aus den ebengenannten Entscheidungen BVerfGE 34, 71 (81); 35, 79 (148); 37, 217 (260 f.); 43, 242 (291); 48, 64 (94). 470 Vgl. bspw. BVerfGE 57, 361 (388 f.); 58, 137 (152); 62, 374 (391); 77, 308 (337); 81, 242 (263); 87, 153 (177 f.); 99, 202 (215 f.); 101 (54, 104 f.); 115, 276 (319). 471 So Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 120; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 85. Eine andere geläufige Bezeichnung lautet „Chaosfälle“, vgl. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 39; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 145. 472 Vgl. Hein, Unvereinbarerklärung, S. 79. 473 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 62 f.

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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„Die bloße Unvereinbarerklärung, verbunden mit der Anordnung befristeter Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung, kommt statt der gesetzlich vorgesehenen Nichtigkeit als Rechtsfolge dann in Betracht, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen unabdingbar ist, eine verfassungswidrige Vorschrift für eine Übergangszeit fortbestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige [. . .]. Neben den Grundrechten [. . .] wird vor allem das Rechtsstaatsprinzip in der Ausprägung des Prinzips der Rechtssicherheit [. . .] als ein Rechtsgut anerkannt, zu dessen Schutz die befristete Weitergeltung einer nicht verfassungskonformen Regelung gerechtfertigt und geboten sein kann.“ 474

Hier wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht eine Abwägung zwischen den Folgen einer Nichtigerklärung und denen einer Unvereinbarerklärung vornimmt.475 Dabei werden allerdings nicht die regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung herangezogen476, sondern das Gericht argumentiert mit der weiteren Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm; gegenübergestellt werden Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung.477 Deswegen hat das Rechtsfolgenargument meistens eine Doppelbedeutung: Es begründet einerseits die Unvereinbarerklärung, andererseits die Weitergeltungsanordnung.478 Teilweise dient es auch nur der Begründung der Weitergeltungsanordnung, wobei die Unvereinbarerklärung selbst auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gestützt wird.479 c) Ende der Anwendung auf Verstöße gegen Freiheitsgrundrechte? Die Begründungsmuster der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und des Rechtsfolgenarguments dienen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts somit auch der Rechtfertigung von Unvereinbarerklärungen bei Verstößen gegen Freiheitsgrundrechte. In der Literatur wurde diesbezüglich die Tendenz festgestellt, dass Bundesverfassungsgericht habe diese Rechtsprechung weitestgehend aufgegeben und beschränke sich – entsprechend jener Ansicht in der Literatur, welche die Unvereinbarerklärung nur bei Gleichheitsverstößen für zulässig 474 BVerfGE 119, 331 (382 f.); ähnlich BVerfGE 109, 190 (235 f.); 92, 53 (73). Das Rechtsfolgenargument verwenden ferner bspw.: BVerfGE 32, 199 (217 f.); 33, 303 (347 f.); 34, 9 (43 f.); 83, 130 (154); 99, 216 (243 f.); 125, 175 (256 f.); 128, 326 (404); 130, 372 (402). 475 So ausdrücklich BVerfGE 109, 190 (235 f.); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 87 m.w. N.; kritisch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 116 f. 476 Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). 477 Vgl. das ebengenannte Zitat, die Nachweise in Fn. 474 sowie Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 39. 478 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 89 m.w. N.; vgl. bspw. BVerfGE 99, 216 (243 f.); 119, 331 (382 f.); 125, 175 (256 f.); 128, 326 (404); 130, 372 (402). 479 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 87 f., 89 f. m. N.; vgl. bspw. BVerfGE 73, 40 (101 f.); 92, 53 (73).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

erachtet480 – wieder auf Unvereinbarerklärungen bei Gleichheitsverstößen.481 Diese Beobachtung hat sich nicht bestätigt, vielmehr wendet das Gericht bis in jüngste Zeit die Entscheidungsvariante auf Verstöße gegen Freiheitsgrundrechte an.482 d) Gesetzgeberisches Unterlassen Eine umstrittene Fallgruppe bildet das sog. gesetzgeberische Unterlassen. Ein gesetzgeberisches Unterlassen liegt dann vor, wenn eine vom Grundgesetz gebotene Regelung fehlt.483 Eine Nichtigerklärung ist hier tatsächlich – aus gesetzestechnischen Gründen – unmöglich: Nur eine existente Norm kann für nichtig erklärt werden.484 Auch hier wird deswegen – trotz verfassungswidriger Rechtslage – auf eine Nichtigerklärung verzichtet; das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich darauf, die Verfassungswidrigkeit gesetzgeberischen Unterlassens festzustellen.485 Eine breite Strömung in der Literatur sieht einen Unterschied zu der Unvereinbarerklärung darin, dass der Verzicht auf die Nichtigerklärung hier nicht auf materiell-rechtlichen, sondern allein auf gesetzestechnischen Erwägungen fußt. Deswegen wird die „Verfassungswidrigerklärung gesetzgeberischen Unterlassens“ 486 teilweise als eigene Entscheidungsvariante angesehen, die von der Unvereinbarerklärung abzugrenzen ist.487 4. Dogmatische Grundlagen und die daraus folgenden Voraussetzungen Die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung und der Weitergeltungsanordnung werden von deren dogmatischen Grundlagen bestimmt. Diese Grundlagen werden nun für Unvereinbarerklärung [a)] und Weitergeltungsanordnung [b)] erörtert, um jeweils die Voraussetzungen der Entscheidungsvarianten zu erarbeiten. 480

Vgl. dazu noch unten B.III.4.a)bb)(1) (S. 107). So Schlaich/Korioth, Unvereinbarerklärung, Rn. 401, 404, 410. 482 Vgl. nur BVerfGE 77, 308 (337); 81, 242 (263); 99, 202 (215 f.); 101, 54 (104 f.); 115, 276 (319); 128, 326 (404 ff.). 483 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 56 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 409. 484 BVerfGE 18, 288 (301); Maurer, FS Weber, S. 347 f.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 56, 78; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 148 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 409. 485 Bspw. BVerfGE 15, 46 (47 f.); 18, 288 (301); 68, 155 (173); 68, 272 (273); 79, 256 (256, 274); Hein, Unvereinbarerklärung, S. 56; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 409. 486 So Hein, Unvereinbarerklärung, S. 78. 487 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 408 f.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 77 f.; Maurer, FS Weber, S. 347 f.; a. A. wohl Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 148; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 96 Rn. 26. 481

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a) Die Unvereinbarerklärung aa) Verfassungsprozessrechtliche Grundlagen Die Unvereinbarerklärung lässt sich nicht im Wege eines argumentum a maiore ad minus aus der Nichtigerklärung ableiten.488 Insoweit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Unvereinbarerklärung im Vergleich zur Nichtigerklärung kein Minus, sondern vielmehr aliud ist.489 Dies wird damit begründet, dass die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung sich von denen der Nichtigerklärung unterscheiden; die Unvereinbarerklärung lässt im Gegensatz zur Nichtigerklärung die Existenz der Norm unangetastet490 und überträgt die Auflösung der verfassungswidrigen Rechtslage dem Gesetzgeber491. Mittlerweile herrscht deswegen Einigkeit, dass die Unvereinbarerklärung eine zulässige492 Form richterlicher Rechtsfortbildung durch das Bundesverfassungsgericht darstellt.493 Als sie entwickelt wurde, wurde sie im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht erwähnt. Durch das vierte Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 21. Dezember 1970494 hat sich dies geändert: Die Unvereinbarerklärung wird seit dieser Reform in § 31 Abs. 2 BVerfGG – der die Gesetzeskraft der Unvereinbarerklärung einer Norm bei Verfassungsbeschwerden anordnet – und § 79 Abs. 1 BVerfGG495 – der die Wiederaufnahme des Verfahrens bei Strafurteilen für zulässig erklärt, die auf mit der Verfassung für unvereinbar erklärten Normen beruhen – erwähnt.496 Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz beinhaltet einen Zwiespalt: Es ordnet einerseits in §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG an, dass das Bundesverfassungsgericht eine Nichtigerklärung ausspricht, wenn es zu der Überzeugung gelangt, dass eine Norm verfassungswidrig ist. Nach diesen Tenorierungsvorschriften muss demnach ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig erklärt werden.497 Andererseits geht das Gesetz aber in den oben genannten §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 488 Diese Möglichkeit hat Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 129 f. aufgeworfen und verworfen; sie ist jedoch – soweit ersichtlich – nicht wirklich vertreten worden. 489 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 98; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 129 f. 490 Dazu oben B.III.1.b)aa)(1) (S. 83). 491 Dazu oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). 492 Vgl. zu Einzelfragen in diesem Zusammenhang Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 130 ff. Letztlich hängt die Frage der Zulässigkeit der richterlichen Rechtsfortbildung von der materiell-rechtlichen Zulässigkeit der Unvereinbarerklärung ab, vgl. ebenda, S. 136 ff. 493 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 98; vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 132 ff., insbes. 188 f.; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, HStrR III, 3. Aufl., S. 1408; Seer, NJW 1996, 285; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 93 Rn. 48. 494 BGBl. I 1970, 1765 (1766). 495 Zu dieser Norm oben B.II.2.d) (S. 72). 496 Dazu bereits oben B.I. (S. 31). 497 Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 110.

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BVerfGG mit den Wirkungen der Unvereinbarerklärung um. Aus dieser Gesetzeslage und der Gesetzgebungsgeschichte ist zu schließen, dass das Bundesverfassungsgerichtsgesetz die Unvereinbarerklärung zwar nicht ausdrücklich anerkennt, ihr aber auch nicht ablehnend gegenüber steht; gesetzlich besteht also eine „neutrale Haltung“ 498 gegenüber dieser Entscheidungsvariante.499 bb) Die materiell-rechtlichen Grundlagen der Unvereinbarerklärung und die daraus folgenden Voraussetzungen Bezüglich der Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung sei nochmals500 darauf hingewiesen, dass Unvereinbarerklärung und Nichtigerklärung miteinander in Wechselwirkung stehen: Bei der Verfassungswidrigkeit einer Norm kommen nur Nichtig- und Unvereinbarerklärung in Betracht. Ist eine Norm verfassungswidrig, ist sie grundsätzlich für nichtig zu erklären.501 Die Ausnahmen zu diesem Grundsatz sind gleichzeitig die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung. Die hier sogenannte strenge Nichtigkeitslehre, nach der verfassungswidrige Gesetze ausnahmslos ipso iure und ex tunc nichtig sind, muss die Unvereinbarerklärung gänzlich für unzulässig halten; diese wird jedoch kaum vertreten und ist abzulehnen.502 Der Vernichtbarkeitslehre bereitet die Existenz der Unvereinbarerklärung hingegen keine Probleme – sie dient vielmehr gerade der dogmatischen Rechtfertigung der Unvereinbarerklärung.503 Auch die vorzugswürdige504, hier sogenannte eingeschränkte Nichtigkeitslehre505 lässt Ausnahmen vom Grundsatz der ipso-iure- und ex-tunc-Nichtigkeit und damit die Unvereinbarerklärung zu. Die beiden letztgenannten Lehren besagen zunächst nur, dass die Unvereinbarerklärung generell zulässig ist; ihre Voraussetzungen sind damit aber noch nicht definiert. Die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung hängen wiederum davon ab, wie diese dogmatisch begründet wird. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei 498

Diese Einschätzung geht zurück auf Ipsen, Rechtsfolgen, S. 212. Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 98 f.; Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 138 f.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 211 f.; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 113; vgl. auch Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 110 ff. Die Gegenansicht, nach der die Zulässigkeit der Unvereinbarerklärung dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu entnehmen ist, vertreten: Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 216; Pietzner, in: Schoch/ Schneider/Bier, VwGO, § 183 Rn. 11; Schmalz, Staatsrecht, Rn. 737; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 58; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 83. 500 Vgl. bereits B.II.2.b) (S. 36). 501 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1) (S. 61). 502 Ebenda. 503 Dazu oben insbes. B.II.2.b)bb)(1) (S. 39), B.II.2.b)dd)(2)(d) (S. 55). 504 Dazu oben B.II.2.b)ee)(2) (S. 68). 505 Dazu oben B.II.2.b)ff) (S. 71). 499

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Theorien gegenüber: Die hier sogenannte Theorie der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes sowie die Abwägungslehre. Diese Theorien beanspruchen nicht lediglich nebeneinander Geltung, indem sie etwa kumulativ anwendbare Fallgruppen der Unvereinbarerklärung definieren. Sie suchen vielmehr jeweils eine exklusive dogmatische Begründung der Unvereinbarerklärung zu liefern. (1) Die besondere Struktur des Gleichheitssatzes Eine wichtige Strömung in der Literatur meint, das Nichtigkeitsdogma gelte dann – und nur dann – nicht, wenn der Verfassungsverstoß in einem Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG besteht. Dies wird mit der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes erklärt.506 (a) Dogmatische Grundlagen Die Vertreter der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes hängen zwar grundsätzlich der Nichtigkeitslehre an.507 Allerdings sei das Nichtigkeitsdogma, welches nur ein Urteil über die einzelne Norm zu sprechen vermöge, auf Normenrelationen508 und damit auf Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht zugeschnitten. Die Nichtigkeit der gesamten Normenrelation verfehle den eigentlichen Kern der Verfassungswidrigkeit, da auch im Grunde verfassungsgemäße Normen der Nichtigkeitsrechtsfolge anheimfallen würden.509 Da sie somit davon ausgehen, dass das Nichtigkeitsdogma bei Gleichheitsverstößen nicht gilt,510 legen sie implizit die vorzugswürdige511 eingeschränkte Nichtigkeitslehre zu Grunde. Nach dieser sind verfassungswidrige Normen grundsätzlich mit Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ex tunc und ipso iure unwirksam.512 Einzige Ausnahme zu diesem Grundsatz bilden nach der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes die Gleichheitsverstöße. Danach wird die 506 Diese Auffassung wurde von Maurer, FS Weber, S. 354 f. begründet und wird vertreten von: Ipsen, Rechtsfolgen, S. 109 ff., 213 f., 219; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 100 ff., insbes. S. 106, 113 f.; List, DB 1997, 2297 (2298); Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 249; Nolte, Hinterziehung, S. 11 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 404, 412; Seer, NJW 1996, 285 (286). Maurer hat seine Auffassung mittlerweile modifiziert und geht davon aus, dass auch bei Verstößen gegen Freiheitsgrundrechte eine Unvereinbarerklärung in Betracht kommt, vgl. Maurer, Staatsrecht I, § 20 Rn. 90 f. 507 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 92 ff., insbes. S. 96 f.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 159 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 382; Maurer, Staatsrecht I, § 20 Rn. 84. 508 Zu dem Begriff ausführlich sogleich. 509 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 103. 510 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 106. 511 Dazu oben B.II.2.b)ee)(2) (S. 68). 512 Dazu oben B.II.2.b)ff) (S. 71).

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Unvereinbarerklärung exklusiv mit den Besonderheiten des Gleichheitssatzes begründet und dementsprechend nur bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG für zulässig erachtet. (b) Inhalt der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes Diese Lehre geht davon aus, dass bei Gleichheitsverstößen grundsätzlich nur eine Unvereinbarerklärung in Betracht kommt, die Nichtigerklärung dagegen nur in Ausnahmefällen. (aa) Grundsatz der Unvereinbarerklärung Zentrale Aussage ist, dass ein Gleichheitsverstoß sich wesentlich von Verstößen gegen Freiheitsgrundrechte unterscheidet. Bei einem Verstoß gegen Freiheitsgrundrechte liege ein absoluter Verstoß gegen ein von der Verfassung definiertes Rechtsgut vor.513 Freiheitsrechte schlössen bestimmte Staatstätigkeiten schlechthin aus.514 Solchen Verstößen könne und müsse mit der Nichtigerklärung begegnet werden. Anders sei dagegen die Lage beim Gleichheitssatz und bei Gleichheitsverstößen: Hier sei keine bestimmte Staatstätigkeit schlechthin ausgeschlossen. Gestattet sei vielmehr jede staatliche Einwirkung auf den Bürger, solange sie nur gleichmäßig ausgeübt werde.515 Der Gleichheitssatz sei seiner Natur nach ambivalent und relativ.516 Entsprechend liege bei Gleichheitsverstößen keine verfassungswidrige Norm vor, sondern eine „relative Verfassungswidrigkeit“ 517 bzw. „verfassungswidrige Normenrelation“.518 Verfassungswidrig sei nie Regelung A oder B als solche, sondern deren Verhältnis zueinander.519 Falle eine der beiden Regelungen weg, sei die andere nicht mehr zu beanstanden.520 Es fehle an einer isolierbaren verfassungswidrigen Norm, welche Voraussetzung einer Nichtigerklärung gemäß §§ 78, 95 Abs. 3 BVerfGG sei.521 Die Nichtigerklärung vermöge den Verfassungsverstoß bei Gleichheitsverstößen entweder nicht zu erfassen oder sie schieße über den eigentlichen Verfassungsverstoß hinaus.522 513 Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 402, 412; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 102. 514 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 102. 515 Ebenda. 516 Maurer, FS Weber, S. 354. 517 So Maurer, FS Weber, S. 354; ders., Staatsrecht I, § 20 Rn. 90. 518 So Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214 f. 519 Maurer, FS Weber, S. 354; ders., Staatsrecht I, § 20 Rn. 90; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 402; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 102. 520 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 102. 521 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 214; ähnlich Maurer, FS Weber, S. 354. 522 Maurer, FS Weber, S. 354; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 110, 214.

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Als Beispiel wird auch hier wieder der gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss angeführt: Hier sei weder die Begünstigung der einen Gruppe noch die Nichtbegünstigung der anderen verfassungswidrig, sondern die Tatsache, dass beide Gruppen unterschiedlich behandelt werden.523 Einen Anspruch durch die Nichtigerklärung zu schaffen, sei nicht zuletzt wegen der Auswirkungen auf den Haushalt bedenklich. Jeglichen Anspruch durch Nichtigerklärung zu beseitigen, sei aus Gerechtigkeitsaspekten nicht hinnehmbar: Dem Nichtbegünstigten würden „Steine statt Brot“ gegeben, wenn anstelle der angestrebten Gleichstellung in der Begünstigung die gesamte Begünstigung für nichtig erklärt würde.524 Zudem spreche das Vertrauen der Begünstigten in den Fortbestand des – für sich verfassungsgemäßen – Gesetzes gegen die Elimination der Norm.525 Teilweise wird auch der Aspekt der Gewaltenteilung besonders betont: Der Grundsatz der ipso-iure-Nichtigkeit greife bei Gleichheitsverstößen nicht. Die Bereinigung des Verfassungsverstoßes werde somit nicht von der Verfassung in einem einaktigen Verfahren durch das Nichtigkeitsdogma selbst vorgenommen. Vielmehr erfordere der Gleichheitsverstoß ein zweiaktiges Verfahren, bestehend aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht und der anschließenden Bereinigung der verfassungswidrigen Lage durch den Gesetzgeber. Die Aufgabe der Bereinigung des Verfassungsverstoßes werde von der Verfassung somit ausnahmsweise dem Gesetzgeber zugedacht. Die vom Gewaltenteilungsprinzip vorgezeichnete Zuständigkeitsordnung weise dem Gesetzgeber die Gestaltungszuständigkeit für die Bereinigung zu.526 Aus dem Gleichheitssatz selbst leitet Lübbe-Wolff ein weiteres Argument ab: Die Unvereinbarerklärung soll bei Gleichheitsverstößen deswegen geboten sein, weil nur sie intertemporale Ungleichbehandlungen ausschließe. Auch dieses Argument beruft sich auf die besondere Struktur des Gleichheitssatzes: Die verfassungswidrige Normenrelation könne, weil sie im Regelfall kein definitives verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern mehrere verfassungsmäßige Alternativen habe, nicht aufgehoben und für nichtig erklärt, sondern nur aufgelöst werden. Durch die Nichtigerklärung einer der beiden Regelungen werde die verfassungswidrige Normenrelation bereits in eine Richtung aufgelöst. Zwar könne der Gesetzgeber auch nach der Nichtigerklärung handeln und den Bereich seinen Vorstellungen entsprechend neu regeln – seine Gestaltungsfreiheit sei insoweit also (entgegen der obigen Argumentation) gewahrt. Genau hierin liege aber das Ri-

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Maurer, FS Weber, S. 354. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 110. Für ein Beispiel, in dem der Verfassungsverstoß mit der Nichtigerklärung schon gar nicht zu fassen ist, vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 111 f. 525 Vgl. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 110. 526 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 110; dem folgend Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 411. Vgl. zum Aspekt der Gewaltenteilung auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 112, 214. 524

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siko eines mehrfachen Rechtswechsels und einer unnötigen Häufung änderungsbedingter intertemporaler Ungleichbehandlungen.527 (bb) Ausnahmsweise Nichtigerklärung Auch die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes geht nicht davon aus, dass bei Gleichheitsverstößen ausnahmslos Unvereinbarerklärungen auszusprechen sind. Ausnahmsweise soll eine Nichtigerklärung dann geboten sein, wenn die Verfassung selbst die Bereinigung der verfassungswidrigen Normenrelation in irgendeiner Weise festlege. Bestehe ein bestimmter Verfassungsauftrag zur Erhaltung einer Norm aus der verfassungswidrigen Normenrelation, so könne zwangsläufig nur deren Gegenstück verfassungswidrig und daher nichtig sein. In diesem Fall isoliere das Grundgesetz selbst die verfassungswidrige Norm, das Nichtigkeitsdogma gelte.528 Hier entspricht die Lehre also der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten ersten Ausnahme zum Regelfall der Unvereinbarerklärung bei Gleichheitsverstößen.529 Uneinigkeit herrscht hingegen bezüglich der zweiten vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Ausnahme, die auf den fiktiven Willen des Gesetzgebers abstellt und eine Nichtigerklärung bei gleichheitswidrigen Gesetzen vorschreibt, wenn der Gesetzgeber die der Nichtigerklärung entsprechende Regelung wählen würde.530 Hein lehnt diese Ausnahme ab; anders als in der eben geschilderten ersten Ausnahmefallgruppe werde die für nichtig zu erklärende Norm nicht von der Verfassung aus der gleichheitswidrigen Normenrelation ausgewählt. Das Nichtigkeitsdogma greife deswegen nicht. Gerade vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung sei die Ausnahme hochproblematisch. Das Bundesverfassungsgericht dringe in den innersten Zirkel gesetzgeberischer Macht, den Willensbildungsbereich ein. Es trete hier an die Stelle des Gesetzgebers.531 Maurer hingegen erkennt diesen Ausnahmetatbestand an; auch hier stehe nach dem Willen und Konzept des Gesetzgebers eine bestimmte Regelung fest.532

527 Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 249 f. Sie selbst verwendet freilich nicht den Begriff der verfassungswidrigen Normenrelation, meint aber genau diese. Ihre Begründung ist ferner am Begünstigungsausschluss orientiert und wurde hier generalisiert wiedergegeben. 528 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 112. Ähnlich Maurer, FS Weber, S. 355. 529 Dazu oben B.III.3.a)bb) (S. 100). 530 Dazu ebenda. 531 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 112 f. mit weiteren Argumenten. 532 Maurer, FS Weber, S. 355. Vgl. zu diesem Thema auch die Darstellung von Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 155 f.

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(c) Kritik in der Literatur Der „gesetzestechnische“ 533 Begründungsansatz der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes wird in der Literatur aus verschiedenen Gründen kritisiert. (aa) Falsche Prämissen Bereits die Prämissen der Argumentation werden angegriffen: Das Konzept der verfassungswidrigen Normenrelation basiere auf der Prämisse, dass bei Gleichheitsverstößen immer zwei Normen vorliegen würden. Dabei würden Normen – nach Ipsen – als generelle rechtliche Verhaltensgebote verstanden, wobei ein Normtext mehrere Normen enthalten könne.534 Demnach würden – beim Beispiel des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses – sowohl Begünstigung als auch Begünstigungsausschluss jeweils eine Norm bilden, obwohl sie teilweise in einem Normtext enthalten seien.535 Diese Argumentation wird abgelehnt. Denn auch hier liege nur eine Norm vor. In dem Gebot, eine bestimmte Personengruppe zu begünstigen, stecke – als dessen Negation – zugleich das Verbot, eine andere als die durch das Gebot genannte Gruppe zu begünstigen. Der Begünstigungsausschluss sage demnach inhaltlich nicht mehr, als es bereits die Begünstigung tue. Der Begünstigungsausschluss stelle somit kein eigenständiges rechtliches Verhaltensgebot und somit keine Norm dar. Es gebe also keine verfassungswidrige Normenrelation, sondern auch hier nur eine verfassungswidrige Norm.536 (bb) „Konkrete“ Verfassungswidrigkeit beider Normen Bestritten wird auch das Argument, die Verfassungswidrigkeit lasse sich bei Gleichheitsverstößen nicht in einer isolierbaren verfassungswidrigen Norm verorten. Diese Argumentation hebe das verfassungsrechtlich zu Beanstandende auf eine abstrakte Ebene der Relation, die von der Nichtigkeitsrechtsfolge nicht erreicht werden könne. Dem sei zwar zuzugestehen, dass verfassungswidrig in erster Linie die Wahl des ungleichen Maßstabs bei der Regelung zweier Sachverhalte sei. Insoweit liege die Verfassungswidrigkeit tatsächlich im Bereich des Abstrakten. 533 Terminologie nach Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 153; vgl. in anderem Zusammenhang BVerfGE 22, 349 (349 Ls. II, 360); Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 114. 534 So Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99 Fn. 13; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 101; vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 158. 535 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 157 f. 536 So argumentiert Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 157 ff.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Doch die Verfassungswidrigkeit beschränke sich nicht auf diese Ebene der Maßstabswahl, sie habe vielmehr sehr konkrete Konsequenzen. In jeder Norm, welcher der ungleiche Maßstab zu Grunde gelegt werde, konkretisiere sich die Verfassungswidrigkeit: Beide Normen seien verfassungswidrig.537 Dieses Ergebnis wird mit dem Rechtsgeltungsmodell538 unterfüttert: Die Einhaltung des Gleichheitssatzes sei Bedingung für die Rechtsgeltung jeder Norm. Ein ungleicher Verteilungsmaßstab wirke sich daher in beiden Normen in der Weise aus, dass sie ihre Rechtsgeltungsbedingungen nicht erfüllten. Beide Normen könnten daher keine Normativität erlangen und seien somit nichtig.539 (cc) Lokalisierbarkeit des Verfassungsverstoßes Sachs hat diese Argumentation um einen differenzierten Ansatz erweitert. Er geht davon aus, dass der Verfassungsverstoß sehr wohl lokalisiert werden kann – nämlich mit einer zeitlichen Betrachtung. Bei zeitlich nacheinander erlassenen Vorschriften erlaube es eine chronologische Prüfung, diejenige Norm auszumachen, die erstmalig gegen den Gleichheitssatz verstoße. Wenn dabei die zweite erlassene Norm Auslöser des Gleichheitsverstoßes sei, so sei nur diese nichtig. Enthielte dagegen bereits die erste Norm einen Gleichheitsverstoß – wegen ihres Verhältnisses zum nichtgeregelten Bereich – so sei diese ex tunc nichtig. Die Verfassungsmäßigkeit der späteren Norm sei in diesem Falle isoliert von der ersten Norm zu prüfen. Gleichzeitig in Kraft getretene oder sonst gleichzeitig mit dem Gleichheitssatz in Konflikt geratene540 Vorschriften seien bei Gleichheitswidrigkeit beide als nichtig anzusehen.541 (dd) Vereinbarkeit von Gestaltungsfreiheit und Nichtigerklärung Ein weiterer Einwand zielt auf das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Dieses Argument verfange nicht, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hinsichtlich der zu treffenden Neuregelung werde durch die Nichtigerklä537 Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1269); vgl. auch Sachs, NVwZ 1982, 657 (661); Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 282 f. Sachs und Stern lehnen allerdings die Unvereinbarerklärung gänzlich ab, vgl. Fn. 218 (S. 62). 538 Dazu oben B.II.2.b)dd)(1)(b)(aa) (S. 44). 539 Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1269). 540 Darunter fallen sowohl wegen Veränderungen der tatsächlichen Lage gleichzeitig gleichheitswidrig „gewordene“ Vorschriften als auch vorkonstitutionelle Vorschriften, die gleichzeitig am Maßstab des Art. 3 GG geprüft werden, vgl. Art. 117 Abs. 1, 123 Abs. 1 GG. Dazu Sachs, RdA 42 (1989), 25 (29) inkl. Fn. 57 f. mit weiterer Differenzierung. 541 Sachs, RdA 42 (1989), 25 (28 f.).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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rung nicht beeinträchtigt.542 Die „tabula rasa“ der Nichtigerklärung führe vielmehr dazu, dass der Gesetzgeber seine Gestaltungsfreiheit ungehinderter zum Ausdruck bringen könne, als wenn die verfassungswidrige Regelung durch die bloße Unvereinbarerklärung fortbestünde. In letzterem Fall müsse der Gesetzgeber die eventuell unpopuläre Aufhebung der Norm erst gegen gesellschaftliche und politische Widerstände durchsetzen.543 Diese bei begünstigenden Regelungen unpopuläre Aufhebung könne politisch schwerfallen.544 (ee) Innere Widersprüche der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes Hartmann weist sehr überzeugend auf die inneren Widersprüche der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes hin. Diese Widersprüche ergeben sich zwischen der Argumentation der Lehre und den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung. So führt die Unvereinbarerklärung im Normalfall zu einer Anwendungssperre – die verfassungswidrige Norm darf nicht mehr angewendet werden.545 Damit dies praktikabel sein könne, müsse genau bezeichnet werden, was verfassungswidrig und daher unanwendbar sein solle. Somit komme auch die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes um eine genaue Bestimmung des Normmaterials, bezüglich dessen eine Sanktion eintreten solle, nicht herum. Die Nichtigkeitsrechtsfolge aber lehne diese Ansicht gerade genau wegen der Unbestimmbarkeit des betroffenen Normmaterials ab. Wolle die Lehre der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes in sich schlüssig bleiben, so müsse der Verfassungsverstoß auf die abstrakte Ebene der Relation beschränkt bleiben und „mangels bestimmbaren Normmaterials jede Form der Sanktionierung einer solchermaßen entmaterialisierten Verfassungswidrigkeit ausgeschlossen sein. Dieser absurde Schluss wird jedoch nicht gezogen.“ 546

(ff) Art. 117 GG Sachs verwendet zusätzlich ein systematisches Argument gegen die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes: Diese Lehre müsste jegliche 542 Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 282; Sachs, RdA 42 (1989), 25 (28), die beiden vorgenannten lehnen die Unvereinbarerklärung allerdings gänzlich ab, vgl. Fn. 218 (S. 62); Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1269). 543 Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1269); ähnlich Sachs, NVwZ 1982, 657 (660); ders., RdA 42 (1989), 25 (28), letzterer lehnt die Unvereinbarerklärung allerdings gänzlich ab, vgl. Fn. 218 (S. 62); Schneider, Normenkontrolle, S. 181. 544 Sachs, RdA 42 (1989), 25 (28). 545 Dazu oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83). 546 Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1269).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Normnichtigkeit wegen Gleichheitsverstoßes ausschließen. Das aber widerspreche der Regelung des Art. 117 Abs. 1 GG, der lautet: „Das dem Artikel 3 Absatz 2 [GG, Anm. d. Verfassers] entgegenstehende Recht bleibt bis zu seiner Anpassung an diese Bestimmung des Grundgesetzes in Kraft, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953“

Die Regelung sehe ausdrücklich das Außerkrafttreten gleichheitswidrigen Rechts vor. Ließe sich ein Gleichheitsverstoß normstrukturell nicht einer oder mehreren Rechtsnormen zuordnen, so sei Art. 117 Abs. 1 GG gegenstandslos gewesen.547 (gg) Unvereinbarkeit von Gleichheitssatz und Anspruch auf Besserstellung Auch Ipsens Argument, es sei aus Gerechtigkeitsaspekten nicht hinnehmbar, wenn dem Nichtbegünstigten „Steine statt Brot“ gegeben würden, indem anstelle der angestrebten Gleichstellung in der Begünstigung die gesamte Begünstigung für nichtig erklärt würde,548 wird entgegengetreten: Die Nichtigerklärung gebe den Beschwerdeführern mit der Beseitigung des Gleichheitsverstoßes nicht Steine statt Brot, sondern genau das, was ihnen nach dem materiellen Inhalt des Gleichheitssatzes zustehe. Ansprüche auf Brot im Sinne einer materiellen Besserstellung gewähre Art. 3 Abs. 1 GG nämlich gerade nicht.549 Darüber hinaus sei dieses Argument deshalb unverständlich, weil auch die Unvereinbarerklärung nicht zu einer Anspruchserweiterung führe550 und deshalb dem Begehren des Beschwerdeführers nicht mehr entspreche als die Nichtigerklärung. (2) Die Abwägungslehre Gegen die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes streitet die Abwägungslehre. (a) Dogmatische Grundlagen Die Abwägungslehre wurde bereits im Zuge der Auseinandersetzung zwischen Nichtigkeits- und Vernichtbarkeitslehre vorgestellt. Diese Lehre hat sich mit Söhn und Moench als Spielart der Vernichtbarkeitslehre entwickelt und wurde zunächst gegen die Nichtigkeitslehre in Stellung gebracht.551 Blüggel hat die Abwägungslehre von der Vernichtbarkeitslehre emanzipiert, indem er sie als eine 547 Sachs, NVwZ 1982, 657 (661); vgl. auch die Erwiderung der Gegenansicht bei Hein, Unvereinbarerklärung, S. 104 f. 548 Dazu oben B.III.4.a)bb)(1)(b)(aa) (S. 108). 549 Sachs, DÖV 1984, 411 (418 f.); Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 162. 550 Schneider, Normenkontrolle, S. 176. 551 Dazu oben B.II.2.b)dd)(3)(a) (S. 57).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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vermittelnde Meinung zwischen dieser und der Nichtigkeitslehre positioniert hat.552 Die Abwägungslehre lässt sich aber auch auf Grundlage der vorzugswürdigen553 eingeschränkten Nichtigkeitslehre vertreten: Nach dieser Lehre sind verfassungswidrige Gesetze grundsätzlich mit Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ex tunc und ipso iure unwirksam.554 Die Abwägungslehre definiert auf Grundlage dieser Lehre die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung und damit die Ausnahme zu diesem Grundsatz. Die Abwägungslehre findet in der Literatur breiten Anklang.555 Da auch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung Unvereinbarerklärungen bei Freiheitsgrundrechten ausspricht556 und das von ihm verwendete Rechtsfolgenargument eine Abwägung zur Folge hat557, ist allein die Abwägungslehre mit der Rechtsprechung des Gerichts vereinbar. (b) Inhalt der Abwägungslehre Wie bereits dargelegt besteht Einigkeit, dass eine verfassungswidrige Norm letztlich grundsätzlich ex tunc nichtig sein muss. Dieser Grundsatz wurde hier Nichtigkeitsgrundsatz genannt.558 Blüggel – bei dem sich die ausdifferenzierteste Ausprägung der Abwägungslehre findet – bezeichnet dies als Nichtigkeitsprinzip.559 Die Ausnahme zu diesem Grundsatz bzw. Prinzip sieht die Abwägungslehre unter zwei Voraussetzungen als gegeben an: Es muss erstens ein dem Nichtigkeitsprinzip entgegenstehendes verfassungsrechtliches Prinzip bestehen. Dieses entgegenstehende Prinzip muss – zweitens – im jeweiligen Einzelfall ein hinreichendes Gewicht haben, um das Zurücktreten des Nichtigkeitsprinzips zu rechtfertigen. Das wiederum ist mittels einer Abwägung zu ermitteln.560 In dieser Abwägung stehen sich das durch die Norm verletzte Grundrecht einerseits und die den Normerhalt fordernde Verfassungsnorm gegenüber.561 Blüg552

Dazu oben B.II.2.b)dd)(3)(b) (S. 58). Dazu oben B.II.2.b)ee)(2) (S. 68). 554 Dazu oben B.II.2.b)ff) (S. 71). 555 Neben den genannten hängen dieser Lehre bspw. an: Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 105 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 113; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 107 f.; Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266 f.); Schneider, Normenkontrolle, S. 134 ff., 228. 556 Dazu oben B.III.3.a)cc) (S. 101), B.III.3.c) (S. 103). 557 Dazu oben B.III.3.b) (S. 102). 558 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(d) (S. 64) sowie im Einzelnen B.II.2.b)ee)(1) (S. 61). 559 Dazu m. N. oben B.II.2.b)dd)(3)(b) (S. 58). 560 Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 186 f. 561 Vgl. dazu bereits oben B.II.2.b)dd)(3)(b) (S. 58) sowie Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 147 ff. 553

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

gel hat dabei auch inhaltliche Leitlinien für die Abwägung erarbeitet. Auch dabei greift er auf Alexy zurück – hier auf dessen Abwägungsgesetz für Prinzipienkollisionen: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“ 562

Bezogen auf die Unvereinbarerklärung leitet Blüggel daraus Folgendes ab: Die Unvereinbarerklärung mit ihren regulären Rechtsfolgen – Aussetzungspflicht und Anwendungssperre563 – lasse sich als partielle Erfüllung des Nichtigkeitsprinzips begreifen. Auf der einen Seite würden diese Rechtsfolgen dazu führen, dass das verfassungswidrige Gesetz keine weiteren verfassungswidrigen Auswirkungen mehr zeitige. Auf der anderen Seite aber bleibe die Norm bei einer Unvereinbarerklärung existent.564 Anderes folgert er für die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung: Hier erfordere die vorübergehende Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm einen noch höheren Begründungsaufwand als die Unvereinbarerklärung mit ihren regulären Rechtsfolgen. Denn der Erfüllungsgrad des Nichtigkeitsprinzips sei hier niedriger als bei den regulären Rechtsfolgen.565 Die zweite Determinante der oben dargestellten Abwägungsregel ist die Wichtigkeit der Erfüllung des den Normerhalt fordernden Prinzips. Diese sei zu ermitteln, indem man in dem jeweiligen Einzelfall die Folgen der Nichtigerklärung mit den Folgen des Unterbleibens der Nichtigerklärung vergleicht.566 Präziser wäre es, diese Bestimmung wie folgt vorzunehmen: Zu vergleichen sind die Folgen der Nichtigerklärung mit denen der zu wählenden Entscheidungsvariante – Unvereinbarerklärung oder Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung. (3) Stellungnahme Zu dem Streitstand der beiden geschilderten Lehren ist Stellung zu beziehen. Dabei wird zwischen der Ebene der Gesetzestechnik und der inhaltlichen Ebene differenziert. (a) Ebene der Gesetzestechnik Zunächst soll auf die gesetzestechnische Argumentation der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes eingegangen werden. Die Darstellung

562 563 564 565 566

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146. Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 172 f. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 173. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 173 f.

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der Kritik der Literatur hat gezeigt, dass diese Lehre auf Ebene der Gesetzestechnik als widerlegt angesehen werden kann. (aa) Überzeugende Argumente der Vertreter der Abwägungslehre Die Lehre verkennt insbesondere, dass die Verfassungswidrigkeit – zumindest bei zeitlich nacheinander erlassenen Gesetzen – in einer Norm verortet werden kann und dass ansonsten tatsächlich beide Normen konkret verfassungswidrig sind.567 Auch gebietet der Gleichheitssatz materiell tatsächlich nur „Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln.“ 568 Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung kann sehr wohl durch eine Nichtigerklärung erfasst und beseitigt werden. Insoweit trifft Sachs’ Einwand, der Beschwerdeführer erhalte durch die Nichtigerklärung nicht „Steine statt Brot“, sondern genau das, was ihm nach dem materiellen Inhalt des Gleichheitssatzes zustehe,569 den Kern des Problems: Die Ungleichbehandlung wird durch die Nichtigerklärung beseitigt. Unüberwindbar ist – das hat Hartmann überzeugend dargelegt570 – letztlich auch die Unvereinbarkeit dieser Lehre mit den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung, die genauso eine Verortung der Verfassungswidrigkeit in einer Norm erfordern wie die Rechtsfolgen der Nichtigerklärung. Das Argument der intertemporalen Ungleichbehandlung571 kann dadurch widerlegt werden, dass es sich hierbei nicht um ein spezifisches Problem der Nichtigerklärung von gleichheitswidrigen Gesetzen handelt, sondern vielmehr infolge aller Nichtigerklärungen auftaucht. Auch durch die Nichtigerklärung einer Norm, die gegen Freiheitsgrundrechte verstößt, wird wohl in den allermeisten Fällen gegen den Willen des Gesetzgebers verstoßen; dieser hat die Norm ja gerade geschaffen bzw. zumindest aufrechterhalten. Auch hier besteht deswegen die Gefahr, dass der Gesetzgeber es nicht bei der nach der Nichtigerklärung vorliegenden Rechtslage bewenden sein lässt, sondern vielmehr die Rechtslage seinem Willen anpasst und eine Neuregelung vornimmt. Deswegen kann die Gefahr der intertemporalen Ungleichbehandlung nicht das Spezifikum der Gleichheitsverstöße sein, das eine Unvereinbarerklärung im Gegensatz zu Freiheitsgrundrechten rechtfertigt. 567 Vgl. hierzu insbesondere die Argumentation von Hartmann, oben B.III.4.a)bb) (1)(c)(bb) (S. 111), sowie die von Sachs, B.III.4.a)bb)(1)(c)(cc) (S. 112). 568 BVerfGE 3, 58 (135); 42, 64 (72); BVerfG MMR 2010, 188 (189); ähnlich BVerfGE 18, 38 (46); 98, 365 (385); vgl. auch Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Aufl., Art. 3 Rn. 11; Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 15, 54. 569 Vgl. oben B.III.4.a)bb)(1)(c)(gg) (S. 114). 570 Vgl. oben B.III.4.a)bb)(1)(c)(ee) (S. 113). 571 Dazu oben (S. 109).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

(bb) „Fiat iustitia et pereat mundus“ Zudem gilt es, sich einer zentralen Erwägung zu erinnern, die bereits bei der Erörterung der Nichtigkeitslehre eine Rolle gespielt hat: Es gibt auch außerhalb von Gleichheitsverstößen Konstellationen, in denen die Nichtigerklärung einer verfassungswidrigen Norm zu untragbaren Konsequenzen führt. Erwähnt sei hier als pars pro toto wiederum BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge), in der letztlich der gesamte Einkommensteuertarif der in den Veranlagungszeiträumen 1978 bis 1984, 1986, 1988 und 1991 geltenden Fassungen – und zwar nicht wegen eines Gleichheitsverstoßes – für verfassungswidrig befunden wurde.572 Durch eine Nichtigerklärung wären hier schlimmstenfalls Erstattungsansprüche entstanden, die mehr als ein Viertel der jeweiligen Einnahmen des Bundes und der Bundesländer in einem Haushaltsjahr ausmachten.573 Auch wegen der untragbaren Konsequenzen wurde oben die strenge Nichtigkeitslehre abgelehnt; ein hinreichend flexibles Folgenmanagement durch das Bundesverfassungsgericht hat sich als notwendig erwiesen.574 Gerade diese Erwägung, die Ausnahmen vom Nichtigkeitsgrundsatz erforderlich macht, wird aber von der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes nicht aufgegriffen – außerhalb von Gleichheitsverstößen gilt auch nach ihr: „Fiat iustitia et pereat mundus.“ 575 (cc) Ausweichen auf Appellentscheidungen als Alternative? Zwar könnte man argumentieren, die eben diskutierte Frage stelle sich gar nicht in der beschriebenen Brisanz, da bei einem Verstoß gegen Freiheitsgrundrechte immer noch der Ausspruch einer Appellentscheidung möglich ist. Auch diese gestattet die weitere Anwendbarkeit der Norm,576 der Weltuntergang droht also auch auf Basis der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes nicht. Ein solches Ausweichen auf Appellentscheidungen vermag jedoch ebenfalls nicht zu überzeugen, da bei diesen das Urteil der Verfassungswidrigkeit nicht zum Ausdruck kommt.577 (dd) Systematische Aspekte Auch eine systematische Betrachtung spricht für die Abwägungslehre. Dazu muss der Blick auf die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung erweitert werden. 572 573 574 575 576 577

Zu dieser Entscheidung ausführlich unten C.I.1.b) (S. 153). Dazu ausführlich und mit Nachweisen unten C.I.1.b)bb)(2)(b) (S. 166). Dazu oben B.II.2.b)dd)(2)(d) (S. 55), B.II.2.b)ee)(1)(a) (S. 61). Vgl. bereits Fn. 4 (S. 27) sowie Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 161. Dazu oben B.II.3. (S. 75). Ebenda, vgl. zu diesem Aspekt auch noch B.III.6.c) (S. 144).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Die Untersuchung der Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung und der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung hat ergeben, dass die Unvereinbarerklärung ein „Minus“ der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist: Die Unvereinbarerklärung lässt die Norm trotz Verfassungswidrigkeit weiter existent. Sie ist damit zugleich Voraussetzung der Weitergeltungsanordnung. Ihre regulären Rechtsfolgen – Anwendungssperre und Aussetzungspflicht – gehen aber nicht so weit wie die der Weitergeltungsanordnung: Die Unvereinbarerklärung friert eine existente Norm ein, die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung macht die existente Norm anwendbar. Die beiden Entscheidungsvarianten stellen bei Betrachtung der Rechtsfolgen verschiedene Eskalationsstufen einer Entscheidungsvariante – der Unvereinbarerklärung – dar. Wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird, herrscht bezüglich der Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung weitestgehend Konsens: Diese ist dann zulässig, wenn Güter von Verfassungsrang die weitere Anwendbarkeit gebieten.578 Verbindet man diese Erkenntnis mit der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes, so ergibt sich Folgendes: Die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung – das Vorliegen eines Gleichheitsverstoßes – sind gänzlich andere als die der Weitergeltungsanordnung – das Überwiegen eines die weitere Anwendbarkeit gebietenden Verfassungsguts. Auf Ebene der Voraussetzungen hätte man dann ein aliud-Verhältnis, obwohl die Unvereinbarerklärung auf Ebene der Rechtsfolgen ein „Minus“ zur Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist. Nach dieser Auffassung können die Voraussetzungen der – bezüglich der Rechtsfolgen wesentlich schwerer wiegenden – Weitergeltungsanordnung gegeben sein, ohne dass die Voraussetzungen der – weniger schwerwiegenden – Unvereinbarerklärung vorliegen; eine systematisch unbefriedigende Situation. Auflösen lässt sich diese in zwei Richtungen: Entweder man verbietet konsequenterweise auch die Weitergeltungsanordnung außerhalb von Gleichheitsverstößen, weil die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung nicht vorliegen.579 Dies ist zwar dogmatisch konsequent, verstößt aber gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts580 und führt zum eben beschriebenen „fiat iustitia et pereat mundus“. Oder man begreift die Weitergeltungsanordnung als gänzlich eigene Entscheidungsvariante und lässt sie zu, obwohl die Voraussetzungen der logisch zu Grunde liegenden581 Unvereinbarerklärung nicht vorliegen.582 In 578

Dazu im Einzelnen noch B.III.4.b)bb) (S. 129). So das dogmatische Gesamtkonzept von Hein auf Basis der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes. Dieser sieht die Weitergeltungsanordnung als Ausnahme zu den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung an und lässt erstere somit ohnehin nur im Anwendungsbereich der Unvereinbarerklärung – nach ihm lediglich Gleichheitsverstöße – zu: ders., Unvereinbarerklärung, S. 201, vgl. auch S. 131 f., 191. 580 Dazu oben B.III.3.c) (S. 103). 581 Dazu oben B.III.2. (S. 96). 579

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

diesem Fall bleibt der Widerspruch, dass hier nur die eingriffsintensivere Entscheidungsvariante gerechtfertigt ist, die weniger einschneidende Variante hingegen nicht. Das vermag systematisch nicht zu überzeugen. Die Abwägungslehre bildet dagegen die Situation auf Ebene der Rechtsfolgen – verschiedene Eskalationsstufen ein und derselben Entscheidungsvariante – auf Ebene der Voraussetzungen ab. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung erfordert nach dieser Lehre in der Abwägung lediglich mehr Begründungsaufwand als die Unvereinbarerklärung mit ihren regulären Rechtsfolgen.583 Liegen die Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung vor, so sind demnach auch immer die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung als „Minus“ gegeben. (ee) Untragbare Rechtsfolge bei Untätigkeit des Gesetzgebers Eine untragbare Folge zeitigt die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes bei der Untätigkeit des Gesetzgebers innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht für die Neuregelung gesetzten Frist. Die anderen hierzu vertretenen Auffassungen gehen davon aus, dass mit Fristablauf eine Lösung ohne den Gesetzgeber herbeizuführen ist. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Untätigkeit somit sanktionieren.584 Wegen der zentralen, nicht ersetzbaren Rolle, die dem Gesetzgeber nach der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes bei der Beseitigung von Gleichheitsverstößen zukommt, muss diese Auffassung jegliche Sanktion der Untätigkeit des Gesetzgebers ablehnen. Trifft der Gesetzgeber innerhalb der Frist keine Neuregelung, so hat dies keine Konsequenzen; die Rechtsfolgen der Weitergeltungsanordnung bleiben auch nach Fristablauf erhalten. Die Betroffenen werden lediglich auf die Staatshaftung verwiesen.585 Hein gesteht als Vertreter dieser Auffassung ein, dass diese Folge unbefriedigend ist.586 Sie ist jedoch mehr als das. Sie ist wegen der grundrechtsdogmatischen Bedeutung des Nichtigkeitsgrundsatzes, von dem hier abgewichen wird, nicht hinnehmbar: Das durch das verfassungswidrige Gesetz verletzte Grundrecht, das Rechtsstaatsprinzip, der Vorrang und die Unverbrüchlichkeit der Verfassung587 sowie der grundgesetzlich gewährleistete wirksame Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG)588 verlangen mit Fristablauf nach einer Lösung. Eine Fortsetzung der verfassungsrechtlichen Ausnahmesituation über den Frist-

582 In diese Richtung auf Basis der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 407, 410. 583 Vgl. dazu oben B.III.4.a)bb)(2)(b) (S. 115). 584 Zu diesen Lösungen ausführlich unten unter B.III.5. (S. 137). 585 Hein, Unvereinbarerklärung, S. 179. 586 Ebenda. 587 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 588 Dazu unten B.III.5. (S. 137).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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ablauf hinaus – äußerstenfalls ad infinitum – und das Fehlen jeder Sanktionsmöglichkeit für die gesetzgeberische Untätigkeit können nicht hingenommen werden. (ff) Zwischenergebnis Der gesetzestechnische Ansatz, nach dem die Unvereinbarerklärung allein bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG zulässig ist, geht somit fehl, die Abwägungslehre589 ist insoweit grundsätzlich vorzugswürdig. (b) Inhaltliche Ebene Trotz dieses Ergebnisses auf Ebene der Gesetzestechnik bleibt zu untersuchen, ob die Auffassung der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes und des Bundesverfassungsgerichts590, im Falle eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG müsse grundsätzlich eine Unvereinbarerklärung erfolgen, inhaltlich nicht doch zutreffend ist. Zu prüfen bleibt somit, ob nicht auch auf Basis der Abwägungslehre bei Gleichheitsverstößen in der Regel eine Unvereinbarerklärung erfolgen muss. Dafür könnten der Grundsatz der Gewaltenteilung sowie systematische Argumente sprechen. (aa) Grundsatz der Gewaltenteilung Die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes trägt vor, dass die vom Gewaltenteilungsprinzip vorgezeichnete Zuständigkeitsordnung dem Gesetzgeber bei gleichheitswidrigen Normen die Gestaltungszuständigkeit für die Bereinigung des Verfassungsverstoßes zuweist.591 Das wird mit dem Argument gekontert, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bezüglich der Neuregelung werde durch die Nichtigerklärung der gleichheitswidrigen Norm nicht beschnitten.592 Dieses Argument geht am Kern des Problems vorbei. Es geht hier nämlich nicht nur um die Gestaltungsfreiheit bezüglich der Neuregelung, sondern vielmehr um die Frage, ob das Bundesverfas589 Hingewiesen werden muss hier ausdrücklich darauf, dass der Abwägungslehre nur in den oben entwickelten Grundlagen gefolgt wird. Aus diesen leiten etwa Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 152 ff. und Mönch, Verfassungswidriges Gesetz, S. 160 ff. konkrete Folgen für bestimmte Fallgruppen ab, die teilweise von den hier vertretenen Auffassungen abweichen. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 152 ff. lehnt etwa die Unvereinbarerklärung bei gleichheitswidrigen Gesetzen generell ab, vgl. noch Fn. 604 (S. 126). Die Darstellung und Erörterung der gezogenen Konsequenzen und die damit verbundene Frage der Fallgruppenbildung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 590 Dazu oben B.III.3.a)bb) (S. 100). 591 Dazu oben B.III.4.a)bb)(1)(b)(aa) (S. 108). 592 Dazu oben B.III.4.a)bb)(1)(c)(dd) (S. 112).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

sungsgericht mit der Nichtigerklärung gleichheitswidriger Normen nicht grundsätzlich seine Kompetenzen überschreitet. Bezugspunkt der Argumentation ist nicht die Neuregelung, sondern die Entscheidung des Gerichts selbst. Der von Hein gewählte Begriff der „Gestaltungszuständigkeit“ 593 für die Bereinigung des Verfassungsverstoßes ist treffend gewählt. Die hier zu klärende Frage ist also, ob das Bundesverfassungsgericht – gemessen am Grundsatz der Gewaltenteilung des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG – mit einer Nichtigerklärung gleichheitswidriger Gesetze grundsätzlich seine Kompetenzen überschreitet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gleichheitssatz einen starken Gerechtigkeitsbezug aufweist; Art. 3 Abs. 1 GG wird auch als „Fundamentalnorm der Gerechtigkeit“ bezeichnet594. Es ist dabei grundsätzlich Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers festzulegen, was innerhalb der Beziehungen einzelner Bestandteile der Gesellschaft gerecht ist. Die gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeitsbalance wird durch ein sehr diffiziles Gesamtgefüge aus unterschiedlichen belastenden wie privilegierenden Normen verschiedenster Gruppen definiert. Deswegen betont das Bundesverfassungsgericht bereits auf Ebene der materiellen verfassungsrechtlichen Prüfung, dass der Gleichheitssatz „dem Bundesverfassungsgericht keine Möglichkeit bietet, ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt ,allgemeiner Gerechtigkeit‘ nachzuprüfen und damit seine Auffassung von Gerechtigkeit derjenigen des Gesetzgebers zu substituieren. Dem Gesetzgeber lässt der Gleichheitssatz vielmehr einen weiten Bereich des Ermessens offen. Das Bundesverfassungsgericht kann nur prüfen, ob die äußersten Grenzen dieses Bereiches überschritten sind, hat aber nicht darüber zu befinden, ob der Gesetzgeber im einzelnen die zweckmäßigste, ,vernünftigste‘ oder ,gerechteste‘ Lösung gefunden hat.“ 595

Dieser Aspekt muss ebenfalls auf Ebene der Rechtsfolgen berücksichtigt werden. Das Gleichheitsgrundrecht bezieht seinen Maßstab immer aus Vergleichen mit anderen Gruppen. Insoweit ist der Argumentation der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes, der Gleichheitssatz sei seiner Natur nach ambivalent und relativ, nicht zu widersprechen. Auch die Beobachtung, bei Gleichheitsverstößen liege keine verfassungswidrige Norm vor, sondern eine relative Verfassungswidrigkeit bzw. verfassungswidrige Normenrelation,596 ist – anders als der daraus gezogene Schluss einer fehlenden verfassungswidrigen Norm – zutreffend. 593

Dazu oben B.III.4.a)bb)(1)(b)(aa) (S. 108). Dazu Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 4 m.w. N. 595 BVerfGE 3, 162 (182); vgl. ebenfalls BVerfGE 11, 105 (123); 12, 326 (337 f.); 90, 22 (26); 102, 254 (299); 106, 201 (206); Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 51; Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 18. Diese Erwägungen gelten grundsätzlich auch heute noch, auch wenn das Bundesverfassungsgericht nach der „neuen Formel“ den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in bestimmten Bereichen eingeschränkt hat. 596 Dazu oben B.III.4.a)bb)(1)(b) (S. 108). 594

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Der relative Maßstab wird bereits im Gesetzgebungsprozess durch den Gesetzgeber in umfassender Weise berücksichtigt, indem Begünstigungen und Belastungen bestimmter Gruppen mit solchen anderer abgewogen und – nach den Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers – in Einklang gebracht werden. Die Begünstigungen und Belastungen jeder Gruppe hängen mit solchen anderer Gruppen zusammen und stehen in einem Gesamtgefüge mit diesen. Deswegen muss auch bei der Frage nach den Rechtsfolgen eine Gesamtbetrachtung angelegt werden. Tut man dies, so ist jede Nichtigerklärung einer gleichheitswidrigen Norm ein Eingriff in das ausdifferenzierte Gesamtgefüge, das der demokratisch legitimierte Gesetzgeber für gerecht befunden hat. Der Wegfall einer Norm kann die Aussage dieses Gesamtgefüges erheblich ändern. Beispielhaft kann hier das Steuerrecht angeführt werden. Wird eine die Besteuerung einer Gruppe regelnde Norm für nichtig erklärt, weil sie im Vergleich mit der Besteuerung einer anderen Gruppe für ungleich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG empfunden wurde, so kann das gesamte Steuergefüge in Schieflage geraten, in einer Gesamtbetrachtung ungerecht werden. In der verfassungsgerichtlichen Prüfung werden andere als die beiden aneinander gemessenen Regelungen nicht berücksichtigt, die aber sachlich wie nach der Gesetzgebungsgeschichte und dem Willen des Gesetzgebers mit den geprüften Gesetzen im Zusammenhang stehen. Die Nichtigerklärung verändert das Gesamtgefüge, ohne dass dieses bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung berücksichtigt wurde. Besteuerung wie Privilegierungen der betroffenen Gruppe und anderer Gruppen, die mit der für nichtig erklärten Regelung im Gesetzgebungsprozess abgewogen wurden, können so ihre Legitimation verlieren. Die Nichtigerklärung einer gleichheitswidrigen Norm greift also in das Gesamtgefüge, das der Gesetzgeber als gerecht, zweckmäßig und vernünftig empfand, ein und gestaltet es um. Zwar ist dies vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nicht intendiert, das vielmehr gerade nur einen Ausschnitt des Gesamtgefüges regeln kann und möchte. Faktisch existiert diese Wirkung dennoch. Der Eingriff in das Gesamtgefüge ist in zweierlei Hinsicht bedenklich: Zum einen ist das Bundesverfassungsgericht strukturell nicht in der Lage, diesem Rechnung zu tragen. Das Gesetzgebungsverfahren ist ein hochkomplexer Vorgang, der – angefangen bei der demokratischen Legitimation der Beteiligten, endend bei dem komplexen Verfahren der Gesetzgebung selbst – darauf ausgelegt ist, bezüglich der Gerechtigkeitsbalance einen gesamtgesellschaftlichen Konsens abzubilden bzw. diesem zumindest nahezukommen. Das kann und soll die verfassungsgerichtliche Prüfung nicht leisten. Zum anderen prüft das Bundesverfassungsgericht auch gar nicht das ausdifferenzierte Gesamtgefüge, sondern mit dem Vergleich zweier Regelungen immer nur einen Ausschnitt desselben: Geprüft wird immer nur die Ungleichbehandlung von zwei Personengruppen, die unter einen nächsten gemeinsamen Oberbe-

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

griff fallen.597 Dieses sog. tertium comparationis muss möglichst eng gewählt werden, so dass andere Personen, Personengruppen oder Situationen im Gegensatz zu den beiden überprüften gerade ausgeschlossen werden.598 Die Erwägungen und abwägenden Vergleiche, die der Gesetzgeber bei der Normschöpfung anstellt und berücksichtigt, sind sehr viel umfangreicher als die durch das Bundesverfassungsgericht bei der Normprüfung angestellten. Die verfassungsgerichtliche Prüfung berücksichtigt somit das Gesamtgefüge nicht, das durch eine Nichtigerklärung aber in jedem Fall abgeändert wird. Das durch die Nichtigerklärung herbeigeführte Prüfungsergebnis geht damit erheblich weiter als der Prüfungsumfang des Gerichts. Bildlich gesprochen: Mit der Prüfung eines Vergleichs begibt sich das Bundesverfassungsgericht auf das Spielfeld des Gesetzgebers, ohne dieses jedoch voll zu überblicken. Zwar kann der Gesetzgeber wiederum eingreifen und mit einer Neuregelung seine Vorstellungen – auch rückwirkend – durchsetzen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Nichtigerklärung – sei es auch nur vorübergehend – das Gesamtgefüge ändert. Die Situation bei Freiheitsgrundrechten ist deswegen eine andere – auch hier ist die Meinung der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes zutreffend599 – weil der Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit kein relativer, sondern ein absoluter ist. Die überprüfte Staatstätigkeit ist als solche schlechthin und absolut verboten. Wie sie sich zu anderen Regelungen verhält, ist genauso irrelevant wie ihre Rolle im Gesamtgefüge. Deswegen betritt das Verfassungsgericht mit seiner Prüfung auch keinen Bereich, der – wie die Abwägung des normativen Gesamtgefüges – sachgemäß nur vom Gesetzgeber im dafür vorgesehenen Verfahren bearbeitet werden kann, sondern handelt im Rahmen seiner ureigenen Kompetenzen. Im Ergebnis besteht bei der Nichtigerklärung einer gleichheitswidrigen Norm wegen des relativen Maßstabes somit eine Besonderheit gegenüber der Situation bei einem Verstoß gegen ein Freiheitsgrundrecht: Ergebnis ist – bezüglich der im normativen Gesamtgefüge festgelegten diffizilen gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeitsbalance – grundsätzlich ein eigener Gestaltungsakt des Bundesverfassungsgerichts. Die Nichtigerklärung wird so zu „einem positiven Gesetzgebungsakt“ 600.

597

Vgl. etwa Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 465 f. Epping/Lenz/Leydecker, Grundrechte, Rn. 773; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 463, 467. 599 Vgl. dazu B.III.4.a)bb)(1)(b) (S. 108). 600 So Schneider, Normenkontrolle, S. 176 in Bezug auf Teilnichtigerklärungen bei gleichheitswidrigen Normen. Vgl. zu diesem Gedanken ebenfalls Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 167 f. 598

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher legen die kompetenziellen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG zutreffend wie folgt fest: „Die Rechtsprechung kann im gewaltenteiligen Gefüge des Grundgesetzes gegenüber der Gesetzgebung grundsätzlich zwar kassatorisch, nicht aber gestaltend tätig werden.“ 601

Da – wie soeben dargelegt – die Nichtigerklärung einer gleichheitswidrigen Norm grundsätzlich einen eigenen Gestaltungsakt des Bundesverfassungsgerichts zum Ergebnis hat, ist sie grundsätzlich wegen des verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) ausgeschlossen. Es ist Sache des Gesetzgebers, wie er das vom Bundesverfassungsgericht gefundene Ergebnis in sein normatives Gesamtgefüge einarbeitet. (bb) Vertiefung des Gleichheitsverstoßes durch Beseitigung der gleichheitswidrigen Norm Der soeben besprochene Aspekt ist auch unter dem Blickwinkel des Art. 3 Abs. 1 GG problematisch. Wie eben gesehen, stehen belastende wie begünstigende Regelungen in einem großen Gesamtgefüge. Das meint, dass bestimmte Begünstigungen und Belastungen mit anderen Belastungen und Begünstigungen verbunden sind. Nimmt man eine Norm aus diesem Gefüge heraus, so kann Folge ein sehr viel gravierenderer Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sein, als er ursprünglich durch die gleichheitswidrige Norm verursacht wurde. Deswegen kann bei Gleichheitsverstößen Art. 3 Abs. 1 GG selbst den Normerhalt erfordern. Zur Verdeutlichung sei hier ein Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannt: Dieses hat in BVerfGE 84, 239 die damals geltende Zinsbesteuerung für – vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG – verfassungsrechtlich bedenklich gehalten, weil ein sog. Vollzugsdefizit bei der Zinsbesteuerung bestand. Die materiellen Steuergrundlagen hielt es grundsätzlich für verfassungsrechtlich unbedenklich, jedoch würden die Normen tatsächlich nicht hinreichend umgesetzt. Dies schlug laut Bundesverfassungsgericht wiederum auf die Verfassungsmäßigkeit der Steuergesetze selbst durch.602

601 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 519. Sie kommen allerdings zu einem anderen Ergebnis: Begünstigenden gleichheitswidrigen Normen sei grundsätzlich mit einer Unvereinbarerklärung zu begegnen, belastenden mit einer Nichtigerklärung, vgl. ebenda, Rn. 520 ff. 602 Dort wurde allerdings eine Appellentscheidung, keine Unvereinbarerklärung ausgesprochen, vgl. zu dieser Entscheidung noch ausführlich unten C.I.1.a) (S. 149). Das ändert jedoch nichts an der Eignung des Beispiels zur Begründung der grundsätzlichen Gebotenheit der Unvereinbarerklärung bei Gleichheitsverstößen. Man kann den Fall dahingehend abwandeln, dass das EStG bereits zum Zeitpunkt des Urteils gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen hat.

126

B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Wäre das Gericht gezwungen, in einem solchen Fall eine Nichtigerklärung auszusprechen, so hätten die übrigen Kapitaleinkünfte, die Einkünfte aus Vermögensverwaltung sowie alle übrigen Einkünfte der Besteuerung unterlegen. Lediglich Zinseinkünfte wären freigestellt. Das wäre – gemessen an Art. 3 Abs. 1 GG – ein sehr viel größerer Verstoß als der, der durch das Vollzugsdefizit hervorgerufen wurde.603 (cc) Integration in die Abwägungslehre Diese Ergebnisse stehen nicht in Widerspruch zu der Abwägungslehre, sondern lassen sich vielmehr problemlos in diese integrieren:604 Bei Gleichheitsverstößen fordert der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) aus den eben genannten Gründen den Erhalt der Norm und damit die Unvereinbarerklärung. Zusätzlich kann Art. 3 Abs. 1 GG selbst den Normerhalt fordern, um eine Vertiefung des Gleichheitsverstoßes zu verhindern. Dem gegenüber steht – die Normverwerfung fordernd – die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG. Um das Gewicht der Verfassungsnorm, welche die Normvernichtung fordert, zu beurteilen, sind die konkreten Rechtsfolgen der zu wählenden Entscheidungsvariante zu betrachten.605 Dies sind bei der Unvereinbarerklärung Anwendungssperre und Aussetzungspflicht.606 Der Verfassungsverstoß dringt also tatsächlich nicht zum Grundrechtsträger durch. Der Grundsatz der Gewaltenteilung überwiegt hier somit grundsätzlich. Das vom Bundesverfassungsgericht festgestellte umgekehrte Regel-Ausnahme-Verhältnis607 bei Gleichheitsverstößen lässt sich somit dogmatisch rechtfertigen, auch wenn der von der Rechtsprechung gewählte Terminus der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers missverständlich ist. Vorzugswürdig ist es, den Grundsatz der Gewaltenteilung anzuführen.608

603

Die Argumentation in diesem Beispiel ist BFHE 193, 63 (70 f.) entnommen. Dass Gewaltenteilungsaspekte im Rahmen der Abwägung eine Rolle spielen können, hat bereits Moench erkannt, vgl. ders., Verfassungswidriges Gesetz, S. 166 ff. Allerdings ist Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 152 ff., insbes. S. 167 f., 188 f. als Vertreter der Abwägungslehre der Überzeugung, dass die Unvereinbarerklärung bei gleichheitswidrigen Normen nicht gerechtfertigt werden kann. Damit wendet er sich gegen die These von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes. Er verkennt dabei, dass auch bei Gleichheitsverstößen Verfassungsgüter – wie etwa der Grundsatz der Gewaltenteilung – den Normerhalt fordern können. 605 Dazu oben B.III.4.a)bb)(2)(b) (S. 115). 606 Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). 607 Dazu oben B.III.3.a)bb) (S. 100). 608 Der Terminus der Gestaltungsfreiheit ist deswegen missverständlich, weil die Gestaltungsfreiheit bezüglich der Neuregelung nicht beschnitten wird, vgl. oben B.III.4.a) bb)(3)(b) (S. 121). 604

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Ebenso dogmatisch gerechtfertigt werden können die von der Rechtsprechung definierten Ausnahmefallgruppen. Danach ist eine Nichtigerklärung bei Gleichheitsverstößen ausnahmsweise dann auszusprechen, wenn entweder gar kein Gestaltungsspielraum bezüglich der Bereinigung des Verfassungsverstoßes besteht oder der Gesetzgeber nach seinem fiktiven Willen eine der Nichtigerklärung entsprechende Regelung wählen würde.609 Bei hinreichend restriktiver Anwendung ist der Grundsatz der Gewaltenteilung in diesen Fallgruppen nicht tangiert, weil der Wille des Gesetzgebers aus verfassungsrechtlichen Gründen unerheblich ist oder sein Wille ohnehin respektiert wird. Ebenfalls ausgeschlossen ist, dass der Normerhalt bei Vorliegen dieser Voraussetzungen von Art. 3 Abs. 1 GG selbst gefordert wird, um eine Vertiefung der Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG zu verhindern.610 (4) Zwischenergebnis: Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung Die Betrachtung der dogmatischen Grundlagen hat ergeben, dass die Abwägungslehre gegenüber der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes auf Ebene der Gesetzestechnik den Vorzug verdient.611 Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes, bei Gleichheitsverstößen sei eine Unvereinbarerklärung gerechtfertigt, inhaltlich zumindest als Grundsatz durchaus zutreffend ist.612 Er gilt auch auf Basis der vorzugswürdigen Abwägungslehre: Eine Unvereinbarerklärung ist nach der Abwägungslehre dann zulässig, wenn ein Gut von Verfassungsrang existiert, das im Einzelfall ein hinreichendes Gewicht hat, um eine Ausnahme vom Nichtigkeitsgrundsatz zu rechtfertigen. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, ist mittels einer Abwägung zu bestimmen, in der die Folgen der in Betracht kommenden Entscheidungsvarianten zu erwägen sind.613 Im Rahmen dieser Abwägung muss Folgendes gelten: Es ist nahezu allgemein anerkannt, dass die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes grundsätzlich die Nichtigkeit der Norm zur Folge haben muss – dieser Zusammenhang wurde hier 609

Dazu oben B.III.3.a)bb) (S. 100). Im Fall der ersten Ausnahme ist die Normvernichtung ja die einzig von der Verfassung hingenommene Lösung; eine Vertiefung der Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG ist bereits dieser Voraussetzung wegen ausgeschlossen. Im Fall der zweiten Ausnahme wäre ein Wille des Gesetzgebers, der weitere, nicht hinnehmbare Verletzungen des Art. 3 Abs. 1 GG zur Folge hat, verfassungswidrig. Diesem verfassungswidrigen fiktiven Willen des Gesetzgebers würde das Bundesverfassungsgericht ohnehin nicht durch eine Nichtigerklärung zur Durchsetzung verhelfen. 611 Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(a) (S. 116). 612 Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(b) (S. 121). 613 Dazu oben B.III.4.a)bb)(2)(b) (S. 115). 610

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Nichtigkeitsgrundsatz genannt.614 Dieser Grundsatz ist verfassungsrechtlich fundiert.615 Das durch diesen Grundsatz vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis muss sich in der Abwägung wiederfinden: Das den Normerhalt fordernde Verfassungsgut muss also das die Normvernichtung fordernde Verfassungsgut überwiegen, um eine Unvereinbarerklärung zu rechtfertigen. Bei Gleichheitsverstößen führen der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) sowie Art. 3 Abs. 1 GG selbst innerhalb dieser Abwägung dazu, dass eine Unvereinbarerklärung grundsätzlich gerechtfertigt ist. Hieraus folgt ein umgekehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis.616 b) Die Weitergeltungsanordnung Wurden vorangehend die dogmatischen Grundlagen der Unvereinbarerklärung und deren Voraussetzungen erörtert, so wird darauf aufbauend im Folgenden entsprechend auf die Weitergeltungsanordnung eingegangen. Dabei ist zwischen verfassungsprozessrechtlichen und materiell-rechtlichen Grundlagen zu unterscheiden. aa) Verfassungsprozessrechtliche Grundlagen Höchst umstritten ist die normative Grundlage der Weitergeltungsanordnung. Eine explizite Ermächtigung zum Erlass einer solchen Anordnung existiert im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht. Soweit das Bundesverfassungsgericht überhaupt auf eine gesetzliche Grundlage der Weitergeltungsanordnung eingeht, beruft es sich auf § 35 BVerfGG.617 Diese Vorschrift lautet: „Das Bundesverfassungsgericht kann in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln.“

Diese Verankerung wird von einer breiten Strömung der Literatur zu Recht abgelehnt.618 Selbst wenn man dem weiten verfassungsrechtlichen Vollstreckungs614

Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(b) (S. 63). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 616 Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(b) (S. 121). 617 Bspw. BVerfGE 39, 1 (2 f.), allerdings infolge einer Nichtigerklärung und mit inhaltlichen Modifizierungen der Norm; 91, 186 (207); 93, 37 (85), ebenfalls mit inhaltlicher Modifizierung der Norm; 93, 121 (131). 618 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 130; Böckenförde, Nichtigkeit, S. 132 f.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 238 ff.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 177 f.; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 118; vgl. Lerche, FS Gitter, S. 510, allerdings zu eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 19 Rn. 12, ebenfalls zu eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts; ders., FS 25 Jahre BVerfG I, S. 561, 566, hier bezogen auf Übergangsregelungen nach einer Nichtigerklärung; wohl auch Roth, AÖR 124 (1999), 470 (490 f.); a. A.: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1277; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 35 Rn. 29, 45; ders., ZfWG 2007, 169 (174); Widmaier, Gutachten, S. 10; Willers, Übergangsfristen, S. 71 f. 615

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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begriff 619 folge, lasse sich die Anordnung, die eigentlichen Rechtsfolgen der Entscheidung – Anwendungssperre und Aussetzungspflicht620 – außer Kraft zu setzen und statt dessen die Anwendung der Norm vorzuschreiben, nicht als Vollstreckung der Unvereinbarerklärung bezeichnen. Die Suspension oder Modifikation der Entscheidung selbst lasse sich nämlich nicht als deren Durchsetzung begreifen.621 Es gehe hier gerade nicht um die Überwindung von Widerständen, die in mangelnder Respektierung der Entscheidungsfolgen wurzelten. Genau dies aber ist der Zweck der Vollstreckung. Hier entstünden vielmehr gerade aus der Respektierung der Entscheidung Folgen, die es zu bewältigen gelte.622 Es ist wegen dieser überzeugenden Argumentation davon auszugehen, dass es keine verfassungsprozessrechtliche Rechtsrundlage der Weitergeltungsanordnung gibt. bb) Materiell-rechtliche Grundlagen und die daraus folgenden Voraussetzungen einer Weitergeltungsanordnung Die Verankerung und die Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung sind daher direkt aus den materiell-rechtlichen Grundlagen dieser Entscheidungsvariante zu entwickeln. (1) Auffassung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht begründet die Weitergeltungsanordnung grundsätzlich mit dem Rechtsfolgenargument. Einige Entscheidungen neueren Datums werfen die Frage auf, ob ein neuer Begründungsansatz entwickelt wurde bzw. welche Voraussetzungen genau erfüllt sein müssen. (a) Rechtsfolgenargument Das Bundesverfassungsgericht leitet die Weitergeltungsanordnung – das wurde bereits im Rahmen der Unvereinbarerklärung angedeutet623 – in ständiger Recht-

619 BVerfGE 6, 300 (304); 68, 132 (140): „Vollstreckung ist hier [i. R. d. § 35 BVerfGG, Anm. d. Verfassers] der Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts notwendig sind“, unter Berufung auf Arndt, DVBl. 1952, 1 (3). Dazu Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 177. 620 Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). 621 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 139; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 177 f.; vgl. insoweit auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum möglichen Inhalt der Vollstreckungsanordnungen gemäß § 35 BVerfGG in BVerfGE 6, 300 (304); 68, 132 (140); vgl. ebenfalls Böckenförde, Nichtigkeit, S. 132 f. 622 Lerche, FS Gitter, S. 510, allerdings zu eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts. 623 Dazu oben B.III.3.b) (S. 102).

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sprechung aus dem Rechtsfolgenargument her.624 Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung kommt nach Auffassung des Gerichts dann in Betracht, wenn der Fortbestand einer verfassungswidrigen Vorschrift für eine Übergangszeit erforderlich ist, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige. Nach dem Rechtsfolgenargument ist eine Abwägung zwischen dem die Normerhaltung fordernden und dem die Normvernichtung fordernden Gut vorzunehmen.625 (b) Wechsel der Rechtsprechung? Es ist allerdings zu untersuchen, ob das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung jüngst aufgegeben bzw. modifiziert hat. In einigen neueren Entscheidungen fehlt nämlich die Inbezugnahme des Rechtsfolgenarguments. Exemplarisch hierfür sind zwei Entscheidungen aus dem 126. und 120. Band. Diese scheinen die ständige Rechtsprechung zumindest zu modifizieren. In ihnen wird das Rechtsfolgenargument nicht direkt erwähnt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus: „Eine befristete Fortgeltungsanordnung kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Gesichtspunkten einer geordneten Finanz- und Haushaltsplanung sowie dann in Frage, wenn die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt war und dem Gesetzgeber aus diesem Grund eine angemessene Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist.“ 626

Das letztgenannte Argument der nicht hinreichend geklärten Verfassungsrechtslage ist wohl trotzdem nicht als eigenständiger Begründungsansatz für die Weitergeltungsanordnung zu sehen. Zum einen tragen die zur Begründung herangezogenen Entscheidungen eine solche Betrachtung nicht. BVerfGE 126, 400 verweist insoweit auf BVerfGE 125, 175.627 Dort begründet das Gericht jedoch nur, dass in den beiden genannten Fallgruppen die Pflicht zur rückwirkenden Neuregelung durch den Gesetzgeber entfällt. Dieser kann sich hier auf eine Regelung für die Zukunft beschränken.628 Für die Frage der Grundlagen und Zulässigkeit der Weitergeltungsanordnung haben diese Ausführungen keinerlei Bedeutung. Die Weitergeltungsanordnung selbst wird in BVerfGE 125, 175 mit dem Rechtsfolgenargument sowie der Ge624 Vgl. bspw. BVerfGE 33, 303 (347); 61, 319 (356); 83, 130 (154); 92, 53 (73); 99, 216 (243 f.); 119, 331 (382 f.); 125, 175 (256 f.). 625 Dazu oben B.III.3.b) (S. 102). 626 BVerfGE 126, 400 (431 f.); wortlautgleich BVerfGE 120, 125 (167 f.). 627 BVerfGE 126, 400 (432), wo auf BVerfG NJW 2010, 505 (518) = BVerfGE 125, 175 (258) verwiesen wird. 628 BVerfGE 125, 175 (258), bereits das ist missverständlich und ebenso dogmatisch unnötig kasuistisch wie kompliziert, vgl. dazu oben B.III.1.b)aa)(3)(b)(bb) (S. 88).

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staltungsfreiheit des Gesetzgebers begründet.629 Darüber hinaus wird bezüglich des Arguments der nicht hinreichend geklärten Verfassungsrechtslage auf zwei Entscheidungen im 84. und 110. Band verwiesen.630 In der Entscheidung aus dem 84. Band wurde die überprüfte Norm jedoch für noch verfassungsgemäß befunden.631 Sie beinhaltet keine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, sondern eine Appellentscheidung mit Fristsetzung.632 In der Tat ist das Argument der bisher nicht hinreichend geklärten Verfassungsrechtslage dogmatisch auf die Appellentscheidung mit dem Ausspruch eines „toleranten noch verfassungsgemäß“ 633 zugeschnitten. Zu der Begründung einer Weitergeltungsanordnung passt es nicht.634 Die Entscheidung im 110. Band wiederum beinhaltet eine Nichtigerklärung, die wiederum von der Appellentscheidung des 84. Bandes abgegrenzt wird.635 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht, auf die das Gericht verweist, ergibt somit nicht, dass die Weitergeltungsanordnung auf das Argument der nicht hinreichend geklärten Verfassungsrechtslage gestützt werden kann. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht auch in den Entscheidungen des 120. und 126. Bandes die Weitergeltungsanordnung nie allein auf dieses Argument gestützt.636 Es ist also nicht davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht hier einen weiteren Begründungsansatz neben dem Rechtsfolgenargument geschaffen hat, sondern vielmehr seine eigene Rechtsprechung zur Appellentscheidung fehlinterpretiert oder zumindest missverständlicherweise zitiert hat. Die Grundsätze der geordneten Haushalts- und Finanzplanung rechtfertigen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dagegen Weitergeltungsanordnungen.637 Da jedoch auch hier die konkreten Rechtsfolgen abgewogen 629

BVerfGE 125, 175 (255 f.). BVerfGE 126, 400 (432) verweist auf BVerfGE 120, 125 (167 f.). Diese Entscheidung verweist bezüglich des Fristarguments auf BVerfGE 84, 239 (284) und BVerfGE 110, 94 (138). 631 BVerfGE 84, 239 (268). 632 Vgl. zur Appellentscheidung oben B.II.3. (S. 75), zu BVerfGE 84, 239 noch ausführlich unten C.I.1.a) (S. 149). 633 Dazu oben B.II.3.b) (S. 76). 634 Wegen der Grundrechtsrelevanz dieser Entscheidungsvariante muss sich die Rechtfertigung der weiteren Geltung aus einem überwiegenden Verfassungsgut ergeben. Die bloße Schonung des Gesetzgebers reicht hierfür nicht aus. 635 BVerfGE 110, 94 (138 f.). 636 In BVerfGE 126, 400 (432) wurde das Vorliegen der Voraussetzungen sowohl des Arguments der nicht hinreichend geklärten Verfassungsrechtslage als auch der Erforderlichkeit nach den Grundsätzen der geordneten Haushalts- und Finanzplanung verneint. In BVerfGE 120, 125 (167 f.) hingegen wurde das Vorliegen der Voraussetzungen beider Begründungsansätze bejaht. 637 Vgl. bspw. BVerfGE 93, 121 (148). Auf diese Entscheidung verweist BVerfGE 120, 125 (168). 630

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werden, ist dieser Begründungsansatz nur ein Unterfall des Rechtsfolgenarguments.638 Es ist demnach davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltungsanordnung nach wie vor allein auf das Rechtsfolgenargument stützt. Das Argument der nicht hinreichend geklärten Verfassungsrechtslage ist überflüssig und stellt die dogmatisch inkonsequente Übernahme eines Begründungsansatzes für eine Appellentscheidung dar. (c) Inhaltliche Spezifizierung des Rechtsfolgenarguments (BVerfGE 109, 190 et al.) Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich in seiner Entscheidung BVerfGE 109, 190 (Sicherungsverwahrung I) auf bisher beispiellose Art und Weise mit den Voraussetzungen und Grenzen der Weitergeltungsanordnung auseinandergesetzt. Diese Auseinandersetzung hat zu einem abweichenden Minderheitsvotum der Richterin Osterloh sowie der Richter Broß und Gerhardt zu den Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung geführt. Die Senatsmehrheit führte in dieser Entscheidung aus, dass eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung dann in Betracht komme, „wenn die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist.“ 639

Diese Variante des Rechtsfolgenarguments enthält sich – das macht das Minderheitsvotum deutlich – absichtlich der Anforderung, dass Verfassungsnormen oder -prinzipien die Normerhaltung gebieten müssen. Damit weicht es von der herkömmlichen Formulierung des Rechtsfolgenarguments ab.640 Die Formulie-

638 Besonders deutlich wird dies bspw. in BVerfGE 126, 400 (432), wo eine Gefährdung der geordneten Haushalts- und Finanzplanung wegen der geringen Zahl der tatsächlich betroffenen Fälle verneint wurde. Deshalb blieb es dort bei den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung. 639 BVerfGE 109, 190 (235 f.). 640 Eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung kommt danach „dann in Betracht, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen unabdingbar ist, eine verfassungswidrige Vorschrift für eine Übergangszeit fortbestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige [. . .]. Neben den Grundrechten [. . .] wird vor allem das Rechtsstaatsprinzip in der Ausprägung des Prinzips der Rechtssicherheit [. . .] als ein Rechtsgut anerkannt, zu dessen Schutz die befristete Weitergeltung einer nicht verfassungskonformen Regelung gerechtfertigt und geboten sein kann“, BVerfGE 119, 331 (382 f.); ähnlich BVerfGE 109, 190 (235 f.); 92, 53 (73). Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass nur Verfassungsnormen und -prinzipien eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung rechtfertigen können.

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rung der Erforderlichkeit zum Schutz „überragender Güter des Gemeinwohls“ ist Stein des Anstoßes für die genannten drei Mitglieder des Senats. Diese haben gegen eine solche Maßstabsbildung grundlegende rechtsstaatliche Bedenken angemeldet und deswegen im konkreten Fall eine Nichtigerklärung gefordert:641 Die von der Mehrheitsmeinung in Anspruch genommenen Bezugsfälle aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien nicht in der Lage, diesen Maßstab zu tragen.642 Vielmehr leiten die drei Richter unter Berufung auf ebenjene, von der Senatsmehrheit angeführten Entscheidungen das Rechtsfolgenargument her: Stehe eine Norm mit dem Grundgesetz nicht in Einklang, so sei sie grundsätzlich für nichtig zu erklären. Die mit einer Weitergeltungsanordnung verbundene Unvereinbarerklärung setze voraus, dass es aus verfassungsrechtlichen Gründen unabdingbar sei, eine verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand bestehe, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt sei, als der bisherige.643 Eine Weitergeltungsanordnung komme demnach „nur dann in Betracht, wenn sie [. . .] aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist.“ 644 Die Senatsminderheit lehnte die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ab, weil verfassungsrechtliche Gründe für die Weitergeltung ihrer Ansicht nach nicht ersichtlich waren.645 Bemerkenswert ist, dass eben dieser Zweite Senat in einer späteren Entscheidung gefordert hat, dass die Weitergeltungsanordnung „aus verfassungsrechtlichen Gründen unabdingbar“ sein muss – also die Auffassung des Minderheitsvotums aus dem 109. Band aufgriff.646 Andererseits traf eben jener Senat später Entscheidungen, die „verfassungsrechtliche Gründe“ gerade nicht forderten.647 Auch der Erste Senat hat in einer späteren Entscheidung ausgeführt, dass die Weitergeltungsanordnung „aus verfassungsrechtlichen Gründen notwendig“ sein muss.648 Die Fragestellung darf deshalb innerhalb des Gerichts wie innerhalb des Zweiten Senats als nicht entschieden gewertet werden.

641 BVerfGE 109, 190 (244). Neben den im Folgenden besprochenen Bedenken gegen den Maßstab hat sich die Senatsminderheit dagegen ausgesprochen, dass ein kompetenzwidrig erlassenes Gesetz – um ein solches ging es – überhaupt tauglicher Gegenstand einer Weitergeltungsanordnung sein kann, vgl. BVerfGE 109, 190 (245 f.). 642 BVerfGE 109, 190 (246). 643 BVerfGE 109, 190 (246). 644 BVerfGE 109, 190 (246 f.) unter Verweis auf BVerfGE 61, 319 (356); 92, 53 (73). 645 BVerfGE 109, 190 (247). 646 BVerfGE 119, 331 (382 f.). 647 BVerfGE 128, 326 (404 f.). 648 BVerfGE 111, 191 (224).

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(2) Literaturmeinungen Die überwiegende Literatur leitet die Weitergeltungsanordnung aus der Verfassung her und verlangt, dass Verfassungsgüter die Weitergeltung der Norm fordern: Teile der Literatur sehen dabei die Grundlage der Weitergeltungsanordnung in einer Annex-649 oder Notkompetenz650 des Bundesverfassungsgerichts. Auch diese Kompetenz soll aber nur dann bestehen, wenn die Weitergeltungsanordnung eine Grundlage in der Verfassung hat: Die Kompetenz bestünde nur, soweit und solange andernfalls Wirkungen einträten, die von der Verfassung verboten seien.651 Diese Meinung läuft auf eine Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter hinaus. Andere Teile der Literatur favorisieren wiederum die Einordnung als nicht normierte Einschränkung der Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung. Sie berufen sich direkt auf die Verfassung, ohne nach einer weiteren Ermächtigungsgrundlage zu fragen. Eine Weitergeltungsanordnung ist danach zulässig, wenn die Verfassung die übergangsweise Weitergeltung der Norm gebietet.652 Da die Verfassung selbst die weitere Anwendung der Norm erforderlich mache, könne die Weitergeltung auch nicht gegen den Vorrang der Verfassung verstoßen.653 Vielmehr ergebe sich die Weitergeltung gerade aus dem Vorrang der Verfassung.654 Auch hier muss eine Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter vorgenommen werden. Dagegen begrüßt eine vereinzelte Literaturmeinung die oben dargestellte Abkehr des Zweiten Senats von der Herleitung der Weitergeltungsanordnung direkt aus der Verfassung unter Berufung auf „überragende Güter des Gemeinwohls“. Das Bestehen auf rechtfertigende Verfassungsgüter führe lediglich zu einer verfassungsrechtlichen Verbrämung von Gemeinwohlbelangen. Zudem lasse sich die Verhinderung der nachteiligen Folgen einer Nichtigerklärung nicht immer als von der Verfassung geboten kennzeichnen.655

649 Roth, AÖR 124 (1999), 470 (491 f.) sieht eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs gegeben, da das BVerfGG die Befugnis enthalte, eine Unvereinbar- oder Nichtigerklärung auszusprechen, nicht aber die Befugnis, eventuell verursachte Folgeprobleme zu lösen. 650 Lerche, FS Gitter, S. 511. Vgl. zu beidem die Ausführungen von Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 35 Rn. 29, allerdings zu eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 178. 651 Lerche, FS Gitter, S. 511, allerdings zu eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts; Roth, AÖR 124 (1999), 470 (496 ff., insbes. 498). 652 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 130 f.; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 178 f.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 172 ff.; vgl. auch Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 118. 653 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 174. 654 Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 131; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 118. 655 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 41.

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(3) Würdigung (a) Zu den dogmatischen Grundlagen Unstrittig ist, dass die Weitergeltungsanordnung das Ergebnis einer Abwägung ist. Umstritten ist nur, welchen Rang das die Normerhaltung fordernde Gut haben muss, das zur Rechtfertigung herangezogen wird: Der Zweite Senat beruft sich mit Zustimmung einer Literaturauffassung auf „überragende Güter des Gemeinwohls“, wobei andere Urteile des Bundesverfassungsgerichts und die überwiegende Literatur fordern, dass Verfassungsnormen oder -prinzipien die Weitergeltung gebieten müssen. Dieser Herleitung der Weitergeltungsanordnung aus der Verfassung selbst ist der Vorzug einzuräumen. Hierbei ist wiederum auf die materiell-rechtliche Dimension dieser Anordnung zu verweisen. Der verfassungsrechtlich fundierte Grundsatz, dass eine verfassungswidrige Norm nichtig sein muss,656 wird bereits durch die reguläre Unvereinbarerklärung657 außer Kraft gesetzt. Die Weitergeltungsanordnung führt darüber hinausgehend dazu, dass auf Grundlage einer durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erkannten Norm tatsächlich weiterhin in die durch die Norm verletzten Grundrechte eingegriffen wird. Die Weitergeltung perpetuiert und verstärkt die Grundrechtsverletzung.658 Erst hier entfaltet sich die volle Problematik der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung: Der Grundrechtsträger erleidet Eingriffe auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidrigen Rechts.659 Diese verfassungsrechtliche Ausnahmesituation kann – wegen des durch die Norm verletzten Grundrechts, des Vorrangs der Verfassung und des Rechtstaatsprinzips660 – nur durch in der Verfassung selbst liegende Gründe gerechtfertigt werden. Auch nur unter dieser Voraussetzung kann das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage des Verfassungsprozessrechts für die Weitergeltungsanordnung hingenommen werden. Andernfalls würde man den Vorrang der Verfassung zu Gunsten eines Vorrangs von Gemeinwohlgütern gegenüber der Verfassung aufgeben. Das Erfordernis von rechtfertigenden Verfassungsgütern stellt – richtig angewendet – keine „verfassungsrechtliche Verbrämung“ von Gemeinwohlbelangen dar, sondern ist Ausfluss der rechtsstaatlich zwingenden Normenhierarchie, an deren Spitze die Verfassung steht und stehen muss.

656

Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). Vgl. zu den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung – Anwendungssperre und Aussetzungspflicht – oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83). 658 Vgl. Maurer, FS Weber, S. 364; Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 132. 659 Vgl. dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 660 Ebenda. 657

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

(b) Zum Fehlen einer gesetzlichen Grundlage Das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage ist hier deswegen hinzunehmen, weil sich das Bundesverfassungsgericht keine Gesetzgebungskompetenz anmaßt. Grundlage der Weitergeltungsanordnung ist eine Unvereinbarerklärung.661 Durch diese wird die verfassungswidrige Norm nicht eliminiert, diese bleibt vielmehr existent.662 Mit der Weitergeltungsanordnung schafft das Bundesverfassungsgericht kein eigenes Recht; es hält vom Gesetzgeber geschaffene Regelungen lediglich anwendbar.663 Geltungsgrund der Norm ist die Entscheidung des Parlamentsgesetzgebers, nicht die des Bundesverfassungsgerichts.664 Damit ist die Problematik – anders als bei modifizierenden Weitergeltungsanordnungen und eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts665 – „nur“ eine grundrechtsdogmatische666, keine kompetenzielle 667. Das Bundesverfassungsgericht macht dem Gesetzgeber hier seine Rolle nicht streitig, sondern erhält dessen – verfassungswidrigen – Willen aufrecht. Deswegen erscheint eine ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass einer Weitergeltungsanordnung hier eher entbehrlich als bei modifizierenden Weitergeltungsanordnungen und eigenen Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts. Eine Weitergeltungsanordnung kann auch aus diesem Blickwinkel zulässig sein, solange die Verfassung selbst die weitere Anwendbarkeit der Norm gebietet; in diesem Fall entfällt auch die grundrechtsdogmatische Problematik. (4) Zwischenergebnis: Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung Voraussetzung der Weitergeltungsanordnung ist somit, dass es aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige.668 Dies ist mit einer Abwägung zu ermitteln. In dieser ist das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut mit dem verletzten Grundrecht abzuwägen.

661

Dazu oben B.III.1.b)bb) (S. 91). Dazu oben B.III.1.b)aa)(1) (S. 83). 663 Vgl. Seer, NJW 1996, 285 (287). 664 Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 175. 665 Vgl. zu dieser Problematik die weiterführenden Hinweise in Fn. 442 (S. 98). 666 Diese besteht darin, dass auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidrigen Rechts in Grundrechte eingegriffen wird, dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 667 Kritisch zum Aspekt der Gewaltenteilung die Richter des Minderheitsvotums in BVerfGE 109, 190 (245). 668 BVerfGE 61, 319 (356); 92, 53 (73); 111, 191 (224); 119, 331 (382 f.); vgl. auch das Minderheitsvotum in BVerfGE 109, 190 (236). 662

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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Dabei gilt: Generell erfordert die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung – dies hat Blüggel zutreffend erarbeitet669 – einen höheren Begründungsaufwand als die Unvereinbarerklärung mit ihren regulären Rechtsfolgen.670 Dies wird durch die Betrachtung der verfassungsrechtlichen Situation unterstrichen: Erst die Weitergeltungsanordnung führt dazu, dass tatsächlich weiterhin auf Grund der erkanntermaßen verfassungswidrigen Norm in das Grundrecht eingegriffen wird. Das verletzt das betroffene Grundrecht ebenso schwer, wie das Rechtsstaatsprinzip in Mitleidenschaft gezogen wird.671 Diesen verfassungsrechtlich kritischen Folgen müssen entsprechend strenge Voraussetzungen vorgeschaltet werden. Dieser Zusammenhang kommt darin zum Ausdruck, dass die Weitergeltungsanordnung aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten sein muss.672 Für die Abwägung ergibt dies, dass das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut das durch die verfassungswidrige Norm verletzte erheblich überwiegen muss. Über die Frage hinaus, ob eine Weitergeltungsanordnung überhaupt gerechtfertigt werden kann, muss in dieser Abwägung auch die zeitliche Dauer ergründet werden. Denn die Weitergeltungsanordnung ist zwangsläufig temporärer Natur; der Eingriff durch verfassungswidrige Gesetze kann – wiederum wegen des betroffenen Grundrechts und des Rechtsstaatsprinzips – nur übergangsweise legitimiert werden. Die Übergangsfrist darf nur so lange dauern, wie das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut erheblich überwiegt. Dabei muss dieses rechtfertigende Verfassungsgut umso gewichtiger sein, je länger die Übergangsfrist dauern soll. 5. Folgen des Fristablaufs ohne Tätigwerden des Gesetzgebers Bislang wurden die Rechtsfolgen, die dogmatischen Grundlagen und die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung und der Weitergeltungsanordnung erarbeitet. Es bleiben die Konsequenzen der Untätigkeit des Gesetzgebers zu erörtern, wenn dieser seiner Verpflichtung zur Neuregelung innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht in der Weitergeltungsanordnung gesetzten Frist nicht nachkommt.673

669

Dazu oben B.III.4.a)bb)(2)(b) (S. 115). Bei einer regulären Unvereinbarerklärung reicht ein einfaches Überwiegen des die Normerhaltung fordernden Verfassungsguts aus, vgl. oben B.III.4.a)bb)(4) (S. 127). 671 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 672 So formulieren zutreffend die Richter des Minderheitsvotums in BVerfGE 109, 190 (246 f.); vgl. ebenfalls BVerfGE 61, 319 (356); 92, 53 (73); 111, 191 (224); 119, 331 (382 f.); a. A. BVerfGE 109, 190 (235 f.). 673 Teilweise schreibt das Bundesverfassungsgericht auch explizit eigene Regelungen für den Fall des Fristablaufs vor, vgl.: BVerfGE 99, 216 (219); 106, 166 (167); 107, 395 (418); dazu Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 52. 670

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Als Prämisse für die Folgen des Fristablaufs ist zu beachten: Das Gesetz darf nicht weiterhin angewendet werden, soll der erneute Verfassungsverstoß des Gesetzgebers – hier gegen Art. 20 Abs. 3 GG – nicht sanktionslos bleiben und seine Untätigkeit trotz Aufforderung durch das Bundesverfassungsgericht nicht honoriert werden.674 Zudem ist die zeitliche Dauer der Weitergeltungsanordnung in der vorzunehmenden Abwägung mit Bedacht gewählt worden: Die Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter hat ergeben, dass das die Normerhaltung und -anwendung fordernde Verfassungsgut für die angegebene Dauer – und nur für diesen Zeitraum – überwiegt. Das Gesetz muss mit Fristablauf unanwendbar werden. Das gebietet auch die verfassungsrechtliche Dimension der Weitergeltungsanordnung, die einen erheblichen Eingriff in das betroffene Grundrecht und das Rechtsstaatsprinzip darstellt;675 diese Verfassungsgüter gebieten, dass die Anwendung verfassungswidrigen Rechts zeitlich begrenzt bleibt. a) Nichtigkeitslösung Denkbar erscheint zunächst, dass der Fristablauf die Nichtigkeit der Norm zur Folge hat. Die Gerichte könnten auf Basis dieser Nichtigkeit entscheiden und somit den Rechtsschutz der Betroffenen sicherstellen. Diese Nichtigkeit lässt sich in zweierlei Weise konstruieren: aa) Erneute Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts In der Literatur wurde vorgeschlagen, dass das Bundesverfassungsgericht nach Fristablauf von Amts wegen erneut mit dem Streitgegenstand befasst und entweder die Frist verlängert oder nunmehr eine Nichtigerklärung vornimmt.676 Andere Stimmen wiederum verlangen, dass das Bundesverfassungsgericht – zumindest in Extremfällen – nochmals entscheidet, um eine eigene Übergangsregelung zu treffen.677 Als Rechtsgrundlage wird dabei § 35 BVerfGG genannt.678 674 A.A. der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, der anlässlich der zweiten Erbschaftsteuerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 117, 1) von der weiteren Anwendbarkeit nach Fristablauf ausging, Süddeutsche Zeitung vom 16.10. 2008, S. 6; dazu Moench/Albrecht, Erbschaftsteuerrecht, Rn. 17 Fn. 23 m.w. N. Ebenfalls a. A. auf Grundlage der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes Hein, Unvereinbarerklärung, S. 179, dazu bereits oben B.III.4.a)bb)(3)(a)(ee) (S. 120). Vgl. ebenfalls Mayer, DStR 1997, 1152 (1153), der die Fortgeltung über den Fristablauf hinaus unter gewissen Umständen zulassen möchte. Darstellend zu der Möglichkeit des folgenlosen Fristablaufs und diese Ansicht ablehnend Feick/Henn, DStR 2008, 1905 (1906, 1909). 675 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 676 Maunz, BayVBl. 1980, 513 (518); vgl. ebenfalls Feick/Henn, DStR 2008, 1905 (1909). 677 Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 163 f.; vgl. auch Kleuker, Gesetzgebungsaufträge, S. 104 zur regulären Unvereinbarerklärung.

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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bb) Nichtigkeitsautomatismus Ebenfalls denkbar ist ein vollständiger Automatismus: Das Gesetz wird mit Fristablauf nichtig, ohne dass es dazu einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedarf.679 Das lässt sich auch vor dem Hintergrund des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts vertreten: Art. 100 Abs. 1 GG besagt, dass nur das Bundesverfassungsgericht ein Parlamentsgesetz für verfassungswidrig befinden und verwerfen darf. Mit der Unvereinbarerklärung hat es das Gesetz bereits für verfassungswidrig erklärt. Es hat – für die angegebene Frist – lediglich andere Rechtsfolgen als die Nichtigkeit festgestellt. Mit Fristablauf laufen diese Rechtsfolgen jedoch aus und die normale Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit – die Nichtigkeit des Gesetzes – tritt ein. b) Mögliche Lösung: Rückfall auf die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung Denkbar ist auch ein Rückfall auf die regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung, Anwendungssperre und Aussetzungspflicht. Wegen der bis zum Zeitpunkt des Fristablaufs geltenden Weitergeltungsanordnung würden diese Rechtsfolgen ex nunc mit Fristablauf eintreten. c) Lösung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht geht zwar von der Unanwendbarkeit des Gesetzes nach Fristablauf aus.680 Das entspricht noch einem teilweisen Rückfall auf die regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung. Das Gesetz wird mit Fristablauf ex nunc unwirksam.681 Eine Aussetzung der Gerichtsverfahren – wie von den regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung vorgesehen – sei jedoch mit der Rechtsschutzgarantie (Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 19 Abs. 4 GG)682 678 Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 163; hiergegen überzeugend Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 136, 185 ff.; Hein, Unvereinbarerklärung, S. 178. 679 Vgl. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 52, 71. Dieser entnimmt den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, in denen es ausführt, das verfassungswidrige Gesetz dürfe nach Fristablauf nicht mehr angewendet werden (vgl. Fn. 680), dass das Gesetz mit Fristablauf nichtig wird; ebenso Bornheim, Stbg 1999, 310 (312). 680 BVerfGE 61, 319 (357); 92, 53 (74); 100, 195 (208); 102, 127 (146). 681 Das ist freilich anders als bei der regulären Unvereinbarerklärung, dazu oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83). Dieser Unterschied liegt an der Weitergeltungsanordnung, die durch den Fristablauf nicht aufgehoben wird. 682 Bei bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten leitet das Bundesverfassungsgericht das Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG ab. Effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt garantiert dagegen Art. 19 Abs. 4 GG, dazu Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 110 Fn. 580 m. N.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

nicht zu vereinbaren. Deswegen müssten die Gerichte, wollten sie nicht selbst verfassungswidrig handeln, die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten fortführen und verfassungskonform, d.h. insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, entscheiden.683 Den Gerichten fällt es nach dieser Konzeption zu, eine der Verfassung entsprechende Rechtslage ohne die verfassungswidrige gesetzliche Regelung herbeizuführen. Dabei können sie – sollte eine Regelung erforderlich sein – die unanwendbare durch eine eigene, verfassungskonforme Regelung ersetzen. Diese Lösung wird in der Literatur einerseits kritisiert, andererseits wird gleichzeitig anerkannt, dass sie eine taugliche Lösung des Problems ist.684 d) Stellungnahme Zwischen der Auffassung des Nichtigkeitsautomatismus und der des Bundesverfassungsgerichts herrscht in Bezug auf das Rechtsschicksal der Norm inhaltlich absolute Übereinstimmung: Beide gehen von der Unwirksamkeit der Norm mit Fristablauf – also ex nunc – aus. Ob man diesen Rechtszustand nach Fristablauf als Unanwendbarkeit – wie das Bundesverfassungsgericht – oder Nichtigkeit bezeichnet, ist ein Streit um Worte. Da nach traditionellem dogmatischen Verständnis der Terminus Nichtigkeit die Unwirksamkeit ex tunc und ipso iure bedeutet,685 ist die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts die präzisiere. Zudem greift die Idee des Nichtigkeitsautomatismus gedanklich zu kurz: Wenn die Nichtigkeit des Gesetzes ohne Weiteres eine verfassungsrechtlich vertretbare Lösung herbeiführen könnte, wäre es bereits gar nicht zur Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung gekommen: Diese darf nur ausgesprochen werden, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige.686 Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung wird gerade in solchen Fällen ausgesprochen, in denen das Grundgesetz einen Mindestbestand an gesetzlichen Normen fordert, in denen verfassungsrechtlich garantierte Rechtsgüter zu ihrer Wirksamkeit über683 BVerfGE 82, 126 (155); 98, 17 (46) allerdings jeweils zu einer regulären Unvereinbarerklärung; zu Weitergeltungsanordnungen: BVerfGE 97, 228 (270); 98, 169 (171); ebenso vorher bereits Sachs, NVwZ 1982, 657 (659 f.). 684 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 426 sprechen von einer „dogmatisch nicht nachvollziehbaren Praxis“, erkennen aber an, dass das Instrument der Unvereinbarerklärung mit dieser Lösung wirksam abgerundet sei. Ebenso kritisch, aber in Anerkennung der Ausweglosigkeit der Situation Blasberg, Ersatzgesetzgeber, S. 135 f. 685 Dazu oben B.II.2.b)aa) (S. 36). 686 Vgl. zu den Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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haupt einer gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen, bloße Normvernichtung somit nicht weiterhilft.687 Der verfassungswidrige Zustand kann deswegen auch nach Fristablauf gegebenenfalls nur durch eine neue Regelung – welche die alte, verfassungswidrige ersetzt – vermieden werden. Es bedarf also einer Instanz, die in solchen Fällen eine Regelung trifft. Diesen gedanklichen Schritt geht die Lösung des Nichtigkeitsautomatismus nicht mehr. Sie ist abzulehnen. Gegen die vorgeschlagene Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht mit einer Fristverlängerung oder einer Nichtigerklärung spricht – bezüglich der Nichtigerklärung – zunächst das gleiche Argument: Die Nichtigkeit bringt eventuell keine verfassungsrechtlich vertretbare Lösung. Eine weitere Verlängerung der Frist ist wegen der grundrechtsdogmatischen Relevanz der Weitergeltungsanordnung688 nicht zulässig. Auch diese Lösung ist abzulehnen. Die Entscheidung beschränkt sich somit auf drei Ansätze: Den Rückfall auf die regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung, die erneute Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht mit eigener Übergangsregelung und die Lösung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Gerichte eigene, verfassungskonforme Regelungen zu treffen haben. Alle Lösungen können dem verfassungsrechtlichen Bedürfnis nach einer verfassungsgemäßen Regelung abhelfen: Beim Rückfall auf Anwendungssperre und Aussetzungspflicht trifft der Gesetzgeber eine Neuregelung. Nach den beiden anderen Auffassungen treffen die Gerichte bzw. das Bundesverfassungsgericht selbst eine solche Regelung. Zwar widerspricht das dem Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), da die Judikative Aufgaben der Legislative übernimmt. Das ist hier jedoch deswegen hinnehmbar, weil der Gesetzgeber ohnehin auf Kosten der betroffenen Grundrechtsträger geschont wurde und zudem ausreichend Zeit hatte, selbst eine Lösung herbeizuführen. Das durch das unvereinbare Gesetz verletzte Grundrecht, das Rechtsstaatsprinzip689 und der grundgesetzlich gewährleistete wirksame Rechtsschutz verlangen nach Fristablauf nach einer Lösung. Sollte zu dieser Lösung eine Regelung erforderlich sein, ist sie notfalls ohne den nicht weiter schutzwürdigen Gesetzgeber zu finden. Zwar haben eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bzw. eine Neuregelung durch den Gesetzgeber gegenüber der Einzelfalllösung durch die Gerichte den Vorteil, dass sie die Rechtseinheitlichkeit wahren. Auch im Falle der Regelung durch die Gerichte droht jedoch keine unvertretbare Rechtszersplitterung. Das Bundesverfassungsgericht äußert sich in der Entscheidung ja zu den Gründen der Verfassungswidrigkeit und macht insoweit mehr oder minder detaillierte inhaltliche Vorgaben für die Regelung durch die Gerichte. 687 688 689

Vgl. Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 63 ff. Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Letztlich gibt die grundrechtsdogmatische Relevanz der Unvereinbarerklärung den Ausschlag: Die Verfassung verlangt grundsätzlich, dass verfassungswidrige Gesetze ex tunc eliminiert werden (hier sog. Nichtigkeitsgrundsatz).690 Davon wird durch die reguläre Unvereinbarerklärung und in besonders eklatanter Weise durch die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung abgewichen. Dieser im Hinblick auf das verletzte Grundrecht und das Rechtsstaatsprinzip bedenkliche Ausnahmezustand kann nur für eine gewisse Zeit hingenommen werden, binnen derer der Gesetzgeber Abhilfe zu schaffen hat. Tut er dies nicht, so ist die Lösung vorzugswürdig, die dem betroffenen Grundrechtsträger – auf dessen Kosten andere Verfassungsgüter geschützt wurden – unmittelbar hilft und dem verletzten Grundrecht ohne weitere Verzögerungen Geltung verschafft. Das leistet allein die Lösung des Bundesverfassungsgerichts. Nach dem Ansatz der erneuten Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht bliebe diese abzuwarten; weitere Verzögerungen bis zu den unmittelbar abhelfenden Gerichtsentscheidungen sind unumgänglich. Ähnliches gilt für den Rückfall auf Anwendungssperre und Aussetzungspflicht: Hier bliebe eine Neuregelung durch den Gesetzgeber abzuwarten. Der verfassungsrechtliche Spielraum für die Verzögerung des Grundrechtsschutzes aber ist mit Fristablauf absolut ausgereizt. Zudem schützt die Lösung des Bundesverfassungsgerichts das Gericht gleichsam vor sich selbst: Im Falle der Erforderlichkeit einer erneuten Entscheidung wäre es denselben Zwängen ausgesetzt, die es schon einmal zur Wahl der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung genötigt haben. Es besteht die Gefahr, dass das Gericht diesen Zwängen erneut erliegt und die nun verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbare Lage – etwa durch eine Fristverlängerung – weiter perpetuiert. Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts beinhaltet einen Unwirksamkeitsautomatismus, der dem Gesetzgeber deutlich macht, dass das verfassungswidrige Gesetz tatsächlich mit Fristablauf nicht mehr angewendet werden wird. Sie löst damit einen erheblichen Handlungsdruck aus, innerhalb der Frist tätig zu werden. Der Lösung kommt somit eine präventive Wirkung zu. Nach dem Ansatz einer erneuten Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht dürfte der Gesetzgeber dagegen darauf hoffen, das Bundesverfassungsgericht werde die Norm wegen der praktischen Zwänge schon nicht verwerfen. Die Rückfalllösung nimmt der Frist sogar jegliche Verbindlichkeit, da der Gesetzgeber fast risikolos gegen seine Neuregelungsverpflichtung verstoßen könnte. Er kann nämlich nach Fristablauf weiterhin eine Neuregelung nach seinem Belieben treffen, die wegen der Aussetzungspflicht auch für alle Verfahren ab Fristende gelten würde. Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts löst das hier bestehende Spannungsverhältnis am überzeugendsten und verdient den Vorzug. 690

Ebenda.

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

143

e) Zwischenergebnis: Rechtsfolgen des Fristablaufs Mit Fristablauf wird das Gesetz somit unanwendbar, d.h. ex nunc unwirksam. Sollte von der Verfassung die Existenz einer Regelung gefordert werden, so haben die Gerichte eine solche verfassungskonform, d.h. insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, zu treffen. 6. Exkurs: Verfassungswidrigkeit des weitergeltenden Gesetzes? Letztlich stellt sich noch die Frage, ob angesichts der soeben erarbeiteten dogmatischen Grundlagen bei einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung bezüglich der betreffenden Norm tatsächlich von einer verfassungswidrigen Regelung auszugehen ist. a) Fragestellung Die Untersuchung der dogmatischen Grundlagen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung hat ergeben, dass diese aus der Verfassung abgeleitet werden muss: Sie setzt ein Gut von Verfassungsrang voraus, das die weitere Anwendbarkeit der Regelung erforderlich macht.691 Die gesamte noch zu erörternde strafrechtliche Problematik basiert darauf, dass die Strafbarkeit auf Grund verfassungswidrigen Rechts Bedenken aufwirft. Mit der Feststellung, dass die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung von der Verfassung geboten sein muss, scheint die strafrechtliche Problemstellung abhanden zu kommen. Es drängt sich nämlich ein Gedanke auf: Wie kann eine Regelung, deren Anwendbarkeit von der Verfassung gefordert wird, gegen die Verfassung verstoßen?692 Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass die Norm bis zum Ablauf der Frist verfassungsgemäß ist, da ja Unvereinbarerklärung und Weitergeltungsanordnung von der Verfassung geboten sind. Diesen Zusammenhang hat bereits Kelsen erkannt: „Die Aussage, dass ein gültiges Gesetz „verfassungswidrig“ sei, ist eine contradictio in adjecto; denn ein Gesetz kann gültig nur auf Grund der Verfassung sein.“ 693

Noch deutlicher und auf die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung bezogen formuliert Stern: „Die Weitergeltung einer Norm trotz Annahme eines Verfassungsverstoßes lässt sich nicht durch bestimmte Tenorierungsformen erreichen. Der Sache nach ist dem BVerfG allerdings für bestimmte Konstellationen zuzustimmen, wenn nämlich die

691 692 693

Dazu oben B.III.4.b)bb) (S. 129), insbes. B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). Vgl. zu dieser Fragestellung Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1266, 1268). Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 275.

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

Fortgeltung der geprüften Norm von der Verfassung gefordert wird: In solchen Fällen muss allerdings schon die Feststellung der Verfassungswidrigkeit unterbleiben, da die bestehende Regelung nicht verfassungswidrig ist.“ 694

Diese Frage soll hier unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Dabei wird zunächst auf die Konsequenzen einer solchen Sichtweise eingegangen, um sie anschließend einer Würdigung zu unterziehen. b) Konsequenzen des Wegfalls der Verfassungswidrigkeit Bereits auf den ersten Blick fällt auf, dass eine solche Betrachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspricht. Dieser Widerspruch kommt eindeutig dadurch zum Ausdruck, dass das Bundesverfassungsgericht im Tenor die (gegenwärtige) Unvereinbarkeit mit der Verfassung feststellt.695 Diese Tatsache allein hat keinerlei dogmatischen Gehalt. Darüber hinaus würde diese Betrachtung die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung jedoch überflüssig machen. De facto bestünde nämlich kein Unterschied zu einer Appellentscheidung mit Fristsetzung: Diese drückt ja gerade aus, dass ein Gesetz noch verfassungsgemäß ist, mit Ablauf einer bestimmten Frist aber verfassungswidrig und nichtig zu werden droht.696 c) Würdigung Die Darstellung der Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise hat gezeigt, dass für die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung neben der Appellentscheidung kein Raum mehr bliebe, wenn man sie als Ausdruck der Verfassungsmäßigkeit der Norm betrachtete. Man steht also bei genauerem Hinsehen nicht vor der Frage, ob die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung eine verfassungswidrige oder eine verfassungsmäßige Norm zum Gegenstand hat. Die Frage lautet vielmehr, ob es – neben der Appellentscheidung mit Fristsetzung – der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung als eigene Entscheidungsvariante bedarf. Eine eigene Entscheidungsvariante wäre letztere nur, wenn sie eine verfassungswidrige Norm zum Gegenstand hat. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung drückt eine Art verfassungsrichterlichen Notstand aus. Der zur Entscheidung berufene Richter sieht 694 Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 285; ähnlich Dietlein, K&R 2006, 307 (308 f.); Nolte, Hinterziehung, S. 77 f. Zu Noltes Auffassung ferner ausführlich unten C.II.1.c) bb)(1)(b) (S. 235). 695 Dazu oben B.III.1.a) (S. 82). 696 Dazu oben B.II.3. (S. 75).

III. Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung

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sich mit einer Norm konfrontiert, die – bei einer von den tatsächlichen Folgen der Entscheidung isolierten Betrachtung – der Verfassung widerspricht. Andererseits sieht er, dass die tatsächlichen Folgen der sofortigen Normvernichtung noch weniger mit der Verfassung in Einklang stehen als die Rechtslage mit Geltung der Norm. Genau dieser Notstand wird in der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ausgedrückt, deren Verständnis die Verfassungswidrigkeit der Norm einerseits mit der weiteren Anwendbarkeit andererseits verbindet. Deutet man die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung um in den Ausspruch einer (noch) bestehenden Verfassungsmäßigkeit, zwingt man den Verfassungsrichter aus dogmatischen Gründen, in einer solchen Situation eine Appellentscheidung auszusprechen.697 Diese drückt aber die verfassungsrichterliche Notstandssituation nicht mehr aus. Im Tenor käme das vom Richter getroffene Urteil – die gegenwärtige Verfassungswidrigkeit der Norm – nämlich nicht zum Ausdruck. Zwar wäre das Ergebnis vordergründig das Gleiche – die Norm wäre bis zum vom Bundesverfassungsgericht genannten Stichdatum anwendbar. Die höchste Form der verfassungsrichterlichen Missbilligung aber, der Ausspruch der Verfassungswidrigkeit, würde fehlen.698 Der Druck zur Veränderung der Rechtslage sowie zur Vermeidung ähnlicher Fehler in Zukunft – beide Faktoren hängen auch mit der gesellschaftlichen Resonanz der Entscheidung zusammen – wird bei einer Entscheidung, die den verfassungsrichterlichen Stempel „noch verfassungsgemäß“ trägt, niemals so groß sein wie bei der Aussage: „Verfassungswidrig, aber ausnahmsweise weiter anwendbar“. Es spricht also alles dafür, mit der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung eine Entscheidungsvariante vorzuhalten, die es dem Richter ermöglicht, sein Urteil der Verfassungswidrigkeit mit faktischen Zwängen zur Anwendbarkeit in Einklang zu bringen. Es wäre sicherlich dem Schutz des Grundgesetzes nicht zuträglich, ihn unter Verweis auf formaljuristische Argumente dazu zu zwingen, den Stempel der (noch) bestehenden Verfassungsmäßigkeit zu verteilen und damit sein eigentliches Urteil ad absurdum zu führen. Demnach bedarf es der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, die eine verfassungswidrige, aber aus Verfassungsgründen anwendbare Norm zum Gegenstand hat.699 697 Genau dieses Ergebnis vertritt konsequenterweise der eingangs der Fragestellung zitierte Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 285. 698 Seer, NJW 1996, 285 (288) erblickt deshalb in einer Unvereinbarerklärung gegenüber der Appellentscheidung die größere „Entscheidungsehrlichkeit“. 699 Dieses Ergebnis vertritt – neben dem Bundesverfassungsgericht, vgl. insbes. BVerfGE 87, 153 (154 f.), zur insoweit eindeutigen Tenorierung oben B.III.2. (S. 96) – auch die herrschende Meinung in der Literatur, vgl. bspw.: Hartmann, DVBl. 1997, 1264 (1268); Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 35; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 183; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht,

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

IV. Ergebnisse Abschnitt B.: Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung im System der Entscheidungsvarianten des Verfassungsprozessrechts Das verfassungsprozessrechtliche System der Entscheidungsvarianten bildet die Grundlage für die Untersuchung der Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirkungen einer Weitergeltungsanordnung. Dieses Fundament ist wie folgt aufgebaut: • Bei der Verfassungswidrigkeit einer Norm kommen nur eine Nichtigerklärung700 und eine Unvereinbarerklärung701 in Betracht. Alle anderen Entscheidungsvarianten – die Entscheidungsaussprüche bei Unbegründetheit702, die Appellentscheidung703 sowie die verfassungskonforme Auslegung704 – drücken die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm aus. • Nach dem unstrittigen Nichtigkeitsgrundsatz ist eine verfassungswidrige Norm grundsätzlich für nichtig zu erklären.705 In der Kontroverse zwischen Nichtigkeits- und Vernichtbarkeitslehre – die sich letztlich auf die Frage beschränkt, ob die Nichtigerklärung des Bundesverfassungsgerichts deklaratorische oder konstitutive Bedeutung hat706 – ist die „eingeschränkte“ Nichtigkeitslehre vorzugswürdig.707 • Der Nichtigkeitsgrundsatz ist verfassungsrechtlich geboten; das verletzte Grundrecht, der Vorrang der Verfassung und das Rechtsstaatsprinzip gebieten, eine verfassungswidrige Norm grundsätzlich zu eliminieren.708 • Nahezu unstrittig ist aber auch, dass die Nichtigkeitsrechtsfolge nicht ausnahmslos gelten darf.709 Wegen des verfassungsrechtlich gebotenen Nichtigkeitsgrundsatzes sind die Ausnahmen rechtfertigungsbedürftig.710

Rn. 395, 407; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht, S. 42 ff.; Feldmann, Strafbarkeit, S. 209; a. A. Stern, in: BK-GG, Art. 93 Rn. 285; Dietlein, K&R 2006, 307 (308 f.); Nolte, Hinterziehung, S. 77 f. Zu Noltes Auffassung noch ausführlich unten C.II.1.c)bb)(1)(b) (S. 235). 700 Dazu oben B.II.2. (S. 34). 701 Dazu oben B.III. (S. 81). 702 Dazu oben B.II.1. (S. 33). 703 Dazu oben B.II.3. (S. 75). 704 Dazu oben B.II.4. (S. 78). 705 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1) (S. 61). 706 Ebenda. 707 Dazu oben B.II.2.b)ee)(2) (S. 68). 708 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 709 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(a) (S. 61). 710 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(d) (S. 64).

IV. Ergebnisse Abschnitt B.

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• Diese Ausnahmen sind auf verschiedene Eskalationsstufen der Unvereinbarerklärung begrenzt: – Eskalationsstufe 1: Die reguläre Unvereinbarerklärung. Diese hat zur Folge, dass die verfassungswidrige Norm zwar existent bleibt, aber nicht mehr angewendet werden darf (Anwendungssperre) und alle auf ihr beruhenden Verfahren auszusetzen sind (Aussetzungspflicht). Der Gesetzgeber hat eine rückwirkende Neuregelung zu treffen, auf deren Grundlage die Verfahren fortzusetzen sind.711 – Eskalationsstufe 2: Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung. Die verfassungswidrige Norm darf in der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Übergangsfrist weiter angewendet werden.712 Der Gesetzgeber hat eine ab dem Zeitpunkt des Fristablaufs geltende Neuregelung zu treffen.713 • Diesen – verfassungsrechtlich unterschiedlich bedenklichen – Rechtsfolgen entsprechen die unterschiedlich strengen Voraussetzungen der Entscheidungsvarianten. Die Abwägungslehre714 – die allein mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar715 und zudem gegenüber der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes716 dogmatisch vorzugswürdig ist717 – bildet hierfür die Basis: – Danach ist eine reguläre Unvereinbarerklärung – deren Rechtsfolgen für die Betroffenen nicht besonders einschneidend sind718 – bereits dann auszusprechen, wenn das den Normerhalt fordernde Verfassungsgut das die Normvernichtung fordernde Verfassungsgut überwiegt. Bei Gleichheitsverstößen führen der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) sowie Art. 3 Abs. 1 GG selbst innerhalb der Abwägung dazu, dass eine Unvereinbarerklärung grundsätzlich zulässig ist.719 – Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist vor dem Hintergrund der betroffenen Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips besonders bedenklich; den weitreichenden Rechtsfolgen müssen entsprechend strenge Voraussetzungen vorgeschaltet sein.720 Sie ist nur dann gerechtfertigt, wenn

711 712 713 714 715 716 717 718 719 720

Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). Dazu oben B.III.2. (S. 96). Dazu oben B.III.1.b)aa)(3)(b)(bb) (S. 88). Zu dieser Lehre oben B.II.2.b)dd)(3) (S. 57), B.III.4.a)bb)(2) (S. 114). Dazu oben B.III.4.a)bb)(2)(a) (S. 114). Zu dieser Lehre oben B.III.4.a)bb)(1) (S. 107). Dazu oben B.III.4.a)bb)(3) (S. 116). Dazu oben B.III.1.b)aa)(4) (S. 91). Dazu oben B.III.4.a)bb)(4) (S. 127). Dazu oben B.III.4.b)bb)(3) (S. 135).

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B. Die Unvereinbarerklärung im System des Verfassungsprozessrechts

es aus verfassungsrechtlichen Gründen721 zwingend geboten ist, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige. In der auch hier vorzunehmenden Abwägung muss das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut das durch die verfassungswidrige Norm verletzte erheblich überwiegen.722 • Trotz des Umstandes, dass die Verfassung somit die weitere Anwendbarkeit der Norm fordert, bleibt die Norm verfassungswidrig.723 • Läuft im Falle einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung die Frist ab, ohne dass der Gesetzgeber tätig geworden ist, so ist die Norm ab dem Datum des Fristablaufs unanwendbar. Sollte von der Verfassung die Existenz einer Regelung gefordert werden, so haben die Gerichte eine solche verfassungskonform, d.h. insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, zu treffen.724

721 Zu der Frage, ob auch einfache Gemeinwohlinteressen ausreichen, oben B.III.4. b)bb)(1)(c) (S. 132). 722 Dazu oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 723 Dazu soeben B.III.6. (S. 143). 724 Dazu oben B.III.5. (S. 137).

C. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und das Strafrecht – eine Bestandsaufnahme Wurden im vorangehenden Abschnitt dieser Arbeit die dogmatischen Grundlagen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung verfassungsprozessrechtlich aufbereitet, werden nunmehr im Rahmen einer Bestandsaufnahme die hier relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit Strafrechtsbezug vorgestellt und verfassungsprozessrechtlich gewürdigt (I.). Anschließend wird auf den Meinungsstand zur Frage der Strafbarkeit auf der Grundlage verfassungswidrigen Rechts in Rechtsprechung und Literatur eingegangen (II.).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Strafrechtlich relevante Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung hat das Bundesverfassungsgericht bislang vor allem in Urteilen mit steuerrechtlichem Bezug getroffen (1.). Darüber hinaus ist die Weitergeltungsanordnung der Sportwettenentscheidung strafrechtlich von Bedeutung (2.). 1. Steuerrechtliche Entscheidungen a) BVerfGE 84, 239 (Besteuerung von Zinseinkünften) Die erste Entscheidung, die in dem hier relevanten Zusammenhang in der Literatur1 und der Rechtsprechung2 diskutiert wird, ist BVerfGE 84, 239 vom 27. Juni 1991.

1 Vgl. bspw.: Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 51 f.; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1500; ders./Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 ff. = Stbg 1998, 485 ff. Dagegen beziehen sich Gast-de Haan, BB 1991, 2490 sowie Sdrenka, Stb 1991, 452 mit BVerfGE 82, 60; 82, 198 zwar auf noch frühere Entscheidungen. Hierbei handelt es sich jedoch um reguläre Unvereinbarerklärungen. 2 BFHE 193, 63 (68 ff.).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

aa) Die Entscheidung Das Bundesverfassungsgericht setzte sich im Rahmen der Verfassungsbeschwerden eines Ehepaars mit der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von Kapitaleinkünften auseinander. Dabei prüfte es inzident die Verfassungsmäßigkeit von §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 Einkommensteuergesetz (EStG) 1979 und der entsprechenden späteren Regelungen.3 Diese Vorschriften enthielten den Besteuerungstatbestand von Zinseinkünften. Dabei kam es zu dem Ergebnis, dass die materielle Besteuerungsgrundlage für sich betrachtet den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG entsprach.4 Allerdings entwickelt das Bundesverfassungsgericht hier seine Rechtsprechung zum sog. Vollzugsdefizit5. Auch ein gegen die Besteuerungsgleichheit verstoßender Vollzug an sich verfassungsgemäßer Steuergesetze kann danach unter bestimmten Voraussetzungen die Verfassungswidrigkeit der Normen selbst zur Folge haben: Die Besteuerungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) erfordere nämlich nicht nur die Gleichheit der normativen Steuerpflicht, sondern auch die Gleichheit bei deren Durchsetzung in der Steuererhebung. Das materielle Steuergesetz müsse in ein normatives Umfeld eingebettet sein, das die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges gewährleiste.6 Seien die Erhebungsregelungen so ausgestaltet, dass der Besteuerungstatbestand weitestgehend nicht durchgesetzt werden könne, und sei dies dem Gesetzgeber zuzurechnen, so führe die dadurch bewirkte Gleichheitswidrigkeit zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Norm.7 In Bezug auf die geprüften Vorschriften meldet das Bundesverfassungsgericht erhebliche Bedenken an: Die Durchsetzung des sich aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 ergebenden Steueranspruchs weise erhebliche Mängel auf. Dies ergebe sich daraus, dass der Gesetzgeber die Steuerbelastung der Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht durch einen Quellenabzug vornehme; nach der Veranlagungswirklichkeit hänge die tatsächliche Steuerbelastung vielmehr im Regelfall davon ab, ob der Steuerpflichtige seine Einkünfte aus privaten Zinserträgen erkläre oder verschweige.8 Das Bundesverfassungsgericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der erzielten Kapitalerträge nicht der Einkommensbesteuerung unterworfen wurde;9 es geht somit von einem tatsächlichen Erhebungsmangel aus.10 3

BVerfGE 84, 239 (275). BVerfGE 84, 239 (284). 5 Vgl. zu diesem Begriff bspw. BVerfG DStRE 2008, 1320 (1321 f.); DStRE 2008, 1067 (1069 f.); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1500; Joecks, wistra 2006, 401 (402). 6 BVerfGE 84, 239 (271). 7 BVerfGE 84, 239 (272). 8 BVerfGE 84, 239 (275). 4

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

151

Auch die Zurechenbarkeit11 in Bezug auf den Gesetzgeber bejaht das Gericht: Der Erhebungsmangel habe seine wesentliche Ursache in dem Bankenerlass 1979 – eine die Ermittlung bei Kreditinstituten regelnde Verwaltungsvorschrift – welcher eine wirksame Ermittlung und Kontrolle der Einkünfte aus Kapitalvermögen verhindere.12 Diesen Erlass habe der Gesetzgeber bewusst und gewollt bei Erlass der Abgabenordnung 1977 und des Einkommensteuergesetzes hingenommen.13 Interessant sind die Ausführungen des Gerichts zu den Rechtsfolgen: Unter den in der Entscheidung erstmals ausgeführten Voraussetzungen wirke der Verstoß gegen die Belastungsgleichheit (in der Steuererhebung) auf die materiellrechtliche Grundlage der Steuererhebung zurück. Nur deshalb könne sie unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG abgewehrt werden. „Diese Rechtslage ist bisher nicht erkannt worden. Es besteht deshalb Anlass, das bisherige Recht noch für eine Übergangszeit hinzunehmen und dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben sich binnen einer angemessenen Frist auf die nunmehr geklärte verfassungsrechtliche Lage einzustellen.“ 14

Die Übergangsfrist rechtfertige sich im vorliegenden Fall insbesondere im Blick auf das rechtsstaatliche Kontinuitätsgebot, das für die an sich (d.h. ohne die Vollzugsmängel) verfassungsrechtlich unbedenklichen Vorschriften der §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 gelte.15 Das Gericht räumt dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 1. Januar 1993 ein. „Sollte der Gesetzgeber diesen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Nachbesserung nicht erfüllen, wird die materielle Steuernorm selbst verfassungswidrig.“ 16

Die Finanzgerichte seien ab diesem Zeitpunkt bei unterbliebener Nachbesserung gehalten, die Steuernormen gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen.17 bb) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung Literatur wie Rechtsprechung nahmen – wie bereits erwähnt – die Entscheidung zum Anlass, zu diskutieren, ob der Verstoß gegen eine mit einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung versehene bzw. verfassungswidrige steuerrechtliche Regelung wegen Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO strafbar ist. Diese Frage stellt sich jedoch anlässlich dieser Entscheidung gar nicht erst. 9

BVerfGE 84, 239 (275 f.). Im Einzelnen BVerfGE 84, 239 (276 ff.). 11 Zu deren Voraussetzungen BVerfGE 84, 239 (272). 12 BVerfGE 84, 239 (278). 13 BVerfGE 84, 239 (281). 14 BVerfGE 84, 239 (284). 15 BVerfGE 84, 239 (285). 16 Ebenda. 17 Ebenda. 10

152

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält nämlich gar keine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, sondern vielmehr eine Appellentscheidung. Die betreffenden Normen waren somit bis zum Zeitpunkt des Fristablaufs verfassungsgemäß:18 Die Appellentscheidung drückt aus, dass ein Gesetz noch verfassungsgemäß ist, allerdings verfassungswidrig zu werden droht. Sie ist ein Unterfall der Vereinbarerklärung. Diese Entscheidungsvariante kann mit einer Frist verbunden werden, die der Gesetzgeber einzuhalten hat, um den Eintritt der Verfassungswidrigkeit zu verhindern. Da natürlich auch ein – zu einem gewissen Ausmaß – verfassungsimperfekter Zustand ausgedrückt wird, besteht eine Ähnlichkeit zur Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung.19 Die beiden Entscheidungsvarianten sind nicht ganz einfach von einander abzugrenzen – insbesondere dann nicht, wenn die Appellentscheidung mit einer Frist verbunden wird. Der maßgebliche Unterschied ist: Bei der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist die Norm bereits zum Entscheidungszeitpunkt verfassungswidrig, aber bis zum vom Bundesverfassungsgericht genannten Zeitpunkt auf Grund der Weitergeltungsanordnung anwendbar.20 Bei der Appellentscheidung unter Angabe einer Frist ist die Norm bis zum vom Bundesverfassungsgericht genannten Zeitpunkt verfassungsgemäß und bereits deshalb anwendbar. Daraus ergibt sich, dass bei einer Appellentscheidung das hier untersuchte strafrechtliche Problem überhaupt nicht relevant wird: Die mit einer Appellentscheidung versehene, durch einen strafrechtlichen Tatbestand in Bezug genommene Norm ist verfassungsgemäß. Sie ist daher auch geeignet, den strafrechtlichen Tatbestand auszufüllen.21 Gegen die Einordnung als Appellentscheidung und für eine bereits zum Zeitpunkt des Urteils bestehende Verfassungswidrigkeit könnte zwar sprechen, dass das Gericht konstatiert, dass „jedenfalls gegenwärtig“ (also zum Zeitpunkt des Urteils) die Voraussetzungen vorlägen, „unter denen ein Erhebungsmangel zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm führt.“ 22 Für die Einordnung 18 Diese Problematik haben die genannten Stimmen in Rechtsprechung und Literatur durchaus gesehen, sie aber nicht konsequent gelöst. BFHE 193, 63 (72 f.) lässt die Frage der Verfassungsmäßigkeit zu Unrecht offen. Widersprüchlich sind die Ausführungen des FG Hamburg (Vorinstanz), Beschluss v. 20.06.2000, V 71/00, Rn. 18 f., zitiert nach juris, das aber wohl letztlich ebenfalls davon ausgeht, in BVerfGE 84, 239 seien die Gesetze für verfassungswidrig befunden worden. Ebenso widersprüchlich („Unvereinbarkeitserklärung“ einerseits, „Appellentscheidung“ andererseits) Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (164). 19 Vgl. im Einzelnen oben B.II.3. (S. 75). 20 Dazu oben B.III.4.b) (S. 128) und B.III.6. (S. 143). 21 Vgl. auch Nolte, Hinterziehung, S. 20 f. 22 BVerfGE 84, 239 (275). So argumentiert – auch wenn er das Ergebnis letztlich offen lässt – der Bundesfinanzhof, vgl. BFHE 193, 63 (73).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

153

als Appellentscheidung spricht jedoch bereits, dass an gleicher Stelle betont wird, dass die Beschwerdeführer „gegenwärtig noch nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt“ sind.23 Gegen Ende der Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht zudem aus, dass die Normen nicht gegenwärtig verfassungswidrig waren, sondern erst zum 1. Januar 1993 – und somit zukünftig – verfassungswidrig werden würden, was wiederum in Zukunft zu einer Vorlagepflicht der Finanzgerichte gemäß Art. 100 Abs. 1 GG führen würde.24 Diese – widersprüchliche – Terminologie liegt darin begründet, dass die Verbindung der Beschreibung eines verfassungsimperfekten Zustands einerseits mit dem Urteil „noch verfassungsgemäß“ andererseits eine begriffliche Gratwanderung erfordert. Diese gelingt hier nicht. Ausschlaggebend sollten die Ausführungen am Ende der Entscheidung sein, in der das Gericht seine Auffassung zu den Rechtsfolgen auf den Punkt bringt – diese gehen eindeutig davon aus, dass die Verfassungswidrigkeit erst in Zukunft eintreten wird. Auch die Begründung des Gerichts für die Frist unterstreicht, dass es sich um eine Appellentscheidung handelt: Es verweist darauf, dass die Verfassungsrechtslage vor der Entscheidung nicht erkannt worden ist. Zu diesem Zeitpunkt war es nicht ersichtlich, dass ein Vollzugsdefizit an sich verfassungskonformer Steuergesetze die Verfassungswidrigkeit der Normen selbst zur Folge haben kann – dies wurde in der Entscheidung erst entwickelt. Der Gesetzgeber konnte die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vor der Entscheidung nicht erkennen. Das Gericht kam deswegen – im Sinne der Terminologie Pestalozzas25 – zu dem Ergebnis, ein „tolerantes noch-verfassungsgemäß“ aussprechen zu können. BVerfGE 84, 239 enthält somit eine Appellentscheidung.26 Das wird verkannt, wenn auf das Problem der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts überhaupt eingegangen wird. b) BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge) In seiner Entscheidung vom 25. September 1992 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der bei der Einkommensteuer geltenden Grundfreibeträge.

23

BVerfGE 84, 239 (274 f., ebenso 268). BVerfGE 84, 239 (285), zitiert oben auf S. 151. 25 Vgl. zu der Kategorisierung Pestalozzas oben B.II.3.b) (S. 76). 26 Vgl. die Auflistung der Unvereinbarerklärungen von Blüggel, Unvereinbarerklärung, S. 199 (in der die Entscheidung nicht enthalten ist); Hömig, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 95 Rn. 72 Fn. 652; FG Bremen, EFG 1999, 417 (418); Röckl, Steuerstrafrecht, S. 188; a. A. wohl Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 421. 24

154

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

aa) Die Entscheidung Das Bundesverfassungsgericht hat im Verfahren der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) § 32a Abs. 1 S. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) in den für die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1984, 1986, 1988 und 1991 geltenden Fassungen – für die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1980 im Zusammenhang mit § 32 Abs. 8 EStG – für mit der grundrechtlichen Garantie des einkommensteuerlichen Existenzminimums unvereinbar erklärt.27 Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 1. Januar 1996 eine Neuregelung zu treffen. Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung wurde die weitere Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Normen angeordnet.28 § 32a Abs. 1 S. 2 EStG der genannten Fassungen enthielt den progressiven Tarif der Einkommensteuer in Abhängigkeit zum zu versteuernden Einkommen. In der jeweiligen Nr. 1 war der Grundfreibetrag geregelt, d.h. der existenznotwendige Mindestbedarf, der als Nullzone nicht besteuert wurde.29 § 32 Abs. 8 EStG enthielt für die Veranlagungszeiträume 1978 bis 1980 einen zusätzlichen allgemeinen Tariffreibetrag.30 Die genannten Normen sind laut Bundesverfassungsgericht als Steuergesetze jedenfalls an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Steuergesetze würden in die allgemeine Handlungsfreiheit in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifen. Von Steuergesetzen solle keine erdrosselnde Wirkung ausgehen. Dem Grundrechtsträger müsse ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich erhalten bleiben. Daraus folge, dass dem Steuerpflichtigen nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen das Existenzminimum verbleiben müsse. Das sei der Teil seines Einkommens, den er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie – unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG – bedürfe. Dieser existenznotwendige Bereich bilde von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer.31 Dabei sei es dem Gesetzgeber grundsätzlich überlassen, in welcher Weise er dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe Rechnung trage. Der Gesetzgeber habe dieser zu genügen versucht, indem er zwangsläufige private Aufwendungen von der Bemessungsgrundlage abgezogen, einen existenznotwendigen Bedarf von der Einkommensteuer freigestellt (§ 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG der jeweiligen Fas27 BVerfGE 87, 153 (154, 169). Vgl. ebenda, S. 157 f. für die Nachweise der jeweiligen Gesetzesfassungen. 28 BVerfGE 87, 153 (154 f.). 29 Vgl. BVerfGE 87, 153 (157). 30 BVerfGE 87, 153 (158, 173). 31 BVerfGE 87, 153 (169).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

155

sung) und der höheren Belastbarkeit von Steuerpflichtigen mit höheren Einkommen durch einen progressiven Tarif (§ 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ff. EStG der jeweiligen Fassung) Rechnung getragen habe. In einem solchen Regelungssystem hingen Tarif und Bemessungsgrundlage in ihrer verfassungsrechtlichen Vertretbarkeit voneinander ab.32 Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Einkommens hänge von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Diesen einzuschätzen sei wiederum Sache des Gesetzgebers.33 Die entscheidende Wendung des Falles ist, dass das Bundesverfassungsgericht den im Sozialrecht geltenden Mindestbedarf auch für das Einkommensteuerrecht für verbindlich erklärt: Habe der Gesetzgeber im Sozialrecht den Mindestbedarf bestimmt, der bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistungen zu decken ist, dürfe das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag jedenfalls nicht unterschreiten.34 Diesen Maßstäben wurden die jeweiligen gesetzlichen Grundfreibeträge gemäß § 32a Abs. 1 S. 2 EStG der jeweiligen Fassung – in den Veranlagungszeiträumen 1978 bis 1980 ergänzt durch den allgemeinen Tariffreibetrag gemäß § 32 Abs. 8 EStG – nicht gerecht: Der durchschnittliche Sozialhilfebedarf lag jeweils deutlich über dem Grundfreibetrag.35 Im Vergleich zu den im Folgenden noch darzustellenden Entscheidungen sind die Erwägungen des Gerichts zu den Rechtsfolgen des Urteils ausführlich. Zunächst äußert es sich zu der Reichweite der Verfassungswidrigkeit. Da der Grundfreibetrag vom progressiven Tarif (§ 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ff. EStG der jeweiligen Fassung) als durchgehender, für alle Einkommen wirksamer Freibetrag vorausgesetzt sei und sich deswegen Grundfreibetrag und Tarif gegenseitig bedingen würden, sei nicht nur § 32 Abs. 8 EStG d. F. 1978–1980 (Tariffreibetrag) und der jeweilige § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG (Grundfreibetrag) verfassungswidrig, sondern vielmehr der gesamte – den progressiven Tarif der Einkommensteuer regelnde – § 32a Abs. 1 S. 2 EStG der jeweiligen Fassung.36 Dann widmet sich das Gericht der Rechtfertigung der Entscheidungsvariante: Die Unvereinbarerklärung stützt das Bundesverfassungsgericht auf zwei Begründungsansätze: Das Rechtsfolgenargument37 und das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers38.39 32 33 34 35 36 37

BVerfGE 87, 153 (170). BVerfGE 87, 153 (170). BVerfGE 87, 153 (170 f.). BVerfGE 87, 153 (173 ff., zusammenfassend 175). BVerfGE 87, 153 (177). Dazu oben B.III.3.b) (S. 102).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Relativ knapp fällt die Begründung des Rechtsfolgenarguments aus. Eine Nichtigkeit der verfassungswidrigen Vorschriften würde dazu führen, dass eine Besteuerung bis zur Neuregelung überhaupt nicht stattfinden könne. Dieses Argument hat das Gericht offenbar für so eindeutig gehalten, dass es sich weiterer Ausführungen enthält.40 Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers führt es aus, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Regelung des Existenzminimums mehrere Möglichkeiten habe, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Bei der Höhe könne er neben steuer- und finanzpolitischen Erwägungen auch sozial- und familienpolitische Anliegen verwirklichen. Auch der Tarifverlauf könne so gestaltet werden, dass die Entlastungswirkung des Grundfreibetrages bei höheren Einkommen in der progressiv ansteigenden Steuerbelastung schrittweise aufgehe.41 Ausführlich setzt sich das Gericht mit den Besonderheiten des Steuer- und Haushaltsrechts auseinander, die zwei dogmatische Ausnahmen begründen sollen: Die Weitergeltungsanordnung als Ausnahme zur Anwendungssperre und Aussetzungspflicht – die Regelfolgen der Unvereinbarerklärung42 – einerseits und eine Ausnahme zur grundsätzlich bestehenden Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Neuregelung43 andererseits.44 Die Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung stünden einer Aussetzung der Verfahren und der späteren rückwirkenden Neuregelung entgegen. Das Einkommensteueraufkommen diene als periodisch wiederkehrende Belastung gegenwärtiger Einkommen der Ausstattung des Staates mit Finanzmitteln für das jeweilige Haushaltsjahr. Infolge einer Nichtigkeit bzw. Unanwendbarkeit eines Steuergesetzes mit anschließender – rückwirkender – Neuregelung müssten letztlich Steuerfälle für viele Kalenderjahre neu aufgerollt und rückabgewickelt werden. Dabei könne aber das Haushaltsvolumen früherer Haushaltsjahre nicht neu bemessen werden. Vielmehr würden die Steuerschuldner der Vergangenheit auf Kosten des gegenwärtigen Staatshaushalts und zukünftiger Steuerzahler entlastet.45 „Das haushaltsrechtliche Prinzip des jährlichen Ausgleichs von Einnahmen und Ausgaben würde durch die Belastung der gegenwärtigen Haushalte mit Steuererstattungsansprüchen von außerordentlicher Höhe in Frage gestellt. Die staatliche Finanzpla-

38 39 40 41 42 43 44 45

Dazu oben B.III.3.a) (S. 99). BVerfGE 87, 153 (177 ff.). BVerfGE 87, 153 (178). Ebenda. Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). Dazu oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). BVerfGE 87, 153 (178 ff.). BVerfGE 87, 153 (179).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

157

nung wäre gefährdet; überdies wäre die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates bedroht, es sei denn, die Steuern würden temporär erheblich erhöht.“ 46

Eine rückwirkende Umverteilung von Haushaltsmitteln zu Lasten gegenwärtiger Haushalte – so schlussfolgert das Gericht – wird demnach weder den Erfordernissen der periodischen Haushaltsplanung und Haushaltsbewilligung (Art. 110 Abs. 2 GG) noch der Aufgabe des Einkommensteuerrechts gerecht, den Gegenwartsbedarf der öffentlichen Haushalte durch Teilhabe am jeweiligen Gegenwartseinkommen der Steuerpflichtigen zu decken.47 Diese Gesichtspunkte wägt das Bundesverfassungsgericht mit den verletzten Grundrechten ab: Zum einen diene die Steuerfreiheit des Existenzminimums der Befriedigung des gegenwärtigen Bedarfs der Betroffenen. Eine – nach den regulären Rechtsfolgen sowohl der Nichtig- als auch der Unvereinbarerklärung48 rückwirkend eintretende – steuerliche Entlastung verfehle daher ihren Zweck, wenn sie nicht zeitnah zum jeweiligen Bedarf gewährt werde. Der zu gering bemessene Grundfreibetrag stelle zwar einen schwerwiegenden Verfassungsverstoß dar. In dessen Folge hätten Steuerpflichtige mit geringen Einkommen, bei denen der steuerliche Zugriff das Existenzminimum mitbeanspruche, ihren existenzsichernden Aufwand anderweitig decken müssen. Dafür hätten sie allerdings in Notlagen Sozialhilfe in Anspruch nehmen können. Deswegen sei es unter Berücksichtigung der erheblichen Gemeinwohlbelange verfassungsrechtlich noch erträglich, wenn der Gesetzgeber eine angemessene steuerliche Entlastung des Existenzminimums erst für die Zukunft regele.49 Der Gesetzgeber hat die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mit dem Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 199550 fristgerecht umgesetzt.51 bb) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung Im Gegensatz zur zuvor besprochenen Entscheidung handelt es sich hier eindeutig um eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, da festgestellt wurde, dass die überprüften Normen bereits zum Entscheidungszeitpunkt mit der Verfassung unvereinbar waren.

46

Ebenda. Ebenda. 48 Bei der Unvereinbarerklärung ergibt sich die rückwirkende Entlastung aus der Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Neuregelung, dazu oben B.III.1.b) aa)(3) (S. 86). 49 BVerfGE 87, 153 (179 f.). 50 BGBl. I 1995, 1250. 51 Gröttrup, KritV 1997, 121. 47

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(1) Die Unvereinbarerklärung Nach der Theorie von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes hätte hier eine Unvereinbarerklärung gar nicht ausgesprochen werden dürfen, da die Verfassungswidrigkeit nicht auf einer Gleichheitsverletzung beruhte.52 Des Arguments der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bedarf es eigentlich gar nicht, da aus dem Rechtsfolgenargument die Rechtfertigung der Unvereinbarerklärung gelingt. Hier ist es auch nicht passend, da nicht ersichtlich ist, wo genau die Besonderheit gegenüber dem Normalfall des verfassungswidrigen Gesetzes bestehen soll, das in der Regel für nichtig zu erklären ist53; der Gesetzgeber hat bei der Wahrnehmung seiner Gesetzgebungsbefugnis immer eine – mehr oder weniger große – Gestaltungsfreiheit. Es besteht daher die Gefahr, die dogmatischen Konturen dieses – bei Gleichheitsverstößen durchaus fruchtbaren54 – Begründungsansatzes zu verwässern und somit das verfassungsrechtlich gebotene Regel-Ausnahme-Verhältnis55 von Nichtig- und Unvereinbarerklärung zu unterwandern. Der Begründungsansatz ist hier daher für die Rechtfertigung der Unvereinbarerklärung ebenso überflüssig wie ungeeignet. Das Rechtsfolgenargument rechtfertigt auch die Unvereinbarerklärung, wenn es die Weitergeltungsanordnung rechtfertigt56; sind die strengeren Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung gegeben, so sind die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung in Gestalt des Rechtsfolgenarguments automatisch miterfüllt.57 (2) Die Weitergeltungsanordnung Eine Weitergeltungsanordnung kann ausgesprochen werden, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige. Dazu muss in der Abwägung das die Normerhaltung fordernde Gut von Verfassungsrang das durch die verfassungswidrige Norm verletzte erheblich überwiegen.58 Das Bundesverfassungsgericht nimmt bei der Begründung der Weitergeltungsanordnung zwar nicht direkt auf das Rechtsfolgenargument Bezug, sondern stellt 52 53 54 55 56 57 58

Zu dieser Theorie oben B.III.4.a)bb)(1) (S. 107). Zum – hier so genannten – Nichtigkeitsgrundsatz oben B.II.2.b)ee)(1)(b) (S. 63). Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(b) (S. 121). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). Dazu sogleich. Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(a)(dd) (S. 118). Dazu oben B.III.4.b)bb) (S. 129), insbes. B.III.4.b)bb)(3) (S. 135).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

159

unmittelbar auf die Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung ab. Dieser Begründungsansatz ist jedoch Ausfluss des Rechtsfolgenarguments.59 Die Neigung des Bundesverfassungsgerichts, verfassungswidrige Steuergesetze nicht für nichtig zu erklären, sondern vielmehr häufig Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnungen auszusprechen, ist in der Literatur heftig kritisiert worden.60 Bemängelt wird vor allem, dass die Rechtsprechung dem Gesetzgeber die haushaltspolitische Verantwortung für die Folgen verfassungswidriger Rechtsetzung abnehme61 und das Risiko der Verfassungswidrigkeit vom hierfür verantwortlichen Gesetzgeber auf den belasteten Bürger verlagert werde.62 Im Folgenden soll untersucht werden, ob die im verfassungsprozessrechtlichen Teil erarbeiteten Voraussetzungen für eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung erfüllt sind.63 (a) Abstrakte Würdigung der Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung Die vom Bundesverfassungsgericht in der vorliegenden Entscheidung angeführten Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung spielen in der Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung aller noch darzustellenden steuerrechtlichen Entscheidungen eine Rolle. Deswegen soll – vor die Klammer gezogen – im Folgenden zunächst abstrakt gewürdigt werden, ob und in welchem Ausmaß die Gesichtspunkte der verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung verfassungsrechtliche Gründe sind, die den Fortbestand einer verfassungswidrigen Vorschrift für eine Übergangszeit rechtfertigen können. Diese Erkenntnisse sollen erst im darauf folgenden Schritt auf den konkreten Fall bezogen werden. (aa) Verankerung und Grundsätze: Budgetrecht des Parlaments Die Finanz- und Haushaltsplanung wird von der Exekutive planend vorbereitet und vom Parlament im Haushaltsgesetz entschieden: Die Aufstellung des Haus59

Dazu oben B.III.4.b)bb)(1)(b) (S. 130). Kritik findet sich bspw. bei: Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 410; Drüen, FR 1999, 289 (290 f.); Sangmeister, NVwZ 2000, 171 (172); Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 (1910 f.); Seer, NJW 1999, 285 (289 ff.); ders., in: Tipke/Lang, § 22 Rn. 287 m.w. N.; a. A. bspw. Kirchhof, in: DStJG 18 (1995), 17 (39 f.); ders., in: IFStSchrift Nr. 362 (07/1998), 14 (28 f.). 61 So die Zusammenfassung der Kritik bei Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 47; vgl. auch Seer, in: Tipke/Lang, § 20 Rn. 287. 62 Drüen, FR 1999, 289 (291). 63 Dazu zusammenfassend oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 60

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

haltsplanentwurfs (sog. Budgetinitiative64), die im Kabinettsbeschluss des Haushaltsplanes endet65, ist Sache der Exekutive.66 Die Feststellung des Haushaltsplanes im Haushaltsgesetz ist dagegen Sache der Bundes- bzw. Länderlegislative (sog. Budgetrecht67 des Parlaments).68 Dadurch wird wiederum die Exekutive ermächtigt, Ausgaben zu leisten und Verbindlichkeiten einzugehen (vgl. § 3 Abs. 1 HGrG).69 Im Haushaltsplan wie im Haushaltsgesetz sind Einnahmen und Ausgaben auszugleichen, vgl. Art. 110 Abs. 1 S. 2 GG, sog. Grundsatz des Haushaltsausgleichs70. Dieses Erfordernis ist dann erfüllt, wenn – rein formal – die Summe der veranschlagten Einnahmen gleich der Summe der veranschlagten Ausgaben ist.71 Das Budgetrecht des Parlamentes ist verfassungsrechtlich im Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) verankert.72 Es ist als dessen Element gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern vorgeschrieben73 und von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst74. Es findet einen direkten Niederschlag – allerdings nur für den Bund – in Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG.75 Obwohl Art. 110 GG direkt nur für die Haushaltsplanung des Bundes gilt, kommt dem jährlichen Haushaltsgesetz im Haushaltsrecht der Länder die gleiche Bedeutung zu wie beim Bund.76 Das Budgetrecht wird wegen seiner Be-

64 Vgl. zu diesem Begriff bspw. Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 110 Abs. 3 Rn. 88 ff.; Heun, in: Dreier, GG, Art. 110 Rn. 34; Stettner, in: Dreier, GG, Art. 76 Rn. 7; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 110 Rn. 21 f.; Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 855. 65 Heun, in: Dreier, GG, Art. 110 Rn. 33; Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 158; vgl. Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 692. 66 Vgl. Heun, in: Dreier, GG, Art. 110 Rn. 33, Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 153 f.; Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 855. 67 Vgl. zu diesem Begriff bspw. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 110 Rn. 5 f.; Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 10; Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 687. 68 Vgl. Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 153 f.; Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 687. 69 Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 52 f.; Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 683. 70 Zu diesem Begriff statt vieler Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 110 Rn. 42; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 110 Rn. 34. 71 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 110 Rn. 42; Heun, in: Dreier, GG, Art. 110 Rn. 25; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 110 Rn. 34. 72 Dietlein, in: Beck OK GG, Art. 79 Rn. 33.2; Dreier, in: ders., GG, Art. 28 Rn. 64; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 136. 73 Dreier, in: ders., GG, Art. 28 Rn. 64. 74 Dreier, in: ders., GG, Art. 79 Abs. 3 Rn. 42. 75 Vgl. Heun, in: Dreier, GG, Art. 110 Rn. 6; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 110 Rn. 2; Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 687. 76 Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 51.

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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deutung als „Königsrecht“ des Parlamentes angesehen.77 Das hauptsächlich aus Steuererträgen gebildete Staatsbudget – über das durch das Parlament verfügt wird – ist Grundlage staatlicher Gewährleistungen und damit „conditio sine qua non“ aller Staatstätigkeit.78 Die Haushalts- und Finanzplanung ist wegen der Komplexität der Materie bereits von Verfassungs wegen langfristig angelegt: So muss der Haushaltsplan vor Beginn des Haushaltsjahres durch das Haushaltsgesetz festgestellt werden, Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG. In den Haushaltsplan sind alle Einnahmen und Ausgaben einzustellen, Art. 110 Abs. 1 GG. Die Aufstellung des Haushaltsplans beginnt natürlich noch früher; ungefähr ein Jahr vor Beginn des Haushaltsjahres mit dem Hauhaltsaufstellungs-Rundschreiben des Finanzministers an die Ressorts.79 Im Bund erfolgt der Kabinettsbeschluss über die Aufstellung des Haushaltsplan ungefähr Mitte des Jahres, das dem Haushaltsjahr vorausgeht.80 Noch langfristiger orientiert ist die Finanzplanung; Bund und Länder sind verpflichtet, einen fünfjährigen Finanzplan ihrer Haushaltswirtschaft zu Grunde zu legen (§ 50 Abs. 1 HGrG). Dieser Finanzplan wird in der Regel zeitgleich mit dem Entwurf des Haushaltsplans beschlossen.81 (bb) Betroffenheit des Budgetrechts bei der Nichtigerklärung Die Nichtigerklärung führt zur Unwirksamkeit des Gesetzes ex tunc.82 Hängen an diesem Gesetz Steuereinnahmen, so führt dies dazu, dass diese Einnahmen ab dem Haushaltsjahr der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegfallen. Dies ist im gegenwärtigen Haushalt wie in zukünftigen Haushalten zu berücksichtigen. Diese Folgen greifen erheblich in das Budgetrecht des Parlaments ein. Während der Aufstellung des Finanz- und Haushaltsplans muss die Exekutive einen Status quo als Planungsgrundlage voraussetzen können, um die ohnehin hoch komplexe Planung der staatlichen Einnahmen und Ausgaben vornehmen zu können. Im „Regierungsprogramm in Zahlen“ 83 sind diffizile Gewichtungen vorzunehmen und alle Positionen gegeneinander abzuwägen, um einen Gesamtentwurf präsentieren zu können, in dem die Einnahmen den Ausgaben entsprechen. 77

Vgl. Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 10. Drüen, FR 1999, 289 (291). 79 Vgl. Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 692. 80 Vgl. die Übersicht über den Zyklus des Bundeshaushalts 2009 bei Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 692. 81 Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 603, 692; Wiesner/Leibinger/Müller, Öffentliche Finanzwirtschaft, S. 100. 82 Natürlich begrenzt durch § 79 Abs. 2 BVerfGG, dazu sogleich. 83 Vgl. zu diesem Begriff BVerfGE 79, 311 (329); Gumboldt, NVwZ 2005, 36 (40); Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 681. 78

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Das Haushaltsgesetz muss vor Beginn des Haushaltsjahres verabschiedet werden. Wird das Gesetz nun im Haushaltsjahr selbst für nichtig erklärt, so ist diese Planung, die bereits Grundlage für Ausgaben geworden ist, hinfällig. Das Gleiche gilt für die Planung des nächsten Haushaltes, die ungefähr ein Jahr vor Beginn des Haushaltsjahres losgeht. Darüber hinaus ist auch die mittelfristige Finanzplanung betroffen. Fällt ein erheblicher Teil des Steueraufkommens auf Einnahmenseite weg, so müssen wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs Anpassungen entweder auf Einnahmen- oder auf Ausgabenseite vorgenommen werden. Dabei kann die Planungsgrundlage betroffen sein: Bestimmte Positionen auf Ausgabenseite wären unter Umständen nicht akzeptiert worden, wäre bekannt gewesen, dass die aus der Steuer generierten Einnahmen fehlen würden. Ganze Abwägungszusammenhänge können so auseinandergerissen werden, der Gesamtplan als solcher kann durch Wegfall erheblicher Einnahmen in Frage gestellt werden. Dabei gilt als grobe Orientierung: Je größer die betroffenen Einnahmen, desto planungsrelevanter und umso stärker die Betroffenheit des Budgetrechts. Es ist geradezu Wesenselement der Demokratie, dass das Parlament das Budgetrecht innehat84 – das Budgetrecht des Parlaments ist deswegen als Element des Demokratieprinzips von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst85. Das Parlament seinerseits kann dieses Recht nur ausüben, wenn es von Seiten der Exekutive mit einer validen Planung versorgt wird, die als Gesetzesgrundlage dienen kann. Das Budgetrecht kann nur dann sachgerecht wahrgenommen werden, wenn ab einem gewissen Zeitpunkt zumindest die wichtigen Eckdaten der Planung – wie die Existenz bestimmter Steuerarten im Planungszeitraum und die daraus vermutlich resultierenden Einnahmen – als gegeben vorausgesetzt werden dürfen. In dieses Recht des Parlamentes und – gleichsam als dessen Voraussetzung – der Exekutive wird erheblich eingegriffen, wenn das Bundesverfassungsgericht für Zeiträume abgeschlossener Planung oder gerade ablaufender Planung eingreift. Zutreffend sind die Ausführungen des Gerichts zu der Periodizität der Haushaltsplanung und Haushaltsbewilligung: Über den eben beschriebenen Effekt auf der Einnahmenseite gegenwärtiger und zukünftiger Haushalte hinaus gibt es nämlich einen Effekt auf der Ausgabenseite dieser Haushalte. Die rückwirkenden Folgen der Nichtigkeit eines Steuergesetzes gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG86 führen dabei zu einem Kumulationseffekt. Die in den vergangenen Veranlagungszeiträumen unzutreffend hoch festgesetzten und geleisteten Steuern müssen – soweit die Steuerbescheide noch anfechtbar sind – zu Lasten des gegenwärtigen Haushalts erstattet werden. Das hat zwei Konsequenzen: Einerseits verstärkt der 84 85 86

Vgl. BVerfG NJW 2012, 3145 (3148); BVerfGE 129, 124 (177). Dreier, in: ders., GG, Art. 79 Abs. 3 Rn. 42. Dazu im Einzelnen oben B.II.2.d) (S. 72).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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Kumulationseffekt durch einen Zuwachs der Ausgaben – auf tatsächlicher Ebene – die finanziellen Auswirkungen der Nichtigerklärung, was wiederum auf die Planung und damit auf das Budgetrecht des Parlaments durchschlägt. Auch hier sind wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs erhebliche Anpassungen notwendig. Andererseits widerspricht dieser Effekt auf dogmatischer Ebene – das hat das Bundesverfassungsgericht überzeugend festgestellt – den Erfordernissen der periodischen Haushaltsplanung und Haushaltsbewilligung (Art. 110 Abs. 2 GG) und ist mit der Aufgabe des Steuerrechts, den Gegenwartsbedarf der öffentlichen Haushalte zu decken, unvereinbar.87 (cc) Betroffenheit des Budgetrechts bei der regulären Unvereinbarerklärung Etwas komplizierter sind die Folgen der Unvereinbarerklärung mit ihren regulären Rechtsfolgen für die Haushalts- und Finanzplanung. Grundsätzlich hat diese Entscheidungsvariante zur Folge, dass das verfassungswidrige Gesetz nicht weiter angewendet werden darf und alle diesbezüglichen Verfahren ausgesetzt werden müssen.88 Bei für unvereinbar erklärten Steuergesetzen gilt zwar wegen § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 3 AO etwas anderes: Die Steuer wird ab Eröffnung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht bis zur rückwirkenden Neuregelung durch den Gesetzgeber vorläufig festgesetzt. Die Festsetzung ist dann entsprechend der Neuregelung zu ändern (vgl. § 165 Abs. 2 S. 2 AO).89 In diesem Fall drohen Erstattungsansprüche. Die Unvereinbarerklärung hat also bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber keine Auswirkungen auf die Einnahmenseite des Haushalts. Bezüglich der Ausgabenseite sind zwei Szenarien denkbar: Im ersten nutzt der Haushaltsgesetzgeber die Einnahmen aus der vorläufig festgesetzten Steuer im gegenwärtigen Haushalt dazu, Rücklagen für den Fall von Erstattungsansprüchen in zukünftigen Haushalten zu bilden. Diese Zuführungen an die Rücklage werden im gegenwärtigen Haushalt auf der Ausgabenseite verbucht. Im Jahr der Entnahme der Rücklage wird dies auf Einnahmenseite verbucht.90 Letztlich stünden die Einnahmen aus dem für unvereinbar erklärten Steuergesetz wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs im gegenwärtigen Haushalt nicht oder – entsprechend dem Risiko zukünftiger Erstattungsansprüche – nur eingeschränkt zur Tätigung sonstiger Ausgaben zur Verfügung. Die Rechtsfolgen in Bezug auf den Haushalt ähneln nach diesem Szenario denen der Nichtigerklärung.91 Die finan-

87 Vgl. dazu – neben der besprochenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17 (39). 88 Dazu oben B.III.1.b) (S. 82). 89 Dazu oben B.III.1.b)dd) (S. 94). 90 Vgl. Heller, Haushaltsgrundsätze, Rn. 499. 91 Dazu ausführlich soeben C.I.1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

ziellen und planerischen Spielräume werden bereits in den gegenwärtigen Haushalten eingeschränkt,92 wobei im Jahr der Neuregelung wegen der Entnahme der Rücklage keine Beeinträchtigung gegeben wäre. Die Bildung von Rücklagen setzt allerdings eine gewisse Planbarkeit voraus: Diese existiert tatsächlich jedoch nur sehr eingeschränkt.93 Die Höhe der zu bildenden Rücklagen hängt von der späteren Neuregelung durch den Gesetzgeber ab. Der Normschöpfungsprozess bei Steuergesetzen ist äußerst langwierig, komplex und vielschichtig. Ob aus der Neuregelung finanzielle Einbußen für den Haushalt folgen, und wenn ja in welchem Umfang, lässt sich schwerlich vorhersehen. Die spätere Neuregelung durch den Gesetzgeber bereits gegenwärtig korrekt vorherzusehen und ggf. in Rücklagen abzubilden, ist kaum möglich. Bereits diese – gegenwärtig – fehlende Planbarkeit bei einer Unvereinbarerklärung von Steuernormen beeinträchtigt das Budgetrecht des Parlaments. Wegen der fehlenden Planbarkeit ist in der Praxis davon auszugehen, dass – zumindest in einem gewissen Ausmaß – das zweite denkbare Szenario relevant wird: Der Haushaltsgesetzgeber trägt dem Risiko der Rückzahlungsansprüche zu Lasten späterer Haushalte im jeweils gegenwärtigen Haushalt nicht oder nicht angemessen durch die Bildung von Rücklagen Rechnung.94 Das führt dazu, dass im jeweils gegenwärtigen Haushalt weder auf Ausgaben- noch auf Einnahmenseite Konsequenzen der Unvereinbarerklärung zu spüren sind. Allerdings wird das Risiko nur in spätere Haushalte verschleppt: Ab dem Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung vor dem Bundesverfassungsgericht wird die Steuer gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO nur noch vorläufig festgesetzt. Ab dem Zeitpunkt der Unvereinbarerklärung bleibt es gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO bei der vorläufigen Festsetzung. Ändert der Gesetzgeber in seiner Neuregelung die für unvereinbar erklärte Vorschrift – wie es seine Pflicht ist95 – rückwirkend, so sind die Festsetzungen entsprechend zu ändern.96 Ab dem Haushaltsjahr der Neuregelung werden die in den vergangenen Veranlagungszeiträumen mit vorläufiger Festsetzung wurzelnden Erstattungsansprüche kumuliert geltend gemacht. Wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs müsste der dann gegenwärtige Haushalt wegen der Ausgaben für die Erstattungsansprüche umso erheblicher umstrukturiert werden. Dazu müssten entweder die sonstigen Ausgaben in erheblichem Umfang gekürzt oder neue Einnahmen in entsprechender Höhe generiert werden. 92

Vgl. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 47. Vgl. zu Unwägbarkeiten am Beispiel der Erbschaftsteuer im Jahr 1996 bspw. Krüger/Kalbfleisch/Köhler, DStR 1995, 1452 (1457). 94 Vgl. dazu das Beispiel der Kinderfreibetragsbeschlüsse in der Besprechung von Kanzler, FR 1999, 148 (149). 95 Dazu oben B.III.1.b)aa)(3) (S. 86). 96 Zu § 165 AO m. N. oben B.III.1.b)dd) (S. 94). 93

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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Um sich diese Konsequenzen vor Augen zu führen, sei ein Beispiel genannt: In Jahr 1 wird die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht. In Jahr 3 spricht das Bundesverfassungsgericht seine Unvereinbarerklärung aus. In Jahr 5 regelt der Gesetzgeber das Gesetz rückwirkend neu. Ab Jahr 1 wird die betreffende Steuer gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig festgesetzt. Daran ändert sich auch ab Jahr 3 nichts, nur dass bezüglich der vorläufigen Festsetzung jetzt § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO Rechtsgrundlage ist. In Jahr 5 müssen die Festsetzungen entsprechend der Neuregelung geändert werden, so dass die in den Jahren 1, 2, 3 und 4 zu viel gezahlten Steuern in Jahr 5 erstattet werden müssen und somit – summiert – als Ausgaben im Haushalt des Jahres 5 zu verbuchen sind. Es drohen nach diesem Szenario also Erstattungsansprüche bezüglich der Zeiträume seit der Eröffnung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, die zu Lasten der Haushalte ab der Neuregelung gehen. Der Kumulationseffekt, der bereits im Rahmen der Nichtigerklärung beschrieben wurde, tritt hier also in besonders starker Form zu Tage. Der Eingriff in das Budgetrecht des Parlaments in den Haushaltsjahren ab der Neuregelung ist bei der Unvereinbarerklärung besonders intensiv. Das widerspricht in besonderer Form auch der Periodizität der Haushaltsplanung. In beiden Szenarien kann demnach die Planungsgrundlage des Gesamtentwurfs wegfallen. Exekutive wie Legislative werden vor vollendete Tatsachen gestellt, die – wie im Rahmen der Nichtigerklärung dargelegt – eine substantielle Neuausrichtung der gegenwärtigen bzw. zukünftigen Haushalte erfordern können. Die Regelung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO kann die Planbarkeit der gegenwärtigen und zukünftigen Haushalte nicht hinreichend gegenüber der Situation bei einer Nichtigerklärung verbessern. (dd) Zwischenergebnis: Bei Steuernormen ist die Weitergeltungsanordnung in der Regel gerechtfertigt Eine Korrektur der verfassungsrechtlichen „Fehler“ der Vergangenheit in gegenwärtigen und zukünftigen Haushalten bei der regulären Unvereinbarerklärung und der Nichtigerklärung wird den von der Verfassung vorausgesetzten Erfordernissen einer langfristigen, verlässlichen, validen und periodischen Haushalts- und Finanzplanung nicht gerecht. Um dem Budgetrecht effektiv Geltung zu verschaffen, müssen Exekutive wie Legislative mit einem gewissen zeitlichen Vorlauf und ohne übermäßigen zeitlichen wie faktischen Druck planen können. Die beschriebenen Auswirkungen führen bereits auf abstrakter Ebene dazu, dass im Bereich von steuerrechtlichen Regelungen in der Regel eine Weitergeltungsanordnung gerechtfertigt sein wird. Dies gilt umso eher, je größer die betroffenen Steuereinnahmen sind. Eine Ausnahme ist dementsprechend dort zu

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

machen, wo die Nichtigkeit bzw. Unvereinbarkeit des Gesetzes derart geringe finanzielle Konsequenzen hat,97 dass das Budgetrecht des Parlamentes nicht oder nur unerheblich tangiert ist. (b) Anwendung auf den konkreten Fall Die Folgen der Nichtigerklärung und der Unvereinbarerklärung mit ihren regulären Rechtsfolgen (Anwendungssperre und Aussetzungspflicht) werden nun im konkreten Fall den Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung gegenüber gestellt. Dabei sind das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut (das Budgetrecht des Parlaments) und das die Normvernichtung fordernde Verfassungsgut (das Recht auf das steuerliche Existenzminimum) gegeneinander abzuwägen. Das Budgetrecht des Parlaments müsste erheblich überwiegen, um die Weitergeltungsanordnung zu rechtfertigen. Zunächst ist zu ermitteln, in wieweit das Budgetrecht des Parlaments durch eine Nichtigerklärung bzw. eine reguläre Unvereinbarerklärung beeinträchtig wäre. Die Einkommensteuer ist gemäß Art. 106 Abs. 3 S. 1 GG Gemeinschaftsteuer, d.h. ihr Aufkommen steht Bund und Ländern gemeinsam zu, soweit es nicht durch Bundesgesetz den Gemeinden zugewiesen ist (Art. 106 Abs. 3 S. 1 i.V. m. Abs. 5 GG). Am Aufkommen der Einkommensteuer sind der Bund und die Länder dabei je zur Hälfte beteiligt (Art. 106 Abs. 3 S. 2 GG). Im Veranlagungszeitraum 1991 erhielten die Gemeinden 15 Prozent der Lohnsteuer und veranlagten Einkommensteuer.98 Dem Bund und den Ländern verblieb somit ein Anteil von jeweils 42,5% des Gesamtaufkommens. Aus der Einkommensteuer generierten Bund wie Bundesländer im letzten von der Entscheidung betroffenen Haushaltsjahr 1991 jeweils Einnahmen99 von 108,68 Mrd. DM,100 also 55,57 Mrd. EUR101. Da das Urteil im Haushaltsjahr 97

So auch Kirchhof, IFSt-Schrift Nr. 362 (07/1998), 14 (28). Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 106 Rn. 64; vgl. ebenfalls Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 4, 1992, S. 59. 99 Hier und im Folgenden bezeichnet „Einnahmen“ die bereinigten Einnahmen, die vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellt werden. Dem Bundesverfassungsgericht steht dieses Datenmaterial zum Zeitpunkt der Entscheidung – zumindest was die zukünftigen und jüngeren vergangenen Veranlagungszeiträume angeht – nicht zur Verfügung. Es muss vielmehr vorläufige Erhebungen und Steuerschätzungen zu Grunde zu legen. Das Verwenden der bereinigten Einnahmen ist in gewissem Ausmaß methodisch unsauber, da damit eine ex-post-Perspektive eingenommen wird, wo eigentlich die exante-Perspektive zum Entscheidungszeitpunkt geboten wäre. Wegen der mangelnden Verfügbarkeit des entsprechenden Datenmaterials ist diese Unsauberkeit hier aber unausweichlich. Zudem dürfte die finanzielle Dimension der Schätzungen und der Daten des Statistischen Bundesamtes vergleichbar sein. 100 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 4, 1992, S. 59. 101 Hier und im Folgenden nach dem offiziellen Umrechnungskurs von 1 EUR = 1,95583 D-Mark. 98

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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1992 gefällt wurde, ohne dass die im Veranlagungszeitraum 1992 geltenden Normen von der Unvereinbarerklärung erfasst wurden, drohten in den Haushaltsjahren ab 1992 im Falle von Unvereinbar- oder Nichtigerklärungen zwar keine Einnahmeeinbußen, wohl aber Erstattungsansprüche und somit ein Anstieg der Ausgaben. Der Bund hatte im Haushaltsjahr 1992 Einnahmen von 200,58 Mrd. EUR, 1993 von 202,23 Mrd. EUR.102 Die durch eine Nichtigerklärung als Maximalrisiko drohenden Ausgaben machten 27,7% (1992) bzw. 27,5% (1993) der Gesamteinnahmen des Bundes in den jeweiligen Haushaltsjahren aus. Ähnlich stellt sich die Lage bei den Bundesländern dar: Diese hatten in den Haushaltsjahren 1992/1993 Einnahmen von 209,69 bzw. 216,63 Mrd. EUR.103 Hier machten die drohenden maximalen Ausgaben 26,5% (1992) bzw. 25,7% (1993) der Einnahmen in den jeweiligen Haushaltsjahren aus. Zu diesen – allein aus dem Haushaltsjahr 1991 resultierenden – Risiken kommen noch die finanziellen „Altlasten“ 104 aus den von der Entscheidung ebenfalls betroffenen Veranlagungszeiträumen 1978–1984, 1986 und 1988, in denen die Einkommensteuer eine ähnliche Relevanz hatte. Hier ist eindeutig eine Dimension erreicht, die die Funktionsfähigkeit des Staates in Frage stellt und die jede vernünftige Haushalts- und Finanzplanung in den Haushaltsjahren 1992/1993 unmöglich gemacht hätte. Dies verdeutlicht – einmal mehr – dass die Unvereinbarerklärung als flexibles Element des Rechtsfolgenmanagements gerade auch außerhalb von Gleichheitsverstößen notwendig ist.105 Das durch eine Unvereinbarerklärung drohende finanzielle Risiko ist geringer als das der Nichtigerklärung. Denn die Abschaffung der Einkommensteuer wurde niemals diskutiert. Vielmehr ist hier als Vergleichsszenario bei der Unvereinbarerklärung die rückwirkende Neuregelung und damit Erhöhung des Grundfreibetrages heranzuziehen. Auch das hätte – im Jahr ab der Neuregelung – Erstattungsansprüche zur Folge gehabt. Die Kosten der Neuregelung sind – insbesondere ex ante – kaum bezifferbar. Bereits die daraus resultierenden Unwägbarkeiten, was die Notwendigkeit der Bildung von Rücklagen und die sonstigen Folgen für den Haushalt angeht,106 sind bei einer Steuer mit Einnahmen dieser Größenordnung nicht tragbar. Diese Unwägbarkeiten selbst stellen die Planung der betroffenen Haushalte ab 1992 in Frage. Zudem ist auch hier das finanzielle Risiko für den Haushalt des Jahres der Neuregelung hoch, da ab der Verfahrens102

Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. Ebenda. 104 Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161). 105 Zur Vorzugswürdigkeit der Abwägungslehre gegenüber der Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes oben B.III.4.a)bb)(3)(a) (S. 116). 106 Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(cc) (S. 163). 103

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

eröffnung vor dem Bundesverfassungsgericht die betreffenden Einkommensteuerbescheide vorläufig festgesetzt wurden.107 Das Budgetrecht des Parlaments ist also auch im Falle der Unvereinbarerklärung erheblich beeinträchtigt. Auf der anderen Seite der Abwägung steht das grundrechtlich verankerte Recht auf das steuerliche Existenzminimum. Hier hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt, dass die betroffenen Grundrechtsträger ihr Recht auf das finanzielle Existenzminimum zur Not über die Sozialhilfe hätten wahren können. Die Grundrechtsverletzung, welche die Normvernichtung fordert, wiegt also letztlich nicht besonders schwer, da der Grundrechtsträger bezüglich des Existenzminimums abgesichert wird. Das verfassungsrechtlich fundierte Budgetrecht der jeweiligen Parlamente und die daraus folgenden Erfordernisse einer verlässlichen Haushalts- und Finanzplanung gebieten also zwingend die Normerhaltung und die weitere Anwendbarkeit der Norm in dem genannten Zeitraum; sie überwiegen das Recht auf das steuerliche Existenzminimum erheblich. Das Ergebnis der Entscheidung ist demnach nicht zu beanstanden. Nicht befriedigend ist allerdings die fehlende bzw. wenig ausführliche108 Herleitung der vom Gericht angeführten Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung aus der Verfassung. Die Weitergeltungsanordnung muss durch die Verfassung selbst gerechtfertigt sein;109 dieser Anforderung sollte die Begründung einer solchen Entscheidung entsprechen. Dieser gesteigerte Begründungsaufwand, der sich nicht in dem Zitat abstrakter Rechtsbegriffe erschöpft, sondern vielmehr eine konkrete Subsumtion beinhalten sollte, ist wegen der Grundrechtsrelevanz dieser Entscheidungsvariante110 dringend geboten.111 Der Blick auf den konkreten Fall bestätigt, dass die Abwägungslehre vorzugswürdig ist112: Die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes hätte hier eine Nichtigerklärung gefordert; fiat iustitia et pereat mundus. Letztlich würde diese Ansicht das Bundesverfassungsgericht zwingen, in einem solchen Fall auf eine Appellentscheidung zurückzugreifen, was aber das eigentliche Ergebnis der verfassungsgerichtlichen Untersuchung – die gegenwärtige Verfassungswidrigkeit – nicht widerspiegeln würde.113 107

Auch dazu ebenda. Das Gericht erwähnt anlässlich der Periodizität der Haushaltsführung und -planung zumindest Art. 110 Abs. 2 GG. 109 Dazu oben B.III.4.b)bb) (S. 129), insbes. B.III.4.b)bb)(3) (S. 135). 110 Vgl. oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65), B.III.4.b)bb)(3) (S. 135). 111 Vgl. auch die generelle Kritik der „defizitären“ Begründungspraxis des Bundesverfassungsgerichts bei Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 78 Rn. 48. 112 Dazu oben B.III.4.a)bb)(3) (S. 116). 113 Dazu bereits oben B.III.6.c) (S. 144). 108

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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cc) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung Die Folgen einer potenziell bestehenden strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung lassen sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts selbst herleiten. Es hat festgestellt, dass ein Verzicht auf die Weitergeltungsanordnung dazu führen würde, dass eine Besteuerung bis zu einer Neuregelung überhaupt nicht stattfinden könnte.114 Sollte die weitere Untersuchung ergeben, dass die Weitergeltungsanordnung strafrechtlich irrelevant ist, gilt Entsprechendes: Eine Hinterziehung der Einkommensteuer wäre in den betroffenen Veranlagungszeiträumen nicht möglich. Damit ist freilich nichts darüber ausgesagt, ob der Wegfall der Strafbarkeit für das Budgetrecht ähnlich bedeutsam wäre wie der Wegfall der Steuernorm. Dies wird an späterer Stelle ausführlich untersucht.115 c) BVerfGE 93, 121 (Vermögensteuerentscheidung) Eine weitere für die Untersuchung relevante Entscheidung ist BVerfGE 93, 121 vom 22. Juni 1995. aa) Die Entscheidung Hier erklärte das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) § 10 Nr. 1 Vermögensteuergesetz (VStG)116 mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar, soweit er einheitswertgebundenen Grundbesitz und das zu Gegenwartswerten erfasste sonstige Vermögen mit einem Steuersatz belastete. Das Gericht bezog sich auf die Veranlagungszeiträume jedenfalls seit 1983. Es ordnete dabei eine weitere Anwendbarkeit des „bisherigen Rechts“ längstens bis zum 31. Dezember 1996 an.117 Diese Vorschrift bemaß die Vermögensteuer nach einem einheitlichen prozentualen Anteil von 1 bzw. 0,5% des steuerpflichtigen Vermögens. Die Besteuerung setzt jedoch eine angemessene Bewertung der Vermögensgegenstände voraus, welche die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung bildet. Auf dieser Ebene setzen die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts ein. Ein solcher, einheitlicher Steuersatz setze voraus, dass dem Gebot der Gleichheit im steuerlichen Belastungserfolg bereits in der Bemessungsgrundlage Rechnung getragen werde.118 Ziel der Bewertung sei es dabei, gleichmäßige, den Verkehrswerten nahekommende Einheitswerte als Grundlage für eine gerechte Besteuerung zu finden. 114 115 116 117 118

BVerfGE 87, 153 (178). Dazu unten D.II.3.a)bb)(2) (S. 395). I. d. F. v. 14.09.1994, BGBl. I 1994, 2325. BVerfGE 93, 121 f. BVerfGE 93, 121 (142 f.).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die Bewertungsmethoden müssten die verschiedenen wirtschaftlichen Einheiten – bspw. Grundstücke und Kapitalvermögen – in einem gemeinsamen Annäherungswert erfassen, der eine Anwendung desselben Steuersatzes erlaube.119 Grundstücke wurden gemäß § 114 Abs. 3 BewG i.V. m. § 19 Abs. 1 Nr. 1 BewG mit ihrem festgestellten Einheitswert angesetzt.120 Diese Einheitswerte wurden zum Stichtag 1. Januar 1964 ermittelt. Diese festgestellten Einheitswerte sind gemäß Art. 1 des Bewertungsänderungsgesetztes 1971 ab dem 1. Januar 1974 der Besteuerung zu Grunde gelegt worden.121 Zu diesem Zeitpunkt waren die Werte bereits überholt; Grundstücke erlebten nämlich eine konstante Wertsteigerung. Dies versuchte der Gesetzgeber dadurch auszugleichen, dass er die Einheitswerte durch § 121a BewG122 für steuerliche Zwecke 1974 um 40% erhöhte.123 Grundstücke gingen also mit 140% des 1964 festgestellten Einheitswertes in das Gesamtvermögen ein.124 Zwar war gesetzlich vorgesehen, dass die Einheitswerte für Grundbesitz neu festgesetzt werden sollten. Ein solches Gesetz ist jedoch nie ergangen.125 Demgegenüber wurde der Wert des sonstigen, nicht einheitswertgebundenen Vermögens nicht in einem Vergangenheitswert fixiert, sondern vielmehr fortlaufend gegenwartsnah in dem Wert erfasst, der einer zeitnahen Bewertung durch den Markt entsprach.126 Bereits aus dermaßen unterschiedlichen Bewertungsgrundlagen ergeben sich – so das Bundesverfassungsgericht – deutliche Wertverzerrungen und Belastungsungleichheiten. Durch die Entwicklung der tatsächlichen Werte des Grundbesitzes seien Belastungsunterschiede eingetreten, die mit dem Erfordernis einer gleichmäßigen steuerlichen Erfassung der wirtschaftlichen Einheiten unvereinbar seien.127 Dieses Missverhältnis verstoße gegen den Gleichheitssatz. Das Vermögensteuergesetz im Zusammenwirken mit dem Bewertungsgesetz hätte nicht annähernd gleiche Ausgangswerte für die Ermittlung eines Sollertrages ergeben und führe somit zu einer ungleichen Belastung.128 Die Unvereinbarerklärung wird auf die Erwägung gestützt, dass der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten habe, den verfassungswidrigen Zustand zu beseiti119 120 121 122

BVerfGE 93, 121 (143). BVerfGE 93, 121 (123). BVerfGE 93, 121 (144). I. d. F. des Vermögensteuerreformgesetzes 1974 vom 17.04.1974, BGBl. I 1974,

949. 123 124 125 126 127 128

BVerfGE 93, 121 (144). BVerfGE 93, 121 (123). BVerfGE 93, 121 (145). BVerfGE 93, 121 (144, im Einzelnen 123 ff.). BVerfGE 93, 121 (146). BVerfGE 93, 121 (146 f.).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

171

gen.129 Auch hier wird also auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers abgestellt. Die Weitergeltungsanordnung wird auf zweierlei Weise begründet: Für zum damaligen Zeitpunkt zurückliegende Kalenderjahre mit weitestgehend abgeschlossener Veranlagung würden die Erfordernisse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs eine weitere Anwendbarkeit rechtfertigen. Die – damals – zukünftige weitere Anwendbarkeit bis zum 31. Dezember 1996 wird dagegen mit dem Bedürfnis einer stetigen Veranlagung der Vermögensteuer begründet.130 Der Gesetzgeber hat die Frist verstreichen lassen, ohne die Vermögensteuer neu zu regeln. bb) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung Auch bei dieser Entscheidung handelt es sich eindeutig um eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung; das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass § 10 Nr. 1 VStG zum Entscheidungszeitpunkt gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen hat. (1) Die Unvereinbarerklärung Die Unvereinbarerklärung wird auf das Argument der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gestützt.131 Auch auf Basis der vorzugswürdigen Abwägungslehre132 spricht der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) bei Gleichheitsverstößen regelmäßig für die Normerhaltung.133 Da keine der oben dargestellten Ausnahmefallgruppen134 einschlägig ist, hat sich das Bundesverfassungsgericht korrekterweise für die Unvereinbarerklärung entschieden. Zudem wird die Unvereinbarerklärung durch die gleichen Argumente wie die Weitergeltungsanordnung gerechtfertigt – liegen nämlich die strengeren Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung vor, ist auch die Unvereinbarerklärung gerechtfertigt.135 (2) Die Weitergeltungsanordnung Zu untersuchen bleibt, ob auch die Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung136 vorliegen. 129 130 131 132 133 134 135 136

BVerfGE 93, 121 (148). BVerfGE 93, 121 (148). Vgl. dazu oben B.III.3.a) (S. 99), B.III.4.a)bb)(3)(b) (S. 121). Dazu oben B.III.4.a)bb) (S. 106), insbes. B.III.4.a)bb)(3) (S. 116). Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(b) (S. 121). Dazu oben B.III.3.a)bb) (S. 100). Dazu oben B.III.4.a)bb)(3)(a)(dd) (S. 118). Dazu oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(a) Rechtfertigung durch Erfordernisse des gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs Die vom Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung angeführten Erfordernisse eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs ließen sich unter Umständen in Art. 3 Abs. 1 GG verankern. Diese Begründung kann die Weitergeltungsanordnung jedoch nicht rechtfertigen.137 Letztlich hat jede nach dem verfassungsprozessrechtlichen Regelungssystem ausgesprochenen Nichtigerklärung einen ungleichmäßigen Verwaltungsvollzug und damit eine Ungleichbehandlung zur Folge: § 79 Abs. 2 BVerfGG enthält die Wertung, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen von der gesetzlich vorgesehenen Nichtigerklärung grundsätzlich unberührt bleiben und lediglich nicht mehr vollstreckt werden können. Damit werden diejenigen Betroffenen, deren Entscheidungen nicht mehr anfechtbar sind, gegenüber denjenigen, die noch anfechten können bzw. dies getan haben, ungleich behandelt. Eine Ungleichbehandlung liegt auch innerhalb der Gruppe derjenigen vor, deren Entscheidungen unanfechtbar sind: Dort werden diejenigen, deren Entscheidung bereits vollstreckt ist, gegenüber denjenigen ungleich behandelt, bei denen dies noch nicht der Fall ist. Diese Ungleichbehandlungen aber sind § 79 Abs. 2 BVerfGG immanent und durch das Interesse der Rechtssicherheit, das die Vorschrift sichern soll, gerechtfertigt; dies hat das Bundesverfassungsgericht gerade auch vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG ausdrücklich anerkannt.138 Das Argument des gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs umgeht diese klare gesetzliche Wertung. Es würde zudem immer für den Normerhalt sprechen, da die gesetzlich grundsätzlich vorgesehene Normvernichtung wegen § 79 Abs. 2 BVerfGG immer eine Ungleichbehandlung im Normvollzug zur Folge hat. Bei Steuergesetzen liegt insoweit keine andere Situation vor als bei anderen Gesetzen. Mit diesem Argument ließe sich wegen § 79 Abs. 2 BVerfGG also immer eine Weitergeltungsanordnung rechtfertigen. Dieses Ergebnis widerspricht – neben der klaren Wertung der §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG139 – dem verfassungsrechtlich fundierten140 Grundsatz, dass verfassungswidrige Gesetze grundsätzlich ex tunc unwirksam sein müssen.141 Dieses gesetzlich und vor allem verfassungsrechtlich vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis wird mit dem Argument der Erfordernisse eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs unterlaufen. 137 Vgl. auch die Kritik bei Nolte, Hinterziehung, S. 99, der dieses Argument als Zirkelschluss bezeichnet und in ihm lediglich die unbeachtliche „Flankierung des Fiskalzweckarguments“ erblickt. 138 Vgl. dazu oben B.II.2.d) (S. 72), insbes. den Nachweis in Fn. 280 (S. 74). 139 Dazu oben B.II.2. (S. 34). 140 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 141 Dazu oben B.II.2.b)ee) (S. 61).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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(b) Rechtfertigung durch Erfordernisse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung bzw. einer stetigen Veranlagung Es bleibt zu untersuchen, ob das Budgetrecht des Parlaments die Belange des Art. 3 Abs. 1 GG erheblich überwiegt. Es wurde bereits auf abstrakter Ebene dargestellt, dass das im Demokratieprinzip fußende Budgetrecht des Parlaments und die in ihm wurzelnden Erfordernisse der verlässlichen und periodischen Finanzund Haushaltsplanung bei verfassungswidrigen Steuergesetzen in der Regel dazu führen, dass eine Weitergeltungsanordnung gerechtfertigt ist. Eine Ausnahme ist dann zu machen, wenn die finanziellen Folgen so gering sind, dass das Budgetrecht des Parlaments nicht oder nur unerheblich tangiert wird.142 Das Vermögensteueraufkommen steht gemäß Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG den Ländern zu. Diese generierten durch die Vermögensteuer im Jahr 1995 insgesamt Einnahmen in Höhe von rund 7,86 Mrd. DM, also rund 4,02 Mrd. EUR.143 Dem standen Gesamteinnahmen der Bundesländer i. H. v. 227,38 Mrd. EUR gegenüber.144 Das Vermögensteueraufkommen machte demnach im Jahr 1995 rund 1,8% der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus. Pro Bundesland ergeben sich Einnahmen von durchschnittlich145 251,25 Mio. EUR. 1996 umfasste das Vermögensteueraufkommen rund 9,03 Mrd. DM146 bzw. 4,62 Mrd. EUR, denen im Haushaltsjahr 1996 insgesamt Einnahmen von 232,71 Mrd. EUR gegenüber standen.147 Die Vermögensteuer machte demnach 1996 rund 2,0% der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus. Für das Jahr 1996 ergeben sich dabei Einnahmen aus der Vermögensteuer von durchschnittlich rund 288,75 Mio. EUR pro Bundesland. Die Anteile der Einnahmen von knapp zwei Prozent der Gesamteinnahmen erscheinen allerdings auf den ersten Blick nicht besonders groß und nicht mit der Bedeutung der Einkommensteuer in der zuvor besprochenen Entscheidung vergleichbar. Dieser erste Eindruck relativiert sich zumindest teilweise bei einer eingehenden Betrachtung: Folge der Nichtigerklärung wäre gewesen, dass – nach Maßgabe des § 79 Abs. 2 BVerfGG – für die Veranlagungszeiträume seit 1983 Erstattungsansprüche und damit ein Ansteigen der Ausgaben in den Haushalten ab 1995 drohten. 142

Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a) (S. 159). Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 1996, S. 29. 144 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 145 Der genaue Anteil, den die Einnahmen aus der Vermögensteuer an den tatsächlich zur Verfügung stehenden Einnahmen der jeweiligen Länder hatte, lässt sich wegen des Länderfinanzausgleichs laut einer Anfrage bei einzelnen Bundesländern leider nicht ermitteln. 146 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 1996, S. 29. 147 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 143

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Zudem wären die Einnahmen aus der Vermögensteuer ab dem Haushaltsjahr 1995 weggebrochen.148 Folge der regulären Unvereinbarerklärung wäre gewesen, dass die Vermögensteuer gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO weiter vorläufig hätte festgesetzt werden können. Allerdings wären diese vorläufigen Festsetzungen von der späteren Neuregelung bzw. Abschaffung durch den Gesetzgeber abhängig. Die Gestaltung dieser Neuregelung und damit auch die gegenwärtigen Folgen für die Finanzund Haushaltsplanung wären für die Haushaltsgesetzgeber nicht kalkulierbar gewesen. Das hätte die Planbarkeit der 16 Länderhaushalte ab 1995 eingeschränkt und eine angemessene Bildung von Rücklagen verhindert. Deswegen drohten ab 1997 nicht kompensierte Erstattungsansprüche und damit steigende Ausgaben. Auch diese Erstattungsansprüche drohten eine erhebliche Dimension anzunehmen, da seit Verfahrenseröffnung vor dem Bundesverfassungsgericht die Festsetzungen der Vermögensteuer vorläufig erfolgten.149 Die Vermögensteuerentscheidung stellt sich eher als ein Grenzfall dar als die zuvor besprochene Entscheidung, die geradezu exemplarisch für die Notwendigkeit der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung steht. Letztlich muss aber bedacht werden, dass wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs die Größenordnung von durchschnittlich über 250 Mio. EUR (1995) bzw. knapp 290 Mio. EUR (1996) pro Landeshaushalt durchaus eine planerisch relevante Dimension hat. Wegfallende Einnahmen bzw. steigende Ausgaben dieser Dimension müssen erst einmal kompensiert werden. Dazu muss berücksichtigt werden, dass ein großer Anteil der Einnahmen über feststehende Ausgaben – etwa Beamtenbesoldung und -versorgung, Bedienung von Verbindlichkeiten etc. – ohnehin der planerischen Gestaltung entzogen ist. Dem Charakter des Budgetrechts als „Gestaltungsrecht“ entsprechend kann der jeweilige Haushaltsgesetzgeber demnach ohnehin nur über einen Teil der Gesamteinnahmen gestalterisch verfügen. Der Anteil der potentiell wegfallenden Einnahmen bzw. steigenden Ausgaben an dieser Gestaltungsmasse ist entscheidend höher als der an den Gesamteinnahmen. Somit kann letztlich noch von einem erheblichen Überwiegen des Budgetrechts der Parlamente über die Belange des Art. 3 Abs. 1 GG ausgegangen werden.150 148 Zu den abstrakten Folgen der Nichtigerklärung auf das Budgetrecht oben C.I. 1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161). 149 Zu den abstrakten Folgen der regulären Unvereinbarerklärung auf das Budgetrecht oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(cc) (S. 163). 150 A.A. Moes, StuW 2008, 27 (31 f.), der fiskalische Rücksichtnahme als Entscheidungsprinzip generell ablehnt. Er will die Weitergeltungsanordnung nur dann zulassen, wenn der Gesetzgeber ein berechtigtes Vertrauen in den Bestand des betreffenden Steuergesetzes haben durfte. Dies sei dann der Fall, wenn die verfassungsrechtliche Lage ex ante völlig unvorhersehbar war, ebenda, S. 32 f. Dazu ist anzumerken, dass nach der verfassungsprozessrechtlichen Rechtsfolgendogmatik in einem solchen Fall eine Appell-

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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Die Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts war also in der Sache gerechtfertigt. Auch die zeitliche Dauer von rund eineinhalb Jahren scheint ob der erforderlichen gesetzgeberischen Neuausrichtung und der finanziellen Bedeutung angemessen. Nicht zufriedenstellend ist allerdings der oberflächliche Verweis auf die Erfordernisse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und einer stetigen Veranlagung der Vermögensteuer. Auch hier fehlt die gebotene151 Herleitung der Weitergeltungsanordnung aus der Verfassung und jede konkrete Subsumtion. Dies ist – wie bereits im Rahmen der vorher untersuchten Entscheidung konstatiert152 – wegen der Grundrechtsrelevanz dieser Entscheidungsvariante153 zu bedauern. cc) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung Da der Gesetzgeber seiner Neuregelungsverpflichtung nicht nachgekommen ist, bedürfen die Konsequenzen und die Reichweite der Entscheidung einer Erörterung. Im verfassungsprozessrechtlichen Teil wurde festgestellt, dass die von einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung betroffenen Regelungen infolge des Fristablaufs unanwendbar und damit ex nunc unwirksam werden, wenn der Gesetzgeber seiner Verpflichtung zur Neuregelung nicht nachkommt.154 Das abstrakte Ergebnis der Unwirksamkeit ex nunc erzeugt in der praktischen Umsetzung hinsichtlich seiner Reichweite jedoch zwei Problemkreise. Die Reichweite der Entscheidung war bereits in zeitlicher Hinsicht umstritten: Teile der Literatur stellten sich auf den Standpunkt, dass sich der vom Bundesverfassungsgericht in der Weitergeltungsanordnung genannte Gültigkeitszeitraum auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung bezog: Nach dem 31. Dezember 1996 dürften die Behörden danach keine Vermögensteuer mehr festsetzen, die

entscheidung und keine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ausgesprochen wird, vgl. oben B.II.3. (S. 75). Eine solche stellt auch die von ihm zur Untermauerung seiner These angeführte BVerfGE 84, 239 dar, vgl. oben C.I.1.a)aa) (S. 150). Letztlich spricht er sich somit gegen die Existenz der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung aus; nur die Appellentscheidung wäre zulässig. Dem kann aus den oben unter B.III.6.c) (S. 144) genannten Gründen nicht gefolgt werden. 151 Dazu oben B.III.4.b)bb)(1)(c) (S. 132). 152 Vgl. oben C.I.1.b)bb)(2)(b) (S. 166). 153 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65), B.III.4.b)bb)(3) (S. 135). 154 Vgl. zu den Rechtsfolgen des Fristablaufs oben B.III.5. (S. 137), insbes. B.III.5.e) (S. 143). Hier liegt auch kein Fall vor, in dem das Grundgesetz einen Mindestbestand an gesetzlichen Normen fordert und in dem verfassungsrechtlich garantierte Rechtsgüter zu ihrer Wirksamkeit überhaupt einer gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen: Die Existenz des Vermögensteuergesetzes als solches wird nicht von der Verfassung gefordert. Deswegen bedurfte es hier auch keiner durch die Gerichte zu treffenden Regelungen.

176

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Vollstreckung sei ab diesem Zeitpunkt unzulässig, auch wenn der Tatbestand der Steuer im Jahr 1996 oder früher erfüllt worden sei.155 Dieser Auffassung sind der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht zu Recht entgegengetreten: Beide haben klargestellt, dass der 31. Dezember 1996 den Zeitpunkt bezeichnet, zu dem der die Vermögensteuer begründende Tatbestand verwirklicht sein muss;156 der so entstandene Steueranspruch kann auch nach diesem Datum verfolgt werden. Auch die inhaltliche Reichweite der Entscheidung ist alles andere als klar. Da der Gesetzgeber keine Neuregelung der Vermögensteuer vorgenommen hat, bestimmt diese Frage, ob und in welchem Umfang das Vermögensteuergesetz ab dem 1. Januar 1997 anwendbar blieb. Die im Tenor ausgesprochene Unvereinbarerklärung bezieht sich zunächst nur auf § 10 Nr. 1 VStG, soweit einheitswertgebundener Grundbesitz und das zu Gegenwartswerten erfasste sonstige Vermögen mit einem Steuersatz belastet wird. Hier zeigen sich tatsächlich die Schwierigkeiten, die bei der Eliminierung einer gegen den Gleichheitssatz verstoßenden Norm auftreten:157 Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, diese Vorschrift werde nur im genannten Umfang ab dem 1. Januar 1997 unwirksam, das übrige Vermögensteuergesetz aber bleibe bestehen. Eine solche partielle Unwirksamkeit aber ist ausgeschlossen, weil sie nicht in verfassungsgemäßer Form denkbar ist.158 Wie sollte eine partielle Unwirksamkeit denn konkret aussehen? Sollte Grundbesitz etwa gar nicht mehr besteuert werden? Dies würde eine viel größere Ungleichbehandlung zur Folge haben, als die vom Gericht angemahnte. Auch der Steuersatz für Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen gemäß § 10 Nr. 2 VStG – der von der Unvereinbarerklärung zunächst nicht erfasst scheint – war verfassungswidrig. Zum einen unterlag er hinsichtlich der Bewertung den gleichen Mängeln wie der die Steuersätze für natürliche Personen regelnde § 10 Nr. 1 VStG.159 Zum anderen ergibt dies bei genauerem Hinschauen die Auslegung der Weitergeltungsanordnung, die vom „bisherigen Recht“ 160 und damit vom Vermögensteuergesetz als Gesamtregelung spricht.161 Als Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass das bisherige Recht nach Fristablauf nicht mehr anwendbar sein sollte.

155 Bspw. Schüppen, DStR 1997, 225 (227); Frerichs, DStZ 1997, 581 (587 f.); Rüth, DStZ 1997, 589 (591). 156 BVerfG NJW 1998, 1854; BFH NJW 1997, 2007 (2008). 157 Vgl. oben B.III.4.a)bb)(3)(b)(bb) (S. 125). 158 A.A. Schmidt, wistra 1999, 121 (123 f.). 159 LG München II, DStR 1999, 2115; Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (4). 160 Vgl. oben C.I.1.c)aa) (S. 169). 161 Schüppen, DStR 1997, 225 (226).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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Wenn aber die Steuersätze insgesamt verfassungswidrig waren, so verlieren auch alle anderen Vorschriften des Vermögensteuergesetzes – beispielsweise die Erklärungspflicht gemäß § 19 VStG – ihre verfassungsrechtliche Legitimation: Eine Norm, die keinem legitimen Zweck (hier der Vereinnahmung der Steuer) mehr dient, stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar.162 Die gleichheitswidrige Unterwerfung unter einen Steuersatz bei unterschiedlicher Bewertung von Grund- und sonstigem Vermögen entzieht der Vermögensteuer insgesamt ihre verfassungsrechtliche Legitimation; sie ist insgesamt durch die Verfassungswidrigkeit infiziert. Teilweise wird die umfassende Wirkung der Entscheidung auch auf Art. 10 § 3 VStRG 1974163 gestützt; diese Vorschrift bestimmte, dass das gesamte Vermögensteuergesetz nur solange gelten sollte, wie Grundstücke mit 140% des Einheitswerts von 1964 bewertet wurden.164 Genau diese Bewertung wurde ja durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig befunden und längstens bis zum 31. Dezember 1996 zugelassen. Wegen dieser Erwägungen wird richtigerweise davon ausgegangen, dass sich die Entscheidung auf das Vermögensteuergesetz als Ganzes bezog, womit die Vermögensteuer insgesamt ab dem 1. Januar 1997 nicht mehr erhoben werden kann.165 Der Gesetzgeber hat die Vermögensteuer somit zwar nicht förmlich, durch seine Untätigkeit infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aber indirekt – „kalt“ 166 – vollständig abgeschafft. dd) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung Die Ausführungen zur inhaltlichen Reichweite gelten entsprechend für die Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung: Sollte die weitere Untersuchung ergeben, dass die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung strafrechtlich irrelevant ist, so wäre hinsichtlich des gesamten Vermögensteuergesetzes ab Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO ausgeschlossen. 162

So überzeugend Wulf, wistra 2001, 41 (47). BGBl. I 1974, 949. 164 Arndt/Schumacher, DStR 1995, 1813 (1816); Schüppen, DStR 1997, 225 (226); Bornheim, Stbg 1999, 310 (312). 165 Vgl. nur: BT-Drucks. 13/5952, S. 25; Arndt/Jenzen, NJW 1997, 1678; Arndt/ Schumacher, DStR 1995, 1813 (1816); Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, Rn. 78; Hey, in: Tipke/Lang, § 3 Rn. 60, § 7 Rn. 43; Fehrenbacher, Steuerrecht, § 1 Rn. 20; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1488; Schüppen, DStR 1997, 225 (226); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (4); Wulf, wistra 2001, 41 (47); vgl. auch Frerichs, DStZ 1997, 581 (582), der der Auffassung ist, die Vermögensteuer sei letztlich doch vom Gesetzgeber selbst abgeschafft worden; a. A. Schmidt, wistra 1999, 121 (123 f.). 166 So die Formulierung bei Arndt/Jenzen, NJW 1997, 1678. 163

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

d) Die Entscheidungen zum Erbschaftsteuergesetz Das Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG) ist gleich zwei mal Gegenstand verfassungsgerichtlicher Weitergeltungsanordnungen geworden. aa) BVerfGE 93, 165 In einem engen dogmatischen Zusammenhang zu der soeben vorgestellten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensteuer steht BVerfGE 93, 165 vom 22. Juni 1995. (1) Die Entscheidung Auch in diesem Verfassungsbeschwerdeverfahren ging es um die Bewertung anhand von Einheitswerten für Grundstücke, die bereits den Grund der Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer ausmachte. Das Bundesverfassungsgericht hat § 12 Abs. 1 und 2 ErbStG167 für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar befunden, soweit dieser bei gleichem Steuertarif als Bemessungsgrundlage für Grundbesitz den seit 1964/74 der Wertentwicklung nicht mehr angepassten Einheitswert und für das Vermögen im Übrigen den Gegenwartswert zu Grunde legte. Dabei bezog sich das Gericht auf alle Veranlagungszeiträume seit 1987.168 Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, spätestens bis zum 31. Dezember 1996 eine Neuregelung zu treffen. Bis zum 31. Dezember 1995 wurde eine Weitergeltung des bisherigen Rechts angeordnet. Für das von der Weitergeltungsanordnung nicht umfasste Jahr 1996 wurde ausdrücklich auf die vorläufige Festsetzung gemäß § 165 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AO169 verwiesen.170 § 12 Abs. 1 und 2 ErbStG nahmen bezüglich der Bewertung der einzelnen Vermögenswerte die jeweiligen Vorschriften des Bewertungsgesetzes171 in Bezug. Gemäß § 12 Abs. 1 ErbStG wurde das Kapitalvermögen nach dem ersten Abschnitt des BewG mit den gegenwärtigen Marktpreisen angesetzt (vgl. insbes. § 11 BewG). Dagegen sah § 12 Abs. 2 ErbStG für inländischen Grundbesitz eine Bewertung anhand des Einheitswertes nach dem zweiten Abschnitt des Bewertungsgesetzes vor.172 Diese Einheitswerte wurden – wie im Rahmen der Vermögensteuer bereits erwähnt173 – zum 1. Januar 1964 erstmals festgelegt und zum 1. Januar 1974 erst167

Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz i. d. F. v. 01.02.1991, BGBl. I 1991, 2624. BVerfGE 93, 165 (166). 169 Vgl. dazu oben B.III.1.b)dd) (S. 94). 170 Ebenda. 171 I. d. F. v. 01.02.1992, BGBl. I 1992, 230. 172 Vgl. die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 93, 165 (167 f.). 168

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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mals angewendet. Die grundsätzlich gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 BewG vorgesehene regelmäßige Anpassung der Einheitswerte an die reale Wertentwicklung hat niemals stattgefunden. Statt dessen wurde Grundbesitz pauschal mit 140% des Einheitswertes von 1964 angesetzt.174 Diese unterschiedliche Bewertung von Kapital- und Grundvermögen hat das Bundesverfassungsgericht ebenso wie im Rahmen der Vermögensteuer für unvereinbar mit der Art. 3 Abs. 1 GG befunden. Die unterschiedliche Bewertung habe deutliche Wertverzerrungen und Belastungsungleichheiten zur Folge.175 Die Unvereinbarerklärung begründet das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers infolge von Gleichheitsverstößen.176 Die Weitergeltungsanordnung wird für zurückliegende Kalenderjahre mit den Erfordernissen verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung begründet. Für das damals laufende Kalenderjahr 1995 begründet das Gericht die weitere Anwendbarkeit mit Art. 10 § 3 ErbStRG 1974177. Gemäß dieser Vorschrift war die Geltung bestimmter Vorschriften des Erbschaftsteuergesetzes an die Geltung der Bewertung von Grundstücken auf Basis der Einheitswerte von 1964 gekoppelt: Die Vorschriften des Erbschaftsteuergesetzes zu Bewertung, Steuersätzen, Steuerklassen und Freibeträgen galten danach nur in den Kalenderjahren, in denen Grundstücke auch mit 140% des Einheitswerts von 1964 bewertet wurden.178 Der ausgesprochenen Verpflichtung zur Neuregelung bis zum 31. Dezember 1996179 kam der Gesetzgeber durch das Jahressteuergesetz 1997 vom 20. Dezember 1996 nach.180 (2) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung Der Ausspruch der Unvereinbarerklärung unter Verweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht zu beanstanden.181 173

Dazu C.I.1.c)aa) (S. 169). BVerfGE 93, 165 (168). 175 BVerfGE 93, 165 (176 f.) unter Verweis auf BVerfGE 93, 121 (146), Vermögensteuerentscheidung. 176 BVerfGE 93, 165 (178). 177 BGBl. I 1974, 933. 178 BVerfGE 93, 165 (178); dazu Arndt/Schumacher, DStR 1995, 1813 (1814). 179 BVerfGE 93, 165 (178). 180 BGBl. I 1996, 2049. 181 Vgl. dazu die Ausführungen im Rahmen der Vermögensteuerentscheidung unter C.I.1.c)bb)(1) (S. 171). 174

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Der Verweis auf einen gleichmäßigen Verwaltungsvollzug vermag die ausgesprochene Weitergeltungsanordnung ebenso wie im Rahmen der Vermögensteuerentscheidung jedoch nicht zu rechtfertigen.182 Ebenso steht es um die Begründung mit Art. 10 § 3 ErbStRG 1974. Die Weitergeltungsanordnung kann wegen des verfassungsrechtlich fundierten Nichtigkeitsgrundsatzes nur durch die Verfassung selbst gerechtfertigt werden.183 Der Verweis auf eine einfachgesetzliche Norm ist zur Rechtfertigung dieser Entscheidungsvariante absolut ungeeignet. Fraglich ist, ob die Weitergeltungsanordnung durch die Erfordernisse der verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung gerechtfertigt werden kann. Dazu müssten die Belange des Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung erheblich überwiegen.184 Diese im Budgetrecht des Parlaments und damit im Demokratieprinzip wurzelnden Erfordernisse rechtfertigen bei verfassungswidrigen Steuergesetzen in der Regel eine Weitergeltungsanordnung. Eine Ausnahme ist dann zu machen, wenn die finanziellen Folgen der Entscheidung derart gering sind, dass das Budgetrecht des Parlaments nicht oder nur unerheblich tangiert wird.185 Das Bundesverfassungsgericht führt diese Grundsätze zwar nur für zurückliegende Zeiträume an; an deren Tragfähigkeit auch bezüglich der gegenwärtigen Zeiträume ändert dies jedoch nichts: Auch das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer steht gemäß Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 GG den Ländern zu. Ihr Aufkommen betrug im Haushaltsjahr 1995 3,55 Mrd. DM, rund 1,82 Mrd. EUR.186 Verglichen mit den Gesamteinnahmen der Bundesländer in Höhe von rund 227,38 Mrd. EUR187 ergibt sich ein Anteil der Erbschaftsteuer von 0,8% an diesen Einnahmen. Pro Bundesland ergeben sich Einnahmen von durchschnittlich188 113,75 Mio. EUR. Folge der Nichtigerklärung wäre für das Haushaltsjahr 1995 der Wegfall der Einnahmen aus dieser Steuerart gewesen, zudem drohten wegen der Rückwirkung der Nichtigerklärung gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG in Bezug auf die Haushaltsjahre ab 1987 Erstattungsansprüche und somit ein Ansteigen der Ausgaben.189 Die reguläre Unvereinbarerklärung hätte zur Folge gehabt, dass wegen der evtl. später drohenden Erstattungsansprüche bereits die Planbarkeit der Haus-

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Dazu oben C.I.1.c)bb)(2)(a) (S. 172). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65), B.III.4.b)bb) (S. 129). 184 Zu den Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 185 Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a) (S. 159). 186 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 1996, S. 29. 187 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 188 Vgl. Fn. 145 (S. 173). 189 Zu den abstrakten Folgen der Nichtigerklärung auf das Budgetrecht oben C.I. 1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161). 183

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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halte von 1995 eingeschränkt gewesen wäre. Für die Haushalte ab 1996 drohte zudem wegen der Rückwirkung der gesetzlichen Neuregelung – ab Eröffnung des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ergingen die Festsetzungen der Erbschaftsteuer gemäß § 165 Abs.1 S. 2 Nr. 2, 3 AO vorläufig – und der daraus folgenden Erstattungsansprüche ein relevantes Ansteigen der Ausgaben.190 Zwar besitzt die Erbschaftsteuer somit bei weitem nicht die gleiche finanzielle und damit planerische Relevanz wie die Einkommensteuer, nicht einmal die der Vermögensteuer. Auch hier ist jedoch zu bedenken, dass wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs der Entfall von Einnahmen bzw. das Anwachsen von Ausgaben der Größenordnung bis zu 113,5 Mio. EUR in den Länderhaushalten durchaus erhebliche planerische Konsequenzen hat. Die finanziellen Folgen sind noch nicht so unerheblich, dass die oben genannte Ausnahme einschlägig wäre. Außerdem entspricht der eher geringen Bedeutung die geringere Dauer Weitergeltungsanordnung: Ihre zeitliche Wirksamkeit beschränkt sich – im Gegensatz zu den Entscheidungen zu den Grundfreibeträgen und zur Vermögensteuer – auf das Haushaltsjahr 1995, also auf nur ca. sechs weitere Monate. Angesichts der Anordnung der Wirksamkeit für lediglich sechs weitere Monate überwiegt das Verfassungsgut Budgetrecht gerade noch erheblich die Belange des Art. 3 Abs. 1 GG, auch wenn dies sicherlich ein äußerster Grenzfall ist. Die Weitergeltungsanordnung war somit letztlich gerechtfertigt, bezüglich der oberflächlichen Begründung durch das Bundesverfassungsgericht gilt das Gleiche wie im Rahmen der beiden vorigen Entscheidungen.191 (3) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung Der Gesetzgeber hat innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist eine Neuregelung erlassen. Deswegen hat die Frage der inhaltlichen Reichweite eine geringere Brisanz als bei der Vermögensteuerentscheidung: Dort stellte sich mit Fristablauf die Frage nach der Anwendbarkeit des ganzen Vermögensteuergesetzes. Diese Problematik stellt sich hier mangels erfolglosen Fristablaufs nicht.192 Strittig war jedoch, ob die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und ihre Rechtsfolgen inklusive der Neuregelungsverpflichtung für den Gesetzgeber nur für die Erbschaftsteuer oder auch für die Schenkungsteuer gelten

190 Zu den abstrakten Folgen der regulären Unvereinbarerklärung auf das Budgetrecht oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(cc) (S. 163). 191 Vgl. dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(b) (S. 166), C.I.1.c)bb)(2)(b) (S. 173). 192 Ex ante wurden diese Folgen allerdings theoretisch erörtert, vgl. bspw. Arndt/ Schumacher, DStR 1995, 1813 (1816), die von der Unanwendbarkeit des ErbStG ab dem 01.01.1997 ausgehen.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

sollte. Dabei ging die ganz herrschende Ansicht zu Recht davon aus, dass das ganze Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz von der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und deren Fristenlösung betroffen war.193 Der Wortlaut des Tenors und § 12 Abs. 1 und 2 ErbStG differenzieren nämlich nicht zwischen den beiden Steuerarten.194 Im Übrigen muss in Bezug auf die inhaltliche Reichweite dasselbe gelten wie im Rahmen der Vermögensteuer: Die gesamte Erbschaft- und Schenkungsteuer wurde durch die Verfassungswidrigkeit infiziert.195 (4) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung Die Frage der inhaltlichen Reichweite der Weitergeltungsanordnung wird unmittelbar bei der Frage relevant, ob man sich auf Grundlage der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung wegen Hinterziehung der Erbschaftsteuer strafbar machen kann. Sollte die weitere Untersuchung ergeben, dass die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung strafrechtlich irrelevant ist, wäre die Hinterziehung der Erbschaftsteuer und der Schenkungsteuer ausgeschlossen. bb) BVerfGE 117, 1 Das Bundesverfassungsgericht hatte ein zweites Mal Anlass, sich mit der Verfassungsmäßigkeit des Erbschaftsteuergesetzes zu befassen. Der Bundesfinanzhof hegte in Bezug auf dieses Gesetz verfassungsrechtliche Zweifel und legte in seinem Beschluss vom 22. Mai 2002 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die privilegierte Bewertung und Besteuerung des Betriebsvermögens, des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens, des Grundvermögens und der nichtnotierten Anteile an Kapitalgesellschaften im Verhältnis zu Kapitalvermögen und sonstigen Vermögen – welche mit dem Verkehrswert erfasst und ohne Vergünstigung besteuert wurden – gegen den Gleichheitssatz verstößt.196

193 Flick/Rid/Flockermann/Mittelsteiner/Eckert/Niemann, DStR 1995, 1619; Arndt/ Schumacher, DStR 1995, 1813 (1814 f.); Jebens, BB 1995, 2085; vgl. Krüger/Kalbfleisch/Köhler, DStR 1995, 1452 (1457); Schaumburg, GmbHR 1995, 613 (616); Wittmann, BB 1995, 1933 (1935); a. A. Felix, DStR 1995, 1619 f.; vgl. ebenfalls ders., BB 1995, 2241 (2242). Er geht davon aus, das Urteil beziehe sich nur auf die Erbschaft-, nicht hingegen auf die Schenkungsteuer. 194 So bspw. Schaumburg, GmbHR, 613 (616). 195 Dazu oben C.I.1.c)cc) (S. 175). Entsprechend gilt auch die Argumentation zu Art. 10 § 3 VStRG, nur dass die einschlägige Vorschrift hier Art. 10 § 3 ErbStRG ist, dazu Arndt/Schumacher, DStR 1995, 1813 (1816). 196 BFHE 198, 342; dazu Moench/Albrecht, Erbschaftsteuer, Rn. 14 ff.

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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(1) Die Entscheidung Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seiner Entscheidung vom 7. November 2006 § 19 Abs. 1 ErbStG197 in allen seinen bis zur Entscheidung existierenden Fassungen für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit dieser die Erwerber von Vermögen – das gemäß § 10 Abs. 1 S. 1 Hs. 1, S. 2 ErbStG in Verbindung mit den von § 12 ErbStG in Bezug genommenen Vorschriften des Bewertungsgesetzes198 bewertet wurde – unabhängig von der jeweiligen Vermögensart mit einheitlichen Steuersätzen belastete. Das bisherige Recht wurde bis zur Neuregelung für weiter anwendbar erklärt; die Neuregelung hatte der Gesetzgeber spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu treffen.199 § 19 Abs. 1 ErbStG enthielt die Steuersätze der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass eine gleichmäßige Belastung der Steuerpflichtigen, die dem Grundsatz der Steuergerechtigkeit genügt, davon abhängt, dass für die zu einer Erbschaft gehörenden wirtschaftlichen Einheiten und Wirtschaftsgüter Bemessungsgrundlagen gefunden werden, die deren Werte in ihrer Relation realitätsgerecht abbilden. Dies sei nur dann gewährleistet, wenn sich das Gesetz auf der Bewertungsebene am gemeinen Wert – dem Marktwert200 – als dem maßgeblichen Bewertungsziel orientiere.201 In den weiteren, sich an die Bewertung anschließenden Schritten zur Bestimmung der Steuerbelastung könne der Gesetzgeber auf den zutreffend ermittelten Wert der Bereicherung aufbauen und außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke – bspw. in Form steuerlicher Verschonungsnormen – zielgenau ausgestalten. Aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen sei dagegen die Verfolgung dieser außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungsziele auf der Bewertungsebene. Würde bereits auf der Bewertungsebene auf andere Bewertungsmaßstäbe abgestellt, so würden strukturelle Brüche und Wertungswidersprüche des gesamten Regelungssystems angelegt.202 Diesen Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG genügt das damals geltende Erbschaftsteuerrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht. Die erbschaftsteuerlichen Bewertungsvorschriften würden bei wesentlichen Gruppen von Vermögensgegenständen nicht zu dem gemeinen Wert (Marktwert) angenäherten Steuerwerten führen. Sie seien nicht ausreichend belastungsgleich und folgerichtig ausgestaltet. Diese auf der ersten Ebene der Ermittlung der Bemessungs197

I. d. F. v. 27.02.1997, BGBl. I 1997, 378. I. d. F. v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3794. 199 BVerfGE 117, 1 f. 200 Vgl. § 9 Abs. 1 BewG: „Der gemeine Wert wird durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen wäre.“ 201 BVerfGE 117, 1 (33). 202 BVerfGE 117, 1 (34 f.). 198

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

grundlage angelegten, gegen den Gleichheitssatz verstoßenden Verwerfungen beträfen eine solche Vielzahl von Fällen und seien so schwerwiegend, dass die Anwendung einheitlicher Steuersätze auf alle Erbschafts- und Schenkungserwerber verfassungswidrig sei.203 Die Unvereinbarerklärung wird – wie in den vorigen Entscheidungen auch – mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers204 begründet.205 Die Weitergeltungsanordnung hingegen wird, für die Vergangenheit, mit den Erfordernissen einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitestgehend abgeschlossenen Veranlagung begründet. Die Weitergeltung in der Übergangszeit sei deswegen erforderlich, um einen Zustand der Rechtsunsicherheit, der insbesondere die Regelung der lebzeitigen Vermögensnachfolge während dieser Zeit erschweren könnte, zu vermeiden.206 Der Neuregelungsverpflichtung kam der Gesetzgeber nach erheblichen Schwierigkeiten im Gesetzgebungsprozess in letzter Minute207 mit dem Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24. Dezember 2008208 nach. (2) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung Die Begründung der Unvereinbarerklärung überzeugt auch hier, zumal sich das Bundesverfassungsgericht damit auseinandersetzt, ob im konkreten Fall überhaupt eine Gestaltungsfreiheit gegeben war.209 Dem Gesetzgeber bleibe noch hinreichende Gestaltungsfreiheit, um die Unvereinbarerklärung zu rechtfertigen. Zwar sei der Gesetzgeber infolge der verfassungsrechtlichen Vorgaben gehalten, sich auf der Bewertungsebene einheitlich am gemeinen Wert als maßgeblichem Bewertungsziel zu orientieren. In der Wahl der Wertermittlungsmethoden sei er jedoch ebenso frei wie darin, in einem zweiten Schritt mittels Verschonungsregelungen den Erwerb bestimmter Vermögensgegenstände zu begünstigen.210 Die Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung mit den Erfordernissen eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs ist aus den gleichen Gründen wie im Rahmen der Vermögensteuerentscheidung abzulehnen.211 203 BVerfGE 117, 1 (37 f.), zu den einzelnen Gruppen von Vermögensgegenständen detaillierte Nachweise auf S. 38 ff. 204 Dazu oben B.III.3.a) (S. 99). 205 BVerfGE 117, 1 (69). 206 BVerfGE 117, 1 (70). 207 Dazu Moench/Albrecht, Erbschaftsteuer, Rn. 19. 208 ErbStRG v. 24.12.2008, BGBl. I 2008, 3018. 209 Dazu oben B.III.3.a)bb) (S. 100), B.III.4.a)bb)(1)(b)(bb) (S. 110). 210 BVerfGE 117 1, 69. 211 Dazu oben C.I.1.c)bb)(2)(a) (S. 172).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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In Betracht kommen auch hier die Erfordernisse der geordneten Finanz- und Haushaltsplanung.212 In der vorzunehmenden Abwägung müsste das Budgetrecht die Belange des Art. 3 Abs. 1 GG erheblich überwiegen.213 Bereits auf abstrakter Ebene bedingen diese im Budgetrecht des Parlaments und damit im Demokratieprinzip wurzelnden Belange, dass bei verfassungswidrigen Steuergesetzen in der Regel eine Weitergeltungsanordnung gerechtfertigt ist. Dies ist nur ausnahmsweise dann nicht der Fall, wenn die finanziellen Folgen der Entscheidung so gering sind, dass das Budgetrecht nicht oder nur unerheblich tangiert sind.214 Diese Ausnahme ist jedoch auch hier nicht einschlägig: Die Bundesländer215 generierten im Haushaltsjahr 2006 insgesamt Einnahmen i. H. v. 3,76 Mrd. EUR aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer.216 Dem standen Gesamteinnahmen der Bundesländer in Höhe von 250,14 Mrd. EUR gegenüber.217 Die Einnahmen aus dieser Steuerart machten somit rund 1,5% der Gesamteinnahmen der Länder aus. Jedem Bundesland standen durchschnittlich218 235 Mio. EUR aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu. Im Haushaltsjahr 2007 waren es insgesamt Einnahmen i. H. v. 4,20 Mrd. EUR.219 denen Gesamteinnahmen der Bundesländer in Höhe von 273,12 Mrd. EUR gegenüber stehen.220 Die Einnahmen aus dieser Steuerart machten somit auch im Haushaltsjahr 2007 rund 1,5% der Gesamteinnahmen der Länder aus. Jedem Bundesland standen durchschnittlich 262,5 Mio. EUR aus der Erbschaftund Schenkungsteuer zu. Im Haushaltsjahr 2008 standen Einnahmen i. H. v. 4,77 Mrd. EUR aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer221 Gesamteinnahmen von 276,17 Mrd. EUR222 gegenüber und machten damit 1,2% der Gesamteinnahmen der Länder aus. Durchschnittlich standen jedem Bundesland 298,13 Mio. EUR aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu.

212 Kritisch hierzu Feick/Henn, DStR 2008, 1905 (1908 f.). Sie äußern sich allerdings zur Frage der Anwendbarkeit nach Fristablauf. Ihre Betrachtungen bleiben auf einer rein finanziellen Ebene stehen, ohne die Auswirkungen auf die Planung und damit das Budgetrecht der Parlamente zu bedenken. 213 Dazu oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 214 Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a) (S. 159). 215 Diesen steht das Aufkommen der Erbschaftsteuer gemäß Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 GG zu. 216 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2006, S. 30. 217 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 218 Vgl. Fn. 145 (S. 173). 219 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2007, S. 31. 220 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 221 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 31. 222 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Auch hier schlagen die in den beiden vorigen Entscheidungen und abstrakt223 beschriebenen Folgen zu Buche. Die finanzielle Dimension von bis zu 300 Mio. EUR pro Haushaltsjahr und Bundesland erweist sich auch hier insbesondere wegen des Grundsatzes des Haushaltsausgleichs als relevant. Allein in Bezug auf die zum Entscheidungszeitraum gerade laufenden bzw. bis zur Neuregelung betroffenen Haushaltsjahre wäre ein Volumen von 12,73 Mrd. EUR betroffen. Es stellt sich allerdings die Frage, warum ein – im Vergleich mit den vorigen Entscheidungen – relativ langer Zeitraum von über zwei Jahren von der Weitergeltungsanordnung betroffen ist und damit in die Abwägung einzubeziehen ist.224 Das wiederum hängt mit der Komplexität der Regelungsmaterie und dem damit verbundenen Aufwand für den Gesetzgeber zusammen. Anders als in der ersten Erbschaftsteuerentscheidung war hier nicht nur die Bewertung von Grundbesitz Stein des Anstoßes, sondern vielmehr die ungleiche Bewertung insgesamt. Damit hatte der Gesetzgeber die Bewertung als Ganzes neu zu regeln. Der Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahren ist daher zu rechtfertigen. Letztlich ist ein erhebliches Überwiegen des Budgetrechts der Länderparlamente gegenüber den Belangen des Art. 3 Abs. 1 GG für den genannten Zeitraum gegeben. Dieses Ergebnis lässt sich zusätzlich absichern durch die vom Bundesverfassungsgericht genannten Aspekte der Rechtssicherheit, die – insbesondere in Bezug auf die lebzeitige Vermögensnachfolge – hier nach einer verlässlichen Regelung der Materie in der Übergangszeit verlangen. (3) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung Anlässlich der Schwierigkeiten der Koalition im Gesetzgebungsprozess bestand die Befürchtung, dass man sich nicht innerhalb der Frist auf eine Neuregelung einigen könne. Das gab einen konkreten Anlass, die Folgen des Ausbleibens einer Neuregelung innerhalb der Frist zu diskutieren. Dabei kam der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages zum Ergebnis, dass das bisher geltende Recht auch nach Fristablauf weiterhin anwendbar sein sollte.225 Eine solche Betrachtung verbietet sich jedoch wegen des Gebots des effektiven Rechtsschutzes, wegen des verletzten Grundrechts und des Rechtstaatsprinzips. Folge der Untätigkeit des Gesetzgebers innerhalb der Frist ist die Unanwendbarkeit des Gesetzes mit Fristablauf.226 Da sämtliche Steuersätze des § 19 Abs. 1 ErbStG für unvereinbar erklärt wurde, war letztlich – wie im Rahmen der Vermögensteuer227 – das gesamte Erbschaftsteuergesetz von der Verfassungswidrigkeit infiziert. 223

Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a) (S. 159). Dazu oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 225 Süddeutsche Zeitung vom 16.10.2008, S. 6; dies ablehnend bspw. Feick/Henn, DStR 2008, 1905 (1909); Moench/Albrecht, Erbschaftsteuer, Rn. 17 Fn. 23. 226 Dazu oben B.III.5. (S. 137). 227 Dazu oben C.I.1.c)cc) (S. 175). 224

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

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(4) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung Daraus ergibt sich, dass auch die Auswirkungen der strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung in dieser Entscheidung selten eindeutig sind. Ergäbe die weitere Untersuchung die strafrechtliche Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung, könnte ohne Steuersätze – in einer strafrechtlichen Betrachtung – keine Steuer festgesetzt werden. Damit entfiele ab der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Strafbarkeit der Hinterziehung der Erbschaftsteuer gemäß § 370 AO. e) Sonstige steuerrechtliche Entscheidungen mit strafrechtlicher Relevanz Die soeben dargestellten Entscheidungen sind diejenigen mit der höchsten strafrechtlichen Relevanz. Diese liegt zum einen in ihrer Behandlung durch die strafrechtliche Rechtsprechung und Literatur, zum anderen darin begründet, dass bei einer strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung bezüglich einer ganzen Steuerart entfiele.228 Daneben gibt es einige weitere Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung steuerrechtlicher Normen. Diesen kommt jedoch aus verschiedenen Gründen nicht dieselbe Relevanz zu.229 Auf eine eingehende Darstellung wird daher verzichtet. 228 Eine gewisse Sonderstellung nimmt diesbezüglich die Appellentscheidung BVerfGE 84, 239 (Besteuerung von Zinseinkünften) ein. Sie wurde hier nur deshalb näher besprochen, weil sie in der strafrechtlichen Literatur ausführlich erörtert und dabei verfassungsprozessrechtlich fehlgedeutet wurde. 229 In BVerfG NJW 1999, 557 wurden mit den Vorschriften, die den Abzug von Kinderbetreuungskosten wegen Erwerbstätigkeit (§ 33c Abs. 1 bis 4 EStG) und den Haushaltsfreibetrag (§ 32 Abs. 3 und 4 EStG 1984, später § 32 Abs. 7 EStG) regelten, begünstigende Steuernormen für mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG unvereinbar, aber weiterhin anwendbar erklärt. Eine strafrechtliche Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung wäre hier negativ für die Betroffenen und kommt deshalb nicht in Betracht. In BVerfGE 105, 73 wurde § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Abs. 2 S. 1 EStG für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt. Dabei wurde dessen weitere Anwendbarkeit für eine Übergangszeit angeordnet. Die Ungleichheit resultierte aus der unterschiedlichen einkommensteuerrechtlichen Behandlung der Versorgungsbezüge von Beamten, Soldaten und Richtern, die die Vorschrift regelte, und Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Die geringe strafrechtliche Relevanz kommt hier bereits daher, dass das Einkommen vom Staat bezogen wurde, der Spielraum für Hinterziehungshandlungen demnach gering ist. BVerfGE 120, 125 betraf die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Beiträgen für die private Kranken- und Pflegeversicherung Selbstständiger. Insofern wurde u. a. § 10 Abs. 3 EStG wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf die Steuerfreiheit des Existenzminiums (hier abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 6 Abs. 1 GG) für mit der Verfassung unvereinbar, aber weiter anwendbar erklärt. Diese Vorschrift regelte die Höchstbeträge der Geltendmachung von Sonderausgaben – wozu die genannten Beiträge zählten – und damit die Einschränkung einer begünstigen-

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

2. BVerfGE 115, 276 (Sportwettenentscheidung) Die strafrechtliche Bedeutung der bisher besprochenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beschränkte sich auf das Steuerstrafrecht. Doch auch darüber hinaus kann die hier besprochene Problematik Bedeutung erlangen. Beispiel hierfür ist die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006. a) Die Entscheidung Das Bundesverfassungsgericht befasste sich in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren mit dem Sportwettenmonopol in Bayern. Es erklärte das Staatslotteriegesetz Bayerns230 (Staatslotteriegesetz) – wonach Sportwetten nur vom Freistaat Bayern veranstaltet und nur derartige Wetten gewerblich vermittelt werden durften, ohne dass das Monopol konsequent am Ziel der Bekämpfung der Suchtgefahr ausgerichtet war – für mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Gesetzgeber hatte die Materie bis zum 31. Dezember 2007 neu zu regeln. Bis zu der Neuregelung durfte das Staatslotteriegesetz – darauf wird noch zurückzukommen sein – nach „Maßgabe der Gründe“ weiter angewendet werden.231 Ausgangspunkt der Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts ist das Regelungssystem, zu dem die Strafnorm des § 284 StGB gehört: Nach dieser Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, wer ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält oder Einrichtungen hierzu bereitstellt. Sportwetten sind dabei Glücksspiele im Sinne des § 284 StGB.232 Das Veranstalten und Vermitteln von Sportwetten sei durch das bayrische Staatslotteriegesetz ausschließlich dem Staat oder von ihm beherrschten Unternehmen erlaubt gewesen.233 Da es für das Verständnis der Problematik und die spätere strafrechtliche Argumentation von Bedeutung ist, sei das einschlägige Landesrecht kurz darge-

den Norm. Der Verfassungsverstoß betraf hier eine konkret begrenzbare Vorschrift. Eine strafrechtliche Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung hätte jedenfalls nicht die strafrechtliche Unanwendbarkeit einer ganzen Steuerart zur Folge. Eine verbleibende strafrechtliche Relevanz – etwa auf Strafzumessungsebene bezüglich der Höhe der hinterzogenen Steuern – ist jedoch nicht ausgeschlossen. 230 BayGVBl. 1999, 226. 231 BVerfGE 115, 276 (277). 232 So die ganz herrschende Meinung: BGH NJW 2007, 3078 f. (inzident); BGHSt 51, 165 (171 f.); BGH NStZ 2003, 372 (373); Arendts, ZfWG 2007, 457; Fischer, § 284 Rn. 10; Hohmann, in: MüKo-StGB, § 284 Rn. 6; Hecker/Schmitt, ZfWG 2007, 364 (365); dies., ZfWG 2006, 59 (60); Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 9; Hofmann/Mosbacher, NStZ 2006, 249 (251); Janz, NJW 2003, 1694 (1696); Krehl, in: LK, § 284 Rn. 5; Kretschmer, ZfWG 2006, 59 (60); Lackner/Kühl, § 284 Rn. 6; Steegmann, ZfWG 2007, 410 (413). 233 BVerfGE 115, 276 (278 f.).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

189

stellt: Gemäß Art. 2 Abs. 1 Staatslotteriegesetz veranstaltete der Freistaat Bayern Glücksspiele in Form von Lotterien und Wetten. Durchgeführt wurden diese von der Staatlichen Lotterieverwaltung als einer staatlichen Einrichtung ohne eigene Rechtspersönlichkeit im Geschäftsbereich des Ministeriums der Finanzen (Art. 2 Abs. 4). Gemäß Art. 2 Abs. 5 Staatslotteriegesetz konnte die Staatliche Lotterieverwaltung mit Zustimmung des Ministeriums der Finanzen die Durchführung von Glücksspielen auf eine juristische Person des Privatrechts übertragen, allerdings nur soweit der Freistaat Bayern deren alleiniger Gesellschafter war und die juristische Person der Kontrolle des Ministeriums unterlag. Das Staatslotteriegesetz Bayerns enthielt somit kein explizites Verbot der privaten Veranstaltung; nach dessen Regelungssystem war privaten Wettanbietern jedoch der Zugang zum Markt verwehrt. Das Staatslotteriegesetz Bayerns enthielt somit mittelbar ein generelles Verbot gewerblicher Sportwettenangebote durch Private. Das entsprach auch den Regelungen des Lotteriestaatsvertrags234. Dieser enthielt – neben einigen anderen Regeln bezüglich der Veranstaltung, Durchführung und gewerblichen Vermittlung von Glücksspielen – die Vorschrift, dass die Länder ein ausreichendes Glücksspielangebot sicherzustellen hatten (§ 5 Abs. 1). Diese Aufgabe konnten sie auf landesgesetzlicher Grundlage selbst, durch juristische Personen des öffentlichen Rechts oder durch privatrechtliche Gesellschaften mit maßgeblicher öffentlicher Beteiligung wahrnehmen (§ 5 Abs. 2). Die Lotterieunternehmen der Länder boten die Sportwette ODDSET mit festgelegten Gewinnquoten an und vertrieben sie über Lottoannahmestellen und das Internet.235 Gemäß § 5 Abs. 4 war die Erlaubniserteilung an private Sportwettenveranstalter mittelbar ausgeschlossen.236 Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass die Vorschriften des Lotteriestaatsvertrags wegen des bayerischen Ratifizierungsgesetzes237 in Bayern unmittelbar geltendes Recht waren.238 Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung zunächst fest, dass der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG eröffnet ist: Sowohl das Veranstalten als auch das Vermitteln von Sportwetten seien berufliche Tätigkeiten und stünden somit unter dem Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG.239 Dieser Qualifizierung stünde – anders als in den angegriffenen Gerichtsentscheidungen vertreten – insbesondere nicht entgegen, dass die Tätigkeiten verboten240 bzw. dem Staat vorbehalten seien241. 234

BayGVBl. 2004, 230. Dazu BVerfGE 115, 276 (277 f.). 236 Nach dieser Vorschrift durfte nur die Veranstaltung von Lotterien Privaten erlaubt werden. 237 Gesetz zur Ausführung des Staatsvertrags zum Lotteriewesen in Deutschland v. 23.11.2004, BayGVBl. 2004, 442. 238 BVerfGE 115, 276 (313). 239 BVerfGE 115, 276 (300). 240 BVerfGE 115, 276 (300 f.). 241 BVerfGE 115, 276 (301 f.). 235

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Das Staatslotteriegesetz sehe vor dem Hintergrund des Verbots des § 284 StGB keine Möglichkeit der Erteilung einer Erlaubnis für gewerbliche Wettangebote durch private Wettunternehmen vor. Darüber hinaus sei nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung innerhalb Bayerns das Anbieten von Wetten verboten gewesen, die nicht vom Freistaat Bayern veranstaltet wurden. Das somit bestehende staatliche Wettmonopol stelle einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff dar.242 Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung allerdings sieht das Gericht nicht als gegeben an.243 Zwar stelle die Bekämpfung der Spiel und Wettsucht – Hauptzweck der Errichtung des staatlichen Wettmonopols – ein überragend wichtiges Gemeinwohlziel dar.244 Der Gesetzgeber hätte durchaus auch bei Sportwetten mit festen Gewinnquoten mit einem nicht unerheblichen Suchtpotential rechnen und dies – insbesondere auch vor dem Hintergrund des Jugendschutzes – zum Anlass zur Prävention nehmen dürfen.245 Weitere legitime Ziele – die im Einzelnen aber nur eingeschränkt einschlägig waren – seien der Schutz der Spieler vor betrügerischen Machenschaften der Wettanbieter, der sonstige Verbraucherschutz (insbesondere vor der Gefahr irreführender Werbung), die Abwehr von Gefahren aus mit dem Wetten verbundener Folge- und Begleitkriminalität 246 sowie die Verhinderung der Ausnutzung des Spieltriebs247. Fiskalische Interessen des Staates hingegen würden zur Rechtfertigung des Wettmonopols ausscheiden; die Abschöpfung von Mitteln sei nur als Weg zur Suchtbekämpfung und als Konsequenz aus einem öffentlichen Monopolsystem gerechtfertigt, nicht dagegen als selbstständiges Ziel.248 Die Errichtung des staatlichen Wettmonopols stellt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch ein geeignetes Mittel dar, um die mit dem Wetten verbundenen Gefahren zu bekämpfen. Ausreichend sei hier nämlich die Möglichkeit der Zweckerreichung, wobei dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Prognosevorrang zukomme.249 Von der Erforderlichkeit des Wettmonopols hätte der Gesetzgeber – innerhalb des ihm auch bei dieser Frage zustehenden Beurteilungs- und Prognosespielraumes – ausgehen dürfen. Angesichts des weiten Beurteilungsspielraumes hätte der Gesetzgeber annehmen dürfen, dass die Suchtgefahren mit Hilfe des Wettmonopols und dem damit verbundenen staatlich verant-

242 243 244 245 246 247 248 249

Ebenda. BVerfGE 115, 276 (304 ff.). BVerfGE 115, 276 (304 f.). BVerfGE 115, 276 (305). BVerfGE 115, 276 (306 f.). BVerfGE 115, 276 (308). BVerfGE 115, 276 (307). BVerfGE 115, 276 (308).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

191

wortetem Wettangebot effektiver beherrscht werden könne als im Wege der alternativen Kontrolle privater Wettanbieter.250 Das Gericht verneint jedoch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne: Das in Bayern errichtete Wettmonopol stelle in seiner gesetzlichen und tatsächlichen Ausgestaltung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsfreiheit dar.251 Der strafbewehrte Ausschluss privater Wettanbieter sei den betroffenen Bürgern nur dann zumutbar, wenn das staatliche Wettmonopol in seiner konkreten Ausgestaltung der Vermeidung und Abwehr von Spielsucht und problematischem Spielverhalten diene. Das staatliche Sportwettenangebot ODDSET sei jedoch nicht konsequent am Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und der Bekämpfung der Wettsucht ausgerichtet.252 Das Staatslotteriegesetz enthalte keine diesbezüglichen und hinreichenden Regelungen, so dass es sich nicht um ein Defizit im Vollzug einfachen Rechts handele, sondern um ein Regelungsdefizit.253. Die rechtliche Ausgestaltung des Wettmonopols gewährleiste nicht hinreichend, dass das staatliche Wettangebot konsequent in den Dienst einer aktiven Suchtbekämpfung und der Begrenzung der Wettleidenschaft gestellt ist und ein Konflikt mit den fiskalischen Interessen des Staates nicht zu Gunsten dieser ausgeht.254 Dieses Regelungsdefizit herrsche auch im – in Bayern unmittelbar anwendbaren – Lotteriestaatsvertrag vor.255 Dieser Rechtslage entspreche auch die tatsächliche Lage: Das Sportwettenangebot durch den Freistaat Bayern sei nicht an der Bekämpfung von Wettsucht und problematischem Spielverhalten ausgerichtet, sondern verfolge vielmehr das Anliegen einer konsequenten Vermarktung – sowohl was den Vertrieb als auch die Präsentation des Angebots anging – und damit eindeutig fiskalische Zwecke.256 Die gleiche Unverhältnismäßigkeit bestehe auch bei dem Ausschluss der Vermittlung anderer als vom Freistaat Bayern veranstalteter Wetten.257 Die Unvereinbarerklärung begründet das Gericht mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber könne sowohl eine konsequente Ausgestaltung des Wettmonopols an der Suchtbekämpfung als auch eine gesetzlich normierte und kontrollierte Zulassung privater Wettunternehmen vornehmen.258

250 251 252 253 254 255 256 257 258

BVerfGE 115, 276 (308 f.). BVerfGE 115, 276 (309 ff.). BVerfGE 115, 276 (309 f.). BVerfGE 115, 276 (310 ff.). BVerfGE 115, 276 (312). BVerfGE 115, 276 (312 f.). BVerfGE 115, 276 (313 ff.). BVerfGE 115, 276 (316). BVerfGE 115, 276 (317).

192

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die Weitergeltungsanordnung bis zum 31. Dezember 2007 begründet das Gericht überhaupt nicht. Es führt allerdings aus, dass die bisherige Rechtslage nur mit der Maßgabe anwendbar ist, dass der Freistaat Bayern unverzüglich ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft einerseits und der tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits herzustellen hat259 (im Folgenden „Maßgabevorbehalt“). Das Gericht äußert sich auch zur Reichweite der Weitergeltungsanordnung und dabei – anders als in allen anderen Entscheidungen – auch zur Frage der Strafbarkeit. Das gewerbliche Veranstalten von Wetten durch private Wettunternehmen und die Vermittlung von Wetten, die nicht vom Freistaat Bayern veranstaltet werden, dürfe weiterhin als verboten angesehen werden und ordnungsrechtlich unterbunden werden.260 Ob allerdings in der Übergangszeit eine Strafbarkeit gemäß § 284 StGB gegeben sei, unterliege der Entscheidung der Strafgerichte.261 Den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind die Bundesländer mit dem Glücksspielstaatsvertrag zum 1. Januar 2008262 nachgekommen. Dabei haben sie sich für die Aufrechterhaltung des Monopols unter Implementierung von Vorkehrungen zur Spiel- und Wettsuchtverhinderung entschieden. Der Europäische Gerichtshof hat auch dieses Monopol aus ähnlichen Gründen wie das Bundesverfassungsgericht am 8. September 2010 verworfen.263 b) Verfassungsprozessrechtliche Würdigung Bereits die Begründung der Unvereinbarerklärung vermag aus ähnlichen Gründen wie bei der Entscheidung zu den Grundfreibeträgen264 nicht zu überzeugen: Das Argument der Gestaltungsfreiheit ist Fehl am Platze. Es wird auch hier überhaupt nicht deutlich, wo der Unterschied zum Normalfall des Verstoßes gegen ein Freiheitsgrundrecht liegen soll, dem – wegen des Nichtigkeitsgrundsatzes265 – mit der Nichtigerklärung zu begegnen ist. Der Gesetzgeber hat bei der Wahrnehmung seiner Gesetzgebungsbefugnis immer mehrere Möglichkeiten, den Verfassungsverstoß zu beseitigen.266 Es müssen über diesen Normalfall hinaus Gründe vorliegen, die in Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung die Unvereinbarerklärung rechtfertigen.

259

BVerfGE 115, 276 (319). Ebenda. 261 Ebenda. 262 Vom 30.01.2007, BayGVBl. 2007, 906. 263 EuGH NVwZ 2010, 1409; dazu Fischer, § 284 Rn. 2b; Lackner/Kühl, § 284 Rn. 6. 264 Dazu oben C.I.1.b)bb)(1) (S. 158). 265 Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). 266 Ähnlich die Kritik der Entscheidung bei Pestalozza, NJW 2006, 1711 (1713). 260

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

193

Die Zulässigkeit der Weitergeltungsanordnung und damit der Unvereinbarerklärung könnte sich aber aus dem Rechtsfolgenargument ergeben. Dazu müsste das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut in der Abwägung das die Normvernichtung fordernde erheblich überwiegen.267 Dabei müssen die Konsequenzen der Unvereinbar- bzw. Nichtigerklärung betrachtet werden. Eine solche Entscheidung würde das Staatslotteriegesetz und das Ratifizierungsgesetz zum Lotteriestaatsvertrag eliminieren bzw. zumindest unanwendbar machen. Die daraus resultierenden Folgen hängen wiederum davon ab, wie der Tatbestand des § 284 StGB auszulegen ist. Nach einer Literaturauffassung ist § 284 StGB nicht anwendbar, wenn – wie im Falle einer Unvereinbaroder Nichtigerklärung – kein ausgestaltendes Landesrecht vorliegt [aa)]. Wendet man dagegen schlicht den Wortlaut des § 284 StGB an, ist die Norm auch in diesem Fall anwendbar [bb)]. Daraus ergeben sich für die Abwägung unterschiedliche Ausgangslagen: aa) Variante 1: § 284 StGB setzt „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis nach Landesrecht voraus Wie bereits angedeutet geht eine Literaturansicht davon aus, dass § 284 StGB verfassungskonform ausgelegt werden muss. Danach ist die „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis nach dem einschlägigen Verwaltungsrecht Tatbestandsvoraussetzung des § 284 StGB.268 Damit besteht eine Strafbarkeit nur dann, wenn ein einschlägiges Landesverwaltungsrecht – dem die Erforderlichkeit einer Erlaubnis zu entnehmen ist – überhaupt existiert. In Bayern war zwar nicht die Erforderlichkeit einer Erlaubnis geregelt – dort folgte aus dem Staatslotteriegesetz und dem Lotteriestaatsvertrag mittelbar vielmehr ein generelles Verbot für private Veranstalter.269 Dies geht jedoch noch über die Anordnung eines bloßen Genehmigungsvorbehalts hinaus. Da § 284 StGB nach der hier dargestellten Auffassung die Aufgabe hat, die Entscheidung des Landesgesetzgebers hinsichtlich der Zulassung Privater abzusichern270, ist bei einem generellen landesrechtlichen Verbot die „Erforderlichkeit“ i. S. d. § 284 StGB erst recht gegeben.

267 Zu den Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 268 Feldmann, Strafbarkeit, S. 193 m.w. N., S. 216; Horn, JZ 2006, 789 (793); Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 39, 67 f.; Wrage, NStZ 2001, 256 (257). Dazu ferner ausführlich unten C.II.2.c)bb)(2)(c) (S. 307), C.II.2.d)dd)(2) (S. 314). 269 Dazu oben S. 188. 270 Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 39; dazu noch unten C.II.2.d)dd)(2)(b) (S. 315).

194

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(1) Folge: Art. 12 Abs. 1 GG gebietet Normvernichtung Folgt man dieser Literaturansicht, so entfiele im Falle einer Nichtig- bzw. Unvereinbarerklärung mit dem Staatslotteriegesetz die „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis und damit die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB. Dies liefe auf eine generelle Erlaubnis der Veranstaltung von Sportwetten hinaus. Hier hätten Unvereinbar- und Nichtigerklärung in Bezug auf die Veranstaltung von Sportwetten die gleichen Konsequenzen – die Betroffenen dürften Sportwetten ohne Genehmigung betreiben.271 Die generelle Erlaubnis würde den Belangen der betroffenen privaten Veranstalter aus Art. 12 Abs. 1 GG abhelfen; damit spricht in diesem Fall Art. 12 Abs. 1 GG für die Normvernichtung. (2) Forderung des Normerhalts durch das Budgetrecht des Parlaments? Es ist davon auszugehen, dass mit der Öffnung des Wettmarktes für Private der Großteil der Einnahmen aus der Veranstaltung von Sportwetten entfiele. Auch hier könnte somit das Budgetrecht272 die Normerhaltung fordern. Dagegen spricht auch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt hat, dass fiskalische Interessen das Sportwettenmonopol nicht rechtfertigen können. Die Erfordernisse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und damit das Budgetrecht des Parlaments sprechen trotz dieses Umstands grundsätzlich gegen den plötzlichen Wegfall bereits verplanter Einnahmen. Im Rahmen der Abwägung sind die Grundsätze entsprechend anzuwenden, die für die Weitergeltungsanordnung bei Steuernormen entwickelt wurden: Weitergeltungsanordnungen können danach umso eher gerechtfertigt werden, je größer die finanzielle Relevanz einer Norm und damit die Betroffenheit des Budgetrechts ist. Eine Rechtfertigung scheidet dagegen aus, wenn die finanzielle Bedeutung einer Norm derart gering ist, dass das Budgetrecht nicht oder nur unerheblich tangiert ist.273 Die Bundesländer generierten aus der Veranstaltung von Sportwetten im Haushaltsjahr 2006 insgesamt 122,3 Mio. EUR, 2007 nur noch 97,3 Mio. EUR.274 271 Im Fall der Unvereinbarerklärung ergibt sich dies aus der Anwendungssperre bezüglich des Sportwettenrechts. 272 Zu diesem und seiner verfassungsrechtlichen Herleitung oben C.I.1.b)bb)(2)(a) (S. 159). 273 Dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(dd) (S. 165). 274 Becker, Stellungnahme, S. 24. Diese Summen setzen sich zusammen aus Einnahmen aus der Lotterie- und Sportwettensteuer und sonstigen Abgaben, die die 16 Landeslotteriegesellschaften an die Länder abführten. Zu diesen Abgaben gehörten insbesondere Konzessions- und Glücksspielabgaben sowie erwirtschaftete Reinerträge und Überschüsse der Landeslotteriegesellschaften, dazu Becker, Stellungnahme, S. 12. Strenggenommen dürften die Einnahmen aus der Lotterie- und Sportwettensteuer – die jeweils knapp die Hälfte der o. g. Einnahmen ausmachten – hier gar nicht eingestellt werden, da der Staat diese Steuer ja nach Aufgabe des Monopols auch von Privaten

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

195

Diesen Summen stehen Gesamteinnahmen der Bundesländer von 250,14 Mrd. EUR 2006 und 273,12 Mrd. EUR 2007 gegenüber.275 Die Einnahmen aus den Sportwetten machten demnach gerade einmal rund 0,05% (2006) bzw. rund 0,04% (2007) der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus. Diese Einnahmen sind für die Landeshaushalte somit – auch im Vergleich mit den oben untersuchten steuerrechtlichen Entscheidungen276 – derart unerheblich, dass selbst ein Entfall sämtlicher Einnahmen planerisch zu verkraften wäre. Die Erfordernisse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und damit das Budgetrecht der Länderparlamente können die Weitergeltungsanordnung nicht rechtfertigen. (3) Forderung des Normerhalts durch die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG? Für die Normerhaltung könnten die Belange der Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht und damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG sprechen: Für das Bundesverfassungsgericht steht fest, dass nach dem Stand der Forschung Sportwetten zu krankhaftem Suchtverhalten führen können. Der Gesetzgeber habe dabei mit einem nicht unerheblichen Suchtpotential rechnen dürfen.277 Das Bundesverfassungsgericht erachtet ein staatliches Sportwettenmonopol insofern als ein geeignetes Mittel zur Suchtprävention.278 Als Alternative hierzu sieht es allenfalls die Zulassung Privater unter gleichzeitiger Normierung von Genehmigungsvorbehalten und behördlicher Kontrolle.279 Durch eine Nichtig- oder Unvereinbarerklärung wären jedoch sämtliche privaten Anbieter ohne jede Reglementierung und Kontrollmöglichkeit des Staates zur Veranstaltung von Sportwetten zugelassen. Dadurch wären suchtgefährdete Personen einem reißerischen, allein auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Marktumfeld ausgeliefert. Dieses würde voraussichtlich keinerlei Rücksicht auf etwaige Gesundheitsgefährdungen nehmen. Wegen Fehlens jeglicher Kontrollmöglichkeit ist Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG derart schwer betroffen, dass seine Belange die des Art. 12 Abs. 1 GG erheblich überwiegen. eingenommen hätte. Ohne Steuereinnahmen würden sich die in die Abwägung einzubeziehenden Einnahmen auf 63,2 Mio. EUR 2006 und 49,6 Mio. EUR 2007 reduzieren, vgl. Becker, Stellungnahme, S. 24. Da an dieser Stelle aber Prognosen über die zu erwartenden Steuereinnahmen im Falle des Entfallens des Monopols hätten angestellt werden müssen – was den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde – wurden die Steuereinnahmen mit in die Betrachtung einbezogen. Der hier vorausgesetzte Komplettentfall sämtlicher Steuereinnahmen ist demgemäß als – zugegebenermaßen unrealistisches – „Worst-case-Szenario“ zu verstehen. Selbst danach sind die zu erwartenden Verluste gemessen an den Gesamteinnahmen der Bundesländer eher marginal, vgl. oben. 275 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 276 Dazu oben C.I.1.b) (S. 153). 277 BVerfGE 115, 276 (304 f.). 278 BVerfGE 115, 276 (308). 279 BVerfGE 115, 276 (309).

196

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die Weitergeltungsanordnung wäre – wenn man davon ausgeht, dass § 284 StGB die „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis voraussetzt – gerechtfertigt. bb) Variante 2: § 284 StGB setzt keine „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis voraus Wendet man § 284 StGB dem Wortlaut nach an, so reicht ein Handeln „ohne behördliche Erlaubnis“ aus. Mit der Nichtig- oder Unvereinbarerklärung des Landesrechts entfiele jede Erlaubnismöglichkeit – auch die der staatlichen Veranstaltung.280 Damit bestünde nach der Unvereinbar- oder Nichtigerklärung wegen § 284 StGB ein generelles Verbot von Sportwetten. Das wäre für die Ausübung der Berufsfreiheit der privaten Veranstalter nicht vorteilhafter als das staatliche Monopol – in beiden Fällen dürften sie keine Sportwetten veranstalten. Die Berufsfreiheit fordert nach diesem Verständnis nicht die Vernichtung des Landesrechts. Zwar könnte man nun auf den Gedanken kommen, der Verfassungsverstoß könne durch eine Nichtigerklärung auch des § 284 StGB – soweit er Sportwetten betrifft – beseitigt werden.281 Mit dessen Beseitigung wäre wiederum eine generelle Erlaubnis von Sportwetten verbunden; in diesem Falle wäre auch den Belangen des Art. 12 Abs. 1 GG abgeholfen. Deswegen könnte Art. 12 Abs. 1 GG die Vernichtung des § 284 StGB fordern. Das Bundesverfassungsgericht lokalisiert das verfassungsrechtliche Regelungsdefizit und damit die Verfassungswidrigkeit allerdings ausdrücklich nicht in § 284 StGB, sondern allein im Staatslotteriegesetz.282 Eine Unvereinbar- oder Nichtigerklärung des § 284 StGB kommt somit gar nicht erst in Betracht. Diese Verortung des Verfassungsverstoßes ist inhaltlich auch nicht zu beanstanden. Das verdeutlicht eine kompetenzielle Betrachtung der Materie: Der Bundesgesetzgeber hat mit dem Tatbestandsmerkmal „ohne behördliche Erlaubnis“ des § 284 StGB dem Landesgesetzgeber die Regelung der Sportwettenmaterie – es handelte sich um eine konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) – überlassen. Somit liegt der Schwerpunkt des Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG nicht beim Bundesgesetzgeber, sondern beim Landesgesetzgeber, der die Zulassung Privater ausschließt, indem er die Möglichkeit der Erteilung einer Erlaubnis versagt.283 280 Auch hier hätten beide Entscheidungsvarianten in Bezug auf das Veranstalten von Sportwetten die gleichen Konsequenzen. 281 Dies könnte durch eine Teilnichtigerklärung ohne Normtextreduzierung erreicht werden, dazu oben B.II.2.a) (S. 35). 282 BVerfG NVwZ 2008, 301 (303) unter Verweis auf BVerfGE 115, 276 (312); vgl. ebenfalls BGH NJW 2007, 3078 (3080 f.); OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 12 ff., zitiert nach juris. 283 Bethge, ZfWG 2007, 169 (177).

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

197

Verfassungswidrig sind demnach allein die Normen des Landessportwettenrechts. Würden diese für unvereinbar mit der Verfassung oder für nichtig erklärt, so wäre – wie bereits erörtert – privaten Veranstaltern weiterhin gemäß § 284 StGB verboten, Sportwetten zu veranstalten. Diese Entscheidungsvarianten sind somit gar nicht geeignet, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Daraus ergibt sich die Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung: Hier fordert das verletzte Grundrecht – Art. 12 Abs. 1 GG – ausnahmsweise gar nicht erst die Normvernichtung. Bereits daraus folgt, dass die bloße Unvereinbarerklärung bzw. Verfassungswidrigerklärung gesetzgeberischen Unterlassens284 – dem Gesetzgeber wurde ja gerade vorgeworfen, das Monopol nicht hinreichend ausgestaltet zu haben – verbunden mit einer Weitergeltungsanordnung gerechtfertigt war. Auf der anderen Seite der Abwägung gibt es dagegen Verfassungsgüter, welche die Normerhaltung fordern: Zwar würden mit einem generellen Verbot – auch des staatlichen Angebots – die Einnahmen aus der Veranstaltung von Sportwetten komplett entfallen. Wegen der marginalen Bedeutung dieser Einnahmen285 wird aber die Normerhaltung auch hier nicht vom Budgetrecht des Parlaments gefordert. Allerdings sprechen die Belange der Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht und damit des Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG für die Normerhaltung. Das staatliche Angebot an Sportwetten wurde gerade auch deshalb geschaffen, um den vorhandenen Spieltrieb in geordnete Bahnen zu lenken.286 Das Bundesverfassungsgericht qualifiziert die Eröffnung eines staatlich monopolisierten und dadurch beeinflussbaren Wettangebots dabei auch insofern als geeignetes Mittel zur Suchtprävention.287 Es bestünde die Gefahr, dass die Spieler ohne legales Wettangebot – aus ihrer Sicht – „gezwungen“ wären, den Weg in die Illegalität oder ins Ausland zu suchen. Dort wären sie keinerlei staatlichen Einschränkungen unterworfen. Sie könnten so ihrer Leidenschaft ungehemmt und frei von staatlichen Zügeln nachgehen. Suchtförderndes und suchtgetriebenes Handeln wären der Kontrolle und Fürsorge des Staates entzogen. cc) Zwischenergebnis Die Auslegung des Tatbestands des § 284 StGB macht hier keinen Unterschied – es ist nach beiden Varianten gerechtfertigt, die verfassungswidrige Rechtslage bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber aufrechtzuerhalten; der Zeitraum von März 2006 bis Januar 2008 ist nicht unangemessen lang.

284 Teilweise wird diese als gesonderte Entscheidungsvariante, nicht als Unterfall der Unvereinbarerklärung betrachtet, vgl. oben B.III.3.d) (S. 104). 285 Dazu soeben C.I.2.b)aa)(2) (S. 194). 286 Vgl. dazu § 1 Nr. 1, 2, 4, § 5 Abs. 1 Lotteriestaatsvertrag. 287 BVerfGE 115, 276 (308).

198

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die schlicht fehlende Begründung durch das Bundesverfassungsgericht hingegen ist angesichts der verfassungsrechtlichen Relevanz der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung288 zu bedauern. c) Konsequenzen und Reichweite der Entscheidung Die Folgen des Urteils sind an dieser Stelle etwas komplexer. Sie liegen in einem Spannungsfeld: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezog sich unmittelbar lediglich auf das Staatslotteriegesetz Bayerns. Dieses stand jedoch in Einklang mit dem Lotteriestaatsvertrag, den sämtliche Bundesländer ratifiziert hatten289 und daher ihre Gesetze an ihm ausgerichtet hatten. Folgt man der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, so machten die Ratifizierungsgesetze diesen Staatsvertrag zu im jeweiligen Bundesland unmittelbar geltendem Recht. Auch die Regelungen dieses Vertrages enthielten ein staatliches Wettmonopol.290 Somit schlossen alle einschlägigen Ländergesetze die Erlaubnis für private Wettveranstalter – über explizite Verbote291, das Nichterteilen von erforderlichen Genehmigungen292 oder letztlich wegen § 5 Abs. 2, 4 Lotteriestaatsvertrag293 – aus.

288

Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). BVerfG WM 2006, 1646. 290 Dazu oben C.I.2.a) (S. 188). 291 Folgende Landesgesetze enthielten explizite Verbote der privaten Veranstaltung: Hessen (§ 1 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über staatliche Sportwetten, Zahlenlotterien und Zusatzlotterien in Hessen v. 03.11.1998); Thüringen (§ 1 S. 1 des Thüringer Staatslotterie- und Sportwettengesetzes v. 03.02.2000); Saarland (§ 1 S. 4 des Gesetzes Nr. 249 über die Veranstaltung von Sportwetten im Saarland v. 08.06.1951); Niedersachsen (§ 3 Abs. 2 des niedersächsischen Gesetzes über das Lotterie- und Wettwesen v. 21.06. 1997); Nordrhein-Westfalen (§ 1 Abs. 1 S. 2 des nordrhein-westfälischen Sportwettengesetzes v. 03.05.1955); Sachsen-Anhalt (§ 3 Abs. 2 des Glücksspielgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt v. 22.12.2004). 292 Folgende Landesgesetze enthielten einen Genehmigungsvorbehalt: Brandenburg (§ 8a des Gesetzes über öffentliche Lotterien, Ausspielungen und Sportwetten im Land Brandenburg v. 13.07.1994); Bremen (§ 1 des Gesetzes über Wetten und Lotterien v. 30.04.1974 in Verbindung mit § 1 der Verordnung über die Zulassung von Wetten im Lande Bremen v. 20.01.2000); Rheinland-Pfalz (§ 1 Abs. 1 des Landesgesetzes über Sportwetten v. 11.08.1949); Schleswig-Holstein (§ 1 Abs. 1 des Gesetzes über Sportwetten v. 02.11.1948). In diesen Bundesländern folgte das Monopol somit aus der Nichterteilung von Genehmigungen wegen § 5 Abs. 4 Lotteriestaatsvertrag. 293 In Baden-Württemberg (Gesetz über staatliche Lotterien, Wetten und Ausspielungen v. 14.12.2004); Mecklenburg-Vorpommern (Gesetz zur Umwandlung von Lotto und Toto in eine Staatslotterie v. 10.04.1991) und Sachsen (Gesetz über die staatlichen Lotterien und Wetten v. 21.10.1998) entsprach die Rechtslage der in Bayern. Dort folgte das Verbot mittelbar aus der Erlaubnis für staatliche Veranstalter in den Landesgesetzen bzw. § 5 Abs. 2 Lotteriestaatsvertrag und aus § 5 Abs. 4 Lotteriestaatsvertrag. Berlin und Hamburg hatten überhaupt keine Regelungen für Sportwetten erlassen. Hier folgte die Erlaubnis für staatliche Veranstalter aus § 5 Abs. 2 Lotteriestaatsvertrag, das Verbot privater aus § 5 Abs. 4 Lotteriestaatsvertrag. 289

I. Relevante Unvereinbarerklärungen

199

Sämtliche Länder verfügten somit zum Urteilszeitpunkt über ein allgemeines Sportwettenmonopol.294 Das Bundesverfassungsgericht attestierte dem Lotteriestaatsvertrag ausdrücklich dasselbe Regelungsdefizit wie dem Gesetz Bayerns.295 Damit entfaltete auch das Urteil faktisch Wirkungen über Bayern hinaus. Auch die Rechtsprechung ging davon aus, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Rechtslage in den übrigen Bundesländern Geltung beanspruchte.296 Das Bundesverfassungsgericht selbst urteilte bei anderen überprüften Landesgesetzen genauso wie in der Sportwettenentscheidung und verwies dabei auf diese.297 Die Rechtsprechung war der Auffassung, dass sich eine unmittelbare Wirkung der Sportwettenentscheidung auf alle Landesgesetze in § 31 Abs. 1 BVerfGG verankern lasse: Die tragenden Gründe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts würden auch für alle weiteren Bundesländer gelten, in denen nach den jeweiligen landesgesetzlichen Regelungen ebenfalls der Staat das Monopol für die Veranstaltung von Sportwetten innehat, ohne dass die gesetzlichen Regelungen die effektive Bekämpfung der Wettsucht gewährleisten.298 In der Literatur findet sich darüber hinaus ein Begründungsansatz, der prozessökonomisch argumentiert:299 Das Urteil gelte nicht nur für die verfahrensgegenständliche Norm, sondern für alle inhalts-, ziel- und zweckgleichen Normen. Alles andere sei praxisfremd, da das Bundesverfassungsgericht sonst über sämtliche Parallelnormen zu entscheiden habe.300 Speziell in Bezug auf die Sportwettenentscheidung wird angeführt, das Bundesverfassungsgericht habe das Verfahren bewusst als Musterverfahren gestaltet, dessen Folgewirkungen den gesamten Sportwettensektor in Deutschland betreffen sollten.301

294

Mit gleichem Ergebnis Hecker, DÖV 2005, 943; Willers, Übergangsfristen, S. 6. BVerfGE 115, 276 (312 f.). 296 BGH NJW 2007, 3078 (3080); KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 10; OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 8; NStZ-RR 2008, 372 f.; OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 17; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 25.10.2006, OVG 1 S 90.06, Rn. 19, die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen jeweils zitiert nach juris. Vgl. ferner die Nachweise aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bei Willers, Übergangsfristen, S. 64 ff. 297 BVerfG LKV 2007, 221 (Sachsen-Anhalt); WM 2006, 1644 (1645 f.) (BadenWürttemberg); WM 2006, 1646 f. (Nordrhein-Westfalen). 298 KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 10; OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 8; NStZ-RR 2008, 372 f., die beiden nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen zitiert nach juris. Vgl. ferner die Nachweise aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bei Willers, Übergangsfristen, S. 64 ff. 299 Dietlein, K&R 2006, 307 (309); Heußner, NJW 1982, 257 (261). 300 Heußner, NJW 1982, 257 (261). 301 Dietlein, K&R 2006, 307 (309). 295

200

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Dem lässt sich dogmatisch jedoch mit guten Gründen widersprechen; die Gesetzeskraft – und damit die Bindungswirkung – der Entscheidung kann nur so weit reichen wie der Verfahrensgegenstand. Sie bezieht sich daher ausschließlich auf das bayerische Staatslotteriegesetz.302 Dies entspricht der wohl herrschenden verfassungsprozessrechtlichen Auffassung, wonach Behörden und Gerichte etwaige Parallelnormen verfassungswidriger Gesetze nicht unangewendet lassen dürfen.303 Begründet wird dies u. a. damit, dass bereits die Entscheidung darüber, ob eine Norm mit einer für verfassungswidrig erklärten inhaltlich übereinstimme, originär in die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts falle.304 Für den Normalfall der Parallelnormen sprechen die dogmatisch besseren Argumente dafür, die Wirkung des Urteils auf den Verfahrensgegenstand – namentlich das überprüfte Gesetz – zu beschränken. Hier liegt jedoch ein Sonderfall vor: Die Parallelität der Landesnormen entsprang nicht unkoordiniert der Schöpfungskraft der einzelnen Landesgesetzgeber, sondern war über den Lotteriestaatsvertrag systemisch angelegt. Die Länder hatten sich untereinander verpflichtet, ein Monopol für Sportwetten einzuführen. Die Frage, ob die jeweiligen Landesnormen inhaltlich übereinstimmten, stellte sich nicht. Denn ohne Sportwettenmonopol hätten die Länder ja gegen den Lotteriestaatsvertrag verstoßen. Dieser war zudem über die jeweiligen Ratifizierungsgesetze in den Ländern unmittelbar geltendes Recht. Das Bundesverfassungsgericht verweist in seinem Urteil explizit darauf, dass auch der Lotteriestaatsvertrag dasselbe Regelungsdefizit aufwies, wie das Staatslotteriegesetz Bayerns.305 In einem solchen Fall ist ausnahmsweise davon auszugehen, dass das Urteil gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG für sämtliche Landesgesetze wirkte. Letztlich ist die Auffassung der herrschenden Meinung, welche die Wirkungen der Sportwettenentscheidung de facto auf sämtliche Landesgesetze ausdehnte, zutreffend. d) Auswirkungen der potenziellen strafrechtlichen Irrelevanz der Weitergeltungsanordnung Wäre die Weitergeltungsanordnung strafrechtlich irrelevant, so wäre das Landessportwettenrecht strafrechtlich unanwendbar. Das Verbot der privaten Veranstaltung ergab sich unmittelbar306 aus § 284 StGB, der das Veranstalten ohne be302

So überzeugend Bethge, ZfWG 2007, 245 (250). Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 31 Rn. 70 f.; Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 94 Rn. 27; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 85 f.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 416; Willers, Übergangsfristen, S. 67. 304 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 85; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 416. 305 BVerfGE 115, 276 (312 f.). 303

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

201

hördliche Erlaubnis pönalisiert. Das Landesrecht enthielt lediglich die tatbestandsausschließende Erlaubnis für staatliche Anbieter und versagte Privaten eine Erlaubnismöglichkeit. Somit könnte man sich auf den Standpunkt stellen, das Verbot des § 284 StGB sei auch bei strafrechtlicher Unanwendbarkeit des Landesrechts weiterhin wirksam. Daraus würde folgen, dass die Frage der Strafbarkeit nicht von der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung abhinge. Die eben besprochene Entscheidung hätte strafrechtlich keine Konsequenzen. Die Frage der klaren Trennbarkeit von verfassungswidrigem Erlaubnisausgestaltungsrecht und „verfassungsgemäßer“ Strafnorm wird an späterer Stelle noch vertieft.307 Hier sei bereits soviel angemerkt: Diese These der klaren Trennbarkeit der Regelungsmaterien wird bestritten; vielmehr wird zum Teil davon ausgegangen, dass die Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts sehr wohl Konsequenzen für den Straftatbestand des § 284 StGB hat. Nach dieser Ansicht entfällt die Strafbarkeit bei der Unanwendbarkeit des Landessportwettenrechts. Die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidrigen Rechts stellt sich also auch hier.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur Soeben wurden die potentiell für die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgestellt. Die strafrechtliche Relevanz ergibt sich aus diesen Entscheidungen für zwei Straftatbestände: § 370 AO und § 284 StGB. Im Folgenden soll nun nach beiden Tatbeständen differenzierend erörtert werden, wie Rechtsprechung und Literatur die Frage der Strafbarkeit auf Grund verfassungswidriger, mit einer Weitergeltungsanordnung versehener Regelungen beantworten. 1. Rechtsprechung und Literatur zu § 370 AO Die Weitergeltungsanordnung spielt – wie die soeben dargestellten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen – im Steuerrecht eine bedeutende Rolle. Da der Verstoß gegen materielles Steuerrecht gemäß § 370 AO pönalisiert ist, ist die praktische Relevanz der Strafbarkeit auf der Grundlage verfassungswidrigen Rechts hier besonders groß. 306 Aus den Landesgesetzen ließ sich freilich mittelbar ein Verbot privater Veranstaltung entnehmen, vgl. oben C.I.2.a) (S. 188). 307 Dazu ausführlich unten C.II.2.c)aa)(2)(a) (S. 294), C.II.2.c)bb)(2)(a) (S. 301), C.II.2.d)cc) (S. 310).

202

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Im Folgenden werden zunächst die relevanten Normen kurz erläutert [a)], um anschließend auf Rechtsprechung [b)] und Literatur [c)] zur Frage der Strafbarkeit auf der Grundlage verfassungswidrigen Rechts einzugehen. a) Überblick über die relevanten Normen: § 370 AO und § 2 StGB In der Diskussion spielt neben dem Tatbestand des § 370 AO insbesondere die Regelung des § 2 StGB eine gewichtige Rolle. aa) § 370 AO Gemäß § 370 Abs. 1 AO wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer „1. den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht, 2. die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt [. . .] und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.“

Rechtsgut des § 370 AO ist nach herrschender Meinung das Interesse des Staates am rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommen oder – gleichlautend – der Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer.308 Die Merkmale „steuerlich erhebliche Tatsachen“, „unrichtige oder unvollständige Angaben“ „pflichtwidrig“, „Steuern verkürzt“ und „nicht gerechtfertigte Steuervorteile“ nehmen Bezug auf die Regelungen des materiellen Steuerrechts. Die Frage, ob diese Merkmale vorliegen, kann nur das materielle Steuerrecht beantworten.309 Im hier besonders interessierenden Beispiel der Vermögensteuerhinterziehung ist § 370 AO – einfach gesprochen – in der Begehungsvariante dann erfüllt, wenn sich aus dem Vermögensteuergesetz ergibt, dass der Täter unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hat und diese Angaben sich auf steuerlich erhebliche Tatsachen bezogen und dadurch Steuern verkürzt wurden. Welche Auswirkung diese Inbezugnahme von Normen des Steuerrechts auf den Deliktscharakter hat, ist höchst umstritten. Dabei wird diskutiert, ob § 370 308 Vgl. nur BGHSt 43, 381 (404); 40, 109 (111); 36, 100 (102); RGSt 72, 184 (186); Blesinger, in: Kühn/v. Wedelstädt, § 370 AO Rn. 2; Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 2; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 40; Rolletschke, in: Graf/Jäger/Wittig, § 370 AO Rn. 3; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 2; Tipke, FS Kohlmann, S. 560. Instruktiv zum Streitstand Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 2 ff.; Nolte, Hinterziehung, S. 25 ff. 309 Vgl. nur BVerfG wistra 1991, 175; BVerfGE 37, 201 (208); BGH NStZ 1984, 510 (511); 1982, 206.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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AO ein Blanketttatbestand oder Tatbestand mit normativen Tatbestandsmerkmalen ist. Da dieser Themenbereich für das Verständnis der Problematik der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts und der vorgetragenen Argumente von Bedeutung ist, wird im Folgenden zunächst die Abgrenzung zwischen den beiden Merkmalgruppen vorgetragen, um danach auf die Konsequenzen einzugehen, die dieser Abgrenzung beigemessen werden. (1) Abgrenzung normative Tatbestandsmerkmale/Blankettmerkmale: „Unvollständigkeit“ So umstritten die Abgrenzung im Einzelnen ist, lässt sich doch ein kleinster gemeinsamer Nenner formulieren: Es hat sich im Laufe der Debatte herausgestellt, dass es neben dem formalen Kriterium der Inbezugnahme weiterer Normen – das normative Tatbestandsmerkmale und Blankettmerkmale teilen – für die Abgrenzung der Merkmalgruppen eines zusätzlichen materiellen Kriteriums bedarf; dieses wird in dem Merkmal der „Unvollständigkeit“ des Blanketttatbestands gesehen.310 Dabei stellt der Begriff der Unvollständigkeit lediglich einen selbst ausfüllungsbedürftigen Oberbegriff dar, dessen genaue Ausgestaltung wiederum höchst umstritten ist.311 Blankettstraftatbestände sind ohne die ausfüllenden Normen unvollständig. In den unvollständigen Tatbestand muss das ausfüllende Ge- oder Verbot integriert werden, um ein vollständiges Strafgesetz zu erhalten.312 Bei normativen Tatbestandsmerkmalen ist der Straftatbestand auch ohne die in Bezug genommenen Vorschriften vollständig, auch wenn sich einzelne Rechtsbegriffe aus anderen Rechtsteilen ergeben, deren ursprüngliche Auslegung sich die Strafnorm zu eigen macht.313 310 Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 90, 110; vgl. dazu ebenfalls BVerfGE 78, 205 (213); Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 463, 465; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 37; Schuster, Bezugsnormen, S. 95, 258; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 13; Karpen, Verweisung, S. 84 (allerdings mit dem zusätzlichen formellen Kriterium des Kompetenzsprungs); Dietmeyer, Blankettstrafrecht, S. 13 ff.; Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen, Vor § 13 ff. Rn. 25 f.; Rudolphi, in: SK, § 1 Rn. 12 („nicht abschließend“); Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 1 Rn. 53; im Ausgangspunkt auch Dannecker, in: LK, § 1 Rn. 149. 311 Vgl. dazu Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 90 ff. Sie hat dabei in Rechtsprechung und Literatur elf verschiedene Ansätze zur Feststellung der Unvollständigkeit eines Tatbestands ausfindig gemacht. 312 Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 37; Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 1 Rn. 53; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 13; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 463, 492 313 BVerfGE 78, 205 (213); Dannecker, in: LK, § 1 Rn. 149, § 2 Rn. 87; ders., Das intertemporale Strafrecht, S. 465; Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 2 Rn. 23; Niemeyer, in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 17 Rn. 11.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(2) Konsequenzen der Abgrenzung Aus dieser Abgrenzung werden für drei Fragen Konsequenzen abgeleitet. (a) Geltung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes Von der Abgrenzung der beiden Begrifflichkeiten soll zum einen abhängen, ob und inwieweit der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB zur Anwendung gelangt. Bei Blankettstraftatbeständen gelte – in strafrechtlichem Zusammenhang – der strenge Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG für das Blankett, die blankettausfüllende Norm und die Verweisung. Das ergibt sich aus der herrschenden Meinung, nach der die durch die Verweisung in Bezug genommenen Vorschriften in den strafrechtlichen Tatbestand inkorporiert werden: Danach gelten für diese Vorschriften die allgemeinen strafrechtlichen Regeln,314 sog. Inkorporationstheorie315. Bei normativen Tatbestandsmerkmalen wird dagegen z. T. nur das normative Merkmal des Tatbestands selbst an Art. 103 Abs. 2 GG gemessen. Die Normen, die dieses Tatbestandsmerkmal auslegen, unterliegen eher dem weiteren rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz – z. T. hat dies sogar die Übernahme außerstrafrechtlicher Analogien zur Folge.316 Teilweise wird der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz durch das Bundesverfassungsgericht allerdings auch unabhängig von der Einordnung als Blankettmerkmal auf die in Bezug genommenen Vorschriften angewendet.317 (b) Behandlung von Irrtümern Ähnliche Konsequenzen werden auch in Irrtumsfragen gezogen. Bei normativen Tatbestandsmerkmalen ist für den Vorsatz des Täters entscheidend, ob er den Rechtsbegriff in der sog. „Parallelwertung in der Laiensphäre“ erfasst. Es stellt somit einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 StGB dar, wenn der Täter zwar alle Sachverhaltsumstände kennt, aber irrtümlich annimmt, diese würden nicht unter das normative Tatbestandsmerkmal fallen.318 314 BVerfGE 48, 48 (60 f.); vgl. ebenfalls BVerfGE 37, 201 (208 f.); 75, 327 (344 ff.); 78, 374 (382 f.); BGHSt 20, 177 (LS 1, 180 f.); Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 1 Rn. 53 f.; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 228; Dannecker, in: LK, § 1 Rn. 151; ders., Das intertemporale Strafrecht, S. 467; Fischer, § 1 Rn. 10; Schuster, Bezugsnormen, S. 301. 315 Begriff von Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 1 Rn. 53. 316 Vgl. BVerfGE 78, 205 (213); Schuster, Bezugsnormen, S. 302; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 152 ff., 227 f. m.w. N.; Dannecker, in: LK, § 1 Rn. 149, § 2 Rn. 87; ders., Das intertemporale Strafrecht, S. 477 f.; Wulf, wistra 2001, 41 (42). 317 BVerfGE 48, 48 (60 ff.); dazu Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 203.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Anders liegt die Sache bei Blankettmerkmalen: Nach der herrschenden Meinung sind diese auch hier so zu lesen, als stünde die Ausfüllungsnorm im Strafgesetz. Dementsprechend ergibt sich die Behandlung von Irrtümern nach den allgemeinen Regeln über Vorsatz und Irrtum. Erforderlich ist Vorsatz bezüglich der Sachverhaltsumstände, die den Tatbestand der zusammengelesenen Normen erfüllen. Kennt der Täter alle Sachverhaltsumstände, geht aber davon aus, dass diese nicht unter eine blankettausfüllende Norm fallen (weil er etwa einem Subsumtionsirrtum unterliegt oder weil er nicht weiß, dass die Norm existiert)319, so handelt es sich um einen Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB: Der Täter handelt nur dann ohne Schuld, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte, sonst ist er strafbar, es bleibt lediglich die Möglichkeit einer Strafmilderung gemäß § 49 Abs. 1 StGB.320 (c) § 2 Abs. 3 StGB Entsprechend wird – zumindest teilweise – auch bei § 2 Abs. 3 StGB321 entschieden: Eine Änderung der blankettausfüllenden Norm ist nach der herrschenden Meinung eine Änderung des Strafgesetzes und damit Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB.322 Somit findet das mildeste Gesetz Anwendung. Auch hier wird angeführt, dass die ausfüllenden Normen als Teil des Strafgesetzes aufzufassen sind. Zudem dürfe die Frage der Strafbarkeit nicht von der Zufälligkeit der Gesetzestechnik abhängen.323 Die Frage, ob normative Tatbestandsmerkmale „Gesetze“ im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB sind, ist höchst umstritten.324 Eine starke Literaturauffassung sieht dabei die Änderung von Normen, die durch normative Tatbestandsmerkmale in 318 BVerfGE 78, 205 (213 f.); Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 79, 333 f.; Schmitz/ Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 324; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 344; vgl. auch Schuster, Bezugsnormen, S. 126, 169, 182; Wulf, wistra 2001, 31 (42). 319 Vgl. bspw. Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 17 Rn. 47 ff. 320 BGHSt 3, 400 (403); 9, 164 (172); Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, § 15 Rn. 99 ff.; Rudolphi/Stein, in: SK, § 16 Rn. 17 f.; Welzel, MDR 1952, 584 (586); darstellend Burckhardt, wistra 1982, 178 (179); Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 79; Dietmeyer, Blankettstrafrecht, S. 175, 222; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 339; Niemeyer, in: Müller-Gugenberger/Bieneck, § 18 Rn. 15. 321 Zu dieser Vorschrift ausführlich sogleich C.II.1.a)bb) (S. 207). 322 BVerfG NJW 1995, 315 (316); BGHSt 20, 177 (181); 34, 272 (282); 40, 378 (381); Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 476 f., 492 ff.; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 24; Fischer, § 2 Rn. 8; Lackner/Kühl, § 2 Rn. 4; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 34 ff.; Samson, wistra 1983, 235 (236). 323 BGHSt 20, 177 (181); Samson, wistra 1983, 235 (236); vgl. auch Schuster, Bezugsnormen, S. 232, 251. 324 Dazu noch unten C.II.1.a)bb)(1) (S. 208).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Bezug genommen werden, nicht als Änderung eines Strafgesetzes und damit nicht als Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB an.325 (d) Zwischenergebnis Demnach lässt sich folgende Leitlinie326 formulieren: Bei Blanketttatbeständen wird – entsprechend der Inkorporationstheorie – die ausfüllende Norm als Teil des Straftatbestands in vollem Umfang an strafrechtlichen Grundsätzen gemessen. Demgegenüber wird bei normativen Tatbestandsmerkmalen nur der – in sich abgeschlossene bzw. vollständige – Straftatbestand an strafrechtlichen Maßstäben gemessen, während die Wertungen der außerstrafrechtlichen, auslegenden Normen in vollem Umfang aus dem jeweiligen Rechtsgebiet übernommen werden. (3) Schlüsse für § 370 AO Die herrschende Meinung definiert § 370 AO dabei als Blanketttatbestand.327 Eine gut begründete Literaturauffassung lehnt dies insgesamt oder für einzelne Merkmale ab.328 Hauptargument dieser Gegenansicht ist, dass die herrschende Meinung, obwohl sie § 370 AO als Blanketttatbestand definiert, die dogmatischen Konsequenzen hieraus nicht zieht: Sie behandle die Unkenntnis über blankettausfüllende Steuernormen letztlich als Tatumstandsirrtum i. S. d. § 16 StGB und wende § 2 Abs. 3 StGB nicht auf die Änderung von Steuernormen an329. Damit würden 325 Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 39; Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 2 Rn. 23; Schuster, Bezugsnormen, S. 242 ff. Aufbauend auf Jakobs, AT, 4/64, 4/72, jedoch der Sache nach gleich Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 8c; Samson, wistra 1983, 235 (237). Dies wird vor allem am Merkmal der „fremden Sache“ des § 242 StGB nachgewiesen, dazu Samson, wistra 1983, 235 (237); dem folgend Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 8c; vgl. ebenfalls Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 39. 326 Diese kann – da hier im Einzelnen alles höchst umstritten ist – lediglich eine Tendenz ausdrücken, die sich zumindest aus relevanten Teilen der vertretenen Auffassungen ergibt. 327 BVerfG wistra 1991, 175; BVerfGE 37, 201 (208); BGHSt 34, 272 (282); NStZ 1984, 510 (511); 1982, 206; BGHSt 20, 177 (180); Blesinger, in: Kühn/v. Wedelstädt, § 370 AO Rn. 23; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Einl. Rn. 5; Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 5; Haas/Müller, Steuerstrafrecht, Rn. 67; Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 3; Kuhn/Weigell, Steuerstrafrecht, S. 1; vgl. Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 Rn. 13 m.w. N. 328 Dannecker, in: LK, § 1 Rn. 149; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 47; Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 14; ders., in: Graf/Jäger/Wittig, 900 AO § 370 Rn. 20; Schuster, Bezugsnormen, S. 211; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 Rn. 13 ff., jeweils m. N. 329 Dazu noch sogleich C.II.1.a)bb)(2) (S. 209).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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die Merkmale de facto als normative Tatbestandsmerkmale behandelt; die Einordnung als normatives Tatbestandsmerkmal sei somit konsequenter und richtiger.330 bb) § 2 StGB In der Diskussion um die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung auf der Grundlage verfassungswidrigen Rechts spielt – bezogen auf die Vermögensteuerhinterziehung – § 2 StGB eine zentrale Rolle. Das Vermögensteuergesetz ist mit Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist zum 1. Januar 1997 außer Kraft getreten.331 Das wirft die Frage auf, ob bezüglich vor diesem Stichtag begangener Taten § 2 Abs. 3 StGB anwendbar ist. Deswegen sollen im Folgenden die relevanten Regelungen des § 2 StGB und deren entscheidende Tatbestandsmerkmale vorgestellt werden. Gemäß § 369 Abs. 2 AO gelten für Steuerstraftaten die allgemeinen Gesetze des Strafrechts, soweit nichts anderes bestimmt ist. Über diese Vorschrift gelangt § 2 StGB zur Anwendung. Gemäß § 2 Abs. 1 StGB bestimmen sich Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Zeit der Tat ist gemäß § 8 StGB die Zeit, zu welcher der Täter oder der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Von diesem sog. Tatzeitprinzip332 macht § 2 Abs. 3 StGB eine Ausnahme: „Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.“

Doch auch dieses sog. Meistbegünstigungsprinzip333 gilt nicht uneingeschränkt. § 2 Abs. 4 StGB trifft für Zeitgesetze eine Ausnahmeregelung: „Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.“

Die einzelnen Merkmale des § 2 Abs. 3, 4 StGB sind hoch umstritten, eine eingehende Darstellung dieser Streitigkeiten und der damit verbundenen Folgeprobleme würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zum Verständnis der im Folgenden vorgestellten Ansichten zu der Frage der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts in Rechtsprechung und Literatur werden die hier relevanten Merkmale jedoch kurz erörtert.

330 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 46 ff.; Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 14; ders., in: Graf/Jäger/Wittig, 900 AO § 370 Rn. 20. 331 Dazu oben C.I.1.c)cc) (S. 175). 332 Zum Begriff statt vieler Fischer, § 2 Rn. 4. 333 Ebenda.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(1) „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Ob eine „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB vorliegt, ist vor allem dann problematisch, wenn nicht die Strafnorm selbst, sondern – wie im hier interessierenden Fall des § 370 AO – durch normative Tatbestandsmerkmale oder Blankettmerkmale in Bezug genommene Normen geändert werden. Es stellt sich die Frage, ob diese in Bezug genommenen Normen „Gesetze“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB sind. Die Änderung von durch Blankettmerkmale in Bezug genommenen Normen ist nach ganz herrschender Auffassung eine „Gesetzesänderung“, die Bezugsnormen sind mithin „Gesetze“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB.334 Der Bundesgerichtshof formuliert insoweit, dass auf den „gesamten Rechtszustand, von dem das Ob und Wie der Strafbarkeit abhängt“ 335 abzustellen sei. Umstrittener ist dies bei normativen Tatbestandsmerkmalen. Teilweise werden die in Bezug genommenen Normen – unter unterschiedlicher Terminologie – nicht als „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB angesehen.336 Überzeugend ist die Ansicht, die auf den konkreten Inhalt des § 2 Abs. 3 StGB verweist: § 2 Abs. 3 StGB verweise allein auf die materielle Rechtslage und deren Ergebnis für den Betroffenen, nicht auf die systematische Einordnung von blankettausfüllenden Normen.337 Deswegen sei tatsächlich auf den gesamten Rechtszustand338 abzustellen, normative Tatbestandsmerkmale seien einzubeziehen.339 Das ist – über die überzeugende Anknüpfung an den Wortlaut des § 2 Abs. 3 StGB hinaus – auch deshalb vorzugswürdig, weil über die Merkmale der „Änderung“ und des „Zeitgesetzes“ hinreichende Korrektive zur Verfügung stehen340 334 BVerfG NJW 1995, 315 (316); BGHSt 40, 378 (381); 34, 272 (282); 20, 177 (181); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 24; Fischer, § 2 Rn. 8; Lackner/ Kühl, § 2 Rn. 4; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 34 ff., jeweils m.w. N. 335 BGHSt 20, 177 (181). 336 Im Einzelnen mit Unterschieden: Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 24; Jakobs, AT, 4/70 ff.; Samson, wistra 1983, 235 (237); Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 8a ff.; Satzger, in: ders./Schluckebier/Widmaier, § 2 Rn. 23; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 39; Schuster, Bezugsnormen, S. 242 ff.; Wulf, wistra 2001, 41 (46). Vgl. dazu auch oben C.II.1.a)aa)(2)(c) (S. 205). 337 Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 37, die die Problematik allerdings unter dem Schlagwort „Blankettmerkmale“ diskutieren und nicht zwischen diesen und normativen Tatbestandsmerkmalen differenzieren; Degenhard, DStR 2001, 1370 (1374). 338 In Anlehnung an die Terminologie des Bundesgerichtshofs, bspw. in BGHSt 20, 177 (181). 339 Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 83, § 1 Rn. 397; Degenhard, DStR 2001, 1370 (1374); vgl. auch Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 478 ff., zusammenfassend S. 491 f.; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 37; Gaede, wistra 2011, 365. 340 Vgl. zu den Lösungsmöglichkeiten auf den unterschiedlichen Ebenen des § 2 StGB Samson, wistra 1983, 235 (236 ff.).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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und die Abgrenzung zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen und Blankettmerkmalen derart umstritten und unklar ist,341 dass eine Anknüpfung von strafbarkeitsrelevanten Folgen an diese – nichtgesetzlichen – Begrifflichkeiten weitestgehend vermieden werden sollte. Zudem hat der Bundesgerichtshof die blankettausfüllenden Normen ja gerade deshalb als „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB angesehen, um die Frage nach dem milderen Gesetz nicht formal und willkürlich vom Zufall der Gesetzestechnik abhängig zu machen.342 Gleiches sollte auch für normative Tatbestandsmerkmale gelten. (2) „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Hoch umstritten ist – insbesondere bei der Änderung von Steuernormen – auch der Begriff der „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB. Die Problematik wurde zu der steuerlich günstigeren Behandlung von Parteispenden ab dem Veranlagungsjahr 1984 diskutiert und entschieden; der Gesetzgeber hatte hier ausdrücklich angeordnet, dass die steuerlich günstige Behandlung von Parteispenden erst ab diesem Jahr gelten sollte. Für den davor liegenden Zeitraum galten die alten Regelungen explizit weiter. Deswegen lehnte der Bundesgerichtshof eine „Gesetzesänderung“ und damit die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB ab. Für die Beurteilung einer Steuerhinterziehung bezüglich der Veranlagungsjahre vor 1984 blieb in vollem Umfang die alte Rechtslage maßgeblich. Dafür spreche auch der Rechtsgedanke des § 2 Abs. 4 StGB.343 Die herrschende Meinung verneint also – allgemeiner gesprochen – eine „Gesetzesänderung“, wenn das an sich geänderte Recht nur künftige Neufälle betreffen soll, auf Altfälle hingegen das bisherige Recht anwendbar bleiben soll.344 Dies ergebe sich aus der Auslegung des Änderungsgesetzes.345 Der Gegeneinwand, der Gesetzgeber habe trotzdem eine Neubewertung der Tat vorgenommen, die auch für die Vergangenheit gelten müsse,346 überzeuge nicht: Der Umstand, dass der Gesetzgeber aus steuerpolitischen Gründen eine für den Betroffenen günstigere Gestaltung des Steuerrechts für die Zukunft wähle, erlaube nicht den Schluss, dass er in diesem Rahmen auch Steuerverkürzungen der Vergangenheit neu bewertet wissen wolle.347 Überzeugend ist die Argumentation Samsons: § 2 341

Dazu oben C.II.1.a)aa)(1) (S. 203). BGHSt 20, 177 (181). 343 BGHSt 34, 272 (282 ff.). 344 BGHSt 34, 272 (282 ff.); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 20 f.; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 49; Lackner/Kühl, § 2 Rn. 4; Samson, wistra 1983, 235 (237 f.); a. A. Tiedemann, NJW 1986, 2475 (2478 f.); ders., NJW 1987, 1247 f.; Otto, ZStW 107 (1995), 597 (635). 345 So überzeugend Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 20. 346 Tiedemann, NJW 1986, 2475 (2476 f.); ders., NJW 1987, 1247 f. 347 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 49. 342

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Abs. 3 StGB setze eine Änderung des Gesetzes zwischen Tatzeitpunkt und Verurteilungszeitpunkt voraus. Dabei dürfe das schärfere ältere Gesetz zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht mehr gelten. Da die alte „ungünstige“ steuerrechtliche Regelung der vergangenen Veranlagungszeiträume für den Betroffenen auch nach der Gesetzesänderung Gültigkeit habe, liege der in § 2 Abs. 3 StGB genannte Fall nicht vor: Zwischen dem Tatzeitpunkt und dem Verurteilungszeitpunkt sei überhaupt keine Änderung des Steuerrechts (bezüglich der steuerrechtlichen Behandlung der vergangenen Veranlagungszeiträume) erfolgt.348 Dies unterscheidet die zukunftsbezogene Änderung von Steuergesetzen von den klassischen Anwendungsfällen des § 2 Abs. 3 StGB, wie etwa der Abschaffung des Totalverbots der Homosexualität gem. § 175 StGB a. F. durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969.349 Hier hat der Gesetzgeber gerade eine insgesamt – und nicht lediglich zukunftsbezogen – Geltung beanspruchende Neubewertung der Tat vorgenommen. (3) „Zeitgesetze“ i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB Ebenfalls umstritten ist die Definition des Merkmals „Zeitgesetz“ des § 2 Abs. 4 StGB. (a) Zeitgesetze im engeren Sinne Relativ unproblematisch sind die sog. Zeitgesetze im engeren Sinne. Dies sind Normen, deren Geltung ausdrücklich von vornherein oder auf Grund einer späteren Rechtsnorm durch einen nach dem Kalender festgelegten Zeitpunkt oder durch ein bestimmtes zukünftiges Ereignis begrenzt ist; diese Gesetze sind unstrittig Zeitgesetze i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB.350 (b) Zeitgesetze im weiteren Sinne Umstritten ist hingegen, ob § 2 Abs. 4 StGB auch für die sog. Zeitgesetze im weiteren Sinne gilt. Dies sind Normen, bei denen die begrenzte zeitliche Geltung nicht ausdrücklich angeordnet ist, sich aber durch Auslegung der jeweiligen Norm ergibt.351 Als maßgeblich wird dabei erachtet, dass der Gesetzgeber keine 348

Samson, wistra 1983, 235 (237 f.). BGBl. I 1969, 645. 350 BGHSt 18, 12 (14); 6, 30 (36); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 35; Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 127; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 51 ff. (wenn auch kritisch zur Terminologie); Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 15; Samson, wistra 1983, 235 (238); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 52; vgl. auch Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 442. 351 Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 442. 349

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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ihrer Natur nach auf Dauer angelegte Regelung treffen, sondern wechselnden Verhältnissen und Zeitnotwendigkeiten überwiegend nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit mit Bestimmungen, die erkennbar Übergangscharakter haben, gerecht werden will.352 Die herrschende Meinung erkennt solche Gesetze – auch unter Hinweis auf den eindeutigen Willen des Gesetzgebers353 – als Zeitgesetze i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB an.354 Davon, ob ein Gesetz sich ausdrücklich als nur vorläufig bezeichnet oder in einer besonderen Bestimmung seine baldige Aufhebung vorsieht, könne die Zeitgesetzeigenschaft nicht abhängen. Es müsse vielmehr sinngemäß auch dann als solches gelten, wenn ihm nach seinem Zweck und dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nur vorübergehende Bedeutung zukomme.355 (aa) Änderung auf Grund des Wandels tatsächlicher Verhältnisse vs. Änderung wegen geläuterter Rechtsauffassung Für Verwirrung sorgt bei der Auslegung dieses Merkmals eine Differenzierung, die das Reichsgericht entwickelt hatte und die der Bundesgerichtshof eigentlich ausdrücklich aufgegeben hat: Das Reichsgericht hat die Anwendung des mildesten Gesetzes davon abhängig gemacht, dass die Gesetzesänderung auf einer geläuterten Rechtsauffassung beruhte. Nicht angewendet werden sollte das mildere Gesetz, wenn die Gesetzesänderung lediglich dem Wandel der tatsächlichen Verhältnisse Rechnung tragen sollte.356 Der BGH hat betont, dass die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB nicht von dieser Differenzierung abhängen dürfe; das Gebot der Anwendung des milderen Gesetzes binde ohne Rücksicht darauf, welche Beweggründe der Gesetzesänderung zu Grunde liegen; das Gesetz mache diese Einschränkung nicht.357 Lediglich bei der Frage, ob ein Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB vorliegt, könne der Gesichtspunkt einer geläuterten Rechtsauffassung eine Rolle spielen.358 Dabei spreche ein ständiger Wandel der gesetzlichen Regelung, der die Norm veränder352 So die Definition des BGH: BGHSt 40, 378 (381); 18, 12 (14 f.); BGH NJW 1952, 72 (73). 353 Dazu Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 141; Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 15; Nolte, Hinterziehung, S. 130, 132. 354 BGHSt 40, 378 (381); 6, 30 (37); BGH NJW 1952, 72 (73); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 35; Lackner/Kühl, § 2 Rn. 8; Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 15; a. A. Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 48 ff.; Jakobs, AT, 4/65; Rüping, NStZ 1984, 450 (451); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 54 f.; Tiedemann, FS Peters, S. 198 ff.; wohl auch Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 129; differenzierend nach Zeitgesetzen im weiteren und solchen im weitesten Sinne – letztere sollen dabei nicht § 2 Abs. 4 StGB unterfallen – Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 447 f. 355 BGH NJW 1952, 72 (73). 356 RGSt 58, 44 (45); 13, 249 (251 f.). 357 BGHSt 20, 177 (181 f.); 6, 30 (32). 358 BGHSt 20, 177 (182).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

ten Erfordernissen anpassen sollte, für ein Zeitgesetz,359 eine geläuterte Rechtsauffassung dagegen360. (bb) Maßgebliches Kriterium: Erkennbarkeit des Übergangscharakters Von dieser etwas verworrenen Dogmatik sollte man sich nicht schrecken lassen; klarer wird die Lage, wenn man sich auf jenes Merkmal besinnt, dass die Rechtsprechung eindeutig als das entscheidende Merkmal für die Zeitgesetzeigenschaft gemäß § 2 Abs. 4 StGB definiert hat: Die Erkennbarkeit des Übergangscharakters.361 Die Differenzierung zwischen der Änderung auf Grund des Wandels tatsächlicher Verhältnisse und der auf Grund geläuterter Rechtsauffassung liefert lediglich auf einer zweiten Stufe ein Indiz für die Erkennbarkeit des Übergangscharakters. Dieses Kriterium ist auch vor dem Hintergrund der materiellen Rechtfertigung des § 2 Abs. 4 StGB als Ausnahme zum Meistbegünstigungsprinzip des § 2 Abs. 3 StGB sinnvoll. Die herrschende Ansicht führt als Rechtfertigung für diese Sonderregelung an, dass Gesetze, deren Außerkrafttreten absehbar ist, weiterhin des strafrechtlichen Schutzes bedürfen. Würde es bei diesen bei der Regel des § 2 Abs. 3 StGB bleiben, so würde das Gesetz gegen Ende seiner Geltung an Kraft verlieren. In dieser Zeit entstehe folgende Situation: Einerseits ist vorhersehbar, dass das Gesetz außer Kraft treten wird, andererseits ist klar, dass bis dahin keine Verurteilung mehr erfolgen wird. In dieser Situation werde die faktische Geltung durch § 2 Abs. 3 StGB bereits vor dem Zeitpunkt des Außerkrafttretens ausgehebelt. § 2 Abs. 4 StGB solle gerade vor diesem faktischen Geltungsverlust gegen Ende der zeitlichen Geltung schützen.362 Vor diesem Hintergrund ist die Erkennbarkeit der begrenzten Geltungsdauer ein schlüssiges Abgrenzungskriterium für § 2 Abs. 4 StGB. b) Die Rechtsprechung Vorangehend wurde in die relevanten Vorschriften und deren Problemschwerpunkte eingeführt. Im Folgenden wird nun dargestellt, wie die Rechtsprechung363 359

BGHSt 40, 378 (382 f.); 20, 177 (183). BGHSt 40, 378 (383). 361 Eindeutig BGHSt 40, 378 (381 ff.); 18, 12 (14); 6, 30 (37 f.); BGH NJW 1952, 72 (73). Die heutige Maßgeblichkeit dieses Kriteriums betont Nolte, Hinterziehung, S. 130 f. 362 BGHSt 6, 30 (38); Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 125; ders., Das intertemporale Strafrecht, S. 443 f.; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 34; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 47; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 141; Nolte, Hinterziehung, S. 131; Rudolphi, in: SK, § 2 Rn. 14; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2430); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 49; Wulf, wistra 2001, 41 (48). 360

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die Frage der Steuerhinterziehung auf Grundlage verfassungswidriger Steuergesetze beantwortet hat. aa) OLG Frankfurt am Main Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung364 der Rechtsprechung mit dem Problem der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen, aber weiterhin anwendbaren Rechts bildet der Beschluss des OLG Frankfurt am Main vom 15. Juni 1999365. Das Gericht hatte sich mit der Strafbarkeit der Hinterziehung der Vermögensteuer in den Jahren 1990 bis 1996 auseinanderzusetzen. Die Vermögensteuer wurde vom Bundesverfassungsgericht am 22. Juni 1995 bezüglich aller Veranlagungszeiträume ab 1983 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG, jedoch bis zum 31. Dezember 1996 weiter anwendbar erklärt.366 Das OLG Frankfurt am Main kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Hinterziehung der Vermögensteuer bis zum 31. Dezember 1996 strafbar ist. (1) Weitergeltendes Recht bedarf des Schutzes durch das Strafrecht Dies folge direkt aus der Weitergeltungsanordnung: Dieser sei zu entnehmen, dass das Vermögensteuergesetz auf alle bis zum 31. Dezember 1996 verwirklichten Tatbestände – und insoweit auch nach dem genannten Datum – anzuwenden sei.367 Habe der Bürger die Besteuerung trotz verfassungsrechtlicher Bedenken wegen einer Weitergeltungsanordnung hinzunehmen, so müsse es auch bei der strafrechtlichen Sanktion zum Schutz des steuerlichen Anspruchs verbleiben.368 (2) Keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Insbesondere § 2 Abs. 3 StGB stehe dem nicht entgegen. Sei der Steueranspruch erst einmal entstanden, werde er als Schutzgut des § 370 AO nicht dadurch vernichtet, dass der Gesetzgeber oder ihm gleichstehend eine mit Gesetzeskraft versehene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Zukunft eine Befreiung der Steuer schaffe oder Steuerbefreiungen erweitere. Da dieser Steueranspruch nach dem Steuerrecht vielmehr weiter bestehe, genieße er auch 363 Gemeint ist freilich nur die veröffentlichte Rechtsprechung. Wiedergegeben werden sämtliche von Strafgerichten veröffentlichten Entscheidungen, die Leitentscheidungen des Bundesfinanzhofs und die betreffenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. darüber hinaus Fn. 468 (S. 230). 364 Dies meint wiederum nur die veröffentlichte Rechtsprechung. 365 Wistra 2000, 154. 366 Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.1.c) (S. 169). 367 OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154 unter Verweis auf BFH NJW 1997, 2007 (2008), dazu oben S. 176. 368 OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154.

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den Schutz des § 370 AO. Die Anwendbarkeit des Rückwirkungsgebots des § 2 Abs. 3 StGB scheitere daran, dass sich die gesetzliche Regelung kraft ausdrücklicher Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht in der Weitergeltungsanordnung für die Übergangszeit nicht geändert habe. Weder in Bezug auf den Gerechtigkeitsgedanken noch auf den Regelungszusammenhang des § 2 Abs. 1–4 StGB sei es sinnvoll, bei der strafrechtlichen Prüfung ein Gesetz für unbeachtlich zu erklären, dessen Fortgeltung durch den Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht angeordnet sei.369 Damit beurteilt das Gericht die Lage genau auf der Linie, welche die herrschende Ansicht zu der Änderung von Steuergesetzen durch den Gesetzgeber vertritt370 und setzt damit das Außerkrafttreten des Vermögensteuergesetzes einer Gesetzesänderung, die nur für die Zukunft gelten soll, gleich. bb) LG München II Das LG München II traf mit seinem Beschluss vom 11. September 1999371 die zweite veröffentlichte Entscheidung zur Strafbarkeit der Hinterziehung der Vermögensteuer, ohne inhaltlich auf die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main einzugehen. Es hatte über die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG bei einem rechtskräftig gewordenen Strafbefehl wegen Vermögensteuerhinterziehung und damit inzident über die Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung in den Jahren 1991, 1993 und 1994 zu entscheiden. Es gelangte dabei zu der Auffassung, dass die Hinterziehung der Vermögensteuer in Bezug auf den gesamten von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betroffenen Zeitraum – also alle Veranlagungszeiträume ab 1983 – nicht strafbar ist. (1) § 79 Abs. 1 BVerfGG ist einschlägig Das Gericht setzt sich zunächst mit der Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrages gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG auseinander und geht von der Anwendbarkeit der Vorschrift auf die Hinterziehung der Vermögensteuer aus. Nach dieser Vorschrift ist gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Norm beruht, die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig.372 Die Norm sei sowohl vom Wortlaut wie vom Zweck der Vorschrift – ein auf grundgesetzwidriger Rechtsanwendung beruhendes Urteil aufzuheben – einschlä369 370 371 372

OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154 (155). Dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209). NJW 2000, 372. Dazu ausführlich oben B.II.2.d) (S. 72).

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gig:373 Die Verurteilung „beruhe“ auf einer für unvereinbar erklärten Norm. Ohne die Steuersätze des für unvereinbar erklärten § 10 Nr. 1 VStG hätten nämlich Steuern überhaupt nicht erhoben werden können. Ohne zugehörige Ausführungsnorm entfalle wiederum die Strafbarkeit gemäß der Blankettnorm § 370 AO.374 Das Bundesverfassungsgericht habe in der Vermögensteuerentscheidung zwar die Weitergeltung der betreffenden Vorschrift des VStG angeordnet. Dies sei aber auf steuer- und haushaltspolitische Erwägungen gestützt worden – die festgestellte Unvereinbarkeit der Vorschrift mit dem Grundgesetz sei durch diese Weitergeltungsanordnung jedoch nicht berührt worden.375 Interessant ist, dass das LG München II implizit davon ausgeht, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG ausschließlich die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags betrifft, die Frage der Strafbarkeit in der Begründetheit allein nach dem materiellen Strafrecht prüft.376 (2) § 2 Abs. 3 StGB lässt Strafbarkeit entfallen Im Rahmen dieser Prüfung kommt es zu dem Ergebnis, dass die Weitergeltungsanordnung wegen § 2 Abs. 3 StGB für die Frage der Strafbarkeit unerheblich ist. Nach dieser Norm sei das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht anwendbar, wenn es milder ist als das zum Tatzeitpunkt geltende. Unter „Gesetz“ sei nach der einschlägigen Rechtsprechung der gesamte Rechtszustand zu verstehen, von dem das „Ob und Wie“ der Strafbarkeit abhängt.377 Damit komme es hier auf die die Blankettnorm des § 370 AO ausfüllenden materiellen steuerrechtlichen Bestimmungen an. Die Blankettnorm des § 370 AO und das blankettausfüllende Steuerrecht würden eine Einheit bilden, die im Hinblick auf die Strafbarkeit nicht auftrennbar sei.378 Das Gericht ist ferner der Überzeugung, dass der Entfall des VStG ein „milderes Gesetz“ i. S. d. Vorschrift ist. In Rechtsprechung und Literatur sei unbestritten, dass unter § 2 Abs. 3 StGB nicht nur ein Außerkrafttreten durch Gesetzesänderung, sondern auch das ersatzlose Aufheben eines Strafgesetzes zu subsumieren sei.379 Der Gesetzgeber habe das Vermögensteuergesetz zwar nicht formell durch Gesetzesbeschluss aufgehoben. Durch das Verstreichenlassen der in der 373

LG München II NJW 2000, 372 (373). Ebenda. 375 Ebenda. 376 Zur dieser Frage mit Zusammenfassung der vertretenen Auffassungen unten D.I.1.b) (S. 326). 377 LG München II NJW 2000, 372 (373); dazu bereits oben C.II.1.a)bb)(1) (S. 208). 378 Ebenda. 379 Ebenda unter Verweis auf BGHSt 20, 116 (119); BayOLG NJW 1976, 527 (528). 374

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Vermögensteuerentscheidung gesetzten Frist habe er aber zum Ausdruck gebracht, dass die Vermögensteuerpflicht zum 1. Januar 1997 vollständig entfallen solle. Das habe auch dem politischen Willen der Mehrheit im Bundestag entsprochen. Diese stillschweigende ersatzlose Aufhebung des VStG durch Nichtbetätigung des gesetzgeberischen Willens sei einer ersatzlosen formellen Aufhebung oder Änderung eines Gesetzes i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB gleichzustellen. 380 (3) Vermögensteuergesetz insbes. kein Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB Das LG München II beschäftigt sich abschließend mit der Frage, ob das Vermögensteuergesetz als Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB anzusehen ist. Das Vermögensteuergesetz als Ganzes sei auf Dauer angelegt gewesen. Das Vermögen sollte nach Ansicht des Gerichts grundsätzlich – nach näherer gesetzlicher Differenzierung – mit einer Steuer belastet werden. Daher stelle das Vermögensteuergesetz kein Zeitgesetz dar.381 cc) BFHE 191, 240 Höchstrichterlich äußerte sich erstmals der Zweite Senat des Bundesfinanzhofs mit Urteil vom 24. Mai 2000 zu der Frage der Strafbarkeit wegen des Verstoßes gegen verfassungswidrige Steuernormen. Dabei ging es ebenfalls um die Hinterziehung der Vermögensteuer bis zum 31. Dezember 1996.382 Der Bundesfinanzhof kam dabei allerdings – ohne die vorigen Entscheidungen des OLG Frankfurt am Main und des LG München II zu berücksichtigen – zum Ergebnis, dass die Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung gegeben ist. Den Einstieg in die Fragestellung lieferte § 235 Abs. 1 S. 1 AO, wonach hinterzogene Steuern zu verzinsen sind. Im Rahmen dieser Vorschrift ist inzident zu prüfen, ob eine vollendete Steuerhinterziehung vorliegt, also die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 370 AO rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht wurden.383 In der Vorinstanz hatte das Finanzgericht Bremen entschieden, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 235 AO unabhängig davon gegeben seien, ob die Vermögensteuerhinterziehung trotz der erkannten Verfassungswidrigkeit des § 10 Nr. 1 VStG strafrechtlich noch verfolgt werden darf. Die Abschöpfung des Zinsvorteils stelle keine Strafmaßnahme dar und sei deswegen in jedem Falle anwendbar.384 380

LG München II NJW 2000, 372 (373). LG München II NJW 2000, 372 (374). 382 Dazu oben C.I.1.c) (S. 169). 383 BFHE 193, 63 (67); 191, 240 (246); 165, 330 (332); FG Bremen, EFG 1999, 417; Koenig, in: Pahlke/Koenig, § 235 Rn. 5; Rüsken, in: Klein, AO, § 235 Rn. 5. 384 FG Bremen EFG 1999, 417 (418). 381

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Anders allerdings der Bundesfinanzhof. Er beschränkt sich nicht auf den Hinweis des außerstrafrechtlichen Charakters des § 235 AO, sondern setzt sich inhaltlich mit der Frage auseinander, ob der Verstoß gegen Normen, die Gegenstand einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung geworden sind, zur Strafbarkeit führen kann. (1) Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung Ein erstes Argument für die Strafbarkeit schöpft das Gericht aus der Gesetzeskraft der Entscheidung: Auch der Weitergeltungsanordnung komme gemäß § 31 Abs. 2 S. 2 i.V. m. § 13 Nr. 8a BVerfGG Gesetzeskraft zu. Die solchermaßen mit Gesetzeskraft versehene Weitergeltungsanordnung schaffe kein Recht minderer Qualität, das von den Normadressaten ohne das Risiko, mit einer der dort vorgesehenen Sanktionen überzogen zu werden, ignoriert werden könne.385 Vielmehr blieben die Vorschriften des Vermögensteuergesetzes bezüglich aller bis Ende 1996 verwirklichten Sachverhalte geeignet, die Blankettvorschrift des § 370 AO auszufüllen und zusammen mit dieser den Straftatbestand der Steuerhinterziehung zu bilden, gegen den nach wie vor verstoßen werden könne.386 (2) Auslegung der Weitergeltungsanordnung Der Bundesfinanzhof argumentiert auch mit dem Wortlaut der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses habe die Weitergeltungsanordnung nicht dahingehend eingeschränkt, dass nur noch Steuerfestsetzungen erfolgen dürften, aber die Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung ausgeschlossen sei. Die Entscheidungsformel sei eindeutig, sie ordne nämlich an, dass „das bisherige Recht“ weiterhin anwendbar sei.387 (3) Systematische Untrennbarkeit von Steuerrecht und Steuerhinterziehung Eine solchermaßen beschränkte Weitergeltungsanordnung macht nach Auffassung des Gerichts auch systematisch keinen Sinn: Die Berechtigung zur Festsetzung von Vermögensteuern einerseits und die Strafbarkeit der Verkürzung andererseits würden keine durchgängig voneinander getrennten Anwendungsbereiche des Vermögensteuergesetzes darstellen. Über § 169 Abs. 2 S. 2 AO hänge nämlich vom Vorliegen einer Steuerhinterziehung bzw. leichtfertigen Steuerverkürzung ab, ob und wie weit zurück einzelne Steuerfestsetzungen noch möglich seien.388 385 386 387 388

BFHE 191, 240 (243) unter Verweis auf Schmidt, wistra 1999, 121 (125). BFHE 191, 240 (243 f.). BFHE 191, 240 (244). BFHE 191, 240 (244).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(4) Drohendes Vollzugsdefizit Das Gericht führt ferner ein BVerfGE 84, 239 (Zinsbesteuerung)389 entlehntes Argument ins Feld: Das Bundesverfassungsgericht habe dort entschieden, dass – wegen der Belastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) – bei Steuern, deren Festsetzung auf Steuererklärungen fußt, der gleichmäßige Verwaltungsvollzug durch gesetzgeberische Maßnahmen abgesichert werden muss. Fiele die Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung weg, so würde die Steuerbelastung dagegen im Wesentlichen auf der Erklärungsbereitschaft der Steuerpflichtigen beruhen. Es würde an jedweder Absicherung des Gesetzesvollzugs fehlen.390 (5) Art. 100 Abs. 1 GG Das Gericht kontert das Argument, die Weitergeltungsanordnung führe zu durchsetzbarem Unrecht, das nicht Grundlage eines Schuldvorwurfs sein könne, mit einem Verweis auf Art. 100 Abs. 1 GG: Formell ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze seien nach der Verfassung so lange uneingeschränkt verbindlich, als sie nicht vom Bundesverfassungsgericht auf Grund seines Verwerfungsmonopols (Art. 100 Abs. 1 GG) aufgehoben worden seien. Die Weitergeltungsanordnung eines materiell für verfassungswidrig befundenen Gesetzes hebe das Gesetz gerade nicht auf. Das Gesetz sei von den Normadressaten weiterhin zu beachten. Zuwiderhandlungen seien mit einem objektiven Unwerturteil verbunden.391 Zur Untermauerung des Unwertcharakters der Zuwiderhandlung gegen das Vermögensteuergesetz verweist der Bundesfinanzhof wiederum auf die Begründung der Weitergeltungsanordnung mit den Erfordernissen des gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs.392 Mit dieser Anordnung hätte also eine Gleichheit in der Zeit geschaffen werden sollen: Die Besteuerung aller Vermögensteuerpflichtigen sollte zu den gleichen Stichtagen gewährleistet werden. Somit sei die Weitergeltungsanordnung auch aus Gründen materieller Gerechtigkeit ausgesprochen worden.393 (6) § 79 Abs. 1 BVerfGG wegen Weitergeltungsanordnung unbeachtlich Der Bundesfinanzhof ist der Auffassung, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG nichts an der Tauglichkeit des Vermögensteuergesetzes zur Begründung der Strafbarkeit ändert. 389 390 391 392 393

Zu dieser Entscheidung oben C.I.1.a) (S. 149). BFHE 191, 240 (244). BFHE 191, 240 (244 f.). Dazu oben C.I.1.c)aa) (S. 169), C.I.1.c)bb)(2)(a) (S. 172). BFHE 191, 240 (245).

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Er begründet seine Auffassung anhand der Normenkollisionsregeln: Weitergeltungsanordnung – der Gesetzeskraft zukomme – und § 79 Abs. 1 BVerfGG stünden beide im Rang eines einfachen Gesetzes und seien demnach ranggleich. Dabei trage der – frühere – § 79 Abs. 1 BVerfGG der Verbindung der Unvereinbarerklärung mit der Weitergeltungsanordnung noch keine Rechnung. Die Vorschrift sei vielmehr durch die Vorstellung geprägt, dass die Unvereinbarerklärung ebenso wie die Nichtigerklärung stets zu einer Unanwendbarkeit des Gesetzes führt. Dies zeige die Gleichstellung der Unvereinbarerklärung mit der Nichtigerklärung in dieser Norm. Diese Vorstellung aber sei durch die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zur Weitergeltungsanordnung überholt.394 Die Weitergeltungsanordnung setzt sich demnach als spätere ranggleiche Regelung durch. (7) Keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Der Bundesfinanzhof ist ferner der Ansicht, dass § 2 Abs. 3 StGB der Strafbarkeit nicht entgegensteht. Zwar komme als milderer Rechtszustand im Sinne der Vorschrift auch der ersatzlose Wegfall der Vorschrift – wie er bei der Vermögensteuer infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum 1. Januar 1997 eingetreten ist395 – in Betracht.396 Eine Rechtsänderung stelle auch die Änderung der Ausfüllungsnormen von Blankettgesetzen wie dem § 370 AO dar.397 Trotzdem ist er der Auffassung, dass § 2 Abs. 3 StGB nicht einschlägig ist. Dazu beruft sich der Bundesfinanzhof – wie schon das OLG Frankfurt – auf eine Parallele zur herrschenden Meinung, nach der Änderungen von Steuergesetzen, die explizit nur für die Zukunft gelten sollen, keine „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB sind:398 Mit der Weitergeltungsanordnung bewirke das Bundesverfassungsgericht nämlich dasselbe wie der Steuergesetzgeber, wenn er eine Gesetzesänderung mit einer Überleitungsregelung versehe, nach der der neue Rechtszustand erst auf Zeiträume oder Stichtage ab einem bestimmten Datum anzuwenden ist. Die Tatsache, dass das Vermögensteuergesetz ab dem 1. Januar 1997 nicht mehr anwendbar ist, verändere nicht die Gesetzeslage bezüglich früherer Zeiträume bzw. Stichtage. Das leitet das Gericht wiederum aus der Weitergeltungsanordnung selbst ab; diese habe die weitere Anwendbarkeit des Vermögensteuergesetzes auf alle vor 1997 verwirklichten Tatbestände umfasst. Die Weitergeltungsanordnung hindere demnach – ungeachtet der Frage nach dem Charakter des Vermögensteuergeset394 395 396 397 398

BFHE 191, 240 (245). Dazu oben C.I.1.c)cc) (S. 175). BFHE 191, 240 (245). BFHE 191, 240 (245 f.). Dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

zes als Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB – die Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB. Der vor 1997 geltende vermögensteuerliche Rechtszustand gelte für die Veranlagungszeiträume bis einschließlich 1996 auch über den 31. Dezember 1996 hinaus; auch nach diesem Datum könne eine Vermögensteuerhinterziehung bezüglich der vergangenen Veranlagungszeiträume begangen werden.399 dd) LG Itzehoe Mit Beschluss vom 11. September 2000 befasste sich mit dem LG Itzehoe400 wiederum ein Strafgericht mit der Strafbarkeit des Verstoßes gegen verfassungswidrige, aber anwendbare Steuernormen. Hier ging es um die Hinterziehung der Vermögensteuer in den Jahren 1993–1996. Die Entscheidung setzt sich dabei als erste inhaltlich mit den soeben besprochenen auseinander.401 Es teilt dabei die Auffassung des OLG Frankfurt am Main und des Bundesfinanzhofs, dass die Hinterziehung der Vermögensteuer auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung strafbar ist. (1) § 79 Abs. 1 BVerfGG als Zulässigkeitsvorschrift Dabei führt es zunächst aus, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG einschlägig sei und schließt sich damit unausgesprochen teilweise der Argumentation des LG München II an.402 Der vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar, aber weiterhin anwendbar erklärte § 10 Nr. 1 VStG, der den Steuersatz der Vermögensteuer enthielt, sei die zentrale Norm für die Steuerfestsetzung gewesen. Deswegen beruhe eine Verurteilung wegen Hinterziehung der Vermögensteuer auch auf einer Norm, die für unvereinbar mit dem Grundgesetz befunden wurde. Diese Gesichtspunkte beträfen allerdings lediglich die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags.403 Auch dies hat bereits das LG München II implizit so gesehen.404 (2) Begründetheit: Auslegung der Weitergeltungsanordnung Die Begründetheit des Antrags hingegen richte sich nach § 370 Abs. 1 StPO405, der entsprechend anzuwenden sei. Im Ergebnis befand es den Antrag 399

BFHE 191, 240 (246). Wistra 2001, 31. 401 LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). 402 Zu dieser oben C.II.1.b)bb)(1) (S. 214). 403 LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). 404 Dazu oben C.II.1.b)bb)(1) (S. 214). 405 Danach wird der Antrag auf Wiederaufnahme unter anderem ohne mündliche Verhandlung als unbegründet verworfen, wenn „nach Lage der Sache die Annahme ausgeschlossen ist, daß die [. . .] bezeichnete Handlung [hier die Vermögensteuerentscheidung, Anm. d. Verf.] auf die Entscheidung Einfluß gehabt hat“. 400

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für unbegründet, da es ausgeschlossen sei, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Verurteilung des Beschwerdeführers Einfluss gehabt habe.406 Zur Begründung verweist es auf den Wortlaut der Weitergeltungsanordnung, womit es die Auffassung des Bundesfinanzhofs teilt:407 Das Bundesverfassungsgericht habe in BVerfGE 93, 121 ausdrücklich angeordnet, dass „das bisher geltende Recht“ bis zum 31. Dezember 1996 weiter angewendet werden dürfe. Diese Anordnung sei uneingeschränkt erfolgt und gemäß § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG i.V. m. § 13 Nr. 8a BVerfGG mit Gesetzeskraft versehen.408 (3) Spezialität der Weitergeltungsanordnung Daran anknüpfend schließt sich das LG Itzehoe auch dem Kollisionsargument des Bundesfinanzhofs409 an: Die Weitergeltungsanordnung überspiele als neuere und speziellere Regelung die gleichrangige gesetzliche Vorschrift des § 79 Abs. 1 BVerfGG. Entscheidend für diese Betrachtung sei, dass die Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG davon ausgehe, dass die Unvereinbarerklärung ebenso wie die Nichtigerklärung immer dazu führe, dass die Norm nicht mehr angewendet werden dürfe. Diese Grundlage entfalle durch die Weitergeltungsanordnung bzw. werde durch diese modifiziert. Deswegen könne eine Wiederaufnahme gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG letztlich nicht beansprucht werden.410 (4) § 2 Abs. 3 StGB ist nicht einschlägig Insbesondere – hier ist das LG Itzehoe auf einer Linie mit dem Bundesfinanzhof411 und dem OLG Frankfurt am Main412 – entfalle die Strafbarkeit nicht wegen § 2 Abs. 3 StGB. Dabei könne offen bleiben, ob das Vermögensteuergesetz ein Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB oder zumindest entsprechend zu behandeln sei. Entscheidend sei, dass die mit Gesetzeskraft versehene Weitergeltungsanordnung die Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB hindere.413 ee) BFHE 193, 63 In seinem Beschluss vom 27. Oktober 2000414 bezog sich der Achte Senat des Bundesfinanzhofs auf die Hinterziehung von Zinseinkünften. Damit widmete 406 407 408 409 410 411 412 413

LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). Dazu oben C.II.1.b)cc)(2) (S. 217). LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). Dazu oben C.II.1.b)cc)(6) (S. 218). LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). Dazu oben C.II.1.b)cc)(7) (S. 219). Dazu oben C.II.1.b)aa)(2) (S. 213). LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

sich die Rechtsprechung dem Problem erstmalig außerhalb der Vermögensteuer. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass die Vorschriften, die den Besteuerungstatbestand von Zinseinkünften ab dem EStG 1979 enthielten, zwar für sich betrachtet verfassungsgemäß waren, dass aber ein Vollzugsdefizit vorlag. Diese Vorschriften wurden laut Bundesverfassungsgericht zum 1. Januar 1993 verfassungswidrig.415 Der Bundesfinanzhof hatte nun zu entscheiden, ob gemäß § 235 AO Hinterziehungszinsen auf nicht erklärte Zinseinkünfte aus Kapitalvermögen der Veranlagungszeiträume 1988 bis 1992 festgesetzt werden durften, wobei inzident zu prüfen war, ob eine Steuerhinterziehung vorlag.416 Die Ausführungen des Bundesfinanzhofs sind hier deshalb fehl am Platze, weil die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, sondern eine Appellentscheidung war. Die Vorschriften waren bis zum 1. Januar 1993 verfassungsgemäß und bereits deswegen geeignet, die Strafbarkeit zu begründen. Der Bundesfinanzhof wirft dieses Problem zwar auf, lässt es aber – fälschlicherweise – offen.417 Die vom Bundesfinanzhof diskutierte Problematik der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts stellte sich hier gar nicht.418 Nichts desto trotz festigt der Achte Senat des Bundesfinanzhofs die vom Zweiten Senat in BFHE 191, 240 begründete Ansicht, dass der Verstoß gegen auf Grund einer Weitergeltungsanordnung fortgeltendes Recht strafbar ist. Deswegen werden die inhaltlichen Argumente des Bundesfinanzhofs hier erläutert, auch wenn sie an falscher Stelle angebracht wurden. Die soeben besprochenen Urteile der Strafgerichte wurden vom Bundesfinanzhof allerdings nicht berücksichtigt. (1) Spezifizierung der Argumente des Zweiten Senats Der Achte Senat stützt sich weitestgehend auf Argumente, die bereits der Zweite Senat in seiner Entscheidung aufgeführt hat. Diese Argumente werden lediglich um einige Besonderheiten des Sachverhalts und der Besteuerung von Zinseinkünften ergänzt: Auch der Achte Senat führt die systematische Untrennbarkeit von Steuer- und Steuerstrafrecht an.419 Dieses Argument sei bei der Zinsbesteuerung deswegen besonders gewichtig, weil die Finanzbehörden wegen der fehlenden steuerrecht-

414 Vgl. auch den der Entscheidung vorausgehenden Beschluss vom 19.10.2000, VIII B 77/00, Rn. 19 ff., zitiert nach juris. 415 Zu dieser Entscheidung oben C.I.1.a) (S. 149). 416 Dazu bereits C.II.1.b)cc) (S. 216). 417 BFHE 193, 63 (73). 418 Ausführlich dazu oben C.I.1.a)bb) (S. 151). 419 Zu der Argumentation des Zweiten Senats oben C.II.1.b)cc)(3) (S. 217).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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lichen Kontroll- und Ermittlungsmöglichkeiten420 auf die generalpräventive Wirkung des § 370 AO und die zusätzlichen Ermittlungsbefugnisse des Strafprozessrechts besonders angewiesen seien.421 Ebenso angeführt und spezifiziert wird das Argument des Zweiten Senats422, dass der Wegfall der Strafbarkeit zu einem Vollzugsdefizit führt; dies sei hier besonders relevant, da die Verfassungswidrigkeit der Zinsbesteuerung gerade auf ein solches gestützt wurde.423 Der Wegfall der Strafbarkeit laufe somit den in BVerfGE 84, 239 zum Ausdruck gekommenen Intentionen des Bundesverfassungsgerichts zuwider.424 Auch ist der Achte Senat mit gleichen Argumenten wie der Zweite425 der Auffassung, § 79 Abs. 1 BVerfGG stehe der Strafbarkeit nicht entgegen.426 Letztlich kommt der hier entscheidende Senat auch – ebenfalls mit gleichen Argumenten427 – zu der Auffassung, dass § 2 Abs. 3 StGB nicht einschlägig ist: Die relevante Gesetzesänderung habe ebenfalls nur für die Zukunft wirken sollen.428 (2) Neue Argumente Neben diesen Spezifizierungen der Argumente des Zweiten Senats entwickelt der Achte einige neue, die teilweise auf den Besonderheiten des Sachverhalts beruhen. (a) Begründung der „Weitergeltungsanordnung“ Zunächst spreche die Begründung der „Weitergeltungsanordnung“ 429 durch das Bundesverfassungsgericht für die vollumfängliche Anwendbarkeit der Normen. Diese Anordnung sei gerade nicht allein mit fiskalischen Gesichtspunkten begründet worden. Deswegen gehe die von Teilen der Literatur vertretene These, eine Perpetuierung von Verfassungsunrecht aus haushaltspolitischen Gründen 420 Stein des Anstoßes waren hier insbes. die Verifikationsbarrieren des § 30a AO 1977, die die Ermittlungsmöglichkeiten bei der Zinsbesteuerung mit Rücksicht auf das Vertrauensverhältnis zwischen Kunde und Bank stark einschränkten. 421 BFHE 193, 63 (68 f.). 422 Dazu oben C.II.1.b)cc)(4) (S. 218). 423 Dazu oben C.I.1.a)aa) (S. 150). 424 BFHE 193, 63 (69). 425 Dazu oben C.II.1.b)cc)(6) (S. 218). 426 BFHE 193, 63 (72 ff.). 427 Zu der Argumentation des Zweiten Senats oben C.II.1.b)cc)(7) (S. 219). 428 BFHE 193, 63 (74). Der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 StGB war allerdings hier von vornherein begrenzt, da die „Gesetzesänderung“ hier lediglich in einer Erhöhung der Sparerfreibeträge, nicht im Entfallen der Besteuerung bestand. Zudem betont das Gericht, dass – diese Frage konnte es mangels „Gesetzesänderung“ letztlich aber offenlassen – auch viel für ein Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB sprach. 429 Es handelte sich hier gar nicht um eine Weitergeltungsanordnung, sondern um eine Appellentscheidung.

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passe nicht zum Steuerstrafrecht430, ins Leere. Die Fortgeltung der betroffenen Normen sei nämlich primär aus dem rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) hergeleitet worden.431 (b) Aspekte des Art. 3 Abs. 1 GG Der Achte Senat untersucht darüber hinaus, ob ein Wegfall der Strafbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wäre. Interessant sind die Ausführungen zu den unausgesprochenen Gründen der „Weitergeltungsanordnung“. Das Gericht geht davon aus, dass dieser Anordnung – neben haushaltspolitischen Erwägungen – auch Aspekte der materiellen Steuergerechtigkeit (Besteuerungsgleichheit) zu Grunde gelegen haben. So ist es aus Sicht des Achten Senats trotz des bestehenden Vollzugsdefizits unter dem Aspekt der Besteuerungsgleichheit kaum zu rechtfertigen, die bis einschließlich 1992 erzielten Zinseinkünfte (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG d. F.) von der Besteuerung auszunehmen. Die übrigen Kapitaleinkünfte (bspw. gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG d. F.), andere Einkünfte aus Vermögensverwaltung (insbes. aus § 21 EStG d. F.) sowie alle restlichen Einkünfte hätten nämlich weiter der Besteuerung unterlegen. Der durch die Vernichtung des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG hervorgerufene Gleichheitsverstoß wäre demnach noch gravierender gewesen, als der, der durch die Ungleichbehandlung bei der Erhebung der Zinseinkünfte bestand.432 Dieses Argument überträgt das Gericht auf die Strafbarkeit: Es ist auch hier der Auffassung, dass es in Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigen ist, den Hinterzieher von Steuern auf Kapitaleinkünfte i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG oder auf Einkünfte i. S. d. § 21 EStG der Strafbarkeit zu unterwerfen, wenn andererseits der Hinterzieher von Zinssteuern i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG straffrei ausgehen soll. Auch letzterer habe unter Missachtung der fortgeltenden materiellen Steuernormen die Finanzbehörde über steuerlich erhebliche Tatsachen getäuscht und dadurch Steuern verkürzt.433 (c) Rechtsgutbetrachtung Der Achte Senat führt – eine anderslautende Literaturansicht aufgreifend – eine Rechtsgutbetrachtung zur Begründung der Strafbarkeit an. Die betreffende Stimme in der Literatur geht davon aus, dass verfassungswidrige Steuern deswegen nicht hinterzogen werden können, weil schützenswertes Rechtsgut der 430 Das Gericht zitiert hier Urban, DStR 1998, 1995 (1999); Kohlmann/HilgersKlautzsch, Stbg 1998, 485 (490). 431 BFHE 193, 63, 70; dazu auch oben C.I.1.a)aa) (S. 150). 432 BFHE 193, 63 (70 f.). 433 BFHE 193, 63 (71).

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Steuerhinterziehung nur diejenigen Steueransprüche sind, welche dem Verfassungsgebot der Lastengleichheit genügen.434 Diese Meinung sei bereits deswegen abzulehnen, weil nach ständiger Rechtsprechung und ganz herrschender Meinung das strafrechtlich geschützte Rechtsgut des § 370 AO der Anspruch der steuerberechtigten Körperschaften auf den Ertrag der betreffenden Steuern sei.435 Selbst wenn man jedoch der Literaturauffassung folge, ändere dies nichts an der Strafbarkeit der Zinssteuerhinterziehung. Die Weitergeltungsanordnung sei nämlich gerade auch deshalb erfolgt, um die Lastengerechtigkeit zwischen den Beziehern von Einkünften gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG und denen anderer Einkünfte zu wahren436 – insoweit bezieht sich das Gericht auf seine bereits dargestellte Argumentation zur Besteuerungsgleichheit. ff) OLG Hamburg Das OLG Hamburg ist das nächste Strafgericht, das sich in seinem Urteil vom 5. Dezember 2000 zu der Frage der Strafbarkeit äußerte.437 Es hatte im Rahmen einer Revision gegen ein die Strafbarkeit verneinendes Urteil des AG Hamburg zu entscheiden. Auch das OLG Hamburg kommt zu dem Ergebnis, dass das Vermögensteuergesetz für die unter seiner Geltung begangenen Hinterziehungshandlungen weiterhin die Blankettnorm des § 370 AO ausfüllt und die Strafbarkeit somit gegeben ist.438 (1) Vermögensteuergesetz als „Zeitgesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB Interessant ist die Begründung, die von den vorigen die Strafbarkeit bejahenden Entscheidungen abweicht. Die Strafbarkeit ergebe sich nämlich aus § 2 Abs. 4 StGB, wonach Zeitgesetze von der Privilegierung des § 2 Abs. 3 StGB ausgenommen sind. Denn das Vermögensteuergesetz sei durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, in dem die Weitergeltung bis zum 31. Dezember 1996 angeordnet wurde, zum „Zeitgesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB geworden. Dabei widerspricht das Gericht ausdrücklich der anderslautenden Argumentation des LG München II.439 Dieses verkenne, dass es auch nachträglich möglich sei, ein ursprünglich in seiner Dauer unbegrenztes Gesetz durch eine Gesetzesänderung mit einer zeitlich auflösenden Befristung zu versehen. Eine derartige Be-

434 Der BFH bezieht sich auf Salditt, StraFO 1997, 65 (68). Zu dessen Ansicht noch unten C.II.1.c)cc)(2)(b) (S. 250). 435 BFHE 193, 63 (71). 436 Ebenda. 437 Wistra 2001, 112. 438 OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113). 439 Dazu oben C.II.1.b)bb)(3) (S. 216).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

fristung könne auch durch die in Gesetzeskraft erwachsende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgen. Gesetzgeber im materiellen Sinn sei nicht nur der Bundestag im parlamentarischen Verfahren gemäß Art. 77 GG, sondern in entsprechenden Fällen auch das Bundesverfassungsgericht.440 (2) Steuerrecht minderer Qualität systemwidrig Ferner sei es nicht einzusehen, weshalb die eine Besteuerung strafrechtlich geschützt werden solle, die andere hingegen nicht. Der Blankettnorm des § 370 AO sei jegliche Differenzierung hinsichtlich „besserer gerechterer“ und „schlechterer ungerechterer“ Steuern fremd.441 Eine solche Differenzierung würde letztlich bedeuten, dass es ein Steuerrecht minderer Qualität gebe, gegen dass der Normadressat ohne Sanktionsrisiko verstoßen könne.442 In dieser Frage schließt sich das Gericht also dem Bundesfinanzhof an.443 Ebenso verfährt es bei der Rechtsgutsbetrachtung.444 gg) Der Bundesgerichtshof: BGHSt 47, 138 Schließlich hat sich der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom 7. November 2001 zu der Frage der Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung geäußert.445 Er hat dabei die bis dato existierende Rechtsprechung und Literatur berücksichtigt.446 Der Senat hat sich der überwiegenden Meinung der übrigen Gerichte angeschlossen und die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung bejaht. Er stützt sich dabei weitgehend auf die Argumente des Zweiten Senats des Bundesfinanzhofs.447 Da seine Ausführungen den Schlussstrich der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Problem der Strafbarkeit der Hinterziehung verfassungswidriger Steuern darstellt, werden sie trotz einiger inhaltlicher Wiederholungen im Folgenden wiedergegeben. (1) Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung Der Fünfte Strafsenat führt – wie zuvor der Zweite Senat des Bundesfinanzhofs448 – aus, dass die Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung (§ 31 Abs. 2 440 441 442 443 444 445 446 447 448

OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113) m. N. Ebenda. Ebenda. Dazu oben C.II.1.b)cc)(1) (S. 217). Dazu oben C.II.1.b)ee)(2)(c) (S. 224). BGHSt 47, 138. Vgl. BGHSt 47, 138 (140). Zu dieser Entscheidung oben C.II.1.b)cc) (S. 216). Dazu oben C.II.1.b)cc)(1) (S. 217).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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BVerfGG) die Strafbarkeit zur Folge habe: Mit der Weitergeltungsanordnung sei das Vermögensteuergesetz bis zum 31. Dezember 1996 weiter als Ausfüllungsnorm des § 370 AO heranzuziehen. Auch der Bundesgerichtshof betont, dass die befristete weitere Anwendbarkeit des Vermögensteuerrechts kein Recht minderer Qualität schafft, das vom Normadressaten ohne das Risiko, mit einer der vorgesehenen Sanktionen überzogen zu werden, ignoriert werden kann.449 (2) Auslegung der Weitergeltungsanordnung Auch in der Frage der Auslegung der Weitergeltungsanordnung schließt sich der Fünfte Strafsenat dem Zweiten Senat des Bundesfinanzhofs450 an. Die Weitergeltungsanordnung müsse insbesondere nicht ausdrücklich auf das Strafrecht ausgedehnt werden. Die strafrechtliche Anwendbarkeit folge bereits aus der Entscheidungsformel, nach der „das bisherige Recht weiterhin anwendbar“ sei. Eine Beschränkung dahingehend, dass nur noch Steuerfestsetzungen erfolgen dürfen, die Strafbarkeit hingegen ausgeschlossen ist, sei dem nicht zu entnehmen und ersichtlich auch nicht gewollt.451 (3) Wegfall der Strafbarkeit führt zu Vollzugsdefizit Zudem sieht auch452 der Fünfte Strafsenat die Gefahr, dass ein Wegfall der Strafbarkeit zu einem Vollzugsdefizit führen könnte. Ohne die Strafbarkeit hänge die Steuerbelastung im Wesentlichen von der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen ab. Für Steuern, deren Festsetzung auf Steuererklärungen beruhe, habe das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 84, 239453 jedoch ausgeführt, dass der gleichmäßige Verwaltungsvollzug – über die rechtlich gleichmäßige Belastung hinaus – durch gesetzgeberische Maßnahmen abgesichert werden muss. Das ergebe sich aus dem Verfassungsgebot der Belastungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG).454 Der Fünfte Strafsenat sieht im Entfallen der Strafbarkeit einen Widerspruch zu diesen Grundsätzen. (4) Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung Darauf aufbauend gelangt er zu der Auffassung, dass der Wegfall der Strafbarkeit dem Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung widerspricht. Diese sei durch die Erfordernisse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines 449

BGHSt 47, 138 (141). Zu dessen Argumentation oben C.II.1.b)cc)(2) (S. 217). 451 BGHSt 47, 138 (141). 452 Zu der gleichlautenden Auffassung des BFH oben C.II.1.b)cc)(4) (S. 218), C.II. 1.b)ee)(1) (S. 222). 453 Zu dieser Entscheidung oben C.I.1.a) (S. 149). 454 BGHSt 47, 138 (141). 450

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gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs gerechtfertigt worden. Der Senat ist der Ansicht, dass es ohne Strafbarkeit an jeglicher Absicherung des Gesetzesvollzugs fehlen würde. Er sieht daher die Gefahr, dass die strafrechtliche Anwendungssperre zu einer tatsächlichen Ungleichbehandlung führen würde. Dieser wiederum käme nach der – vom Fünften Strafsenat unterstellten – Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem bestehenden Gleichheitsverstoß das größere Gewicht zu.455 (5) Art. 100 Abs. 1 GG Wiederum auf die Argumentation des Zweiten Senats des Bundesfinanzhofs aufbauend führt der Fünfte Strafsenat aus, dass eine Auslegung von § 370 AO, nach der nur verfassungsgemäße Steuernormen Anknüpfungspunkt für eine Strafbarkeit sein können, Art. 100 Abs. 1 GG widerspreche. Formell ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze seien nämlich so weit und so lange für Bürger, Behörden und Gerichte uneingeschränkt verbindlich, als sie nicht vom Bundesverfassungsgericht auf Grund seines Kassationsmonopols (Art. 100 Abs. 1 GG) aufgehoben worden seien. Eine Weitergeltungsanordnung hebe eine Norm jedoch gerade nicht auf. Das mit Zuwiderhandlung gegen diese Norm verbundene objektive Unwerturteil bleibe somit bestehen.456 (6) § 79 Abs. 1 BVerfGG tritt auf Kollisionsebene zurück Der Bundesgerichtshof widerspricht ausdrücklich der Auffassung § 79 Abs. 1 BVerfGG stehe der Strafbarkeit entgegen. Der Fünfte Strafsenat greift dabei das Kollisionsargument des Zweiten Senats des Bundesfinanzhofs457 und des LG Itzehoe458 auf: Die einfachgesetzliche Vorschrift des § 79 Abs. 1 BVerfGG werde durch die gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG ebenfalls mit Gesetzeskraft ausgestattete und somit ranggleiche Weitergeltungsanordnung als neuere und speziellere gesetzliche Vorschrift verdrängt. § 79 Abs. 1 BVerfGG setze voraus, dass auch eine lediglich mit dem Grundgesetz unvereinbare Norm nicht mehr angewandt werden dürfe. Diese Rechtslage sei in Fällen der Weitergeltungsanordnung nicht gegeben.459 (7) Keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Abschließend geht das Gericht auf § 2 Abs. 3 StGB ein; auch hier schließt es sich dem Zweiten Senat des Bundesfinanzhofs an.460 Zwar komme als milderer 455 456 457 458 459 460

BGHSt 47, 138 (142). BGHSt 47, 138 (142). Dazu oben C.II.1.b)cc)(6) (S. 218). Dazu oben C.II.1.b)dd)(2) (S. 220). BGHSt 47, 138 (142 f.). Zu dessen Argumentation oben C.II.1.b)cc)(7) (S. 219).

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Rechtszustand i. S. d. Vorschrift auch der ersatzlose Wegfall eines Gesetzes in Betracht. Auch sei die Änderung der Ausfüllungsnormen von Blankettgesetzen wie § 370 AO eine Rechtsänderung i. S. v. § 2 Abs. 3 StGB. Allerdings greife die Vorschrift deswegen nicht ein, weil das Vermögensteuergesetz hinsichtlich der Veranlagungszeiträume vor 1997 weiter anzuwenden sei. Anders als § 2 Abs. 3 StGB es voraussetze, würden die blankettausfüllenden Normen bezüglich dieser Veranlagungszeiträume wie Zeitgesetze fortgelten.461 Auch der Bundesgerichtshof setzt somit das Außerkrafttreten des Vermögensteuergesetzes einer Änderung eines Steuergesetzes, die lediglich für die Zukunft gelten soll, gleich und löst die Problematik dann auf Grundlage der hierzu herrschenden Ansicht.462 hh) Das Bayerische Oberste Landesgericht Auch das Bayerische Oberste Landesgericht hat sich in seinen Beschlüssen vom 10. September 2002463 und vom 11. März 2003464 der Auffassung angeschlossen, dass der Verstoß gegen auf Grund von Weitergeltungsanordnungen fortgeltende Normen gemäß § 370 AO strafbar ist.465 Allerdings hat es diese Auffassung nicht näher begründet. ii) Das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht mit der Problematik der Strafbarkeit gemäß § 370 AO auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen 461

BGHSt 47, 138 (143 f.). Dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209). 463 Wistra 2003, 117. Dieser Beschluss befasste sich mit der Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung. 464 Wistra 2003, 315. Dieser Beschluss betraf die Nichtangabe von Einkünften aus der Veräußerung von Zero-Bonds im Veranlagungsjahr 1993 und die Nichtangabe von Spekulationsgewinnen im Veranlagungsjahr 1997. Die betreffende Norm des EStG zu letzterer (§ 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b) EStG 1997) hatte der Bundesfinanzhof dem Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung vorgelegt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 110, 94) stand zum Zeitpunkt des Beschlusses des BayObLG noch aus. Das BayObLG war der Ansicht, dass eine Strafbarkeit der Hinterziehung gem. § 370 AO für beide Fälle in jedem Fall besteht, ohne dass es seinerseits die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen oder das Verfahren gem. § 396 AO aussetzen musste. Das Bundesverfassungsgericht werde die betreffenden Normen des EStG im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit nämlich nicht für nichtig, sondern lediglich für mit der Verfassung unvereinbar, aber weiterhin anwendbar erklären. Das wiederum reiche für eine Strafbarkeit aus. Selbst im Falle der Verfassungswidrigkeit sei somit eine Strafbarkeit gegeben, BayObLG wistra 2003, 315 f. Tatsächlich wurde die überprüfte Norm dann vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, vgl. BVerfGE 110, 94 (95), was die ohnehin fragwürdige und die verfassungsgerichtliche Entscheidung vorwegnehmende Argumentation des BayObLG ad absurdum führt. 465 BayObLG wistra 2003, 315 (316); 117 (119). 462

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auseinandergesetzt. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht am 10. Mai 2005 eine gegen BFHE 191, 240 eingelegte Verfassungsbeschwerde – unter Verweis auf § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG – ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.466 Ein Nichtannahmebeschluss durch eine Kammer gemäß § 93b S. 1 BVerfGG ist jedoch explizit keine Entscheidung in der Sache, die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde bleibt vielmehr unentschieden.467 Bereits deswegen ist dem Nichtannahmebeschluss keine Aussage zur Frage der Strafbarkeit zu entnehmen. Dies gilt hier umso mehr, als die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Verzinsung hinterzogener Vermögensteuer gemäß § 235 AO gerichtet war, die alleine bezogen auf die betroffenen Grundrechte und deren Relevanz für den Betroffenen ganz andere Implikationen hat als die Strafbarkeit gemäß § 370 AO. jj) Zwischenergebnis: Die herrschende Rechtsprechung und ihre Kernargumente Die ganz überwiegende Rechtsprechung ist somit der Ansicht, dass der Verstoß gegen verfassungswidrige, aber auf Grund einer Weitergeltungsanordnung fortgeltende Steuernormen gemäß § 370 AO strafbar ist.468 Die Kernargumente lauten: • Die Auslegung der Weitergeltung ergibt, dass diese unbeschränkt gelten soll und nicht auf das Steuerrecht begrenzt ist. Das durch die Weitergeltungsanordnung geschaffene Recht ist kein Recht minderer Qualität, gegen das ohne das 466

BVerfG, Kammerbeschluss v. 10.05.2001 – BvR 1242/00, zitiert nach juris. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 268; Graßhof, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 93b Rn. 17. Schlaich/Korioth sind deswegen der Auffassung, dass die Wissenschaft solche Entscheidungen gar nicht erst in die Diskussion mit einbeziehen sollte. 468 Vgl. neben den soeben besprochenen Entscheidungen noch: BFH wistra 2002, 350 (Bestätigung von BFHE 193, 63); Beschluss v. 29.11.2001, II B 93/00, Rn. 18; FG Hamburg, Urteil v. 23.11.2006, 2 K 298/04, Rn. 22; FG Hessen, Urteil v. 09.10.2006, 3 K 1783/03, Rn. 41 ff.; FG Hamburg, Beschluss v. 14.12.2004, II 304/04, Rn. 16 ff.; Beschluss v. 15.02.2003, VI 153/02, Rn. 37; Beschluss v. 11.05.2001, VI 269/99, Rn. 67 f.; FG Niedersachsen, 2. Senat, Beschluss v. 21.06.2000, 2 K 320/98, Rn. 77; FG Hamburg, Beschluss v. 20.06.2000, V 71/00, Rn. 22 ff.; FG Düsseldorf, Beschluss v. 23.05.2000, 10 V 938/00 A (E, V), Rn. 24 ff.; Beschluss v. 18.05.2000, 10 K 999/96 V, Rn. 18 f.; FG Hamburg, Beschluss v. 26.04.2000, V 60/00, Rn. 10; FG Köln, Urteil v. 11.04.2000, 14 K 4393/97, Rn. 17 ff.; FG Nürnberg, Urteil v. 17.02.2000, IV 5/1999, Rn. 5; FG Baden-Württemberg, Beschluss v. 13.01.2000, 13 V 20/99, Leitsatz; a. A. – neben der oben dargestellten Entscheidung des LG München II – FG Niedersachsen, 1. Senat, Beschluss v. 01.09.2000, 1 V 220/00, Rn. 6 ff. (ausdrücklich von der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesfinanzhofs in BFHE 191, 240 abweichend); Beschluss v. 07.08.2000, 1 V 161/00, Rn. 9 ff.; Beschluss v. 03.07.2000, 1 V 626/99, Rn. 12 ff.; Beschluss v. 08.06.2000, 1 V 16/00, Rn. 3; AG Hamburg, unveröffentlicht, nach OLG Hamburg wistra 2001, 112 f. Die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen jeweils zitiert nach juris. 467

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Risiko von Sanktionen verstoßen werden kann. Ein solches Recht minderer Qualität wäre systemwidrig.469 • § 79 Abs. 1 BVerfGG steht der Strafbarkeit bereits deswegen nicht entgegen, weil die Regelung von der neueren und spezielleren Weitergeltungsanordnung – die gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG mit Gesetzeskraft versehen ist und somit den gleichen Rang wie § 79 Abs. 1 BVerfGG hat – verdrängt wird.470 • Formell ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze sind so lange verbindlich, bis sie vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden. Das gebietet das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 Abs. 1 GG). Eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung hebt die Norm aber gerade nicht auf; die Norm ist vollumfänglich wirksam. Das mit einer Zuwiderhandlung verbundene Unwerturteil bleibt bestehen.471 • Das Entfallen der Strafbarkeit würde zu einem Vollzugsdefizit führen, dass seinerseits – wie das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 84, 239 (Zinsbesteuerung) entschieden hat – nicht mit der Verfassung zu vereinbaren ist.472 • Darüber hinaus führt das Straflosstellen von solchen Steuerpflichtigen, die gegen ein für unvereinbar erklärtes, aber weiterhin anwendbares Steuergesetz verstoßen haben, gegenüber anderen Steuerpflichtigen, die wegen Steuerhinterziehung bezüglich anderer Steuergesetze bestraft werden, zu einer weiteren, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Ungleichbehandlung.473 • Die ganz überwiegende Rechtsprechung hält § 2 Abs. 3 StGB für nicht einschlägig.474 Begründung: Die Weitergeltungsanordnung hat zum Inhalt, dass sich die Rechtslage für bis zum genannten Stichdatum verwirklichte Sachverhalte nach den für unvereinbar erklärten Normen richtet. Die Neuregelung bzw. ihr Ausbleiben wirkt nur für die Zukunft, d.h. für ab diesem Stichdatum verwirklichte Sachverhalte. Das ist genauso zu behandeln, wie eine Gesetzesänderung durch den Gesetzgeber, die explizit nur für die Zukunft gelten soll:475 Eine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB liegt nicht vor.476 Zu469 BGHSt 47, 138 (141); BFHE 191, 240 (243 f.); OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113); zur Auslegung LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). 470 BGHSt 47, 138 (142 f.); BFHE 191, 240 (245); LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32); ähnlich BFHE 193, 63 (72). 471 BGHSt 47, 138 (142); BFHE 191, 240 (244 f.). 472 BGHSt 47, 138 (141 f.); BFHE 193, 63 (69); 191, 240 (244). 473 BFHE 193, 61 (71). 474 BGHSt 47, 138 (143 f.); BFHE 193, 63 (74); 191, 240 (245 f.); OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113); OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154 (155); LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32); a. A. LG München II NJW 2000, 372 (373). 475 Das ist die sog. Parteispenden-Problematik, vgl. dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209). 476 BGHSt 47, 138 (143 f.); BFHE 193, 63 (74); 191, 240 (246); OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154 (155); vgl. auch LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

dem ist das alte Recht durch die Befristung durch das Bundesverfassungsgericht Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB geworden.477 c) Die Literatur Im Gegensatz zur Rechtsprechung ist die Lage in der umfangreichen Literatur nicht so eindeutig. Beide Auffassungen – Strafbarkeit wie Straflosigkeit – werden zahlreich vertreten, wobei die Gegner478 der Strafbarkeit gegenüber deren Befürwortern479 geringfügig in der Mehrzahl sind. 477

OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113); in diese Richtung auch BFHE 193, 63

(74). 478 Nach Einstieg in die Problematik: Allgemein: Bornheim, PStR 1998, 195; Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 86; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1476; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433 f.); Salditt, StraFo 1997, 65 (68); ders., FS Tipke, S. 480; Seer, in: Tipke/Lang, § 23 Rn. 2; Tipke, FS Kohlmann, S. 560 ff., 574 f.; ders., PStR 2000, 143; ders., BB 1998, 241 (246); wohl auch Andrejtschitsch/Scherer, in: Wannemacher, Rn. 34. Vermögensteuer: Bornheim, PStR 2000, 75 (78); ders., DB 1999, 2600 f.; ders., Stbg 1999, 310 (317 f.); ders., PStR 1998, 195 (196); mittlerweile anders, vgl. Fn. 479; Bornheim/Birkenstock, Steuerfahndung, S. 237 ff.; Burkhard, Stbg 2000, 122 (125); Daragan, DStR 1999, 2116 (2117); Degenhard, DStR 2001, 1370; Feldmann, Strafbarkeit, S. 212 f.; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1485 ff.; Lammerding/Hackenbroch, Steuerstrafrecht, S. 18 f.; Niebler, Stbg 2001, 116 (120); Plewka/Heerspink, BB 2000, 292 (293); dies., BB 1999, 2429 (2432); Resing, DStR 1999, 922 (923); Spatscheck/ Seebode, BB 1999, 2480 (2482); Tipke, GmbHR 1996, 8 (15 f.); Traub, in: Wannemacher, Rn. 1255; Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (7); Urban, INF 1999, 617 (618); ders., DStR 1998, 1995 (1997); Wendt, AktStR 1998, 195 (201). Zum Sonderproblem der Vermögensteuerhinterziehung durch Unterlassen auf einen Neu- bzw. Nachveranlagungszeitpunkt: Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1490 ff.; Schlepp, DStZ 2001, 282 f. Erbschaftsteuer: Bornheim, PStR 1998, 195 (197); Kindshofer/Wegner, PStR 2007, 45 (46); vgl. auch Hilgers-Klautzsch, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1516 (unter Verweis auf ablehnende Auffassung zur Vermögensteuer). Zinseinkünfte (in diesem Zusammenhang eigentlich fehl am Platze, dazu oben C.I.1.a)bb) (S. 151)): Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1501; ders./ Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (167) = Stbg 1998, 485 (493); Niebler, Stbg 2000, 221 (223). 479 Ebenfalls nach Einstieg in die Problematik: Allgemein: Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, 900 AO § 369 Rn. 44; vgl. auch ders., PStR 2008, 1 (2); Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 302 ff., insbes. auch Fn. 1919, in der er die Vermögensteuer als Zeitgesetz definiert und damit letztlich die Strafbarkeit ihrer Hinterziehung annimmt, anders noch seine frühere Auffassung, vgl. Fn. 478; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 51 ff., 54; Joecks, wistra 2006, 401; Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 4; ders., in: Graf/Jäger/Wittig, 900 AO § 370 Rn. 4; Schmitz-Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 66. Die Strafbarkeit grundsätzlich für gegeben halten auch Nolte, Hinterziehung, S. 79, 136 f.; Röckl, Steuer-

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Im Folgenden wird zunächst kurz in die Methodik der Darstellung eingeführt [aa)], wonach die in der Literatur vorgebrachten Argumente für und wider die Strafbarkeit nachvollzogen werden480 [bb), cc)]. Die Frage des Entfallens der Strafbarkeit gemäß § 2 Abs. 3 StGB wird dabei gesondert behandelt [dd)]. aa) Methodik der Darstellung Eine Wertung der vertretenen Ansichten inklusive einer Stellungnahme soll auf einer abstrakten Ebene – die Tatbestände des § 370 AO und des § 284 StGB umfassend – im Abschnitt D. dieser Arbeit erfolgen.481 Im Folgenden werden die Argumente der Literatur zu § 370 AO grundsätzlich lediglich dargestellt. Um die Übersichtlichkeit zu wahren, werden hiervon jedoch zwei Ausnahmen gemacht: Verfassungsprozessrechtliche Ansichten, die Erkenntnissen aus dem verfassungsprozessrechtlichen Teil der Arbeit482 widersprechen, werden bereits im Folgenden nach Schilderung der jeweiligen Ansicht einer Stellungnahme zugeführt. Gleiches gilt für nicht verallgemeinerbare Argumente, die an tatsächlichen oder rechtlichen Besonderheiten der Steuerhinterziehung ansetzen, wie die „Sonderproblematik“ des § 2 Abs. 3 StGB bei der Vermögensteuerhinterziehung. bb) Argumente für die Strafbarkeit Bei der Darstellung der Argumente für die Strafbarkeit wird zuerst auf Argumente eingegangen, die einen verfassungs- oder verfassungsprozessrechtlichen Bezug haben, um danach im Kern strafrechtliche Argumente vorzutragen. strafrecht, S. 220 f., 224 f., wobei sie im Falle des Fristablaufs ohne Tätigwerden des Gesetzgebers – wie bei der Vermögensteuer geschehen – § 2 Abs. 3 StGB für einschlägig halten und hier ausnahmsweise die Straflosigkeit annehmen. Vermögensteuer: Brandenstein, NJW 2000, 2326 (2328); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 21, 36; Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b; Lackner/Kühl, § 2 Rn. 4; Meine, DStR 1999, 2101; Rolletschke, DStZ 2000, 211 (214); ders., in: Dietz/Cratz, § 370 AO Rn. 254; Schmidt, wistra 1999, 121 (126); Schuster, Bezugsnormen, S. 249 f.; Simon/ Vogelberg, Steuerstrafrecht, S. 20; Wulf, wistra 2001, 41 (50). Zum Sonderproblem der Vermögensteuerhinterziehung durch Unterlassen auf einen Neu- bzw. Nachveranlagungszeitpunkt: Rolletschke, DStZ 2001, 550 (551 f.); ders., in: Dietz/Cratz, § 370 AO Rn. 255. Zinseinkünfte (in diesem Zusammenhang eigentlich fehl am Platze, dazu oben C.I.1.a)bb) (S. 151)): Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 52. 480 Außer Betracht bleiben im Folgenden diejenigen Ansichten, die den subjektiven Tatbestand des § 370 AO genauer untersuchen oder das Problem auf Ebene der Strafzumessung oder der strafprozessualen Einstellungstatbestände diskutieren. Derlei Ausführungen sind nur dann notwendig, wenn verfassungswidrige Normen überhaupt Grundlage der Strafbarkeit sein können. Sie sind somit lediglich Ausfluss des im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Problems und können zu seiner Lösung nicht beitragen. 481 Dazu Abschnitt D. (S. 322). 482 Oben Abschnitt B. (S. 31).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumente (a) Wortlaut, Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung Auch in der Literatur wird das aus der Rechtsprechung bekannte Argument verwendet, dass die Weitergeltungsanordnung keine Begrenzung auf das Steuerrecht enthalte, sie vielmehr uneingeschränkt ausgesprochen wurde; eine ausdrückliche Ausdehnung auf das Strafrecht sei nicht erforderlich gewesen.483 Die weitergeltenden Vorschriften seien kein Recht minderer Qualität.484 Das Ausbleiben der ausdrücklichen Ausdehnung sei schlicht dadurch zu erklären, dass die Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen sei.485 Wulf liefert eine bedenkenswerte Begründung, warum eine ausdrückliche Erstreckung auf das Strafrecht entbehrlich gewesen sein soll. Die Besonderheit von Blankettstrafgesetzen – nach herrschender Auffassung486 und der Auffassung Wulfs487 ist § 370 AO ein solches – bestehe gerade darin, dass eine originär außerstrafrechtliche Verhaltensanordnung durch den Blanketttatbestand strafrechtlich geschützt werde. Daraus folge, dass sich die außerstrafrechtliche Wirksamkeit nicht von der strafrechtlichen Geltung trennen lasse. Die strafrechtliche Folge der Weitergeltungsanordnung beruhe daher bereits auf der tatbestandlichen Struktur des § 370 AO und müsse nicht ausdrücklich angeordnet werden.488 Bornheim begründet die Strafbarkeit darüber hinaus mit Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung. Diese solle ja gerade den Eintritt eines – hier greift er das die Weitergeltungsanordnung rechtfertigende Rechtsfolgenargument des Bundesverfassungsgerichts auf – noch verfassungsferneren Zustands als dem vom Bundesverfassungsgericht gerügten vermeiden. Die Gegenauffassung, welche die Strafbarkeit ablehne, führe aber genau einen solchen in Gestalt eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG herbei: Eine Steuerpflicht, deren Erfüllung letztlich nicht mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft werden könne, sei faktisch nicht existent. Eine solche Steuerpflicht sei einer freiwilligen Steuerzahlung gleichzusetzen. Im Falle der Straflosigkeit könne die Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts nämlich faktisch – durch Nichtbefolgung der unstreitig weiter bestehenden steuerlichen Deklarationspflichten – unterlaufen werden. Das

483 Vgl. Rolletschke, in: Dietz/Cratz, § 370 AO Rn. 254; Schmidt, wistra 1999, 121 (124 f.); Wulf, wistra 2001, 41 (49 f.). 484 Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig, 900 AO § 369 Rn. 44. 485 Meine, DStR 1999, 2101 (2104). 486 Dazu oben C.II.1.a)aa)(3) (S. 206). 487 Wulf, wistra 2001, 41 (47, insbes. auch Fn. 49). 488 Wulf, wistra 2001, 41 (49); in diese Richtung auch Schuster, Bezugsnormen, S. 249 f.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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verstoße gegen das Gebot der gleichmäßigen Lastenverteilung wie auch der konkreten Belastungsgleichheit und damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG.489 Eine ähnliche Stoßrichtung hat der Vorwurf, die Straflosigkeit führe zu nicht erträglichen Ergebnissen. Der gerechte, aber dumme Bürger, der den Leistungsbefehl des Steuergesetzes und die Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts ernst nehme, erkläre seine Verhältnisse richtig und zahle Steuern, während andere ihre steuerlichen Pflichten sanktionslos verletzen könnten und nicht zur Zahlung aufgefordert würden.490 Darüber hinaus – auch dies ist letztlich auf den Zweck der Weitergeltungsanordnung bezogen – führe die Straflosigkeit zu einem Vollzugsdefizit, obwohl doch das Gericht im Urteil zu den Zinseinkünften (BVerfGE 84, 239)491 betont habe, dass es die gleichmäßige Durchsetzung strafrechtlicher Sanktionen als Teil der vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG verlangten nachhaltigen Kontrolle der Angaben von Steuerpflichtigen in Veranlagungsverfahren begreife.492 Teilweise wird betont, die Weitergeltungsanordnung solle einen geordneten Übergang von dem als verfassungswidrig befundenen zu einem verfassungsgemäßen Zustand sowie einen verlässlichen Verwaltungsvollzug ermöglichen. Es widerspreche diesem Sinn der Weitergeltungsanordnung, die Strafdrohung in der Übergangsphase aufzuheben.493 (b) Keine Verfassungswidrigkeit der Norm in der Übergangszeit Nolte ist der Auffassung, das verfassungsprozessrechtliche Instrument der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung werde bislang falsch interpretiert: Die Norm sei in der Übergangszeit gar nicht verfassungswidrig. Deswegen könne sie auch das Blankett des § 370 AO ausfüllen. (aa) Noltes These Nolte nimmt in seiner Monographie die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung genauer in den Blick und stellt als Ausgangspunkt seiner Unter-

489 Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 302; ähnlich Eser/Hecker, in: Schönke/ Schröder, § 2 Rn. 21; Wulf, wistra 2001, 41 (50); vgl. auch Schmidt, wistra 1999, 121 (126); Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 52 unter Verweis auf Besonderheiten des Zinssteuerurteils (BVerfGE 84, 239, dazu oben C.I.1.a) (S. 149)). 490 Meine, DStR 1999, 2101 (2104). 491 Dazu oben C.I.1.a) (S. 149). 492 So sinngemäß Meine, DStR 1999, 2101 (2104), der ausführt, dass BVerfGE 84, 239 vielfach Begriffe aus dem strafrechtlichen Bereich enthalte und deshalb den obengenannten Schluss nahelege; ähnlich Schuster, Bezugsnormen, S. 248, 250. 493 Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 66.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

suchung einen logischen Gegensatz fest: Der Entscheidungsausspruch enthalte zwei Elemente. Einerseits werde festgestellt, dass die Norm mit der Verfassung unvereinbar sei und deshalb (eigentlich) bis zur gesetzlichen Neuregelung nicht mehr angewandt werden dürfte. Gleichwohl werde andererseits das Gesetz weiter für anwendbar erklärt.494 Genau diesem Muster folge auch die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung in Bezug auf Normen des materiellen Steuerrechts. Der erste Teil des Entscheidungsausspruchs – die Erklärung der Verfassungswidrigkeit – bedeute das Verbot der weiteren Erhebung der Steuer. Weil aber die Geltung der für verfassungswidrig erklärten Regelungen ausdrücklich angeordnet werde, nehme das Gericht das eigens aufgestellte Verbot sofort wieder zurück. Das Verbot laufe leer.495 Die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit bis Fristablauf bzw. Neuregelung bedeute – sprachlich präzise formuliert – lediglich: „Das Bundesverfassungsgericht vereinbart die gegen grundgesetzliche Vorgaben verstoßenden Vorschriften mit der Verfassung kraft seiner Autorität als ihr authentischer Norminterpret.“ 496

Damit erkläre das Gericht die Vereinbarkeit der Norm mit der Verfassung für die Dauer der Fortgeltung. Handle der Gesetzgeber nicht innerhalb der gesetzten Frist, so ende mit dem Verstreichenlassen der Frist auch die erklärte Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Die Norm werde mit Fristablauf verfassungswidrig.497 Die Erklärung für unvereinbar mit der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht sei letztlich eine falsa demonstratio.498 Kernthese dieser Argumentation ist, dass die Norm in der Übergangszeit somit verfassungsgemäß ist. Deswegen seien Normen, die – sprachlich unpräzise – für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt worden seien, taugliche Ausfüllungsnormen für das Blankett des § 370 AO.499 (bb) Stellungnahme Nolte äußert nachvollziehbare Bedenken, auf die bereits im Rahmen des verfassungsprozessrechtlichen Teils dieser Arbeit eingegangen wurde.500 Seine Aus494

Nolte, Hinterziehung, S. 74. Ebenda. 496 Nolte, Hinterziehung, S. 78. 497 Ebenda. Konstruktiv ist Nolte der Auffassung, dass die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung eine Kombination zweier Entscheidungsvarianten ist: Einer Verfassungswidrigerklärung unter aufschiebender Bedingung und einer Vereinbarerklärung unter auflösender Bedingung. Bedingung ist dabei jeweils die Untätigkeit des Gesetzgebers bis zum Ablauf der Frist. 498 Ebenda. 499 Ebenda. 500 Dazu oben B.III.5. (S. 137). 495

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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führungen werden umso verständlicher, führt man sich noch einmal die dogmatischen Grundlagen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung vor Augen: Die weitere Anwendbarkeit der Norm muss von der Verfassung geboten sein.501 Wie soll nun etwas von der Verfassung Gebotenes gegen die Verfassung verstoßen? Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in der Systematik der Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts und den Eigenheiten der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung begründet. Nolte entzieht – inzident – der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ihre Berechtigung als eigenständige Entscheidungsvariante und leugnet damit ihre Existenz. Denn diese Entscheidungsvariante ist nur insoweit eine eigenständige, als sie eine verfassungswidrige, aber anwendbare Norm zum Gegenstand hat.502 Eine noch verfassungsgemäße, in Zukunft in die Verfassungswidrigkeit umschlagende Rechtslage wird bereits durch die Appellentscheidung ausgedrückt.503 Nach Noltes Logik gibt es bei genauerem Hinsehen somit gar keine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, es gibt nur Appellentscheidungen. Damit verstößt Nolte nicht nur gegen die ausdrückliche Tenorierung des Bundesverfassungsgerichts als „verfassungswidrig“ im Gegensatz zu noch „verfassungsgemäßen“ Rechtslagen bei der Appellentscheidung.504 Ebenso setzt er sich in Widerspruch zu der oben dargestellten hergebrachten Systematisierung der Entscheidungsvarianten in der Literatur. Darüber hinaus sei erneut darauf hingewiesen, dass es der Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung als eigenständiger Entscheidungsvariante neben der Appellentscheidung aus Sicht des Verfassungsprozessrechts bedarf: Nur sie drückt den zu Grunde liegenden verfassungsrichterlichen Notstand aus. Zwänge man den Verfassungsrichter, eine Appellentscheidung auszusprechen, so bekäme die bereits gegenwärtig für verfassungswidrig befundene Norm das Gütesiegel „verfassungsgemäß“. Damit würde das eigentliche Ergebnis der verfassungsrichterlichen Untersuchung – die gegenwärtige Verfassungswidrigkeit der Norm, die nur auf Grund von verfassungsrechtlichen Zwängen auf der Rechtsfolgenseite nicht zur Unanwendbarkeit führen darf – ad absurdum geführt.505 Noltes Argumentation ist daher abzulehnen.

501

Dazu oben B.III.4.b) (S. 128). So wird diese Entscheidungsvariante tenoriert und damit definiert, siehe oben B.III.1. (S. 81), B.III.2. (S. 96). 503 Dazu oben B.II.3. (S. 75). 504 Zur Tenorierung bei Appellentscheidungen oben B.II.3.a) (S. 75), bei Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung oben B.III.2. (S. 96). 505 Ausführlich zu dieser Argumentation oben B.III.6.c) (S. 144). 502

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(c) Differenzierung nach Art des Verfassungsverstoßes Röckl bringt eine Differenzierung ins Spiel, die bereits aus dem verfassungsprozessrechtlichen Teil bekannt ist: Die zwischen gleichheitswidrigem Begünstigungsausschluss und sonstigen Verfassungsverstößen.506 (aa) Röckls These Er analysiert die ergangenen steuerrechtlichen Unvereinbarerklärungen des Bundesverfassungsgerichts507 und kommt zu dem Ergebnis, dass der Großteil der Entscheidungen Gleichheitsverstöße in Form des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses betreffen. Das Bundesverfassungsgericht habe es in diesen Fällen dem Gesetzgeber überlassen, die gleichheitswidrige Begünstigungsnorm für alle Steuerpflichtigen entfallen zu lassen oder sie allen in Frage kommenden Bürgern gleich zu gewähren.508 Daraus leitet er Konsequenzen für die Strafbarkeit ab. Die Hinterziehung dieser Steuernormen müsse strafbar bleiben. Würde man die Hinterziehung nämlich für nicht strafbar erklären, so würde man dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit einräumen, sich die Vergünstigung – über die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerade der Gesetzgeber entscheiden soll – risikolos selbst zu holen.509 Der betroffene Steuerpflichtige habe kein subjektives Recht von Verfassungsrang auf die Begünstigung. Daher stehe es ihm auch nicht zu, sich diese selbst durch die Steuerhinterziehung einzuverleiben.510 Zur Begründung verweist er – ebenfalls aus dem verfassungsprozessrechtlichen Teil bekannt511 – auf die ambivalente, relative und damit besondere Struktur des Gleichheitssatzes. Die unvereinbare begünstigende Steuernorm als solche verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dieser Verstoß ergebe sich erst aus dem Verhältnis zu einer anderen Norm; verfassungswidrig sei nicht eine Norm, sondern eine Normenrelation. Im Unterschied zu Verstößen gegen Freiheitsgrundrechte sei daher nicht eine bestimmte Steuer an sich ausgeschlossen. Deswegen sei die Hinterziehung dieser Steuer weiterhin strafwürdig.512 Überall dort hingegen, wo dem Betroffenen eine verfassungsrechtliche Garantie gewährt werde, eine bestimmte Steuer nicht entrichten zu müssen – insbeson506

Dazu oben B.III.3.a)aa) (S. 99). Röckl, Steuerstrafrecht, S. 212 ff. 508 Röckl, Steuerstrafrecht, S. 220 f. 509 Röckl, Steuerstrafrecht, S. 221. 510 Röckl, Steuerstrafrecht, S. 225. 511 Dazu oben B.III.4.a)bb)(1) (S. 107). 512 Röckl, Steuerstrafrecht, S. 221. Er geht allerdings davon aus, dass sich die Straflosigkeit auch aus dem in § 2 Abs. 3 StGB geregelten Meistbegünstigungsprinzip ergeben kann, ebenda, S. 223 f., 226. Dazu noch unten C.II.1.c)dd) (S. 256). 507

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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dere bei Verstößen gegen Freiheitsgrundrechte – sei die Hinterziehung nicht strafwürdig.513 (bb) Stellungnahme Entgegen Röckls Beobachtungen sind zumindest die oben dargestellten, für die Frage der Strafbarkeit relevanten Unvereinbarerklärungen des Bundesverfassungsgerichts – soweit sie Gleichheitsverstöße zum Inhalt haben – nicht zu gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlüssen ergangen, sondern zu gleichheitswidrigen belastenden Normen.514 Es wird aus Röckls Ausführungen nicht deutlich, wie diese Verstöße zu behandeln sind. Zwar bezieht sich Röckl bei seinen Ausführungen zur verbleibenden Strafwürdigkeit ausdrücklich nur auf gleichheitswidrige Begünstigungsausschlüsse. Seine Begründung der Strafwürdigkeit mit dem Ansatz der gleichheitswidrigen Normenrelation sowie der Gegensatz zu – dem Schutz des Strafrechts entzogenen – freiheitswidrigen Normen legen jedoch nahe, dass er sämtliche gleichheitswidrigen Steuernormen weiterhin dem Schutz des Strafrechts unterstellen will. Die so verstandene Differenzierung Röckls überzeugt indes nicht. Zum einen setzt sie die gesetzestechnische Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes voraus, die – wie bereits dargelegt515 – abzulehnen ist. Deren These, dass es bei Gleichheitsverstößen keine verfassungswidrige Norm gibt, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Die Differenzierung ist darüber hinaus deswegen abzulehnen, weil sie die gebotene Perspektive auf den Kopf stellt: Nicht der Bürger muss ein subjektives öffentliches Recht nachweisen, um seine Straflosigkeit zu begründen. Vielmehr ist es der Eingriff der verbleibenden Strafbarkeit, der rechtfertigungsbedürftig ist: Vor dem Hintergrund der Grundrechte, des Rechtsstaatsprinzips und des Vorrangs und der Unverbrüchlichkeit der Verfassung ist ohnehin rechtfertigungsbedürftig, warum ein verfassungswidriges Gesetz anwendbar bleiben soll516 – dies muss besonders für den besonders grundrechtsrelevanten Bereich des Strafrechts gelten. Eine grundsätzliche strafrechtliche Privilegierung von Verstößen gegen den Gleichheitssatz ist weder im System der Grundrechte angelegt noch wird es der Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG gerecht. Zudem folgt aus Art. 2 Abs. 1 GG der Anspruch, Eingriffe nur auf Grundlage verfassungsgemäßer Gesetze erdulden zu müssen.517 In jedem Verstoß gegen

513 514 515 516 517

Vgl. Röckl, Steuerstrafrecht, S. 221, 225. Vgl. die Darstellung der Entscheidungen oben unter C.I. (S. 149). Dazu oben B.III.4.a)bb)(3) (S. 116). Dazu oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65). BVerfGE 9, 83 (88), dazu ferner oben B.II.2.b)ee)(1)(e) (S. 65).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Art. 3 Abs. 1 GG liegt also zugleich ein Verstoß gegen das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG – auch wenn die Verfassungswidrigkeit „lediglich“ in einem gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss begründet ist. Insofern besteht bei Gleichheitsverstößen ebenso eine Garantie – um die Terminologie Röckls aufzugreifen – eine (hier verfassungswidrige) Steuer nicht entrichten zu müssen, wie bei anderen Freiheitsverstößen auch. Es lässt sich keine klare Trennung zwischen Gleichheitsverstößen einerseits und Freiheitsverstößen andererseits ziehen. An diese Differenzierung können daher erst recht keine bedeutsamen Rechtsfolgen wie die der Strafbarkeit geknüpft werden. (d) Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts Eine andere Stimme führt das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für die Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung an. Seien Steuergesetze ordnungsgemäß zustande gekommen, so fielen sie bis zu ihrer Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht – das folge aus dem Verwerfungsmonopol des Art. 100 Abs. 1 GG – unter den strafrechtlichen Schutz des § 370 AO. Ordne das Bundesverfassungsgericht bei einer für unvereinbar erklärten Norm die Weitergeltung an, mache es von seinem Verwerfungsmonopol gerade keinen Gebrauch. Das mit einer Zuwiderhandlung gegen eine Steuernorm verbundene Unwerturteil bleibe somit bestehen.518 (e) § 79 Abs. 1 BVerfGG nicht einschlägig, da § 370 normative Tatbestandsmerkmale enthält Eine bedenkenswerte Ansicht hat Hellmann zu § 79 Abs. 1 BVerfGG definiert. Er ist davon überzeugt, dass diese Vorschrift gar nicht einschlägig ist und somit die Strafbarkeit nicht ausschließt. Die Strafbarkeit „beruhe“ nur dann auf einer mit dem Grundgesetz vereinbaren Norm i. S. d. § 79 Abs. 1 BVerfGG, wenn es sich bei § 370 AO um ein Blankettstrafgesetz handeln würde. Nur dann würden die jeweils einschlägigen Steuernormen Teil des Strafgesetzes. Er lehnt mit einem Teil der Literatur519 jedoch den Blankettcharakter des § 370 AO ab und geht davon aus, dass § 370 AO lediglich normative Tatbestandsmerkmale enthalte.520

518 Rolletschke, Steuerstrafrecht, Rn. 4; ders., in: Graf/Jäger/Wittig, 900 AO § 370 Rn. 4. 519 Dazu oben C.II.1.a)aa) (S. 202). 520 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 47, 54; ähnlich, wenn auch weniger ausführlich begründet Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b.

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(2) Strafrechtliche Argumente (a) Wortlaut und Gesetzessystematik der Abgabenordnung Zumindest ergänzend zu weiteren Argumentationssträngen führt Nolte Wortlaut und Gesetzessystematik der einschlägigen Vorschriften der Abgabenordnung für die Strafbarkeit ins Feld. Er versucht nachzuweisen, dass die Systematik der Abgabenordnung dafür spricht, auch verfassungswidrige, aber anwendbare Steuernormen als „Steuern“ i. S. d. § 370 AO anzusehen. (aa) §§ 3 Abs. 1, 4 AO sprechen für die Einbeziehung unvereinbarer Normen Eine Norm verliere durch den verfassungsrechtlichen Makel nicht den Charakter einer öffentlich-rechtlich auferlegten Geldleistung, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellt. Sie sei somit nach wie vor „Steuer“ i. S. d. § 3 Abs. 1 AO521. Da das Bundesverfassungsgericht mit seinem Entscheidungsausspruch rechtsverbindliche Aussagen schaffe, sei die bemakelte Vorschrift unzweifelhaft „Gesetz“ i. S. d. §§ 4, 3 Abs. 1 AO – und dies selbst dann, wenn man die Geltung der Normen konstruktiv nicht mehr auf den Gesetzgeber, sondern das Bundesverfassungsgericht zurückführe. § 4 AO differenziere nämlich nicht nach dem formalen Zustandekommen eines Gesetzes.522 Wortlaut und Gesetzessystematik sprechen nach dieser Ansicht dafür, alle gültigen Steuervorschriften ungeachtet verfassungsrechtlicher Mängel als von § 370 Abs. 1 AO erfasst anzusehen523 (bb) Stellungnahme Diese Begründung krankt – dies räumt letztlich auch Nolte ein524 – an einer Schwäche: Die Tatbestandsmerkmale des § 3 AO dienen dazu, Steuern von anderen Abgaben abzugrenzen. Zu der Frage, ob verfassungswidrige Gesetze die Strafbarkeit begründen können, enthalten sie schlicht keine Aussage. Die Tatsache, dass sich unvereinbare, weitergeltende Normen unter §§ 3, 4 AO subsumieren lassen, enthält somit keinerlei Erkenntnisgewinn. Argumente für die Strafbarkeit lassen sich hieraus nicht ableiten. 521 Dessen Wortlaut lautet: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft; die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein.“ 522 Nolte, Hinterziehung, S. 69 f. 523 Nolte, Hinterziehung, S. 74, 79. 524 Nolte, Hinterziehung, S. 70 f., 74.

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(b) Rechtsgut des § 370 AO Joecks und Wulf begründen die Strafbarkeit schlicht aus dem Rechtsgut des § 370 AO. § 370 AO solle das vollständige Steueraufkommen schützen.525 Bereits deswegen müsse die Hinterziehung strafbar sein,526 denn die Beträge aus der Vermögensteuer stünden dem Fiskus ja zu.527 Die fiskalische Begründung der Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht – die von der Gegenauffassung als Argument gegen die strafrechtliche Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung verwendet wird – stimme mit dem Schutzzweck des § 370 AO überein.528 (c) Blankettcharakter des § 370 AO Ein eher formales Argument wird aus dem Blankettcharakter des § 370 AO abgeleitet. Jedes förmliche Gesetz sei geeignet, den Blanketttatbestand des § 370 AO auszufüllen. Neben Parlamentsgesetzen seien dies auch die Weitergeltungsanordnungen, denen gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft zukomme. Die Weitergeltungsanordnung sei somit als materielles Steuerrecht in den Tatbestand des § 370 AO einbezogen.529 cc) Argumente gegen die Strafbarkeit Auch der Vortrag der Literatur gegen die Strafbarkeit wird an verfassungs- und verfassungsprozessrechtlichen Argumenten einerseits [(1)] und strafrechtlichen Aspekten [(2)] andererseits nachvollzogen. (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumente (a) § 79 BVerfGG Eine weit verbreitete Literaturauffassung ist der Überzeugung, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG der Strafbarkeit entgegensteht.530 Die Vorschrift sei lex specialis.531 525

Dazu oben C.II.1.a)aa) (S. 202). Joecks, wistra 2006, 401; ders., in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b; Wulf, wistra 2001, 41 (49). 527 Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b; ähnlich Wulf, wistra 2001, 41 (45), freilich vorbehaltlich der Regelung des § 2 Abs. 3 StGB. 528 Wulf, wistra 2001, 41 (49 f.). 529 Vgl. m. N. Röckl, Steuerstrafrecht, S. 189; ebenfalls auf den Blankettcharakter abstellend Wulf, wistra 2001, 41 (49). 530 Bornheim, PStR 2000, 75 (77 f.); Feldmann, Strafbarkeit, S. 212 f.; Lammerding/ Hackenbroch, Steuerstrafrecht, S. 19; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433); Traub, in: Wannemacher, Rn. 1249; Urban, DStR 1998, 1995 (1999); vgl. auch Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6 f.), allerdings nur in Bezug auf abgeschlossene Verfahren; Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372). 526

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Die Norm sei ihrem Wortlaut nach einschlägig: Dieser knüpfe an eine Unvereinbarerklärung an. Eine solche sei unzweifelhaft ausgesprochen worden.532 Daran ändere auch die ebenfalls ausgesprochene Weitergeltungsanordnung nichts.533 Im Wortlaut des § 79 Abs. 1 BVerfGG finde sich kein Anhaltspunkt, der gegen die Anwendbarkeit auf die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung sprechen würde.534 Etwas diffuser sind die Ausführungen zu den Rechtsfolgen der Norm. Verwiesen wird auf die ihr zu Grunde liegende Wertung, wonach bei Strafurteilen der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit – der für die Aufrechterhaltung der Strafurteile spricht – weniger schwer wiege als das Ziel der Verhinderung eines verfassungswidrigen Strafeingriffs in die persönliche Freiheit des Verurteilten.535 Entsprechend dieser Wertung weist die hier geschilderte Auffassung § 79 Abs. 1 BVerfGG materiell-rechtlichen Gehalt zu. Danach hat die Norm materiell-rechtlich zur Folge, dass die Strafbarkeit ausgeschlossen ist. Dies geschieht meist implizit.536 Bornheim und Hackenbroch hingegen schreiben der Norm ausdrücklich einen solchen Gehalt zu,537 indem sie ausführen, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG unmittelbar auf den Tatbestand des § 370 AO einwirkt mit der Konsequenz, dass eine Hinterziehung nicht mehr möglich ist.538 Diese Auffassung wird freilich bestritten: Degenhard ist – mit dem LG München II539 und dem LG Itzehoe540 – der Auffassung, dass die Vorschrift lediglich die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens betrifft, die Frage der Strafbarkeit hingegen durch das materielle Strafrecht zu beantworten ist.541

531

Bornheim, PStR 2000, 75 (78). Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372); Feldmann, Strafbarkeit, S. 213; Urban, DStR 1998, 1995 (1999). 533 Feldmann, Strafbarkeit, S. 213. 534 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372). 535 Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433); vgl. auch Feldmann, Strafbarkeit, S. 213; Urban, DStR 1998, 1995 (1999). 536 Vgl. etwa Feldmann, Strafbarkeit, S. 213; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6 f.); Urban, DStR 1998, 1995 (1999); unter der impliziten Annahme einer materiell-rechtlichen Wirkung sogar vor der Verurteilung Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 54 in seiner hypothetischen Betrachtung. 537 So das zutreffende Fazit von Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372) zu Bornheim. 538 Bornheim, PStR 2000, 75 (78); Lammerding/Hackenbroch, Steuerstrafrecht, S. 19. 539 Dazu oben C.II.1.b)bb)(1) (S. 214). 540 Dazu oben C.II.1.b)dd)(1) (S. 220). 541 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372). Er begründet die Straflosigkeit dann mit § 2 Abs. 3 StGB, ebenda, S. 1373, dazu noch unten C.II.1.c)dd) (S. 256). 532

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(b) Die Weitergeltungsanordnung (aa) Verleugnung der Verbindlichkeit der Weitergeltungsanordnung Eine Extremposition in der Literatur zu der in der Vermögensteuerentscheidung ausgesprochenen Weitergeltungsanordnung hat Niebler eingenommen. Er leugnet jede Rechtsverbindlichkeit der Weitergeltungsanordnung. (a) Nieblers Thesen Zum einen ergebe die Auslegung, dass das Bundesverfassungsgericht sie unter der aufschiebenden Bedingung angeordnet habe, dass der Gesetzgeber eine Neuregelung treffe. Dies sei nach der Vermögensteuerentscheidung gerade nicht geschehen, so dass auch die Weitergeltungsanordnung rückwirkend entfallen sei.542 Zudem hätte das Vermögensteuergesetz gar nicht unbeschränkt gelten sollen, sondern nur soweit es für den Staatsbetrieb unerlässlich sei. Da der Gesetzgeber sich dafür entschieden habe, auf die Vermögensteuer ganz zu verzichten, sei nachgewiesen, dass die Vermögensteuer niemals unerlässlich gewesen sei, so dass bereits die Veranlagung der Vermögensteuer auf Grund der Weitergeltungsanordnung ausgeschlossen sei.543 Der Weitergeltungsanordnung komme zudem weder über § 31 Abs. 2 BVerfGG544, noch über § 31 Abs. 1 BVerfGG545 Bindungswirkung zu.546 Sie entbehre jeder Rechtsverbindlichkeit und binde ledig542 Niebler, Stbg 2001, 116 (117 f.). Diese Aussage ist bereits deswegen fragwürdig, weil sie Elemente einer aufschiebenden und einer auflösenden Bedingung vermischt. 543 Niebler, Stbg 2001, 116 (119). 544 A.A. – neben BFH (vgl. oben C.II.1.b)cc)(1) (S. 217)) und BGH (vgl. oben C.II.1.b)gg)(1) (S. 226)) – BVerfG NJW 1998, 1854. Hier befindet sich Niebler – ungesehen – aber noch auf der Linie der herrschenden verfassungsprozessrechtlichen Literatur: Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 194; Heusch, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 31 Rn. 77; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 19 Rn. 16. Diese Autoren gehen dabei davon aus, dass die Weitergeltungsanordnung eine Maßnahme gemäß § 35 BVerfGG ist, dazu oben B.III.4.b)aa) (S. 128). 545 Das wiederum wird – soweit ersichtlich – nicht vertreten. Vielmehr gehen die ebengenannten Autoren ausdrücklich von einer Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG aus: Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 194; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 20 Rn. 16. 546 Niebler, Stbg 2001, 116 (118 f.) versucht hier den BFH zu widerlegen, der mit der Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung argumentiert und diese tatsächlich auf § 31 Abs. 2 S. 2 i.V. m. § 13 Nr. 8a BVerfGG gestützt hatte (vgl. oben C.II.1.b)cc)(1) (S. 217)), obwohl die Vermögensteuerentscheidung im Wege einer konkreten Normenkontrolle gemäß § 13 Nr. 11 BVerfGG ergangen ist. Dieser kleine handwerkliche Fehler des Gerichts wird aber von Niebler vollkommen überinterpretiert. Das Gericht hätte auch einfach § 31 Abs. 2 S. 1 i.V. m. § 13 Nr. 11 BVerfGG zitieren können – sofern man entgegen der eben zitierten Literatur annimmt, dass die Weitergeltungsanordnung an der Gesetzeskraft der Entscheidung teilhat. Jedenfalls ergeben sich zwischen § 31 Abs. 2 S. 1 und 2 BVerfGG – anders als Niebler unterstellt – keine Unterschiede in der Reichweite der Gesetzeskraft: S. 2 stellt lediglich klar, dass eine – nicht selbstverständliche –

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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lich die Parteien des Prozesses vor dem Bundesverfassungsgericht.547 Sie – oder ihr Verständnis – sei zudem selbst verfassungswidrig.548 Aus diesen Gründen sei die Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 370 AO ausgeschlossen.549 (b) Stellungnahme Die Thesen Nieblers sind abzulehnen. Sie zielen – kaum kaschiert – darauf ab, die Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts komplett zu umgehen. Sie ignorieren damit nicht nur den Willen des Bundesverfassungsgerichts und widersprechen allen gängigen Interpretationen der Weitergeltungsanordnung, vielmehr unterlaufen sie auch die Verfassung; diese gebietet die weitere Anwendbarkeit der Normen550. Niebler verkennt insbesondere, dass die Bindungswirkung nicht aus der Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung kommen muss. Gesetzeskraft haben vielmehr die fortgeltenden Normen des Vermögensteuergesetzes; es ist ja gerade Rechtsfolge der Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, dass die Normen in ihrer Existenz unangetastet551 bleiben und darüber hinaus anwendbar552 sind. Das Vermögensteuergesetz war bis zum 31. Dezember 1996 geltendes Gesetz. Bereits hieraus resultiert – jedenfalls soweit es um das Steuerrecht geht – eine Bindungswirkung.553 Zudem legt Niebler nicht nur den Wortlaut der Unvereinbarerklärung in kaum vertretbarer Weise aus,554 sein Auslegungsergebnis widerspricht auch eindeutig den Intentionen des Bundesverfassungsgerichts:555 Es sollte vermieden werden, ad-hoc auf das Aufkommen aus der Vermögensteuer verzichten und darüber hinaus rückwirkend Steuern erstatten zu müssen. Beides hätte die Planbarkeit der Haushalte erheblich beeinträchtigt.556 Ein Entfallen des Vermögensteuergesetzes bis 1983 infolge der Untätigkeit des Gesetzgebers – wie von Niebler gefordert – mit den daraus resultierenden Erstattungen liefe dieser Intention eindeutig entgegen. Normenkontrollentscheidung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde ebenso in Gesetzeskraft erwächst wie bei den in S. 1 genannten Verfahren. 547 Niebler, Stbg 2001, 116 (118 f.); ders., Stbg 2000, 221 (222). 548 Niebler, Stbg 2001, 116 (120). 549 Niebler, Stbg 2001, 116 (120); vgl. auch ders., Stbg 2000, 221 (223). 550 Dazu oben C.I.1.c)bb)(2)(b) (S. 173). 551 Das ist unbestrittene Rechtsfolge einer Unvereinbarerklärung, vgl. oben B.III.1. b)aa)(1) (S. 83). 552 Das ist Rechtsfolge der Weitergeltungsanordnung, vgl. oben B.III.2. (S. 96). 553 Das Argument der Rechtsprechung, das von der Weitergeltungsanordnung betroffene Recht sei kein Recht minderer Qualität (dazu oben C.II.1.b)cc)(1) (S. 217), C.II.1.b)gg)(1) (S. 226)), lässt sich also unabhängig von der Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung vertreten. Ob es sachlich zutreffend ist bleibt zu untersuchen. 554 Er überdehnt insbesondere das Bedürfnis nach einer „stetigen Veranlagung“ in ein Bedürfnis nach einer „ewigen Veranlagung“, Niebler, Stbg 2001, 116 (117). 555 Dazu ausführlich oben C.I.1.c)aa) (S. 169). 556 Dazu ausführlich oben C.I.1.c)bb)(2)(b) (S. 173).

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(bb) Auslegung der Weitergeltungsanordnung Über diese abzulehnende Extremposition hinaus finden sich noch weitere Begründungsansätze, die sich mit der Weitergeltungsanordnung auseinandersetzen: Der Bundesgerichtshof und der Bundesfinanzhof haben beide die Strafbarkeit damit begründet, dass das Strafrecht nicht explizit von der Weitergeltungsanordnung ausgenommen und daher auch von dieser erfasst wurde.557 Dieses Auslegungsergebnis wird von Teilen der Literatur als unzutreffend bewertet.558 Es handele sich dabei um eine nicht belegte Unterstellung, das Bundesverfassungsgericht sei sich der Folgen für das Strafrecht vielmehr kaum bewusst gewesen.559 Bereits aus der Begründung der Weitergeltungsanordnung mit Erfordernissen der verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und des gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs werde ersichtlich, dass sich die Weitergeltungsanordnung lediglich auf das Steuerrecht beziehen solle.560 Zudem sei kaum anzunehmen, dass das Bundesverfassungsgericht stillschweigend die explizite Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG außer Kraft setzen wollte; hätte es eine solche Wirkung beabsichtigt, so hätte es einer expliziten Erstreckung der Weitergeltungsanordnung auf das Strafrecht bedurft.561 Dies gebiete auch das Bestimmtheitsgebot.562 (cc) Prüfungsmaßstab gibt Reichweite der Weitergeltungsanordnung vor Einen wesentlichen Aspekt – auch dies ist letztlich der Auslegung der Weitergeltungsanordnung zuzurechnen – führt Degenhard in die Argumentation ein: Das Bundesverfassungsgericht habe in der Vermögensteuerentscheidung nicht über die Strafbarkeit entschieden, sondern lediglich über die Verfassungsmäßig557

Dazu oben C.II.1.b)cc)(2) (S. 217), C.II.1.b)gg)(2) (S. 227). Bornheim, PStR 2000, 75 (76); Degenhard, DStR 2001, 1370 (1374); Feldmann, Strafbarkeit, S. 212 f.; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1487; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433); Resing, DStR 1999, 922 (923); vgl. auch Daragan, DStR 1999, 2116 (2117), allerdings in Bezug auf die Festsetzung von Hinterziehungszinsen; Urban, DStR 1998, 1995 (1997); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (5). 559 Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1487; vgl. auch Röckl, Steuerstrafrecht, S. 187. 560 Bornheim, PStR 2000, 75 (76); ders., Stbg 1999, 310 (315); Feldmann, Strafbarkeit, S. 212; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433); Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2482); vgl. auch Bornheim, PStR 1998, 195 (196); Burkhard, Stbg 2000, 122 (124 f.); Resing, DStR 1999, 922 (923); Salditt, FS Tipke, S. 478; Tipke, GmbHR 1996, 8 (15); Urban, DStR 1998, 1995 (1998 f.); Wendt, AktStR 1998, 195 (200 f.). 561 Bornheim, PStR 2000, 75 (76); ders., Stbg 1999, 310 (315); ders., PStR 1999, 136 (139); Feldmann, Strafbarkeit, S. 212 f.; in diesem Sinne auch Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6); Urban, DStR 1998, 1995 (1999); vgl. auch Resing, DStR 1999, 922 (923). Dies räumt mit Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 302 auch ein (später) Befürworter der Strafbarkeit ein. 562 Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2433). 558

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keit des Steueranspruchs. Prüfungsmaßstab sei dabei der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gewesen. Prüfungsmaßstab für die Frage der Strafbarkeit sei dagegen das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Weder bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 10 Nr. 1 VStG noch bei der Anordnung der Weitergeltung sei Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in irgendeiner Weise berücksichtigt worden. Es sei daher nicht zulässig, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf den Geltungsbereich eines Grundrechts zu erstrecken, das nicht als Prüfungsmaßstab herangezogen worden sei:563 „Eine Fortgeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts in einer Unvereinbarkeitsentscheidung kann nicht weiter reichen als der vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Prüfungsmaßstab.“ 564

Die – oben genannte – Gegenauffassung messe der Entscheidung vielmehr eine Bedeutung bei, die ihr beim besten Willen nicht zu entnehmen sei.565 (dd) Sinn und Zweck der Weitergeltungsanordnung Auch das Telos der Weitergeltungsanordnung wird untersucht: Sie habe lediglich ein durch unvermittelte Unanwendbarkeit des Vermögensteuergesetzes eintretendes Finanzchaos verhindern sollen; die Nichtstrafbarkeit selbst führe jedoch nicht zu erheblichen finanzpolitischen Schwierigkeiten.566 Bei Salditt findet sich der Gedanke in dem Zitat: „Nur Steuern sind für den Staat unverzichtbar, Steuerstrafen nicht.“ 567

(ee) Rechtscharakter der Weitergeltungsanordnung Auch das von Teilen der Rechtsprechung vorgebrachte Argument, die Weitergeltungsanordnung verdränge als speziellere und spätere Regelung § 79 Abs. 1 BVerfGG,568 wird kritisiert. Die Weitergeltungsanordnung sei nämlich lediglich ein Behelfsrecht, das den Übergang von einer verfassungswidrigen in eine verfassungsgemäße Rechtslage absichern solle. Als solches sei die Unvereinbarerklärung rechtlich gar nicht in der Lage, die gesetzliche Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG zu durchbrechen.569 563

Degenhard, DStR 2001, 1370 (1374). Degenhard, DStR 2001, 1370 (1378). 565 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1374). 566 Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2482); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (5); vgl. auch Traub, in: Wannemacher, Rn. 1248. 567 Salditt, StraFo 1997, 65 (68). 568 Dazu oben C.II.1.b)cc)(6) (S. 218), C.II.1.b)dd)(2) (S. 220), C.II.1.b)gg)(6) (S. 228). 569 Feldmann, Strafbarkeit, S. 213; in diese Richtung wohl auch Salditt, StraFo 1997, 65 (68); ders., FS Tipke, S. 480, der von einem „Sonderrecht“ spricht. 564

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(c) Gleichmäßiger Verwaltungsvollzug und evtl. Ungleichbehandlungen infolge der Straflosigkeit können Strafbarkeit nicht rechtfertigen Auch jene Begründungsansätze der Strafbarkeit, die in Art. 3 Abs. 1 GG wurzeln, werden heftig kritisiert. Die Rechtsprechung570 sowie Teile der Literatur571 führen insoweit an, dass der Gesetzesvollzug – entgegen den Intentionen des Bundesverfassungsgerichts – ohne die Strafbarkeit nicht abgesichert sei. Zudem seien weitere Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 GG Folge der Straflosigkeit.572 Bereits das Argument des Vollzugsdefizits verfange nicht: Die Verfassungswidrigkeit in der Vermögensteuererklärung beruhe ja gerade darauf, dass die Belastungsgleichheit wegen der Bewertungsungleichheiten nicht hergestellt werden konnte. Bestehe aber bereits keine materielle Belastungsgleichheit, so müsse diese auch nicht im Vollzug sichergestellt werden.573 Für den Staat, der verfassungswidrige Gesetze erlasse, sei die Straflosigkeit eine im Hinblick auf die Einbußen bei der Absicherung des primärrechtlichen Gesetzesvollzugs hinzunehmende und auch hinnehmbare Folge.574 Auch das Argument weiterer Gleichheitsverstöße sei abzulehnen: Dieses beruht auf einem Vergleich einer auf Grund verfassungswidriger Rechtsgrundlage straflosen Handlung auf der einen Seite und einer der Strafnorm unterfallenden Handlung auf der anderen Seite.575 Es sei bereits zweifelhaft, ob hier überhaupt zwei gleichartige Konstellationen miteinander verglichen würden. In jedem Falle aber sei die Verfassungswidrigkeit der Rechtsgrundlage ein sachlicher Grund, der eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen könne.576 (d) Grundrechtliche Dimension Degenhard verweist darauf, dass in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt ist, dass die strafrechtliche Bewehrung außerstrafrechtlicher Rechtsvorschriften einer gesonderten Grundrechtsprüfung am Maßstab des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu messen ist.577 570 Dazu oben C.II.1.b)cc)(4) (S. 218), C.II.1.b)ee)(1) (S. 222), C.II.1.b)gg)(3) (S. 227). 571 Dazu oben C.II.1.c)bb)(1)(a) (S. 234). 572 Dazu oben C.II.1.b)ee)(2)(b) (S. 224), C.II.1.b)gg)(4) (S. 227). 573 Traub, in: Wannemacher, Rn. 1254. 574 Feldmann, Strafbarkeit, S. 213. 575 Zu der Argumentation des BFH oben C.II.1.b)ee)(2)(b) (S. 224). 576 Feldmann, Strafbarkeit, S. 213; vgl. auch Degenhard, DStR 2001, 1370 (1374). 577 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1376) unter Verweis auf BVerfGE 90, 145 (171 ff.); 9, 83 ff. Die letztgenannte Entscheidung taugt zum Nachweis nur eingeschränkt, da die Strafnorm lediglich an Art. 12 Abs. 1 GG und an Art. 2 Abs. 1 GG – in der Ausformung, keinen Nachteil dulden zu müssen, der nicht verfassungsgemäß ist – gemessen wird.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Führe man eine solche Grundrechtsprüfung durch, so könne die Androhung einer Freiheitsstrafe zur Durchsetzung einer verfassungswidrigen Steuer – insbesondere wegen eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip – nicht verfassungsgemäß sein.578 (e) Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip Tipke ist der Überzeugung, dass eine Strafbarkeit gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen würde. In einem Rechtsstaat dürfe es Strafen zum Schutz einer Staatsgewalt, die verfassungswidriges Verhalten bewusst in Kauf nehme, nicht geben. Insbesondere bei der Vermögensteuer hätte die Staatsgewalt die evidente Verfassungswidrigkeit über Jahrzehnte hingenommen. Die Strafbarkeit käme hier einer Prämierung evident verfassungswidrigen Verhaltens gleich.579 Es sei rechtsstaatlich schlechthin unerträglich, wenn Bürger, die sich einer vom Gesetzgeber bewusst nicht abgestellten, aber vom Verfassungsgericht anerkannten Verfassungswidrigkeit entzogen hätten, bestraft würden. Das stelle den Rechtsstaat geradezu auf den Kopf.580 (2) Strafrechtliche Argumente Über diese verfassungs- und verfassungsprozessrechtlichen Argumente hinaus werden auch im Kern strafrechtliche Argumente vorgetragen, teilweise freilich mit starkem verfassungsrechtlichen Einschlag. (a) Vergleich zum Betrugstatbestand: Rechts- und sittenwidrige Forderungen Plewka und Heerspink ziehen einen Vergleich zur Strafbarkeit wegen Betruges: (aa) Vergleichsfall nach Plewka/Heerspink Sie legen dabei folgenden Fall zu Grunde: Ein Schuldner wehrt die Zahlung auf eine rechts- oder sittenwidrige Forderung mittels einer Täuschung ab. Zwar sei es denkbar – abhängig vom vertretenen Vermögensbegriff – dass rechts- oder sittenwidrige Forderungen zum strafrechtlich geschützten Vermögen des Gläubigers gehörten. Doch gelte dies auch nach einer streng wirtschaftlichen Betrachtungsweise nur dann, wenn die Forderung einen wirtschaftlichen Wert habe. Da 578

Degenhard, DStR 2001, 1370 (1376, 1378); ähnlich Bornheim, PStR 1998, 195. Tipke, PStR 2000, 143 f., in Bezug auch auf die Zinsbesteuerung, die aber vom Bundesverfassungsgericht nach zutreffender Auffassung nicht als verfassungswidrig befunden wurde, dazu oben C.I.1.a)bb) (S. 151); vgl. auch ders., FS Kohlmann, S. 574 f. 580 Tipke, FS Kohlmann, S. 575. 579

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

die Forderung nicht rechtlich durchsetzbar sei, hänge dies von der tatsächlichen Erfüllungswilligkeit des Schuldners ab. Der Schuldner aber habe durch sein gesamtes Betragen gezeigt, dass er nicht bereit war, die Forderung zu erfüllen. Der Schuldner mache sich im Ergebnis somit mangels Schadens nicht des Betruges schuldig.581 Da § 370 AO seiner Struktur nach ein Spezialfall des Betruges gemäß § 263 StGB sei, müsse die entsprechende Wertung auch hier gelten: Ein rechtlich bemakelter Anspruch verdiene nicht den Schutz des Strafrechts. Es sei nicht einzusehen, warum der Fiskus eines höheren strafrechtlichen Schutzes bedürfe als der Bürger in vergleichbarer Lage.582 (bb) Stellungnahme Der Vergleich jedoch hinkt, selbst wenn man sich auf diese streng wirtschaftliche Betrachtungsweise einlässt. Die Straflosigkeit in dem Fall basiert darauf, dass die Forderung des Gläubigers deswegen keinen wirtschaftlichen Wert hat, weil sie nicht mit den Mitteln des Rechts durchsetzbar ist. Im Falle der Steuerhinterziehung kann die Forderung des Gläubigers (des Staates) aber gerade mit den Mitteln des Rechts durchgesetzt werden – dies ist Folge der Weitergeltungsanordnung. Deren Folge ist doch – insoweit unbestreitbar – ein steuerrechtlich wirksamer und durchsetzbarer Steueranspruch des Staates.583 Bereits deswegen taugt der angestellte Vergleich nicht zur Beantwortung der hier gestellten Rechtsfrage. (b) Neubestimmung des Rechtsguts Salditt sucht eine Lösung über eine Neubestimmung des Rechtsguts des § 370 AO. (aa) Salditts Rechtsgutsbestimmung Er kritisiert, dass die allgemeine Praxis das Strafrecht mechanisch an das Steuerrecht koppele. Durch § 370 AO würde danach die öffentliche Kasse geschützt, mehr nicht.584 Er fordert nichts weniger als eine „längst gebotene Emanzipation“ des Strafrechts in Form der Trennung des Strafrechts vom Steuerrecht.585 Anlass hierzu sieht er im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu der

581 582 583 584 585

Vgl. Plewka/Heerspink, BB 2000, 292 (293). Ebenda. Ähnliche Kritik bei Röckl, Steuerstrafrecht, S. 188. Salditt, StraFo 1997, 65 (67); ders., FS Tipke, S. 476. Salditt, StraFo 1997, 65 (69).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Besteuerung von Zinseinkünften (BVerfGE 84, 239)586. Dort habe das Gericht festgestellt, dass die Belastung der Bürger mit Steuern ihre „Rechtfertigung [. . .] auch und gerade aus der Gleichheit der Lastenzuteilung“ 587

beziehe.588 Damit sei der steuerliche Eingriff von der Gleichheit der Lastenzuteilung abhängig gemacht worden.589 Daraus leitet er Konsequenzen für die Steuerhinterziehung ab: Die Steuerhinterziehung sei demnach strafbar, weil sie die Rechtfertigung der Steuern zerstöre: Die Gleichheit der Lasten.590 § 370 AO schütze nicht die öffentlichen Kassen, sondern die gleichmäßige Lastenverteilung.591 Das von § 370 AO geschützte Rechtsgut sei der Anspruch der Bürger, die Abgaben nur nach dem Maßstab der Gleichbehandlung tragen zu müssen – ein Individualrechtsgut.592 (bb) Methodische Umsetzung Dieser Rechtsgutsbestimmung folgend löst Salditt das Problem über eine teleologische Reduktion: Verfassungswidrige Steuern fallen seiner Ansicht nach aus dem Schutzbereich des § 370 AO heraus: Die Vorschrift schütze – teleologisch reduziert – lediglich die nach dem Maß der Gleichbehandlung erhobenen Abgaben. Die Bestrafung der Hinterziehung verfassungswidriger – präziser: gleichheitswidriger – Steuern sei demnach ausgeschlossen.593 Kohlmann, Hilgers-Klautzsch und Schauf folgen ebenfalls Salditts Rechtsgutsbestimmung, versuchen dabei aber das Problem auf der Ebene der objektiven Zurechnung zu lösen.594 Die objektive Zurechnung des Erfolges scheide wegen 586

Dazu oben C.I.1.a) (S. 149). BVerfGE 84, 239 (269). 588 Salditt, StraFo 1997, 65 (67); ders., FS Tipke, S. 479. 589 Salditt, StraFo 1997, 65 (68). 590 Ebenda. 591 Salditt, FS Tipke, S. 479. 592 Salditt, StraFo 1997, 65 (68); vgl. ders., FS Tipke, S. 479; zustimmend Bornheim, PStR 2000, 75 (78); ders., Stbg 1999, 310 (316); Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (166); vgl. auch Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 297 ff.; teilweise zustimmend Seer, in: Tipke/Lang, § 23 Rn. 1 m.w. N.; Tipke, FS Kohlmann, S. 561 f. 593 Salditt, StraFo 1997, 65 (68); vgl. ders., FS Tipke, S. 480. Salditts Forderungen gehen noch viel weiter: Er sieht auch bei nicht erkanntermaßen verfassungswidrigen, aber ungerechten Steuern Handlungsbedarf: Die „Ungerechtigkeit“ sei – je nach Schwere – zumindest bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, wenn sie nicht gar die Anwendung der strafprozessualen Einstellungsvorschriften fordere, vgl. Salditt, StraFo 1997, 65 (68); ders., FS Tipke, S. 480 ff. Dies ist natürlich nicht zuletzt im Hinblick auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts problematisch, siehe etwa Seer, in: Tipke/Lang, § 23 Rn. 2 m.w. N. Da diese Vorschläge jedoch über die hier zu bearbeitende Frage hinausgehen, werden sie nicht weiter diskutiert. 594 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (166 f.) = Stbg 1998, 485 (490 ff.); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1476. Die Ausführun587

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

des fehlenden Schutzzweckzusammenhangs aus. Der Schutzzweck der Norm leite sich aus dem geschützten Rechtsgut ab. § 370 AO solle – mit Salditt – die gleichmäßige Lastenverteilung nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit sicherstellen. Steuerrechtsnormen, die diesem Grundanliegen nicht gerecht würden, fielen aus dem Schutzbereich des § 370 AO heraus. Die Zurechnung des Erfolgs einer entsprechenden Steuerverkürzung scheide aus, weil er nicht vom Schutzzweck der Norm gedeckt sei.595 Der Tatbestand des § 370 AO ist demnach nicht erfüllt. (cc) Noltes Kritik und Stellungnahme Die – zunächst durchaus plausiblen – Erwägungen Salditts hat Nolte überzeugend widerlegt. Er hat dargelegt, dass Rechtsgutserwägungen das Problem der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidriger Normen nicht lösen können.596 Die Auffassung der herrschenden Meinung, die als Rechtsgut des § 370 AO das Interesse des Staates am rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommen oder – gleichlautend – den Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag jeder einzelnen Steuer definiert597, liefere im Bezug auf die Problematik der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts schlicht keine weiterführenden Erkenntnisse.598

gen von Kohlmann/Hilgers-Klautzsch beziehen sich auf BVerfGE 84, 239 (Besteuerung von Zinseinkünften), dazu oben C.I.1.a) (S. 149). Dabei sind sie der Auffassung, dass – neben dem sogleich besprochenen fehlenden Schutzzweckzusammenhang – eine die Erfolgszurechnung ausschließende eigenverantwortliche Selbstgefährdung vorliege. Dazu führen sie an, dass sich das vom Staat – wegen des Vollzugsdefizits – bewusst eingegangene Risiko der Steuerausfälle realisiert habe. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gehört jedoch bereits nicht in den hier besprochenen Problemkreis, da es sich um eine Appellentscheidung und damit um eine Vereinbarerklärung handelte, vgl. dazu oben C.I.1.a)bb) (S. 151). Die Ausführungen zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung hängen mit den Besonderheiten dieses Urteils zusammen. Sie sind nicht verallgemeinerbar, weswegen hier nicht weiter auf sie eingegangen wird. Ablehnend dazu überzeugend Nolte, Hinterziehung, S. 50 ff. Er verweist insbesondere darauf, dass es sich, wenn überhaupt, um eine einverständliche Fremdgefährdung handele, wobei deren strafbarkeitsausschließende Voraussetzungen nicht erfüllt seien. 595 Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1476; Kohlmann/HilgersKlautzsch, wistra 1998, 161 (166). 596 Nolte, Hinterziehung, S. 42. 597 Vgl. nur BGHSt 43, 381 (404); 40, 109 (111); 36, 100 (102); RGSt 72, 184 (186); Blesinger, in: Kühn/v. Wedelstädt, § 370 AO Rn. 2; Jäger, in: Klein, AO, § 370 Rn. 2; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 40; Rolletschke, in: Graf/Jäger/Wittig, § 370 AO Rn. 3; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 2. Instruktiv zum Streitstand Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 2 ff.; Nolte, Hinterziehung, S. 25 ff. 598 Nolte, Hinterziehung, S. 36 f., 41 f.

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Die Auffassung Salditts hingegen sei zwar auf das Problem zugeschnitten,599 doch sei diese nicht schlüssig. Denn der Bezug zu Art. 3 Abs. 1 GG sei bei § 370 AO nicht in anderer Weise verwirklich als bei anderen Normen auch: Schlechthin jede strafrechtliche Verbotsnorm bezwecke zumindest auch die gleichmäßige Durchsetzung des hinter ihr stehenden Verhaltensgebots. Der Staat sei wegen Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG zur gleichmäßigen Durchsetzung des Strafanspruchs verpflichtet; dies werde im Strafprozessrecht als „Legalitätsprinzip“ bezeichnet. Trotz dieses Bezuges zur Gleichbehandlung käme niemand auf die Idee, beim Straftatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) anstelle des Rechtsguts Leben den Anspruch des Einzelnen gegen den Staat, dieses Verbot nur nach den Regeln der Gleichbehandlung ertragen zu müssen, als Rechtsgut zu definieren. Der Anspruch des Bürgers gegen den Staat auf die gleichmäßige Durchsetzung eines Verhaltensgebotes sei im Strafrecht somit ubiquitär und keine Besonderheit des § 370 AO. Da aber eine Rechtsgutsbestimmung im Sinne Salditts bei anderen Normen (wie dem Beispiel des § 212 StGB) nicht vorgenommen werde, weil sie erstens gekünstelt und zweitens ohne Mehrwehrt sei, könne sie auch bei § 370 AO nicht überzeugen.600 Über diese Kritik hinaus ist dem Ansatz Salditts vorzuwerfen, dass seine Rechtgutsbetrachtung – isoliert betrachtet – das gewünschte Ergebnis zur Lösung macht601 und somit petitio principii ist. Salditts Rechtsgutsbestimmung und die ihr folgende methodische Umsetzung sind daher abzulehnen. (c) Die grundlegenden Prinzipien des Strafrechts Schließlich werden auch die grundlegenden Prinzipien des Strafrechts angeführt. (aa) Verstoß gegen das Schuldprinzip Teile der Literatur sind der Auffassung, eine Bestrafung auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts verstoße gegen das Schuldprinzip.602 Mit dem Gedanken des Schuldstrafrechts sei es unvereinbar, dass sich die mit einem Schuldspruch verbundene Makelzuweisung auf ein verfassungswidriges Gesetz beziehe.603 Zudem setze Schuld voraus, dass dem Täter vorgeworfen werden könne, sich gegen 599

Genau dies kritisiert auch Meine, DStR 1999, 2101 (2103). Nolte, Hinterziehung, S. 40 ff., zum Legalitätsprinzip ebenda Fn. 190. 601 Vgl. Meine, DStR 1999, 2101 (2103). 602 Daragan, DStR 1999, 2116 (2117); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1476; Traub, in: Wannemacher, Rn. 1251. 603 Daragan, DStR 1999, 2116 (2117); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (5); Traub, in: Wannemacher, Rn. 1251. 600

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

das Recht und für das Unrecht entschieden zu haben. Wegen der Verfassungswidrigkeit aber seien die betreffenden Normen dem Unrecht zuzuordnen, so dass der Täter sich gar nicht gegen das Recht entschieden habe.604 (bb) Fehlende Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) Teilweise wird die Auffassung vertreten, der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz verbiete die Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts.605 Ein besonders gut begründeter Ansatz findet sich bei Kohlmann und Hilgers/ Klautzsch. Blankettstrafgesetze – mit Verweis auf die herrschende Meinung606 wird § 370 AO hier als solches angesehen – genügten dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitserfordernis nur dann, wenn sich die möglichen Fälle der Strafbarkeit schon auf Grund eines Gesetzes vorhersehen ließen. Die Voraussetzungen der Strafbarkeit müssten entweder im Blankettstrafgesetz selbst oder in einem anderen, in Bezug genommenen Gesetz hinreichend deutlich umschrieben sein.607 § 370 AO setze eine Steuerschuld voraus. Das wiederum bedinge das Bestehen eines Steueranspruchs, der sich nach den Vorschriften des materiellen Steuerrechts richte. Fehle ein solcher Steuertatbestand, so sei die Strafbarkeit nicht bestimmt i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG. Gleiches gelte, wenn der Steuertatbestand nichtig oder verfassungswidrig sei.608 Dabei wird darauf hingewiesen, dass sich der Bestimmtheitsgrundsatz im Steuerrecht nach anderen Maßstäben richte als im Strafrecht: Im Strafrecht sei der Bestimmtheitsgrundsatz ohne Ausnahme anzuwenden, das Steuerrecht begnüge sich mit einer abgeschwächten Bestimmtheit. Diese differenzierte Betrachtungsweise sei angesichts der unterschiedlichen Schwere der grundrechtsrelevanten Eingriffe – finanzielle Belastung im Steuer- und Freiheitsstrafe im Strafrecht – auch grundsätzlich hinnehmbar.609 Allerdings – dies ist der entscheidende Schluss – sei diesen unterschiedlichen Sichtweisen bei der Interpretation einer Vorschrift Rechnung zu tragen: Sie sei – in strafrechtlichem Zusammenhang ei-

604

Traub, in: Wannemacher, Rn. 1251. Bornheim, Stbg 1999, 310 (316 f.); ders./Birkenstock, Steuerfahndung, S. 237; Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1476; ders./Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (164); Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2482); vgl. auch Bornheim, DB 1999, 75 (76, 78); ders., Steuerstrafverteidigung, S. 299 f.; Resing, DStR 1999, 922 (923); vgl. auch Gast-de Haan, BB 1991, 2490 (2491 ff.) bzgl. der regulären Unvereinbarerklärung. 606 Dazu oben C.II.1.a)aa) (S. 202). 607 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (164) m. N. unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; vgl. insoweit nur BVerfG NJW 2010, 754 m.w. N. 608 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (164). 609 Ebenda. 605

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nerseits und in rein steuerlichem, außerstrafrechtlichem Zusammenhang andererseits – unterschiedlich auszulegen. Das könne zur „Normspaltung“ 610 führen.611 Genau eine solche unterschiedliche Interpretation in strafrechtlichem bzw. außerstrafrechtlichem Bezug sei hier geboten: Die für weiter anwendbar erklärten Steuernormen seien in steuerstrafrechtlichem Zusammenhang als nicht weiter geltend zu betrachten.612 Letztlich wendet sich dies gegen eines der Hauptargumente der Gegenauffassung: Die Nicht-Strafbarkeit eines Verstoßes gegen fortgeltende Steuernormen sei systemwidrig; es gebe kein Recht minderer Qualität, gegen das sanktionslos verstoßen werden könne.613 Das Phänomen der Normspaltung zeigt, dass dies sehr wohl denkbar und in der Strafrechtswissenschaft bereits bekannt ist. (cc) Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, dass eine durch das Bundesverfassungsgericht angeordnete Weitergeltung keine gesetzliche Geltung im Sinne des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) sei. Bereits deswegen scheide eine Strafbarkeit aus.614 (dd) Verstoß gegen das Ultima-ratio-Prinzip Die Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts verstößt nach Ansicht von Teilen der Literatur zudem gegen das Ultima-ratio-Prinzip: „Strafrecht soll lediglich dazu dienen, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens vor sozialschädlichem Verhalten zu schützen. Eine für verfassungswidrig erkannte Norm kann aber kein elementarer, also grundlegender und unverzichtbarer Bestandteil unserer Gemeinschaftsordnung sein, sie wurde ja gerade ob ihrer Verfassungswidrigkeit als entbehrlich erkannt.“ 615

(ee) Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot Auch ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB wird vereinzelt angenommen. Ein verfassungswidriges sei Gesetz ipso iure 610 Zu diesem Phänomen Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 209 ff., 222 f. m. N.; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 208 ff.; Popp, wistra 2011, 169 (174 f.). 611 Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (165) m. N. 612 Vgl. Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (165). 613 So der BFH (s. oben C.II.1.b)cc)(1) (S. 217)); das OLG Hamburg (s. oben C.II.1. b)ff)(2) (S. 226)); der BGH (s. oben C.II.1.b)gg)(1) (S. 226)). 614 Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 87; Traub, in: Wannemacher, Rn. 1245. 615 Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2434); ebenso Traub, in: Wannemacher, Rn. 1252; vgl. auch Burkhard, Stbg 2000, 122 (124); Röckl, Steuerstrafrecht, S. 224.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

und ex tunc nichtig. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts habe lediglich deklaratorische Bedeutung und führe die Nichtigkeit nicht konstitutiv herbei. Dieser Umstand werde von der Gegenauffassung übersehen. Die Weitergeltungsanordnung könne nicht dazu führen, dass die Norm weiterhin das Blankett des § 370 AO ausfüllen könne. Die Unvereinbarkeit sei in den entsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch für vergangene Zeiträume festgestellt worden. Eine Weitergeltungsanordnung mit strafrechtlicher Wirksamkeit sei – wegen der ipso iure und ex tunc eintretenden Nichtigkeit – somit eine rückwirkende Erstreckung eines Straftatbestands, die gegen das Rückwirkungsverbot verstoße.616 dd) Entfall der Strafbarkeit wegen § 2 Abs. 3 StGB? Eine Sonderstellung nimmt die Argumentation mit § 2 Abs. 3 StGB ein, die hier zwecks besserer Übersichtlichkeit auch isoliert diskutiert werden soll. Diese Sonderstellung resultiert daraus, dass die Norm in der hier interessierenden Konstellation vor allem dann in Betracht kommt, wenn die Strafbarkeit zum Entscheidungszeitpunkt nicht mehr gegeben ist.617 Das ist – bezogen auf die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung – dann der Fall, wenn der Gesetzgeber innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist keine Neuregelung geschaffen hat und die Norm mit Fristablauf außer Kraft tritt. Diese Konstellation lag allein bei der Vermögensteuer vor, weswegen die Diskussion vor allem die Vermögensteuerhinterziehung betrifft. (1) Die Literatur Eine breite Strömung in der Literatur nimmt an, dass die Strafbarkeit im Falle der Vermögensteuerhinterziehung (zumindest) gemäß § 2 Abs. 3 StGB entfallen ist.618 Das Argument ist derart weit verbreitet, dass es als das Hauptargument gegen die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung in der Übergangszeit bezeichnet werden kann. § 2 Abs. 3 StGB ist einschlägig, wenn ein Verhalten zum Tatzeitpunkt den Tatbestand des § 370 AO erfüllt, demgegenüber aber zum Entscheidungszeit616

Kindshofer/Wegner, PStR 2007, 45 (46); Traub, in: Wannemacher, Rn. 1250. Zu den Voraussetzungen der Vorschrift oben C.II.1.a)bb) (S. 207). 618 Bornheim, PStR 2000, 75 (76 f.); ders., DB 1999, 2600 (2601); ders., Stbg 1999, 310 (315); ders./Birkenstock, Steuerfahndung, S. 238 f.; Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1485; Nolte, Hinterziehung, S. 107 ff., insbes. S. 136 f.; Resing, DStR 1999, 922 (923 f.); Röckl, Steuerstrafrecht, S. 224; Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2481 f.); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6); Urban, DStR 1998, 1995 (1997 f.); Wendt, AktStR 1998, 195 (200); vgl. zur Hinterziehung von Zinseinkünften ebenfalls die Einschlägigkeit von § 2 Abs. 3 StGB annehmend Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (167). 617

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punkt eine Milderung eingetreten ist.619 § 2 Abs. 3 StGB setzt somit inzident voraus, dass die Hinterziehung zum Tatzeitpunkt – in der Übergangszeit – strafbar war. Daher muss man von der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung ausgehen, um § 2 Abs. 3 StGB für einschlägig zu halten.620 Freilich wird die Norm auch von Literaturstimmen zusätzlich angeführt, welche die strafrechtlichen Wirkungen der Weitergeltungsanordnung generell ablehnen.621 (a) Die Rechtslage nach Fristablauf als „milderes Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Erforderlich ist ein milderer Rechtszustand zum Entscheidungszeitpunkt, verglichen mit der Rechtslage des Tatzeitpunkts auf Grund einer Gesetzesänderung. Die Diskussion entzündet sich hier entlang der oben ausgeführten622 Merkmale des § 2 Abs. 3 StGB, die bereits auf abstrakter Ebene umstritten sind. (aa) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 3 StGB liegen vor Dabei bedarf es insbesondere der Begründung, warum eine Änderung bzw. der Wegfall der Steuernormen zugleich eine Änderung des Straftatbestands des § 370 AO darstellen soll. Wie bereits angesprochen, ist es höchst umstritten, ob durch normative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommene Normen als „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB anzusehen sind,623 und ob § 370 AO Blankettmerkmale oder normative Tatbestandsmerkmale enthält.624 Dementsprechend herrscht zwar über die genaue Konstruktion Uneinigkeit – einig ist man sich innerhalb eines großen Teils der Literatur aber, dass beim Außerkrafttreten des Vermögensteuergesetzes letztlich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 3 StGB gegeben sind.625 Der Wegfall des Vermögensteuergesetzes stelle eine „Gesetzes619

Zu dieser Norm bereits oben C.II.1.a)bb) (S. 207). So konsequent bspw. Nolte, Hinterziehung, S. 78, 107 ff. 621 So bspw. Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (167), allerdings bezogen auf die Zinsbesteuerung. 622 Vgl. C.II.1.a)bb) (S. 207). 623 Dazu oben C.II.1.a)bb)(1) (S. 208). 624 Dazu oben C.II.1.a)aa) (S. 202). 625 Umständlich Nolte, Hinterziehung, S. 113 ff.; Wulf, wistra 2001, 41 (46 f., insbes. Fn. 49). Sie stellen darauf ab, ob die Strafnorm des § 370 AO selbst geändert wird. Dies sei bei Änderungen des Steuerrechts nur dann der Fall, wenn dieses über Blankettmerkmale in Bezug genommen werde. Werde es hingegen nur über normative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommen, so sei eine Änderung des Steuerrechts nicht als Änderung des § 370 AO zu sehen (zu dieser Auffassung oben C.II.1.a)bb)(1) (S. 208)). Als Blankettmerkmal sehen sie nur das Merkmal „Pflichtwidrigkeit“ der Unterlassensvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO an. Dieses Merkmal gelte allerdings über den Wortlaut hinaus auch für die aktive Hinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, womit § 370 AO insgesamt zum echten Pflichtdelikt werde. Deswegen stellt auch nach ihrer Ansicht eine Änderung des Steuerrechts letztlich eine Änderung des § 370 AO dar. Pau620

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änderung“ zwischen Tatzeit und Urteil dar, da § 370 AO und das Vermögensteuergesetz strafrechtlich eine Einheit gebildet hätten.626 Das Außerkrafttreten des Vermögensteuergesetzes auf Grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stehe einer formellen Aufhebung durch den Gesetzgeber gleich, da auch dieses auf den Gesetzgeber zurückgehe. Dieser habe unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Vermögensteuerpflicht ab dem 1. Januar 1997 nicht mehr bestehen solle.627 Der früher angenommenen Strafbarkeit stehe seit diesem Datum eine Nicht-Strafbarkeit gegenüber; ein milderes Gesetz liege demnach vor.628 Teilweise wird versucht, die Rechtslage nach der Vermögensteuerentscheidung von der in der Parteispenden-Entscheidung des BGH629 abzugrenzen: Wenn die Strafbarkeit eines Sachverhalts infolge der Gesetzesänderung – anders als in der Parteispenden-Entscheidung – komplett entfalle, dann sei von einer Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB auszugehen. Wenn lediglich einzelne Besteuerungselemente in den steuerrechtlichen Ausfüllungsnormen geändert würden, dann gelte § 2 Abs. 3 StGB nicht.630 Diese Differenzierung vermag jedoch in keinem Fall zu überzeugen. Sie folgt keinen qualitativen, sondern rein quantitativen Unterschieden: Eine teilweise Änderung eines Steuergesetzes zugunsten der Steuerpflichtigen ist nichts anderes als ein Teilverzicht auf den in der Vergangenheit gegebenen Steueranspruch.631 Warum ein Teilverzicht bzgl. § 2 Abs. 3 StGB anders behandelt werden soll als ein Komplettverzicht, ist nicht begründbar. Die Frage ist vielmehr nach den zu § 2 Abs. 3, 4 StGB ermittelten allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. (bb) Gegenauffassung Von der Gegenauffassung wird bereits die Einschlägigkeit des § 2 Abs. 3 StGB bestritten.632 schaler: Bornheim, PStR 2000, 75 (77); ders., DB 1999, 2600 (2601); ders., Stbg 1999, 310 (315); Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1485; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2430); Resing, DStR 1999, 922 (924); Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2481 f.); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (4 f.); Urban, DStR 1998, 1995 (1997 f.); Wendt, AktStR 1998, 195 (200). 626 Bornheim, DB 1999, 2600 (2601); Urban, DStR 1998, 1995 (1997 f.). 627 Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (4); Urban, DStR 1998, 1995 (1998). 628 Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2430); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (4); vgl. auch Röckl, Steuerstrafrecht, S. 224. 629 Dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209). 630 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373); Urban, DStR 1998, 1995 (1998); Ulsamer/ Müller, wistra 1998, 1 (5); vgl. auch Resing, DStR 1999, 922 (924). 631 So zutreffend Brandenstein, NJW 2000, 2326 (2328); vgl. auch die Kritik von Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2431), die ebenfalls davon ausgehen, dass die beiden Konstellationen grundsätzlich gleich zu behandeln sind. 632 Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 21; Hellmann, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 53; Meine, DStR 1999, 2101 (2102); Rolletschke, in:

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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(a) Kein „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Bei der Einführung in den Tatbestand des § 2 Abs. 3 StGB wurde auf jene Auffassung hingewiesen, die solche Normen nicht als „Gesetze“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB ansieht, die durch normative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommen werden.633 Diejenigen, die dieser Auffassung anhängen und zusätzlich der Überzeugung sind, dass die Merkmale des § 370 AO normative Tatbestandsmerkmale enthalten, nehmen hier dementsprechend an, dass § 2 Abs. 3 StGB mangels eines „Gesetzes“ nicht einschlägig ist.634 (b) Keine „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Häufiger wird betont, dass keine „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB vorliege. Ein großer Teil der Literatur zieht eine Parallele zur ParteispendenProblematik, d.h. zu Gesetzesänderungen durch den Gesetzgeber, bei denen das an sich geänderte Recht nur künftige Neufälle betreffen soll, auf Altfälle hingegen das bisherige Recht anwendbar bleiben soll. In diesen Fällen liegt nach herrschender Meinung keine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB vor.635 Die willentliche Untätigkeit des Gesetzgebers habe im Zusammenwirken mit der durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Verfallsklausel genauso gewirkt, wie ein Änderungsgesetz, das ausdrücklich erst für die Zukunft gelten soll, weswegen hier ebenfalls eine Gesetzesänderung zu verneinen sei.636 Das bloße Untätigbleiben des Gesetzgebers könne insbesondere nicht dahingehend ausgelegt werden637, er wolle die Hinterziehung der Vermögensteuer für die VerDietz/Cratz, § 370 AO Rn. 254; Wulf, wistra 2001, 41 (46); vgl. auch Rolletschke, DStZ 2000, 211 (214), der zwar die Zeitgesetzeigenschaft annimmt, sich zur Begründung aber auf die Grundsätze des Parteispenden-Urteils des BGH beruft, der ja bereits eine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 ablehnt, dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209); Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b. 633 Vgl. C.II.1.a)bb)(1) (S. 208). 634 Vgl. bspw. Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 68, die lediglich das Merkmal „pflichtwidrig“ des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO als Blankett-, alle anderen Merkmale jedoch als normative Tatbestandsmerkmale ansehen (ebenda, Rn. 14 ff.). Da nach der herrschenden Auffassung das Merkmal der Pflichtwidrigkeit nicht für § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO gilt, sei die Vermögensteuer in der Begehungsvariante mangels Blankettmerkmals bereits kein Gesetz i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB. Vgl. auch Wulf, wistra 2001, 41 (46 f., insbes. auch Fn. 49), wo er sich letztlich für die Einschlägigkeit des § 2 Abs. 3 StGB ausspricht, weil er davon ausgeht, dass die „Pflichtwidrigkeit“ auch im Rahmen des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO Voraussetzung der Strafbarkeit ist. 635 Dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209). 636 Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 53; Meine, DStR 1999, 2101 (2102); Rolletschke, DStZ 2000, 211 (214); vgl. auch Brandenstein, NJW 2000, 2326 (2327 f.); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 21; Joecks, in: Franzen/ Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b; Lackner/Kühl, § 2 Rn. 4. 637 Die herrschende Ansicht zu § 2 Abs. 3 StGB stellt ja gerade auf eine Auslegung des Änderungsgesetzes ab, dazu oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

gangenheit nicht mehr verfolgt wissen, nur weil er auf die Erhebung der Steuer für die Zukunft verzichtet habe.638 (b) Das Vermögensteuergesetz als Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB Auch die Einordnung des Vermögensteuergesetz als Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB steht in Streit. Wäre das Vermögensteuergesetz als solches anzusehen, so wäre § 2 Abs. 3 StGB nicht anwendbar,639 mit der Folge, dass – aus dem Blickwinkel des § 2 StGB – die Vermögensteuerhinterziehung bezüglich der Veranlagungszeiträume bis einschließlich 1996 strafbar bliebe. (aa) Ablehnung der Zeitgesetzeigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB Die Teile der Literatur, welche die Straflosigkeit mit § 2 Abs. 3 StGB begründen, lehnen die Zeitgesetzeigenschaft des Vermögensteuergesetzes konsequenterweise ab.640 (a) Nolte: Keine Befristung und keine Vorhersehbarkeit des Außerkrafttretens Eine sehr weitreichende Begründung dieser ablehnenden Haltung hat Nolte641 entwickelt. Er geht zunächst auf die Rechtfertigung des § 2 Abs. 4 StGB als Ausnahme zum Meistbegünstigungsprinzip des § 2 Abs. 3 StGB ein und leitet daraus die Voraussetzungen eines Zeitgesetzes ab: § 2 Abs. 4 StGB solle den faktischen Geltungsverlust verhindern, dem Gesetze, deren Außerkrafttreten absehbar würde, gegen Ende ihrer Geltungsdauer unterliegen würden.642 Deswegen sei § 2 Abs. 4 StGB dann anwendbar, wenn ein Gesetz ausdrücklich befristet sei643 oder wenn es vorhersehbar sei, dass eine Norm außer Kraft treten werde644.645 638

Brandenstein, NJW 2000, 2326 (2328). Dazu bereits oben C.II.1.a)bb) (S. 207). 640 Bornheim, PStR 2000, 75 (77); ders., DB 1999, 2600 (2601); ders., Stbg 1999, 310 (316); Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373 f.); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1485; Nolte, Hinterziehung, S. 134 f.; Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2431); Resing, DStR 1999, 922 (924); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (5 f.); Urban, DStR 1998, 1995 (1999); Wendt, AktStR 1998, 195 (200). 641 Hinterziehung, S. 127 ff. 642 Dazu bereits oben C.II.1.a)bb)(3)(b)(bb) (S. 212). 643 Dann handelt es sich um Zeitgesetze im engeren Sinne, vgl. oben C.II.1.a) bb)(3)(a) (S. 210). 644 Dann handelt es sich um Zeitgesetze im weiteren Sinne, vgl. oben C.II.1.a) bb)(3)(b) (S. 210). 645 Nolte, Hinterziehung, S. 130 f., unter Berufung auf die oben C.II.1.a)bb)(3) (S. 210) dargestellte herrschende Meinung. 639

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Sowohl eine ausdrückliche Befristung als auch die Vorhersehbarkeit hinsichtlich des Entfallens der Vermögensteuer habe aber gefehlt: Zum einen habe es sich bei der Weitergeltungsanordnung bis maximal zum 31. Dezember 1996 nicht um eine herkömmliche Befristung gehandelt. Die Fortgeltung über diesen Zeitpunkt hinaus sei lediglich von einer Neuregelung durch den Gesetzgeber abhängig gewesen. Eine solche Neuregelung sei dabei alles andere als unwahrscheinlich gewesen, da der Besteuerung großer Vermögen stets mit großer Akzeptanz begegnet worden sei.646 Daran anknüpfend lehnt er auch die Vorhersehbarkeit des Außerkrafttretens ab. Der Gesetzgeber habe drei Möglichkeiten gehabt, die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen: Die Abschaffung der Privilegierung, die Abschaffung der Diskriminierung oder die Abschaffung der ganzen Norm. Letztlich habe sich – über den Umweg des Verstreichenlassens der Frist – die letzte Möglichkeit realisiert: Eine lediglich zu einem Drittel vorhersehbare Regelungschance. Dies reiche für die Annahme der Vorhersehbarkeit des Außerkrafttretens i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB nicht aus.647 Es sei vielmehr zugunsten des Täters im Zweifel davon auszugehen, dass eine Neuregelung noch erfolgen werde. Nur in den Fällen, in denen für den Normadressaten unmissverständlich klar sei, dass das Steuergesetz nach Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Höchstfrist entfalle, sei die Zeitgesetzeigenschaft gegeben.648 (b) Geläuterte Rechtskenntnis Darüber hinaus wird auch das Kriterium einer geläuterten Rechtskenntnis649 angeführt. Wenn man die überkommene Unterscheidung der älteren Rechtsprechung – bei einer Gesetzesänderung auf Grund einer Änderung der Rechtsauffassung des Gesetzgebers sei § 2 Abs. 3 StGB einschlägig, bei einer Änderung allein auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse dagegen § 2 Abs. 4 StGB650 – zu Grunde lege, ergebe sich die Straflosigkeit: Letztlich habe sich – auf dem Verstreichenlassen der Frist und damit dem Willen des Gesetzgebers beruhend – mit Entfall des Vermögensteuergesetzes eine verfassungskonforme und damit bessere Rechtsauffassung durchgesetzt.651 In der Parteispenden-Problematik sei eine alte, auch weiterhin grundsätzlich vertretbare gesetzliche Wertung durch eine neue, andersartige aber nicht substantiell andere, 646

Nolte, Hinterziehung, S. 134 f. Nolte, Hinterziehung, S. 135. 648 Holte, Hinterziehung, S. 140. 649 Dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(b)(aa) (S. 211). 650 Ebenda. 651 Nolte, Hinterziehung, S. 136; ähnlich bereits Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2431); vgl. auch Röckl, Steuerstrafrecht, S. 224, allerdings bereits auf Ebene der Einschlägigkeit des Meistbegünstigungsgebots. 647

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

gleichwertige Wertung ersetzt worden. Anders liege der Fall in der Vermögensteuer-Problematik: Die erzwungene Neuregelung wegen Verfassungswidrigkeit sei eine Neubeurteilung des früheren Steueranspruchs und damit geläuterte Rechtskenntnis.652 Deswegen scheide eine Einordnung als Zeitgesetz aus. (g) Telos des § 2 Abs. 4 StGB Zum gleichen Ergebnis gelangt Degenhard, allerdings unter gegenläufiger Argumentation. Er beruft sich auf das Telos des § 2 Abs. 4 StGB: Dieser solle die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wahren, der einer Gesetzesänderung von Ausfüllungsnormen eines Strafblanketts strafrechtliche Wirkungen beilegen könne, dies aber nicht müsse.653 Im Fall der Vermögensteuer habe aber der Gesetzgeber gar nicht gehandelt, sondern mit dem Bundesverfassungsgericht vielmehr die Judikative. Das Telos des § 2 Abs. 4 StGB sei gar nicht einschlägig, da der Gesetzgeber seine Gestaltungsfreiheit gar nicht genutzt habe.654 Auch nach dieser Ansicht ist die Zeitgesetzeigenschaft nicht gegeben. (d) Kein Nachweis, dass das Vermögensteuergesetz als Zeitgesetz i. w. S. einzustufen ist Darüber hinaus habe die Gegenauffassung nicht nachgewiesen, dass es sich bei dem Vermögensteuergesetz um ein Zeitgesetz im weiteren Sinne handele. Dieser Nachweis könne sich nur aus den Gesetzesmaterialien ergeben. Diesen sei die Gegenauffassung schuldig geblieben.655 (e) Vermögensteuer auf Dauer angelegt Ebenfalls betont wird, dass die Steuerart Vermögensteuer und somit auch das Gesetz auf Dauer angelegt gewesen seien.656 Für die Dauerhaftigkeit und gegen die Zeitgesetzeigenschaft spreche auch Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG. Dort sei die Vermögensteuer dauerhaft erwähnt, was betone, dass sie als Dispositionsrahmen dauerhaft zur Verfügung stehe.657 Zudem sei die Vermögensbesteuerung seit 1922 erfolgt, auch diese kontinuierliche Dauer schließe eine Einordnung als Zeitgesetz aus.658 652

Plewka/Heerspink, BB 1999, 2429 (2432). Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373); insoweit unter Berufung auf Meine, DStR 2000, 2101 (2102). 654 Vgl. Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373 f.). 655 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373). 656 Bornheim, Stbg 1999, 310 (316); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1485; Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6); Urban, DStR 1998, 1995 (1999). 657 Bornheim, PStR 2000, 75 (77). 658 Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6); Urban, DStR 1998, 1995 (1999). 653

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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(z) Weitergeltungsanordnung auch hier nicht zu berücksichtigen Auch die Befristung in der Weitergeltungsanordnung habe das Vermögensteuergesetz nicht nachträglich zum Zeitgesetz gemacht; die Weitergeltungsanordnung sei nämlich nicht auf das Strafrecht erstreckt worden.659 (bb) Gegenauffassung: Vermögensteuergesetz ist Zeitgesetz Dem steht eine bedeutende Literaturauffassung gegenüber, die davon ausgeht, § 2 Abs. 3 StGB sei auch deswegen nicht anwendbar, weil das Vermögensteuergesetz Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB gewesen sei.660 Teilweise wird die Zeitgesetzeigenschaft mit einer von vornherein existierenden Befristung begründet, womit das Vermögensteuergesetz letztlich als Zeitgesetz im engeren Sinne661 eingeordnet wird: Art. 10 § 3 VStRG 1974662 habe bestimmt, dass das gesamte Vermögensteuergesetz nur solange gelten sollte, wie Grundstücke mit 140% des Einheitswerts von 1964 bewertet wurden. Deswegen sei bereits bei Erlass des Gesetzes erkennbar eine zeitlich begrenzte Geltung angeordnet gewesen.663 Teilweise wird auch angeführt, das Vermögensteuergesetz habe durch die bis zum 31. Dezember 1996 befristete Weitergeltungsanordnung den Charakter eines Zeitgesetzes im engeren Sinne bekommen. Verwiesen wird auf die herrschende Auffassung, nach der ein Gesetz durch den Gesetzgeber auch nachträglich befristet und damit zum Zeitgesetz im engeren Sinne werden kann.664 Wenn man nun die befristete Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht auf der Ebene des § 2 Abs. 3 StGB einer Gesetzesänderung durch den Gesetzgeber gleichstelle – wie es die Gegenansicht tut, die ja eine „Gesetzesänderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB annimmt665 – müsse man dies konsequenterweise auch

659 Urban, DStR 1998, 1995 (1999); zu der von dieser Auffassung geltend gemachten fehlenden Erstreckung auf das Strafrecht oben C.II.1.c)cc)(1)(b)(bb) (S. 246). 660 Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 36; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 55; Meine, DStR 1999, 2101 (2102); Rolletschke, DStZ 2000, 211 (214); Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 304 Fn. 1919; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 67; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 52; Wulf, wistra 2001, 41 (48 f.); vgl. auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b. 661 Dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(a) (S. 210). 662 BGBl. I 1974, 949; zu dieser Vorschrift bereits oben S. 177. 663 Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 304 Fn. 1919; anders noch ders., PStR 2000, 75 (77); ders., DB 1999, 2600 (2601). 664 BGHSt 6, 30 (36); BayObLGSt 1961, 149 (151); Dannecker, in: LK, § 2 Rn. 127; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 35; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 52; Wulf, wistra 2001, 41 (48); dazu bereits oben C.II.1.a)bb)(3)(a) (S. 210). 665 Dazu oben C.II.1.c)dd)(1)(a) (S. 257).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

auf Ebene des § 2 Abs. 4 StGB tun.666 Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Befristung sei somit einer Befristung durch den Gesetzgeber gleichzusetzen; damit sei das Vermögensteuergesetz ausdrücklich befristet und somit Zeitgesetz im engeren Sinne.667 Auch die Befürworter der Zeitgesetzeigenschaft berufen sich auf die Differenzierung des Bundesgerichtshofs, nach der eine geläuterte Rechtsauffassung gegen die Zeitgesetzeigenschaft spricht.668 Eine solche geläuterte Rechtsauffassung habe gerade nicht vorgelegen. Ein Bewertungswandel hätte in Bezug auf die Vermögensteuer nur dann vorgelegen, wenn ein mehrheitlicher gesellschaftlicher und politischer Konsens dahingehend bestanden hätte, die Vermögensteuer nicht mehr zu erheben. Das sei aber nicht der Fall gewesen: Vielmehr hätten nach dem Vermögensteuerbeschluss die politischen Mehrheitsverhältnisse sowohl eine formelle Abschaffung als auch eine verfassungskonforme Neuregelung des Vermögensteuerrechts verhindert.669 (2) Stellungnahme zu § 2 Abs. 3 StGB Teile der Literatur670 sind somit – ebenso wie die bereits dargestellte herrschende Rechtsprechung671 – der Auffassung, dass § 2 Abs. 3 StGB nicht anwendbar ist. Die Hinterziehung der Vermögensteuer ist demnach strafbar. Dies wird jedoch von einer gewichtigen Literaturmeinung bestritten.672 Da die Bedeu666

Vgl. Wulf, wistra 2001, 41 (48). Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 36; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 55; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 67; Wulf, wistra 2001, 41 (48 f.); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 52; vgl. auch Meine, DStR 1999, 2101 (2102). 668 Dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(b)(aa) (S. 211). 669 Rolletschke, DStZ 2000, 211 (215); vgl. auch Wulf, wistra 2001, 41 (48). 670 Zur Nichteinschlägigkeit des § 2 Abs. 3 StGB: Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 21; Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 53; Meine, DStR 1999, 2101 (2102); Rolletschke, in: Dietz/Cratz, § 370 AO Rn. 254; ders., DStZ 2000, 211 (214); Wulf, wistra 2001, 41 (46); vgl. auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b. Dazu soeben C.II.1.c)dd)(1)(a)(bb) (S. 258). Zur Einschlägigkeit des § 2 Abs. 4 StGB: Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 36; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 55; Meine, DStR 1999, 2101 (2102); Rolletschke, DStZ 2000, 211 (214); Bornheim, Steuerstrafverteidigung, S. 304 Fn. 1919; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 67; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 52; Wulf, wistra 2001, 41 (48 f.); vgl. auch Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 Rn. 233b. Dazu soeben C.II.1.c)dd)(1)(b)(bb) (S. 263). 671 BGHSt 47, 138 (143 f.); BFHE 193, 63 (74); 191, 240 (245 f.); OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113); OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154 (155); LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). Dazu ausführlich oben C.II.1.b) (S. 212). 672 Bornheim, PStR 2000, 75 (76 f.); ders., DB 1999, 2600 (2601); Degenhard, DStR 2001, 1370 (1373); Schauf, in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1485; Nolte, Hinterziehung, S. 107 ff., insbes. S. 136 f.; Resing, DStR 1999, 922 (923 f.); Röckl, 667

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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tung der Frage auf die Hinterziehung der Vermögensteuer begrenzt ist673 und sie keine Bedeutung für die Frage der grundsätzlichen strafrechtlichen Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung hat, wird bereits an dieser Stelle abschließend Stellung genommen. § 2 Abs. 3 StGB setzt – wie bereits erwähnt674 – voraus, dass die Hinterziehung der Vermögensteuer in der Übergangszeit strafbar ist. Daher erfolgt diese Stellungnahme unter der Prämisse, dass der Weitergeltungsanordnung grundsätzlich strafrechtliche Wirkungen beizumessen sind. In diesem Falle wäre die Strafbarkeit zum Tatzeitpunkt zwar gegeben. Wenn das Meistbegünstigungsgebot des § 2 Abs. 3 StGB einschlägig wäre, so wäre das Verhalten jedoch selbst unter dieser Prämisse – und damit in jedem Fall – straflos. (a) Zur Gesetzeseigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Mit Blick auf den Wortlaut der Norm wurde auf Ebene der Darstellung der Tatbestandsmerkmale des § 2 Abs. 3 StGB bei der Frage nach dem „mildesten Gesetz“ derjenigen Auffassung der Vorzug gegeben, die auf die gesamte materielle Rechtslage abstellt. Nach dieser sind auch Normen, die „lediglich“ durch normative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommen werden, „Gesetze“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB.675 Das Vermögensteuergesetz ist demnach – unabhängig vom Blankettcharakter des § 370 AO – „Gesetz“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB. Die dies bestreitende Auffassung676 ist abzulehnen. (b) Zur Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB Die Frage, ob im Falle des Fristablaufs eine Gesetzesänderung vorliegt, sollte man genauso behandeln, als hätte der Gesetzgeber eine entsprechende Neuregelung erlassen. Dies liegt zum einen daran, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner durch die verfassungsmäßige Ordnung eingeräumten Kompetenzen677 durch die befristete Weitergeltungsanordnung auf das Vermögensteuerge-

Steuerstrafrecht, S. 224; Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2481 f.); Ulsamer/Müller, wistra 1998, 1 (6); Urban, DStR 1998, 1995 (1997 f.); Wendt, AktStR 1998, 195 (200); vgl. zur Hinterziehung von Zinseinkünften ebenfalls die Einschlägigkeit von § 2 Abs. 3 StGB bejahend Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161 (167). Dazu oben C.II.1.c)dd)(1)(a) (S. 257), C.II.1.c)dd)(1)(b)(aa) (S. 260). 673 Dazu oben C.II.1.c)dd) (S. 256). 674 Dazu oben C.II.1.c)dd) (S. 256). 675 Dazu oben C.II.1.a)bb)(1) (S. 208). 676 Zu dieser oben C.II.1.c)dd)(1)(a)(bb)(a) (S. 259). 677 Die Kompetenz zu einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist dem Bundesverfassungsgericht unmittelbar durch die Verfassung eingeräumt, vgl. oben B.III.4.b) (S. 128), insbes. B.III.4.b)bb)(3) (S. 135).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

setz eingewirkt hat, also gewissermaßen gesetzgeberisch678 tätig geworden ist. Zum anderen – hier ist den betreffenden Stimmen in der Literatur zuzustimmen679 – hat sich der Gesetzgeber letztlich die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Rechtslage zu eigen gemacht. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Befristung einen Kausalverlauf in Gang gesetzt, der – ohne Tätigkeit des Gesetzgebers – in der Unwirksamkeit des Vermögensteuergesetzes enden musste. Der Gesetzgeber hat – aus welcher Motivation und unter welchen Umständen auch immer – willentlich nicht gehandelt. Das Auslaufen der Regelung beruhte kausal auf seinem vorsätzlichen Unterlassen. Letztlich spricht hierfür auch die Perspektive der Normadressaten: Für sie galt ein Gesetz, das auf alle bis zum 31. Dezember 1996 verwirklichten Sachverhalte anzuwenden war, auf alle späteren hingegen nicht mehr. Diese Rechtslage war für alle verbindlich, eine Schöpfung der verfassungsmäßigen Ordnung. Wer dieses Gesetz letztlich gestaltet hat, ist aus der Perspektive des Normadressaten zu vernachlässigen; es war wirksam. Damit ist jene Ansicht abzulehnen, die darauf abstellt, nicht der Gesetzgeber, sondern die Judikative habe gehandelt und damit letztlich die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB begründet.680 Hätte der Gesetzgeber die Vermögensteuer zum 1. Januar 1997 abgeschafft, so wäre das entsprechende Gesetz auf Basis der bereits dargestellten herrschenden Meinung derart auszulegen, dass eine Gesetzesänderung zu verneinen wäre.681 Damit hätte der Gesetzgeber nämlich zugleich zum Ausdruck gebracht, dass alle bis dahin verwirklichten Sachverhalte weiter der alten Rechtslage unterfallen sollten. Diese herrschende Meinung ist – wie dargelegt682 – auch zutreffend. Es ist demnach vorzugswürdig, mit der herrschenden Rechtsprechung683 und einer

678 Das OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113) bezeichnet das Bundesverfassungsgericht zutreffenderweise als „Gesetzgeber im materiellen Sinn“, dazu oben C.II.1.b)ff)(1) (S. 225). 679 Dazu oben C.II.1.c)dd)(1)(a)(bb)(b) (S. 259). 680 Diese Ansicht verneint mit diesem Argument die Zeitgesetzeigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB, womit letztlich § 2 Abs. 3 StGB anwendbar ist, dazu oben C.II.1.c) dd)(1)(b)(aa)(g) (S. 262). Dabei bestimmt sie auch das Telos des § 2 Abs. 4 StGB anders als die ganz herrschende Auffassung: Telos der Norm ist es nach letzterer nicht, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu wahren, sondern das Gesetz gegen Ende seiner Geltungsdauer vor einem faktischen Geltungsverlust zu bewahren, dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(b)(bb) (S. 212). 681 Zur herrschenden Meinung zur Parteispenden-Problematik oben C.II.1.a)bb)(2) (S. 209). 682 Ebenda. 683 Mit der fehlenden Gesetzesänderung argumentieren: BGHSt 47, 138 (143 f.), dazu oben C.II.1.b)gg)(7) (S. 228); BFHE 193, 63 (74), dazu oben C.II.1.b)ee)(1) (S. 222); BFHE 191, 240 (246), dazu oben 219 (S. 219); OLG Frankfurt am Main wistra 2000, 154 (155), dazu oben C.II.1.b)aa)(2) (S. 213).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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starken Literaturansicht684 bereits eine Gesetzesänderung abzulehnen. § 2 Abs. 3 StGB ist nicht einschlägig. (c) Zur Zeitgesetzeigenschaft i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB Selbst wenn man entgegen den überzeugenderen Argumenten eine Gesetzesänderung i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB annehmen wollte, so wäre das Vermögensteuergesetz in jedem Falle Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB. Das Vermögensteuergesetz ist anwendbar. (aa) Zeitgesetz im engeren Sinne Zwar war das Vermögensteuergesetz nicht bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens befristet und damit Zeitgesetz im engeren Sinne. Diejenigen, die Art. 10 § 3 VStRG 1974 als Befristung in diesem Sinne verstehen685, verkennen seine Bedeutung. Zum einen war das Außerkrafttreten der Einheitswerte 1964 zum damaligen Zeitpunkt unabsehbar und damit kein „bestimmtes zukünftiges Ereignis“ i. S. d. Definition des Zeitgesetzes im engeren Sinne.686 Diese Norm war darüber hinaus auch überhaupt nicht dazu gedacht, die Geltung des Vermögensteuergesetzes zeitlich zu begrenzen. Sie sollte vielmehr die Geltung des Vermögensteuergesetzes systematisch mit der Geltung der Einheitswerte 1964 auf Bewertungsebene verknüpfen. Das Vermögensteuergesetz konnte nach dieser Konzeption durchaus für alle Ewigkeit gelten. Entscheidend ist, dass es bezüglich § 2 Abs. 4 StGB weitestgehend unbestritten ist, dass Gesetze die Zeitgesetzeigenschaft im engeren Sinne nicht zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens haben müssen, sondern diese Eigenschaft auch nachträglich durch eine Rechtsnorm bekommen können.687 Das ist durch die Weitergeltungsanordnung geschehen. Jene Ansichten, die hiergegen einwenden, das Vermögensteuergesetz sei von vornherein auf Dauer angelegt gewesen688 oder der Nachweis der Zeitgesetzeigenschaft in den Gesetzgebungsmaterialien liege nicht vor689, gehen fehl. Auch bei der Frage der Befristung ist es nämlich – wegen des gesetzgebergleichen Einwirkens auf die Norm durch das Bundesverfassungsgericht innerhalb der von der verfassungsmäßigen Ordnung eingeräumten Kompetenzen, dem Zu-eigen-

684

Zu dieser Ansicht oben C.II.1.c)dd)(1)(a)(bb)(b) (S. 259). Zu dieser Auffassung oben C.II.1.c)dd)(1)(b)(bb) (S. 263). 686 Zeitgesetze im engeren Sinne sind Gesetze, die kalendermäßig oder durch ein bestimmtes zukünftiges Ereignis befristet sind, vgl. oben C.II.1.a)bb)(3)(a) (S. 210). 687 Vgl. dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(a) (S. 210) und die Nachweise in Fn. 350 (S. 210). 688 Dazu oben C.II.1.c)dd)(1)(b)(aa)(e) (S. 262). 689 Dazu oben C.II.1.c)dd)(1)(b)(aa)(d) (S. 262). 685

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

machen der Rechtslage durch den Gesetzgeber und der Wirkungsgleichheit aus der Perspektive der Normadressaten690 – geboten, das Handeln durch das Bundesverfassungsgericht dem Handeln durch den Gesetzgeber gleichzustellen. Hätte der Gesetzgeber im Juni 1995 in das Vermögensteuergesetz eine Norm eingefügt, die lautet „das Vermögensteuergesetz tritt zum 1. Januar 1997 außer Kraft“, so käme wohl niemand auf die Idee, die Zeitgesetzeigenschaft – bereits im engeren Sinne – zu verneinen. Grund hierfür ist die formale Bestimmung des Zeitgesetzes im engeren Sinne durch die herrschende Meinung, für die eine ausdrückliche kalendermäßige Begrenzung der Geltungsdauer durch den Gesetzgeber ausreicht.691 Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, die Frage des Zeitgesetzes müsse im Rahmen einer Auslegung des Gesetzes wertend danach beurteilt werden, ob der Gesetzgeber eine strafrechtliche Sanktionierung erkennbar über die allgemeine Geltung des Gesetzes hinaus gewollt habe,692 wird man hier ein Zeitgesetz im engeren Sinne annehmen müssen. Das liegt an der Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 4 S. 2 StGB, wonach die Strafbarkeit (nur) dann entfällt, wenn ein Gesetz etwas anderes bestimmt. Zwar ist auch dies wiederum eine Auslegungsfrage, jedoch ist das somit von § 2 Abs. 4 S. 1, 2 StGB vorausgesetzte Regel-Ausnahme-Verhältnis auch bei der Auslegung zu berücksichtigen. Bei einer ausdrücklichen Befristung muss schon einiges für die Anordnung der Straflosigkeit sprechen, um die Zeitgesetzeigenschaft zu verneinen. Wegen der gebotenen Gleichstellung mit einer Regelung durch den Gesetzgeber ist das Vermögensteuergesetz – wie von Teilen der Rechtsprechung693 und Teilen der Literatur694 zutreffenderweise angenommen wird – somit zum Zeitgesetz im engeren Sinne geworden. Hiergegen hat Nolte eingewendet, die Weitergeltungsanordnung sei gar nicht als Befristung zu sehen. Die Fortgeltung des Vermögensteuergesetzes sei ja lediglich von der – nicht unwahrscheinlichen – Neuregelung durch den Gesetzgeber abhängig gewesen.695 Hier ist die Erwiderung von Schmitz und Wulf zutreffend: Die Steuernorm nach der Handlung (Neuregelung) bzw. dem Unterlassen (Entfall

690

Dazu soeben C.II.1.c)dd)(2)(b) (S. 265). Vgl. dazu die Definition unter C.II.1.a)bb)(3)(a) (S. 210). 692 So das Verständnis von Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 49. Auch Schmitz definiert das Zeitgesetz im engeren Sinn jedoch entsprechend der herrschenden Meinung formal. Er nimmt ebenfalls an, das VermStG sei durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Zeitgesetz im engeren Sinne geworden, vgl. ebenda Rn. 52. 693 OLG Hamburg wistra 2001, 112 (113), dazu oben C.II.1.b)ff)(1) (S. 225); in diese Richtung auch BFHE 193, 63 (74), dazu oben Fn. 428 (S. 223). 694 Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 36; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 55; Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 67; Wulf, wistra 2001, 41 (48 f.); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 52; vgl. auch Meine, DStR 1999, 2101 (2102). Dazu oben C.II.1.c)dd)(1)(b)(bb) (S. 263). 695 Vgl. oben C.II.1.c)dd)(1)(b)(aa)(a) (S. 260). 691

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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der Regelung) des Gesetzgebers ist in jedem Falle eine andere; die konkrete, verfassungswidrige Steuernorm gilt damit nach allen denkbaren Varianten nur befristet.696 Zudem ist diese Ungewissheit des Außerkrafttretens letztlich bei allen Befristungen gegeben – auch beim klassischen Anwendungsfall des § 2 Abs. 3 StGB, der von vornherein durch den Gesetzgeber befristeten Geltung. Der Gesetzgeber kann das drohende Außerkrafttreten eines Gesetzes immer durch eine Neuregelung vor Fristablauf abwenden. Diese Möglichkeit spricht auch dort nicht gegen die Zeitgesetzeigenschaft. Der Einwand Noltes verfängt somit nicht. (bb) Zeitgesetz im weiteren Sinne Zuletzt muss man zumindest die Zeitgesetzeigenschaft im weiteren Sinne annehmen. Zwar ist die Argumentation mit der geläuterten Rechtskenntnis – die nach Auffassung der Rechtsprechung gegen das Vorliegen eines Zeitgesetzes sprechen soll697 – hier besonders schwierig. Letztlich erscheint es auch hier – wie bereits bei dem Vorliegen einer „Gesetzesänderung“ – vorzugswürdig, einen Blick auf die zeitliche Dimension zu werfen: Das Vermögensteuergesetz sollte auf alle bis zum 31. Dezember verwirklichten Sachverhalte Anwendung finden. Bezüglich dieser Sachverhalte liegt keine geläuterte Rechtskenntnis vor. Diese bezog sich erst auf Sachverhalte ab diesem Datum. Bis dahin wurde die Anwendung des Steuerrechts von der Verfassung gefordert.698 Dieser Blick auf die zeitliche Dimension spricht gegen eine geläuterte Rechtskenntnis und damit für die Zeitgesetzeigenschaft. Endgültig klärend ist das Kriterium, das vor dem Hintergrund des Telos699 des § 2 Abs. 4 StGB als das für das Vorliegen eines Zeitgesetzes entscheidende identifiziert wurde: Die Erkennbarkeit des Übergangscharakters.700 Es ist wenig nachvollziehbar, wie nach der Vermögensteuerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts davon gesprochen werden kann, das Außerkrafttreten des Gesetzes sei nicht vorhersehbar gewesen. Denn welchen anderen Inhalt sollte die Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts denn haben, als die nur vorübergehende Weitergeltung zu ermöglichen? Es war für jedermann ersichtlich, dass das verfassungswidrige Gesetz nur bis zum 31. Dezember 1996 anwendbar sein sollte.

696

Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 67. Dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(b)(aa) (S. 211). 698 Dazu oben C.I.1.c)bb)(2)(b) (S. 173). 699 Zweck des § 2 Abs. 4 StGB ist es, das Gesetz gegen Ende seiner zeitlichen Geltung vor einem faktischen Geltungsverlust zu bewahren, vgl. oben C.II.1.a)bb)(3)(b) (bb) (S. 212). 700 Dazu oben C.II.1.a)bb)(3)(b)(aa) (S. 211). 697

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die dagegen vorgebrachten Argumente – hier betont Nolte, es habe sich mit dem Außerkrafttreten lediglich eine Regelungschance von einem Drittel verwirklicht, was nicht für die Erkennbarkeit des Übergangcharakters ausreiche701 – vermögen aus den gleichen Gründen nicht zu überzeugen, die soeben im Rahmen des Zeitgesetzes im engeren Sinn angeführt wurden: Zum einen war das Außerkrafttreten des konkreten, verfassungswidrigen Gesetzes unausweichlich; hier hat sich eine Wahrscheinlichkeit von 100% verwirklicht, denn die Neuregelung wäre in jedem Falle ein anderes Gesetz gewesen. Zum anderen hat der Gesetzgeber immer mehrere Möglichkeiten, das drohende Außerkrafttreten einer Regelung durch Neuregelung abzuwenden. Folgte man dieser Argumentation, wäre der Übergangscharakter letztlich nie erkennbar, damit gäbe es keine Zeitgesetze im weiteren Sinne. (3) Zwischenergebnis zu § 2 Abs. 3 StGB Bezüglich des Sonderproblems der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB bei der Vermögensteuerhinterziehung ergibt sich somit folgendes Zwischenergebnis: Auf allen relevanten Ebenen des § 2 Abs. 3 und 4 StGB sprechen die Anwendung allgemeiner Grundsätze und die schlüssigeren Argumente gegen die Einschlägigkeit des Meistbegünstigungsprinzips des § 2 Abs. 3 StGB. Wenn man die grundsätzliche strafrechtliche Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung und damit der betreffenden Normen des materiellen Steuerrechts voraussetzt, dann ist das Verhalten bis zum Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist strafbar. § 2 Abs. 3 StGB gelangt nicht zur Anwendung. Die verbleibenden, verallgemeinerbaren Argumente der Literatur zur Strafbarkeit gemäß § 370 AO werden im Abschnitt D. dieser Arbeit gewürdigt.702 2. Rechtsprechung und Literatur zu § 284 StGB Soeben wurde die Behandlung der Problematik bei der Steuerhinterziehung in Rechtsprechung und Literatur dargestellt. Wie bereits die Vorstellung der einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergeben hat, eröffnet die Sportwettenentscheidung703 ein zweites bislang relevant gewordenes Anwendungsfeld. Das Einfallstor für die Problematik ist hier § 284 StGB. Diese Norm soll nun im Folgenden im Überblick dargestellt werden [a)]. Danach wird auf die bislang ergangenen Entscheidungen [b)] sowie die Literatur [c)] zur Strafbarkeit gemäß § 284 StGB auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung eingegangen.

701 702 703

Vgl. oben C.II.1.c)dd)(1)(b)(aa)(a) (S. 260). Vgl. unten Abschnitt D. (S. 322). Zu dieser ausführlich oben C.I.2. (S. 188).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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a) Überblick zu § 284 StGB und Abgrenzung Neben der Einführung in den Tatbestand des § 284 StGB [aa)] ist die hier zu erörternde Rechtsfrage von anderen Problemen abzugrenzen [bb), cc)]. aa) Überblick zu § 284 StGB Gemäß § 284 Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer „ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält oder die Einrichtungen hierzu bereitstellt“.

Gemäß § 284 Abs. 4 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer für ein solches öffentliches Glücksspiel wirbt. Klärungsbedürftig und Gegenstand ausführlicher Auseinandersetzungen war die Frage, ob Sportwetten mit festen Gewinnquoten wie Oddset-Wetten überhaupt als „Glücksspiel“ angesehen werden können. Diese Frage wird von der ganz herrschenden Ansicht – unter Verweis auf den Zufallscharakter, den die Sportwette mit anderen Formen des Glücksspielt teilt – bejaht.704 (1) Verwaltungsakzessorietät; Blankettcharakter Das Einfallstor für die Problematik der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts ist hier das Merkmal „ohne behördliche Erlaubnis“. § 284 StGB trifft selbst keine Entscheidung darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen Glücksspiele veranstaltet werden dürfen. Dies ergibt sich vielmehr erst aus den Normen des besonderen Verwaltungsrechts. Die Anbindung und Abhängigkeit strafrechtlicher Regelungen von den Vorgaben des Verwaltungsrechts wird als Verwaltungsakzessorietät bezeichnet.705 Da über das Erfordernis der fehlenden „behördlichen Erlaubnis“ das Verwaltungsrecht auf die Frage der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB einwirkt, ist die Norm im ebengenannten Sinne verwaltungsakzessorisch.706 Die behördliche Erlaubnis kann aus Geset704 BGH NJW 2007, 3078 f. (inzident); BGHSt 51, 165 (171 f.); BGH NStZ 2003, 372 (373); Arendts, ZfWG 2007, 457; Fischer, § 284 Rn. 10; Hohmann, in: MüKoStGB, § 284 Rn. 6; Hecker/Schmitt, ZfWG 2007, 364 (365); dies., ZfWG 2006, 59 (60); Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 7, 9; Hofmann/Mosbacher, NStZ 2006, 249 (251); Janz, NJW 2003, 1694 (1696); Krehl, in: LK, § 284 Rn. 5; Kretschmer, ZfWG 2006, 59 (60); Lackner/Kühl, § 284 Rn. 6, Steegmann, ZfWG 2007, 410 (413). 705 Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 284 Rn. 16; Saliger, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, Vor §§ 324 ff. Rn. 15; Schmitz, in: MüKo-StGB, Vor §§ 324 ff. Rn. 41; vgl. auch Otto, Jura 1991, 308 (310 f.). 706 Feldmann, Strafbarkeit, S. 69; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 284 Rn. 16; vgl. auch Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 23; Fischer, § 284 Rn. 14.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

zen selbst wie aus Verwaltungsakten resultieren707 – die Norm ist demnach je nach Regelungszusammenhang verwaltungsrechtsakzessorisch708 oder verwaltungsaktsakzessorisch709. Der Begriff der Verwaltungsakzessorietät weist erhebliche inhaltliche Überschneidungen zu dem des Blanketttatbestands710 auf; beide Tatbestandsstrukturen beinhalten Verweise auf andere Normen, wobei die Verwaltungsakzessorietät den Ursprung dieser Normen auf das Verwaltungsrecht beschränkt. Trotzdem werden die Begriffe nicht notwendigerweise deckungsgleich verwendet. Zwar werden die Genehmigungsmerkmale der verwaltungsakzessorischen Normen des Umweltstrafrechts von der herrschenden Meinung als Blankettmerkmale angesehen.711 Bei § 284 StGB ist dies umstrittener.712 (2) Präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt? Strittig ist, auf welcher Ebene das Merkmal der Erlaubnis im Deliktsaufbau angesiedelt ist. Es wird grundsätzlich zwischen zwei Arten von Erlaubnismerkmalen unterschieden: Zwischen präventiven Verboten mit Erlaubnisvorbehalt und repressiven Verboten mit Befreiungsvorbehalt. Da die Einordnung in diese Kategorien für die Argumentation einer vertretenen Literaturansicht relevant ist, wird bereits an dieser Stelle auf deren Grundlagen eingegangen: Die Einordnung entscheidet darüber, ob eine vorhandene Erlaubnis bereits den Tatbestand ausschließt – so präventive Erlaubnismerkmale – oder lediglich einen Rechtfertigungsgrund darstellt – so die Befreiung von einem repressiven Verbot.713 707 Krehl, in: LK, § 284 Rn. 22; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 284 Rn. 16. 708 Zum Begriff Saliger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Vor §§ 324 ff. Rn. 23; Schmitz, in: MüKo-StGB, Vor §§ 324 ff. Rn. 44; Otto, Jura 1991, 308 (310). 709 Zum Begriff Saliger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Vor §§ 324 ff. Rn. 23; Schmitz, in: MüKo-StGB, Vor §§ 324 ff. Rn. 46; vgl. auch Otto, Jura 1991, 308 (311), hier allerdings als „einfache Verwaltungsakzessorietät“ bezeichnet. 710 Vgl. zum Begriff des Blanketttatbestands oben C.II.1.a)aa)(1) (S. 203). 711 Eindeutig BVerfGE 75, 329 (342 ff., insbes. 344 f.), zum Merkmal „erforderliche Genehmigung“ des § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB; Schmitz, in: MüKo-StGB, Vor §§ 324 ff. Rn. 44 f.; Otto, Jura 1991, 308 (310 f.); vgl. Saliger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Vor §§ 324 ff. Rn. 15. 712 Die Aussagekraft der vorhandenen Äußerungen ist allerdings eher gering. Mit ihnen wird nämlich entweder die Strafbarkeit in der Übergangszeit gerechtfertigt oder bestritten, ohne dass die Ansichten näher begründet werden. Gegen die Blankettstruktur OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 25, zitiert nach juris; Beckemper, in: v. Heintschel-Heinegg, § 284 Rn. 26; Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); a. A. OLG München NJW 2006, 3588 (3592). 713 Vgl. dazu Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 61; Mintas, Glücksspiele, S. 229; Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 274; Schuster, Bezugsnormen, S, 197 f.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Im Falle des präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt ist das fragliche Verhalten an sich sozialadäquat, das Erfordernis einer behördlichen Genehmigung hat nur den Sinn, die Kontrolle über möglicherweise entstehende Gefahren zu ermöglichen. Ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt dagegen betrifft ein für sich sozialschädliches, unerwünschtes und daher grundsätzlich verbotenes Verhalten, das nur ausnahmsweise erlaubt werden kann.714 Die Rechtsprechung und Teile der Literatur gehen davon aus, dass § 284 StGB ein an sich sozialschädliches Verhalten umschreibt, eine vorhandene Erlaubnis somit lediglich einen Rechtfertigungsgrund darstellt.715 Eine starke Literaturauffassung sieht das Merkmal dagegen als negatives Tatbestandsmerkmal an; die Erlaubnis schließt dementsprechend bereits die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens aus.716 bb) Abgrenzung I: Verbotsirrtum gemäß § 17 Abs. 1 StGB, Einstellung aus Opportunitätsgründen und Europarechtswidrigkeit der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB Die im Folgenden dargestellten Argumente der Strafgerichte und der Literatur beziehen sich alle auf die Frage, ob – nach deutschem Recht – die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts gegeben ist. Neben dieser Frage werden noch weitere aufgeworfen: Einerseits wurde zum Teil die Straflosigkeit – allerdings nur neben den im Folgenden dargestellten Argumenten – wegen der zum Zeitpunkt der Urteile unklaren Rechtslage auf einen Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB gestützt.717 Aus den gleichen Gründen wurden Verfahren teilweise aus Opportunitätsgründen eingestellt, ohne die Rechtsfrage zu klären.718 714 Feldmann, Strafbarkeit, S. 189; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 61; Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 274; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 36. 715 BVerfGE 102, 197 (215); 28, 119 (148); BVerwGE 126, 149 (159); 114, 92 (95 f.); BGH NJW-RR 2002, 395 (396); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 368; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT I, § 44 Rn. 9; Roxin, AT I, § 10 Rn. 32; Tettinger/Ennuschat, Grundstrukturen, S. 11. 716 Fischer, § 284 Rn. 13; Groeschke/Hohmann, in: MüKo-StGB, § 284 Rn. 16; Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 23; Hoyer, in: SK, § 284 Rn. 27; Lackner/Kühl, § 284 Rn. 12; Mintas, Glücksspiele, S. 229 f.; Otto, Strafrecht BT, § 55 Rn. 9; Wohlers/Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 284 Rn. 21; zu dieser Frage noch ausführlich unten C.II.2.c)bb)(2)(a)(cc) (S. 302). 717 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 43 ff.; LG Frankfurt am Main, Beschluss v. 15.11.2007, 5/30 KLs 3650 Js 236524/06 (11/07), Rn. 29 ff., jeweils zitiert nach juris. 718 BGH wistra 2007, 111 f. (Einstellung gemäß § 153 Abs. 2 StPO); LG Frankfurt am Main, zitiert nach dems., NStZ-RR 2007, 201 (203) (Verwarnung mit Strafvorbehalt wegen Rechtsunsicherheit); dazu kritisch Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (36 f.).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Andererseits wurde die Straflosigkeit – ebenso neben den im Folgenden dargestellten Argumenten – auf das europäische Gemeinschaftsrecht gestützt: Auch der Europäische Gerichtshof hatte sich nämlich – vor Ergehen der im Folgenden besprochenen Gerichtsentscheidungen der Strafgerichte – mehrfach mit der Frage befasst, ob und unter welchen Voraussetzungen ein staatliches Wettmonopol mit den Grundfreiheiten vereinbar ist.719 Die dabei entwickelten Vorgaben der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 AEUV (ex Art. 43 EGV) bzw. Art. 56 AEUV (ex Art. 49 EGV)) entsprechen den Vorgaben des deutschen Verfassungsrechts:720 Der Europäische Gerichtshof befand, dass die Unterbindung der Vermittlung von Sportwetten in andere Mitgliedstaaten mit dem Gemeinschaftsrecht nur unter zwei Bedingungen vereinbar ist. Zum einen muss das Staatsmonopol wirklich dem Ziel dienen, die Gelegenheiten zum Spiel zu vermindern. Zum anderen darf die Finanzierung sozialer Aktivitäten mit Hilfe einer Abgabe auf die Einnahmen aus genehmigten Spielen nur eine nützliche Nebenfolge, nicht aber der eigentliche Grund der betriebenen restriktiven Politik sein.721 Die somit bestehende Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des deutschen Sportwettenmonopols schlägt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch auf die Strafnorm selbst durch: Die genannten Grundfreiheiten stehen auch der strafrechtlichen Sanktionierung gewerblicher Sportwettenanbieter und -vermittler entgegen, wenn sich die Betroffenen die – nach nationalem Recht erforderliche – Genehmigung nicht beschaffen konnten, weil der Mitgliedstaat es unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht abgelehnt hat, sie zu erteilen.722 Dementsprechend gingen die deutschen Strafgerichte davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht der Strafbarkeit entgegensteht.723 Auf diese beiden Aspekte wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, da sie für die hier untersuchte Frage nicht von Belang sind.724 719 EuGH NJW 2007, 1515, „Placanica“; NJW 2004, 139, „Gambelli“; EuZW 2000, 151, „Zenatti“. Vgl. auch – zur Rechtslage nach dem Glücksspielstaatsvertrag vom 30.01.2007 – EuGH NVwZ 2010, 1409. 720 Vgl. dazu BVerfGE 115, 276 (316 f.), zu der Sportwettenentscheidung im Einzelnen oben C.I.2. (S. 188). 721 EuGH NJW 2004, 139 (140) Rd. 62, „Gambelli“; EuZW 2000, 151 (153) Rd. 36, „Zenatti“; zusammenfassend BVerfGE 115, 276 (316 f.). 722 EuGH NJW 2007, 1515 (1518) Rd. 71, „Placanica“. 723 KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 16; OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 10 ff.; NStZ-RR 2008, 372 (373); OLG Bamberg, Urteil v. 29. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 23 ff.; OLG München NJW 2008, 3151 (3155 f.); OLG Hamburg, Beschluss v. 15.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 32 ff.; LG Frankfurt am Main, Beschluss v. 15.11.2007, 5/30 KLs 3650 Js 236524/06 (11/07), Rn. 20 ff., die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen zitiert nach juris. 724 Die Bejahung eines Verbotsirrtums wegen einer unklaren Rechtslage bzw. die darauf gestützte Einstellung aus Opportunitätsgründen ist eine Umschreibung der im Rahmen dieser Arbeit untersuchten rechtlichen Problematik – der strafrechtlichen Wirksamkeit von Weitergeltungsanordnungen – nicht deren Lösung.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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cc) Abgrenzung II: Problematik der Altfälle Die zu der Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung ergangenen Entscheidungen sind von den hinsichtlich der sog. Altfälle ergangenen Entscheidungen abzugrenzen. Um die Problematik der Altfälle verständlich zu machen, sei zunächst erneut auf einige Besonderheiten der Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts725 hingewiesen. Dieses hat zwar bezüglich des mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbaren Staatlotteriegesetzes Bayerns eine Weitergeltungsanordnung ausgesprochen, diese jedoch eingeschränkt: Die Anordnung sollte nur „nach Maßgabe der Gründe“ gelten.726 Die bisherige Rechtslage sollte – so die entsprechende Passage der Gründe – nur anwendbar bleiben, sofern der Freistaat Bayern unverzüglich ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft einerseits und der tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits herstellt (sog. „Maßgabevorbehalt“).727 Die Weitergeltungsanordnung sollte also nur insoweit gelten, als – infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – die Ziele des Monopols mit dessen tatsächlicher Ausgestaltung zumindest in eingeschränktem Maße in Einklang gebracht wurden. Aus dieser Anordnung lassen sich Schlüsse für die sog. Altfälle ziehen: Damit sind die Taten gemeint, die in der Zeit vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht begangen wurden. Zum Zeitpunkt dieser Taten war es logischerweise ausgeschlossen, dass ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und der tatsächlichen Ausübung des Monopols hergestellt war – dies konnte erst in Reaktion auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschehen. Deswegen ging die Weitergeltungsanordnung bezogen auf die Altfälle ins Leere. Das OLG München,728 der Bundesgerichtshof729 und ihm folgend das Bundesverfassungsgericht730 schlossen die Strafbarkeit in diesen Fällen konsequenterweise aus. Dieses Ergebnis hat jedoch insoweit731 keine Konsequenzen für die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung.

725

Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.2. (S. 188). BVerfGE 115, 276 (277), dazu oben S. 188. 727 BVerfGE 115, 276 (319), dazu oben S. 192. 728 OLG München NJW 2006, 3588 (3592). 729 Vgl. BGH NJW 2007, 3078 (3080 f.), dazu noch unten C.II.2.d)cc)(1) (S. 310). 730 BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss v. 29.06.2009, 2 BvR 174/05, Rn. 35 m.w. N.; Stattgebender Kammerbeschluss v. 15.04.2009, 2 BvR 1496/05, Rn. 30 ff. m.w. N.; vgl. auch NVwZ 2008, 301 (303), die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Beschlüsse zitiert nach juris. 731 Der BGH hat sich in seiner Entscheidung allerdings zu der generellen Frage der Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit des Sportwettenrechts auf den Tatbestand des § 284 StGB geäußert, dazu noch unten C.II.2.d)cc)(1) (S. 310). 726

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

b) Die Rechtsprechung Da somit die hier maßgebliche Rechtsfrage – die strafrechtliche Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung – von anderen abgegrenzt wurde, wird nun die hierzu ergangene Rechtsprechung732 vorgestellt. aa) OLG Hamburg Die erste veröffentlichte Entscheidung eines Strafgerichts zu der Frage der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung ist der Beschluss des OLG Hamburg vom 5. Juli 2007,733 der den vorangehenden – die Frage der Strafbarkeit verneinenden – Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 9. März 2007 bestätigte.734 Zwar ist die Frage auch in vorherigen Entscheidungen angesprochen, dabei aber nicht entschieden worden.735 (1) Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot Das OLG Hamburg untersucht zunächst, ob § 284 StGB verbunden mit den weitergeltenden Normen gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Das Bestimmtheitsgebot verpflichte den Gesetzgeber, die Voraussetzungen für die Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände bereits aus dem Gesetz selbst zu erkennen seien und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren ließen. So solle die Vorhersehbarkeit gewährleistet werden, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht sei.736 Diese Grundsätze sieht das Gericht nicht verletzt: Die Norm sei nicht unbestimmt und sei dies auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht geworden. Der Normadressat wisse, was strafrechtlich verboten sei und welche Strafe ihm für den Fall eines Verstoßes gegen das Verbot drohe. Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren werde bestraft, wer ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstalte oder halte oder die Einrichtungen hierzu

732 Wie bereits im Rahmen des § 370 AO werden sämtliche veröffentlichten Entscheidungen von Strafgerichten dargestellt. 733 1 Ws 61/07, hier und im Folgenden zitiert nach juris. 734 Unveröffentlicht, vgl. OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 2. 735 Das OLG Stuttgart NJW 2006, 2422 (2423) hat die Frage offengelassen, weil es einen Verbotsirrtum angenommen hat und somit ohnehin die Strafbarkeit verneinen konnte. Das LG Frankfurt am Main NStZ-RR 2007, 201 (203) hatte über die Rechtmäßigkeit einer Durchsuchung zu befinden, die es ebenfalls verneinen konnte, ohne die Frage zu entscheiden. 736 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 25.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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bereitstelle. Der Veranstalter brauche somit eine behördliche Erlaubnis. Habe er eine solche nicht, erfülle er den Straftatbestand.737 Dieser enthalte nicht einmal unbestimmte Rechtsbegriffe. Es handele sich auch nicht um einen Blanketttatbestand. Auf Grund des negativen Tatbestandsmerkmales „ohne behördliche Erlaubnis“ bestehe zwar eine Akzessorietät zum Verwaltungsrecht. Dieses Übertragen der Ausfüllung des Straftatbestands auf die Exekutive führe jedoch – wie bei anderen Tatbeständen auch738 – nicht zur Unbestimmtheit.739 An dieser Einschätzung ändere sich nichts dadurch, dass es auf Grund des fortgeltenden Monopols zum Zeitpunkt des Urteils ausgeschlossen war, eine Erlaubnis zu erlangen. Ob die Versagung einer Erlaubnis verfassungswidrig sei, sei lediglich für die Frage relevant, ob ein Anspruch auf Erteilung einer tatbestandsausschließenden ordnungsrechtlichen Erlaubnis bestehe. Eine eindeutige Strafvorschrift werde dadurch jedoch nicht unbestimmt.740 (2) Strafbarkeit rechtsstaatswidrig Das OLG Hamburg ist trotzdem der Überzeugung, dass eine strafrechtliche Sanktion gegen das Verfassungsrecht verstößt. Es trifft allerdings keine Aussage dazu, auf welcher dogmatischen Ebene seine Bedenken angesiedelt sind. Eine Bestrafung sei rechtsstaatswidrig, da die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die strafrechtliche Sanktion entfallen seien. Es würde nämlich ein bloßer Verwaltungsungehorsam bestraft, obwohl die verwaltungsrechtliche Rechtsgrundlage – das Staatlotteriegesetz bzw. der Staatsvertrag zum Lotteriewesen – und die tatsächliche Ausgestaltung des staatlichen Wettmonopols vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt worden seien.741 (3) Weitergeltungsanordnung strafrechtlich ohne Bedeutung Die durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochene Weitergeltungsanordnung bleibt nach Ansicht des OLG Hamburg strafrechtlich ohne Auswirkungen. Diese Weitergeltungsanordnung gelte ausdrücklich – hier bezieht sich das Gericht wohl auf die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, über die Strafbarkeit hätten die Strafgerichte zu entscheiden742 – nur für das Ordnungsrecht. Es

737 738 739 740 741 742

Ebenda. Das Gericht nennt die Beispiele der §§ 21 StVG und 327 StGB. OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 25. OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 26. OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 27. BVerfGE 115, 276 (319), dazu oben S. 192.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

stellt auf Telos und Rechtfertigung einer Weitergeltungsanordnung ab: Im Hinblick auf den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum sei für eine Übergangszeit eine an sich verfassungswidrige Rechtslage hinzunehmen.743 Gerechtfertigt werde sie dadurch, den Übergang von einer verfassungswidrigen zu einer verfassungsgemäßen Rechtslage zu sichern. Vor diesem Hintergrund sei es sachgerecht, während der Übergangszeit die Veranstaltung und Vermittlung von privaten Sportwetten ordnungsrechtlich und wettbewerbsrechtlich zu untersagen.744 Dieses legitime gesellschaftspolitische Ziel könne eine strafrechtliche Sanktion hingegen nicht rechtfertigen. Für den grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts bleibe im Vordergrund, dass die Gesetzeslage vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sei. Die von der Entscheidung betroffene Rechtslage sei während der Übergangszeit nicht als verfassungsgemäß anzusehen. Sie bleibe vielmehr verfassungswidrig.745 Das Gericht lässt diese Erkenntnis in eine absolute Aussage münden: „Ein Verstoß gegen eine verfassungswidrige, aber übergangsweise hinzunehmende Freiheitsbeschränkung kann nicht als kriminelles Unrecht geahndet werden. Eine solche Fortgeltungsanordnung stellt für das Strafrecht keine tragfähige Grundlage dar.“ 746

(4) Verstoß gegen das Willkürverbot Eine Bestrafung nach § 284 StGB sei ferner deswegen ausgeschlossen, weil der Staat gegen das Willkürverbot verstoßen würde, wenn er die Erteilung einer Erlaubnis unter Berufung auf ein mit der Verfassung unvereinbares Gesetz versage und gleichzeitig denjenigen bestrafe, der ohne diese Erlaubnis einen grundrechtlich geschützten Beruf ausübe. Das Strafrecht könne – auch aus diesem Blickwinkel – nicht zur Durchsetzung eines staatlichen Wettmonopols herangezogen werden, das gegen Verfassungsrecht verstoße.747 bb) LG Frankfurt Das LG Frankfurt hat sich in seinem Beschluss vom 15. November 2007 vollumfänglich der Auffassung des OLG Hamburg angeschlossen, ohne neue Argumente für und wider die Strafbarkeit vorzutragen.748 Allerdings verortet das Gericht die Problematik – anders als das OLG Hamburg, das sich hierzu gar nicht 743

OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 28. OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 29. 745 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 29. Diese Aussage ist zutreffend, dazu ausführlich oben B.III.5. (S. 137). 746 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 28. 747 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 31. 748 5/30 KLs 3650 Js 236524/06 (11/07), Rn. 6 ff., zitiert nach juris. 744

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äußerte – auf Tatbestandsebene; das vorgeworfene Verhalten erfülle nicht den Tatbestand des § 284 StGB.749 cc) OLG München Demgegenüber liefert das OLG München in seinem Urteil vom 17. Juni 2008750 bei gleichem Ergebnis eine andere dogmatische Begründung. Dies liegt wohl hauptsächlich daran, dass das Gericht den Widerspruch erkannt hat, der zwischen der Begründung des OLG Hamburg und der herrschenden Rechtsprechung zu § 370 AO bestand: Die herrschende Rechtsprechung zu § 370 AO geht davon aus, dass die Weitergeltungsanordnung sehr wohl Grundlage der Strafbarkeit sein kann.751 Dem widerspricht die Begründung des OLG Hamburg, das die Straflosigkeit vor allem damit begründet hatte, dass die Weitergeltungsanordnung für das Strafrecht keine tragfähige Grundlage darstellt752 und eine Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts rechtsstaatswidrig ist753. Das OLG München versucht diesen Widerspruch aufzulösen, indem es auf die Besonderheiten der Weitergeltungsanordnung der Sportwettenentscheidung und die Differenzierung zur Rechtslage bei § 370 AO eingeht. Auch das OLG München hegt verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB. Diese wurzeln nach Ansicht des Gerichts allerdings im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bzw. dem Übermaßverbot.754 Teil des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei die Zumutbarkeit der staatlichen Verhaltensanforderungen [sogleich (1)]. Das Gericht untersucht dementsprechend, ob die aus der Sportwettenentscheidung folgenden Verhaltensanforderungen in einem strafrechtlichen Sinne zumutbar sind [im Anschluss (2)]. (1) Ausschluss der strafrechtlichen Schuld durch Unzumutbarkeit Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit differenziert das Gericht zwischen ordnungsrechtlichem und strafrechtlichem Vorgehen: Bei unzumutbaren staatlichen Verhaltensanforderungen könne die ordnungsrechtliche Durchsetzung einer Verwaltungsrechtslage grundrechtlich hinnehmbar sein. Diese unzumutbaren Verhaltensanforderungen böten jedoch keine tragfähige Grundlage für eine strafrechtliche Verurteilung des Betroffenen. Bei einer vom Staat zu verantwortenden

749 LG Frankfurt am Main, Beschluss v. 15.11.2007, 5/30 KLs 3650 Js 236524/06 (11/07), Rn. 6, zitiert nach juris. 750 NJW 2008, 3151. 751 Dazu oben C.II.1 (S. 201). 752 Dazu oben C.II.2.b)aa)(3) (S. 277). 753 Dazu oben C.II.2.b)aa)(2) (S. 277). 754 OLG München NJW 2008, 3151 (3152).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Rechtslage, die zu unzumutbaren Verhaltensanforderungen führe, scheide die strafrechtliche Schuld wegen Unzumutbarkeit aus. Dieser allgemeine Zumutbarkeitsgedanke stelle als Teil des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – der im Rechtsstaatsprinzip wurzele755 – eine Schranke für alle belastenden staatlichen Maßnahmen dar.756 Das Gericht verortet die Problematik somit – anders als zuvor das LG Frankfurt – auf Schuldebene. (2) Information über Konsistenz subjektiv unzumutbar Wie einleitend erwähnt spielt der Maßgabevorbehalt der Sportwettenentscheidung in der Begründung des OLG München zwecks Abgrenzung zur Rechtslage bei der Steuerhinterziehung eine große Rolle.757 Das Bundesverfassungsgericht hatte angeordnet, dass die Weitergeltungsanordnung nur nach Maßgabe der Gründe gelten sollte. In den Gründen führte es wiederum aus, dass die Vorschriften nur dann anwendbar sind, wenn ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und Bekämpfung der Wettsucht einerseits und der tatsächlichen Ausgestaltung des Monopols andererseits hergestellt wird.758 Die Herstellung der Konsistenz sei zum einen Voraussetzung für die Einschränkung des Art. 12 Abs. 1 GG. Zum anderen müssten die Betroffenen nur in diesem Falle das Risiko tragen, dass das strafrechtliche Verbot des § 284 StGB greife, das zu weiteren Grundrechtseinschränkungen – etwa des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG – führe.759 Es läge also an den vom Monopol ausgeschlossenen – den gewerblichen Sportwettenanbietern und -vermittlern – zu prüfen, ob die geforderte Konsistenz hergestellt worden sei. Dies sei allerdings noch nicht alles: Gegebenenfalls sei auch der Zeitpunkt und der Umstand zu prüfen, in welchen Städten und Gemeinden und in welchem Umfang dies der Fall sei.760 Diese Prüfung sieht das Gericht allerdings mit vielen Unwägbarkeiten belastet: So habe das Bundesverfassungsgericht keinen klaren Maßgabenkatalog definiert, der das Erreichen der Konsistenz erkennbar machen würde. Auch der Begriff des „Mindestmaßes der Konsistenz“ sei nicht näher ausgeführt worden, ebenso wenig der Zeitpunkt, an dem dieser Zustand tatsächlich erreicht sei.761 Der staatlichen Wettverwaltung sei somit ein erheblicher Handlungs- und Ermessenspielraum bei der Herstellung der Konsistenz eingeräumt. Ob dieser ein755 756 757 758 759 760 761

OLG München NJW 2008, 3151 (3154). OLG München NJW 2008, 3151 (3153). OLG München NJW 2008, 3151 (3152). BVerfGE 115, 276 (277, 319), dazu oben S. 188, S. 192. OLG München NJW 2008, 3151 (3152 f.). OLG München NJW 2008, 3151 (3152). OLG München NJW 2008, 3151 (3153).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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gehalten sei, könnten letztlich nur die Verwaltungsgerichte klären. Die entsprechenden Verwaltungsstreitigkeiten würden den daran Interessierten aber möglicherweise unbekannt bleiben. Im Vorfeld dieser verwaltungsgerichtlichen Feststellungen könne die betroffene Personengruppe vieles nicht feststellen: Die Existenz der Anordnungen, welche die Konsistenz herstellen sollen, deren Inhalt und – noch weniger – deren tatsächliche Verwirklichung. Auch würden die Betroffenen nicht erfahren, ob die Werbung entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eingeschränkt worden sei, und ob hinreichend vor den Gefahren des Wettens gewarnt würde. Schon wegen der großen Anzahl der staatlichen Wettannahmestellen in einem Flächenstaat seien solche Feststellungen dem einzelnen Rechtsunterworfenen wenn nicht objektiv unmöglich, so doch jedenfalls subjektiv unzumutbar.762 Nach Auffassung des Gerichts ist wegen dieser Unzumutbarkeit die strafrechtliche Schuld ausgeschlossen. (3) Prozessuale Rechtslage: Bestrafungsverbot Diese materiell-rechtlichen Erwägungen finden nach Ansicht des Gerichts ihre Entsprechung in der strafprozessualen Rechtslage. Es leitet direkt aus der Verfassung ein prozessuales Bestrafungsverbot her.763 Ein solches hindere zwar nicht die Durchführung des Verfahrens, stehe jedoch der Bestrafung des Angeklagten entgegen.764 Auch das Bestrafungsverbot finde seine Grundlage im verfassungsrechtlichen Übermaßverbot.765

762

OLG München NJW 2008, 3151 (3153). OLG München NJW 2008, 3151 (3153 f.). 764 OLG München NJW 2008, 3151 (3153); vgl. ebenfalls Meyer-Goßner, in: ders., StPO, Einl. Rn. 143. 765 OLG München NJW 2008, 3151 (3153 f.). Die zur Herleitung eines Bestrafungsverbots aus der Verfassung selbst erforderliche Sondersituation sieht das Gericht als gegeben an. Begründet wird dies einerseits damit, dass das Bundesverfassungsgericht die Frage der Strafbarkeit ausdrücklich den Strafgerichten überlassen habe. Andererseits habe die Weitergeltungsanordnung das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nicht beseitigt, sondern sei lediglich ein Behelf dazu gewesen, kein ordnungsrechtliches Vakuum im hochsensiblen Bereich gewerblicher Sportwetten entstehen zu lassen. Der Freiheitsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG sei auch in der Übergangszeit verfassungswidrig beschränkt. Dies sei ordnungsrechtlich zwar hinzunehmen. Darüber hinausgehende Einschränkungen der Freiheitssphäre aber liefen dem – im Rechtsstaatsprinzip verankerten – Übermaßverbot zuwider und seien dem Einzelnen verfassungsrechtlich nicht zuzumuten. Das Bestrafungsverbot sieht das Gericht als geeignetes dogmatisches Vehikel an, die komplizierte Rechtslage abzubilden: Es richte sich allein an die Strafverfolgungsbehörden und lasse die ordnungsrechtliche Eingriffsmöglichkeit einer Untersagungsverfügung sowie die des Wettbewerbs- und Kartellrechts unberührt. Der sachlich-rechtliche Bestand des § 284 StGB bleibe nämlich bestehen. 763

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(4) Abgrenzung zur Rechtslage bei § 370 AO Das OLG München sieht den drohenden Widerspruch zur herrschenden Rechtsprechung zu § 370 AO. Deswegen versucht es, den vorliegenden Fall von der durch den Bundesgerichtshof entschiedenen Frage der Vermögensteuerhinterziehung766 abzugrenzen: Im Falle des § 284 StGB müsse der Saat, der eine verfassungswidrige Rechtslage schaffe und aufrechterhalte, hinnehmen, dass sein in der Übergangszeit weiter ausgeübtes monopolistisches Verhalten auf dem Gebiet der Sportwetten mangels Strafbarkeit des verwaltungsrechtswidrigen Verhaltens weniger effektiv geschützt wird.767 Diese Aussage schafft allerdings noch keinerlei Differenzierung zu § 370 AO. Zur Unterscheidung verweist das Gericht einerseits auf ein früheres Urteil, andererseits grenzt es unter dem Stichpunkt der höhergewichtigen Interessen ab. Der Verweis768 bezieht sich auf das Urteil des OLG München vom 29. Juni 2006,769 in dem es um die Strafbarkeit der Altfälle ging. Dort hatte das Gericht ausgeführt, dass die vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochene, gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG mit Gesetzeskraft ausgestattete Weitergeltungsanordnung der Straflosigkeit bei § 284 StGB – im Unterschied zur Rechtslage bei § 370 AO – nicht entgegensteht. Zur Begründung hatte das Gericht darauf verwiesen, dass die Weitergeltungsanordnung in der Sportwettenentscheidung eingeschränkt gewesen sei. Das OLG München verweist insoweit auf den Maßgabevorbehalt der Weitergeltungsanordnung. Das Bundesverfassungsgericht habe in den Gründen explizit nur angeordnet, dass das Verbot ordnungsrechtlich durchgesetzt werden dürfe und dabei die Frage, ob die verfassungswidrigen Gesetze weiterhin geeignet seien, die Blankettvorschrift des verwaltungsakzessorisch ausgestalteten § 284 StGB auszufüllen, ausdrücklich den Strafgerichten überlassen. Die Weitergeltungsanordnung zu § 370 AO sei dagegen ohne Einschränkung angeordnet worden. Das Bundesverfassungsgericht habe sich zu der Frage der Strafbarkeit gar nicht geäußert.770 Deswegen könne bei der Sportwettenentscheidung nicht davon ausgegangen werden, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG von der gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG mit Gesetzeskraft ausgestatteten Weitergeltungsanordnung als neuerer und speziellerer Vorschrift gleichen Ranges verdrängt wird771.772

766

BGHSt 47, 138, zu dieser Entscheidung oben C.II.1.b)gg) (S. 226). OLG München NJW 2008, 3151 (3154). 768 OLG München NJW 2008, 3151 (3154). 769 OLG München NJW 2006, 3588. 770 OLG München NJW 2006, 3588 (3592), zur entsprechenden Passage der Sportwettenentscheidung oben S. 192. 771 Zum Kollisionsargument des BGH oben C.II.1.b)gg)(6) (S. 228). 772 OLG München NJW 2006, 3588 (3592). 767

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Neben diesem Verweis entwickelt das Gericht einen neuen Begründungsansatz. Im Falle der verfassungswidrigen Vermögensteuer hätten höhergewichtige Interessen der Allgemeinheit – der Grundsatz der Steuergleichheit und damit die Steuergerechtigkeit – die weitere strafrechtliche Sanktionierung der Hinterziehung erzwungen773.774 Im Falle des § 284 StGB würden höhergewichtige Interessen der Allgemeinheit – namentlich die der Rechtssicherheit und -klarheit – aber gerade gegen die Strafbarkeit sprechen: Die vom OLG München entwickelte Lösung führt nach Ansicht des Gerichts nämlich Rechtssicherheit und -klarheit herbei. Die Strafgerichte hätten sich infolge des Bestrafungsverbots nicht mehr mit Zuwiderhandlungen gegen § 284 StGB zu befassen. Deswegen komme es für die Frage der Strafbarkeit nicht mehr auf die – mit den oben beschriebenen Unwägbarkeiten behaftete775 – Frage an, ob die Verwaltungsbehörden hinreichende Maßnahmen ergriffen haben, um die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Konsistenz herzustellen.776 dd) OLG Bamberg Auch das OLG Bamberg hat in seinem Urteil vom 29. Juli 2008777 die Auffassung vertreten, dass das Verhalten in der Übergangszeit straflos ist. Dabei hat es sowohl die Entscheidung des OLG Hamburg als auch die des OLG München aufgegriffen. Das Gericht verortet die Problematik – wie das LG Frankfurt, anders als das OLG München – auf Tatbestandsebene: Das Verhalten erfülle nicht die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 284 StGB.778 Das Gericht teilt die Auffassung des OLG Hamburg779, dass § 284 StGB nicht gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt.780 Auch verstoße § 284 StGB selbst nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG und sei daher verfassungsgemäß. Das verwaltungsrechtliche Regelungsdefizit sei nicht in § 284 StGB, sondern im Staatslotteriegesetz Bayerns zu verorten.781 In weiten Teilen übernimmt es die Argumentation des OLG Hamburg nahezu wortlautgleich: Das Gericht ist ebenso wie das OLG Hamburg der Auffassung, 773 Zu dieser Argumentation des BGH zur Begründung der Strafbarkeit gemäß § 370 AO oben C.II.1.b)gg)(3) (S. 227). 774 OLG München NJW 2008, 3151 (3154). 775 Dazu soeben C.II.2.b)cc)(2) (S. 280). 776 OLG München NJW 2008, 3151 (3155). 777 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, hier und im Folgenden zitiert nach juris. 778 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 10. 779 Dazu oben C.II.2.b)aa)(1) (S. 276). 780 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 13. 781 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 14.

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dass eine Strafbarkeit in der Übergangszeit rechtsstaatswidrig782 und willkürlich783 ist.784 An der erforderlichen verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage habe es gefehlt; dies habe das Bundesverfassungsgericht in der Sportwettenentscheidung festgestellt.785 Bezüglich der expliziten Abgrenzung zur Rechtslage bei der Vermögensteuerhinterziehung greift das Gericht die Argumentation des OLG München auf:786 Die Weitergeltung des Vermögensteuergesetzes sei ausdrücklich unbegrenzt angeordnet worden und deshalb mit der – wegen der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, über die Frage der Strafbarkeit hätten die Strafgerichte zu entscheiden787 – nur eingeschränkten, ordnungsrechtlichen Weitergeltungsanordnung der Sportwettenentscheidung nicht zu vergleichen.788 Deswegen wandelt es auch die absolute Aussage des OLG Hamburg, eine Weitergeltungsanordnung stelle für das Strafrecht keine tragfähige Grundlage dar,789 ab: Lediglich eine beschränkte Weitergeltungsanordnung stelle für das Strafrecht keine tragfähige Grundlage dar.790 Dies ergänzt es mit – wiederum mit dem OLG Hamburg nahezu wortlautgleichen791 – Ausführungen zu Telos und Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung.792 ee) OLG Frankfurt am Main Auch das OLG Frankfurt hat sich in seinen wortlautgleichen Beschlüssen vom 23.793 und 30. September 2008794 der Meinung der anderen Oberlandesgerichte angeschlossen, dass § 284 StGB auf Taten in der Übergangszeit nicht angewendet werden darf. Dabei ist es – wie zuvor bereits das LG Frankfurt und das OLG Bamberg – zu der Auffassung gelangt, dass der objektive Tatbestand in der Übergangszeit nicht erfüllt werden könne.795 782 Zur diesbezüglichen Argumentation des OLG Hamburg ausführlich oben C.II.2. b)aa)(2) (S. 277). 783 Zur diesbezüglichen Argumentation des OLG Hamburg ausführlich oben C.II.2. b)aa)(4) (S. 278). 784 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 16. 785 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 17 f. 786 Dazu soeben C.II.2.b)cc)(4) (S. 282). 787 BVerfGE 115, 276 (319), dazu oben S. 192. 788 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 20. 789 Dazu oben S. 278. 790 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 21. 791 Zur diesbezüglichen Argumentation des OLG Hamburg ausführlich oben C.II. 2.b)aa)(3) (S. 277). 792 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 19, 21. 793 NStZ-RR 2008, 372. 794 Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, hier und im Folgenden zitiert nach juris. 795 OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 4; NStZ-RR 2008, 372.

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Zur Begründung lehnt es sich an das OLG München an; auch das OLG Frankfurt am Main ist der Auffassung, eine Bestrafung würde gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bzw. das Übermaßverbot verstoßen.796 Allerdings begründet es den Verstoß gegen das Übermaßverbot mit einer Verletzung des Bestimmtheitsgebots797 – und stellt sich damit gegen die Ansicht des OLG Hamburg798 und des OLG Bamberg799. Dabei weist auch das OLG Frankfurt darauf hin, dass die Weitergeltungsanordnung nur insoweit gelten sollte, als ein Mindestmaß an Konsistenz800 hergestellt wurde und dass die Frage der Strafbarkeit ausdrücklich der Entscheidung der Strafgerichte überlassen worden war801.802 Die Strafbarkeit würde demnach – sollte man sie nicht bereits grundsätzlich ausschließen – von der Frage abhängen, ob die staatliche Lotterieverwaltung eine hinreichende Konsistenz hergestellt hat. Diese Frage sei jedoch selbst im Strafverfahren mit den zur Verfügung stehenden prozessualen Beweismitteln kaum hinreichend klar zu beantworten, zumal das Bundesverfassungsgericht keinen klaren Maßnahmenkatalog hierfür genannt habe. Somit sei unklar, unter welchen genauen Voraussetzungen das geforderte Mindestmaß an Konsistenz hergestellt sei. Umso weniger sei die Frage für den einzelnen Normadressaten zu verstehen, der sich Gewissheit darüber verschaffen wolle, ob sein Verhalten strafbar sei oder nicht.803 Die Strafbarkeit hinge somit von dem völlig unbestimmten, erst durch die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschaffenen Rechtsbegriff des „Mindestmaßes an Konsistenz“ ab. Die strafbarkeitsbegründenden Tatbestandsmerkmale müssten aber vor Tatbegehung gesetzlich bestimmt sein (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB).804 An dieser Unbestimmtheit hätten auch die Rechtspraxis und die hierzu ergangenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte nichts geändert. Die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte seien nämlich zur Frage der ordnungsrechtlichen Unterbindung ergangen und seien nicht auf die – vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich den Strafgerichten überlassene – Frage der Strafbarkeit übertragbar.805 796 OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 9; NStZ-RR 2008, 372 (373). 797 Ebenda. 798 Dazu oben C.II.2.b)aa)(1) (S. 276). 799 Dazu soeben C.II.2.b)dd) (S. 283). 800 Dazu oben S. 192. 801 BVerfGE 115, 276 (319), dazu oben S. 192. 802 OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 9; NStZ-RR 2008, 372 (373). 803 Ebenda. 804 Ebenda. 805 Ebenda.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

ff) KG Berlin Die jüngste veröffentlichte Entscheidung ist das Urteil des KG Berlin vom 23. Juli 2009.806 Das KG Berlin setzt sich mit der gesamten oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung auseinander und bestätigt dabei das Ergebnis der Straflosigkeit in der Übergangszeit. Zur Begründung bedient es sich unterschiedlicher Ansätze der soeben besprochenen Entscheidungen. (1) Strafrechtliche Wirkungslosigkeit der Weitergeltungsanordnung Das Gericht führt zunächst aus, dass die Verwaltungsakzessorietät des § 284 StGB für die Strafbewehrung eine tragfähige gesetzliche Grundlage verlange. Die Verfassungswidrigkeit des bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Lotteriestaatsvertrages stehe insoweit einer Bestrafung entgegen.807 Dies gelte auch trotz der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts. Denn die Weitergeltungsanordnung sei ausdrücklich auf das Ordnungsrecht begrenzt gewesen. Darüber hinaus führt es – wie bereits das OLG Hamburg808 und das OLG Bamberg809 – Telos und Rechtfertigung der Weitergeltungsanordnung an.810 Diese würden zwar das ordnungsrechtliche und wettbewerbsrechtliche Verbot rechtfertigen. Für dieses Erfordernis der Fortgeltung gebe es jedoch keine Entsprechung im grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts; dort bleibe vielmehr die Verfassungswidrigkeit maßgeblich.811 (2) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot) Das Gericht sieht in der Strafbarkeit auf Grundlage der beschränkten Weitergeltungsanordnung einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Form des Übermaßverbotes. Denn die Überprüfung, ob das vom Bundesverfassungsgericht geforderte „Mindestmaß an Konsistenz“ gegeben sei, sei dem Normadressaten – wenn nicht objektiv unmöglich – so doch subjektiv unzumutbar.812 Damit schließt es sich der Auffassung des OLG München813 an. Es teilt darüber hinaus die Auffassung des OLG Frankfurt814, dass eine hinreichende 806

Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), hier und im Folgenden zitiert nach

juris. 807 808 809 810 811 812 813 814

KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 11. Dazu oben C.II.2.b)aa)(3) (S. 277). Dazu oben C.II.2.b)dd) (S. 283). Vgl. zu dieser Argumentation oben C.II.2.b)aa)(3) (S. 277). KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 12. KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 14. Dazu oben C.II.2.b)cc)(2) (S. 280). Dazu oben C.II.2.b)ee) (S. 284).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Konturierung auch nicht durch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hergestellt worden ist: Diese betreffe allein ordnungsrechtliche Aspekte und sei nicht auf die Frage der Strafbarkeit übertragbar.815 (3) Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) Das Gericht sieht ferner – auch hier gleich dem OLG Frankfurt816 – einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG als gegeben an, begründet diesen jedoch anders: Die zur Strafbarkeit führenden Tatbestandselemente müssten bereits vor der Tatbegehung gesetzlich bestimmt sein. Der Gesetzgeber dürfe dabei die Bestimmung der Voraussetzungen der Strafbarkeit nicht den Organen der vollziehenden Gewalt überlassen. Zwar könne die Exekutive auf die Strafbarkeit Einfluss nehmen, etwa durch den Erlass von Verwaltungsakten. Diese würden jedoch ihrerseits eine gesetzliche Grundlage haben und seien daher im Grundsatz rechtlich vorhersehbar. Von einer Vorhersehbarkeit sei aber nicht auszugehen, wenn die Anwendung des verwaltungsakzessorischen Straftatbestands allein vom tatsächlichen Verhalten Dritter abhänge. Genau das sei aber bei Sportwetten der Fall: Hier hänge die Frage der Konsistenz unter anderem davon ab, ob und gegebenenfalls wie der staatliche Wettanbieter Werbung betreibe.817 (4) Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot Wie zuvor das OLG Hamburg818 und das OLG Bamberg819 sieht das Gericht einen Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot. Den Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip leitet das Gericht aus der Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Bestrafung bloßen Verwaltungsungehorsams ab. Der Verstoß gegen das Willkürverbot wird ebenso begründet wie in den oben genannten Entscheidungen.820 (5) Abgrenzung zur Rechtslage bei § 370 AO Auch das KG Berlin geht auf den drohenden Widerspruch zur herrschenden Meinung bei § 370 AO ein. Dabei grenzt es ähnlich dem OLG München821 und 815 816 817 818 819 820 821

KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 14. Dazu oben C.II.2.b)ee) (S. 284). KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 15. Dazu oben C.II.2.b)aa)(2) (S. 277), C.II.2.b)aa)(4) (S. 278). Dazu oben C.II.2.b)dd) (S. 283). Vgl. KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 8. Dazu oben C.II.2.b)cc)(4) (S. 282).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

dem OLG Bamberg822 ab: Zum einen sei in der Vermögensteuerentscheidung eine umfassende, nicht auf das Ordnungsrecht beschränkte Weitergeltungsanordnung ausgesprochen worden, die ersichtlich auch das Strafrecht umfassen solle. Zum anderen hätten dort für die Strafbarkeit die Erfordernisse einer ordnungsgemäßen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs gesprochen.823 gg) Zwischenergebnis: Die herrschende Rechtsprechung und ihre Kernargumente Es ist somit einhellige Ansicht in der landes- und oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung, dass eine Strafbarkeit gemäß § 284 StGB in der Übergangszeit ausscheidet. Bei dieser Einhelligkeit im Ergebnis gibt es allerdings Unterschiede in der Begründung: Unterschiedlich sind die Aussagen der Gerichte zu der strafrechtlichen Tragfähigkeit einer Weitergeltungsanordnung. Die Begründungen wurden dabei immer konkreter auf die Sportwettenentscheidung zugeschnitten: Das OLG Hamburg war noch der Auffassung, dass eine Weitergeltungsanordnung generell ungeeignet ist, die Grundlage einer Strafbarkeit zu bilden.824 Ab der Entscheidung des OLG München haben die Gerichte den drohenden Widerspruch zur herrschenden Rechtsprechung zu § 370 AO erkannt und ihre Begründung konkret auf die besondere, weil „eingeschränkte“ Weitergeltungsanordnung der Sportwettenentscheidung zugeschnitten. Die Weitergeltungsanordnung ist nach dieser Auffassung deshalb eingeschränkt, weil sie nur nach Maßgabe der Gründe gelten sollte. In den Gründen der Entscheidung wurde lediglich die ordnungsrechtliche Wirksamkeit des Landesrechts angeordnet, die Frage der Strafbarkeit jedoch ausdrücklich der Entscheidung der Strafgerichte überlassen. Das rechtfertigt nach Meinung der Gerichte die – im Gegensatz zu der uneingeschränkten Weitergeltungsanordnung der Vermögensteuerentscheidung – unterschiedliche Beantwortung der Frage der Strafbarkeit in der Übergangszeit.825 Zusammenfassend lautet darüber hinaus die Ansicht der Rechtsprechung: • Telos der Weitergeltungsanordnung der Sportwettenentscheidung ist es, den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum zu wahren. Deswegen wird für eine

822

Dazu oben C.II.2.b)dd) (S. 283). KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 13. 824 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 28 f., zitiert nach juris. 825 Diesen Begründungsansatz verwenden: OLG München NJW 2008, 3151 (3154); OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 19 ff.; ähnlich KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 13; vgl. auch OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 9; NStZ-RR 2008, 372. Die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen zitiert nach juris. 823

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Übergangszeit eine an sich verfassungswidrige Rechtslage hingenommen. Gerechtfertigt wird dies dadurch, den Übergang von einer verfassungswidrigen zu einer verfassungsgemäßen Rechtslage zu sichern. Dadurch wird im Falle der Sportwetten nur das ordnungsrechtliche Verbot gerechtfertigt; im grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts bleibt die Verfassungswidrigkeit maßgeblich.826 Deswegen ist die Weitergeltungsanordnung für das Strafrecht unbeachtlich. • Der Strafbarkeit steht ferner das Rechtsstaatsprinzip entgegen. Danach ist es unzulässig, den bloßen Verwaltungsungehorsam zu bestrafen, obwohl die verwaltungsrechtliche Rechtslage verfassungswidrig ist.827 Die Strafbarkeit verstößt nach dieser Ansicht gegen das Willkürverbot, da der Staat einerseits verfassungswidrig eine Erlaubnis versagt und andererseits denjenigen bestraft, der ohne Erlaubnis einen durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Beruf ausübt.828 • Umstritten ist, ob wegen des Maßgabevorbehalts der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG der Strafbarkeit entgegensteht.829 Teilweise wird dies bejaht, weil für den Einzelnen nicht zu ermitteln ist, ob die Voraussetzungen für die Weitergeltung des Sportwettenrechts erfüllt sind. Das hängt nämlich vom konkreten Verhalten der Lotterieverwaltung ab. • Dieser Aspekt wird teilweise auch an anderer Stelle angebracht: Die Strafbarkeit verstößt danach gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Gestalt des Übermaßverbots, da für den Normadressaten wegen des Maßgabevorbehalts nicht in zumutbarer Weise zu ermitteln ist, ob das Verbot für ihn gilt.830 • Auch die Frage der dogmatischen Verortung wird unterschiedlich beantwortet. Während das OLG München das Problem auf der Schuldebene831 löst, geht

826 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 28; OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 19 ff.; KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 12, jeweils zitiert nach juris. 827 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 27; OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 16; KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/ 08 (11/09), Rn. 8, jeweils zitiert nach juris; vgl. OLG München NJW 2008, 3151 (3154). 828 OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 31; OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 16; KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/ 08 (11/09), Rn. 8, jeweils zitiert nach juris. 829 Dafür OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 9; NStZ-RR 2008, 372 (373); vgl. auch KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 15, allerdings unter dem Blickwinkel des Gesetzlichkeitsprinzips. Dagegen: OLG Hamburg, Beschluss v. 05.07.2007, 1 Ws 61/07, Rn. 25 f.; OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 13. Die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen zitiert nach juris. 830 OLG München NJW 2008, 3151 (3153); KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 14, zitiert nach juris. 831 OLG München NJW 2008, 3151 (3152 f.).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

die überwiegende Ansicht832 davon aus, dass bereits der objektive Tatbestand des § 284 StGB in der Übergangszeit nicht erfüllt werden kann. c) Die Literatur So einhellig die Rechtsprechung – zumindest im Ergebnis – ist, so differenziert sind die hierzu vertretenen Ansichten in der Literatur. Hier halten sich Befürworter833 und Gegner834 der Strafbarkeit mehr oder minder die Waage. Teilweise werden auch vermittelnde Ansichten vertreten.835 aa) Die Befürworter der Strafbarkeit In der Argumentation für die Strafbarkeit lassen sich einerseits verfassungsund verfassungsprozessrechtliche [(1)] und andererseits im Kern strafrechtliche Ansätze unterscheiden [(2)]. (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumentation Ein wesentlicher Begründungsansatz argumentiert verfassungs- und verfassungsprozessrechtlich. Dabei wird einerseits auf den verfassungsrechtlich und gesetzlich determinierten „Legalisierungseffekt“ der Weitergeltungsanordnung verwiesen [sogleich (a)]. Andererseits wird auf die Rechtsprechung des Bundesver-

832 OLG Bamberg, Urteil v. 29.07.2008, 2 Ss 35/08, Rn. 10; OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 4; NStZ-RR 2008, 372; LG Frankfurt am Main, Beschluss v. 15.11.2007, 5/30 KLs 3650 Js 236524/06 (11/07), Rn. 6, die nicht in Zeitschriften veröffentlichten Entscheidungen zitiert nach juris. 833 Beckemper, in: v. Heintschel-Heinegg, § 284 Rn. 26; dies./Janz, ZIS 2008, 31 (38); Bethge, ZfWG 2007, 169 (176 ff.); 245 (251); ders., DVBl. 2007, 917 (921 ff.); Dietlein, K&R 2006, 307 (312); Hecker/Schmitt, ZfWG 2006, 59 (63); wohl auch dies., in: Dietlein/Hecker/Ruttig, § 284 StGB Rn. 9; Janz, NWVbl. 2006, 248 (251); Mintas, Glücksspiele, S. 298; Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3533); ders., in: Gebhardt/GrüsserSinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 28 ff.; Postel, WRP 2006, 703 (727 ff.). 834 Arendts, ZfWG 2007, 457 (459); Feldmann, Strafbarkeit, S. 215; Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 2; Horn, JZ 2006, 789 (793); Kretschmer, ZfWG 2006, 52 (58 f.); Petropoulos, wistra 2006, 332 (334); Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 284 Rn. 21; Siara, ZfWG 2007, 1 (4 f.); Widmaier, Gutachten, S. 5; Wohlers/Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 284 Rn. 21b. 835 Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 geht grundsätzlich von der Erfüllung des Tatbestands und damit von der Strafbarkeit des Verhaltens aus, lehnt die Strafbarkeit aber letztlich wegen der richterlich nicht geklärten Rechtslage gemäß Art. 103 Abs. 2 GG analog ab. Fischer, § 284 Rn. 16b ist der Ansicht, dass das Veranstalten von Sportwetten strafbar ist, das Vermitteln dagegen straflos. Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b macht die Strafbarkeit davon abhängig, ob die Herstellung der Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und der tatsächlichen Ausübung des Monopols verwaltungsgerichtlich festgestellt wurde.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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fassungsgerichts Bezug genommen, die beweise, dass die Entscheidungsvariante der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung auch strafrechtlich Wirksamkeit beanspruche [(b)]. Auch der Verweis des Bundesverfassungsgerichts an die Strafgerichte wird ausgelegt und für die Strafbarkeit angeführt [(c)]. Zudem wird betont, eine Straflosigkeit bei § 284 StGB stelle gegenüber der – von der herrschenden Meinung angenommen – Strafbarkeit bei § 370 AO eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar [(d)]. (a) Der Legalisierungseffekt der Weitergeltungsanordnung Einen fundierten verfassungs- und verfassungsprozessrechtlichen Begründungsansatz für die Strafbarkeit hat Bethge in einem Rechtsgutachten für die Staatliche Lotterieverwaltung des Freistaates Bayern erarbeitet, das Grundlage zweier Publikationen geworden ist.836 (aa) Der Legalisierungseffekt Für die Strafbarkeit führt er zunächst den mit der Weitergeltungsanordnung verbundenen Legalisierungseffekt ins Feld. Die Weitergeltungsanordnung bewirke eine Prolongierung und vor allem Legalisierung der als verfassungswidrig beanstandeten Norm; schon aus diesem im Tenor wurzelnden Legalisierungseffekt ergebe sich, dass die Norm vollumfänglich anwendbar bleiben müsse.837 Dazu führt Bethge ein aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und Bundesfinanzhofs zu § 370 AO bekanntes838 Begründungsmuster an: Das vom Bundesverfassungsgericht verfügte Interimsrecht sei kein Recht minderer Art und Güte, auch kein Behelfsrecht.839 Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit würden den mit der Weitergeltung gerade beabsichtigten Legalisierungseffekt ins Gegenteil verkehren.840 (bb) Hinreichende Legitimierung des Legalisierungseffekts Solche Zweifel an der Strafbarkeit hält Bethge auch aus anderen Gründen für unbegründet. Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, in solchen Ausmaßen quasilegislatorisch tätig zu werden, sei verfassungsrechtlich (Art. 93, 94 GG) determiniert und parlamentarisch-demokratisch durch Gesetz legitimiert:

836 Bethge, DVBl. 2007, 917; ders., ZfWG 2007, 169; 245. Die Beiträge sind weitestgehend inhaltsgleich, im Folgenden wird der etwas ausführlichere in der ZfWG zitiert. 837 Bethge, ZfWG 2007, 169 (175). 838 Dazu oben S. 227, 217. 839 Bethge, ZfWG 2007, 169 (177). 840 Ebenda.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Die Norm, welche die Folgenbewältigung regele – nach Bethges hier abgelehnter Ansicht841 § 35 BVerfGG – sei ihrerseits vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber verantwortet. Dieselbe parlamentarische Legitimation gelte für § 31 BVerfGG, welcher den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft verleihe.842 Dazu komme die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Letztverbindlichkeit der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Diesem komme auf Grund der Art. 93 und 94 GG eine die Fachgerichtsbarkeit übertreffende besondere Autorität in Form letztverbindlicher Entscheidungsmacht zu. Diese schließe es aus, die Urteile bzw. Entschlüsse des Bundesverfassungsgerichts in Frage zu stellen.843 Diese Gesamtschau einfachgesetzlicher und verfassungsrechtlicher Regelungen würde den besonderen Status des Gerichts mitsamt seinen Kompetenzen zur Folgenbeseitigung – und damit auch zur umfassenden, strafrechtlich wirksamen Weitergeltungsanordnung – unterstreichen.844 (b) Weitergeltungsanordnung auch auf dem Gebiet des Strafrechts wirksam Die Befürworter der Strafbarkeit verweisen zudem auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.845 Ihrer Ansicht nach beweist sie, dass die Weitergeltungsanordnung auch strafrechtlich vollumfänglich Geltung beansprucht. In seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch846 habe das Gericht Nichtigerklärungen ausgesprochen und anschließend eigene Strafnormen für die Übergangszeit geschaffen, die bis dato nie eine parlamentarische Mehrheit gefunden hätten. Bereits diese Entscheidungen würden beweisen, dass das Gericht davon ausgeht, dass sich seine Kompetenz zur Anordnung von Übergangsmaßnahmen sehr wohl auch auf das Gebiet des Strafrechts erstreckt.847 Darüber hinaus habe das Gericht in seiner ersten Entscheidung zur Sicherungsverwahrung848 eindeutig befunden, dass sogar auf dem besonders grundrechtssensiblen Bereich des 841 § 35 BVerfGG betrifft die „Art und Weise der Vollstreckung“. Die Weitergeltungsanordnung kann jedoch nicht als Vollstreckung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angesehen werden, dazu oben B.III.4.b)aa) (S. 128). 842 Bethge, ZfWG 2007, 169 (177); ähnlich Dietlein, K&R 2006, 307 (308 f.). 843 Bethge, ZfWG 2007, 169 (177 f.). 844 Bethge, ZfWG 2007, 169 (177). 845 Dies tun Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (38); Bethge, ZfWG 2007, 169 (178); Hecker/Schmitt, in: Dietlein/Hecker/Ruttig, § 284 StGB Rn. 8. 846 BVerfGE 39, 1 (2 f.); 88, 203 (209 f.), zu diesen Entscheidungen noch ausführlich unten D.II.1.c)bb) (S. 344). 847 Bethge, ZfWG 2007, 169 (178). 848 BVerfGE 109, 190 (191), zu dieser Entscheidung noch ausführlich unten D.II.1. c)dd)(1) (S. 348).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Strafrechts Unvereinbarerklärung und Weitergeltungsanordnung genügen, um Freiheitsentziehungen weiter zu legitimieren.849 (c) Auslegung: Der Verweis an die Strafgerichte Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass die Frage der Strafbarkeit durch Strafgerichte zu klären sei850, wird – wie in der Rechtsprechung851 – auch in der Literatur für die Strafbarkeit in der Übergangszeit ins Feld geführt. Der Verweis auf die Prüfungskompetenz der Strafgerichte in Bezug auf § 284 StGB sei als inzidente Bestätigung seiner Verfassungskonformität (auch in der Übergangszeit) zu verstehen. Es sei nämlich abwegig anzunehmen, das Bundesverfassungsgericht würde die Instanzgerichte zur Subsumtion unter Rechtsnormen und damit zur Anwendung dieser Normen anhalten, die es für nicht verfassungskonform erachtet. Die Norm sei bereits deswegen uneingeschränkt anwendbar.852 (d) Drohender Widerspruch zur Rechtsprechung zu § 370 AO Auch wird eingewandt, dass eine Ablehnung der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB explizit in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 370 AO stehe, ohne dass ein hinreichender Grund für eine unterschiedliche Behandlung ersichtlich sei.853 Vielmehr sei eine Parallele zu erkennen: So werde die Strafbarkeit im Steuerstrafrecht damit begründet, dass es zu einer Steuerungerechtigkeit führe, wenn die Nichtangabe erzielter Einkünfte strafrechtlich nicht sanktioniert werde, obwohl die Weitergeltung des Steuergesetzes angeordnet worden sei. Ein ähnlicher Einwand bestehe auch hier: Es gebe nämlich private Sportwetten mit behördlichen Genehmigungen – nämlich mit fortgeltenden DDR-Genehmigungen und solchen aus EU-Mitgliedstaaten. Es sei nicht einzusehen, weshalb Anbieter ohne jede Genehmigung diesen gleichgestellt werden sollten.854 (2) Strafrechtliche Argumente Auch im Kern strafrechtliche Argumente – mit freilich starkem verfassungsrechtlichen Einschlag – werden für die Strafbarkeit angeführt. 849

Bethge, ZfWG 2007, 169 (178). Dazu oben S. 192. 851 Zur entsprechenden Argumentation der Rechtsprechung zusammenfassend oben C.II.2.b)gg) (S. 288). 852 Hecker/Schmitt, ZfWG 2006, 59 (63); vgl. auch Dietlein, K&R 2006, 307 (312). 853 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (38); Hecker/Schmitt, in: Dietlein/Hecker/Ruttig, § 284 StGB Rn. 8, jeweils bezogen auf Altfälle. 854 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (38). 850

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(a) Tatbestandsstruktur des § 284 StGB: Die „verfassungsrechtliche Neutralität der Strafnorm“ Ein wichtiges Argument wurzelt dabei in der Tatbestandsstruktur des § 284 StGB. Angeführt wird, die Strafnorm § 284 StGB sei – im Gegensatz zur verfassungswidrigen landesgesetzlichen Erlaubnisausgestaltung – verfassungsrechtlich neutral855. Deswegen bestehen nach dieser Ansicht gegen die Anwendbarkeit in der Übergangszeit keine Bedenken. (aa) Trennbarkeit von verfassungswidriger Erlaubnisausgestaltung und verfassungsgemäßer Verbotsnorm Dies setzt eine in der Tatbestandsstruktur des § 284 StGB wurzelnde – von einer breiten Strömung in der Literatur angenommene856 – klare Trennbarkeit der verfassungsgemäßen Verbotsnorm des § 284 StGB einerseits und der die Erlaubnisausgestaltung regelnden verfassungswidrigen landesrechtlichen Monopolregelung andererseits voraus. Vertreten wird dabei, dass das Merkmal der behördlichen Erlaubnis zwar einen gewissen Bezug zu den Landesgesetzen herstelle. § 284 StGB enthalte dabei aber eine in sich geschlossene Tatbestandsbeschreibung, welche das Unrecht vollständig umfasse. Die landesgesetzlichen Regelungen hätten nicht unmittelbar Einzug in den Tatbestand gefunden.857 (bb) Begründung mit der Verwaltungsakzessorietät des § 284 StGB Die überzeugendste Begründung dieses Ansatzes verweist auf die Verwaltungsakzessorietät858 des § 284 StGB – präziser: Die Verwaltungsakzessorietät des Merkmals „ohne behördliche Erlaubnis“.859 855

Terminologie nach Feldmann, Strafbarkeit, S. 195 f. Dieser Auffassung hängen – in unterschiedlichen Ausprägungen – an: Beckemper, in: v. Heintschel-Heinegg, § 284 Rn. 26; dies./Janz, ZIS 2008, 31 (37); Bethge, ZfWG 2007, 169 (178) (inzident); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (362); Dietlein, K&R 2006, 307 (310, 312); Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); ders., in: Gebhardt/GrüsserSinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 30. 857 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (37); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (362); Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); ders., in: Gebhardt/Grüsser-Sinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 30. 858 Im Detail enden freilich die Gemeinsamkeiten der soeben genannten Autoren: Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); ders., in: Gebhardt/Grüsser-Sinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 30; Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (362) setzen die Begriffe Blanketttatbestand und Verwaltungsakzessorietät gleich: Der Norminhalt des § 284 StGB ergebe sich gerade nicht aus einer in Bezug genommenen Verwaltungsnorm, deswegen liege auch kein verwaltungsakzessorischer Blanketttatbestand vor. Daraus wird aber derselbe Schluss gezogen wie bei den anderen hier zitierten Autoren, nämlich dass die verfassungswidrige Erlaubnisausgestaltung und der verfassungsgemäße § 284 StGB voneinander zu trennen seien. Das sehen Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (37) unter Verweis auf 856

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Der Verwaltungsakzessorietät entsprechend sei § 284 StGB insoweit eine selbstständige Norm, als er – als repressive Verbotsnorm860 – die Veranstaltung von Glücksspielen verbietet, sofern die Veranstaltung nicht behördlich erlaubt sei. Es liege also eine eigenständige bundesrechtliche Verbotsnorm für dieses unerwünschte Verhalten vor. Dieses Verhalten könne lediglich ausnahmsweise im Einzelfall gestattet werden.861 Das Gesetz, auf Grund dessen eine Genehmigung ergeht oder nicht ergeht, sei nicht Teil dieses Verbotstatbestands. Teil des Tatbestands sei lediglich die nicht erteilte Erlaubnis.862 Deswegen sei es für die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens auch unerheblich – hier wird auf die herrschende Ansicht zur strafrechtlichen Behandlung verwaltungsrechtswidrig versagter Genehmigungen verwiesen863 – ob die Erlaubnis rechtswidrig versagt worden sei.864 Liege eine Erlaubnis vor, sei der Straftatbestand ausgeschlossen. Fehle die Erlaubnis, sei der Straftatbestand erfüllt. Dem Fehlen der Erlaubnis stünden die Fälle gleich, in denen es keine landesgesetzlichen Grundlagen für die Erlaubniserteilung an private Wettveranstalter gebe.865 Abgesichert wird diese Argumentation mit einer hypothetischen Betrachtung: Denke man sich die Weitergeltungsanordnung hinfort, so würde die – dann wegen der Unvereinbarerklärung geltende – Anwendungssperre zwar das landesrechtliche staatliche Monopol hinfällig machen. Damit lebe jedoch nicht automatisch eine Erlaubnis oder Erlaubnisfreiheit auf. Die – tatbestandsausschließende – Erlaubnis sei verwaltungs- und gesetzesakzessorisch. Sie müsse erteilt sein, um die Strafbarkeit auszuschließen – eine solchermaßen erteilte Erlaubnis liege aber gerade nicht vor. Die Fortgeltungsanordnung bezüglich des landesrechtlichen Monopols spiele für die Strafbarkeit schlicht keine Rolle.866

Breuer, NJW 1988, 2072 (2078) anders: Verwaltungsakzessorietät bedeute gerade, dass kein Blanketttatbestand vorliege (a. A. wohl auch BVerfGE 75, 329 (342 ff.); Rogall, NStZ 1992, 561 (564)): Das Gesetz, auf Grund dessen die Genehmigung ergehe, werde nicht Teil des Tatbestands, sondern lediglich die nicht erteilte Genehmigung. 859 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (37); Bethge, ZfWG 2007, 169 (178). 860 Vgl. zur Differenzierung zwischen repressiven und präventiven Verboten oben C.II.2.a)aa)(2) (S. 272). 861 Bethge, ZfWG 2007, 169 (178). 862 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (37); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (362); Mintas, Glücksspiele, S. 298. 863 Dazu BGH NJW 2002, 2175 f.; Feldmann, Strafbarkeit, S. 199; Schmitz, in: MüKo-StGB, Vor §§ 324 ff. Rn. 78 f.; Steindorf, in: LK, 11. Aufl., Vor § 324 Rn. 23. 864 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (37); Bethge, ZfWG 2007, 169 (178); Mintas, Glücksspiele, S. 298. 865 Bethge, ZfWG 2007, 169 (178); vgl. auch Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (362). 866 Bethge, ZfWG 2007, 169 (178).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Bethge hat dieses Argument wie folgt zusammengefasst: „Mit oder ohne Fortgeltungsanordnung: Private Wettveranstaltung ist nicht erlaubt, bleibt also verboten, ist also strafbar.“ 867

Dieses Ergebnis wird darüber hinaus auch mit einem systematischen Argument gestützt: Anders als §§ 327 Abs. 1, 328 Abs. 1 StGB verlange § 284 StGB nicht ein Täterhandeln „ohne die erforderliche behördliche Erlaubnis“. Vielmehr reiche nach dem Wortlaut der Norm ein Handeln „ohne behördliche Erlaubnis“. § 284 StGB pönalisiere somit bewusst bloßen Verwaltungsungehorsam, ohne die materielle Erlaubnisfähigkeit der Tätigkeit in den Blick zu nehmen.868 In der Literatur werden mehrere Beispiele angeführt, die nachweisen sollen, dass verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich der Erlaubnisausgestaltung nicht auf den Straftatbestand durchschlagen: Das habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum baden-württembergischen Spielbankengesetz869 so gesehen. Dieses Gesetz war für unvereinbar und nichtig erklärt und für eine Übergangszeit durch eigene Normen des Bundesverfassungsgerichts ersetzt worden. Dabei habe das Gericht ausdrücklich angeordnet, dass das Betreiben einer Spielbank ohne Genehmigung auch dann strafbar sei, wenn es keine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage für eine Genehmigungserteilung gebe.870 Das zweite Beispiel stammt aus dem Kriegswaffenrecht: Selbst wenn Genehmigungsrecht und Genehmigungspraxis hinsichtlich der Erlaubnis zum Besitz von Kriegswaffen verfassungsrechtlich bedenklich wären, bliebe das strafrechtliche Verbot des Kriegswaffenbesitzes hiervon unberührt.871 Dasselbe gelte – das dritte angeführte Beispiel – für die Strafbarkeit des illegalen Aufenthaltes von Ausländern, wenn die Regeln zur Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bezüglich einzelner Gruppen von Ausländern verfassungsrechtlich bedenklich wären.872 (b) Hinreichende Bestimmtheit des § 284 StGB Einige Stimmen der Literatur betonen zudem – mit ähnlichen Argumenten wie den eben besprochenen – dass § 284 StGB auch während der Übergangszeit hin867

Bethge, ZfWG 2007, 169 (179). Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (362). 869 BVerfGE 102, 197 (223 f.). 870 Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (38); Hecker/Schmitt, in: Dietlein/Hecker/Ruttig, § 284 StGB Rn. 8; Janz, NWVbl. 2006, 248 (251). Das Bundesverfassungsgericht hatte bestehende Genehmigungen zum Betreiben von Spielbanken per Anordnung aufrechterhalten. Dabei hat es angeordnet, dass – sollte der Gesetzgeber innerhalb der angeordneten Frist keine Neuregelung treffen – diese Genehmigungen verfallen sollten und für die Zeit danach auf den Straftatbestand des § 284 StGB verwiesen. Das Handeln ohne Genehmigung wäre danach also auch ohne verfassungsgemäßes Landesrecht strafrechtlich verboten. 871 Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532). 872 Ebenda. 868

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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reichend bestimmt im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB ist [sogleich (aa)]. Daran ändere auch der Maßgabevorbehalt nichts [(bb)]. (aa) Bestimmtheit des § 284 StGB Das Argument der fortbestehenden Bestimmtheit wird von einer breiten Literaturauffassung vertreten.873 Die Strafbarkeit ergebe sich eindeutig aus § 284 Abs. 1 StGB. Dieser enthalte einen klaren Normbefehl: Kein öffentliches Glücksspiel ohne Genehmigung.874 Das Tatbestandsmerkmal „ohne behördliche Erlaubnis“ sei eindeutig; es stehe der Bestimmtheit insbesondere nicht entgegen, dass Erlaubnisfähigkeit und Erlaubnisvoraussetzungen nicht in § 284 StGB geregelt seien, sondern durch Landesrecht festgelegt würden.875 Der Inhalt der strafbewehrten Verhaltenspflicht ergebe sich ohne weiteres aus dem – insoweit vollständigen – § 284 StGB selbst. Die Norm sei von dem lediglich die Erlaubnisausgestaltung betreffenden Landesrecht unabhängig.876 Bezüglich der Bestimmtheit des Merkmals „ohne behördliche Erlaubnis“ werden im Einzelnen die gleichen Argumente angeführt wie im Rahmen der Tatbestandsstruktur: Enthalte sich das Landesrecht einer Regelung zu Sportwetten, so sei die Erlaubniserteilung an Private ausgeschlossen, dementsprechend gebe es keine Erlaubnis, das Verhalten sei gemäß § 284 StGB verboten. Dasselbe gelte, wenn das Landesrecht explizit ein Staatsmonopol anordne, auch hier liege keine Erlaubnis vor, das Verhalten sei verboten. Auch in diesem Zusammenhang wird die eben beschriebene hypothetische Betrachtung vorgenommen: Werde ein landesrechtliches Staatsmonopol – ohne Weitergeltungsanordnung – für mit der Verfassung unvereinbar erklärt, so werde zwar das Staatsmonopol wegen der Anwendungssperre hinfällig. Doch es fehle nach wie vor an einer gesetzlichen Grundlage für die Erlaubnis privater Wettveranstaltungen und somit an der Erlaubnis. Werde eine Weitergeltungsanordnung erlassen, räume diese nur für das beanstandete Staatsmonopol die Anwendungssperre aus. An der Nichtzulassung privater Interessenten mangels Erlaubnis ändere sich aber nichts. Die Reichweite des Tatbe873 Bethge, ZfWG 2007, 169 (179 f.); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (363); Dietlein, K&R 2006, 307 (311 f.); Hecker/Schmitt, in: Dietlein/Hecker/Ruttig, § 284 StGB Rn. 6; Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); ders., in: Gebhardt/Grüsser-Sinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 29. 874 Bethge, ZfWG 2007, 169 (179); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (363); Hecker/Schmitt, in: Dietlein/Hecker/Ruttig, § 284 StGB Rn. 6; Mosbacher, NJW 2007, 3529 (3532); ders., in: Gebhardt/Grüsser-Sinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 29. 875 Bethge, ZfWG 2007, 169 (179); vgl. auch Hecker/Schmitt, in: Dietlein/Hecker/ Ruttig, § 284 StGB Rn. 6. 876 Bethge, ZfWG 2006, 169 (179); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (363); Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); ders., in: Gebhardt/Grüsser-Sinopoli, Glücksspiel, § 8 Rn. 29.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

stands sei von der Weitergeltungsanordnung unabhängig und somit sehr wohl zu ermessen.877 (bb) Irrelevanz des Maßgabevorbehalts Teile der Literatur betonen, dass die Bestimmtheit des Tatbestands auch nicht durch den Maßgabevorbehalt des Bundesverfassungsgerichts in Frage gestellt werde. Nach diesem war die bisherige Rechtslage nur mit der Maßgabe weiter anwendbar, dass unverzüglich eine Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft einerseits und der tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits herzustellen war878.879 Diese Passage sei nicht als Bedingung für die Weitergeltung formuliert.880 Teils wird ihr lediglich eine deklaratorische Bedeutung zugebilligt: Verfassungswidrige Normen würden den Gesetzgeber zur Herstellung des verfassungsgemäßen Zustandes verpflichten. Diese Pflicht werde durch die Aussage des Bundesverfassungsgerichts lediglich konkretisiert.881 Teils wird aber auch angenommen, die Anforderungen des Maßgabevorbehalts seien selbständig vollziehbare Anordnungen, die ihrerseits Teil der Rechtslage nach dem Urteil seien. Die Weitergeltung des Landesrechts stünde unabhängig neben den Auflagen für die Übergangszeit. Ein Verstoß gegen die Auflagen hat nach dieser Sichtweise nicht die Nichtanwendbarkeit des Staatslotteriegesetzes zur Folge.882 bb) Die Gegner der Strafbarkeit Der soeben beschriebenen Argumentation der Befürworter der Strafbarkeit treten ihre Gegner – ebenfalls mit verfassungs- und verfassungsprozessrechtlichen Argumenten einerseits und strafrechtlichen andererseits – entgegen. (1) Verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumentation Die verfassungs- und verfassungsprozessrechtliche Argumentation gegen die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB verwendet mit Telos und Rechtscharakter der Weitergeltungsanordnung [sogleich (a)], § 79 Abs. 1 BVerfGG [(b)], der grundrechtlichen Dimension der Entscheidung [(c)] und dem Rechtsstaatsprinzip [(d)] 877

Bethge, ZfWG 2007, 169 (179 f.); Dehne-Niemann, wistra 2008, 361 (363). Dazu oben S. 192. 879 Bethge, ZfWG 2007, 169 (180); Dietlein, K&R 2006, 307 (311); vgl. auch Beckemper/Janz, ZIS 2008, 31 (38). 880 Bethge, ZfWG 2007, 169 (180); Dietlein, K&R 2006, 307 (311). 881 Bethge, ZfWG 2007, 169 (180). 882 Dietlein, K&R 2006, 307 (311); so auch Siara, ZfWG 2007, 1 (4), der die Strafbarkeit allerdings aus anderen Gründen ablehnt. 878

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Begründungsansätze, die auch von Gegnern der Strafbarkeit gemäß § 370 AO verwendet werden.883 (a) Telos und Charakter der Weitergeltungsanordnung Widmaier argumentiert dabei mit Telos und Rechtscharakter der Weitergeltungsanordnung: Das verfassungsprozessrechtliche Instrument der Unvereinbarerklärung ziele eben nicht darauf, eine Übergangsregelung zu treffen, die mit der Verfassung in Einklang steht. Sie wolle lediglich das Vakuum verhindern, das mit der Nichtigerklärung der Norm eintreten würde. Der Zweck der Weitergeltungsanordnung erschöpfe sich in der Vermeidung dieses Vakuums und der Erhaltung der Handlungsfähigkeit der Verwaltung. Sie solle lediglich einen geordneten Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsgemäßen Rechtslage ermöglichen. Nur um dieses Zieles willen könne die Anwendung verfassungswidrigen Rechts übergangsweise hingenommen werden. Die Fortgeltungsanordnung aber werde überbewertet, wenn ihr das Gütesiegel verfassungsrechtlicher Billigung zuerkannt würde – das fortgeltende Recht sei lediglich Behelfsrecht. Als solches könne es zwar ordnungsrechtliche Maßnahmen rechtfertigen – für eine strafrechtliche Verurteilung sei aber die Weitergeltungsanordnung weder aussagekräftig noch tragfähig genug:884 Die „bloße vorübergehende Vermeidung eines rechtlichen Vakuums unter bewusster Inkaufnahme eines verfassungswidrigen Zustandes – der ja durch die Fortgeltungsanordnung den Makel der Verfassungswidrigkeit nicht verliert – [kann] keine ausreichende Grundlage für den denkbar schweren Grundrechtseingriff einer strafrechtlichen Verurteilung sein.“ 885

Unterfüttert wird diese Sichtweise mit dem Argument, das Bundesverfassungsgericht habe noch nie ein Strafgesetz für unvereinbar mit der Verfassung erklärt, dabei aber seine unveränderte Weitergeltung angeordnet. Soweit Strafnormen für verfassungswidrig befunden worden seien, habe das Gericht vielmehr ausnahmslos Nichtigerklärungen ausgesprochen.886 (b) § 79 Abs. 1 BVerfGG Eine weit verbreitete Literaturansicht begründet die Straflosigkeit zudem mit § 79 Abs. 1 BVerfGG. Eine Verurteilung in der Übergangszeit gemäß § 284 883

Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(b)(dd) (S. 247). Widmaier, Gutachten, S. 12. Dieser Auffassung von Widmaier hat sich Siara, ZfWG 2007, 1 (4 f.) angeschlossen. Vgl. auch Arendts, ZfWG 2007, 457 (459); Feldmann, Strafbarkeit, S. 213. 885 Widmaier, Gutachten, S. 13. 886 Feldmann, Strafbarkeit, S. 213; Siara, ZfWG 2007, 1 (5); Widmaier, Gutachten, S. 11 f.; dazu noch unten D.II.1.c)aa) (S. 343). 884

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Abs. 1 StGB verbiete sich nach dieser Vorschrift.887 Die Norm stelle eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar. Nach ihrem Regelungsgehalt trete im Falle von für unvereinbar erklärten Strafnormen das Anliegen der Rechtssicherheit gegenüber dem der Gerechtigkeit zurück.888 Der Norm wird also implizit ein materiell-rechtlicher Gehalt beigemessen. Es erscheint allerdings fraglich, ob ein Strafurteil im Falle des § 284 StGB i.V. m. dem erlaubnisausgestaltenden Landesrecht auf einer für unvereinbar erklärten Norm „beruhen“ 889 würde. Dies bedarf deshalb besonderer Rechtfertigung, weil nicht die Strafnorm selbst für unvereinbar erklärt wurde, sondern „nur“ das erlaubnisausgestaltende Landesrecht. Ein „Beruhen“ i. S. d. Vorschrift ist Teilen der Literatur zufolge allerdings dann anzunehmen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die für nichtig oder unvereinbar erklärte Norm für das Strafbarkeitsurteil ursächlich war.890 Eine Ursächlichkeit sei hier anzunehmen: Das Fehlen der Erlaubnis begründe die Strafbarkeit. Das Fehlen der Erlaubnis wiederum gehe auf die für unvereinbar erklärte Regelung zurück, nach der der Betroffene in verfassungswidriger Art und Weise von der Erlaubniserteilung ausgeschlossen sei.891 (c) Grundrechtliche Dimension Gegen die These der verfassungsrechtlichen Neutralität892 des § 284 StGB verweist Feldmann auf die betroffenen Grundrechte. Rechtlich gesehen lasse sich nämlich der Verstoß gegen Verfassungsrecht nicht von der Strafbarkeit trennen. Der Eingriff in die Berufsfreiheit durch die Erlaubnisversagung würde nämlich durch § 284 StGB perpetuiert und intensiviert. Und dies mittels der schärfsten Eingriffsmaßnahme, die dem Staat überhaupt zur Verfügung stehe.893

887 Feldmann, Strafbarkeit, S. 205, 212; Kretschmer, ZfWG 2006, 52 (58); Siara, ZfWG 2007, 1 (5). 888 Feldmann, Strafbarkeit, S. 203. Zu dieser Norm ausführlich oben B.II.2.d) (S. 72). 889 Vgl. zum Wortlaut der Vorschrift oben S. 72. 890 Feldmann, Strafbarkeit, S. 203 m.w. N. Vgl. ebenfalls Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 79 Rn. 35; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 14; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 79 Rn. 7 Rn. 14, unter Hinweis darauf, dass dieses „beruhen“ dem des § 337 StPO entspricht. Im Rahmen des § 337 StPO wird dieses Merkmal als einfache Kausalität definiert, wobei sogar der Nachweis der Möglichkeit der Kausalität ausreicht, vgl. nur Gericke, in: KK-StPO, § 337 Rn. 33; Pfeiffer, StPO, § 337 Rn. 17, jeweils m. N. 891 Feldmann, Strafbarkeit, S. 203; vgl. auch Kretschmer, ZfWG 2006, 52 (58); Siara, ZfWG 2007, 1 (5). 892 Dazu oben C.II.2.c)aa)(2) (S. 293). 893 Feldmann, Strafbarkeit, S. 205.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Über diese Vertiefung des Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG hinaus werde durch die Strafnorm ein neuer Grundrechtseingriff herbeigeführt: Der in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG). Ein Eingriff in dieses Grundrecht sei an den Voraussetzungen des Art. 104 GG und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messen. Die Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung auf der Grundlage verfassungswidrigem Rechts sei allerdings ausgeschlossen; die Androhung der Freiheitsentziehung könne in dieser Konstellation nicht verfassungsgemäß sein.894 (d) Das Rechtsstaatsprinzip Gegen die Strafbarkeit wird auch das Rechtsstaatsprinzip in Stellung gebracht.895 Wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips sei der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Einzelne solle davor geschützt werden, Nachteile durch rechtswidrige Gesetze und Verwaltungsakte hinnehmen zu müssen.896 Die Pönalisierung eines Verhaltens durch einen Straftatbestand und die dort angeordnete Freiheitsstrafe stelle den schwersten Nachteil dar, den der Staat dem Bürger auferlegen könne. Einschränkungen der Freiheitssphäre auf Grund verfassungswidrigen Verwaltungsrechts seien mit dem Rechtsstaatsprinzip schlechthin nicht vereinbar.897 (2) Strafrechtliche Argumente Gegen die Strafbarkeit sprechen nach Ansicht der Literatur zudem gewichtige, im Kern strafrechtliche Argumente. (a) Tatbestandsstruktur des § 284 StGB: Der Zusammenhang zwischen der Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts und der Strafnorm Anders als die Gegenauffassung müssen die Gegner der Strafbarkeit – was die Tatbestandsstruktur des § 284 StGB angeht – einen Zusammenhang zwischen der Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts und der Strafnorm annehmen.

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Feldmann, Strafbarkeit, S. 206. Feldmann, Strafbarkeit, S. 202, vgl. ebenfalls Kretschmer, ZfWG 2006, 52 (58) („materielle Gerechtigkeit“). 896 Feldmann, Strafbarkeit, S. 202, unter Verweis auf die stetige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 29, 402 (408); 19, 206 (215); 6, 32 (41). 897 Feldmann, Strafbarkeit, S. 202. 895

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(aa) Allgemeine Formulierung eines Zusammenhangs Häufig findet sich dazu die recht pauschale Aussage, dass eine Freiheitsstrafe nicht legitimiert sei, wenn der Staat sich tatsächlich mit den das Verbot rechtfertigenden Zielen in Widerspruch setze und ein den Grundrechten entsprechendes Erlaubnisverfahren nicht vorgesehen sei.898 Der Strafgesetzgeber habe durch § 284 StGB nur die sozial gefährliche Veranstaltung von Glücksspielen verbieten wollen. Das Merkmal der Erlaubnis diene dem Beweis der sozialen Ungefährlichkeit einer Tätigkeit. Das verfassungswidrige Wettmonopol entziehe dem privaten Veranstalter die Möglichkeit, die soziale Ungefährlichkeit seiner Tat gegenüber den Behörden zu beweisen.899 (bb) Zusammenhang der Verwaltungsakzessorietät Darüber hinausgehend wird die Verwaltungsakzessorietät des § 284 StGB gegen die Strafbarkeit angeführt.900 Die Unvereinbarkeit der verwaltungsrechtlichen Rechtslage mit dem Grundgesetz dürfe bei der Anwendung eines verwaltungsakzessorischen Straftatbestands nicht unberücksichtigt bleiben. Die verwaltungsrechtliche Vorfrage habe ja – über das Merkmal der behördlichen Erlaubnis – bestimmenden Einfluss auf die Strafbarkeit eines Verhaltens.901 (cc) § 284 StGB als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt Einen bemerkenswerten Begründungsansatz hat Feldmann entwickelt. Er nimmt – über diese recht pauschalen Einwendungen hinaus – die Tatbestandsstruktur der Verwaltungsakzessorietät näher ins Blickfeld. (a) Differenzierung zwischen präventiven und repressiven Verboten Er macht für die Beziehung zwischen Verbotstatbestand und Erlaubnisausgestaltungsrecht eine Differenzierung fruchtbar, die eigentlich für die Unterscheidung zwischen tatbestandsausschließenden und rechtfertigenden Erlaubnismerkmalen verwendet wird: Die zwischen präventiven Verboten mit Erlaubnisvorbehalt, bei denen die Erlaubnis tatbestandsausschließend wirkt, und repressiven Verboten mit Befreiungsvorbehalt, bei denen sie lediglich rechtfertigend wirkt.902 898 Spielarten dieser Aussage finden sich bspw. bei: Heine/Hecker, in: Schönke/ Schröder, § 284 Rn. 2; Petropoulos, wistra 2006, 332 (334); Rosenau, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, § 284 Rn. 21. 899 Petropoulos, wistra 2006, 332 (334). 900 Feldmann, Strafbarkeit, S. 206 f.; Widmaier, Gutachten, S. 9. 901 Widmaier, Gutachten, S. 9. 902 Dazu bereits oben C.II.2.a)aa)(2) (S. 272). Diese Differenzierung wurde u. a. anlässlich der verwandten Rechtsfrage diskutiert, ob eine Strafbarkeit gemäß § 284 StGB

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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Ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt betrifft ein für sich sozialschädliches, unerwünschtes und daher grundsätzlich verbotenes Verhalten, das nur ausnahmsweise erlaubt werden kann. Dagegen zeichnet sich ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt dadurch aus, dass das fragliche Verhalten an sich sozialadäquat ist und das Erfordernis einer behördlichen Genehmigung nur den Sinn hat, die Kontrolle über möglicherweise entstehende Gefahren zu ermöglichen.903 Für die Unterscheidung zwischen den beiden Verbotsarten führt Feldmann zwei Kriterien an.904 Zum einen sei zu untersuchen, ob der Tatbestand – ohne den Genehmigungsvorbehalt – einen ausreichenden Unrechtssachverhalt umschreibe (dann repressives Verbot) oder seinen Unwertgehalt zumindest auch aus dem Handeln ohne Genehmigung ziehe (dann präventives Verbot).905 Zum anderen sei das Gewicht der Rechtsgutbeeinträchtigung und die Deliktsnatur zu untersuchen: Rechtsgutverletzende und konkret gefährdende Verhaltensweisen werden danach durch den schwereren Eingriff des Repressivverbots bekämpft, abstrakte Gefährdungen nur mittels der weniger schwerwiegenden präventiven Verbote.906 (b) § 284 StGB als präventives Verbot Misst man das in § 284 StGB umschriebene Verhalten an diesen zwei Kriterien, so muss das Erlaubnismerkmal Feldmann zu Folge – entgegen der herrschenden Meinung907, aber mit der überwiegenden Literatur908 – als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt eingeordnet werden909: besteht, wenn eine landesgesetzliche Erlaubnisausgestaltung gänzlich fehlt, dazu bspw. Feldmann, Strafbarkeit, S. 188 ff.; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 35 ff. m.w. N. Der – soweit ersichtlich – erste, der dies auf die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts überträgt ist Feldmann, Strafbarkeit, S. 206 ff. 903 Feldmann, Strafbarkeit, S. 189; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 61; Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 274; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 36, dazu bereits oben C.II.2.a)aa)(2) (S. 272). 904 Feldmann, Strafbarkeit, S. 189. 905 Feldmann, Strafbarkeit, S. 189; dazu auch Rengier, ZStW 101 (1989), 874 (878 f.); Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 274. 906 Feldmann, Strafbarkeit, S. 189; dazu Brauer, Strafrechtliche Behandlung, S. 51 ff. 907 BVerfGE 102, 197 (215); BVerwGE 126, 149 (159); 114, 92 (95 f.); BGH NJWRR 2002, 395 (396); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 368; Maurach/Schroeder/ Maiwald, Strafrecht BT I, § 44 Rn. 9; Roxin, AT I, § 10 Rn. 32; Tettinger/Ennuschat, Grundstrukturen, S. 11. 908 Heine, FS Amelung, S. 414, unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH; Krehl, in: LK, § 284 Rn. 22; Mintas, Glücksspiele, S. 230 f.; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 16, 37; Wohlers/Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 284 Rn. 21. Über die explizite Einstufung als präventives Verbot hinaus sehen weitere Autoren das Fehlen der Erlaubnis als negatives Tatbestandsmerkmal an, wobei nach der o. g. Differenzierung die Einstufung als präventives Verbot implizit vorausgesetzt ist: Fischer, § 284 Rn. 13; Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 23; Hohmann, in: MüKo-

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Dem Glücksspiel nämlich hafte nach dem in der Literatur910 zunehmend konsensfähigem Verständnis kein sozialethischer Unwert mehr an.911 Diese Aussage Feldmanns lässt sich im Übrigen unabhängig vom Streitstand hinsichtlich des durch § 284 StGB geschützten Rechtsguts912 vertreten: Zwar ist er Anhänger jener Literaturauffassung, die annimmt § 284 StGB schütze vor manipulativem oder spielsuchtbedingtem Vermögenseinsatz.913 Sie wird aber auch auf Grundlage der herrschenden Rechtsgutbestimmung vertreten914, nach der die staatliche Kontrolle über die Kommerzialisierung der natürlichen Spielleidenschaft geschützt wird915. Zur Untermauerung des fehlenden sozialethischen Unwertgehalts betont Feldmann, auch das Bundesverfassungsgericht916 habe in der Sportwettenentscheidung hervorgehoben, dass die Rechtsordnung das Anbieten von Sportwetten als erlaubte Tätigkeit kenne. Freiwillig Geld bei einem Glücksspiel einzusetzen könne nach modernem Verständnis nur ein vollkommen wertneutrales Verhalten sein. Auch beziehe § 284 StGB seinen Unwertgehalt gerade aus dem Handeln ohne Genehmigung. Die Strafnorm schützt – je nach der zum Rechtsgut vertretenen Auffassung – vor unfreiwilligem, sprich manipulativem oder suchtbedingtem Vermögensverlust917 bzw. vor den abstrakten Gefährdungen, die dort auftreten, wo unkontrolliert gespielt wird918. Mit Hilfe der verwaltungsgerichtlichen Kon-

StGB, § 284 Rn. 16; Hoyer, in: SK, § 284 Rn. 27; Lackner/Kühl, § 284 Rn. 12; Otto, Strafrecht BT, § 55 Rn. 9; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 284 Rn. 16. 909 Feldmann betont dabei zu Recht, dass diese Einordnung des § 284 StGB davon unabhängig ist, ob das Landeserlaubnisrecht ein repressives Verbot enthält oder nicht: Feldmann, Strafbarkeit, S. 192. 910 Heine, FS Amelung, S. 414, unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH; Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann//Gaede, § 284 Rn. 21; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 16 m.w. N., 37. Vgl. auch die weiteren Nachweise in Fn. 908 (S. 303), die diese Frage als Vorfrage der Einstufung als präventives Verbot und negatives Tatbestandsmerkmal ebenso beantworten müssen. 911 Feldmann, Strafbarkeit, S. 191 f.; Mintas, Glücksspiele, S. 230 f.; Voßkuhle/ Bumke, Sportwette, S. 37. 912 Vgl. zu diesem Streitstand die Übersichten bei Feldmann, Strafbarkeit, S. 37 ff.; Krehl, in: LK, Vor § 284 Rn. 6. 913 Zu dieser Auffassung Feldmann, Strafbarkeit, S. 42 ff. m.w. N. 914 So bspw. Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 16; Mintas, Glücksspiele, S. 229 f. 915 Bspw.: BGHSt 11, 209 (210); RGSt 65, 194 (195); BayObLG NJW 1993, 2820 (2821); Fischer, § 284 Rn. 2 f. m.w. N.; Lackner/Kühl, § 284 Rn. 1 m.w. N.; Mintas, Glücksspiele, S. 230 f.; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 16; vgl. Feldmann, Strafbarkeit, S. 40 Fn. 74 m.w. N. 916 BVerfGE 115, 276 (301). 917 So Feldmann, Strafbarkeit, S. 192, entsprechend der Rechtsgutsbestimmung der genannten Literaturauffassung. 918 So Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 17; Mintas, Glücksspiele, S. 230 f., entsprechend der Rechtsgutsbestimmung der herrschenden Meinung.

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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trolle solle diesen Gefahren vorgebeugt werden. Das Genehmigungserfordernis sei somit wesentliches Mittel des angestrebten Rechtsgutschutzes.919 Auch die Abgrenzung nach der Deliktsnatur – das zweite von Feldmann zur Abgrenzung verwendete Kriterium – führe zu diesem Ergebnis: § 284 StGB verlange keine konkreten (Vermögens-)Gefahren oder gar Verletzungen, sondern schütze vielmehr vor abstrakten Gefahren.920 Auch diese Erkenntnis ist unabhängig von der vertretenen Auffassung zum Rechtsgut der Norm.921 Aus der Einordung als präventives Verbot leitet Feldmann Konsequenzen für die hier interessierende Frage ab: Diese Einordnung bedingt seiner Auffassung nach die Relevanz der Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts für die Strafnorm. Denn ohne das verfassungswidrige Erlaubnisrecht enthalte die Strafnorm kein eigenständiges Verbot mehr, an das die Strafbarkeit anknüpfen könnte. Beruhe das Fehlen der Erlaubnis auf verfassungswidrigem Recht, so sei die Bestrafung eines Handelns ohne Erlaubnis deswegen ebenfalls verfassungswidrig.922 (b) Die grundlegenden Prinzipien des Strafrechts Ebenso wie im Rahmen des § 370 AO923 führt die Literatur mit dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Bestimmtheitsgrundsatz grundlegende Prinzipien des Strafrechts gegen die Strafbarkeit an. (aa) Das Gesetzlichkeitsprinzip Teilen der Literatur zufolge schließt das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) eine Verurteilung auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung aus. Nach gesichertem rechtsstaatlichen Standard könne sich Strafe nur auf ein Parlamentsgesetz und nicht auf einen – wenn auch gesetzeskräftigen (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) – Richterspruch gründen.924

919 Argumentation von Feldmann, Strafbarkeit, S. 191 f.; ähnlich Mintas, Glücksspiele, S. 230 f. 920 Feldmann, Strafbarkeit, S. 192. 921 Feldmann, Strafbarkeit, S. 46 Fn. 107 m.w. N. Auf Basis der jeweiligen Auffassung zum Rechtsgut: Feldmann, Strafbarkeit, S. 191 f.; Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 17. 922 Feldmann, Strafbarkeit, S. 206 f. 923 Vgl. zu Bestimmtheitsgrundsatz und Gesetzlichkeitsprinzip im Rahmen des § 370 AO oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(bb) (S. 254). 924 Kretschmer, ZfWG 2006, 52 (59) unter Verweis auf BVerfGE 78, 374 (382); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rn. 183; vgl. auch Arendts, ZfWG 2007, 457 (459).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

(bb) Fehlende Bestimmtheit In Übereinstimmung mit Teilen der Rechtsprechung nimmt eine Literaturansicht wegen des Maßgabevorbehalts925 in der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB an.926 Anders als die Gegenansicht927 gehen die betreffenden Stimmen der Literatur inzident davon aus, dass die Herstellung der Konsistenz zwischen Zielen und Ausgestaltung des Sportwettenmonopols Bedingung für die Weitergeltung der verfassungswidrigen Rechtslage ist.928 Begründet wird dies auch mit der Altfälle-Entscheidung des Bundesgerichtshofs929: Zwar spreche sie ausdrücklich lediglich Altfälle an. Aus der Begründung dieser Entscheidung wird jedoch abgeleitet, dass eine Bestrafung jedenfalls solange ausscheidet, wie die Vorgaben nicht erfüllt sind, unter denen das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung der verfassungswidrigen Normen erlaubt hat.930 Ob die Vorgaben zur Herstellung der Konsistenz erfüllt sind, sei nicht in dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechender Weise zu ermitteln: Die im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot geltende Grenze des rechtsstaatlich Hinnehmbaren sei überschritten „wenn die Anwendung eines Straftatbestandes davon abhängt, ob überhaupt und gegebenenfalls wie ein Dritter, auf dessen Verhalten weder die Staatsanwaltschaften noch die Gerichte oder gar der private Veranstalter oder Vermittler der Sportwette Einfluss haben, Werbung betreibt oder nicht.“ 931

Zwar sei weder die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen noch das Anknüpfen an Vorfragen aus anderen Rechtsgebieten hinsichtlich des Bestimmtheitsgebotes per se bedenklich. Die Bestimmung der Reichweite eines Tatbestands und die Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter diesen könne mit den anerkannten Auslegungsmethoden der Rechtswissenschaft vorgenommen werden. Hierzu bestehe aber ein gewichtiger Unterschied, wenn die Geltung eines Straftatbestands vom Verhalten eines Dritten abhängig gemacht werde. Eine Konkretisierung durch Auslegung vermöge die Justiz zu leisten. Die Anknüpfung an ein außerrechtliches Verhalten eines Dritten hingegen sprenge die Grenze des Hin-

925

Dazu oben S. 192. Die überzeugendste und grundlegende Darstellung dieser Ansicht stammt von Widmaier, Gutachten, S. 6 ff.; vgl. ferner Feldmann, Strafbarkeit, S. 215 f.; Heine/ Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 2; Horn, JZ 2006, 789 (793); grundsätzlich auch Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b. 927 Dazu oben C.II.2.c)aa)(2)(b)(bb) (S. 298). 928 Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b; vgl. Widmaier, Gutachten, S. 6. 929 BGH NJW 2007, 3078, zu dieser Entscheidung oben C.II.2.a)cc) (S. 275) sowie noch unten C.II.2.d)cc)(1) (S. 310). 930 Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b. 931 Widmaier, Gutachten, S. 7; vgl. auch Siara, ZfWG 2007, 1 (4). 926

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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nehmbaren und gebe die Rechtsanwendung im besonders grundrechtssensiblen Bereich des Strafrechts der Beliebigkeit preis.932 Genau dazu führe aber der Maßgabevorbehalt in Verbindung mit § 284 StGB: Staatsanwaltschaft und Gerichte hätten zu prüfen, ob die Vorgaben der Sportwettenentscheidung eingehalten wurden. Dabei sei insbesondere zu prüfen, ob durch den staatlichen Anbieter Oddset eine offensive, auf Umsatzsteigerung ausgerichtete Werbung betrieben werde, ob dessen Angebot konsequent an der Bekämpfung der Wettsucht und -leidenschaft ausgerichtet sei und ob aktiv über die Gefahren des Wettens aufgeklärt werde. Eine derartige Prüfung sei mit den rechtsstaatlichen Prinzipien des Strafrechts nicht zu vereinbaren.933 Da die Strafbarkeit vom Verhalten der staatlichen Sportwettenveranstalter abhinge, wachse durch den Maßgabevorbehalt eine mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbare Unbestimmtheit in den Tatbestand des § 284 StGB hinein.934 (c) Dogmatische Verortung: Teleologische Reduktion Bislang wurde noch nicht erörtert, wo die Problematik überhaupt dogmatisch verortet wird und auf welcher Ebene die angemeldeten Bedenken relevant werden. Eine Literaturansicht verortet die Problematik dogmatisch im objektiven Tatbestand auf der Ebene des Merkmals „ohne behördliche Erlaubnis.“ Hier sei im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung eine teleologische Reduktion geboten: Das Merkmal sei zu lesen als „ohne erforderliche behördliche Erlaubnis“.935 Die Erforderlichkeit der Erlaubnis kann sich nach dieser Ansicht nur aus dem Landeserlaubnisrecht ergeben. Damit setzt der Tatbestand die Existenz des Erlaubnisrechts voraus. Wenn das Erlaubnisrecht verfassungswidrig und daher – strafrechtlich wegen der genannten Argumente – unbeachtlich sei, so sei die Erlaubnis nicht mehr erforderlich i. S. d. § 284 StGB. Damit wird der objektive Tatbestand durch das fragliche Verhalten nicht mehr erfüllt.936 d) Stellungnahme zur Sonderproblematik der strafrechtlichen Konsequenzen des Maßgabevorbehalts Bei der Zusammenfassung der Ansichten der Rechtsprechung und Literatur wurde deutlich, dass – im Gegensatz zu der vorher besprochenen Frage der Steu932 933 934

Widmaier, Gutachten, S. 8 f. Widmaier, Gutachten, S. 8; vgl. auch Siara, ZfWG 2007, 1 (4). Feldmann, Strafbarkeit, S. 216; Horn, JZ 2006, 789 (793); Widmaier, Gutachten,

S. 8. 935 Feldmann, Strafbarkeit, S. 216; Horn, JZ 2006, 789 (793); vgl. zu dieser Auslegungsmöglichkeit bei der verwandten Problematik des gänzlichen Fehlens des Landeserlaubnisrechts bereits Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 39, 67 f.; Feldmann, Strafbarkeit, S. 193 m.w. N.; Wrage, NStZ 2001, 256 (257). 936 Feldmann, Strafbarkeit, S. 216.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

erhinterziehung – bei § 284 StGB eine Sonderproblematik existiert: Die Frage, wie sich der Maßgabevorbehalt der Sportwettenentscheidung strafrechtlich auswirkt. Diese Frage ist in den Besonderheiten der Sportwettenentscheidung verwurzelt und hat zunächst keine Konsequenzen hinsichtlich der Frage, ob der Weitergeltungsanordnung grundsätzlich strafrechtliche Wirkung beizumessen ist. Hierzu wird daher bereits an dieser Stelle gesondert Stellung genommen. Die verallgemeinerungsfähigen Argumentationsmuster werden im Rahmen einer späteren Untersuchung gewürdigt.937 aa) Die vertretenen Ansichten Bezüglich des Maßgabevorbehalts wird ein Vorwurf erhoben: Es sei für den Betroffenen nicht bzw. nicht in zumutbarer Art und Weise möglich vorherzusehen, ob ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft einerseits und der tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits hergestellt wurde und er sich deshalb beim Handeln ohne Erlaubnis strafbar macht. Teile der Rechtsprechung und Literatur gehen davon aus, dass der Maßgabevorbehalt zur Unbestimmtheit i. S. d. Art. 103 Abs. 2, § 1 StGB führt.938 Andere Teile der Rechtsprechung wiederum verorten diesen Einwand im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Ein Verstoß gegen unzumutbare Verhaltensanforderungen kann nach dieser Ansicht nicht strafbar sein.939 Zunächst sind im Folgenden zwei Voraussetzungen dafür zu erörtern, dass der Maßgabevorbehalt überhaupt eine Rolle für die Strafbarkeit spielen kann. Bedenken können nur dann bestehen, wenn der Maßgabevorbehalt im Sinne einer Bedingung für die Wirksamkeit des Sportwettenrechts zu verstehen ist [bb)]. Danach ist zu entscheiden, ob verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich des Erlaubnisausgestaltungsrechts auf den Tatbestand des § 284 StGB durchschlagen [cc)]. Sodann muss erwogen werden, auf welcher Ebene das Ergebnis dogmatisch umzusetzen ist [dd)]. Zuletzt ist zu würdigen, ob und unter welchen Voraussetzungen tatsächlich von einer fehlenden Bestimmtheit i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG auszugehen ist [ee)]. 937

Dazu unten im Abschnitt D. (S. 322). OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 30.09.2008, 1 Ws 152/07, Rn. 9, zitiert nach juris; NStZ-RR 2008, 372 (373), zu beiden Entscheidungen oben C.II.2.b)ee) (S. 284); vgl. auch KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 15, zitiert nach juris, allerdings unter dem Blickwinkel des Gesetzlichkeitsprinzips, dazu oben C.II.2.b)ff)(3) (S. 287); Widmaier, Gutachten, S. 6 ff.; Feldmann, Strafbarkeit, S. 215 f.; Heine/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 284 Rn. 2; Horn, JZ 2006, 789 (793); grundsätzlich auch Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b, dazu oben C.II.2.c)bb)(2)(b)(bb) (S. 306). 939 OLG München NJW 2008, 3151 (3153), dazu oben C.II.2.b)cc) (S. 279); KG Berlin, Urteil v. 23.07.2009, (2) 1 Ss 541/08 (11/09), Rn. 14, zitiert nach juris, dazu oben C.II.2.b)ff)(2) (S. 286). 938

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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bb) Herstellung von Konsistenz als Bedingung der Weitergeltung? Diejenigen Stimmen, die die fehlende Bestimmtheit bzw. Zumutbarkeit mit dem Maßgabevorbehalt der Weitergeltungsanordnung begründen, müssen die Herstellung der Konsistenz zugleich als Bedingung der Weitergeltung und damit der Strafbarkeit ansehen. Hinge die Strafbarkeit nicht von der Erfüllung der Vorgaben des Maßgabevorbehalts ab, sondern bestünde sie ohnehin, so ergäben sich hinsichtlich der Bestimmtheit keine Bedenken. Die Bedingungseigenschaft wird von Befürwortern der Strafbarkeit mit dem Argument bestritten, dass das Bundesverfassungsgericht lediglich deklaratorisch die verfassungsrechtlich ohnehin bestehende Pflicht wiederholt und damit konkretisiert habe, einen verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen.940 Demnach gilt das Sportwettenrecht unabhängig davon fort, ob ein Mindestmaß an Konsistenz hergestellt ist. Damit entfallen alle Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit bzw. Zumutbarkeit. Diese Argumentation unterstellt dem Bundesverfassungsgericht Selbstverständliches in ungewöhnliche Worte zu fassen: Der Maßgabevorbehalt wird bei anderen Weitergeltungsanordnungen – bei der die generelle verfassungsrechtliche Bereinigungspflicht genauso besteht – nicht verwendet.941 Neben dieser Unterstellung handwerklich unsystematischen und damit unorthodoxen Arbeitens überdehnt diese Auslegung auch den Wortlaut der Anordnung selbst: „Bis zu einer Neuregelung darf das Staatslotteriegesetz nach Maßgabe der Gründe weiter angewandt werden.“ 942

Die betreffende Passage der Gründe lautet: „[Die bisherige Rechtslage bleibt] mit der Maßgabe anwendbar, dass der Freistaat Bayern unverzüglich ein Mindestmaß an Konsistenz [. . .] herzustellen hat.“ 943

Bereits die Weitergeltungsanordnung als solche beinhaltet die Aussage, dass die bisherige Rechtslage nur dann weiter angewendet werden durfte, wenn das erforderliche Mindestmaß hergestellt wurde.944 Die Verwaltungsgerichte prüften die Einhaltung des Maßgabevorbehalts dementsprechend als Voraussetzung der Weitergeltung der Landesgesetze.945 940

Zu dieser Argumentation oben C.II.2.c)aa)(2)(b)(bb) (S. 298). Bspw.: BVerfGE 120, 125 (126); 83, 130; 61, 319 (321); 33, 303 (305). 942 BVerfGE 115, 276 (277), Hervorhebungen durch den Verfasser. 943 BVerfGE 115, 276 (319). 944 Zum gleichen Zwischenergebnis gelangt auch Siara, ZfWG 2007, 1 (4), der allerdings im Ergebnis eine Selbstständigkeit der „Auflagen“ neben der Weitergeltungsanordnung befürwortet, zu dieser Ansicht oben C.II.2.c)aa)(2)(b)(bb) (S. 298). 945 Vgl. bspw. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 25.10.2006, OVG 1 S 90.06, Rn. 20 ff.; OVG Bremen, Beschluss v. 07.09.2006, 1 B 273/06, Rn. 26 ff., jeweils zitiert nach juris; OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1079). 941

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Diese konditionale Struktur der Weitergeltungsanordnung wurde durch das Bundesverfassungsgericht konsequenterweise in späteren Entscheidungen bestätigt. Damit wurden sämtliche anderslautenden Interpretationen seiner Anordnung in der Sportwettenentscheidung der Grundlage beraubt. Es hat im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde eines privaten Wettanbieters gegen die ordnungsrechtliche Untersagung seiner Vermittlertätigkeit festgestellt, dass die Möglichkeit, die entsprechenden Tätigkeiten – wegen der Weitergeltungsanordnung – weiterhin als verboten anzusehen und ordnungsrechtlich zu unterbinden, „textlich und inhaltlich im unmittelbaren Zusammenhang mit der [. . .] Maßgabe [steht], ,dass der Freistaat Bayern unverzüglich ein Mindestmaß an Konsistenz [. . .] herzustellen hat‘. Nur unter dieser Bedingung kann mithin ein Vermittlungsverbot als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen werden.“ 946

Als Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung der Normen an die Bedingung geknüpft hat, dass ein Mindestmaß an Konsistenz hergestellt wird. cc) Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts auf die Verfassungsmäßigkeit des § 284 StGB Darüber hinaus bleibt die Frage zu untersuchen, ob die Verfassungswidrigkeit des erlaubnisausgestaltenden Sportwettenrechts überhaupt auf den Tatbestand des § 284 StGB durchschlagen würde. Dazu sollen zunächst die vertretenen Ansichten zusammengefasst werden [sogleich (1)], um sie anschließend einer Würdigung zu unterziehen [(2)]. (1) Die vertretenen Ansichten Die Frage, ob verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich des Erlaubnisausgestaltungsrechts auf § 284 StGB durchschlagen, wird nicht einheitlich beantwortet. Eine Literaturansicht geht von einer strikten verfassungsrechtlichen Neutralität des § 284 StGB aus mit der Folge, dass die Strafbarkeit unabhängig davon besteht, ob das Landesverwaltungsrecht verfassungswidrig ist.947 Die Frage des Durchschlagens wird dagegen nicht nur von der landes- und oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung positiv beantwortet; diese stützt die Straflosigkeit weitgehend auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen die strafrechtliche Anwendbarkeit des verfassungswidrigen Sportwettenrechts und geht damit inzident von einem Durchschlagen auf den Tatbestand des § 284 StGB 946 BVerfG NVwZ 2008, 301 (303), Hervorhebung durch den Verfasser; ähnlich: BVerfG WM 2008, 375 („wenn [. . .] das dafür verfassungsgerichtlich geforderte Mindestmaß an Konsistenz [. . .] hergestellt ist“, Hervorhebung durch den Verfasser); vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 27.12.2007, 1 BvR 2578/07, Rn. 2, zitiert nach juris. 947 Zu dieser Argumentation oben C.II.2.c)aa)(2)(a) (S. 294).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

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aus.948 Auch Teile der Literatur sind dieser Auffassung, wobei dies mit der Struktur der Verwaltungsakzessorietät begründet wird.949 Zudem hat sich der Bundesgerichtshof in seiner Altfälle-Entscheidung950 zu dieser Frage geäußert: „Dass die Frage der Strafbarkeit nicht losgelöst von der verfassungsrechtlichen Beurteilung der landesrechtlichen Gesamtregelung des Sportwettenrechts zu beantworten ist, folgt aus der verwaltungsakzessorischen Natur des § 284 StGB [. . .]. Davon ausgehend, ist deshalb derjenige Anbieter von Sportwetten, der in der Vergangenheit [. . .] nicht zunächst den Verwaltungsrechtsweg beschritten hat, um eine behördliche Erlaubnis i. S. von § 284 StGB zu beantragen [. . .], nicht nach dieser Strafvorschrift strafbar, wenn die fehlende Erlaubnis auf einem Rechtszustand beruht, der seinerseits die Rechte des Betreibers von Glücksspielen in verfassungswidriger Weise verletzt.“ 951

In dieser Entscheidung geht das Gericht eindeutig davon aus, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich des erlaubnisausgestaltenden Landesrechts auf die Beurteilung der Strafbarkeit auf Grundlage eines verwaltungsakzessorischen Tatbestands durchschlagen – freilich ohne nähere Begründung. Trotz gegenteiliger Literaturstimmen 952 lässt sich somit feststellen, dass die herrschende Meinung von einem Durchschlagen ausgeht und die verfassungsrechtliche Neutralität der Vorschrift ablehnt. (2) Würdigung Dies gilt es einer dogmatischen Würdigung zu unterziehen. (a) Verwobenheit von Straf- und Erlaubnisausgestaltungsrecht Die These von einer absoluten verfassungsrechtlichen Neutralität des § 284 StGB953 verkennt, dass eine beträchtliche inhaltliche und systematische Verwobenheit zwischen dem erlaubnisausgestaltenden Landesrecht und § 284 StGB besteht. Zwar ergab sich das Sportwettenmonopol wegen der Erlaubnis für den Staat und der Versagung einer Genehmigungsmöglichkeit für Private mittelbar aus dem Staatslotteriegesetz Bayerns und dem Lotteriestaatsvertrag.954 Das einschlägige Landesrecht enthielt jedoch kein eigenständiges, ausdrückliches Verbot privater Veranstaltung oder Vermittlung von Sportwetten.955 948 949 950 951 952 953 954 955

Dazu oben C.II.2.b) (S. 276). Dazu C.II.2.c)bb)(2)(a) (S. 301). Zu dieser Entscheidung bereits oben C.II.2.a)cc) (S. 275). BGH NJW 2007, 3078 (3081). Dazu oben C.II.2.c)aa)(2) (S. 293). Ebenda. Zu diesem Regelungssystem oben S. 188. BayVGH GewArch 2001, 65 (66).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

Daher waren ordnungsrechtliche Verbote der Veranstaltung von Sportwetten nur auf Grundlage von § 284 StGB möglich; der einschlägige ordnungsrechtliche Untersagungstatbestand setzte das Eingreifen von § 284 StGB voraus.956 Ohne § 284 StGB bestand somit kein durchsetzbares Monopol. Entsprechend erwähnt auch das Bundesverfassungsgericht § 284 StGB in der Sportwettenentscheidung als wesentlichen Teil der Monopolgesamtregelung.957 Es spricht sogar explizit davon, dass das Erlaubnisrecht „vor dem Hintergrund des § 284 StGB“ mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar sei.958 Angesichts dieser inhaltlichen und systematischen Verwobenheit von einer strikten Trennbarkeit der beiden Regelungsbereiche auszugehen, überzeugt nicht. Bereits diese systematische Verwobenheit spricht vielmehr gegen eine strikte verfassungsrechtliche Neutralität der Vorschrift. (b) § 284 StGB enthält präventives Verbot Über diesen systematischen Aspekt hinaus ist der Argumentation der überwiegenden Literatur, § 284 StGB enthalte ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt959, zuzustimmen. Sie betont zu Recht, dass der Unwertgehalt des in § 284 StGB umschriebenen Verhaltens gerade aus dem Handeln ohne Genehmigung resultiert: Ohne das Tatbestandsmerkmal des Handelns ohne Erlaubnis bleibt kein die Strafbarkeit rechtfertigender Unrechtssachverhalt mehr. In einem modernen, liberalen Staatsverständnis lässt sich das Anbieten von Sportwetten und das damit verbundene freiwillige Einsetzen von Geld zu Wettzwecken durch mündige Bürger nicht als per se sozialschädliches, unerwünschtes und daher zu missbilligendes Verhalten begreifen.960 Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der Sportwettenentscheidung ausdrücklich festgestellt, dass das Anbieten von Sportwetten nicht per se sozial- und gemeinschaftsschädlich ist.961 956 In Bayern war bspw. Art. 7 Abs. 2 BayLStVG i. d. F. v. 13.12.1982, BayRS 20112-1 einschlägig. Dieser lautete: „(1) Anordnungen und sonstige Maßnahmen, die in Rechte anderer eingreifen, dürfen nur getroffen werden, wenn die Sicherheitsbehörden durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes dazu besonders ermächtigt sind. (2) Soweit eine solche gesetzliche Ermächtigung nicht in Vorschriften dieses Gesetzes oder in anderen Rechtsvorschriften enthalten ist, können die Sicherheitsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen nur treffen, um 1. rechtswidrige Taten, die den Tatbestand eines Strafgesetzes oder einer Ordnungswidrigkeit verwirklichen [. . .] zu verhüten oder zu unterbinden . . .“ Hervorhebung durch den Verfasser. Vgl. dazu: BVerwGE 126, 149 (151 Rn. 32); Siara, ZfWG 2007, 1 (3), mit weiteren Beispielen aus anderen Bundesländern. 957 Dazu oben C.I.2. (S. 188). 958 Dazu oben S. 190 sowie nochmals BVerfGE 115, 276 (300). 959 Dazu im Einzelnen oben C.II.2.c)bb)(2)(a)(cc)(b) (S. 303). 960 Zu dieser Argumentation ebenda. 961 BVerfGE 115, 276 (301): „Vielmehr kommt die Begrenzung des Schutzbereichs von Art. 12 Abs. 1 GG in dem Sinne, dass dessen Gewährleistung von vornherein nur

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

313

Damit besteht bereits auf Ebene des Tatbestands des § 284 StGB ein starker Bezug zum Erlaubnisausgestaltungsrecht. Bestimmt das Merkmal der fehlenden Erlaubnis den Unwertgehalt eines Verhaltens, so entfällt dieser bei Verfassungswidrigkeit des Erlaubnisausgestaltungsrechts. (c) Zwischenergebnis Somit sprechen die besseren Argumente gegen die Auffassung von der strikten verfassungsrechtlichen Neutralität des § 284 StGB. Es ist davon auszugehen, das verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Erlaubnisausgestaltungsrecht auf den Straftatbestand des § 284 StGB durchschlagen. dd) Umsetzung: Verfassungskonforme Auslegung Nun ist auf die Frage einzugehen, wie dieser Erkenntnis Rechnung getragen werden kann und auf welcher dogmatischen Ebene verfassungsrechtliche Bedenken anzubringen sind. Dazu wird zunächst die Lösung der Rechtsprechung vorgestellt [sogleich (1)], um anschließend eine Würdigung vorzunehmen [(2)]. (1) Die Ansicht der Rechtsprechung Letztlich begründet die herrschende Rechtsprechung die Straflosigkeit damit, dass der Maßgabevorbehalt die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit des Verhaltens entfallen lässt – materiell ein Einwand, der der Tatbestandsbestimmtheit zugeordnet werden muss. Aus diesem Einwand ziehen die Gerichte allerdings unterschiedliche dogmatische Konsequenzen: Teilweise wird davon ausgegangen, dass der Tatbestand unbestimmt sei. Der Einwand der fehlenden Bestimmtheit setzt aber eine Auseinandersetzung mit der Tatbestandsstruktur der Verwaltungsakzessorietät voraus: Das Landesverwaltungsrecht muss hierzu überhaupt am strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zu messen sein. Zur Vermeidung dieser Auseinandersetzung wurde teilweise eine Flucht ins Verfassungsrecht angetreten, indem diesen Bedenken erst auf Ebene des Verhältnismäßigkeitsprinzips Rechnung getragen wird, das nach Ansicht einiger Gerichte der Strafbarkeit entgegensteht. Auch die dogmatische Verortung ist umstritten: Die herrschende Rechtsprechung sieht bereits den objektiven Tatbestand als nicht erfüllt

erlaubte Tätigkeiten umfasst [. . .], allenfalls hinsichtlich solcher Tätigkeiten in Betracht, die schon ihrem Wesen nach als verboten anzusehen sind, weil sie aufgrund ihrer Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit schlichthin nicht am Schutz durch das Grundrecht der Berufsfreiheit teilhaben können. Dies ist bei der gewerblichen Veranstaltung von Sportwetten durch private Wettunternehmen und der Vermittlung von Wetten, die nicht vom Freistaat Bayern veranstaltet werden, nicht der Fall . . .“.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

an, während das OLG München diesen Bedenken erst auf Ebene der Schuld Rechnung trägt.962 (2) Würdigung Aus dem direkten Wortlaut des § 284 StGB ergibt sich kein Einfallstor für verfassungsrechtliche Bedenken: Danach ist nicht einmal die Existenz einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnisausgestaltungsregelung Voraussetzung der Strafbarkeit, geschweige denn die Existenz einer verfassungsgemäßen. Ein solches Einfallstor ist aber – wie soeben dargestellt963 – erforderlich. § 284 StGB – hier ist der entsprechenden Literaturansicht964 zu folgen – ist verfassungskonform auszulegen. Demnach muss die Erlaubnis verwaltungsrechtlich „erforderlich“ sein, damit eine Strafbarkeit in Betracht kommt. (a) Argumente aus dem Problemkreis der Strafbarkeit in der Übergangszeit Hierfür spricht systematisch, dass das Problem der Strafbarkeit in der Übergangszeit an das Tatbestandsmerkmal der „Erlaubnis“ geknüpft wird, welches die Verbindung zum verfassungswidrigen Verwaltungsrecht überhaupt erst herstellt. Zudem ist bei einer aus verfassungsrechtlichen Gründen gebotenen Straflosigkeit – von einer solchen geht die herrschenden Meinung aus – eine verfassungskonforme Auslegung das naheliegende dogmatische Mittel.965 Diese lässt sich auch widerspruchsfrei mit der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts vereinbaren, dass § 284 StGB selbst verfassungskonform ist.966 Dieser Lösungsweg ist zudem präziser als jene Stimmen der Rechtsprechung, die das Problem zwar auf Tatbestandsebene verorten, ohne dabei jedoch anzugeben, an welcher Stelle genau und auf welchem Wege der Tatbestand ausgeschlossen wird. Auch ist sie dogmatisch stringenter als die Schuldlösung des OLG München mit einem prozessualen Bestrafungsverbot. Somit sprechen bereits die besseren Argumente aus dem Problemkreis der Strafbarkeit in der Übergangszeit dafür, das Problem am objektiven Tatbestandsmerkmal der „Erforderlichkeit“ zu diskutieren. Damit ist die 962 Vgl. die Zusammenfassung der Argumentation der Strafgerichte unter C.II.2. b)gg) (S. 288) und die dortigen Nachweise. 963 Dafür sprechen die Verflechtungen zwischen Straf- und Ordnungsrecht sowie die Einordung als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, vgl. soeben C.II.2.d)cc)(2)(a) (S. 311). 964 Feldmann, Strafbarkeit, S. 216; Horn, JZ 2006, 789 (793); vgl. zu dieser Auslegungsmöglichkeit bei der verwandten Problematik des gänzlichen Fehlens des Erlaubnisrechts bereits Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 39, 67 f.; Feldmann, Strafbarkeit, S. 193 m.w. N.; Wrage, NStZ 2001, 256 (257). Dazu oben C.II.2.c)bb)(2)(c) (S. 307). 965 Feldmann, Strafbarkeit, S. 217. 966 Dazu m. N. oben C.I.2.b)bb) (S. 196).

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

315

Frage, ob eine Strafbarkeit in der Übergangszeit grundsätzlich gegeben ist, auch noch nicht präjudiziert. (b) Hauptgrund: Strafrechtliche Behandlung einer fehlenden landesrechtlichen Regelung Das entscheidende, aus der Kompetenzordnung abgeleitete Argument für die verfassungskonforme Auslegung jedoch stammt von Voßkuhle und Bumke. Seinen Ursprung hat es in der strafrechtlichen Behandlung eines anderen, verwandten Problems: Der Frage, ob das Veranstalten eine Glücksspiels ohne Erlaubnis auch dann gemäß § 284 StGB strafbar ist, wenn der Landesgesetzgeber schlicht keine Regelung zur Erlaubnis eines bestimmten Verhaltens getroffen hat. Die beiden Autoren sind der Auffassung, dass eine Strafbarkeit entfalle, weil in diesem Fall die Erlaubnis nicht „erforderlich“ sei. Dieses Tatbestandsmerkmal müsse aber in verfassungskonformer Auslegung in § 284 StGB hineingelesen werden. Der Strafgesetzgeber nämlich habe mit dem verwaltungsakzessorischen Tatbestand des § 284 StGB die Verantwortung für de Regelung des Glücksspiels den jeweiligen Sachgesetzgebern übertragen wollen. Der Sachgesetzgeber habe es demnach in der Hand, die näheren Voraussetzungen des Glücksspiels zu regeln. Dieser habe dabei mehrere Möglichkeiten, die von einer grundsätzlichen Erlaubnis über Genehmigungsvorbehalte bis zu einem vollständigen Verbot bestimmter Glücksspielformen reichen würden. Dem Bundesgesetzgeber sei es schon aus kompetenzrechtlichen Gründen verwehrt, dem Landesgesetzgeber vorzuschreiben, wie er eine Materie zu regeln habe. Dem Landesgesetzgeber müsse es daher überlassen sein, auf eine Regel vollständig zu verzichten, ohne dass automatisch ein generelles Glücksspielverbot bestehe. „Mit den §§ 284, 287 StGB sollte dem Gesetzgeber keine Handlungspflicht auferlegt, sondern die Nichtbeachtung verwaltungsrechtlicher Genehmigungsvorbehalte sollte strafrechtlich sanktioniert werden“.967

(c) Zwischenergebnis Das Merkmal „ohne behördliche Erlaubnis“ ist wegen der genannten Argumente als „ohne die erforderliche behördliche Erlaubnis“ zu lesen. Die Strafbarkeit des Verhaltens ist nur dann gegeben, wenn der Landesgesetzgeber bestimmt hat, dass ein Verhalten der Erlaubnis bedarf. Die Strafnorm hat nach diesem Verständnis die Aufgabe, die Entscheidung des Landesgesetzgebers, ein bestimmtes Verhalten zu verbieten, strafrechtlich abzusichern. Deswegen ist die „Erforderlichkeit“ i. S. d. § 284 StGB erst recht zu bejahen, wenn das Landesrecht das Verhalten nicht lediglich mittels eines Erlaubniserfordernisses verbietet, sondern 967

Voßkuhle/Bumke, Sportwette, S. 39 m. N.

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

sogar – wie es in Bayern der Fall war968 – zumindest mittelbar ein generelles Verbot privater Veranstaltung enthält. Dieses Verständnis ist mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass § 284 StGB an sich verfassungsgemäß ist und der Verstoß gegen Art. 12 GG aus dem Landesrecht herrührt,969 vereinbar. Über das Merkmal der Erforderlichkeit ist sichergestellt, dass § 284 StGB als solcher verfassungsgemäß ist und bleibt. Zum anderen bietet das Merkmal ein dogmatisches Einfallstor für verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Landesrecht. ee) Die Frage der Bestimmtheit gemäß Art. 103 Abs. 2 GG Es wurde somit festgestellt, dass die Herstellung eines Mindestmaßes an Konsistenz Bedingung für die Fortgeltung des Landesrechts ist. Darüber hinaus ist die These einer strikten verfassungsrechtlichen Neutralität des § 284 StGB abzulehnen, evtl. bestehende verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Sportwettenrecht schlagen auf den Tatbestand des § 284 StGB durch: Die Erlaubnis muss „erforderlich“ sein. Verfassungsrechtliche Bedenken könnten sich in strafrechtlicher Hinsicht wegen des Maßgabevorbehalts insbesondere aus Art. 103 Abs. 2 GG ergeben. Es bleibt zu untersuchen, ob Art. 103 Abs. 2 GG überhaupt auf das durch das Merkmal der „erforderlichen Erlaubnis“ in Bezug genommene Landesrecht anwendbar ist [sogleich (1)]. Ebenso muss der Frage nachgegangen werden, ob Strafgerichte über die Frage der Bestimmtheit entscheiden dürfen [(2)]. Zuletzt ist zu prüfen, ob der Maßgabevorbehalt zu einer Unbestimmtheit i. S. d. Art. 103 Abs. 2, § 1 StGB führt [(3)]. (1) Geltungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes Zunächst ist also die Frage zu klären, ob der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz überhaupt auf das in Bezug genommene Landesverwaltungsrecht anzuwenden ist. Die Antwort liefert ein Blick auf jene Vorschriften, die ausdrücklich eine „erforderliche Genehmigung“ verlangen, bspw. §§ 327, 328 StGB. Die Genehmigung wirkt dort – wie nach vorzugswürdiger Auffassung auch bei § 284 StGB970 – tatbestandsausschließend.971 Dieses Merkmal wird dort herrschend als Blankettmerkmal angesehen. Daraus folgt, dass die in Bezug genommenen Vorschriften – zu denen hier auch die Weitergeltungsanordnung gehört – vollum968

Dazu oben C.I.2.a (S. 188). Dazu oben S. 196. 970 Dazu soeben C.II.2.d)cc)(2)(b) (S. 312). 971 Saliger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 327 Rn. 1 (unter Verweis auf die allgemeine Meinung), 6; § Schall, in: SK, Vorbem. vor §§ 324 ff. Rn. 60; Lackner/ Kühl, § 327 Rn. 2; Ransiek, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 327 Rn. 9. 969

II. Die Frage der Strafbarkeit in Rechtsprechung und Literatur

317

fänglich an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen sind.972 Selbst wenn man diese Einordnung als Blankettmerkmal nicht teilen sollte, so folgt daraus nicht zwingend, dass das Erlaubnisausgestaltungsrecht nicht an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen ist.973 (2) Prüfungskompetenz der Strafgerichte Grundsätzlich haben Strafgerichte wegen des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts – soweit sie zur Überzeugung gelangen, eine Norm verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG – die Norm dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen. Hier ist jedoch deswegen eine Ausnahme zu machen, weil das Bundesverfassungsgericht die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung in der Sportwettenentscheidung den Strafgerichten zur Entscheidung überlassen hat: Es hat ausdrücklich angeordnet, dass es der Entscheidung der Strafgerichte unterliegt, ob in der Übergangszeit eine Strafbarkeit gemäß § 284 StGB gegeben ist.974 Zu dieser Frage gehört auch das Problem der Bestimmtheit des Erlaubnisausgestaltungsrechts auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung. Deswegen dürfen die Strafgerichte hier das Verwaltungsrecht strafrechtlich ignorieren, sofern sie zu der Überzeugung kommen, dass es – auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung – unbestimmt ist.975 (3) Bestimmtheit des Maßgabevorbehalts Zu beantworten bleibt die Frage, ob das Landeserlaubnisrecht und damit § 284 StGB durch den Maßgabevorbehalt in Bezug auf Sportwetten unbestimmt i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG wurde. Ist dies der Fall, so entfällt mangels „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis der objektive Tatbestand des § 284 StGB. Die Erlaubnis ist nämlich nur dann erforderlich, wenn sich dies aus dem Landesrecht ergibt. Die Erforderlichkeit i. S. d. § 284 StGB ist erst recht zu bejahen, wenn das Landesrecht nicht nur einen Genehmigungsvorbehalt, sondern sogar – wie in Bayern – 972 Eindeutig BVerfGE 75, 329 (342 ff., insbes. 344 f.) zum Merkmal „erforderliche Genehmigung“ des § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB; Schmitz, in: MüKo-StGB, Vor §§ 324 ff. Rn. 44 f.; Otto, Jura 1991, 308 (310 f.); vgl. Saliger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, Vor §§ 324 ff. Rn. 15. Vgl. zu der Reichweite des Art. 103 Abs. 2 GG bei Blankettmerkmalen bereits oben C.II.1.a)aa)(2)(a) (S. 204). 973 Das Bundesverfassungsgericht misst in Bezug genommene Normen zum Teil unabhängig vom Blankettcharakter an Art. 103 Abs. 2 GG, dazu oben C.II.1.a)aa)(2)(a) (S. 204). 974 BVerfGE 115, 276 (319), dazu oben S. 192. 975 Die Strafgerichte sind in den oben dargestellten Entscheidungen zu § 284 StGB bei verfassungsrechtlichen Bedenken somit zutreffenderweise so vorgegangen, ohne die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen: Sei es, dass sie von der Unbestimmtheit überzeugt waren, oder einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, das Willkürverbot oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip gegeben sahen, vgl. die Zusammenfassung oben unter C.II.2.b)gg) (S. 288).

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C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

zumindest mittelbar ein generelles Verbot enthält.976 Das die Erforderlichkeit regelnde Landesrecht gilt jedoch nur weiter, wenn ein Mindestmaß an Konsistenz hergestellt ist. Die Weitergeltungsanordnung ist Teil des Erlaubnisausgestaltungsrechts und am Bestimmtheitsgrundsatz zu messen. Ob ein Mindestmaß an Konsistenz hergestellt ist, hängt vom tatsächlichen Verhalten der staatlichen Wettanbieter ab und ist für den Betroffenen – insoweit ist den entsprechenden Stimmen der Rechtsprechung und Literatur vollumfänglich zuzustimmen977 – grundsätzlich nicht in zumutbarer Weise zu ermitteln. Das Verwaltungsrecht ist wegen des Maßgabevorbehalts unbestimmt i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG. Durch den Maßgabevorbehalt ist in § 284 StGB – im Anwendungsbereich der Sportwetten – also grundsätzlich Unbestimmtheit hineingewachsen. Es muss jedoch eine Ausnahme gemacht werden: Krehl betont zu Recht, dass die Ungewissheit über das Bestehen einer hinreichenden Konsistenz und damit über die Weitergeltung des Erlaubnisrechts dann entfällt, wenn ein Verwaltungsgericht festgestellt hat, dass in der für den jeweiligen Betroffenen geltenden Landesrechtsordnung die Konsistenz gegeben ist.978 Den Gegenstimmen in der Rechtsprechung, die argumentieren, diese Feststellung betreffe allein ordnungsrechtliche Aspekte und sei deswegen strafrechtlich unbeachtlich,979 ist zu widersprechen. Die Frage der Erforderlichkeit der Erlaubnis ist – dies ist Ausfluss der Verwaltungsakzessorietät – durch das Verwaltungsrecht zu beantworten. Dabei gilt Art. 103 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit § 284 StGB zwar – wie dargelegt – auch für das Verwaltungsrecht. Krehl führt jedoch zu Recht aus, dass es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt ist, dass Gerichte durch konkretisierende Auslegung zur Bestimmtheit einer Norm beitragen können.980 Wenn durch ein Verwaltungsgericht explizit festgestellt wurde, dass die Konsistenz gegeben ist, so ist auch vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG für jedermann ersichtlich, dass das Landesrecht gilt, eine Genehmigung erforderlich und das Verhalten daher strafbar ist. Die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rechtsprechung ist auch vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG zumutbar. Mit dem entsprechenden Urteil eines Verwaltungsgerichts ist somit auch die strafrechtliche Bestimmtheit gegeben. 976

Dazu oben C.II.2.d)dd)(2)(b) (S. 315). Zur Rechtsprechung oben C.II.2.b)cc)(2) (S. 280), C.II.2.b)ee) (S. 284), C.II.2.b) ff)(2) (S. 286), zur Literatur C.II.2.c)bb)(2)(b)(bb) (S. 306). 978 Vgl. Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es keine einander widersprechenden Entscheidungen von Verwaltungsgerichten zu einer bestimmten landesrechtlichen Regelung gibt. Gibt es solche, so kann die Regelung wiederum unbestimmt sein. 979 Vgl. dazu die Rechtsprechung in Fn. 977. 980 Krehl, in: LK, § 284 Rn. 6b m.w. N.; vgl. dazu auch BVerfGE 117, 71 (111 f.); 96, 68 (97 f.); Lackner/Kühl, § 1 Rn. 2; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 40; kritisch Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rn. 47. 977

III. Ergebnisse Abschnitt C.

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ff) Zwischenergebnis zum Maßgabevorbehalt Die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung scheidet grundsätzlich aus: Die Herstellung der Konsistenz war Bedingung für die Weitergeltung des Sportwettenrechts.981 Die These von der strikten verfassungsrechtlichen Neutralität der Strafnorm ist mit der herrschenden Meinung abzulehnen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Sportwettenrecht schlagen auf den Tatbestand des § 284 StGB durch.982 Der Tatbestand des § 284 StGB ist im Wege einer verfassungskonformen Auslegung so zu lesen, dass die Erlaubnis verwaltungsrechtlich „erforderlich“ sein muss.983 Erforderlich ist sie nur, wenn das Landesverwaltungsrecht gilt, was wiederum davon abhängt, ob ein Mindestmaß an Konsistenz hergestellt wurde. Das ist mit dem – auf das Sportwettenrecht wie auf die Weitergeltungsanordnung anwendbaren984 – strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz grundsätzlich nicht zu vereinbaren.985 Mangels „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis ist der objektive Tatbestand nicht erfüllt.986 Hinsichtlich der Bestimmtheit gilt etwas anderes nur dann, wenn ein Verwaltungsgericht bezüglich der für den Betroffenen geltenden Landesrechtsordnung festgestellt hat, dass das Mindestmaß an Konsistenz hergestellt wurde. Ab diesem Zeitpunkt ist der Tatbestand hinreichend bestimmt.987 Die verbleibenden, verallgemeinerbaren Argumente zur Strafbarkeit gemäß § 284 StGB werden im Abschnitt D. dieser Arbeit gewürdigt.988

III. Ergebnisse Abschnitt C.: Bestandsaufnahme Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und Strafrecht • Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung besitzt im Steuerrecht und damit im Steuerstrafrecht eine erhebliche praktische Relevanz.989 Doch – dies zeigt die Sportwettenentscheidung990 – ist ihre Bedeutung strafrechtlich keineswegs auf das Steuerstrafrecht begrenzt. Vielmehr kann diese Entschei-

981 982 983 984 985 986 987 988 989 990

Dazu oben C.II.2.d)bb) (S. 309). Dazu oben C.II.2.d)cc) (S. 310). Dazu oben C.II.2.d)dd) (S. 313). Dazu oben C.II.2.d)ee)(1) (S. 316). Dazu oben C.II.2.d)ee)(3) (S. 317). Dazu soeben C.II.2.d)ee)(2) (S. 317). Ebenda. Dazu sogleich Abschnitt D. (S. 322). Dazu oben C.I.1. (S. 149). Dazu oben C.I.2. (S. 188).

320

C. Die Unvereinbarerklärung und das Strafrecht

dungsvariante strafrechtlich überall dort praktisch relevant werden, wo außerstrafrechtliche Normen durch das Strafrecht in Bezug genommen991 werden. • Die Untersuchung der bisher vom Bundesverfassungsgericht erlassenen Entscheidungen mit strafrechtlicher Relevanz hat ergeben, dass sie sich nahtlos in die im verfassungsprozessrechtlichen Teil erarbeiteten dogmatischen Grundlagen992 einfügen; die Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung wurden sämtlich berechtigterweise ausgesprochen. • Die bislang in Rechtsprechung wie Literatur vertretenen Auffassungen zur Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen liefern ein uneinheitliches Bild: – Nach der fast einhelligen Rechtsprechung993 und dem kleineren Teil der Literatur994 ist die Hinterziehung einer Steuer, die auf einer für unvereinbar mit der Verfassung, aber weiter anwendbar erklärten Norm beruht, gemäß § 370 AO strafbar. – Im Laufe der Untersuchung hat sich herausgestellt, dass es im Rahmen des § 370 AO eine abgrenzbare Sonderproblematik gibt: Die Frage, ob im Falle der Vermögensteuer § 2 Abs. 3 StGB einschlägig ist.995 Dies wird von der herrschenden Auffassung verneint.996 Wäre § 2 Abs. 3 StGB einschlägig, so wäre die Hinterziehung der Vermögensteuer in jedem Fall straflos, selbst wenn man die grundsätzliche strafrechtliche Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung unterstellt.997 – § 2 Abs. 3 StGB ist jedoch – selbst unter dieser Prämisse – nicht anwendbar, da keine Gesetzesänderung im Sinne der Vorschrift gegeben ist und zudem das Vermögensteuergesetz Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB ist.998 Der herrschenden Auffassung ist insoweit Recht zu geben. Die Strafbarkeit scheitert also nicht an § 2 Abs. 3 StGB. Es bleibt allerdings zu erörtern, ob die Weitergeltungsanordnung überhaupt strafrechtliche Wirkungen entfaltet. – Ein anderes Bild ergibt sich bei § 284 StGB: Hier gehen die einhellige Rechtsprechung999 und ein Teil der Literatur1000 davon aus, dass eine Straf991 Dies kann über normative Tatbestandsmerkmale, Blankettmerkmale oder verwaltungsakzessorische Tatbestandsmerkmale geschehen. 992 Dazu zusammenfassend oben B.IV. (S. 146). 993 Dazu oben C.II.1.b) (S. 212) sowie die Zusammenfassung der Rechtsprechung unter C.II.1.b)jj) (S. 230). 994 Dazu oben C.II.1.c) (S. 232), zur Gegenauffassung C.II.1.c)cc) (S. 242). 995 Zum Meinungsstand oben C.II.1.c)dd) (S. 256). 996 Dazu zusammenfassend oben C.II.1.c)dd)(2) (S. 264). 997 Dazu oben C.II.1.c)dd)(2) (S. 264). 998 Dazu oben C.II.1.c)dd)(2)(b) (S. 265). 999 Dazu oben C.II.2.b) (S. 276) sowie die Zusammenfassung unter C.II.2.b)gg) (S. 288).

III. Ergebnisse Abschnitt C.

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barkeit in der Übergangszeit nicht in Betracht kommt. Begründet wird diese im Vergleich zur Rechtslage bei § 370 AO unterschiedliche Bewertung in der Rechtsprechung damit, dass das Bundesverfassungsgericht eine eingeschränkte Weitergeltungsanordnung ausgesprochen hat: Die Weitergeltungsanordnung sollte nur nach Maßgabe der Gründe gelten, worin das Bundesverfassungsgericht die ordnungsrechtliche Wirksamkeit des Landesrechts angeordnet, die Frage der Strafbarkeit dagegen ausdrücklich den Strafgerichten überlassen hat.1001 – Auch hier existiert eine abgrenzbare Sonderproblematik: Die Frage, wie sich der in der Sportwettenentscheidung ausgesprochene Maßgabevorbehalt strafrechtlich auswirkt. Danach sollte das Landessportwettenrecht nur dann weitergelten, wenn ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft einerseits und der tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits hergestellt wurde.1002 Hier hat die Untersuchung ergeben, dass der Maßgabevorbehalt bei strafrechtlicher Anwendung des Sportwettenrechts grundsätzlich1003 gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB verstößt.1004 Es bleiben allerdings – wie im Rahmen des § 370 AO – die Argumente zu würdigen, die unabhängig vom Maßgabevorbehalt für und gegen die grundsätzliche strafrechtliche Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung vorgetragen wurden.

1000

Dazu oben C.II.2.c)bb) (S. 298), zur Gegenauffassung C.II.2.c)aa) (S. 290). Dazu die Zusammenfassung der Rechtsprechung unter C.II.2.b)gg) (S. 288). 1002 Dazu oben S. 192. 1003 Etwas anderes gilt nur dann, wenn ein Verwaltungsgericht bezüglich der für den Betroffenen geltenden Landesrechtsordnung festgestellt hat, dass das Mindestmaß an Konsistenz hergestellt wurde. 1004 Dazu oben C.II.2.d) (S. 307) sowie die Zusammenfassung soeben unter C.II.2. d)ff) (S. 319). 1001

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung Im Rahmen der Bestandsaufnahme im Abschnitt C. dieser Arbeit wurde der Status quo in Rechtsprechung und Literatur zu der Frage der Strafbarkeit auf der Grundlage mit der Verfassung unvereinbarer, aber weiter anwendbarer Normen ermittelt. Es bleibt die für diese Arbeit maßgebliche Frage zu analysieren, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Weitergeltungsanordnung auch strafrechtlich wirksam ist. Dabei gilt es einerseits die soeben dargestellte Argumentation der Rechtsprechung und Literatur zu würdigen, andererseits einen Bezug zwischen der Dogmatik des Verfassungsprozessrechts und der Frage der Strafbarkeit herzustellen.

I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen zur regulären Unvereinbarerklärung auf Aussage zur Strafbarkeit Zunächst sind jene einfachgesetzlichen Normen zu untersuchen, denen eine Aussage über die Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen entnommen werden könnte. Gäbe es eine solche Norm, so wären weitere Ausführungen – bis auf die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit – entbehrlich. Die hier in Frage kommenden Normen stammen aus dem Bereich der regulären Unvereinbarerklärung ohne Weitergeltungsanordnung; das Folgende ist somit zugleich eine Betrachtung der Strafbarkeit auf Grundlage einer regulären Unvereinbarerklärung. Die erste Norm spielte bereits eine große Rolle in der Darstellung der Rechtsprechung und Literatur: § 79 Abs. 1 BVerfGG. Der zweite einfachgesetzliche Normenkomplex spielte bislang nur am Rande eine Rolle und wurde im verfassungsprozessrechtlichen Teil angeschnitten1: §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO. Es soll nun erörtert werden, ob diesen Normen eine materiell-rechtliche Aussage für oder gegen die Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen entnommen werden kann.

1

Dazu oben B.III.1.b)dd) (S. 94).

I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen

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1. Zu § 79 Abs. 1 BVerfGG Eine entscheidende Rolle in der Argumentation zu der Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen gemäß § 370 AO sowie § 284 StGB nimmt § 79 Abs. 1 BVerfGG ein. Während Gegner der Strafbarkeit dieser Norm entnehmen, dass eine Strafbarkeit ausscheide und ihr dabei materiell-rechtlichen Gehalt beimessen,2 gehen Befürworter der Strafbarkeit davon aus, die Norm werde von der spezielleren Weitergeltungsanordnung verdrängt.3 Teilweise wird auch behauptet, ihre Tatbestandsvoraussetzungen lägen bereits nicht vor.4 Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Norm der strafrechtlichen Wirkung der Weitergeltungsanordnung entgegensteht. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob ihr Tatbestand erfüllt und sie somit einschlägig ist [sogleich a)], um danach zu erörtern, ob ihr auf Rechtsfolgenseite ein materiell-rechtlicher Gehalt beigemessen werden kann [b)]. a) Der Tatbestand: Die Frage des „Beruhens“ auf einer für unvereinbar erklärten Norm Der Anwendungsbereich des § 79 Abs. 1 BVerfGG ist dann eröffnet, wenn ein Strafurteil auf einer Norm „beruht“, die vom Bundesverfassungsgericht „für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurde“. aa) Unvereinbarerklärung Zunächst stellt sich die Frage, ob überhaupt eine Norm i. S. d. § 79 Abs. 1 BVerfGG „vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist.“ Die Norm nimmt Bezug auf die Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung des Verfassungsprozessrechts. Im verfassungsprozessrechtlichen Teil wurde erarbeitet, dass die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung einen Unterfall der Unvereinbarerklärung bildet.5 Die betreffenden Stimmen in der Literatur beurteilen die verfassungsprozessrechtliche Lage daher korrekt, wenn sie betonen, dass die Weitergeltungsanordnung nichts daran ändere, dass eine Unvereinbarerklärung ausgesprochen wurde.6 Dieses Tatbestandsmerkmal ist erfüllt.

2 Zu den Literaturauffassungen oben C.II.1.c)cc)(1)(a) (S. 242), C.II.2.c)bb)(1)(b) (S. 299). 3 So insbesondere die Rechtsprechung, vgl. die Übersicht und Nachweise unter C.II.1.b)jj) (S. 230). 4 Zu den diesbezüglichen Literaturauffassungen oben C.II.1.c)bb)(1)(e) (S. 240). 5 Dies entspricht der ganz herrschenden Ansicht im verfassungsprozessrechtlichen Schrifttum, dazu oben B.III.2. (S. 96), insbes. die Nachweise in Fn. 435 (S. 97). 6 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(a) (S. 242).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

bb) Die Frage des „Beruhens“ Darüber hinaus bleibt zu untersuchen, ob eine Verurteilung auf einer solchen Norm „beruht“. (1) Die ablehnende Literaturauffassung Hier wird von einem Teil der Literatur bezüglich § 370 AO eingewendet, dass ein „Beruhen“ nur dann gegeben ist, wenn eine Norm des Strafrechts von einer Unvereinbarerklärung betroffen ist. Entsprechend der herrschenden Inkorporationstheorie sind Normen, die durch Blankettmerkmale in Bezug genommen werden, Teil des Straftatbestands, nicht aber solche, die durch normative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommen werden.7 Da § 370 AO – entgegen der herrschenden Meinung – normative Tatbestandsmerkmale enthalte8, seien die Normen des Steuerrechts keine strafrechtlichen Normen. Deswegen scheide ein „Beruhen“ i. S. d. § 79 Abs. 1 BVerfGG aus.9 Zwar wird Entsprechendes zu § 284 StGB nicht explizit vertreten. Auch hier wird jedoch betont, das Verwaltungsrecht habe keinen unmittelbaren Einzug in den in sich vollständigen Straftatbestand erhalten10 bzw. dass der Tatbestand kein Blanketttatbestand sei.11 Das Argument ließe sich auch hier anbringen. (2) Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts In der Tat betont auch das Bundesverfassungsgericht, dass die für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte Norm eine Norm des materiellen Strafrechts sein muss.12 Dies scheint zunächst die ebengenannte Literaturansicht zu stützen. Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts dienten allerdings dazu, Normen des Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts vom Anwendungsbereich der Vorschrift auszunehmen13 – entscheidend ist also die Begrenzung auf das materielle Recht, nicht auf das Strafrecht. § 79 Abs. 1 BVerfGG wird vom Bundesverfassungsgericht – was das betroffene Rechtsgebiet angeht – unter Verweis auf den Rechtsgedanken der Vorschrift vielmehr sehr extensiv angewendet.14 7

Vgl. dazu oben C.II.1.a)aa)(1) (S. 203). Zu diesem Streitstand oben C.II.1.a)aa)(3) (S. 206). 9 Zu dieser Auffassung oben C.II.1.c)bb)(1)(e) (S. 240). 10 Dazu oben C.II.2.c)aa)(2)(a)(aa) (S. 294), C.II.2.c)aa)(2)(b)(aa) (S. 297). 11 Dazu oben C.II.2.a)aa)(1) (S. 271). 12 BVerfGE 12, 338 (340); 11, 263 (265); vgl. auch BGHSt 42, 314 (318 ff.). 13 BVerfGE 11, 263 (265); dazu Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 79 Rn. 36; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 79 Rn. 5; Böckenförde, Nichtigkeit, S. 140 ff., der die Bedeutung der entsprechenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts für auf die dort entscheidungsgegenständliche Friedensgerichtsbarkeit beschränkt und die Urteile somit für nicht verallgemeinerbar hält. 8

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(3) Auslegung des Wortlauts Letztlich sollte die Auslegung des Wortlauts den Ausschlag geben: Danach ist die Wiederaufnahme zulässig gegen ein „Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar [. . .] erklärten Norm [. . .] beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist“.

Eine Beschränkung auf Normen, die durch Blankettmerkmale in Bezug genommen werden, ist im Wortlaut überhaupt nicht angelegt, nicht einmal eine Beschränkung auf strafrechtliche Normen. Ob eine Herausnahme von prozessrechtlichen Normen angezeigt ist, wie vom Bundesverfassungsgericht angenommen, kann hier außer Betracht bleiben.15 Es sollte vielmehr vermieden werden, ohne Anhaltspunkte im Wortlaut strafbarkeitsrelevante Rechtsfolgen an einen derart umstrittenen, schwer abgrenzbaren16 und zudem nichtgesetzlichen Begriff wie den des Blankettmerkmals zu knüpfen. Vielmehr ist eine entsprechend großzügige Auslegung geboten. Die verfassungsprozessrechtliche Literatur versteht das Merkmal des „Beruhens“ in Übereinstimmung mit dem soeben Ausgeführten weit: Es wird genauso ausgelegt, wie das entsprechende Merkmal des § 337 StPO. Danach reicht es für das „Beruhen“ aus, wenn eine Norm für das Strafurteil kausal geworden ist – wobei sogar der Nachweis der Kausalität nicht erforderlich ist, sondern der Nachweis der Möglichkeit der Kausalität ausreicht.17 cc) Zwischenergebnis Eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist eine „Unvereinbarerklärung“ i. S. d. § 79 Abs. 1 BVerfGG. Für ein „Beruhen“ reicht es aus, wenn die für unvereinbar mit der Verfassung erklärten Normen für das Strafurteil kausal sind bzw. die Möglichkeit der Kausalität gegeben ist. Unabhängig davon, ob man die Einordnung der Merkmale des § 370 AO und des § 284 StGB als Blankettmerkmale teilt oder nicht, ist ein „Beruhen“ auf einer für unvereinbar erklärten Norm gegeben: Das für unvereinbar erklärte Steuerrecht wird in jedem 14 Vgl. nur BVerfGE 12, 338 (340 f.), zu einer Vorschrift aus dem Rechtshilfegesetz; zum Rechtsgedanken oben S. 74. 15 Dazu kritisch BGHSt 42, 314 (318 ff.). 16 Dazu oben C.II.1.a)aa)(1) (S. 203). 17 Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 79 Rn. 35; Feldmann, Strafbarkeit, S. 203; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 14; Lechner/Zuck, BVerfGG, § 79 Rn. 7, 14, teilweise lediglich unter Hinweis darauf, dass dieses „Beruhen“ dem des § 337 StPO entspricht. Im Rahmen des § 337 StPO wird dieses Merkmal als einfache Kausalität definiert, wobei sogar der Nachweis der Möglichkeit der Kausalität ausreicht, vgl. nur Gericke, in: KK-StPO, § 337 Rn. 33; Pfeiffer, StPO, § 337 Rn. 17, jeweils m.w. N.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Falle kausal für das Strafurteil. Auch im zweiten Anwendungsfall, dem § 284 StGB, ist ein solches „Beruhen“ – jedenfalls nach der hier vertretenen Auffassung18 – gegeben; über das Merkmal der „Erforderlichkeit“ ist die Existenz des Landessportwettenrechts Tatbestandsvoraussetzung. Auch hier wird das für unvereinbar erklärte Sportwettenrecht demnach kausal für das Strafurteil. Der Tatbestand ist in beiden Fällen erfüllt. b) Die Rechtsfolgen des § 79 Abs. 1 BVerfGG Ist der Tatbestand demnach erfüllt, ist der Blick nun auf die Rechtsfolgenseite der Vorschrift zu lenken. Gegner der Strafbarkeit gehen davon aus, dass die Norm der Strafbarkeit entgegensteht – damit wird der Norm von Teilen der Literatur eine materiell-rechtliche Aussage entnommen.19 Teilweise wird explizit davon ausgegangen, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG auf den objektiven Tatbestand eines Straftatbestands einwirkt.20 Dies kontert die Rechtsprechung damit, dass § 79 BVerfGG von der spezielleren Weitergeltungsanordnung verdrängt wird.21 Demgegenüber gehen Minderheiten in Rechtsprechung22 und Literatur23 davon aus, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG nur die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens betrifft. Die Begründetheit ergibt sich nach dieser Auffassung allein aus dem materiellen Strafrecht. Nach dieser Auffassung hat die Norm keinen materiellrechtlichen Gehalt. Es ist somit zu erörtern, welche der Auffassungen zutrifft. Die Wirkungsweise der Norm soll an dem Fall demonstriert werden, der den eigentlichen, unstrittigen Anwendungsfall der Norm bildet: Den einer regulären Unvereinbarerklärung einer Strafnorm ohne Weitergeltungsanordnung [sogleich aa)]. Dieser Fall ist erstaunlicherweise – soweit ersichtlich – noch nie wirklich durchdacht worden, obwohl er doch für das Verständnis des § 79 Abs. 1 BVerfGG und damit der gesamten hier untersuchten Problematik von größter Bedeutung ist. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass noch nie eine Strafnorm mit einer Unvereinbarer-

18 Lediglich diejenigen, die von einer strikten verfassungsrechtlichen Neutralität des § 284 StGB ausgehen, müssen konsequenterweise auch das „Beruhen“ verneinen. Mit der herrschenden Meinung und den besseren Argumenten ist die verfassungsrechtliche Neutralität aber abzulehnen. Nach der hier vertretenen Auffassung muss die Erlaubnis im Rahmen des § 284 StGB verwaltungsrechtlich „erforderlich“ sein, zu alledem oben C.II.2.d)cc) (S. 310). 19 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(a) (S. 242), C.II.2.c)bb)(1)(b) (S. 299). 20 Vgl. oben C.II.1.c)cc)(1)(a) (S. 242). 21 Dazu die Zusammenfassung m. N. unter C.II.1.b)jj) (S. 230). 22 So das LG München II NJW 2000, 372 (373 f.), dazu oben C.II.1.b)bb)(1) (S. 214); LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32), dazu oben C.II.1.b)dd)(1) (S. 220), allerdings mit abweichender Ansicht bezüglich des materiellen Rechts. 23 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372), dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(a) (S. 242).

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klärung versehen wurde. Danach werden die Auswirkungen der Betrachtung auf den Fall einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung untersucht [bb)]. aa) Wirkung des § 79 Abs. 1 BVerfGG bei einer regulären Unvereinbarerklärung Vom Wortlaut her unmittelbar einschlägig ist die Norm bei einer regulären Unvereinbarerklärung ohne Weitergeltungsanordnung; für diesen Fall ist die Norm auch konzipiert. Hier sollen die Rechtsfolgen und der eigentliche Zweck der Norm an zwei Fällen herausgestellt werden. Einmal wird der Fall untersucht, dass eine Unvereinbarerklärung ausgesprochen ist und kein rechtskräftiges Strafurteil existiert [(1)]. Dieser Fall unterfällt zwar nicht der Regelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG, ist aber für dessen Verständnis wesentlich. Zum anderen wird der Fall betrachtet, dass eine Unvereinbarerklärung ausgesprochen wurde, wobei aber zu diesem Zeitpunkt ein rechtskräftiges Strafurteil existiert [(2)]. Der Übersichtlichkeit halber wird davon ausgegangen, dass in beiden Fällen eine Strafnorm selbst für unvereinbar mit der Verfassung erklärt wird. (1) Fall 1: Unvereinbarerklärung, kein rechtskräftiges Strafurteil Im ersten Fall wird eine Strafnorm für unvereinbar erklärt, und es existiert noch kein rechtskräftiges Strafurteil, entweder weil überhaupt noch kein Urteil ausgesprochen wurde oder aber noch Rechtsmittel gegen ein solches eingelegt werden können. Hier ist § 79 Abs. 1 BVerfGG mangels rechtskräftigen Strafurteils gar nicht anwendbar. Trotzdem ist das Verhalten straflos. Dies ergibt sich allein aus der Anwendung des materiellen Strafrechts unter Berücksichtigung der Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung: (a) Anwendungssperre Die für unvereinbar erklärte Strafnorm unterliegt wegen der Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung einer Anwendungssperre: Sie darf nicht mehr angewendet werden.24 Insoweit werfen die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung keine Fragen auf. (b) Aussetzungspflicht Darüber hinaus führt die Unvereinbarerklärung dazu, dass alle Verfahren ausgesetzt werden müssen. Diese Aussetzung hat den Sinn, dass der Betroffene von der späteren verfassungsgemäßen und rückwirkenden Neuregelung durch den Ge24

Dazu oben B.III.1.b)aa)(2) (S. 83).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

setzgeber erfasst werden soll. Sie soll ermöglichen, dass das Verfahren später auf Grundlage der verfassungsgemäßen Neuregelung fortgesetzt werden kann.25 Diese Rechtsfolge wirft freilich im Strafrecht wegen des Rückwirkungsverbots des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB erhebliche Folgeschwierigkeiten auf. Diese sind unter Anwendung des materiellen Strafrechts – insbesondere § 2 Abs. 3 StGB – zu lösen. (aa) Alternative 1: § 2 Abs. 3 StGB ist anwendbar Die erste denkbare Variante ist, dass entweder die Strafbarkeit nach der Neuregelung ganz entfällt oder eine inhaltliche Milderung gegenüber der verfassungswidrigen Rechtslage eingetreten ist. (a) Entfallen der Strafbarkeit durch die Neuregelung Entfällt die Strafbarkeit durch die Neuregelung ganz und ist § 2 Abs. 3 StGB einschlägig, ergibt sich daraus materiell-rechtlich: Die Neuregelung fällt unter § 2 Abs. 3 StGB und ist daher rückwirkend anwendbar. Der Betroffene bleibt straflos. Prozessual wird diese materielle Rechtslage wie folgt umgesetzt: Das Verfahren kann auf Grundlage dieser Neuregelung fortgesetzt werden, die Aussetzungspflicht endet. Die Staatsanwaltschaft wird entweder mangels Anfangsverdacht (§ 160 Abs. 1 StPO) gar nicht tätig oder sie stellt – wenn die Aussetzung nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens erfolgt ist – mangels hinreichenden Tatverdachts das Verfahren ein (§ 170 Abs. 2 StPO). Ist die Aussetzung im Zwischenverfahren erfolgt, so erlässt das Gericht – ebenfalls mangels hinreichenden Tatverdachts – gemäß § 204 StPO einen Nichteröffnungsbeschluss. Bei einer Aussetzung im Hauptverfahren wäre der Angeklagte durch Urteil (§ 260 StPO) freizusprechen. War zum Zeitpunkt der Unvereinbarerklärung bereits ein Rechtsmittel eingelegt und wurde das Verfahren daraufhin ausgesetzt, so wird das Verfahren nun mit Erfolg für den Rechtsmittelführer fortgesetzt.26 25

Ebenda. Darüber hinaus ist noch denkbar, dass die Unvereinbarerklärung nach dem Strafurteil zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem noch kein Rechtsmittel eingelegt ist, die Rechtsmittelfrist aber noch nicht abgelaufen ist. In diesem Sonderfall sollte das Rechtsmittel unbedingt verfolgt werden. Zwar könnte man nach Ablauf der Rechtsmittelfrist versuchen, nach § 79 Abs. 1 BVerfGG vorzugehen, dazu unten D.I.1.b)aa)(2) (S. 331). Allerdings lassen sich gegen die Einschlägigkeit des § 79 Abs. 1 BVerfGG in diesem Fall gute Argumente einwenden: Diese Norm soll ein Mittel zur Durchbrechung der Rechtskraft an die Hand geben, wenn ansonsten keine prozessualen Möglichkeiten zur Rechtsverfolgung mehr bestehen. Sie soll allerdings nicht einen zusätzlichen Ausweg bieten, wenn die Frist eines an sich statthaften Rechtsmittels versäumt wird. Hier scheint die eingetretene Rechtskraft vorrangig. Das Rechtsmittelverfahren wird in diesem Fall – die Anwendbarkeit der Aussetzungspflicht an dieser Stelle noch vorausge26

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(b) Inhaltliche Milderung durch die Neuregelung? Nun ist zu untersuchen, wie der Fall zu behandeln ist, in dem durch die Neuregelung die Strafbarkeit zwar nicht entfällt, aber eine inhaltliche Milderung eintritt, etwa weil ein geringerer Strafrahmen gilt. In einer abstrakten Betrachtungsweise ist hier der geänderte Straftatbestand milder als der alte. Allerdings ist im Rahmen des § 2 Abs. 3 StGB von der allgemeinen Meinung anerkannt, dass bei der Beurteilung, was das mildere von zwei zu vergleichenden Gesetzen ist, nicht lediglich ein abstrakter Vergleich der Normen anzustellen ist. Es ist vielmehr maßgeblich, welche Regelung in dem konkreten Einzelfall für den Täter günstiger ist.27 Stellt man hier auf den konkreten Einzelfall ab, so ergibt sich Folgendes: Die für unvereinbar erklärte alte Norm ist verfassungswidrig und daher – wegen der Anwendungssperre – unanwendbar. Die neue Norm ist zwar abstrakt inhaltlich milder, aber anwendbar. Es ist daher vorzugswürdig, die Neuregelung nicht als „Milderung“ i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB anzusehen. Denn eine zwar abstrakt inhaltlich mildere, anwendbare Strafnorm ist für den Betroffenen nicht günstiger als eine schärfere, aber unanwendbare Norm. § 2 Abs. 3 StGB ist nicht anwendbar, es gilt das Folgende. (bb) Alternative 2: § 2 Abs. 3 StGB ist nicht anwendbar Fraglich ist, was zu geschehen hat, wenn § 2 Abs. 3 StGB auf die verfassungsgemäße Neuregelung nicht anwendbar ist – etwa weil der soeben dargestellte Fall einer inhaltlichen Milderung vorliegt oder nach der neuen Norm ein schärferer Strafrahmen gilt. § 2 Abs. 3 StGB stellt den einzigen Fall dar, in dem eine Strafnorm rückwirkend angewendet werden darf. Ist die Norm nicht einschlägig, so ist die Fortsetzung des Verfahrens auf Grundlage der verfassungsgemäßen Neuregelung – wegen des Rückwirkungsverbots des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB – ausgeschlossen. Das führt zu einem Fall, der von den Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung eigentlich nicht vorgesehen ist: Die Fortsetzung der Verfahren auf Grundlage der verfassungsgemäßen Neuregelung scheidet aus. setzt, dazu allerdings unten D.I.1.b)aa)(1)(c) (S. 330) – direkt ausgesetzt und später mit der Neuregelung fortgesetzt. In dem – praktisch unwahrscheinlichen – Fall, dass nach dem Strafurteil, aber noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist sowohl Unvereinbarerklärung wie Neuregelung erfolgen, wird das Rechtsmittelverfahren ohne Aussetzung auf Grundlage der Neuregelung durchgeführt. 27 BGH NStZ 2006, 32; BGHSt 48, 373 (382); BGH NStZ-RR 2002, 201 f.; NStZ 2000, 49 (50); wistra 1994, 142 (145); BGHSt 34, 272 (284); BGH NStZ 1983, 416; BGHSt 28, 333 (337); 20, 74 (75); 20, 22 (25); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 28; Fischer, § 2 Rn. 10; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, § 2 Rn. 24; Roxin, AT I, § 5 Rn. 65; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 2 Rn. 26.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Damit aber entfällt der Sinn der Aussetzungspflicht: Sie dient nur der Ermöglichung der Fortsetzung der Verfahren auf Grundlage der Neuregelung.28 Dies aber ist unmöglich. Die Aussetzungspflicht muss auch hier enden, die Verfahren sind fortzusetzen. Es stellt sich nun die Frage, auf welcher materiell-rechtlichen Grundlage dies zu geschehen hat. Die Neuregelung kommt wegen des Rückwirkungsverbots nicht in Betracht. Es bleibt nur die alte, verfassungswidrige Rechtslage. Diese ist aber nach wie vor mit der Anwendungssperre belegt. Der Sinn der Anwendungssperre ist es nämlich, zu verhindern, dass durch Verwaltung und Gerichte auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts in Grundrechte eingegriffen wird.29 Dieser Sinn besteht fort. Die verfassungswidrige Strafnorm ist dauerhaft unanwendbar, der Betroffene hat sich auch nach ihr nicht strafbar gemacht. Es gibt also letztlich keine Norm, die die Strafbarkeit anordnet. Das bedeutet: Auch wenn § 2 Abs. 3 StGB nicht einschlägig ist, sind die Verfahren ab dem Erlass der Neuregelung fortzusetzen. Ab diesem Zeitpunkt steht fest, dass die Neuregelung für die betroffenen Fälle keine Geltung entfaltet. Wegen der Anwendungssperre gilt auch die alte Norm nicht. Je nach Verfahrensstand zum Zeitpunkt der Aussetzung sind die prozessualen Folgen der Straflosigkeit die gleichen wie im Falle der Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB.30 (c) Modifikation der Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung im Strafrecht Wie man es dreht und wendet: Liegt noch kein rechtskräftiges Strafurteil vor, so hat die reguläre Unvereinbarerklärung einer Strafnorm letztlich immer die Straflosigkeit des Verhaltens nach materiellem Strafrecht zur Folge. Die Aussetzung des Verfahrens führt hier bestenfalls dazu, dass der Betroffene auf Grundlage des § 2 Abs. 3 StGB nach der Neuregelung straflos ist. Im schlechtesten Falle ist er auf Grundlage der Anwendungssperre der alten Norm in Verbindung mit dem Rückwirkungsverbot bezüglich der Neuregelung straflos. Die Aussetzungspflicht ist daher im Strafrecht ohne jeglichen Sinn. Denn das Ergebnis der Aussetzung wird immer sein, dass der Betroffene straflos ist und das Verfahren dementsprechend – je nach Verfahrensstand auf die geschilderte Art und Weise31 – zu beenden ist. Es ist somit nicht ersichtlich, warum man den Betroffenen sinnentleert im Status des Beschuldigten, Angeschuldigten oder Angeklagten32 und damit Bemakelten halten sollte. Vorzugswürdig ist es daher, die 28

Dazu oben B.III.1.b) (S. 82), B.III.1.b)aa)(4) (S. 91). Vgl. dazu die Herleitung der Anwendungssperre aus Art. 20 Abs. 3 GG und dem Vorrang der Verfassung auf S. 85. 30 Dazu soeben D.I.1.b)aa)(1)(b)(aa)(a) (S. 328). 31 Dazu soeben D.I.1.b)aa)(1)(b)(aa)(a) (S. 328). 32 Vgl. § 157 StPO. 29

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Aussetzungspflicht erst gar nicht zur Anwendung zu bringen und das Verfahren gleich nach der Unvereinbarerklärung mit dem Ergebnis der Straflosigkeit zu beenden. (d) Zwischenergebnis Liegt kein rechtskräftiges Strafurteil vor, so führt die reguläre Unvereinbarerklärung immer dazu, dass das Verhalten straflos ist. Die Aussetzungspflicht hat deshalb keinen Sinn und findet keine Anwendung. Das Verfahren ist mit der Unvereinbarerklärung – je nach Verfahrensstand – nach den entsprechenden Normen der StPO33 zu beenden. Ohne rechtskräftiges Strafurteil ist § 79 Abs. 1 BVerfGG weder einschlägig noch bedarf es der Norm, um die nach materiellem Recht bestehende Straflosigkeit durchzusetzen. Dies erledigt bereits das materielle Strafrecht auf Grundlage der Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung in Verbindung mit der Strafprozessordnung. (2) Fall 2: Unvereinbarerklärung, rechtskräftiges Strafurteil Nun soll der Fall betrachtet werden, in dem zum Zeitpunkt der regulären Unvereinbarerklärung ein rechtskräftiges Strafurteil existiert. Hier ist § 79 Abs. 1 BVerfGG unmittelbar einschlägig; das Wiederaufnahmeverfahren ist zulässig. Die Norm durchbricht die eingetretene Rechtskraft34 und gibt dem Betroffenen ein prozessuales Vehikel an die Hand, mit der er eine nunmehr geänderte materielle Rechtslage durchsetzen kann: Die materielle Rechtslage ist nämlich genauso zu beurteilen wie im zuvor beschriebenen Fall. Entweder die Neuregelung ordnet die Straflosigkeit an und ist gemäß § 2 Abs. 3 StGB anwendbar. Oder § 2 Abs. 3 StGB ist nicht anwendbar, und der Betroffene ist wegen der Anwendungssperre der alten Norm in Verbindung mit dem Rückwirkungsverbot bezüglich der Neuregelung straflos. Das Verhalten ist in beiden Konstellationen nicht strafbar. Deswegen gilt die Aussetzungspflicht auch hier gar nicht erst. Die Straflosigkeit ergibt sich also auch hier bereits aus dem materiellen Strafrecht: Einer materiellen Wirkung des § 79 Abs. 1 BVerfGG bedarf es nicht. Unmittelbar nach der Unvereinbarerklärung35 der Strafnorm kann der Betroffene diese geänderte Rechtslage trotz rechtskräftiger Verurteilung mit § 79 Abs. 1 BVerfGG prozessual durchsetzen. 33

Im Einzelnen soeben D.I.1.b)aa)(1)(b)(aa)(a) (S. 328). Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 9; Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 79 Rn. 25. 35 Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 16 verkennt, dass die Aussetzungspflicht im Strafrecht keinen Sinn macht und daher nicht gilt. 34

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

(3) Zwischenergebnis Im Vergleich der Rechtslage ohne rechtskräftiges Strafurteil einerseits und der mit rechtskräftigem Urteil andererseits wird der eigentliche Zweck und die eigentliche Bedeutung des § 79 Abs. 1 BVerfGG deutlich: Die Norm durchbricht die bereits eingetretene Rechtskraft und gibt dem Betroffenen eine prozessuale Handhabe, seinen Fall auf Grundlage der nunmehr geänderten materiellen Rechtslage neu entscheiden zu lassen. Im Fall der regulären Unvereinbarerklärung, dem direkten Anwendungsfall der Vorschrift, für den die Norm konzipiert und nach ihrem Wortlaut unmittelbar anwendbar ist, bedarf es einer wie auch immer gearteten materiell-rechtlichen Wirkung der Norm gar nicht. Die Norm hat lediglich den Zweck, die Rechtskraft zu durchbrechen und ein erneutes prozessuales Vorgehen zu ermöglichen. Sie betrifft damit allein die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrags. Das entspricht auch dem Wortlaut der Vorschrift, der anordnet, dass das Wiederaufnahmeverfahren „zulässig“ ist.36 Straflosigkeit und Begründetheit ergeben sich aus dem materiellen Strafrecht und den Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung. bb) Konsequenzen für den Fall der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung Aus den Rechtsfolgen des § 79 Abs. 1 BVerfGG innerhalb seines eigentlichen Anwendungsbereichs ergibt sich, dass die Norm für die im Rahmen dieser Arbeit zu beantwortenden Rechtsfrage der Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen schlicht keine Aussage enthält. Sie spricht weder für noch gegen die Strafbarkeit. Die Norm soll nämlich ermöglichen, einer geänderten materiellen Rechtslage zur Durchsetzung zu verhelfen. Sie betrifft nur die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens und enthält keine eigene, materiell-rechtliche Aussage. Die Begründetheit ergibt sich aus dem materiellen Strafrecht. Doch ob die materielle Rechtslage im Falle einer Weitergeltungsanordnung geändert ist, ist hier ja gerade zu untersuchen – dies hängt davon ab, ob man der Weitergeltungsanordnung auch strafrechtlich Wirkungen beimisst oder nicht: Gilt die Weitergeltungsanordnung strafrechtlich, so hat sich die materielle Rechtslage nicht geändert. Der Antrag gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG ist zumindest unbegründet.37 Auch möglich erscheint es in diesem Fall, § 79 Abs. 1 BVerfGG teleologisch auf reguläre Unvereinbarerklärungen zu reduzieren und bereits seinen Tatbestand und damit die Zulässigkeit auszuschließen.38 36

So auch Degenhard, DStR 2001, 1370 (1372). Dafür, dass eine Weitergeltungsanordnung stets zur Unbegründetheit führt: LG Itzehoe wistra 2001, 31 (32). 38 Dies scheint Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 79 Rn. 7 so zu sehen. 37

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Gilt die Weitergeltungsanordnung strafrechtlich nicht, so ist strafrechtlich eine reguläre Unvereinbarerklärung ausgesprochen: Der Wiederaufnahmeantrag ist gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG zulässig. Die materielle Rechtslage hat sich geändert, da das Verhalten wegen der regulären Unvereinbarerklärung straflos ist; der Antrag ist begründet.39 Die Argumentation mit § 79 Abs. 1 BVerfGG ist daher von vornherein verfehlt und vermag zur Beantwortung der Frage der Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen nichts beizutragen: Dies gilt für jene Stimmen, die die Norm mit Verweis auf eine angebliche materiell-rechtliche Wirkung gegen die Strafbarkeit verwenden.40 Dasselbe ist der herrschenden Rechtsprechung entgegenzuhalten, die für die Strafbarkeit anführt, die Vorschrift werde durch die lex specialis der Weitergeltungsanordnung verdrängt.41 Denn auch dies setzt ja eine materiell-rechtliche Wirkung der Norm, die grundsätzlich die Straflosigkeit zur Folge hat, voraus. Mangels materiell-rechtlicher Wirkung bedarf es gar nicht erst einer verdrängenden lex specialis. 2. Zu §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO Die beiden anderen einfachgesetzlichen Normen, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen, spielen nur für die Strafbarkeit gemäß § 370 AO eine Rolle. Ihnen könnte aber insoweit eine Aussage für die Strafbarkeit auf der Grundlage von Weitergeltungsanordnungen entnommen werden. Im verfassungsprozessrechtlichen Teil wurde bereits auf die Regelung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO eingegangen. Nach dieser Vorschrift ist eine Steuer vorläufig festzusetzen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt hat und der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet ist. Dies meint – ausschließlich – den Fall einer regulären Unvereinbarerklärung ohne Weitergeltungsanordnung. Ebenfalls erwähnt wurde, dass eine solchermaßen vorläufig festgesetzte Steuer kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO tauglicher Gegenstand einer Steuerverkürzung ist.42 Dieser zugegebenermaßen etwas unübersichtliche Regelungskomplex ist bislang in der Diskussion erstaunlicherweise kaum beachtet worden43. Dies mag 39

Vgl. zu den genauen Rechtsfolgen soeben D.I.1.b)aa)(2) (S. 331). Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(a) (S. 242), C.II.2.c)bb)(1)(b) (S. 299). 41 Vgl. zu diesem Argument die Zusammenfassung der Rechtsprechung m. N. oben C.II.1.b)jj) (S. 230). 42 Dazu oben B.III.1.b)dd) (S. 94). 43 Die einzige Literaturstimme, die sich – soweit ersichtlich – eingehender mit den strafrechtlichen Konsequenzen einer regulären Unvereinbarerklärung befasst, ist Gastde Haan, BB 1991, 2490. Zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings die Vorschrift des 40

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

daran liegen, dass die reguläre Unvereinbarerklärung ohne Weitergeltungsanordnung im Steuerrecht selten vorkommt. a) Konsequenzen für die hier untersuchte Frage: Argumentum a fortiori? Es drängt sich hier folgender Gedankengang auf: § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO trifft für das Steuerrecht eine Sonderregelung. Nach dieser treten die eigentlichen Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung – Anwendungssperre und Aussetzungspflicht – nicht ein: Vielmehr dürfen auf Grundlage der unvereinbaren Steuernorm weiter – wenn auch vorläufig – Steuern festgesetzt werden. Diese vorläufig festgesetzten Steuern sind wegen § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO tauglicher Gegenstand einer Steuerverkürzung. Nach unbefangenem Lesen der beiden Normen könnte man zu folgendem Verständnis der Vorschriften gelangen: „Es macht sich wegen Steuerhinterziehung strafbar, wer eine zu niedrige oder verspätete vorläufige Festsetzung herbeiführt, auch wenn die betreffenden Steuernormen vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurden.“

Daraus ließe sich ein argumentum a fortiori für den Fall der Weitergeltungsanordnung ableiten: Die Weitergeltungsanordnung soll ein Mehr an Geltung gegenüber der regulären Unvereinbarerklärung bewirken. Wenn schon bei einer regulären Unvereinbarerklärung die betreffenden Steuernormen kraft gesetzlicher Anordnung Grundlage der Strafbarkeit sein können, muss dies erst recht für den Fall gelten, in dem die Weitergeltung durch das Bundesverfassungsgericht angeordnet wurde. Voraussetzung dieser Schlussfolgerung ist aber, dass § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO i.V. m. § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO tatsächlich so auszulegen wäre, dass eine wegen der Unvereinbarkeit vorläufig festgesetzte Steuer Gegenstand der Hinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 AO – nicht nur der Steuerverkürzung – sein kann. Dazu müssten die Vorschriften eine vollumfängliche strafrechtliche Wirksamkeit der verfassungswidrigen, vorläufig festgesetzten Steuern anordnen. b) Auslegung Diese Frage soll anhand einer Auslegung der Normen beantwortet werden. aa) Der Wortlaut In Bezug auf das Merkmal der „Steuerverkürzung“ ist der Wortlaut eindeutig. Gemäß § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO liegt eine Steuerverkürzung dann vor, wenn die Steuern § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO noch nicht. Vgl. auch – allerdings kursorisch und unter Verkennung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO – Nolte, Hinterziehung, S. 18.

I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen

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„nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden; dies gilt auch dann, wenn die Steuer vorläufig [. . .] festgesetzt wird [. . .].“

Gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO darf eine Steuer dann vorläufig festgesetzt werden, wenn eine reguläre Unvereinbarerklärung ausgesprochen wurde und der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet ist.44 Die Finanzbehörden sind in diesem Falle sogar zur vorläufigen Festsetzung verpflichtet.45 Die Vorschriften ordnen ausdrücklich an, dass diese vorläufige Festsetzung Gegenstand einer Steuerverkürzung sein kann. Damit ist noch nichts zu der Frage gesagt, ob auch die anderen Merkmale des § 370 Abs. 1 AO, die das materielle Steuerrecht in Bezug nehmen („steuerlich erhebliche Tatsachen“, „unrichtige oder unvollständige Angaben“, „pflichtwidrig“), im Falle einer regulären Unvereinbarerklärung durch das für unvereinbar erklärte Recht ausgefüllt werden können. Dies müsste man vielmehr in die Vorschrift hineinlesen. Die Vorschriften müssten zusammen wie folgt zu lesen sein: „Wird eine reguläre Unvereinbarerklärung ausgesprochen und der Gesetzgeber zu einer rückwirkenden Neuregelung verpflichtet und setzt die Finanzbehörde auf Grundlage dieser verfassungswidrigen Normen vorläufig Steuern fest, so sind die für unvereinbar erklärten Normen weiterhin geeignet, alle normativ geprägten Merkmale des § 370 Abs. 1 AO – nicht nur das der „Steuerverkürzung“ – auszufüllen. Sie sind strafrechtlich vollumfänglich wirksam.“

Vergleicht man dies mit dem tatsächlichen Wortlaut der Vorschriften, so wird deutlich, dass dieses Verständnis den Wortlaut der Vorschrift zumindest ausdehnt. Ausgeschlossen wird eine solche Sichtweise jedoch durch den Wortlaut nicht. bb) Telos des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO Für eine solche Erstreckung der Regelung des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 auf sämtliche Merkmale des § 370 Abs. 1 AO könnte der Sinn und Zweck der Regelung sprechen. Ziel ist es ja gerade, die vorläufige Festsetzung in den Schutzbereich des § 370 Abs. 1 AO einzubeziehen. Da erscheint es wenig sinnvoll, die Vorschrift in Bezug auf einen der Fälle einer vorläufigen Festsetzung – den des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO – so auszulegen, dass sich die Anordnung lediglich auf das Tatbestandsmerkmal der Steuerverkürzung bezieht, alle anderen Tatbestandsmerkmale jedoch von ihr unberührt bleiben. Vielmehr erscheint es bei einem isolierten Blick auf die Vorschrift sinnvoll, ihr den obengenannten Bedeutungsgehalt beizumessen.

44

Dazu oben B.III.1.b)dd) (S. 94). Das durch § 165 Abs. 1 AO grundsätzlich eingeräumte Ermessen ist in diesem Fall auf Null reduziert, vgl. ebenda. 45

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

cc) Historie Gegen eine solche Betrachtungsweise spricht jedoch die Gesetzgebungsgeschichte und der darin zum Ausdruck kommende Wille des Gesetzgebers. (1) Gesetzgebungsgeschichte des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO Die Regelung des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO heutiger Fassung ist seit ihrer Einführung durch die AO 197746 im Wortlaut unverändert geblieben. Die Vorschrift stellte eine Neuerung der AO 1977 gegenüber der bisherigen Regelung des § 392 RAO dar. Sie stellte erstmals gesetzlich klar, dass der Steuerfestsetzung vorläufige Festsetzungen gleichstehen.47 Damit wurde insbesondere eine Aussage zum Vollendungszeitpunkt getroffen und klargestellt, dass eine vollendete Steuerverkürzung bereits in der vorläufigen Festsetzung liegen kann.48 Der damalige § 165 Abs. 1 AO49 – der die Voraussetzungen der vorläufigen Festsetzung regelte – lautete im hier interessierenden Teil: „Eine Steuer kann insoweit vorläufig festgesetzt werden, als ungewiß ist, ob und inwieweit die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind.“

Diese Regelung entsprach dem heutigen § 165 Abs. 1 S. 1 AO; die Regelungen des Abs. 1 S. 2 heutiger Fassung gab es damals noch nicht. Die Ungewissheit bezüglich des Eintretens der Voraussetzungen für die Entstehung der Steuer meinte damals – wie heute im Rahmen des § 165 Abs. 1 S. 1 AO – eine rein tatsächliche Ungewissheit, nicht aber Ungewissheiten über das anzuwendende Recht.50 Die Vorschrift ermöglicht es der Finanzbehörde, „eine nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage und der Überzeugung der Finanzbehörde gerechtfertigte Steuerfestsetzung vorzunehmen, obwohl erkennbar ist, dass neue Erkenntnisse in tatsächlicher Hinsicht [. . .] diese Überzeugung möglicherweise umstoßen könnten.“ 51

Vor diesem Hintergrund ist auch § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO zu verstehen: Er schützt diese vorläufige Festsetzung der Finanzbehörde, indem er eine 46

BGBl. I 1976, 613 (689). Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, § 370 AO Rn. 4. 48 Gast-de Haan, BB 1991, 2490 (2492); vgl. auch Samson, in: Franzen/Gast/Samson, § 370 AO Rn. 31. 49 BGBl. I 1976, 613 (652). 50 Zur damaligen Rechtslage bspw. BFHE 143, 500 (501) m.w. N.; zur heutigen Rechtslage bspw. Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 7, unter Verweis auf ständige Rechtsprechung und herrschende Lehre; Rüsken, in: Klein, AO, § 165 Rn. 7, 16; vgl. Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 11. 51 Rüsken, in: Klein, AO, § 165 Rn. 5 zum § 165 Abs. 1 S. 1 AO aktueller Fassung, Hervorhebung durch den Verfasser. 47

I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen

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vollendete Steuerverkürzung in der Begehungsvariante dann annimmt, wenn der Steuerschuldner unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen macht und so eine zu niedrige, eine fehlende oder verspätete vorläufige – mit tatsächlichen Ungewissheiten belastete – Festsetzung verursacht. § 165 Abs. 1 AO 1977 hatte somit nur die vorläufige Festsetzung bei tatsächlichen Ungewissheiten im Sinn, allein hierauf bezog sich die Regelung des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO. Der Gesetzgeber wollte bei Erschaffung der §§ 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1, 165 Abs. 1 AO 1977 erkennbar keine Aussage dazu treffen, durch welche Rechtsnormen die normativ geprägten Merkmale des § 370 Abs. 1 AO ausgefüllt werden können: Der Bezugspunkt des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO bei seiner Erschaffung war über § 165 Abs. 1 AO 1977 ein rein tatsächlicher. Die Änderung rechtlicher Rahmenbedingungen – zu der die rückwirkende Neuregelung infolge einer Unvereinbarerklärung gehört – hatten die damaligen Vorschriften zur vorläufigen Festsetzung noch gar nicht im Blick. Zudem bezog sich die Regelung der §§ 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1, 165 Abs. 1 AO 1977 auch vom Sinn und Zweck her damals allein auf das Merkmal der Steuerverkürzung. Bereits diese Umstände sprechen dagegen, § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO i.V. m. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO dahingehend zu verstehen, dass sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 370 Abs. 1 AO – nicht nur die Steuerverkürzung – durch für unvereinbar erklärte Normen ausgefüllt werden können. (2) Gesetzgebungsgeschichte des § 165 Abs. 1 AO Insoweit stellte die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs einen gewissen Bruch dar: Sie erkannte nämlich an, dass auch die Ungewissheit darüber, wie der Gesetzgeber eine durch eine Unvereinbarerklärung des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene gesetzliche Neuregelung gestaltet, eine „ungewisse Tatsache“ i. S. d. § 165 Abs. 1 S. 1 AO ist.52 Dies diente der Ermöglichung der vorläufigen Festsetzung und hatte die Strafbarkeit nicht im Blick. Der Gesetzgeber wiederum sorgte für eine Bereinigung des Regelungssystems, indem er eine klare Trennung von tatsächlichen Ungewissheiten (§ 165 Abs. 1 S. 1 AO h.F.) und einigen wenigen, abschließend geregelten Fällen rechtlicher Ungewissheiten (§ 165 Abs. 1 S. 2 AO h.F.) bei den Voraussetzungen der vorläufigen Festsetzung einführte.53 Der heutige § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO wurde 52 BFHE 166, 1 (2); 165, 162 (Leitsatz); dazu Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 22; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 15; Rüsken, in: Klein, AO, § 165 Rn. 20; vgl. auch Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 Rn. 13. 53 Im Sinne einer solchen Trennung werden die Sätze 1 und 2 heute verstanden, vgl. Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 21; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 6, 12 f.; Rüsken, in: Klein, AO, § 165 Rn. 7, 16; anders wohl Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 Rn. 13.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

durch das Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz vom 21. Dezember 1993 eingeführt.54 Doch was wollte der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift erreichen? Wollte er unter anderem die steuerstrafrechtliche Weitergeltung für unvereinbar erklärter Normen anordnen, indem er – vor dem Hintergrund des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO – die reguläre Unvereinbarerklärung in den Katalog des § 165 Abs. 1 S. 2 AO aufnahm? Das ist klar zu verneinen. Der Gesetzgeber hatte ganz anderes im Sinn, nämlich die Entlastung der Finanzbehörden. Er führt als Beweggrund für die Erschaffung der Vorschrift an: „Insbesondere wenn die Finanzbehörden mit zahlreichen Einsprüchen überhäuft zu werden drohen, ist es zweckmäßig, von der vorläufigen Steuerfestsetzung Gebrauch zu machen. Steuerpflichtige sind dann nicht gezwungen, durch Rechtsbehelfe ihre Fälle offen zu halten, um in den Genuss der Neuregelung [. . .] zu kommen.“ 55

Die Vorschrift sollte somit lediglich verhindern, dass die Betroffenen im Falle einer Unvereinbarerklärung zahlreich Einsprüche einlegen, um sich die Möglichkeit offen zu halten, von der späteren Neuregelung durch den Gesetzgeber zu profitieren. Diese Wirkung wurde ihnen über den Weg der vorläufigen Festsetzung vielmehr zugestanden, ohne dass sie Einspruch einlegen mussten. Das sollte eine übermäßige Belastung der Finanzbehörden durch massenhafte Einsprüche verhindern.56 Das Zusammenwirken mit § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO, die Anordnung der strafrechtlichen Wirksamkeit unvereinbarer Steuernormen, ja die Strafbarkeit überhaupt hatte der Gesetzgeber bei der Aufnahme der regulären Unvereinbarerklärung in den Katalog des § 165 Abs. 1 AO nicht im Sinn. dd) Zwischenergebnis Bereits der Wortlaut der Vorschrift spricht eher gegen ein extensives Verständnis des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO. Zwar spräche der Sinn und Zweck der Norm – das Einbeziehen vorläufiger Festsetzungen in den Schutzbereich des § 370 Abs. 1 AO – für ein solches Verständnis, doch wird diese Sichtweise nicht durch die Gesetzgebungshistorie und den Willen des Gesetzgebers bestätigt. Dieser hatte bei Erschaffung des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO 1977 die Änderung rechtlicher Rahmenbedingungen hinsichtlich der durch § 370 Abs. 1 AO in Bezug genommenen Vorschriften gar nicht im Sinn: § 165 Abs. 1 AO 1977 regelte allein tatsächliche Ungewissheiten. Die §§ 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1, 165 Abs. 1 AO 1977 bezogen sich vom damaligen Sinn und Zweck her auch 54 BGBl. I 1993, 2310 (2345); vgl. dazu Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 1. 55 BT-Drucks. 12/5630, S. 98. 56 Vgl. dazu auch Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165 Rn. 2; Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rn. 1; Seer, in: Tipke/Kruse, § 165 Rn. 2, 13.

I. Untersuchung einfachgesetzlicher Normen

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allein auf das Merkmal der Steuerverkürzung. Durch die Schöpfung dieser Normen sollte demnach nicht angeordnet werden, dass mit der Verfassung unvereinbare Regelungen sämtliche normativ geprägten Merkmale des § 370 Abs. 1 AO ausfüllen können. Diese Konstellation hatte der Gesetzgeber noch gar nicht im Blick. Diesen Sinngehalt hat § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO auch nicht durch die Erschaffung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO bekommen. Auch diese Vorschrift sollte nämlich keine Aussage zu der Frage treffen, ob verfassungswidrige Normen die Merkmale des § 370 Abs. 1 AO ausfüllen können. Sie sollte vielmehr die Finanzbehörden vor massenhaft eingelegten vorsorglichen Einsprüchen bewahren. Die Auslegung hat somit ergeben, dass § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO i.V. m. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO nicht die Aussage zu entnehmen ist, dass die Hinterziehung der von einer regulären Unvereinbarerklärung betroffenen Steuern strafbar ist. Die vollumfängliche strafrechtliche Anwendbarkeit der Steuernormen über das Merkmal der „Steuerverkürzung“ hinaus – also auch bezüglich der Merkmale „steuerlich erhebliche Tatsachen“, „unrichtige oder unvollständige Angaben“ und „pflichtwidrig“ des § 370 Abs. 1 AO – ergibt sich also weder aus den §§ 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1, 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO, noch ist eine Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Daher gelten hinsichtlich dieser Merkmale strafrechtlich die regulären Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung: Strafrechtlich unterliegen die Normen einer dauerhaften Anwendungssperre, die Aussetzungspflicht gilt nicht.57 Diese Tatbestandsmerkmale können nicht durch einen Verstoß gegen die von der regulären Unvereinbarerklärung betroffenen Normen verwirklicht werden. Eine Strafbarkeit bei regulären Unvereinbarerklärungen scheidet demnach aus.58 Deswegen kann auch kein argumentum a fortiori für die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung aus diesen Vorschriften entnommen werden. 3. Zwischenergebnis zur Untersuchung einfachgesetzlicher Normen Dem einfachen Recht ist somit keine Aussage über die Problematik der Strafbarkeit auf der Grundlage verfassungswidrigen, aber weiter anwendbaren Rechts 57

Dazu oben D.I.1.b)aa) (S. 327). Zum selben Ergebnis kommt – bei gänzlich anderer Argumentation (Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot) – auch Gast-de Haan, BB 1991, 2490 (2491 ff.): Die steuerrechtliche Vorläufigkeit sei steuerstrafrechtlich unerheblich. Damals gab es allerdings § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO noch nicht, die Vorläufigkeit wurde auf § 165 Abs. 1 S. 1 AO gestützt, so dass sie sich mit der Frage der Auslegung des § 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO i.V. m. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AO noch gar nicht befassen konnte. Vgl. auch Sdrenka, Stb 1991, 452. 58

340

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

zu entnehmen: Die Untersuchung hat ergeben, dass § 79 Abs. 1 BVerfGG – anders als von Gegnern der Strafbarkeit behauptet – keine Aussage gegen die Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen enthält; die Norm hat keine materiell-rechtliche Aussage. Auch den §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 AO ist keine Aussage zu entnehmen, die für die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung auf der Grundlage von Weitergeltungsanordnungen sprechen würde. Für die reguläre Unvereinbarerklärung konnten ebenfalls Erkenntnisse gewonnen werden: Die Strafbarkeit auf Grundlage einer Strafnorm, die mit einer regulären Unvereinbarerklärung versehen wird, ist generell ebenso ausgeschlossen wie die rückwirkende Strafbarkeit auf Grundlage der betreffenden Neuregelung. Das Verhalten ist immer straflos. Daraus hat sich ergeben, dass die Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung bei Strafnormen zu modifizieren sind: Die Aussetzungspflicht ist hier sinnentleert und findet keine Anwendung.59 Auch bei der regulären Unvereinbarerklärung einer Steuernorm ist die Hinterziehung bis zur Neuregelung trotz der §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 AO straflos, die Aussetzungspflicht gilt nicht.60

II. Lösungsansatz: Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung Die Problematik der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung ist also nicht einfachgesetzlich determiniert. Nachfolgend gilt es daher drei entscheidende Fragestellungen zu beantworten. Die erste lautet, ob das Bundesverfassungsgericht seinen Weitergeltungsanordnungen tatsächlich auch strafrechtliche Wirksamkeit beigelegt hat – dies ist eine Frage der Auslegung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (1.). Danach ist zu ergründen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Weitergeltungsanordnung nach der Dogmatik des Verfassungsprozessrechts überhaupt strafrechtliche Wirkungen entfalten kann. Dabei sollen die im Abschnitt B. erarbeiteten Grundlagen des Verfassungsprozessrechts auf das Strafrecht bezogen werden (2.). In einem dritten Schritt soll überprüft werden, ob und in welchem Umfang die Anordnung strafrechtlicher Wirkungen der Weitergeltungsanordnung in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen nach diesen Grundsätzen zu rechtfertigen war (3.).

59 60

Dazu im Einzelnen oben D.I.1.b)aa) (S. 327). Dazu oben D.I.2.a) (S. 334).

II. Lösungsansatz

341

1. Die Auslegungsfrage: Die Anordnung der strafrechtlichen Wirksamkeit der Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht Zunächst gilt es also, die strafrechtlich relevanten Weitergeltungsanordnungen61 des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Denn eines ist klar: Hat das Bundesverfassungsgericht tatsächlich eine Weitergeltungsanordnung ausgesprochen, die sich auch auf das Strafrecht erstreckt, so gilt diese jedenfalls in der Praxis letztverbindlich.62 Dementsprechend kommt der Auslegung der Entscheidungen in der Diskussion eine denkbar große Bedeutung zu.63 a) Die Abgrenzung der herrschenden Rechtsprechung Würdigt man die Rechtsprechung zu § 370 AO und § 284 StGB übergreifend, so legt die herrschende Meinung Weitergeltungsanordnungen folgendermaßen aus: Spricht das Bundesverfassungsgericht mit einer Unvereinbarerklärung eine Weitergeltungsanordnung aus, nach der das „bisherige Recht“ 64 weiter anwendbar ist, so ist dies eine uneingeschränkte Weitergeltungsanordnung. Diese entfaltet strafrechtliche Wirkungen.65 Spricht das Bundesverfassungsgericht hingegen eine Weitergeltungsanordnung aus, nach der das alte Recht „nach Maßgabe der Gründe“ weiter anwendbar ist, und überlässt das Bundesverfassungsgericht in den Gründen der Entscheidung die Frage der Strafbarkeit ausdrücklich den Strafgerichten,66 so handelt es sich um eine eingeschränkte Weitergeltungsanordnung. Die strafrechtliche Wirkung der Anordnung ist autonom durch die Strafgerichte zu entscheiden.67 Mit anderen Worten: Mit einer Weitergeltungsanordnung wird konkludent auch die strafrechtliche Wirksamkeit der betreffenden Normen angeordnet. Dieser

61

Vgl. zu diesen Entscheidungen ausführlich oben C.I. (S. 149). Insoweit ist Bethges Ansicht in jedem Fall zutreffend, dazu oben C.II.2.c)aa)(1)(a) (S. 291). Auch ein solches Auslegungsergebnis würde freilich nicht von der Untersuchung entbinden, ob die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts haltbar ist. 63 Vgl. nur die Zusammenfassungen der Rechtsprechungsargumente unter C.II.1.b)jj) (S. 230) und C.II.2.b)gg) (S. 288) sowie die Literaturansichten unter C.II.1.c)bb)(1)(a) (S. 234), C.II.1.c)cc)(1)(b)(bb) (S. 246), C.II.2.c)aa)(1)(c) (S. 293). 64 So geschehen in der Vermögensteuerentscheidung, vgl. oben C.I.1.c)aa) (S. 169). 65 Dies ist den Entscheidungen zur Frage der Strafbarkeit gemäß § 370 AO zu entnehmen, vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung m. N. unter C.II.1.b)jj) (S. 230). 66 So geschehen in der Sportwettenentscheidung, vgl. oben C.I.2. (S. 188). 67 Dies ist den Entscheidungen zu § 284 StGB zu entnehmen, vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung m. N. oben unter C.II.2.b)gg) (S. 288). 62

342

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

kommt damit grundsätzlich strafrechtliche Wirkung zu. Etwas anderes gilt nur, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Wirkung ausdrücklich einschränkt. Ob diese Auslegung zutreffend ist, soll im Folgenden untersucht werden. b) Relevanz der Frage für Folgeargumente Die Auslegung der Weitergeltungsanordnung hat Relevanz für eine Reihe von Argumenten, die mit dem jeweiligen Auslegungsergebnis stehen und fallen. So sind Rechtsprechung68 und Teile der Literatur69 der Auffassung, für die Strafbarkeit spreche Art. 100 Abs. 1 GG. Denn eine Norm sei solange für jedermann verbindlich, als sie nicht durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde. Eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung hebe die Norm gerade nicht auf. Dieses Argument trifft aber für das Strafrecht nur dann zu, wenn die Weitergeltungsanordnung sich auch auf dieses erstreckt. Zudem wird in der Literatur behauptet, der Weitergeltungsanordnung komme eine Legalisierungswirkung zu. Auch sollen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts letztverbindlich sein.70 Auch Legalisierungswirkung und Letztverbindlichkeit können jedoch nur so weit reichen wie die Weitergeltungsanordnung selbst. c) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf der Grundlage verfassungswidriger Normen Im Folgenden soll die Frage näher betrachtet werden, ob das Bundesverfassungsgericht der Weitergeltungsanordnung tatsächlich unausgesprochen und somit automatisch strafrechtliche Wirkungen beimisst – wie es die Rechtsprechung unterstellt. Deswegen gilt es nunmehr jene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den Blick zu nehmen, die sich mit einem Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts ausdrücklich auseinandersetzen. Es ist nämlich unbestreitbar, dass die Weitergeltungsanordnung im Fall ihrer strafrechtlichen Wirksamkeit – neben dem Eingriff in das durch die verfassungswidrige Norm unmittelbar verletzte Grundrecht71 – einen Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG legitimiert.72

68 Dazu die Zusammenfassung der Rechtsprechung zu § 370 AO m. N. oben C.II. 1.b)jj) (S. 230). 69 Dazu oben C.II.1.c)bb)(1)(d) (S. 240). 70 Dazu oben C.II.2.c)aa)(1)(a) (S. 291). 71 Unmittelbar verletzt sind – im Falle des Steuerrechts – Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG und – im Falle des Sportwettenrechts – Art. 12 Abs. 1 GG. 72 Zu dieser Frage noch ausführlich D.II.2.d)cc)(1) (S. 367), D.II.2.d)cc)(4) (S. 372).

II. Lösungsansatz

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Damit die These von der automatischen Anordnung strafrechtlicher Wirkungen zutrifft, dürfte das Bundesverfassungsgericht Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts nicht als brisanter und rechtfertigungsbedürftiger ansehen als Eingriffe in die unmittelbar durch die verfassungswidrigen Normen verletzten Grundrechte. Nur unter dieser Prämisse könnte man davon ausgehen, dass das Bundesverfassungsgericht die strafrechtliche Wirkung und damit die weitere Legitimierung von Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG konkludent mitausspricht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mehrfach mit der Frage der Zulässigkeit von Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch verfassungswidrige Normen befasst. Diese Urteile sollen nun ausgewertet und daraufhin untersucht werden, ob das Bundesverfassungsgericht diese Eingriffe nicht doch kritischer beurteilt als bei anderen Grundrechten. aa) Anwendbarkeit der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung auf Straftatbestände Die offensichtlichste Variante dieser Problemstellung wäre folgende: Das Bundesverfassungsgericht überprüft in einem Normenkontrollverfahren einen Straftatbestand73 und gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass die Norm verfassungswidrig ist. Es spricht aber lediglich eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung und keine Nichtigerklärung aus. Damit hätte das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass ein verfassungswidriges Gesetz die Strafbarkeit eines Verhaltens und damit einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG legitimieren kann. Da Normen des materiellen Strafrechts einen der schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe begründen, den die Rechtsordnung dem Staat zugesteht, ist der Rechtfertigungsaufwand für den Erlass von solchen Gesetzen besonders hoch: Dieser Eingriff muss durch besonders wichtige Gründe gerechtfertigt sein.74 Kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass ein Straftatbestand verfassungswidrig ist, läge es eigentlich nahe, dass diese besonders wichtigen Gründe – die den Gesetzgeber zum Erlass der Norm motiviert haben – im Rahmen der Abwägung der Rechtsfolgen75 gegen die Nichtigkeit und für die weitere Anwendbarkeit sprechen. Es wäre aus dieser Perspektive eigentlich zu vermuten, dass Straftatbestände wegen der hinter diesen Normen stehenden gewichtigen Belange eher für unvereinbar und weiter anwendbar als für nichtig erklärt werden. 73 Dies meint hier einen vollständigen Straftatbestand als Gegenbegriff zum Blankettstrafgesetz. 74 Vgl. BVerfGE 96, 245 (249); 88, 203 (259); 39, 1 (46 f.), dazu noch ausführlich D.II.2.d)cc)(1) (S. 367). 75 Dazu oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136).

344

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Eine Untersuchung der strafrechtlichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass dies nicht der Fall ist. Das Bundesverfassungsgericht hat – legt man die in der Offiziellen Sammlung bis zum 131. Band veröffentlichten Entscheidungen zu Grunde – knapp 130 Entscheidungen in strafrechtlichem Kontext gefällt.76 Es kam dabei in dreizehn Fällen zu dem Ergebnis, dass die überprüften strafrechtlichen Normen verfassungswidrig waren. Acht von diesen Entscheidungen betrafen Straftatbestände – diese wurden sämtlich für nichtig erklärt.77 Die verbleibenden fünf Entscheidungen betrafen Normen zu den Rechtsfolgen der Tat. In zwei Fällen wurden hier ebenfalls Nichtigerklärungen ausgesprochen78, in den drei verbleibenden Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung79. Es ist somit festzuhalten, dass die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung – jedenfalls in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – nicht auf Straftatbestände angewendet wird. Dies drückt eine deutliche Zurückhaltung in der Frage aus, ob verfassungswidrige Normen einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG anordnen können. Lediglich in Fällen, in denen es um strafrechtliche Normen ging, welche die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen einen – seinerseits verfassungsgemäßen – Straftatbestand regelten, wurde in der bisherigen Rechtsprechung eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ausgesprochen. Diese Konstellation ist hier jedoch nicht einschlägig. bb) Die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch Existiert also keine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung in Bezug auf einen Straftatbestand, so gibt es dennoch Entscheidungen, denen eine Aussage dazu entnommen werden könnte, ob und unter welchen Voraussetzungen das Gericht Eingriffe in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch verfassungswidrige Gesetze als zulässig erachtet. Gleich zweimal hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen vom 25. Februar 197580 (Erster Senat) und vom 28. Mai 199381 (Zweiter Senat) zum Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs des § 218 StGB der jeweiligen 76 Siehe dazu und zum Folgenden die Auflistung der Entscheidungen und die dieser zu Grunde gelegten Definition einer „strafrechtlichen Entscheidung“ im Anhang unter F. (S. 406). 77 BVerfGE 110, 141; 98, 265; 88, 203; 78, 374; 39, 1; 14, 254; 14, 174; 9, 83. Auch in den Schwangerschaftsabbruchsentscheidungen – BVerfGE 88, 203; 39, 1 – wurden Nichtigerklärungen ausgesprochen, diese jedoch mit Anordnungen gemäß § 35 BVerfGG kombiniert, dazu sogleich. 78 BVerfGE 105, 135; 91, 1. 79 BVerfGE 130, 372; 128, 326; 109, 190. 80 BVerfGE 39, 1. 81 BVerfGE 88, 203.

II. Lösungsansatz

345

Fassungen und den damit verbundenen Regelungen der §§ 218a ff. StGB der jeweiligen Fassungen geäußert. Diese Urteile werden von Befürwortern der Strafbarkeit in ihrem Sinne interpretiert und als Beleg dafür herangezogen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst von der Kompetenz ausgeht, für die Übergangszeit Anordnungen auf dem Gebiet des Strafrechts zu treffen.82 Das Besondere an beiden Fällen ist, dass das Bundesverfassungsgericht hier nicht – wie in klassischen Eingriffs-Konstellationen – ein Zuviel an Eingriff gerügt hat. Vielmehr bemängelte es ein Zuwenig an Strafschutz. Es befand nicht einen Eingriff für verfassungswidrig, sondern vielmehr, dass es in bestimmten Konstellationen keinen oder einen unzureichenden Eingriff durch das Strafrecht gab: Es gelangte in beiden Urteilen zu der Auffassung, dass die bestehenden strafrechtlichen Regelungen der Schutzpflicht des Staates gemäß Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1 GG83 gegenüber dem ungeborenen Leben nicht gerecht wurden.84 § 218 StGB der jeweiligen Fassung enthielt den Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs. Die für verfassungswidrig befundenen Normen enthielten – soweit hier von Interesse – Rechtfertigungs-85 bzw. Strafausschließungsgründe86 zu diesem Straftatbestand. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die betreffenden Normen für unvereinbar und nichtig und sprach damit eine Nichtigerklärung aus.87 Doch damit hatte es nicht sein Bewenden: Es erließ jeweils für eine Übergangszeit – gestützt auf § 35 BVerfGG – eigene Regelungen. In BVerfGE 39, 1 hat es den Strafausschließungsgrund des § 218a der damaligen Fassung für nichtig erklärt und durch eigene Strafausschließungsgründe ersetzt. Zudem hat es den Anwendungsbereich des Straftatbestands des § 219 StGB der damaligen Fassung erweitert.88 In BVerfGE 88, 203 hat es den Tatbestand des damals als Rechtfertigungsgrund formulierten, für nichtig erklärten § 218a Abs. 1 StGB beibehalten, diesen aber als Tatbestandsausschluss formuliert.89 Dieser Tatbestand nahm Bezug auf 82

Dazu oben C.II.2.c)aa)(1)(b) (S. 292). Zu Herleitung und Reichweite dieser Schutzpflicht BVerfGE 88, 203 (251 ff.); 39, 1 (36 ff.). 84 BVerfGE 88, 203 (298 ff.); 39, 1 (51 ff.). 85 Der in BVerfGE 88, 203 für nichtig erklärte § 218a Abs. 1 StGB d. d. F. enthielt einen Rechtfertigungsgrund. 86 Beim durch BVerfGE 39, 1 für nichtig erklärten § 218 a Abs. 1 StGB d. d. F. war diese Einordnung allerdings umstritten, das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage offengelassen, BVerfGE 39, 1 (53). Hier soll diese Frage nicht weiter vertieft werden, es wird von einem Strafausschließungsgrund ausgegangen. 87 Vgl. dazu oben B.II.2.a) (S. 35). 88 BVerfGE 39, 1 (2 f.). 89 Dazu insbes. BVerfGE 88, 203 (337). Damit sollte verhindert werden, dass es einen Rechtfertigungsgrund gab, der auch außerhalb des Strafrechts Wirkungen zeitigte. 83

346

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

die Beratungsregelung des § 219 StGB damaliger Fassung. Diese hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls für nichtig erklärt und durch eine eigene ersetzt.90 Dieses Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist vor dem Hintergrund des Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB höchst problematisch. Denn auch wenn man davon ausgeht, dass den Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgericht gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft zukommt,91 so bedeutet „Gesetzeskraft nicht Gesetzeseigenschaft“.92 Das Gesetzlichkeitsprinzip soll gerade sicherstellen, dass Strafnormen vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen werden.93 Dies ist hier nicht mehr gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat über den Umweg der Rechtfertigungs- bzw. Strafausschließungsgründe unter Umgehung des hierfür berufenen demokratisch legitimierten Gesetzgebers eigene Regelungen über das „Ob“ der Strafbarkeit getroffen. Hier besteht bezüglich des Gesetzlichkeitsprinzips ein gewichtiger Unterschied zu der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung, die eine bestehende Regelung und damit den Willen des Gesetzgebers gerade aufrechterhält. Eine Strafbarkeit auf Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht geschaffenen Regelungen verstößt somit gegen das Gesetzlichkeitsprinzip, die Anordnungen sind ihrerseits verfassungswidrig. Doch dies ist für die hier interessierende Frage nicht von unmittelbarer Bedeutung. Wichtiger ist Folgendes: Das Bundesverfassungsgericht hat hier gehandelt, um einer staatlichen Schutzpflicht gerecht zu werden. Es hat nicht einen Eingriff in Grundrechte für verfassungswidrig befunden, sondern den Umstand, dass es keinen bzw. einen unzureichenden Eingriff in bestimmten Konstellationen gab. Bereits deshalb sind diese Urteile für die hier interessierende Fragestellung nicht aussagekräftig. In dieser sind Eingriffe verfassungswidrig, wobei dieser verfassungswidrige Eingriff durch die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung aufrechterhalten werden soll.

90

BVerfGE 88, 203 (210 ff.). Dafür BVerfG NJW 1998, 1854; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 188; dagegen Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 194; Heusch, in: Umbach/Clemens/ Dollinger, BVerfGG, § 31 Rn. 77; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 242; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 19 Rn. 16; die abweichende Meinung der Senatsminderheit (Broß; Osterloh; Gerhardt) in BVerfGE 109, 190 (254). 92 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 242 m.w. N.; vgl. auch Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 189. 93 Dazu BVerfGE 105, 135 (153); 95, 96 (131); 87, 399 (411); 87, 209 (224); vgl. auch die abweichende Meinung der Senatsminderheit (Broß; Osterloh; Gerhardt) in BVerfGE 109, 190 (253 f.), allerdings zum Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 GG; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 57; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 28; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 140. 91

II. Lösungsansatz

347

Das Bundesverfassungsgericht hat zudem Regelungen erlassen, die der staatlichen Schutzpflicht genügten. Es hat – zumindest aus seiner Sicht – inhaltlich verfassungsgemäße Anordnungen getroffen. Auf dieser Grundlage wurde in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingegriffen. Den Entscheidungen ist somit nicht zu entnehmen, dass und unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidriger Normen nach Ansicht des Gerichts zulässig sind. cc) Die Äußerung des Ersten Senats in der Sportwettenentscheidung Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang die Äußerung des Ersten Senats in der Sportwettenentscheidung, über die Frage der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB hätten die Strafgerichte zu entscheiden,94 relevant. Dies ist die einzige explizite Äußerung des Bundesverfassungsgerichts dazu, ob eine Weitergeltungsanordnung von Normen, die durch einen Straftatbestand in Bezug genommen werden, auch strafrechtlich wirksam ist. Der Erste Senat ging einerseits in jedem Fall davon aus, dass eine Strafbarkeit auf Grundlage der Weitergeltungsanordnung grundsätzlich möglich ist. Allerdings ist hierbei Folgendes zu beachten: Der Erste Senat hat in der Sportwettenentscheidung durch den Maßgabevorbehalt sichergestellt, dass zumindest die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen in der Übergangszeit eingehalten wurden. Nur vor diesem Hintergrund hat er auch die strafrechtliche Wirkung der Weitergeltungsanordnung für möglich erachtet. Der Erste Senat ging damit andererseits nicht davon aus, dass die strafrechtliche Wirkung automatische Folge der Weitergeltungsanordnung ist. Diese sollte vielmehr einer gesonderten Prüfung unterliegen. Hier lässt sich ableiten: Wenn das Gericht schon davon ausgeht, dass die Strafbarkeit selbst dann nicht automatische Folge der Anordnung ist, wenn über einen Maßgabevorbehalt die Einhaltung verfassungsrechtlicher Mindeststandards sichergestellt ist, dann kann es erst recht keinen Automatismus in Fällen geben, in denen eine solche Sicherstellung fehlt. dd) Die Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung Relevant sind ebenfalls die beiden Urteile des Zweiten Senats zur Sicherungsverwahrung. Auch wenn die Entscheidungen nicht zu Straftatbeständen ergingen, hat sich der Senat hier ausführlich damit befasst, ob und unter welchen Voraussetzungen auf Grundlage einer Weitergeltungsanordnung in das Grundrecht der Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingegriffen werden kann.

94

BVerfGE 115, 276 (319), dazu oben S. 192.

348

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

(1) BVerfGE 109, 190 (Sicherungsverwahrung I) Hoch interessant ist das Urteil des Zweiten Senats vom 10. Februar 2004 – BVerfGE 109, 190 (Sicherungsverwahrung I) – zu den bayerischen und sachsenanhaltinischen Gesetzen, welche die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung ermöglichten. Das Gericht kam zu der Erkenntnis, dass die Gesetze mit der Verfassung unvereinbar waren – allerdings „nur“ wegen eines Kompetenzverstoßes: Die Regelungen seien solche des Strafrechts i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG und damit Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes. Dieser habe von seiner Gesetzgebungskompetenz in abschließender Weise Gebrauch gemacht. Die Länder hätten somit keine Gesetzgebungskompetenz.95 Die Landesgesetze wurden für unvereinbar und bis zum 30. September 2004 – also für noch etwas mehr als ein halbes Jahr – für weiter anwendbar erklärt.96 Das Gericht beschäftigte sich hier in ungewöhnlich ausführlicher Form mit den Rechtsfolgen der Entscheidung; auf die Bedeutung des Urteils für die Dogmatik der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung wurde bereits eingegangen.97 Es äußerte sich aber über diese bereits diskutierten Aspekte hinaus auch zur Frage des Verhältnisses der Weitergeltungsanordnung zum Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Bezüglich der Rechtsfolgen des Urteils – also der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung – ist das Urteil lediglich mit fünf zu drei Stimmen ergangen.98 Bereits die Senatsmehrheit hat dabei ein restriktives Verständnis zu der Frage zum Ausdruck gebracht, ob und unter welchen Voraussetzungen ein verfassungswidriges Gesetz auf Grundlage einer Weitergeltungsanordnung in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingreifen kann. (a) Die Auffassung der Senatsmehrheit Im Rahmen der Abwägung – die das Gericht zur Zulässigkeit der Weitergeltungsanordnung vornimmt – führt die Senatsmehrheit aus: „Auch angesichts des hohen Wertes des Freiheitsrechts [. . .] [des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, Anm. des Verfassers] erscheint ein verfassungsgemäßer Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen in Ausnahmefällen möglich, wenn die Voraussetzungen und die Ausgestaltung der Freiheitsentziehung durch eine enge Bindung an den zu erfüllenden Schutzzweck streng begrenzt werden.“ 99

95 96 97 98 99

BVerfGE 109, 190 (211 ff.). BVerfGE 109, 190 (191). Dazu oben B.III.4.b)bb)(1)(c) (S. 132). BVerfGE 109, 190 (244). BVerfGE 109, 190 (236).

II. Lösungsansatz

349

Diese Anforderungen werden konkretisiert: Das Gericht geht davon aus, dass das „überragende Interesse der Allgemeinheit an effektivem Schutz vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern in Ausnahmefällen das Freiheitsinteresse der von der Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG überwiegen“

kann.100 Das Gericht knüpft also die Weitergeltungsanordnung bei dem Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG an besonders restriktive Voraussetzungen. Daraus leitet das Gerichts zwei Konsequenzen ab: Zum einen erfordere das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG „eine enge Begrenzung des Übergangszeitraumes. [. . .] Diese Frist ist angesichts der Tatsache, dass sich die Beschwerdeführer auf Grund einer formell verfassungswidrigen Regelung im Gewahrsam des Staates befinden, auf das unbedingt Notwendige zu beschränken.“ 101

Zudem beschränke der hohe Wert des Grundrechts das übergangsweise zulässige Eingriffsspektrum. Während der Übergangszeit dürften die Eingriffe nur soweit reichen, „wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung des betreffenden Lebensbereiches aufrechtzuerhalten.“ 102 Daraus leitet das Gericht wiederum die Notwendigkeit ab, die Anwendung der verfassungswidrigen Landesgesetze inhaltlich zu begrenzen und dadurch sicherzustellen, dass ihre Anwendung nicht dem Grundrecht der Betroffenen zuwiderläuft. Deswegen legt es die Voraussetzungen der Anordnung der Sicherungsverwahrung verfassungskonform und sehr restriktiv aus. Dabei trifft es detaillierte inhaltliche Anordnungen zu den Voraussetzungen der Gesetze und zu der Überprüfung dieser Voraussetzungen durch die Vollstreckungsgerichte.103 Bereits die Senatsmehrheit hat also deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Weitergeltungsanordnung bei Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sehr restriktiv angewendet werden muss. Auf die Problematik wurde ausführlich eingegangen und die Weitergeltungsanordnung – unter mehrfacher Betonung des hohen Werts des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG – besonders ausführlich begründet. Dieser hohe Wert hatte für die Weitergeltungsanordnung inhaltliche Konsequenzen: Zum einen wurde nur eine sehr kurze Übergangsfrist gewährt. Zum anderen wurde durch die verfassungskonforme Auslegung sichergestellt, dass die Anordnung der Unterbringung – bis auf den Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenzen – inhaltlich verfassungsgemäß ist.

100 101 102 103

BVerfGE 109, 190 (239). Ebenda. Ebenda. BVerfGE 109, 190 (239 ff.).

350

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

(b) Die Auffassung der Senatsminderheit Der Richterin Osterloh sowie den Richtern Broß und Gerhardt war dies nicht restriktiv genug. Über die bereits behandelten Anmerkungen zu den generellen Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung hinaus104 gaben sie der Überzeugung Ausdruck, dass Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen generell unzulässig sind: Die Übergangsfrist sei eingeräumt worden, um die hochgradig gefährlichen Inhaftierten nicht freilassen zu müssen und dem Bundesgesetzgeber so die Möglichkeit zu erhalten, ein eigenes Gesetz zu erlassen, das diese Personen erfasste. Damit werde einem bestimmten rechtspolitischen Anliegen der Vorrang vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingeräumt; das sei nicht zu rechtfertigen.105 Dem besonderen Gesetzesvorbehalt und den besonderen Verfahrensgarantien des Art. 104 GG im Zusammenhang mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG sei zu entnehmen, dass es im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankomme. Der Eingriff bedürfe insbesondere einer demokratisch legitimierten, vom Parlamentswillen getragenen Rechtsgrundlage.106 Die Weitergeltungsanordnung aber beruhe auf richterlicher Rechtsfortbildung und sei lediglich Gewohnheitsrecht. Mit der Zielsetzung des Art. 104 Abs. 1 GG, die Entscheidung über Freiheitsentziehungen dem Gesetzgeber anheimzustellen, sei eine auch nur befristete Weitergeltungsanordnung durch das Bundesverfassungsgericht prinzipiell unvereinbar.107 Auch die Gesetzeskraft der Entscheidung – selbst wenn man der Weitergeltungsanordnung gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft beimisst, was die Senatsminderheit ausdrücklich ablehnt – mache aus Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht solche des Parlaments.108 (c) Fazit Bereits die Senatsmehrheit hat eine deutliche Zurückhaltung bei der Frage zum Ausdruck gebracht, ob und in welcher Form Weitergeltungsanordnungen Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG rechtfertigen können. Dies wurde mit der besonderen Bedeutung des Grundrechts begründet. In jedem Fall zeigen die ausführlichen Erörterungen des Gerichts, dass ein erhebliches Problembewusstsein be104 105 106 107 108

Dazu oben B.III.4.b)bb)(1)(c) (S. 132). BVerfGE 109, 190 (252). BVerfGE 109, 190 (252 f.). BVerfGE 109, 190 (253). BVerfGE 109, 190 (253 f.).

II. Lösungsansatz

351

züglich der Frage existiert. Drei der acht entscheidenden Richter waren darüber hinaus der Auffassung, dass eine Weitergeltungsanordnung bei Eingriffen in das genannte Grundrecht generell nicht in Betracht kommt. In jedem Fall ist der Entscheidung zu entnehmen, dass Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigem Rechts vom Zweiten Senat als besonders brisant und rechtfertigungsbedürftig angesehen werden. (2) BVerfGE 128, 326 (Sicherungsverwahrung II) Der Zweite Senat beschäftigte sich in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 – BVerfGE 128, 326 – erneut mit der Sicherungsverwahrung. Gegenstand des Verfahrens waren sämtliche bundesgesetzlichen Vorschriften über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung.109 Dabei hat es die betreffenden Normen des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes110 wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG für mit der Verfassung unvereinbar erklärt.111 Diese Normen wurden jedoch – gestützt auf § 35 BVerfGG – bis zum 31. Mai 2013 für weiter anwendbar erklärt, jedoch entweder nur „nach Maßgabe der Gründe“ oder nach Maßgabe der Anordnung selbst, die detaillierte inhaltliche Vorgaben enthielt.112 Der Zweite Senat bestätigte dabei sein restriktives Verständnis der Weitergeltungsanordnung, soweit sie Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG betrifft. Zwar werden die Folgen einer Nichtigerklärung in der Rechtsfolgenabwägung als schwerwiegend eingestuft: Die Rechtsgrundlage für die Sicherungsverwahrung würde fehlen, was zur Folge hätte, dass sämtliche Personen in Sicherungsverwahrung sofort freigelassen werden müssten. Zudem könnten Personen, die sich noch im Vollzug der Freiheitsstrafe befänden und in deren Fall die Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei, die Sicherungsverwahrung nicht antreten. Dies würde Gerichte, Polizei und Verwaltung vor kaum lösbare Probleme stellen.113 Wegen des Umfangs des vom Gesetzgeber geforderten Reformvorhabens wurde die Weitergeltungsanordnung auf zwei Jahre erstreckt.114 Wegen des mit der Weitergeltungsanordnung verbundenen – verfassungswidrigen – Grundrechtseingriffs sei es aber geboten, die Wahrung verfassungsrechtlicher Mindestanforderungen sicherzustellen. Der hohe Wert des Freiheitsgrundrechts des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG – hier 109

Vgl. BVerfGE 128, 326 (365). Neben den angefochtenen Normen erweiterte das Gericht das Urteil auf die entsprechenden Nachfolgeregelungen, ebenda. 111 BVerfGE 128, 326 (329 ff.). 112 BVerfGE 128, 326 (332 ff.). 113 BVerfGE 128, 326 (404 f.). 114 BVerfGE 128, 326 (405). 110

352

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

knüpft das Gericht an die zuvor besprochene Entscheidung an – beschränke das zulässige Eingriffsspektrum. Während der Übergangszeit dürften Eingriffe nur so weit reichen, wie sie unerlässlich seien, um die Ordnung des betreffenden Lebensbereichs aufrechtzuerhalten. 115 Dabei mahnte das Gericht bei der Anwendung der Vorschriften in der Übergangszeit eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung an: Die Verhältnismäßigkeit sei dabei in der Regel nur gewahrt, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten sei. In Bezug auf jene Vorschriften, die in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutzgebot des Art. 20 Abs. 3 GG eingriffen, hat das Gericht in der Übergangsregelung selbst umfangreiche inhaltliche Anordnungen getroffen.116 Der Senat hat sich also auch hier mit der besonderen Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auseinandergesetzt, hat die Weitergeltungsanordnung vor diesem Hintergrund besonders ausführlich begründet und an besonders restriktive Voraussetzungen geknüpft. Er hat inhaltliche Vorgaben für die Anwendung der weitergeltenden Normen getroffen, um den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen. Die Einhaltung dieser restriktiven Voraussetzungen hat das Bundesverfassungsgericht zudem in zwei Folgeentscheidungen im 129. und 131. Band untersucht und die dabei überprüfte Anwendung der weitergeltenden Normen durch die Strafgerichte für verfassungswidrig befunden.117 Auch in der soeben untersuchten Entscheidung und ihren Folgeentscheidungen kommt somit zum Ausdruck, dass eine Weitergeltungsanordnung im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG als besonders rechtfertigungsbedürftig angesehen wird. ee) Zwischenergebnis Die Untersuchung hat ergeben, dass das Bundesverfassungsgericht noch nie einen Straftatbestand für unvereinbar mit der Verfassung befunden und dabei seine Weitergeltung angeordnet hat. Dies drückt eine deutliche Zurückhaltung in der Frage aus, ob verfassungswidrige Normen die Strafbarkeit eines Verhaltens und damit einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG anordnen können. Die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch sind wegen der Besonderheiten der Schutzpflichtverletzung nicht mit der hier interessierenden Konstellation vergleichbar. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht sichergestellt, dass der Eingriff in der Übergangszeit inhaltlich verfassungsgemäß ist. Eine positive Aussage zur Zulässigkeit eines Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf 115 116 117

BVerfGE 128, 326 (405 f.). BVerfGE 128, 326 (332 ff., insbes. 406 f.). BVerfGE 131, 268 (315 f.); 129, 37 (45 ff.).

II. Lösungsansatz

353

Grundlage verfassungswidrigen Rechts ist den Entscheidungen nicht zu entnehmen. In den beiden Urteilen zur Sicherungsverwahrung hat sich der Zweite Senat eindeutig zu Zulässigkeit und Voraussetzungen eines Eingriffs in das Grundrecht der Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts positioniert: Dieses Grundrecht hat danach einen besonders hohen Wert. Eingriffe auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts sind nach Ansicht des Gerichts zwar möglich, haben aber – dies zeigen die ausführliche Begründung und die restriktive Anwendung der Weitergeltungsanordnungen – eine besondere Brisanz. Diese versucht das Gericht dadurch abzufangen, dass es inhaltliche Vorgaben zur Anwendung der Normen macht, die sicherstellen, dass die Eingriffe auf das Nötigste begrenzt sind. Zwar betrafen die genannten Entscheidungen Normen, welche die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen einen – seinerseits verfassungsgemäßen – Straftatbestand regelten. Die in ihnen entwickelten Grundsätze müssen aber umso mehr für die Anordnung der Weitergeltung von Normen gelten, welche die Strafbarkeit selbst anordnen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Äußerung des Ersten Senats in der Sportwettenentscheidung, die Frage der Strafbarkeit sei durch die Strafgerichte zu entscheiden, eine ganz andere Bedeutung, als die herrschende Meinung ihr beimisst: Sie ist Ausdruck der generellen Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch verfassungswidrige Gesetze zumindest besonders rechtfertigungsbedürftig ist und einer gesonderten Entscheidung bedarf. Es ist zu bedauern, dass das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung in der Sportwettenentscheidung nicht selbst getroffen, sondern an die Strafgerichte delegiert hat. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Die herrschende Meinung geht zur Frage der Strafbarkeit auf der Grundlage von Weitergeltungsanordnungen im Rahmen der Auslegung davon aus, dass eine Weitergeltungsanordnung grundsätzlich strafrechtliche Wirkung zeitigt, es sei denn, das Bundesverfassungsgericht schränkt diese Wirkung ausdrücklich ein.118 Es hat sich allerdings gezeigt, dass diese Auffassung vor dem Hintergrund der untersuchten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht haltbar ist. Diesen Entscheidungen ist zu entnehmen, dass • ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts zwar grundsätzlich möglich ist • dieser Eingriff durch verfassungswidrige Normen wegen des hohen Werts des Grundrechts aber besonders brisant und rechtfertigungsbedürftig ist

118

Dazu oben D.II.1.a) (S. 341).

354

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

• und dieser nur dann zulässig ist, wenn in der Übergangszeit sichergestellt ist, dass zumindest gewisse verfassungsrechtliche Mindestanforderungen erfüllt sind. Diese müssen die Eingriffe auf das Nötigste begrenzen. Dies wird durch inhaltliche Anordnungen zu den anwendbaren Vorschriften durch das Bundesverfassungsgericht erreicht. Daraus ist zu schließen, dass die strafrechtliche Wirkung – jedenfalls soweit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG betroffen ist119 – nicht konkludent mit angeordnet wird, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Weitergeltungsanordnung ausspricht. ff) Konsequenzen für die Auslegung der untersuchten Weitergeltungsanordnungen Die soeben ermittelte Auffassung des Bundesverfassungsgerichts muss ihrerseits bei der Auslegung der hier relevanten Weitergeltungsanordnungen berücksichtigt werden. Da das Bundesverfassungsgericht in der Sportwettenentscheidung die Frage der Strafbarkeit ausdrücklich den Strafgerichten zur Entscheidung überlassen hat,120 kann die Auslegung hier nicht weiterhelfen; die Weitergeltungsanordnung ist insoweit ergebnisoffen. Anders ist die Lage bei den untersuchten steuerrechtlichen Entscheidungen121 des Bundesverfassungsgerichts. Weder hat das Gericht hier der großen Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dadurch Rechnung getragen, dass die strafrechtliche Wirkung besonders begründet wurde; das Grundrecht wurde in den jeweiligen Entscheidungen mit keinem Wort erwähnt. Noch wurde ein restriktiver Maßstab für die Übergangszeit angeordnet, der die Einhaltung verfassungsrechtlicher Mindestanforderungen sicherstellte, um die Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 auf das Nötigste zu begrenzen. Dies wäre hier aber besonders erforderlich gewesen: Die verfassungswidrige Steuernorm ordnet nämlich in Verbindung mit § 370 AO die Strafbarkeit eines Verhaltens überhaupt erst an. Die soeben ermittelten Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts wurden zu Normen entwickelt, die lediglich die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen einen – seinerseits verfassungsgemäßen – Straftatbestand regelten. Sie müssen daher in gesteigerter Form für die Anordnung der Strafbarkeit eines Verhaltens gelten. Insoweit gilt im Rahmen der Auslegung: Mit der besonderen Vorsicht, die das Bundesverfassungsgericht in den untersuchten Entscheidungen zu der Zulässig-

119 Präzisierend zu den sonstigen strafrechtlichen Grundrechtseingriffen unten D.II. 2.d)ee)(2)(b) (S. 381). 120 Dazu oben S. 192. 121 Dazu oben C.I.1. (S. 149).

II. Lösungsansatz

355

keit von Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch verfassungswidriges Recht walten lässt, ist es nicht zu vereinbaren, wenn man den steuerrechtlichen Weitergeltungsanordnungen unausgesprochen die Aussage entnimmt, sie würden Eingriffe in dieses Grundrecht umfassen. Die These von der automatischen Anordnung strafrechtlicher Wirkungen in den steuerrechtlichen Entscheidungen ist bereits deswegen abzulehnen. d) Berücksichtigung der verfassungsprozessrechtlichen Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung bei der Auslegung Auch die verfassungsprozessrechtlichen Grundlagen einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung müssen bei der Auslegung berücksichtigt werden. aa) Relevanz der verfassungsprozessrechtlichen Voraussetzungen für die Auslegung Regelfolge einer Unvereinbarerklärung sind Anwendungssperre und Aussetzungspflicht, wobei im Strafrecht letztere sinnvollerweise nicht gilt.122 Von dieser Regelfolge wird nur abgewichen, soweit das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendbarkeit ausdrücklich anordnet. Sind die Voraussetzungen einer regulären Unvereinbarerklärung noch umstritten, so ist die Weitergeltungsanordnung nach dem Rechtsfolgenargument des Bundesverfassungsgerichts unstrittig Ergebnis einer Abwägung.123 Dabei werden das die Normvernichtung fordernde Verfassungsgut und das die Normerhaltung fordernde gegeneinander abgewogen. Die Weitergeltungsanordnung wird dann ausgesprochen, wenn das die Normerhaltung fordernde Gut erheblich überwiegt.124 Ist ein bestimmtes Abwägungsergebnis Tatbestandsvoraussetzung der Weitergeltung, kann die Anordnung auch nur so weit reichen wie die vorgenommene Abwägung. Der konkrete Inhalt und die Reichweite der Abwägung sind demgemäß von großer Relevanz für die Auslegung der Weitergeltungsanordnung. Degenhard ist beizupflichten, wenn er ausführt, dass die Weitergeltungsanordnung nicht weiter reichen kann als der vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Prüfungsmaßstab.125

122

Dazu oben D.I.1.b)aa)(1)(b) (S. 327). Dazu im Einzelnen oben B.III.4.b)bb) (S. 129). 124 Zu den genauen Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 125 Zu dieser Auffassung oben C.II.1.c)cc)(1)(b)(cc) (S. 246). 123

356

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

bb) Reichweite der Abwägung in den relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Spielt die Reichweite der vorgenommenen Abwägung eine große Rolle bei der Auslegung einer Weitergeltungsanordnung, so sind nunmehr die vom Bundesverfassungsgericht tatsächlich angestellten Abwägungen in den Blick zu nehmen. In den steuerrechtlichen Weitergeltungsanordnungen wurde zwar eine Abwägung vorgenommen – aber sämtlich nur zwischen den unmittelbar durch die Steuernormen betroffenen Verfassungsgütern: Es wurden Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG auf Seiten der Normvernichtung und die Erfordernisse einer verlässlichen Haushalts- und Finanzplanung und einige andere Aspekte auf Seiten der Normerhaltung gegeneinander abgewogen.126 Über den Tatbestand des § 370 AO eröffnet sich jedoch eine zweite verfassungsrechtliche Dimension; die Normen des Steuerrechts können so Grundlage eines Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG werden. Diese Grundrechtsnorm wurde in den Entscheidungen nicht mit einem Wort erwähnt. Das führt zur folgendem Auslegungsergebnis: Die Abwägung – und damit die Weitergeltungsanordnung als Abwägungsergebnis – umfasste den Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht. In der Sportwettenentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass über die Frage der Strafbarkeit die Strafgerichte zu entscheiden haben.127 Deswegen führt die Auslegung hier, wie bereits erwähnt, nicht weiter. Im Zusammenhang mit dem eben Ausgeführten wird der eigentliche – sehr bedenkliche – Inhalt des Verweises an die Strafgerichte deutlich: Die auf der strafrechtlichen Rechtsfolgenseite vorzunehmende Abwägung ist danach nicht vom Bundesverfassungsgericht, sondern von den Strafgerichten vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungsrechtliche Abwägung mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bedauerlicherweise an die Strafgerichte delegiert. e) Zwischenergebnis zur Auslegung Die herrschende Meinung geht im Rahmen der Auslegung der Weitergeltungsanordnung von einer konkludenten Anordnung strafrechtlicher Wirkungen aus.128 Eingangs wurde ausgeführt, dass diese Auffassung nur unter einer Bedingung haltbar ist: Das Bundesverfassungsgerichts darf Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts nicht für problematischer und rechtfertigungsbedürftiger halten als solche in die durch die verfassungswidrige Norm unmittelbar betroffenen Grundrechte. 126 Vgl. sämtliche oben unter C.I.1.b) (S. 153) besprochenen steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 127 Dazu oben S. 192. 128 Dazu oben D.II.1.a) (S. 341).

II. Lösungsansatz

357

Das ist jedoch eindeutig nicht der Fall. Dies wird zunächst dadurch unterstrichen, dass das Bundesverfassungsgericht alle Straftatbestände, die es für verfassungswidrig befunden hat, mit Nichtigerklärungen versehen hat.129 Die Urteile zur Sicherungsverwahrung zeigen dies ebenfalls. Die herrschende Meinung zur Auslegung von Weitergeltungsanordnungen ist vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung nicht haltbar. Von einer strafrechtlichen Wirkung kann in Bezug auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. In allen dazu ergangenen Entscheidungen wird diese vom Bundesverfassungsgericht nach ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Freiheit der Person ausdrücklich angeordnet und umfassend begründet, und ihr wird durch besonders restriktive Anwendungsvoraussetzungen der weitergeltenden Normen Rechnung getragen.130 Das ist in den steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht geschehen. Die Auslegung der Weitergeltungsanordnung muss darüber hinaus – wie soeben dargelegt – deren verfassungsprozessrechtliche Voraussetzungen berücksichtigen. Die Weitergeltungsanordnung ist danach nur bei einem bestimmten Abwägungsergebnis zulässig. Deswegen kann sie nur solche Aspekte betreffen, die in der Abwägung auch berücksichtigt worden sind. Die zweite verfassungsrechtliche Dimension des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG wurde aber in keiner steuerrechtlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgericht auch nur erwähnt. Die Auslegung der steuerrechtlichen Weitergeltungsanordnungen ergibt somit, dass – soweit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG betroffen ist131 – keine strafrechtlichen Wirkungen angeordnet wurden. In der Sportwettenentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die strafrechtliche Wirkung ausdrücklich der Entscheidung der Strafgerichte überlassen und damit die Abwägung mit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG an die Strafgerichte delegiert. Hier kann die Auslegung weder für noch gegen die strafrechtliche Wirkung angeführt werden. 2. Dogmatische Herleitung der Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirkung Soeben wurde durch Auslegung ermittelt, ob das Bundesverfassungsgericht seinen Anordnungen tatsächlich strafrechtliche Wirkungen beigefügt hat. Diese Frage wurde in Bezug auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG verneint. Nachfolgend ist nunmehr zu untersuchen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Weitergeltungsanordnung überhaupt strafrechtliche Wirkungen entfalten kann.

129

Dazu oben D.II.1.c)aa) (S. 343). Dazu oben D.II.1.c)dd) (S. 347). 131 Präzisierend in Bezug auf die sonstigen mit einer Strafnorm verbundenen Grundrechtseingriffe unten D.II.2.d)ee)(2)(b) (S. 381). 130

358

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

a) Ansatzpunkte in Rechtsprechung und Literatur In Rechtsprechung wie Literatur wurden viele Punkte, die im Folgenden eine Rolle spielen werden, bereits angedeutet. An verschiedenen Stellen wird betont, die Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts sei mit grundlegenden Prinzipien des Strafrechts – Gesetzlichkeitsprinzip132, Rückwirkungsverbot133, Bestimmtheitsgrundsatz134, Schuldprinzip135 und Ultima-ratio-Prinzip136 – nicht vereinbar. In der Literatur findet sich vereinzelt der Hinweis, dass Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG der Strafbarkeit entgegensteht.137 In Rechtsprechung138 und Literatur139 wird zudem häufig angeführt, dass die Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar sei. Diese Ansätze haben gemein, dass sie keinen Bezug zu den verfassungsprozessrechtlichen Grundlagen und den daraus folgenden Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung aufweisen. An dieser Stelle wird nunmehr aus der Dogmatik des Verfassungsprozessrechts abgeleitet, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung strafrechtliche Wirkungen entfalten kann. Dabei sollen die genannten Ansätze überprüft und – sofern sie Bestand haben – in die verfassungsprozessrechtliche Dogmatik integriert werden. b) Die Dogmatik der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung Das insoweit maßgebliche verfassungsprozessrechtliche Fundament wurde im Abschnitt B. dieser Arbeit entwickelt und ist im hier interessierenden Rahmen wie folgt aufgebaut:140 Nach dem unstrittigen Nichtigkeitsgrundsatz ist eine verfassungswidrige Norm grundsätzlich für nichtig zu erklären. Dieser Grundsatz ist durch das verletzte Grundrecht, durch den Vorrang der Verfassung und das Rechtsstaatsprinzip ver132

Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(cc) (S. 255), C.II.2.b)ff)(3) (S. 287), 305 (S. 305). Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(ee) (S. 255). 134 Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(bb) (S. 254), zum Sonderproblem, ob der Maßgabevorbehalt der Sportwettenentscheidung zur Unbestimmtheit führt, bereits oben C.II.2.d) (S. 307). 135 Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(aa) (S. 253). 136 Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(dd) (S. 255). 137 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(d) (S. 248), C.II.2.c)bb)(1)(c) (S. 300). 138 Dazu oben C.II.2.b)aa)(2) (S. 277), C.II.2.b)aa)(4) (S. 278), C.II.2.b)cc)(1) (S. 279), C.II.2.b)dd) (S. 283), C.II.2.b)ff)(4) (S. 287). 139 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(e) (S. 249), C.II.2.c)bb)(1)(d) (S. 301). 140 Im Einzelnen oben unter B.II. (S. 33), vgl. insbesondere auch die Zusammenfassung mit weiterführenden Hinweisen und den genauen Voraussetzungen der einzelnen Entscheidungsvarianten unter B.IV. (S. 146). 133

II. Lösungsansatz

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fassungsrechtlich geboten. Dabei sind Ausnahmen zum Nichtigkeitsgrundsatz zuzulassen, die jedoch rechtfertigungsbedürftig sind. Diese Ausnahmen ergeben sich aus der vorzugswürdigen Abwägungslehre und sind auf zwei unterschiedliche „Eskalationsstufen“ der Unvereinbarerklärung begrenzt. Die erste bildet die reguläre Unvereinbarerklärung mit der Rechtsfolge der fortbestehenden Existenz der Norm bei bestehender Anwendungssperre und Aussetzungspflicht. Die zweite Stufe ist die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung mit der Rechtsfolge der weiteren Anwendbarkeit. Diesen verfassungsrechtlich unterschiedlich bedenklichen Rechtsfolgen entsprechen die unterschiedlich strengen Voraussetzungen der Entscheidungsvarianten, die aus der Abwägungslehre hergeleitet wurden. Dabei ist eine reguläre Unvereinbarerklärung zulässig, wenn das den Normerhalt fordernde Rechtsgut das die Normvernichtung fordernde überwiegt. Die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung sind wegen der vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips und der verletzten Grundrechte besonders bedenklichen Rechtsfolgen strenger: Die Weitergeltung muss aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten sein, wobei das die Normerhaltung fordernde Rechtsgut erheblich überwiegen muss. c) Generelle Unzulässigkeit der strafrechtlichen Wirkung? Bevor auf die Voraussetzungen einer strafrechtlichen Wirkung nach dieser Systematik eingegangen werden kann, ist zu prüfen, ob strafrechtliche Wirkungen einer Weitergeltungsanordnung nicht von vornherein ausgeschlossen sind. Dafür könnten grundlegende Prinzipien des Strafrechts sprechen. aa) Gesetzlichkeitsprinzip und Gesetzesvorbehalt Es wird in Rechtsprechung141 und Literatur142 immer wieder behauptet, das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB schließe die Strafbarkeit auf Grundlage einer Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts aus. Das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB enthält einen Parlamentsvorbehalt, der einen doppelten Zweck verfolgt:143 Zum einen soll – für den Normadressaten – sichergestellt werden, dass sich die Strafbarkeit aus

141

Dazu oben C.II.2.b)ff)(3) (S. 287). Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(cc) (S. 255), C.II.2.c)bb)(2)(b)(aa) (S. 305). 143 So BVerfGE 105, 135 (153); 92, 1 (12); 87, 399 (411); Nolte, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 140; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 28; Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 49. 142

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

einem Gesetz ergibt, damit sie hinreichend vorhersehbar ist.144 Zum anderen soll er garantieren, dass die Entscheidung über das „Ob“ der Strafbarkeit vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber getroffen wird.145 Dieser doppelte Zweck ist jedoch bei einer Strafbarkeit auf Grundlage von Gesetzen, die von einer Weitergeltungsanordnung erfasst sind, nicht tangiert. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung erhält nicht nur die Existenz der verfassungswidrigen Norm, sondern auch die Anwendbarkeit.146 Das Bundesverfassungsgericht schafft keine eigene Rechtsnorm, sondern erhält ein bestehendes Parlamentsgesetz aufrecht. Es ersetzt nicht den Willen des Gesetzgebers, es schützt ihn vielmehr trotz der Verfassungswidrigkeit.147 Auch ist die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit aus einem Parlamentsgesetz gegeben: Das weitergeltende Gesetz hat – unabhängig von der Frage der Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG148 – weiterhin Gesetzesrang, es verliert den Rang eines Parlamentsgesetzes nicht, sondern gilt unverändert fort. Das gilt aber nur insoweit, als das Bundesverfassungsgericht in der Anordnung für die Übergangszeit entweder keine inhaltlichen Modifikationen des weitergeltenden Gesetzes vornimmt, oder nur solche, welche die Strafbarkeit einschränken. Nur unter diesen Voraussetzungen ist jeder strafbare Fall aus dem ursprünglichen Parlamentsgesetz vorhersehbar und unmittelbar auf den Willen des Parlaments zurückzuführen. Weitet das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit dagegen aus, ist beides nicht mehr gewährleistet; daran kann auch die Gesetzeskraft der Weitergeltungsanordnung – so sie denn überhaupt an der Gesetzeskraft

144 BVerfGE 92, 1 (12); 87, 399 (411); Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 140; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 28; Jarass/ Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 49. 145 BVerfGE 105, 135 (153); 95, 96 (131); 92, 1 (12); 87, 399 (411); 87, 209 (224); vgl. auch die abweichende Meinung der Senatsminderheit (Broß; Osterloh; Gerhardt) in BVerfGE 109, 190 (253 f.), allerdings zum Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 GG; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 103 Rn. 57; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 28; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 140. 146 Dazu oben B.III.1.b)aa)(1) (S. 83), B.III.2. (S. 96). 147 Dazu bereits B.III.4.b)bb)(3) (S. 135). Dies gilt allerdings nur, wenn das Gesetz vom zuständigen Gesetzgeber stammt. Im oben besprochenen Urteil Sicherungsverwahrung I – hier galt zwar der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG nicht, wohl aber der besondere Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 GG – ist die Ansicht der Senatsminderheit, die fortgeltenden Normen genügten dem Gesetzesvorbehalt nicht (vgl. oben D.II.1.c)dd)(1)(b) (S. 350)), im Ergebnis daher zutreffend. 148 Dafür BVerfG NJW 1998, 1854; Kreutzberger, Entscheidungsvarianten, S. 188; dagegen Bethge, in: Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 194; Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 31 Rn. 77; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 242; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 19 Rn. 16; die Senatsminderheit (Broß; Osterloh; Gerhardt) in BVerfGE 109, 190 (254).

II. Lösungsansatz

361

gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG teilhat149 – nichts ändern: Gesetzeskraft bedeutet nicht Gesetzeseigenschaft.150 Bezieht man das auf die steuerrechtlichen Weitergeltungsanordnungen, so ergeben sich keine Probleme – die Steuernormen wurden sämtlich ohne Modifikationen für weiter anwendbar erklärt.151 Eine Strafbarkeit verstößt nicht gegen das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB. In der Sportwettenentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung des Sportwettenrechts an die Maßgabe und damit Bedingung152 geknüpft, dass unmittelbar ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft einerseits und der tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits hergestellt wurde. Begreift man die „Erforderlichkeit“ der Erlaubnis nach dem Verwaltungsrecht – wie hier vertreten153 – als Tatbestandsmerkmal des § 284 StGB, so wurde mit der Beschränkung des Anwendungsbereichs des Sportwettenrechts auch der Anwendungsbereich des § 284 StGB eingeschränkt. Allerdings ist diese Einschränkung in Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip unproblematisch: Alle unter § 284 StGB in Verbindung mit dem nach Maßgabevorbehalt weitergeltenden Sportwettenrecht subsumierbaren Fälle waren auch unter § 284 StGB in Verbindung mit dem ursprünglichen Sportwettenrecht subsumierbar. Damit ergeben sich alle strafbaren Fälle unmittelbar aus Parlamentsgesetzen, womit einerseits die Vorhersehbarkeit gewährleistet ist und andererseits alle strafbaren Fälle unmittelbar auf dem Willen der Parlamentsgesetzgeber beruhen. Auch hier verstößt eine Strafbarkeit nicht gegen die Schutzzwecke des Gesetzlichkeitsprinzips. Aus den gleichen Gründen, die einen Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip ausschließen, ist auch dem besonderen Gesetzesvorbehalt der Art. 2 Abs. 2 S. 3, 104 Abs. 1 S. 1 GG Genüge getan. bb) Das Rückwirkungsverbot Von Teilen der Literatur wird eingewandt, der Strafbarkeit auf Grundlage einer Weitergeltungsanordnung stehe das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB entgegen. Wegen der ex tunc und ipso iure eintretenden Nichtigkeit des verfassungswidrigen Gesetzes stelle die Anordnung der strafrechtlichen Weitergeltung eine rückwirkende Erstreckung eines Straftatbestands dar.154 149 150 151 152 153 154

Dies ist umstritten, vgl. die Nachweise in Fn. 544 (S. 244). Dazu soeben D.II.1.c)bb) (S. 344). Vgl. im Einzelnen die Entscheidungen unter C.I.1.b) (S. 153). Dazu oben C.II.2.d)bb) (S. 309). Dazu oben C.II.2.d)cc) (S. 310). Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(ee) (S. 255).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Die Ansicht basiert konstruktiv auf unzutreffenden Annahmen: Zwar ist es richtig, dass eine verfassungswidrige Norm nach allen vertretenen Ansichten grundsätzlich letztlich ex tunc unwirksam ist, sog. Nichtigkeitsgrundsatz.155 Diese Wirkung tritt nach der vorzugswürdigen eingeschränkten Nichtigkeitslehre156 auch ipso iure ein. Nur: Die Unvereinbarerklärung stellt eine Ausnahme zur Nichtigkeitsrechtsfolge dar, die Norm bleibt hier gerade existent und ist nicht ex tunc nichtig.157 Deswegen stellt die Weitergeltungsanordnung normkonstruktiv auch keine rückwirkende Erstreckung der Strafbarkeit dar; sie hält vielmehr lediglich eine ohnehin existente Norm anwendbar.158 Zudem ergibt sich die Strafbarkeit für vergangene Zeiträume bereits aus dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts:159 Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts waren die entsprechenden Normen – auch strafrechtlich – gültig und daher anzuwenden. Die Frage, die hier untersucht wird, ist, ob die Strafbarkeit nicht durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts rückwirkend entfallen ist. Eine rückwirkende Anordnung der Strafbarkeit ist in der Weitergeltungsanordnung aber in keinem Fall zu sehen. cc) Das Bestimmtheitsgebot Ebenso wird in der Literatur beanstandet, die Strafbarkeit auf Grundlage einer Weitergeltungsanordnung verstoße grundsätzlich gegen das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB.160 Die Argumentation vermag nicht zu überzeugen: Wenn ein Gesetz mit seiner Wortlautaussage befristet fortbesteht, ist die Tatbestandsbestimmtheit durch den Wortlaut ebenso erfüllt wie vor der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung.161 Auch konstruktiv überzeugt die Auffassung nicht. Sie beruht ja gerade darauf, dass die Weitergeltungsanordnung – wegen der besonderen strafrechtlichen Wertungen – strafrechtlich unbeachtlich sein soll. Damit ist das Vermögensteuergesetz nach dieser Ansicht strafrechtlich – zumindest – unanwendbar. Niemand käme auf die Idee, die Bestrafung der Hinterziehung einer nicht existenten, daher unanwendbaren Steuer auf blondes Haupthaar erst am straf155

Dazu oben B.II.2.b)ee)(1) (S. 61). Dazu oben B.II.2.b)ee)(2) (S. 68). 157 Dazu oben B.III.1.b)aa)(1) (S. 83). 158 Dazu oben B.III.2. (S. 96). 159 Zu diesem Zusammenhang bereits oben B.II.2.b)aa) (S. 36). 160 Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(bb) (S. 254), zum Sonderproblem, ob der Maßgabevorbehalt der Sportwettenentscheidung zur Unbestimmtheit führt, bereits oben C.II.2.d) (S. 307). 161 Schmitz/Wulf, in: MüKo-StGB, Nebenstrafrecht II, § 370 AO Rn. 66; vgl. auch Hellmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 370 AO Rn. 53; Röckl, Steuerstrafrecht, S. 222. 156

II. Lösungsansatz

363

rechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz scheitern zu lassen – sie erfüllt mangels Ausfüllungsnorm schlicht nicht den Tatbestand des § 370 AO. Teilt man die Auffassung, dass die Weitergeltungsanordnung strafrechtlich wirkungslos bleibt, so muss auch dies dazu führen, dass der Tatbestand der Strafnorm nicht erfüllt wird.162 dd) Das Schuldprinzip Ebenfalls gegen die generelle Zulässigkeit der strafrechtlichen Wirkung einer Weitergeltungsanordnung wird das Schuldprinzip angeführt.163 Dieser ohnehin pauschale Vorwurf geht inhaltlich fehl. Soweit dem Schuldprinzip über die bisher behandelten Aspekte der Verfassungsmäßigkeit von Strafnormen hinaus eigenständige Bedeutung zukommt, liegt diese im Gesichtspunkt der persönlichen Vorwerfbarkeit des Normverstoßes. Es drückt aus, dass der sozialethische Tadel – den eine strafrechtliche Sanktion enthält – nicht bereits bei einem tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Verhalten des Täters gerechtfertigt ist. Dieser Tadel kann vielmehr nur dann erhoben werden, wenn die persönliche Verantwortlichkeit des Täters für die rechtswidrige Tat, sein Dafür-Können, hinzukommt.164 Es ist wird nicht verständlich, warum die persönliche Verantwortlichkeit bei einem Verstoß gegen ein Gesetz, das zwar verfassungswidrig ist, aber aus verfassungsrechtlichen Gründen weiter wirksam und anwendbar ist,165 weniger gegeben sein soll als bei einem Verstoß gegen ein normales Gesetz. Das Schuldprinzip nimmt gerade nicht das verwirklichte Unrecht, das rechtliche Sollen in den Blick,166 sondern die in der Person des Täters liegenden Merkmale, die eine Verantwortlichkeit ausschließen und dem Verstoß gegen das Recht die Tadelbarkeit nehmen können. Die hier behandelte Problematik ist aber nicht auf Ebene der Person des Täters, sondern der des rechtlichen Sollens angesiedelt. 162 Eine präzise Formulierung findet sich insoweit bei Spatscheck/Seebode, BB 1999, 2480 (2482): Ihrer Ansicht nach gibt es den strafrechtlichen Tatbestand der Vermögensteuerhinterziehung nicht mehr, eine Straftat ist daher nicht mehr möglich. Sollte dennoch eine Verurteilung wegen Vermögensteuerhinterziehung erfolgen, so sei dies ein Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB). Freilich besprechen auch sie das Problem unter der Bestimmtheit des Tatbestands. Für das Entfallen des objektiven Tatbestands ohne Rückgriff auf den Bestimmtheitsgrundsatz Urban, INF 1999, 617 (618); vgl. auch Wulf, wistra 2001, 41 (45) Fn. 29. 163 Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(aa) (S. 253). 164 Nach Eisele, in: Schönke/Schröder, Vor §§ 13 ff., Rn. 103/104; vgl. ferner bspw. BVerfGE 130, 372 (389); BGHSt 2, 194 (200); Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 308; Lackner-Kühl, Vor §§ 13 ff. Rn. 22 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 23. 165 Genau diese Situation liegt bei einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung vor, vgl. oben die Zusammenfassung des Abschnitts B. mit weiterführenden Nachweisen unter B.IV. (S. 146). 166 Vgl. Rönnau, in: LK, Vor § 32 Rn. 308.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Das Schuldprinzip erschöpft sich allerdings nicht nur in der Frage des „Ob“ der Strafbarkeit, sondern betrifft auch die Frage des „Wie“ auf Strafzumessungsebene: Die Schuld des Täters ist Grundlage der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB). Insoweit stellt es jedoch eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar167 und schließt demgemäß die Strafbarkeit nicht grundsätzlich aus. Das Schuldprinzip steht einer Strafbarkeit somit nicht entgegen. ee) Das Ultima-ratio-Prinzip Auch wird der Vorwurf erhoben, die grundsätzliche Zulässigkeit der strafrechtlichen Wirkungen einer Weitergeltungsanordnung sei mit dem Ultima-ratio-Prinzip nicht zu vereinbaren.168 Das Strafrecht darf nach diesem Prinzip wegen seiner besonders einschneidenden Rechtsfolgen nur als ultima ratio staatlichen Einschreitens in Betracht kommen.169 Eine strafrechtliche Sanktion kann wegen des mit ihr verknüpften sozialethischen Unwerturteils und des dadurch berührten, in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden Wert- und Achtungsanspruchs nur unter besonders strengen Voraussetzungen angeordnet werden: Das Verhalten muss über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich sein.170 Auch dieses Prinzip enthält demgemäß kein absolutes Verbot, sondern nur einen besonders strengen Maßstab für die Verhältnismäßigkeit der Strafbarkeit.171 Es schließt die Strafbarkeit somit nicht grundsätzlich aus. ff) Zwischenergebnis: Das Prinzip der praktischen Konkordanz Keiner der genannten grundlegenden Prinzipien des Strafrechts schließt die strafrechtliche Wirkung der Weitergeltungsanordnung generell aus. Vielmehr ergibt sich: Ob eine Weitergeltungsanordnung mit strafrechtlichen Wirkungen gerechtfertigt werden kann, ist nach allgemeinen verfassungsprozessrechtlichen Grundsätzen mittels einer Abwägung zu bestimmen.172 In deren Rahmen muss auch bei der Betroffenheit des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gelten, was bei verfassungsrechtlichen Abwägungen für alle Grundrechte – mit Ausnahme der Men-

167 BVerfG NVwZ 2008, 669; wistra 2008, 179; BVerfGE 80, 288 (313); 73, 206 (253); 50, 125 (133); Miebach, in: MüKo-StGB, § 46 Rn. 18. 168 Dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(dd) (S. 255). 169 BVerfGE 120, 224 (239 f.); 96, 245 (249); 88, 203 (258); 39, 1 (47). 170 BVerfGE 120, 224 (240); 96, 245 (249); 88, 203 (258). 171 Vgl. ebenda; Miebach, in: MüKo-StGB, § 46 Rn. 18. 172 Dazu zusammenfassend soeben D.II.2.b) (S. 358) sowie das Ergebnis des Abschnitts B. oben unter B.IV. (S. 146).

II. Lösungsansatz

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schenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, die jeder Abwägung entzogen ist173 – gilt: Es gibt auf Abwägungsebene keine einseitige Maximierung einer Grundrechtsnorm auf Kosten anderer Grundrechtsnormen. Es muss vielmehr ein schonender, verhältnismäßiger Ausgleich – praktische Konkordanz – zwischen den betroffenen Grundrechtsnormen hergestellt werden.174 Das kann im Rahmen der Abwägung auch bedeuten, dass die Strafbarkeit zulässig ist, sofern andere Grundrechtsnormen dies erfordern. d) Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirksamkeit Wurde somit festgestellt, dass die strafrechtliche Wirkung einer Weitergeltungsanordnung nicht generell ausgeschlossen ist, so sind nunmehr die genauen Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirksamkeit zu untersuchen. Eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist ohnehin ein verfassungsrechtlicher Ausnahmefall. Sie ist nur dann zulässig, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige. In der vorzunehmenden Abwägung muss das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut das durch die verfassungswidrige Norm verletzte erheblich überwiegen.175 Es soll im Folgenden näher betrachtet werden, ob diese Voraussetzungen auch für die strafrechtliche Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung gelten, oder ob nicht vielmehr eine Verschärfung dieser Voraussetzungen geboten ist. aa) Ausnahmsweise Gebotenheit einer verfassungsrechtlichen Argumentation im Strafrecht Problematisch ist dabei, dass eine strafrechtliche Bewertung von einer verfassungsrechtlichen Abwägung abhängig gemacht wird. Grundsätzlich besteht das Bestreben, das Strafrecht und seine Dogmatik nicht zu verfassungsrechtlich zu gestalten, die Grundrechte nicht zu sehr zu strapazieren. Es besteht die Gefahr, dass angesichts der Ausfüllungsbedürftigkeit der Grundrechte strafrechtliche Konturen abhanden kommen und das Strafrecht einer gewissen Beliebigkeit preisgegeben wird. Dieses Anliegen ist grundsätzlich berechtigt.176 173 Statt vieler Dreier, in: ders., GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 44, 132; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 16; Hufen, Staatsrecht II, § 10 Rn. 34, Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 381. 174 Vgl. dazu nur Hesse, Grundzüge, Rn. 317 ff.; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, Einl. Rn. 221; Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 31. 175 Dazu oben B.III.4.b) (S. 128), insbes. B.III.4.b)bb)(4) (S. 136). 176 Vgl. dazu m. N. Lagodny, Grundrechte, S. 3 f., 19 f.

366

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Hier besteht allerdings eine besondere Situation: Ein bestimmtes verfassungsrechtliches Abwägungsergebnis ist – verfassungsprozessrechtliche – Voraussetzung für die strafrechtliche Geltung einer Norm.177 Eine verfassungsrechtliche Auseinandersetzung ist nicht nur zulässig, sondern geboten. Diese muss allerdings dem strafrechtlichen Bedürfnis nach klaren Konturen gerecht werden. bb) Die Wechselwirkung zwischen verfassungsrechtlicher Relevanz und den Voraussetzungen der jeweiligen Entscheidungsvariante Kontur kann der Abwägung die Wechselwirkung zwischen der verfassungsrechtlichen Relevanz einer Entscheidungsvariante einerseits und ihren Voraussetzungen andererseits verleihen. Im verfassungsprozessrechtlichen Abschnitt B. wurde erarbeitet, dass die reguläre Unvereinbarerklärung und die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung beide – allerdings in unterschiedlich intensiver Form – vom Nichtigkeitsgrundsatz abweichen. Der Nichtigkeitsgrundsatz ist durch das verletzte Grundrecht, das Rechtsstaatsprinzip und den Vorrang der Verfassung verfassungsrechtlich geboten. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ist vor dem Hintergrund des betroffenen Grundrechts und des Rechtsstaatsprinzips bedenklicher als die reguläre Unvereinbarerklärung, weshalb sie als „zweite Eskalationsstufe“ der Unvereinbarerklärung an strengere Voraussetzungen geknüpft wird.178 Nun ist zu untersuchen, ob hinsichtlich der Anordnung der strafrechtlichen Wirksamkeit verfassungsrechtliche Gründe dafür existieren, noch restriktivere Voraussetzungen zu fordern als bei einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung ohne strafrechtlichen Bezug. Dazu sind zunächst die durch eine Strafnorm betroffenen verfassungsrechtlichen Abwägungspositionen zu ermitteln [sogleich cc)]. Danach wird der Frage nachgegangen, ob die durch eine Strafnorm verursachten Grundrechtseingriffe materiell gewichtbar sind mit der Folge, dass die verfassungsrechtliche Relevanz der Eingriffe abstufbar ist [dd)]. Aus der somit gewonnen Aussage zur verfassungsrechtlichen Relevanz der Eingriffe wird im letzten Schritt eine Abwägungsregel für die strafrechtliche Wirkung entwickelt [ee)]. cc) Die verfassungsrechtlichen Abwägungspositionen auf Seiten der strafrechtlichen Normvernichtung Zunächst einmal muss untersucht werden, welche Grundrechte in dieser Abwägung auf Seiten der die strafrechtliche Normvernichtung fordernden Belange 177 Diese verfassungsprozessrechtliche Dimension verkennt Nolte, Hinterziehung, S. 93 ff., der die verfassungsrechtliche Abwägung lediglich auf der Strafzumessungsbzw. Opportunitätsebene vornimmt. 178 Vgl. dazu – neben den Ausführungen unter D.II.2.b) (S. 358) – das Ergebnis des Abschnitts B. mit weiterführenden Nachweisen unter B.IV. (S. 146).

II. Lösungsansatz

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zu berücksichtigen sind.179 Dazu gilt es zu klären, in welche Grundrechte durch eine Strafnorm eingegriffen wird. Dabei wird im Folgenden nur die in den jeweiligen Tatbeständen enthaltene Sanktionsnorm betrachtet.180 Das ist jener Teil eines Straftatbestandes, der zu einem staatlichen Vorwurf als allgemeinem Sanktionsmittel und darüber hinaus zur Verhängung eines besonderen Sanktionsmittels ermächtigt.181 Die Folgen der in jeder Strafnorm enthaltenen Verhaltensnorm – bei § 284 StGB etwa: „du sollst nicht ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstalten“ – werden nachfolgend nicht weiter untersucht. Sie sind hinsichtlich der betroffenen Grundrechte identisch mit den ohnehin bereits auf Ebene der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung untersuchten und berücksichtigten Aspekten.182 Demnach sind die vorgesehenen Sanktionen zu betrachten: Sowohl § 284 StGB als auch § 370 AO sehen als Rechtsfolge eines Verstoßes eine Freiheits- oder Geldstrafe vor. (1) Hinsichtlich der Freiheitsstrafe Wegen der angedrohten Freiheitsstrafe ist zunächst einmal das Grundrecht der Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu berücksichtigen. Dieses Grundrecht wird auch in der Literatur vereinzelt gegen die Strafbarkeit auf der Grundlage von Weitergeltungsanordnungen in Stellung gebracht, ohne allerdings den Bezug zu den verfassungsprozessrechtlichen Grundlagen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung herzustellen.183 „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“

Diese Garantie des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG wird abgesichert durch den Gesetzesvorbehalt der Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 1 GG und die besonderen Verfahrensgarantien des Art. 104 Abs. 2–4 GG. Die Freiheit der Person garantiert – in Abgrenzung zu anderen Grundrechten – die körperliche Bewegungsfreiheit.184 Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gehört zu den klas179 Die Belange, die für den strafrechtlichen Normerhalt sprechen, werden jeweils auf Ebene der Einzelfallbesprechungen behandelt, für die steuerrechtlichen Entscheidungen unter D.II.3.a)aa) (S. 385), für die Sportwettenentscheidung unter D.II.3.b) (S. 398). 180 Zur Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm grundlegend Lagodny, Grundrechte, S. 77 ff.; dazu ebenfalls Radtke, in: MüKo-StGB, Vor §§ 38 ff. Rn. 1; Nolte, Hinterziehung, S. 94 f. 181 Lagodny, Grundrechte, S. 77 f. 182 Dazu die verfassungsprozessrechtlichen Würdigungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts unter C.I.1.b) (S. 153). 183 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(d) (S. 248), C.II.2.c)bb)(1)(c) (S. 300). 184 BVerfGE 105, 239 (247); 94, 166 (198); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 22; Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 112; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 98; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 196.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

sischen und unverzichtbaren Garantien des Rechtsstaats.185 Die Gewährleistung der Freiheit der Person bildet – zusammen mit den ebenfalls in Art. 2 Abs. 2 verbrieften Rechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit – den Ausgangspunkt für Freiheit und Entfaltung des Menschen schlechthin.186 Das Bundesverfassungsgericht betont den besonders hohen Wert bzw. das besondere Gewicht des Grundrechts, welche in der „unverletzlichen“ Gewährleistung zum Ausdruck kommen187: „Das Recht auf Freiheit der Person hat unter den grundrechtlich verbürgten Rechten einen besonders hohen Rang.“ 188

In die Freiheit der Person darf wegen dieses hohen Ranges nur aus besonders gewichtigen Gründen eingegriffen werden.189 Mit der besonderen Bedeutung des Grundrechts für die Freiheit und Entfaltung des Menschen korrespondiert die besondere Intensität des klassischen Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG – der Freiheitsentziehung durch Freiheitsstrafe. Diese stellt den intensivsten Eingriff in das Grundrecht dar.190 Der Mensch wird durch die Freiheitsstrafe über die Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit hinaus in seiner Entfaltung, seiner Freiheit und Personalität überhaupt beschnitten. Der Entzug der Freiheit wird „als das empfindlichste unter den zulässigen Übeln angesehen [. . .], die eine Rechtsgemeinschaft gegen den verhängen darf, der ihre Regeln gebrochen hat.“ 191

Die Freiheitsstrafe verlangt daher in besonderer Weise nach dem bestimmten Gesetz, nach rechtsstaatlichen Sicherungen und Verhältnismäßigkeit.192

185 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 2; vgl. auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 189; Sachs, in: Stern, Handbuch IV/I, S. 1070. 186 Vgl. BVerfGE 109, 190 (239); 109, 133 (157); 35, 185 (190); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 3; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 8; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 20. 187 BVerfGE 130, 372 (388); 128, 326 (406); 109, 190 (239); 109, 133 (157); 105, 239 (247); 65, 317 (322); 35, 185 (190); ebenso Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 3; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 2 Rn. 71; Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 110. 188 BVerfGE 104, 220 (234); 22, 180 (219); vgl. ebenfalls BVerfGE 130, 372 (388). 189 BVerfGE 130, 372 (388); 105, 239 (247); 90, 145 (172); 22, 180 (219); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 2 Rn. 71; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 107. 190 BVerfGE 10, 302 (323); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 5; Sachs, in: Stern, Handbuch IV/I, S. 1101. 191 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 5. 192 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 5, 47; vgl. auch BVerfGE 96, 245 (249); 88, 203 (258); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 201.

II. Lösungsansatz

369

(2) Hinsichtlich der Geldstrafe Zwar wird der mit der Geldstrafe verbundene Grundrechtseingriff in Rechtsprechung und Literatur zur Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen erstaunlich wenig beachtet.193 Auch bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Strafnormen wird sowohl vom Bundesverfassungsgericht194 als auch von der damit befassten Literatur195 nur Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG als Prüfungsmaßstab herangezogen, die Geldstrafe hingegen ignoriert. Dies liegt wohl daran, dass der verfassungsrechtliche Rechtfertigungsdruck, den die Freiheitsstrafe und damit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG erzeugt, als so groß empfunden wird, dass der weniger einschneidenden Geldstrafe daneben keine eigene Bedeutung beigemessen wird.196 Ein Ignorieren der Geldstrafe wird jedoch ihrer praktischen Bedeutung nicht gerecht: Im Jahr 2011 wurden rund 82% aller verurteilten Straftäter zu einer Geldstrafe, nur rund 18% zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.197 Im Bereich der hier relevanten Delikte ist die Bedeutung der Geldstrafe noch größer: Im Bereich der Steuer- und Zollstraftaten der Abgabenordnung198 wurden im gleichen Jahr nur rund 12% zu einer Freiheits-, rund 88% zu einer Geldstrafe verurteilt.199 Im Bereich des unerlaubten Glücksspiels200 beträgt der Anteil der Freiheitsstrafe sogar nur rund 10%, der der Geldstrafe entsprechend rund 90%.201 Für den überwiegenden Teil der Straftäter bleibt die Geldstrafe die einzige Sanktion, ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG erfolgt durch die Verurteilung nicht. Bereits wegen dieser praktischen Bedeutung des mit der Geldstrafe verbundenen Eingriffs ist er in der Rechtsfolgenabwägung zu berücksichtigen. Es bleibt zu klären, welches Grundrecht insoweit in der Abwägung zu berücksichtigen ist.

193

Dies tut – soweit ersichtlich – lediglich Degenhard, DStR 2001, 1370 (1377). So BVerfGE 90, 145 (171 ff.), obwohl auch der überprüfte § 29 BtMG die Geldstrafe vorsah. 195 Lagodny prüft die Verfassungsmäßigkeit einer Strafnorm nur anhand des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und – bezüglich des staatlichen Tadels, dazu noch sogleich D.II.2.d)cc)(3) (S. 371) – des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, ders., Grundrechte, S. 431, vgl. auch S. 135. 196 Vgl. Lagodny, Grundrechte, S. 133. 197 Dieser und die folgenden Anteile wurden auf Grundlage der zuletzt hierzu veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamts errechnet, hier: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, R 3, 2011, S. 88. 198 Zahlen nur zu § 370 AO enthält die Publikation des Statistischen Bundesamts nicht. 199 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, R 3, 2011, S. 114. 200 Dies meint hier wegen der statistischen Erfassung die §§ 284, 285 StGB. 201 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, R 3, 2011, S. 102. 194

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

(a) Art. 14 Abs. 1 GG? In Betracht kommt zunächst die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG.202 Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG ist durch das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Geldleistungsschulden, insbesondere Steuern und Abgaben, in einschränkender Art und Weise definiert worden. Insoweit geht es davon aus, dass Art. 14 Abs. 1 GG nur durch die Rechtsordnung anerkannte, einzelne Vermögenspositionen, nicht jedoch das Vermögen als solches schützt.203 Das Gericht geht davon aus, dass Steuern und Abgaben als abstrakte Geldwertschulden nicht konkrete Eigentumsrechte entziehen, sondern nur das Gesamtvermögen belasten: Denn dem Betroffenen bleibt die Wahl, durch welche konkreten Vermögenspositionen er seine Schulden erfüllt.204 Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG ist insoweit grundsätzlich nicht betroffen.205 Der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG greift nach dieser Konzeption allerdings dann, wenn der Betroffene durch die Geldleistungspflichten übermäßig und in erdrosselnder Weise belastet wird.206 Wendet man diese Grundsätze auf die Geldstrafe an, so stellt diese – ebenfalls eine abstrakte Geldwertschuld – keinen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG dar.207 202 Degenhard, DStR 2001, 1370 (1377) führt Art. 14 Abs. 1 GG gegen die Strafbarkeit ins Feld. 203 BVerfG, Beschluss v. 12.01.2006, 1 BvL 12/05, Rn. 11, zitiert nach juris; BVerfGE 95, 267 (300); 91, 207 (220); 78, 249 (277); 78, 232 (243); 75, 108 (154); Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 160; Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 5, 29. 204 Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 161; vgl. auch BVerfGE 95, 267 (300). 205 Dies ist jedenfalls die herkömmliche Auffassung, insbesondere des Ersten Senats: BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 01.10.2012, 1 BvR 3046/11, Rn. 5; Beschluss v. 12.01.2006, 1 BvL 12/05, Rn. 11, beide zitiert nach juris; BVerfGE 91, 207 (220); 81, 108 (122); 78, 249 (277); 78, 232 (243); 75, 108 (154); 30, 250 (271 f.); 28, 119 (142); 27, 111 (131); 14, 221 (241); ebenso – teilweise mit Abweichungen im Einzelnen – Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 161; Hofmann, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14 Rn. 32; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 169 ff.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 29. Allerdings entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 115, 97 (112), dass die Belastung durch die Einkommensteuer wegen ihrer Besonderheiten die Eigentumsgarantie – unabhängig von der konkreten Höhe der Steuerlast – berühre. Mangels Entscheidungserheblichkeit ließ es jedoch offen, ob es damit grundsätzlich von der herkömmlichen Auffassung abweichen wollte, dazu Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 165, vgl. auch Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 29. 206 BVerfG, Beschluss v. 12.01.2006, 1 BvL 12/05, Rn. 11, zitiert nach juris; BVerfGE 95, 267 (300); 82, 159 (190); 81, 108 (122); 78, 232 (243); 63, 312 (327); 30, 250 (271 f.); 27, 111 (131); 14, 221 (241); Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 163; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14 Rn. 32; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 165; vgl. ebenfalls Lagodny, Grundrechte, S. 133. 207 So auch Lagodny, Grundrechte, S. 133; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 658.

II. Lösungsansatz

371

Denn der hierfür erforderliche Erdrosselungseffekt wird durch das Tagessatzsystem der Geldstrafe, insbesondere § 40 Abs. 1 und 2 StGB ausgeschlossen.208 (b) Art. 2 Abs. 1 GG Das bedeutet jedoch nicht, dass die Verhängung der Geldstrafe von keinem Freiheitsgrundrecht umfasst wird. Vielmehr kommt bei Geldleistungspflichten, die nicht in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG fallen, das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zum Tragen.209 (3) Hinsichtlich des mit der Verurteilung verbundenen sozialethischen Tadels Doch es bleibt nicht bei diesen durch die strafrechtlichen Sanktionen hervorgerufenen Grundrechtseingriffen. Eine weitere Dimension ergibt sich aus dem mit einer strafrechtlichen Verurteilung210 verbundenen sozialethischen Tadel. Es wird von der damit befassten Literatur vertreten, dieser stelle einen Eingriff in den sozialen Ehr- und Achtungsanspruch des Einzelnen und damit in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG dar.211 Das ist dogmatisch überzeugend. Das Bundesverfassungsgericht erkennt nämlich einerseits an, dass das mit einem Strafurteil verbundene sozialethische Unwerturteil den Wert- und Achtungsanspruch des Betroffenen berührt und dass dies einen erheblichen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsdruck für strafrechtliche Eingriffe zur Folge hat.212 Auf der anderen Seite ist anerkannt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht den sozialen Geltungsanspruch des Menschen schützt.213 Dieses Grundrecht spiegelt also genau den obengenannten Eingriff.214 208

Vgl. Lagodny, Grundrechte, S. 133. BVerfGE 87, 153 (169); 82, 159 (190); 78, 249 (276); 75, 108 (154); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 175; speziell zur Geldstrafe Lagodny, Grundrechte, S. 133 f. 210 Bereits der staatliche Vorwurf der Strafbarkeit durch die Anklage kann einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen, vgl. Lagodny, Grundrechte, S. 122. Der durch die Verurteilung zum Ausdruck kommende Tadel ist aber der intensivste, alle anderen Eingriffe der gleichen Art stellen sich demgegenüber als Minus dar. Deswegen wird ihnen hier nicht weiter nachgegangen. 211 Lagodny, Grundrechte, S. 127, zur überzeugenden Herleitung S. 116 ff.; vgl. ebenfalls die abweichende Meinung der Richterin Graßhof in BVerfGE 90, 145 (200). 212 BVerfGE 123, 267 (408); 120, 224 (240); 96, 245 (249); 43, 101 (105). 213 BVerfG NJW 2011, 740 (742); NJW 2011, 511; NJW 2008, 747; NJW 2006, 3266 (3267); NJW 2004, 590 (591); NJW-FER 2001, 193; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 127, 169. Diese Formulierung kommt vor allem aus dem Ehrschutz und wurde dort im Rahmen der Schutzpflicht des Staates für die Ehre bei der Auseinandersetzung zwischen Privaten entwickelt. Derselbe Schutz muss jedoch im 209

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Das Ausmaß der Betroffenheit dieses Grundrechts ist natürlich nicht statisch, es hängt vielmehr von der Schwere der in der Verurteilung ausgesprochenen Sanktion – Freiheits- oder Geldstrafe – ab. Mit unterschiedlich schweren Sanktionen wird nämlich ein unterschiedlich schwerer staatlicher Tadel zum Ausdruck gebracht. (4) Betroffenheit der Grundrechte bereits durch die Strafnorm? Die eben ermittelten Grundrechte sind in der vorzunehmenden Abwägung auf Seiten der Belange, die die strafrechtliche Normvernichtung fordern, zu berücksichtigen. Dies gilt unabhängig davon, ob bereits durch die Strafandrohung der Norm ein Eingriff im verfassungsprozessrechtlichen Sinne vorliegt. Zwar ist umstritten, ob ein Straftatbestand bereits ab seinem Inkrafttreten einen solchen Eingriff verursacht, oder aber erst zum Zeitpunkt des Strafurteils als Vollzugsakt.215 Insbesondere das Unmittelbarkeitserfordernis216 des verfassungsprozessrechtlichen Eingriffsbegriffs erscheint im erstgenannten Zeitpunkt fraglich. Das gilt jedenfalls hinsichtlich Sanktionsnorm des Tatbestandes.217 Der Streit spielt jedoch an dieser Stelle keine Rolle. Das Unmittelbarkeitserfordernis ist Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde und drückt die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde aus: Diese soll erst möglich sein, wenn der Betroffene den Vollzugsakt abgewartet und gegen diesen den Rechtsweg beschritten hat.218

Rahmen eines Abwehrrechts im Verhältnis zum Staat gelten, überzeugend Lagodny, Grundrechte, S. 121 f. 214 Vgl. Lagodny, Grundrechte, S. 117 f., der es historisch begründet, dass diese Einsicht sich noch in keinem verfassungsgerichtlichen Urteil niedergeschlagen hat. Vgl. insoweit jedoch die abweichende Meinung der Richterin Graßhof in BVerfGE 90, 145 (200). 215 Vgl. zu diesem Streitstand m. N. Lagodny, Grundrechte, S. 107. 216 Ein Grundrechtseingriff im verfassungsprozessrechtlichen Sinne liegt vor, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, „selbst, gegenwärtig und unmittelbar“ in seinen Rechten verletzt zu sein, vgl. nur BVerfGE 88, 384 (399 f.); 87, 181 (195); 1, 97 (101); Lagodny, Grundrechte, S. 107; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 1243 ff. 217 Zur Differenzierung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm bereits oben D.II.2.d)cc) (S. 366). Hinsichtlich der in jeder Strafnorm ebenfalls enthaltenen Verhaltensnorm lässt sich eine Unmittelbarkeit eher annehmen, da das Verhaltensgebot – bei § 284 StGB etwa: „du sollst nicht ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstalten“ – bereits ab Inkrafttreten der Norm gilt. Diese Verhaltensnorm wird jedoch an dieser Stelle – aus den unter D.II.2.d)cc) (S. 366) genannten Gründen – nicht berücksichtigt. 218 Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 Rn. 78; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 238; vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, § 12 Rn. 36.

II. Lösungsansatz

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Hier ist jedoch eine ganz andere Perspektive maßgeblich: Es ist im Rahmen einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu untersuchen, ob eine Weitergeltungsanordnung mit strafrechtlichen Wirkungen gerechtfertigt werden kann. Dies ist in einer Abwägung der betroffenen Grundrechtspositionen zu ermitteln, in der die Folgen der in Betracht kommenden Entscheidungsvarianten zu bewerten sind.219 Bezüglich der zu berücksichtigenden Folgen der strafrechtlichen Normerhaltung gilt Folgendes: Die Anordnung strafrechtlicher Wirkungen intendiert ja – etwa in Bezug auf die Freiheitsstrafe – gerade, dass diese Sanktion in Zukunft noch verhängt werden kann. Betrachtet man die Folgen einer solchen Anordnung, so ist dabei auch zu unterstellen, dass Strafurteile mit Freiheitsstrafen als Normvollzugsakte erfolgen werden. Das ist wegen der Bindung der Verwaltung und Rechtsprechung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich determiniert. Damit steht zugleich fest, dass unmittelbare Eingriffe – selbst nach der engeren Auffassung – im Nachgang der Weitergeltungsanordnung stattfinden werden. Diese späteren unmittelbaren Eingriffe als Folge der Anordnung sind in der Abwägung in jedem Fall zu berücksichtigen. Die betroffenen Grundrechte sprechen somit unabhängig davon, ob bereits durch die Strafandrohung der Norm ein Eingriff im verfassungsprozessrechtlichen Sinne vorliegt, für die Normvernichtung.220 (5) Das Rechtsstaatsprinzip In Rechtsprechung221 und Literatur222 findet sich häufig die Auffassung, das Rechtsstaatsprinzip stehe der Strafbarkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts entgegen. Im Abschnitt B. dieser Arbeit wurde festgestellt, dass das u. a. in Art. 20 Abs. 3 GG verbriefte Rechtsstaatsprinzip Eingriffen in Grundrechte auf Grundlage verfassungswidriger Gesetze grundsätzlich entgegensteht; der Rechtsstaat ist gerade auf die Verhinderung verfassungswidriger Zustände ausgerichtet. Auch deswegen gilt der Nichtigkeitsgrundsatz, wonach verfassungswid-

219 Dazu oben B.III.4.a)bb)(2)(b) (S. 115), B.III.4.a)bb)(4) (S. 127), sowie zusammenfassend das Ergebnis des Abschnitts B. unter B.IV. (S. 146). 220 Deutlich wird dies auch aus einem Blick auf den Prüfungsumfang bei Verfassungsbeschwerden: Überprüft das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit eines Normvollzugsakts (etwa einer Gerichtsentscheidung), so prüft es inzident die abstrakt-generelle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, und zwar unabhängig vom konkreten Eingriff, vgl. dazu m. N. Lagodny, Grundrechte, S. 108. Ähnlich ist die Situation hier: Auch hier geht es um die abstrakt-generelle Fortgeltung einer Norm. Deswegen sind alle abstrakt-generell durch sie betroffenen Grundrechte zu berücksichtigen. 221 Dazu oben C.II.2.b)aa)(2) (S. 277), C.II.2.b)aa)(4) (S. 278), C.II.2.b)cc)(1) (S. 279), C.II.2.b)dd) (S. 283), C.II.2.b)ff)(4) (S. 287). 222 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(e) (S. 249), C.II.2.c)bb)(1)(d) (S. 301).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

rige Normen grundsätzlich zu eliminieren sind.223 Das Rechtsstaatsprinzip ist bereits bei Weitergeltungsanordnungen ohne strafrechtlichen Bezug in erheblicher Weise betroffen, da hier auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidriger Normen weiterhin in Grundrechte eingegriffen wird.224 Über diese ohnehin bestehende Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips bei Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnungen hinaus besteht in strafrechtlichem Zusammenhang eine weiter gesteigerte Brisanz: Hier wird auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts das schärfste Schwert der Rechtsordnung eingesetzt. Dementsprechend ist auch das Rechtsstaatsprinzip auf Seiten der strafrechtlichen Normvernichtung zu berücksichtigen. (6) Zwischenergebnis Bislang war immer von „der“ strafrechtlichen Wirkung der Weitergeltungsanordnung die Rede. Eine nähere Betrachtung der betroffenen Grundrechte hat ergeben, dass es diese eine Wirkung nicht gibt. Vielmehr hat eine Strafnorm drei unterschiedliche Eingriffsstoßrichtungen, denen sich drei Grundrechte zuordnen lassen: Der in einer strafrechtlichen Verurteilung zum Ausdruck kommende staatliche Tadel greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) ein, die Geldstrafe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und die Freiheitsstrafe in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG). Diese sind in der vorzunehmenden Abwägung auf Seiten der Belange, welche die strafrechtliche Normvernichtung fordern, ebenso zu berücksichtigen wie das Rechtsstaatsprinzip. dd) Materielle Gewichtbarkeit der Grundrechtseingriffe durch Strafrecht Um eine strafrechtliche Abwägungsregel entwickeln zu können, wird nunmehr untersucht, ob die Eingriffe in die obengenannten Grundrechte materiell gewichtbar sind, mit der Folge dass diese Eingriffe unterschiedlich schwer wiegen. Ist dies der Fall, so muss sich diese abgestufte verfassungsrechtliche Relevanz in der strafrechtlichen Abwägungsregel niederschlagen. Dies soll zum einen anhand der für die Strafzumessung geltenden Regelungen untersucht werden [sogleich (1)], zum anderen aus der Perspektive der Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips [(2)]. (1) In der Strafzumessung zum Ausdruck kommende Gewichtbarkeit Bereits die soeben dargestellte besondere Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und die dort aufgezeigte Eingriffsschwere legt nahe, dass die Freiheitsstrafe 223 224

Dazu oben unter B.II.2.b)ee)(1)(e)(cc) (S. 67). Dazu oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136).

II. Lösungsansatz

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den schwersten der drei Grundrechtseingriffe darstellt. Bezieht man die betroffenen Grundrechte auf die geltenden Regelungen zur Strafzumessung, so lässt sich die materielle Gewichtung bestätigen und präzisieren: Die Regeln der Strafzumessung bestätigen zum einen die klare – und naheliegende – Aussage zum Verhältnis zwischen Geld- und Freiheitsstrafe: Die Freiheitsstrafe ist nach den Grundsätzen des § 46 Abs. 2 StGB generell nur gerechtfertigt, wenn die Geldstrafe als mildere Sanktion zur Ahndung der Tat nicht ausreicht.225 Im Bereich der kurzen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten wurde der Vorrang der Geldstrafe in § 47 StGB sogar gesetzlich festgeschrieben.226 Das Gesetz geht somit eindeutig davon aus, dass die Geldstrafe im Vergleich zur Freiheitsstrafe die mildere Sanktion ist.227 Das bedeutet – bezogen auf die Grundrechte – dass der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG durch die Geldstrafe nach der gesetzlichen Wertung weniger schwer wiegt als der in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch die Freiheitsstrafe. Es wurde bereits festgestellt, dass mit unterschiedlich schweren Sanktionen auch ein unterschiedlich schwerer Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch den sozialethischen Tadel der Verurteilung korrespondiert.228 Demgemäß lässt sich formulieren: Auch der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist bei einer Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen der weniger gravierenden Sanktion weniger schwerwiegend als bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Da die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht somit von der Schwere des Eingriffs durch die jeweilige Sanktion abhängig ist, gleichzeitig der Eingriff durch den sozialethischen Tadel bei beiden Sanktionsformen vorliegt, wird er im Folgenden nicht gesondert behandelt. Er hat für die Frage der Gewichtbarkeit der Grundrechtseingriffe keine eigenständige Bedeutung. (2) Die Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips Die eben dargelegte unterschiedliche Eingriffsschwere wird durch die abgestufte Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips gespiegelt. Je höher die Bedeutung des betroffenen Grundrechts ist und umso intensiver die Eingriffe für den Betroffenen sind, desto stärker streitet das Rechtsstaatsprinzip gegen den Grundrechtseingriff auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts.

225 Theune, in: LK, § 46 Rn. 311; vgl. auch Häger, in: LK, Vor §§ 38 ff. Rn. 40; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 104, 183; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, § 46 Rn. 60, 62. 226 Dazu Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 154 f.; Maier, in: MüKo-StGB, § 47 Rn. 1. 227 Vgl. dazu auch Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, S. 529 f. 228 Dazu oben D.II.2.d)cc)(3) (S. 371).

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(a) Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips bei der Freiheitsstrafe Letztlich ist das, was unter dem Begriff Rechtsstaat verstanden wird, ein sehr diffiziles Gefüge verschiedenster Normen. Der Begriff ist sehr weit und kann fast überall dort angebracht werden, wo Wertungen vorzunehmen sind. Angesichts der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips ist eine gewisse Zurückhaltung geboten: Konkrete Folgen sollten nicht ohne Not aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werden.229 Die Grenze zwischen dem, was noch rechtsstaatlich ist, und dem, was dieses Prädikat – Mindestanforderung und Gütesiegel zugleich – nicht mehr verdient, sind häufig fließend, konturlos und abhängig von persönlicher Prägung und Meinung. Nur: Es muss Grenzen, rote Linien dafür geben, wann dieser so schillernde Begriff nicht mehr ausgefüllt wird – ansonsten ist er wertlos. Auf den besonderen Wert der Freiheit der Person und die besondere Eingriffsschwere durch eine Freiheitsstrafe wurde soeben eingegangen. Eine solche Strafe auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts muss grundsätzlich eine rote Linie sein, deren Übertretung sich die Rechtsordnung nur im absoluten Ausnahmefall zugestehen darf. Wo soll das Rechtsstaatsprinzip überhaupt zum Tragen kommen, wenn nicht an dieser Stelle? Es gibt wohl kaum einen Fall, der so wenig mit unseren Vorstellungen vom Rechtsstaat zu vereinbaren ist, wie der einer Freiheitsstrafe auf Grundlage erkanntermaßen verfassungswidrigen Rechts: Der Betroffene wird zum Objekt überwiegender Interessen und muss die Beschränkung eines seiner höchsten Güter, einer Grundbedingung seiner personalen Entfaltung überhaupt – seiner körperlichen Freiheit – hinnehmen, obwohl die Verfassungswidrigkeit des betreffenden Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht festgestellt ist. Hier ist das Rechtsstaatsprinzip in denkbar schwerster Form betroffen. Die Freiheitsstrafe auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts muss deshalb als absoluter Ausnahmefall definiert werden, an den höchste Anforderungen zu stellen sind. Ansonsten besteht die Gefahr, den Rechtsstaatsbegriff gänzlich zu entwerten und der Beliebigkeit preiszugeben. (b) Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips durch die Geldstrafe Gegenüber der Freiheitsstrafe wurden die Geldstrafe als der weniger schwerwiegende Grundrechtseingriff ausgemacht. Dementsprechend streitet auch das Rechtsstaatsprinzip nicht mit dem gleichen Nachdruck gegen eine Verurteilung zu einer Geldstrafe auf der Grundlage verfassungswidrigen Rechts.

229 BVerfGE 111, 54 (82); 90, 60 (86); 57, 250 (275 f.); Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rn. 78; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 29.

II. Lösungsansatz

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(3) Zwischenergebnis In der Rechtsordnung wird ein Stufenverhältnis der verfassungsrechtlichen Relevanz der strafrechtlichen Grundrechtseingriffe vorausgesetzt: Dabei ist die in der strafrechtlichen Verurteilung ausgesprochene Freiheitsstrafe ein intensiverer Grundrechtseingriff als die Geldstrafe. Das Rechtsstaatsprinzip streitet abhängig von der Schwere des jeweiligen Grundrechtseingriffs gegen seine Zulässigkeit auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts. Dieses Stufenverhältnis der verfassungsrechtlichen Relevanz muss sich in der zu entwickelnden strafrechtlichen Abwägungsregel niederschlagen. Die besondere Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, die besondere Eingriffsschwere und die besondere Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips verlangen dabei, dass die Freiheitsstrafe auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts als absoluter Ausnahmefall definiert werden muss, an den höchste Voraussetzungen zu stellen sind. Die Schwere des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch den sozialethischen Tadel der Verurteilung hängt einerseits von der Schwere der ausgesprochenen Sanktion ab, andererseits liegt ein solcher Eingriff sowohl bei Geld- als auch bei Freiheitsstrafe vor; dieser Eingriff ist somit nicht eigenständig gewichtbar. ee) Abwägungsregel für die Zulässigkeit der strafrechtlichen Wirkung einer Unvereinbarerklärung Aus den soeben beschriebenen verfassungsrechtlichen Abwägungspositionen, die für die strafrechtliche Normvernichtung sprechen und ihrem abgestuften Gewicht gilt es nun eine Abwägungsregel für die strafrechtlichen Wirkungen einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung zu entwickeln. Dies soll vom schwereren Eingriff der Freiheitsstrafe ausgehend geschehen. (1) Bezüglich der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe Bei der Definition von Grundrechten und Verfassungsgütern besteht eine zentrale Gefahr: In einem ersten Schritt werden die besondere Bedeutung eines Grundrechts, die Intensität von Eingriffen, die überragende Wichtigkeit eines Verfassungsguts betont – um im nächsten alles in einer konturlosen Abwägung zu relativieren. Dies ist umso bedenklicher, als eine verfassungsrechtliche Abwägung im Strafrecht besonders um Kontur bemüht sein muss. Kontur kann der Abwägung hier durch die beschriebene Wechselwirkung zwischen der verfassungsrechtlichen Relevanz der verfassungsprozessrechtlichen Entscheidungsvariante einerseits und ihren Voraussetzungen andererseits verliehen werden. Die verfassungsrechtliche Relevanz wird dabei bestimmt durch den Wert des betroffenen Grundrechts, der Eingriffsintensität und der Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Sollen der besonders hohe Rang der Freiheit der Person230, ihre Bedeutung für die freiheitliche, personale Entfaltung des Menschen insgesamt, die damit verbundene Eingriffsschwere und das Rechtsstaatsprinzip nicht inhaltsleere Hülsen bleiben, die im nächsten Zuge einfach in einer Abwägung relativiert werden können – so muss ihnen im Rahmen einer Abwägungsregel zu Inhalt und Gewicht verholfen werden. Bedarf es zur Rechtfertigung eines strafrechtlichen Eingriffs wegen des hohen Ranges des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ohnehin besonders gewichtiger Gründe – so muss dies in gesteigerter Form dann gelten, wenn ein solcher Eingriff auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts erfolgen soll. Es ist somit geboten, die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit der Normen in Bezug auf eine Freiheitsstrafe – verbunden mit einem entsprechend schweren sozialethischen Tadel – als „dritte Eskalationsstufe“ der Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung neben der regulären Unvereinbarerklärung und der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung zu begreifen. Wegen der besonderen verfassungsrechtlichen Relevanz muss eine solche Weitergeltungsanordnung an noch strengere Voraussetzungen geknüpft werden als eine normale Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung. Diese Erkenntnis klingt auch bei einem prominenten Fürsprecher der Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen an: Bethge hält die Weitergeltungsanordnung auch auf dem Gebiet des Strafrechts für zulässig, „wenn sie unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes erforderlich und unerlässlich“ ist231 – freilich ohne dieser Erkenntnis auf Ebene der konkreten Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirkung einer Weitergeltungsanordnung Rechnung zu tragen. Die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit der Normen in Bezug auf die Freiheitsstrafe ist – wegen der besonderen Bedeutung des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, der hohen Eingriffsintensität und der besonderen Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips – nur dann gerechtfertigt, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen unerlässlich ist, die verfassungswidrige Vorschrift in der Übergangszeit mit der weiteren Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe zu schützen. Unerlässlich ist dies dann, wenn ohne diesen Schutz ein Zustand bestünde, der die betroffenen Verfassungsgüter in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigen würde. In der Abwägung müssen die Verfassungsgüter,

230 Natürlich liegt bei der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe neben dem Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auch ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch den entsprechend schweren staatlichen Tadel vor. Allerdings ist dieser Eingriff immer gerechtfertigt, wenn der schwerere Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gerechtfertigt ist. Dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kommt hier insofern keine eigenständige Bedeutung zu. 231 Bethge, ZfWG 2007, 169 (178).

II. Lösungsansatz

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welche die Normerhaltung fordern, die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen. Unterbleibt eine solche Anordnung, so gilt in Bezug auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG die ebenfalls ausgesprochene Unvereinbarerklärung: Das Gesetz unterliegt insoweit einer dauerhaften Anwendungssperre.232 (2) Bezüglich der Verurteilung zu einer Geldstrafe (a) Abwägung Zwar stellen auch die Geldstrafe und der damit verbundene sozialethische Tadel besonders erhebliche Grundrechtseingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Das Strafrecht ist und bleibt der schärfste Sanktionsmechanismus der Rechtsordnung, selbst wenn hier nicht seine schwerste Sanktionsform einschlägig ist. Auch für die Geldstrafe gilt – abgeleitet aus Schuldprinzip und Ultima-ratio-Prinzip233 – ein besonders strenger Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der verfassungsrechtliche Rechtfertigungsdruck ist sehr groß. Allerdings muss in der Abwägung berücksichtigt werden, dass hier nicht die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers für den Einsatz des Strafrechts durch die §§ 284 StGB, 370 AO bei Verstößen gegen die einschlägigen Normen geprüft wird. Zum einen besitzt der Gesetzgeber bei der Entscheidung, ob der Einsatz des Strafrechts zur Sanktionierung eines bestimmten Verhaltens verhältnismäßig ist, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohnehin einen nur begrenzt überprüfbaren Beurteilungsspielraum.234 Zum anderen würde die Prüfung der grundsätzlichen Legitimität des Einsatzes des Strafrechts durch die genannten Normen den Rahmen dieser Bearbeitung sprengen. Die grundsätzliche Vereinbarkeit des in den §§ 284 StGB, 370 AO normierten Schutzes durch Strafrecht mit der Verfassung wird vielmehr im Folgenden vor232 Zu den Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung oben B.III.1.b) (S. 82). Die Aussetzungspflicht als ihre zweite Rechtsfolge gilt im Strafrecht ohnehin nicht, vgl. oben D.I.1.b)aa)(1)(c) (S. 330). Dies muss hier insbesondere gelten: Sie soll nämlich ermöglichen, die Verfahren später auf Grundlage der rückwirkenden Neuregelung des Gesetzgebers fortzusetzen. Da die Weitergeltungsanordnung aber – außer in Bezug auf Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG – wirksam ist, muss und wird der Gesetzgeber hier bereits keine rückwirkende Neuregelung treffen, vgl. dazu bereits oben B.III.1.b)aa) (3)(b)(bb)(b) (S. 89). Er wird die Neuregelung pro futuro in Kraft treten lassen. Bis zum Zeitpunkt des Fristablaufs bzw. der Neuregelung gilt wegen der im Übrigen wirksamen Weitergeltungsanordnung die verfassungswidrige Rechtslage. Trifft er über seine Verpflichtung hinaus eine rückwirkende Neuregelung, so gilt das unter D.I.1.b)aa)(1)(c) (S. 330) Ausgeführte. 233 Dazu oben D.II.2.c)dd) (S. 363). 234 BVerfGE 123, 267 (408 f.); 120, 224 (240 f.); 90, 145 (173); 80, 244 (255); 50, 142 (162); dazu Lagodny, Grundrechte, S. 68 f.

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

ausgesetzt. Dies hat zur Konsequenz, dass als gegeben anzunehmen ist, dass die strafrechtliche Sanktionierung in den hier untersuchten Fällen generell geeignet und vor allem erforderlich ist, den Rechtsgüterschutz zu gewährleisten.235 Setzt man also vor allem die Erforderlichkeit des Strafrechts zum Schutz der Rechtsgüter voraus, so ist damit kaum vereinbar, wenn man den weitergeltenden Normen sämtlichen Schutz durch das Strafrecht entziehen würde. Denn dann würde man Normen für weiter anwendbar erklären, ohne ihnen den ja als notwendig definierten Schutz zur Seite zu stellen – ein widersprüchliches Ergebnis. Geprüft werden soll an dieser Stelle allein, ob der Einsatz auch zum Schutz verfassungswidriger Normen zu rechtfertigen ist. Dazu müssten zumindest die Voraussetzungen einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung vorliegen. Diese sind bereits ohne strafrechtliche Wirkungen extrem streng: Die Weitergeltungsanordnung muss aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten sein. In der Abwägung muss dafür das die Normerhaltung fordernde Verfassungsgut das durch die verfassungswidrige Norm verletzte erheblich überwiegen.236 Die Voraussetzungen liegen nur vor, wenn ein derart stark für die Normerhaltung streitendes Verfassungsgut – in den oben untersuchten Entscheidungen bspw. das Budgetrecht des Parlaments237 und der Schutz der Gesundheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG238 – vorliegt. Dann werden selbst erhebliche Eingriffe in bedeutende Verfassungsgüter – wiederum bspw. solche in Art. 3 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG239 – auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts gerechtfertigt. Hält man diese allgemeine Abwägungsregel der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung der soeben für die Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe entwickelten gegenüber, die aus der Gewichtigkeit des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG abgeleitet und dementsprechend denkbar streng formuliert wurde, so wird deutlich, dass zwischen diesen beiden Regeln weitere Differenzierungen nicht mehr sinnvoll möglich sind. Zwischen „zwingend geboten“ und „erheblichem Überwiegen“ einerseits und „unerlässlich“ und „eindeutigem Überwiegen“ andererseits lassen sich keine handhabbaren Zwischenstufen mehr einziehen, will man das System nicht insgesamt der Unschärfe preisgeben. 235 Vgl. zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und seinen Bestandteilen speziell zum Strafrecht statt vieler Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 47. Vgl. zu diesem Aspekt ebenfalls noch D.II.3.a)aa)(1)(a) (S. 385). 236 Im Einzelnen oben B.III.4.b)bb)(4) (S. 136) sowie mit Einordnung in die verfassungsprozessrechtliche Gesamtsystematik das Ergebnis des Abschnitts B. unter B.IV. (S. 146). 237 So in den steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, vgl. dazu die verfassungsprozessrechtlichen Würdigungen dieser Entscheidungen oben C.I. 1.b)bb)(2) (S. 158). 238 So in der Sportwettenentscheidung, vgl. oben C.I.2.b) (S. 192). 239 Erstere sind in den steuerrechtlichen Entscheidungen, letzterer in der Sportwettenentscheidung betroffen, vgl. jeweils die vorhergehenden beiden Fußnoten.

II. Lösungsansatz

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Im Rahmen einer die Strafbarkeit berücksichtigenden Abwägung muss sich vielmehr widerspiegeln, dass die Eingriffe durch den staatlichen Tadel und die Geldstrafe wesentlich weniger schwer wiegen als bei einer Freiheitsstrafe, das Rechtsstaatsprinzip entsprechend weniger vehement gegen eine Verurteilung zu einer Geldstrafe auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts streitet. Zudem wird hier – wie soeben ausgeführt – die Verfassungsmäßigkeit der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers für den Einsatz des Strafrechts bei Verstößen gegen die betreffenden Normen vorausgesetzt. Deshalb ist davon auszugehen, dass für diesen Einsatz gewichtige Gründe sprechen, die den hohen Rechtfertigungshürden des Strafrechts – insbesondere Ultima-ratio-Prinzip und Schuldprinzip – generell genügen. Aus alldem ergibt sich, dass die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verurteilung zu einer Geldstrafe keine eigenständige „Eskalationsstufe“ im Sinne des hier beschriebenen Systems der Unvereinbarerklärung ist. Dabei ist zu betonen, dass dies nicht etwa daran liegt, dass die Geldstrafe und der damit verbundene sozialethische Tadel keine besonders schwerwiegenden Eingriffe sind. Das Gegenteil ist – wie bereits ausgeführt – der Fall. Nur sind die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung per se so streng, dass diese selbst die genannten Eingriffe auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts zu rechtfertigen vermag. Liegt ein derart stark für die Normerhaltung streitendes Verfassungsgut vor, dass die Voraussetzungen der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung erfüllt sind, so vermögen die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht – die durch eine Strafnorm hinsichtlich der Verurteilung zu einer Geldstrafe betroffenen Grundrechte – keine zusätzlichen Rechtfertigungszwänge zu begründen. Eingriffe in diese Grundrechte sind beim Vorliegen der Voraussetzungen der Weitergeltungsanordnung ebenfalls gerechtfertigt. Damit gelten die für weiter anwendbar erklärten Normen grundsätzlich240 auch strafrechtlich fort, soweit es um die Verurteilung zu einer Geldstrafe geht. (b) Vereinbarkeit mit der Auslegung der Weitergeltungsanordnung Oben wurde ausgeführt, dass im Rahmen der Auslegung einer Weitergeltungsanordnung dieser – soweit Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG betroffen ist – nicht unausgesprochen strafrechtliche Wirkungen zu entnehmen sind.241 Dies bedarf weiterer

240 Ausnahmen zur strafrechtlichen Anwendbarkeit in Bezug auf die Geldstrafe können sich aus den Besonderheiten der jeweiligen Weitergeltungsanordnung ergeben. Beispiel hierfür ist der in der Sportwettenentscheidung verwendete Maßgabevorbehalt, der – wiederum grundsätzlich – dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht genügt. Deswegen scheidet die strafrechtliche Anwendbarkeit der betreffenden Normen und damit die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB aus, vgl. insoweit das Ergebnis des Abschnitts C. mit weiterführenden Nachweisen oben S. 321. 241 Vgl. D.II.1. (S. 341).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Präzisierung: Lediglich die weitere Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Norm in Bezug auf die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe muss gesondert angeordnet werden, nicht jedoch die in Bezug auf die Verurteilung zu einer Geldstrafe. Das Auslegungsergebnis wurde nämlich zum einen mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG begründet242 – diese ist jedoch in Bezug auf Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die Verurteilung zu einer Geldstrafe nicht einschlägig. Zum anderen wurde dieses Resultat damit begründet, dass die Weitergeltungsanordnung verfassungsprozessrechtlich nur bei einem bestimmten Abwägungsergebnis zulässig ist und sie deswegen nur solche Eingriffe legitimieren will und kann, die in der Abwägung auch berücksichtigt worden sind.243 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die allgemeine Handlungsfreiheit wurde in den verfassungsgerichtlichen Abwägungen ebenso wenig erwähnt wie die Freiheit der Person. Insoweit besteht jedoch ein bedeutender Unterschied: Die durch die Verurteilung zu einer Geldstrafe betroffenen Grundrechte erzeugen – im Gegensatz zur Freiheitsstrafe – wie eben dargelegt keinen zusätzlichen Rechtfertigungsdruck für eine Weitergeltungsanordnung. Eingriffe in diese sind nach dem soeben erarbeiteten Ergebnis immer dann zulässig, wenn die Voraussetzungen einer Weitergeltungsanordnung vorliegen. Würde man hier verlangen, dass das Bundesverfassungsgericht die weitere Anwendbarkeit in Bezug auf die Verurteilung zu einer Geldstrafe gesondert anordnet, betriebe man blanken Formalismus ohne dogmatischen Mehrwehrt. Das überzeugt nicht. Auch die Auslegung der Weitergeltungsanordnungen244 des Bundesverfassungsgerichts ergibt somit, dass die verfassungswidrigen Normen in Bezug auf die Verurteilung zu einer Geldstrafe auch dann anwendbar sind, wenn dies nicht besonders angeordnet wurde. Insoweit ist die Auffassung der herrschenden Rechtsprechung, die der Weitergeltungsanordnung konkludent strafrechtliche Wirkungen beimisst,245 zutreffend. (3) Zwischenergebnis: Normspaltung Dies führt zu einem ungewöhnlich scheinenden Befund – ein und dasselbe Gesetz ist, je nach Zusammenhang, einmal anwendbar (in Bezug auf die Verurtei242

Dazu oben D.II.1.c) (S. 342). Dazu oben D.II.1.d) (S. 355). 244 Diese betrifft – bezüglich der hier untersuchten Entscheidungen – nur die steuerrechtlichen Entscheidungen. Die Auslegung der Sportwettenentscheidung war wegen der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, über die Frage der Strafbarkeit hätten die Strafgerichte zu entscheiden, ergebnisoffen, dazu oben D.II.1.c)ff) (S. 354). 245 Dazu oben D.II.1.a) (S. 341). 243

II. Lösungsansatz

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lung zu einer Geldstrafe), und einmal nicht (bezüglich der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe). Dieses Ergebnis ist strafrechtlichen Besonderheiten geschuldet: Ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch die Freiheitsstrafe ist an strengere Voraussetzungen geknüpft als ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG bzw. die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG. Das Resultat ist deshalb bei genauerem Hinsehen auch gar nicht so außergewöhnlich. Erst recht ist es nicht systemwidrig.246 Im Bereich des Blankettstrafrechts ist durchaus bekannt, dass durch Straftatbestände in Bezug genommene Normen in strafrechtlichem Zusammenhang anders und restriktiver auszulegen sind als in ihrem Ursprungsrechtsgebiet. Das ist strafrechtlichen Besonderheiten – wie etwa dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot oder dem Analogieverbot – geschuldet. Dieses Phänomen wird als Normspaltung bezeichnet.247 Um nichts anderes handelt es sich hier – auch wenn die Spaltung nicht zwischen Strafrecht und Ursprungsrechtsgebiet verläuft, sondern innerhalb der strafrechtlichen Sanktionen. ff) Exkurs: Strafprozessuale Konsequenzen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Grundlage später mit einer Weitergeltungsanordnung versehener Normen Der Umstand, dass die von der Entscheidung betroffenen Normen strafrechtlich bezüglich einer Freiheitsstrafe grundsätzlich nicht weitergelten, in Bezug auf die Geldstrafe aber schon, wirft eine Frage auf: Was geschieht, wenn jemand rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird und die zu Grunde liegenden Normen später für mit der Verfassung unvereinbar, aber weiter anwendbar erklärt werden, ohne dass dabei die weitere Anwendbarkeit auf die Freiheitsstrafe ausgesprochen wird?248 246 Die herrschende Rechtsprechung zu § 370 AO führt dies gegen die Straflosigkeit ins Feld, da es kein Recht minderer Qualität gebe, vgl. die Zusammenfassung dieser Rechtsprechung oben unter C.II.1.b)jj) (S. 230). Dieses Argument gilt aber genauso gegen die hier vertretene Nichtanwendbarkeit bezüglich der Freiheitsstrafe. Es wird allerdings bereits dadurch ad absurdum geführt, dass die herrschende Rechtsprechung zu § 284 StGB von einer Normspaltung zwischen ordnungsrechtlicher Anwendbarkeit einerseits und strafrechtlicher andererseits ausgeht, dazu die Zusammenfassung unter C.II.2.b)gg) (S. 288). 247 Dazu insbes. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 209 ff., 222 f.; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 208 ff.; Popp, wistra 2011, 169 (174 f.). In Bezug auf die strafrechtliche Wirkung einer Weitergeltungsanordnung haben diese Kohlmann und HilgersKlautzsch in die Diskussion eingeführt, auch wenn sie damit den Gegensatz kompletter außerstrafrechtlicher Anwendbarkeit und strafrechtlicher Unanwendbarkeit wegen fehlender Bestimmtheit meinten, dazu oben C.II.1.c)cc)(2)(c)(bb) (S. 254). 248 Erfolgt eine solche Entscheidung zu einem Zeitpunkt, in dem noch keine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, so kann die geänderte Rechtslage im Ausgangsverfahren

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Auch in dieser Konstellation ist § 79 Abs. 1 BVerfGG einschlägig: Der Antrag auf Wiederaufnahme ist nach dem Wortlaut der Vorschrift zulässig.249 Er ist auch begründet, weil sich die materielle Rechtslage – in Bezug auf die anzuwendende Sanktion – geändert hat.250 Der Betroffene ist nach dem nunmehr geltenden materiellen Recht nur noch mit einer Geldstrafe zu sanktionieren. In dem Wiederaufnahmeverfahren kann der Betroffene darauf hinwirken, dass seine Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe umgewandelt wird. gg) Zwischenergebnis: Die strafrechtliche Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung Es lässt sich somit festhalten: Die verfassungsrechtliche Relevanz der Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts bedingt, dass die strafrechtliche Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung – soweit es um die Freiheitsstrafe geht – nur in absoluten Ausnahmefällen und nur unter den oben genannten Voraussetzungen gerechtfertigt ist. Eine solche Wirkung muss in der Weitergeltungsanordnung gesondert angeordnet werden. Ist dies nicht geschehen, so unterliegen die Normen insoweit einer dauerhaften Anwendungssperre und gelten in diesem Ausmaß strafrechtlich nicht weiter. Mit einer Weitergeltungsanordnung versehene Normen bleiben jedoch grundsätzlich251 auch strafrechtlich wirksam, soweit es um die Verurteilung zu einer Geldstrafe geht. Dies muss in der Weitergeltungsanordnung nicht gesondert angeordnet werden. 3. Untersuchung der vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Sachverhalte Somit sind die Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirkung der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung definiert. Tatsächlich sind die in den strafrechtlich relevanten steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betroffenen Normen danach auch strafrechtlich weiter anwendbar, soweit es um die Verurteilung zu einer Geldstrafe geht. Sie sind hinsichtlich einer Freiheitsstrafe nicht anwendbar, da dies nicht gesondert angeordnet wurde. Über dieses Ergebnis hinaus wird im Folgenden untersucht, ob in den Fällen, die das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, nach selber oder im Rahmen des regulären Rechtsmittels durchgesetzt werden. Vgl. zur Anwendbarkeit des § 79 Abs. 1 BVerfGG in dieser Konstellation oben Fn. 26 (S. 328). 249 Dazu oben D.I.1.a) (S. 323). 250 Vgl. zu der allein aus dem materiellen Recht folgenden Begründetheit des Antrags oben D.I.1.b)aa) (S. 327). 251 Vgl. zu Ausnahmen oben Fn. 240 (S. 381).

II. Lösungsansatz

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den hier entwickelten Voraussetzungen die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit in Bezug auf die Freiheitsstrafe möglich gewesen wäre [sogleich a)]. Bei der Sportwettenentscheidung ist die Lage komplexer,252 was an gegebener Stelle erörtert wird. Auch der dortige Sachverhalt wird an den eben definierten Voraussetzungen gemessen [b)]. Bereits überprüft wurde in Abschnitt C. dieser Arbeit, ob die vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Unvereinbarerklärungen mit Weitergeltungsanordnung grundsätzlich zulässig waren; die Entscheidungen waren aus dem Blickwinkel des Verfassungsprozessrechts nicht zu beanstanden.253 a) Steuerrechtliche Entscheidungen aa) In der Abwägung zu berücksichtigende, den strafrechtlichen Normerhalt fordernde Verfassungsgüter Wie bereits dargestellt, fordert Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG die Normvernichtung.254 Dem sind nunmehr jene Verfassungsgüter gegenüberzustellen, die in den steuerrechtlichen Fällen im Rahmen der Abwägung für den vollumfänglichen strafrechtlichen Normerhalt sprechen. (1) Das Budgetrecht des Parlaments Dabei ist an erster Stelle das im Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, 2 GG, in Art. 28 Abs. 1 S. 1 und Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG verankerte Budgetrecht des Parlaments und die darin begründeten Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanzund Haushaltsplanung zu nennen.255 (a) Bezug zwischen Wegfall der Strafbarkeit und Steueraufkommen § 370 AO schützt – nach herrschender Auffassung – das Rechtsgut des Interesses des Staates am rechtzeitigen und vollständigen Steueraufkommen.256 Dieses Steueraufkommen ist wiederum Grundlage für eine verlässliche Finanz- und

252 Dies liegt zum einen am dort verwendeten Maßgabevorbehalt und der damit zusammenhängenden Bestimmtheitsproblematik, zum anderen am Verweis des Bundesverfassungsgerichts an die Strafgerichte, dazu noch D.II.3.b) (S. 398). 253 Dazu die verfassungsprozessrechtlichen Würdigungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts unter C.I.1.b) (S. 153). 254 Dazu oben D.II.2.d)cc) (S. 366). 255 Zur Herleitung ausführlich oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(aa) (S. 159). 256 Dazu oben C.II.1.a)aa) (S. 202).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

Haushaltsplanung und damit für die Ausübung des Budgetrechts des Parlaments.257 Hier ist von folgenden Prämissen auszugehen: Zum einen muss vorausgesetzt werden, dass § 370 AO geeignet ist, das Rechtsgut Steueraufkommen zu schützen. Andernfalls stellt man dessen Legitimität grundsätzlich in Frage, was an dieser Stelle nicht geschehen soll. Die Geeignetheit zur Erreichung eines legitimen Zwecks ist nämlich Grundvoraussetzung der Verhältnismäßigkeit.258 Dieser wird im Strafrecht durch die Strafzwecke konkretisiert.259 Insoweit hat sich – gegen die früher vertretenen absoluten Straftheorien – die Erkenntnis durchgesetzt, dass Strafrecht dem Schutz von Rechtsgütern dienen muss und allein der Vergeltungsgedanke Strafe nicht rechtfertigen kann.260 Nach den insoweit vorzugswürdigen Spielarten der herrschenden Vereinigungstheorie muss Strafrecht – zumindest auch – der Verhütung von Straftaten dienen. In diesem Rahmen muss Strafrecht durch spezial- und generalpräventive Erwägungen gerechtfertigt werden.261 Dies setzt die verhaltenssteuernde Wirkung von Strafrecht262 und – abgestuft – von dessen Sanktionen der Freiheits- und Geldstrafe logisch voraus, wovon im Folgenden somit ausgegangen wird. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass das Steueraufkommen einer Steuerart geringer ausfiele, wenn diese den strafrechtlichen Schutz der Freiheitsstrafe ver257

Vgl. zu diesem Zusammenhang oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161). Vgl. speziell zum Strafrecht BVerfGE 90, 145 (172); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Rn. 47; Roxin, AT I, § 2 Rn. 2 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 107; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 201; generell statt aller Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII. Rn. 111 f. 259 Lagodny, Grundrechte, S. 288 ff., insbes. 316 f. 260 So überzeugend Roxin, AT I, § 3 Rn. 8; ähnlich Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 54. 261 Einzelheiten sind bei den Strafzwecken bis heute freilich hoch umstritten, vgl. dazu bspw. die Darstellungen bei Roxin, AT I, § 3 Rn. 1 ff.; Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 47 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, § 2 Rn. 8 ff.; Weigend, in: LK, Einl. Rn. 58 ff. Vgl. zu den relativen bzw. präventiven Straftheorien und den darauf aufbauenden Vereinigungstheorien Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 56 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, § 2 Rn. 11 ff.; Roxin, AT I, § 3 Rn. 11 ff.; Weigend, in: LK, Einl. Rn. 58 ff. All dies kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Hier ist folgender Gedankengang entscheidend: Die Aufrechterhaltung der Strafbarkeit mit Freiheitsstrafe bei Verstoß gegen verfassungswidriges Steuerrecht muss hier durch Erfordernisse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung gerechtfertigt werden. Dazu muss sich der Entfall der Strafbarkeit negativ auf den Staatshaushalt auswirken. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn man mit den relativen Straftheorien und der herrschenden Vereinigungstheorie von einer verhaltenssteuernden Funktion des § 370 AO ausgeht. Tut man dies nicht, kann die weitere Strafbarkeit von vornherein nicht durch diese Erfordernisse gerechtfertigt werden. 262 Vgl. zur verhaltenssteuernden Wirkung des Strafrechts allgemein Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 8; Maurach/Zipf, Strafrecht AT I, § 7 Rn. 1 ff.; Otto, Strafrecht AT, § 1 Rn. 21; speziell zur verhaltenssteuernden Wirkung des § 370 AO Tipke, PStR 2000, 143 (144). 258

II. Lösungsansatz

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liert. Eine genaue Aussage darüber, in welcher Größenordnung dies geschieht, kann allerdings an dieser Stelle nicht getroffen werden. Realistischerweise ist davon auszugehen, dass die Einnahmen bei weitem nicht komplett entfallen. Neben anderen Gesichtspunkten spricht hierfür nicht zuletzt die Gewohnheit, wenn nicht sogar Überzeugung vieler Bürger, Steuern ordnungsgemäß zu entrichten. Auch die steuerverfahrensrechtlichen Ermittlungsmöglichkeiten führen zu der Erlangung eines weiteren Teils des Steueraufkommens. Zudem besteht wegen der ohnehin gegebenen strafrechtlichen Anwendbarkeit hinsichtlich der Verurteilung zu einer Geldstrafe und den mit einer strafrechtlichen Verurteilung einhergehenden Nebenfolgen auch eine Verhaltenssteuerung durch Strafrecht, die einen weiteren relevanten Anteil der Bevölkerung zur Steuerehrlichkeit motivieren wird. Zwar ist die verbleibende Reststeuerung durch die Freiheitsstrafe demnach minimiert, es besteht unter den ebengenannten Prämissen aber jedenfalls ein Bezug zwischen dem Wegfall des Schutzes durch die Freiheitsstrafe einerseits und dem Wegfall – zumindest eines Teils – des Steueraufkommens andererseits. Deshalb gilt auch für die Weitergeltungsanordnung bezüglich der Freiheitsstrafe das, was bereits für die Steuernormen selbst galt:263 Je größer das betroffene Steueraufkommen, desto planungsrelevanter ist auch der Wegfall des Schutzes durch die Freiheitsstrafe und umso stärker ist die Betroffenheit des Budgetrechts. Das Budgetrecht spricht also umso entschiedener für die Erhaltung des Schutzes durch die Freiheitsstrafe, je größer das betroffene Steueraufkommen ist. (b) Zeitliche Dimension der strafrechtlichen Weitergeltungsanordnung: Wirkung nur pro futuro? Das Budgetrecht kann eine Weitergeltungsanordnung hinsichtlich der Freiheitsstrafe sowohl für den Zeitraum ab der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – pro futuro – rechtfertigen, als auch für den vor dieser Entscheidung.264 Da die Weitergeltungsanordnung in Bezug auf die Freiheitsstrafe das Steueraufkommen und damit das Budgetrecht durch Verhaltenssteuerung schützen soll, liegt es zwar zunächst nahe zu unterstellen, dass diese Anordnung nur pro futuro ausgesprochen werden kann. Es drängt sich folgende Argumentation auf: Im Zeitraum vor der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung war wegen des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 Abs. 1 GG) auch von der strafrechtlichen Wirksamkeit der Normen des Steuerrechts auszugehen: Die Normen waren in diesem Zeitraum noch nicht verworfen. Der Verhaltenssteuerungseffekt der Freiheitsstrafe bestand – in einer ex-ante-Perspektive – 263 Vgl. zum entsprechenden Zusammenhang zwischen dem Wegfall der Steuernorm und der Betroffenheit des Budgetrechts oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161). 264 Dasselbe Ergebnis gilt – mit anderer Begründung – bei der Weitergeltungsanordnung der steuerrechtlichen Normen, vgl. dazu oben C.I.1.b)bb)(2)(a)(bb) (S. 161).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

in diesem Zeitraum ohnehin. Die Weitergeltungsanordnung jedenfalls kann sich insoweit auf die Verhaltenssteuerung nicht mehr auswirken. Damit wäre eine solche Anordnung in Bezug auf die Vergangenheit unzulässig, die Hinterziehung insoweit nicht mit der Freiheitsstrafe zu ahnden. Diese Argumentation trifft jedoch nicht zu. Auch insoweit zeigt ein Rückgriff auf eine anerkannte und hier nicht in Frage zu stellende Straftheorie, dass die Weitergeltungsanordnung bezüglich der Vergangenheit sehr wohl der Steuerung – zukünftigen – Verhaltens dient. Namentlich die positive Generalprävention setzt auf Verhaltenssteuerung durch Normbestätigung und basiert auf dem Gedanken, dass die Bereitschaft zur Normbefolgung nachlässt, wenn der Bürger merkt, dass andere die Norm verletzen können, ohne dafür belangt zu werden.265 Genau dieser Gedanke trifft auch hier zu: Derjenige, der sieht, dass Hinterziehungen der verfassungswidrigen Steuern anderer vor der Weitergeltungsanordnung nicht mit Freiheitsstrafe sanktioniert werden, wird zukünftig – nach der Weitergeltungsanordnung – weniger bereitwillig derselben Norm folgen. Von einer Auswirkung des fehlenden Schutzes durch die Freiheitsstrafe auf zukünftige Steuereinnahmen ist danach auch hier auszugehen. Eine entsprechende Anordnung kann somit grundsätzlich auch in Bezug auf die Vergangenheit durch das Budgetrecht gerechtfertigt werden. Das gilt allerdings nur dann, wenn die verfassungswidrigen Normen selbst auch zukünftig – also ab der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – weiter anwendbar und relevant sind. Die Anordnung der Weitergeltung hinsichtlich der Freiheitsstrafe bei allein für die Vergangenheit weiter anwendbaren bzw. relevanten Normen ist nicht zulässig, da die Geltung der verfassungswidrigen Norm für die Zukunft in diesem Fall nicht bestätigt werden muss.266 (2) Art. 3 Abs. 1 GG Darüber hinaus ist Art. 3 Abs. 1 GG auf Seiten der strafrechtlichen Normerhaltung zu berücksichtigen. (a) Verhinderung eines Vollzugsdefizits Zum einen muss das Steuergesetz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in ein normatives Umfeld eingebettet sein, das die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Belastungserfolges – also der tatsächlichen Entrichtung der Steuer – gewährleistet. Ein Vollzugsdefizit führt dem265 Joecks, in: MüKo-StGB, Einl. Rn. 68; vgl. auch Roxin, AT I, § 2 Rn. 26 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, § 2 Rn. 14 f. 266 Vgl. den zeitlich besonderen Fall BVerfGE 87, 153, in dem dieses Differenzierung eine Rolle spielt, dazu sogleich D.II.3.a)bb)(1) (S. 391).

II. Lösungsansatz

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nach zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.267 In Rechtsprechung268 und Literatur269 wird angemerkt, dass ein entsprechendes normatives Umfeld ohne den Straftatbestand des § 370 AO nicht mehr gewährleistet ist.270 Ohne diesen hänge die Festsetzung einer Steuer nur von der Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen ab, der Gesetzesvollzug sei nicht mehr abgesichert. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nach der hier vertretenen Auffassung nicht die Strafbarkeit insgesamt in Frage steht, denn die Strafbarkeit mit Geldstrafe ist ohnehin gegeben. Diskutiert wird hier nur die Wirksamkeit in Bezug auf die Freiheitsstrafe, was die Betroffenheit des Art. 3 Abs. 1 GG entsprechend abschwächt. Gegen die Begründung der Strafbarkeit mit einem drohenden Vollzugsdefizit wird eingewendet, dass zumindest das Vermögensteuergesetz ja deswegen verfassungswidrig gewesen sei, weil eine Belastungsgleichheit hinsichtlich der Steuer wegen der ungleichen Bewertung nicht gewährleistet war. Sei die Belastungsgleichheit bereits materiell nicht gegeben, so müsse sie auch nicht im Vollzug sichergestellt werden. Zudem stelle eine weniger effektive Absicherung des primärrechtlichen Gesetzesvollzugs für den Staat, der verfassungswidrige Gesetze erlasse, eine hinnehmbare Folge dar.271 Beide Argumente verfangen nicht. Ersteres nicht, weil die Weitergeltungsanordnung keinen verfassungsgemäßen, sondern einen weniger verfassungswidrigen Rechtszustand schaffen bzw. aufrechterhalten soll.272 Letzteres nicht, weil die Perspektive verkehrt ist; nicht der Staat steht im Fokus, sondern die Belastungsgleichheit der Steuerzahler. Der Aspekt des drohenden Vollzugsdefizits ist im genannten Umfang zu berücksichtigen. Auch dieses Argument zielt mit der Sicherstellung der Gleichheit im tatsächlichen Belastungserfolg auf den Verhaltenssteuerungseffekt des § 370 AO ab. Bezüglich der Auswirkung der Freiheitsstrafe auf die Zahlungsbereitschaft und der zeitlichen Dimension einer Anordnung gilt das soeben zum Budgetrecht Ausgeführte entsprechend. (b) Ungleichbehandlung des steuerehrlichen Bürgers gegenüber dem steuerunehrlichen In der Literatur wird zudem der Vorwurf erhoben, der steuerehrliche Bürger werde gegenüber dem steuerunehrlichen in nicht hinnehmbarer Weise ungleich 267

Dazu oben C.I.1.a) (S. 149). Dazu oben C.II.1.b)cc)(4) (S. 218), C.II.1.b)ee)(1) (S. 222), C.II.1.b)gg)(3) (S. 227). 269 Dazu oben C.II.1.c)bb)(1)(a) (S. 234). 270 Dagegen kritisch zur Eignung des Strafrechts zum Ausgleich des Vollzugsdefizits Papier, Stbg 1999, 49 (56); Tipke, PStR 2000, 143 (145). 271 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(c) (S. 248). 272 Dazu oben B.III.4.b)bb) (S. 129). 268

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

behandelt. Er zahle Steuern, während der steuerunehrliche dies sanktionslos unterlassen könne.273 Dieser Vorwurf ist nach hier vertretener Auffassung nicht zutreffend, da dem steuerunehrlichen Bürger sehr wohl die Geldstrafe droht, sein Verhalten somit nicht sanktionslos ist. Art. 3 Abs. 1 GG fordert insoweit nicht die Normerhaltung. (c) Ungleichbehandlung gegenüber sonstigen Steuerhinterziehern? Der Bundesfinanzhof führt an, dass ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt, wenn man denjenigen, der eine verfassungswidrige, aber weitergeltende Steuer hinterzieht, nicht bestraft, gleichzeitig aber andere Steuerhinterziehungen ahndet.274 Auch dieser Einwand ist dahingehend zu modifizieren, dass es nur um die Ahndung mit Freiheitsstrafe geht. Er ist aber abzulehnen. Feldmann wirft bereits die Frage auf, ob hier überhaupt zwei vergleichbare Konstellationen herangezogen werden, d.h. ob Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab überhaupt taugt. In jedem ist Fall aber – darin ist ihm Recht zu geben – die Verfassungswidrigkeit der einen Norm ein sachlicher Grund, der eine Ungleichbehandlung rechtfertigt.275 Dieser Aspekt ist in der Abwägung daher nicht zu berücksichtigen. bb) Untersuchung der steuerrechtlichen Sachverhalte Nun soll beurteilt werden, ob in den Fällen, die den im Abschnitt C. verfassungsprozessrechtlich untersuchten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde lagen, die Anordnung der weiteren Wirksamkeit der Normen in Bezug auf die Freiheitsstrafe möglich gewesen wäre. Dazu müsste es aus verfassungsrechtlichen Gründen unerlässlich sein, die verfassungswidrige Vorschrift in der Übergangszeit mit der weiteren Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe zu schützen. Unerlässlich wäre dies dann, wenn ohne diesen Schutz ein Zustand bestünde, der die betroffenen Verfassungsgüter in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigen würde. In der Abwägung müssen die die Normerhaltung fordernden Verfassungsgüter die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen.276

273 Dazu oben C.II.1.c)bb)(1)(a) (S. 234). Dieser Aspekt würde die Sanktionierung schlechthin fordern, nicht um der Verhaltenssteuerung willen. Er könnte daher ohne weitere Begründung auch für die Vergangenheit die hier diskutierten strafrechtlichen Wirkungen rechtfertigen. 274 Dazu oben C.II.1.b)ee)(2)(b) (S. 224). 275 Dazu oben C.II.1.c)cc)(1)(c) (S. 248). 276 Dazu soeben D.II.2.d) (S. 365), insbes. D.II.2.d)ee) (S. 377).

II. Lösungsansatz

391

(1) BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge) Als geradezu exemplarischer Fall für die Existenzberechtigung der Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung wurde BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge) dargestellt.277 Doch selbst der dort entschiedene Sachverhalt kann die weitere Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe nicht rechtfertigen. Bereits aus der zeitlichen Dimension der Entscheidung folgt, dass hinsichtlich der weiteren Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe ohnehin nur die Normen des Veranlagungsjahres 1991 in Frage kommen [(a)]. Auch insoweit ergibt die Abwägung, dass diese Anwendbarkeit nicht gerechtfertigt ist [(b)]. (a) Die zeitliche Dimension der Weitergeltungsanordnung Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erging am 25. September 1992. Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung bezog sich letztlich auf das komplette Einkommensteuergesetz der Veranlagungszeiträume 1978 bis 1984, 1986, 1988 und 1991.278 Die Einkommensteuererklärungen zum letzten betroffenen Veranlagungszeitraum 1991 waren gemäß § 149 Abs. 2 S. 1 AO i.V. m. § 25 Abs. 1 EStG grundsätzlich bis spätestens zum 31. Mai 1992 abzugeben – vier Monate vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Soweit die Steuererklärungen bezüglich des letztbetroffenen Veranlagungsjahres 1991 zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits eingereicht waren – wie es der ebengenannten Pflicht entspricht – kommt die Weitergeltungsanordnung hinsichtlich der Freiheitsstrafe deswegen nur für die Vergangenheit in Betracht. Dass und unter welchen Voraussetzungen eine solche zeitliche Wirkung zulässig ist, wurde bereits dargelegt.279 Die Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe kann insoweit mit dem oben entwickelten Gedanken der positiven Generalprävention daraus gerechtfertigt werden, dass sie die zukünftige Einhaltung der für verfassungswidrig erklärten Normen des Veranlagungsjahres 1991 garantiert und somit zukünftiges Steueraufkommen schützt. Die für weiter anwendbar erklärten Normen waren nämlich auch zukünftig, d.h. für den Zeitraum nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, relevant. Das liegt daran, dass längst nicht alle Steuererklärungen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzugeben waren. Zu nennen sind hier etwa diejenigen Fälle, in denen die Erklärungen nicht abgegeben wurden, weil die Frist gem. § 109 Abs. 1 AO verlängert wurde. Das gilt bspw. für die Abgabe von Steuererklärungen durch steuerliche Berater, bei der allgemein eine Verlängerung bis

277

Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.1.b) (S. 153). Im Einzelnen ebenda. 279 Zu dieser zeitlichen Problematik und dem angesprochenen Grundsatz der positiven Generalprävention ausführlich oben D.II.3.a)aa)(1)(b) (S. 387). 278

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

zum 31.12. des Folgejahres erfolgt.280 Die Anordnung für die Vergangenheit kommt insoweit also in Betracht. Etwas anderes gilt für die von der Entscheidung ebenfalls betroffenen Normen der Veranlagungsjahre 1978 bis 1984, 1986 und 1988. Insoweit ist davon auszugehen, dass sämtliche Steuererklärungen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im September 1992 bereits abgegeben waren. Die weiter anwendbaren verfassungswidrigen Normen waren also für den Zeitraum ab der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gar nicht mehr relevant. Es wurde bereits festgestellt, dass eine weitere Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe bei allein für die Vergangenheit wirksamen bzw. relevanten Normen nicht zulässig ist.281 Der Gedanke der positiven Generalprävention ist hier nicht einschlägig, da die zukünftige Einhaltung der für verfassungswidrig erklärten Steuern hier nicht mehr sichergestellt werden kann. Im Veranlagungsjahr 1992 galten andere, nicht von der Entscheidung betroffene und verfassungsgemäße Normen. In einem solchen Fall können das Budgetrecht und die sonstigen auf Seiten der strafrechtlichen Normerhaltung streitenden Verfassungsgüter den überragend wichtigen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und das besonders stark betroffene Rechtsstaatsprinzip nicht eindeutig überwiegen.282 (b) Abwägung im Übrigen Doch auch hinsichtlich der Normen des Veranlagungsjahres 1991 kann die weitere Anwendung der Freiheitsstrafe nicht gerechtfertigt werden. (aa) Rechtfertigung durch das Budgetrecht Dem Bund standen im Haushaltsjahr 1991 insgesamt 180,42 Mrd. EUR an Einnahmen zur Verfügung, den Bundesländern insgesamt 159,77 Mrd. EUR.283 280

Dazu m. N. Rätke, in: Klein, AO, § 149 Rn. 14. Dazu oben D.II.3.a)aa)(1)(b) (S. 387). 282 In diesem Fall bedarf ausnahmsweise auch die Geldstrafe besonderer Legitimation, obwohl die Normen insoweit grundsätzlich strafrechtlich weitergelten. Diese Sanktion lässt sich aber wiederum mit dem der positiven Generalprävention entlehnten Gedanken rechtfertigen, dass die Einhaltung des Einkommensteuergesetzes – auch in Bezug auf spätere Versionen dieses Gesetzes – für die Zukunft sichergestellt werden muss. Das hängt mit der überragenden finanziellen Bedeutung der Einkommensteuer zusammen, dazu sogleich im Text. Denn die einkommensteuerliche Zahlungsmoral würde auch in Bezug auf spätere Versionen des Einkommensteuergesetzes ohne jeglichen strafrechtlichen Schutz der im Steuerrecht häufigen Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung abnehmen: Wird – wie im Steuerrecht oft der Fall – die Verfassungsmäßigkeit eines solchen späteren Gesetzes angezweifelt bzw. sogar Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, könnten Steuerpflichtige dann darauf spekulieren, dass eine entsprechende Entscheidung erfolgt und sie straffrei bleiben. In Bezug auf die Geldstrafe sind die Normen also auch hier anwendbar. 283 Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, R 3.1, 2008, S. 16. 281

II. Lösungsansatz

393

Aus der Einkommensteuer generierten Bund wie Bundesländer im Haushaltsjahr 1991 jeweils Einnahmen von 55,57 Mrd. EUR.284 Die Einnahmen machten demnach im Bund rund 31% der Gesamteinnahmen aus, in den Bundesländern sogar rund 35%. Zwar spricht diese enorme finanzielle Relevanz auf den ersten Blick für die Rechtfertigung der weiteren Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe durch das Budgetrecht. Tatsächlich kommt bei Einnahmen der genannten Größenordnung die Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ernsthaft in Betracht. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass allein wegen der unter (a) geschilderten zeitlichen Dimension längst nicht das gesamte Steueraufkommen des Veranlagungsjahres 1991 vom Anwendungsappell des fortgeltenden Strafrechts erreicht werden konnte. Vielmehr konnte der Steuerungseffekt nur diejenigen Steuerpflichtigen erreichen, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ihre Steuererklärungen noch nicht eingereicht hatten. Der tatsächlich durch die Fortgeltung der Freiheitsstrafe steuerbare Teil des Steueraufkommens ist bereits deshalb geringer als die oben genannten 31 bzw. 35% des Steueraufkommens. Dazu kommt, dass ein großer Teil der Einkommensteuer – nämlich der aus unselbstständiger Arbeit – bereits deshalb zu relevanten Anteilen nicht hinterzogen wird, weil er schwer hinterziehbar ist. Das wiederum liegt an der automatischen Einbehaltung und Abführung durch den Arbeitgeber. Zudem wird ein relevanter Teil der Bürger – nicht zuletzt aus Gewohnheit – auch ohne das Strafrecht steuerehrlich sein. Darüber hinaus wird ein weiterer Anteil der Steuerzahler bereits durch die ohnehin gegebene strafrechtliche Anwendbarkeit hinsichtlich der Geldstrafe285 zur Steuerehrlichkeit motiviert. Auch sind die steuerverfahrensrechtlichen Ermittlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen, die zur Erlangung eines weiteren Teils des Steueraufkommens führen. Letztlich ist also der Teil des Steueraufkommens, der durch die weitere Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe zusätzlich erlangt werden kann, deutlich geringer als die eben geschilderten 31 bzw. 35% der Gesamteinnahmen des Bundes und der Bundesländer. Wegen des derart minimierten Anteils des Steueraufkommens, der tatsächlich durch den Steuerungseffekt der Freiheitsstrafe erlangt werden würde, ist nicht davon auszugehen, dass es hinsichtlich des Budgetrechts unerlässlich ist, die verfassungswidrigen Normen in der Übergangszeit mit der weiteren Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe zu schützen. Ohne diese besteht eben kein Zustand, der das Budgetrecht in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmba-

284 285

Dazu m. N. oben C.I.1.b)bb)(2)(b) (S. 166). Dazu oben D.II.2.d)ee)(2) (S. 379).

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D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

rer Weise beeinträchtigt. Das Budgetrecht überwiegt insoweit das Recht auf Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht eindeutig. (bb) Belange des Art. 3 Abs. 1 GG Damit bleiben zur Rechtfertigung nur die oben dargestellten Belange des Art. 3 Abs. 1 GG wegen des drohenden Vollzugsdefizits.286 Hier müsste nun eigentlich die Frage aufgeworfen werden, ob das Strafrecht überhaupt dazu geeignet ist, ein normatives Defizit auf Vollzugsebene auszugleichen und die Belastungsgleichheit zu gewährleisten.287 Daran anschließend würde sich die Folgefrage stellen, ob der Wegfall der Strafbarkeit mit Freiheitsstrafe zu einem Vollzugsdefizit führen kann oder ob nicht vielmehr die Geldstrafe allein ausreicht, eine hinreichende Gleichheit im Gesetzesvollzug sicherzustellen. Doch oben wurde die Prämisse aufgestellt, dass der Steuerhinterziehungstatbestand und – in abgestufter Stärke – seine Sanktionen verhaltenssteuernd wirken. Damit führt die Freiheitsstrafe zu einem feststellbaren „Mehr“ an tatsächlicher Belastungsgleichheit – dessen Ausmaß allerdings kaum ermittelbar ist. Doch selbst wenn man somit die Eignung der Freiheitsstrafe zur Verhinderung eines sonst drohenden Vollzugsdefizits unterstellt, müsste Art. 3 Abs. 1 GG in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigt werden und die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen. Steuergesetze, die nicht tatsächlich gleich belasten, stellen eine erhebliche Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG dar und sind verfassungsrechtlich alles andere als wünschenswert. Allerdings droht die Gefahr der fehlenden Belastungsgleichheit infolge des Wegfalls des Strafrechtsschutzes nicht in maximaler Schärfe – die Hinterziehung ist nicht zuletzt weiterhin mit Geldstrafe sanktioniert. Zudem ist – angesichts der besonderen zeitlichen Dimension der Entscheidung wegen der Abgabe eines relevanten Teils der Steuererklärungen hinsichtlich des Veranlagungsjahres 1991 bereits vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – hinsichtlich dieser Steuererklärungen auch ohne die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit von der Verhaltenssteuerung durch die Freiheitsstrafe auszugehen.288 Dazu kommen die bereits angesprochenen Aspekte der Schwierigkeit der Hinterziehung bestimmter Einkünfte, der Steuerehrlichkeit nicht zuletzt aus Gewohnheit und der steuerverfahrensrechtlichen Ermittlungsmöglichkeiten. Es ist deswegen auch von einer „Restbelastungsgleichheit“ auszugehen. Der Zustand der Ungleichheit ohne die Strafbarkeit mit Freiheitsstrafe ist deshalb – selbst unter obigen Prämissen – nicht so unerträglich und in keiner Weise 286

Dazu D.II.3.a)aa)(2)(a) (S. 388). Kritisch dazu Papier, Stbg 1999, 49 (56); Tipke, PStR 2000, 143 (145). 288 Ex ante war vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von der Strafbarkeit auszugehen, vgl. zu diesem Gedanken oben D.II.3.a)aa)(1)(b) (S. 387). 287

II. Lösungsansatz

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hinnehmbar, dass Art. 3 Abs. 1 GG die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen würde. Auch dieses Grundrecht kann die Weitergeltung in Bezug auf die Freiheitsstrafe demnach nicht rechtfertigen. (2) BVerfGE 93, 121 (Vermögensteuerentscheidung) Auch bei der Vermögensteuerentscheidung – BVerfGE 93, 121 – wäre die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit hinsichtlich der Freiheitsstrafe nicht möglich gewesen.289 (a) Rechtfertigung durch das Budgetrecht Hier wurde die Entscheidung Mitte 1995 getroffen, wobei letztlich das Vermögensteuergesetz als Ganzes290 bezüglich aller Veranlagungszeiträume seit 1983 für unvereinbar mit der Verfassung erklärt wurde. Die weitere Wirksamkeit der Steuernormen wurde bis Ende 1996 angeordnet. Die Wirksamkeit in Bezug auf die Freiheitsstrafe steht sowohl pro futuro als auch für die Vergangenheit zur Debatte. Entscheidend ist für das Budgetrecht der Verhaltenssteuerungseffekt der Freiheitsstrafe und die finanzielle Bedeutung der Vermögensteuer, jeweils im Zeitraum ab der Entscheidung, also in den Haushaltsjahren 1995 und 1996. Die Länder generierten durch die Vermögensteuer im Jahr 1995 insgesamt Einnahmen in Höhe von rund 4,02 Mrd. EUR. Dem stehen Gesamteinnahmen der Bundesländer von rund 227,38 Mrd. EUR gegenüber. Die Vermögensteuer machte demnach im Jahr 1995 lediglich rund 1,8% der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus. 1996 betrugen die Einnahmen rund 4,62 Mrd. EUR, den Gesamteinnahmen von 232,71 Mrd. EUR gegenüberstanden. Die Vermögensteuer machte 1996 nur rund 2,0% der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus.291 Die Weitergeltungsanordnung der Vermögensteuerentscheidung stellt schon in Bezug auf das Steuerrecht einen Grenzfall dar. Letztlich wurde – wegen der doch vorhandenen erheblichen planerischen Relevanz von Einnahmen in Höhe von rund 250 Mio. bzw. 290 Mio. EUR für den durchschnittlichen Länderetat – dort noch von einem erheblichen Überwiegen der Belange des Budgetrechts ausgegangen.292 Wegen der besonderen Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, der besonderen Relevanz von Eingriffen in dieses Grundrecht für die personale Entfaltung über289 290 291 292

Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.1.c) (S. 169). Dazu oben C.I.1.c)cc) (S. 175). Dazu m. N. oben C.I.1.c)bb)(2)(b) (S. 173). Ebenda.

396

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

haupt und wegen der besonderen Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips wurde jedoch definiert, dass die weitere Anwendbarkeit in Bezug auf die Freiheitsstrafe nicht durch ein einfaches oder auch nur erhebliches Überwiegen in einer Abwägung gerechtfertigt werden kann. Wegen dieser Aspekte muss ohne den Schutz durch die Freiheitsstrafe ein Zustand bestehen, der die betroffenen Verfassungsgüter in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigen würde. In der Abwägung müssen die Verfassungsgüter, welche die Normerhaltung fordern, die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen.293 Es kann kaum davon gegangen werden, dass der Wegfall selbst des Maximalwerts von 2% der Gesamteinnahmen eines Bundeslandes – ein Wert, der zudem aller Voraussicht nach allein durch den Wegfall der Freiheitsstrafe in der Realität bei weitem nicht erreicht werden würde294 – das Budgetrecht in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigen würde. Sicherlich wird das betroffene Parlament vor besondere Herausforderungen gestellt, die einen erheblichen planerischen Aufwand und gravierende Umschichtungen erfordern. Nimmt man die besondere Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und die schwerwiegende Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips ernst, so ist der Wegfall von Einnahmen von maximal 2% indes nicht so gravierend, dass ein eindeutiges Überwiegen über das besonders hohe Gut des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG angenommen werden kann. Bereits die generelle finanzielle Bedeutung – die bei BVerfGE 87, 153 die Anwendbarkeit hinsichtlich der Freiheitsstrafe denkbar erscheinen ließ – ist hier zu gering, um eine solche Anwendbarkeit durch das Budgetrecht der jeweiligen Parlamente zu rechtfertigen. (b) Belange des Art. 3 Abs. 1 GG Auch ein eventuell drohendes Vollzugsdefizit rechtfertigt die weitere Anwendbarkeit hinsichtlich der Freiheitsstrafe nicht, da der oben zu BVerfGE 87, 153 dargelegte Gesichtspunkt der verbleibenden „Restbelastungsgleichheit“ auch an dieser Stelle gilt.295 Der Zustand der Ungleichheit bei der Vermögensbesteuerung ohne die Strafbarkeit mit Freiheitsstrafe ist deshalb nicht so unerträglich und in keiner Weise hinnehmbar, dass Art. 3 Abs. 1 GG die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen würde. Auch dieses Grundrecht kann die Weitergeltung in Bezug auf die Freiheitsstrafe demnach nicht rechtfertigen.

293

Dazu soeben D.II.2.d) (S. 365), insbes. D.II.2.d)ee)(1) (S. 377). Dazu bereits oben D.II.3.a)aa)(1) (S. 385), D.II.3.a)bb)(1)(b)(aa) (S. 392). 295 Dazu oben D.II.3.a)bb)(1)(b)(bb) (S. 394). Allein die dortigen Ausführungen zur besonderen zeitlichen Dimension gelten nicht entsprechend. 294

II. Lösungsansatz

397

(3) Die Entscheidungen zum Erbschaftsteuergesetz Auch in den Entscheidungen zum Erbschaftsteuergesetz – BVerfGE 93, 165 und BVerfGE 117, 1 – wäre die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit hinsichtlich der Freiheitsstrafe nicht gerechtfertigt gewesen. In BVerfGE 93, 165296 wurde Mitte Juni 1995 die Unvereinbarkeit letztlich des gesamten Erbschaftsteuergesetzes297 mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, und zwar in Bezug auf alle Veranlagungszeiträume seit 1987. Dabei wurde die weitere Anwendbarkeit bis Ende 1995 angeordnet. Auch hier kommt – sowohl für die Vergangenheit als auch pro futuro – eine Rechtfertigung der Weitergeltung in Bezug auf die Freiheitsstrafe durch das Budgetrecht der betroffenen Parlamente in Betracht. Doch machten die Einnahmen aus der Erbschaftsteuer im Haushaltsjahr 1995 gerade einmal 0,8% der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus. Die finanzielle Bedeutung der Einnahmen war zwar als äußerster Grenzfall gerade noch ausreichend, um die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung zu rechtfertigen.298 Ihre generelle finanzielle und damit planerische Relevanz liegt jedoch noch unter der der Vermögensteuer, so dass eine Rechtfertigung der Weitergeltung bezüglich der Freiheitsstrafe durch das Budgetrecht hier erst recht ausscheidet. Gleiches gilt für BVerfGE 117, 1.299 Hier wurde Ende 2006 letztlich das gesamte geltende Erbschaftsteuergesetz300 in allen seinen bis zur Entscheidung existierenden Fassungen für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Die weitere Anwendbarkeit wurde dabei bis Ende 2008 angeordnet. Die betroffenen Steuereinnahmen machten rund 1,5% (Haushaltsjahre 2006, 2007) bzw. 1,2% (2008) der Gesamteinnahmen der Bundesländer aus.301 Die generelle finanzielle und planerische Relevanz liegt ebenfalls unter jener der Vermögensteuer, so dass eine Rechtfertigung der Weitergeltung in Bezug auf die Freiheitsstrafe durch das Budgetrecht ebenfalls ausscheidet. Auch die Belange des Art. 3 Abs. 1 GG können in beiden Entscheidungen eine solche Weitergeltung, aus denselben Gründen wie im Rahmen der vorigen Entscheidungen,302 nicht rechtfertigen.

296

Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.1.d) (S. 178). Dazu oben C.I.1.d)aa)(3) (S. 181). 298 Dazu m. N. oben C.I.1.d)aa)(2) (S. 179). 299 Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.1.d)bb) (S. 182). 300 Dazu oben C.I.1.d)bb)(3) (S. 186). 301 Dazu m. N. oben C.I.1.d)bb)(2) (S. 184). 302 Dazu D.II.3.a)bb)(1)(b)(bb) (S. 394). Auch hier gelten freilich die Ausführungen zur besonderen zeitlichen Dimension von BVerfGE 87, 153 nicht entsprechend. 297

398

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

b) Die Sportwettenentscheidung Im Abschnitt C. dieser Arbeit hat sich herausgestellt, dass die weitergeltenden Normen im Fall der Sportwettenentscheidung – BVerfGE 115, 276303 – wegen des dort verwendeten Maßgabevorbehalts grundsätzlich gegen den auf sie anwendbaren strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen. Die Strafbarkeit ist insoweit – auch in Bezug auf die Geldstrafe – ausgeschlossen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn ein Verwaltungsgericht bezüglich des für den Betroffenen geltenden Landesrechts festgestellt hat, dass ein Mindestmaß an Konsistenz hergestellt wurde. Erst ab diesem Zeitpunkt ist der Tatbestand hinreichend bestimmt.304 Setzt man – was im Folgenden geschehen soll – die Bestimmtheit voraus, so bleibt zu untersuchen, ob die Normen auch in Bezug auf die Freiheitsstrafe weitergelten. Anders als in den vorigen Entscheidungen wäre dies nicht nur hypothetisch zu erörtern, da die Frage der strafrechtlichen Auswirkungen der Weitergeltungsanordnung vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich den Strafgerichten übertragen worden und somit vom Normanwender zu beantworten ist.305 Die weitere Anwendbarkeit in Bezug auf die Geldstrafe wäre auch hier nach den oben entwickelten Grundsätzen gegeben.306 In der Sportwettenentscheidung im März 2006 wurde die weitere Geltung des Bayerischen Staatslotteriegesetzes bis Ende 2007 angeordnet. Hier waren die finanziellen Auswirkungen einer Nichtig- oder Unvereinbarerklärung der Normen – die entsprechenden Einnahmen machten lediglich 0,05% bzw. 0,04% der Gesamteinnahmen der Bundesländer307 in den Haushaltsjahren 2006 und 2007 aus – derart gering, dass sie eine Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung nicht rechtfertigen konnten. Gerechtfertigt wurde diese vielmehr durch die Belange der Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht und damit durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG, welches die Belange des Art. 12 Abs. 1 GG – so sie denn überhaupt die Normvernichtung forderten – erheblich überwog.308 303

Zu dieser Entscheidung ausführlich oben C.I.2. (S. 188). Dazu oben C.II.2.d) (S. 307), zusammenfassend C.II.2.d)ff) (S. 319). 305 Die Auslegung der steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hat ergeben, dass das Gericht hier die weitere Anwendbarkeit in Bezug auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht angeordnet hat. Deswegen wurde hinsichtlich dieser Entscheidungen nur hypothetisch danach gefragt, ob die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit insoweit möglich gewesen wäre. Die Auslegung der Sportwettenentscheidung hat wegen des Verweises des Bundesverfassungsgerichts an die Strafgerichte jedoch nicht weiter geführt; die Entscheidung war in Bezug auf strafrechtliche Wirkungen ergebnisoffen. Dazu zusammenfassend oben D.II.1.c)ff) (S. 354). 306 Dazu insbes. oben D.II.2.d)ee)(2) (S. 379). 307 Zahlen nur zu Bayern waren nicht zu erlangen. Letztlich galt die Entscheidung aber auch in allen Bundesländern, dazu oben C.I.2.c) (S. 198). 308 Dazu m. N. oben C.I.2.b)aa)(2) (S. 194). 304

II. Lösungsansatz

399

Nimmt man mit der These der strikten verfassungsrechtlichen Neutralität des § 284 StGB an, dass ein Handeln „ohne Erlaubnis“ unabhängig davon gegeben ist, ob das Landessportwettenrecht überhaupt existiert oder verfassungswidrig ist,309 so bedarf es der strafrechtlichen Erstreckung der Weitergeltungsanordnung gar nicht erst, um die Strafbarkeit – und damit auch die mit Freiheitsstrafe – zu begründen. Diese ergibt sich dann ohne Weiteres aus § 284 StGB. Diese These ist jedoch abzulehnen; § 284 StGB ist so zu lesen, dass die Erlaubnis nach dem einschlägigen Verwaltungsrecht „erforderlich“ sein muss.310 Erforderlich ist die Erlaubnis insoweit nur, wenn das Sportwettenrecht – aus dem sich die Erforderlichkeit ergibt311 – auch in Bezug auf die Freiheitsstrafe strafrechtlich weitergilt. Hierzu müssten bei Entfallen der Strafbarkeit mit Freiheitsstrafe die Belange des Rechts auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG allerdings in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigt werden. Dazu müssten sie die Belange der Freiheit der Person eindeutig überwiegen.312 Auch hier ist von der verhaltenssteuernden Wirkung des Strafrechts und – in abgestufter Weise – seiner Sanktionen auszugehen, so dass die weitere Anwendbarkeit in Bezug auf die Freiheitsstrafe für die Vergangenheit wie für die Zukunft in Betracht kommt.313 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung bezüglich Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG festgestellt, dass Gesundheitsgefahren bei Sportwetten mit festen Gewinnquoten zwar vorhanden sind, aber weniger schwer wiegen als bei anderen Glücksspielen. Sportwetten trügen deutlich weniger zu problematischem und pathologischem Spielverhalten bei als etwa Spielautomaten oder CasinoSpiele. Zudem sei nur eine geringe Anzahl an Spielern in ihrer Gesundheit betroffen: Für die große Mehrheit der Spieler hätten Sportwetten reinen Erholungsund Unterhaltungsfaktor.314 Angesichts dieser Feststellungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Recht der Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit bei einem Entfall der Strafbarkeit in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise betroffen wäre. Dies gilt umso mehr, als die unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels mit Geldstrafe strafbar bleibt, also insofern eine erhebliche „Restverhaltenssteuerung“ durch Strafrecht und nicht zuletzt auch durch die ordnungsrechtliche Durchsetzbarkeit existiert. Ein eindeutiges Überwiegen der genannten Belange über die des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG liegt nicht vor. 309

Dazu oben C.II.2.c)aa)(2)(a) (S. 294). Dazu oben C.II.2.d)cc) (S. 310). 311 Zur „Erforderlichkeit“ der Genehmigung nach bayerischem Sportwettenrecht oben C.I.2.b)aa) (S. 193). 312 Dazu soeben D.II.2.d) (S. 365), insbes. D.II.2.d)ee)(1) (S. 377). 313 Dazu oben D.II.3.a)aa)(1)(a) (S. 385). 314 BVerfGE 115, 276 (305). 310

400

D. Analyse der strafrechtlichen Wirksamkeit

c) Zwischenergebnis Die Erkenntnis, dass verfassungsprozessrechtliche Grundlage der Weitergeltungsanordnung ein bestimmtes Abwägungsergebnis ist, hat für das Strafrecht weitreichende Folgen. Führt man sich die besondere Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG315 und die besondere Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips316 einerseits und die Abhängigkeit der Rechtfertigungsbedürftigkeit einer Abweichung vom Nichtigkeitsgrundsatz von diesen beiden Größen andererseits317 vor Augen, so ist vieles vorentschieden: Die Weitergeltungsanordnung mit Wirkung hinsichtlich der Freiheitsstrafe muss die absolute Ausnahme bleiben und bedarf zur Rechtfertigung nicht lediglich guter, sondern bester Gründe. Dies drückt sich in den Voraussetzungen der entsprechenden Wirksamkeit einer Weitergeltungsanordnung aus.318 In keiner der hier untersuchten Entscheidungen wäre nach der Dogmatik des Verfassungsprozessrechts eine entsprechende Anordnung mit Wirkungen bezüglich Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG möglich gewesen. Das gilt selbst für BVerfGE 87, 153 (Grundfreibeträge), obwohl die dort betroffenen Einnahmen rund ein Drittel der Gesamteinnahmen der jeweiligen Haushalte ausmachten.

315 316 317 318

Dazu oben D.II.2.d)cc)(1) (S. 367). Dazu oben D.II.2.d)cc)(5) (S. 373), D.II.2.d)dd)(2)(a) (S. 376). Dazu oben D.II.2.d)bb) (S. 366). Dazu oben D.II.2.d)ee) (S. 377).

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis1 Als Gesamtergebnis der Untersuchung zur Strafbarkeit auf Grundlage einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung bleibt festzuhalten: • Die weitere Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Normen in Bezug auf Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und damit auf die Freiheitsstrafe muss in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gesondert angeordnet werden. Unterbleibt dies, sind die betroffenen Normen insoweit nicht weiter anwendbar: Ein Verstoß ist nicht mit Freiheitsstrafe strafbar. • Die Normen sind hinsichtlich der Verurteilung zu einer Geldstrafe grundsätzlich bei jeder Weitergeltungsanordnung weiter anwendbar. Dies muss nicht gesondert angeordnet werden. Insoweit ist das Verhalten strafbar. • Dieses Ergebnis gilt für sämtliche von den hier untersuchten steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betroffenen Normen: Dort wurde die Anwendbarkeit in Bezug auf die Freiheitsstrafe nicht gesondert angeordnet. Die Normen sind im Rahmen des § 370 AO nur bezüglich der Verurteilung zu einer Geldstrafe weiter anwendbar. • Ausnahmen zur Strafbarkeit mit Geldstrafe können sich aus den Besonderheiten der jeweiligen Weitergeltungsanordnung ergeben. Beispiel hierfür ist der in der Sportwettenentscheidung verwendete Maßgabevorbehalt, der – grundsätzlich – dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht genügt. Insofern scheidet die Strafbarkeit gemäß § 284 StGB generell aus.2 Dabei gilt im Einzelnen: • Die Frage der Strafbarkeit auf Grundlage von Weitergeltungsanordnungen ist nicht durch einfachgesetzliche Normen beantwortet: – § 79 Abs. 1 BVerfGG enthält keine Aussage gegen die Strafbarkeit auf der Grundlage von Weitergeltungsanordnungen. Die Norm ist zwar tatbestandlich auf die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung anwendbar,3 hat aber keinen materiell-rechtlichen Gehalt und betrifft allein die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags.4 1 Vgl. die dem Gesamtergebnis zu Grunde liegenden Ergebnisse der Abschnitte B., unter B.IV. (S. 146), und C., unter C.III. (S. 319). 2 Dazu mit weiterführenden Nachweisen das Ergebnis des Abschnitts C. oben S. 321. 3 Dazu oben D.I.1.a) (S. 323). 4 Dazu oben D.I.1.b) (S. 326).

402

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis

– Ebenso wenig enthalten die §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Var. 1 AO eine Aussage für die Strafbarkeit auf der Grundlage von Weitergeltungsanordnungen auf dem Gebiet des Steuerrechts.5 • Für die reguläre Unvereinbarerklärung konnten aus der Untersuchung des § 79 Abs. 1 BVerfGG Erkenntnisse gewonnen werden: – Die Strafbarkeit auf Grundlage einer Strafnorm, die mit einer regulären Unvereinbarerklärung versehen wird, ist generell ebenso ausgeschlossen wie die rückwirkende Strafbarkeit auf Grundlage der betreffenden Neuregelung. Der Verstoß ist immer straflos. Daraus wurde die Konsequenz gezogen, dass die Rechtsfolgen der regulären Unvereinbarerklärung bei Strafnormen zu modifizieren sind: Die Aussetzungspflicht ist hier sinnentleert und findet keine Anwendung.6 – Auch bei der regulären Unvereinbarerklärung einer Steuernorm ist die Hinterziehung bis zur Neuregelung trotz der §§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 370 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 AO straflos, die Aussetzungspflicht gilt nicht.7 • In den strafrechtlich relevanten steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wurde die Weitergeltung der Normen in Bezug auf Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht konkludent angeordnet. Das zeigt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Zulässigkeit von Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auf der Grundlage von mit der Verfassung unvereinbaren, mit einer Weitergeltungsanordnung versehenen Normen: – Zunächst beweist die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht noch nie einen Straftatbestand mit einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung bedacht hat, eine deutliche Zurückhaltung in der Frage, ob verfassungswidrige Normen einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG anordnen können.8 – Das Bundesverfassungsgericht hat zudem mehrfach betont, dass Eingriffe in das Grundrecht der Freiheit der Person auf Grundlage verfassungswidrigen Rechts sehr brisant und besonders rechtfertigungsbedürftig sind. Die Weitergeltungsanordnung wird in Bezug auf die genannten Eingriffe sehr restriktiv gehandhabt. Insbesondere wird durch inhaltliche Vorgaben bezüglich der weitergeltenden Normen sichergestellt, dass die Eingriffe auf das Notwendigste begrenzt werden. Daraus ist zu schließen, dass die weitere Anwendbarkeit der Normen in Bezug auf Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 S. 2

5 6 7 8

Dazu oben D.I.2. (S. 333). Dazu oben D.I.1.b)aa) (S. 327). Dazu oben D.I.2.a) (S. 334). Dazu oben D.II.1.c)aa) (S. 343).

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis

403

GG – entgegen der herrschenden strafrechtlichen Rechtsprechung9 – nicht konkludent mit angeordnet wird. Diese muss vielmehr ausdrücklich angeordnet werden.10 – Das verdeutlicht auch ein Blick auf die verfassungsprozessrechtlichen Voraussetzungen einer Weitergeltungsanordnung: Danach ist – an dieser Stelle unstrittig – eine Abwägung vorzunehmen,11 bei der ein erhebliches Überwiegen eines Verfassungsguts über ein anderes erforderlich ist.12 Die Weitergeltungsanordnung kann daher nur so weit reichen wie die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Abwägung. In den strafrechtlich relevanten steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wurde Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht berücksichtigt. Die weitere Anwendbarkeit wurde insoweit auch aus dieser Perspektive nicht angeordnet.13 – In der Sportwettenentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht dagegen die Frage der Strafbarkeit gemäß § 284 StGB den Strafgerichten zur Entscheidung überlassen, so dass die Auslegung hier nicht weiterführt.14 • Die strafrechtliche Wirkung einer Weitergeltungsanordnung ist nicht generell ausgeschlossen – insbesondere die grundlegenden Prinzipien des Strafrechts stehen dieser nicht zwingend entgegen.15 • Die Einbindung der strafrechtlichen Wirkung einer Weitergeltungsanordnung in die in Abschnitt B. ermittelte verfassungsprozessrechtliche Systematik ergibt Folgendes:16 – Verfassungsprozessrechtliche Voraussetzung einer Abweichung vom Nichtigkeitsgrundsatz und damit von jeder Form der Unvereinbarerklärung ist nach der vorzugswürdigen Abwägungslehre ein bestimmtes Abwägungsergebnis auf Rechtsfolgenseite. Dabei sind die Voraussetzungen der jeweiligen Entscheidungsvariante umso strenger, je höher deren verfassungsrechtliche Relevanz ist. Die reguläre Unvereinbarerklärung ist die „erste Eskalationsstufe“ der Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung und verlangt ein Überwiegen des die Normerhaltung fordernden Verfassungsguts über das die Normvernichtung fordernde. Bei der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung als „zweiter Eskalationsstufe“ ist wegen der gesteiger9

Dazu oben D.II.1.a) (S. 341). Dazu oben D.II.1.c)bb) (S. 344). 11 Dazu oben B.III.4.b)bb) (S. 129). 12 Dazu mit weiterführenden Nachweisen das Ergebnis des Abschnitts B. oben unter B.IV. (S. 146). 13 Dazu oben D.II.1.d) (S. 355). 14 Dazu oben D.II.1.c)ff) (S. 354). 15 Dazu oben D.II.2.c) (S. 359). 16 Dazu insgesamt oben D.II.2.d) (S. 365). 10

404

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis

ten verfassungsrechtlichen Relevanz bereits ein erhebliches Überwiegen erforderlich.17 – Eine Untersuchung der Verfassungsgüter, die eine strafrechtliche Normvernichtung verlangen, zeigt, dass „die“ strafrechtliche Wirkung einer Weitergeltungsanordnung gar nicht existiert. Vielmehr hat sie drei Eingriffsstoßrichtungen, denen drei Grundrechte zuzuordnen sind: Der in einer strafrechtlichen Verurteilung zum Ausdruck kommende staatliche Tadel greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ein, die Geldstrafe in die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und die Freiheitsstrafe in die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Die drei Grundrechte fordern in der vorzunehmenden Abwägung – neben dem Rechtsstaatsprinzip – die strafrechtliche Normvernichtung.18 – Diese Eingriffe wiegen nach der Wertung der Strafzumessungsregelungen des Strafgesetzbuchs und wegen der unterschiedlich starken Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips unterschiedlich schwer. Die Freiheitsstrafe wiegt dabei schwerer als die Geldstrafe. Der staatliche Tadel ist von der Schwere der Sanktion abhängig und nicht eigenständig gewichtbar.19 Diese abgestufte verfassungsrechtliche Relevanz der Eingriffe muss sich in der verfassungsprozessrechtlichen Abwägung niederschlagen. – Es wurde in diesem Zusammenhang ersichtlich, dass die weitere Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Normen hinsichtlich der Freiheitsstrafe und des mit einer solchen verbundenen sozialethischen Tadels – wegen der besonderen Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, der besonderen Eingriffsschwere und Betroffenheit des Rechtsstaatsprinzips – nur in absoluten Ausnahmefällen zulässig ist. Eine solche Weitergeltungsanordnung ist als „dritte Eskalationsstufe“ der Entscheidungsvariante Unvereinbarerklärung zu begreifen. Sie ist nur dann gerechtfertigt, wenn es aus verfassungsrechtlichen Gründen unerlässlich ist, die verfassungswidrige Vorschrift in der Übergangszeit mit der weiteren Anwendbarkeit der Freiheitsstrafe zu schützen. Unerlässlich ist dies dann, wenn ohne diesen Schutz ein Zustand bestünde, der die betroffenen Verfassungsgüter in schwerster, unter keinen Umständen hinnehmbarer Weise beeinträchtigen würde. In der Abwägung müssen die Verfassungsgüter, welche die Normerhaltung fordern, die Belange des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eindeutig überwiegen.20 17 Dazu oben D.II.2.d)bb) (S. 366) sowie mit weiterführenden Nachweisen und den genauen Voraussetzungen der jeweiligen Entscheidungsvarianten das Ergebnis des Abschnitts B. oben unter B.IV. (S. 146). 18 Dazu oben D.II.2.d)cc) (S. 366). 19 Dazu oben D.II.2.d)dd) (S. 374). 20 Dazu oben D.II.2.d)ee)(1) (S. 377).

E. Ergebnisse Abschnitt D. – Gesamtergebnis

405

– Auch die Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG durch die Verurteilung zu einer Geldstrafe und den darin zum Ausdruck kommenden staatlichen Tadel stellen zwar besonders erhebliche Grundrechtseingriffe dar. Sie vermögen allerdings die ohnehin sehr strengen Voraussetzungen einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung nicht zusätzlich zu verschärfen. Liegen diese vor, ist auch die weitere Anwendbarkeit bezüglich der Verurteilung zu einer Geldstrafe immer zulässig. Deswegen muss sie insoweit nicht gesondert angeordnet werden. Die mit einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung versehenen Normen sind deshalb grundsätzlich auch strafrechtlich im Rahmen der Verurteilung zu einer Geldstrafe weiter anwendbar.21 – Wird jemand auf der Grundlage von Normen, die später mit einer Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung versehen werden, rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, so kann gemäß § 79 Abs. 1 BVerfGG die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt und so die Umwandlung der Freiheits- in eine Geldstrafe erwirkt werden.22 • In keinem der bislang vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen, strafrechtlich relevanten Fälle wäre die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit der verfassungswidrigen Normen hinsichtlich der Freiheitsstrafe nach den hier entwickelten Grundsätzen zulässig gewesen.23

21 22 23

Dazu oben D.II.2.d)ee)(2) (S. 379). Dazu oben D.II.2.d)ff) (S. 383). Dazu soeben D.II.3. (S. 384).

F. Anhang: Strafrechtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 1, 418

BVerfGE 25, 64

BVerfGE 2, 213

BVerfGE 25, 69

BVerfGE 4, 110

BVerfGE 25, 79

BVerfGE 4, 352

BVerfGE 25, 88

BVerfGE 6, 389

BVerfGE 25, 230

BVerfGE 7, 29

BVerfGE 25, 269

BVerfGE 7, 111(***)

BVerfGE 26, 41

BVerfGE 9, 83*

BVerfGE 28, 175

BVerfGE 9, 162

BVerfGE 28, 191

BVerfGE 9, 167

BVerfGE 28, 386

BVerfGE 10, 55

BVerfGE 29, 148

BVerfGE 10, 234

BVerfGE 32, 98

BVerfGE 10, 340

BVerfGE 32, 346

BVerfGE 11, 234

BVerfGE 34, 261

BVerfGE 12, 113

BVerfGE 36, 41

BVerfGE 13, 367

BVerfGE 36, 174

BVerfGE 14, 174*

BVerfGE 37, 201

BVerfGE 14, 245

BVerfGE 39, 1**

BVerfGE 14, 254*

BVerfGE 41, 121

BVerfGE 16, 190

BVerfGE 41, 314

BVerfGE 16, 246

BVerfGE 42, 130

BVerfGE 17, 155

BVerfGE 45, 187

BVerfGE 20, 323

BVerfGE 45, 363

BVerfGE 21, 239

BVerfGE 46, 188

BVerfGE 22, 1

BVerfGE 47, 109

BVerfGE 22, 21

BVerfGE 47, 130

BVerfGE 23, 113

BVerfGE 48, 48

BVerfGE 23, 127

BVerfGE 50, 5

BVerfGE 23, 191

BVerfGE 50, 42

BVerfGE 23, 265

BVerfGE 50, 125

BVerfGE 25, 44

BVerfGE 50, 142

F. Anhang BVerfGE 50, 205

BVerfGE 90, 255

BVerfGE 54, 100

BVerfGE 91, 1*****

BVerfGE 55, 28

BVerfGE 92, 1

BVerfGE 57, 29

BVerfGE 92, 277

BVerfGE 58, 159

BVerfGE 93, 266

BVerfGE 58, 358

BVerfGE 94, 1

BVerfGE 64, 389

BVerfGE 95, 96

BVerfGE 66, 369

BVerfGE 96, 68

BVerfGE 67, 213

BVerfGE 96, 245

BVerfGE 69, 257

BVerfGE 97, 117

BVerfGE 70, 297

BVerfGE 98, 265*

BVerfGE 71, 206

BVerfGE 99, 185

BVerfGE 72, 105

BVerfGE 100, 195

BVerfGE 73, 206

BVerfGE 101, 275

BVerfGE 74, 102

BVerfGE 104, 92

BVerfGE 75, 329

BVerfGE 105, 135*******

BVerfGE 75, 369

BVerfGE 109, 133

BVerfGE 76, 211

BVerfGE 109, 190****

BVerfGE 77, 240

BVerfGE 110, 1

BVerfGE 77, 346

BVerfGE 110, 141*

BVerfGE 78, 374*

BVerfGE 110, 226

BVerfGE 78, 391

BVerfGE 114, 339

BVerfGE 80, 244

BVerfGE 115, 276

BVerfGE 81, 132

BVerfGE 117, 71

BVerfGE 81, 278

BVerfGE 117, 244

BVerfGE 81, 298

BVerfGE 120, 224

BVerfGE 82, 1

BVerfGE 124, 300

BVerfGE 82, 43

BVerfGE 128, 326****

BVerfGE 82, 236

BVerfGE 129, 37

BVerfGE 83, 119

BVerfGE 130, 1

BVerfGE 84, 82

BVerfGE 130, 372******

BVerfGE 85, 23

BVerfGE 131, 268

BVerfGE 86, 288 BVerfGE 88, 203** (die vorausgehenden einstweiligen Anordnungen BVerfGE 86, 390; 88, 83 nicht mitgerechnet)

407

408

F. Anhang

Legende zur Auflistung: Alle durch einen oder mehrere ** gekennzeichneten Entscheidungen mit Ausnahme der durch (***) gekennzeichneten haben ergeben, dass die überprüfte strafrechtliche Norm verfassungswidrig ist, alle nicht besonders gekennzeichneten, dass die strafrechtliche Norm verfassungsgemäß ist. Im Einzelnen: * **

Nichtigerklärung eines Straftatbestands Nichtigerklärung eines Straftatbestands verbunden mit einer Anordnung gemäß § 35 BVerfGG (***) Mit Bundesrecht für unvereinbar und unanwendbar erklärte Verbotsnorm, deren Nichtbefolgung strafrechtlich sanktioniert war – keine Verfassungswidrigkeit **** Sicherungsverwahrungsurteile: Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung von Normen zur Sicherungsverwahrung ***** Nichtigerklärung von Normen zu Maßregeln der Besserung und Sicherung ****** Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung von § 67 IV StGB (Anrechnung der Zeit des Maßregelvollzugs auf Freiheitsstrafen) verbunden mit einer Anordnung gemäß § 35 BVerfGG ******* Nichtigerklärung von § 43a StGB (Verhängung der Vermögensstrafe) Anmerkungen zur Auflistung: 1. Die Anzahl der strafrechtlichen Entscheidungen hängt maßgeblich davon ab, was man als „strafrechtliche Entscheidung“ definiert. Hier wurden alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wiedergegeben, die sich inhaltlich mit Fragen des materiellen Strafrechts befassen; der Einstieg in diese Fragen ist vielfältiger Natur. Enthalten sind dabei bspw. Entscheidungen zum materiellen Zivilrecht mit strafrechtlichen Fragen (über § 823 II BGB), zu § 890 ZPO (wegen des Sanktionscharakters der Norm) sowie zum Strafprozessrecht. Nicht enthalten sind in dieser Liste ordnungswidrigkeiten-, disziplinar- und standesrechtliche Entscheidungen. Die bloße Erwähnung strafrechtlicher Normen ohne inhaltliche Äußerungen des Gerichts hat nicht zu der Aufnahme der Entscheidung geführt. 2. Enthalten sind strafrechtliche Entscheidungen, die in der offiziellen Sammlung bis einschließlich des 131. Bandes veröffentlicht sind. 3. Die Auflistung der Entscheidungen bis einschließlich des 81. Bandes basiert auf der Zusammenstellung von Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 61–69. Nicht übernommen wurden die bei Tiedemann enthaltenen disziplinar-, standes- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Entscheidungen.

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Stichwortverzeichnis Abwägungslehre 57 ff., 114 ff., 126 ff., 147 f., 168, 171, 359, 403 f. Allgemeine Handlungsfreiheit 154, 177, 371, 374 f., 379, 381 ff., 404 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 371 f., 374 f., 377, 379, 381 ff., 404 f. Anwendungssperre 83 ff., 90 f., 93 f., 96 f., 113, 116, 119, 126, 129, 139, 141 f., 147, 156, 166, 228, 295, 297, 327 ff., 334, 339, 355, 359, 379, 384 Appellentscheidung 75 ff., 81, 89, 118, 131 f., 144 ff., 152 f., 168, 222, 237 Aussetzungspflicht 83 ff., 90 f., 93 f., 96 f., 116, 119, 126, 129, 139, 141 f., 147, 156, 166, 327 ff., 330 f., 334, 339 f., 355, 359, 402 Beruhen (i. S. d. § 79 Abs. 1 BVerfGG) 300, 324 ff. Bestimmtheitsgebot siehe Bestimmtheitsgrundsatz Bestimmtheitsgrundsatz 204, 246, 254 f., 276 f., 283, 285, 289, 296 ff., 306 f., 308 ff., 313, 316 ff., 321, 358, 362 f., 383, 398, 401 Bestrafungsverbot 281, 283, 314 Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG 32, 75, 80, 200, 217, 219, 221, 225 f., 226 f., 228, 231, 242, 244 f., 282, 292, 305, 346, 350, 360 f. Blankettmerkmal 28, 203 ff., 208 f., 215, 217, 219, 225 f., 229, 234 ff., 240, 242, 254, 256 f., 262, 265, 271 f., 277, 282, 316 f., 324 f., 382 f. Blanketttatbestand siehe Blankettmerkmal Budgetrecht des Parlaments 159 ff., 173 ff., 180 f., 185 f., 194 f., 197, 380, 385 ff., 392 ff., 395 ff.

Deklaratorisches Feststellungsurteil 37, 43, 47, 49, 63, 68, 70, 146, 256 Demokratieprinzip 160, 162, 173, 180, 185, 385 Eigentumsgarantie 370 f. Eingriffsbegriff 372 f. Erstattungsansprüche (bei der Unvereinbarerklärung eines Steuergesetzes) 95, 118, 156 f., 163 ff., 173 f., 180 f., 245 Finanz- und Haushaltsplanung 89, 130, 131, 156, 159 ff., 167 f., 171, 173 ff., 179 f., 184 f., 194 f., 227 f., 246, 288, 356 Folgenmanagement 28, 62, 98, 118, 167 Freiheit der Person 28, 247 ff., 280, 300 f., 342 ff., 357 f., 364, 367 f., 374 f., 377 ff., 381 ff., 385, 390, 392 ff., 395 f., 400 ff. Freiheitsstrafe 249, 254, 301 f., 367 ff., 373 ff., 376, 377 ff., 383 f., 384 ff., 403 ff. Fristablauf (ohne Tätigwerden des Gesetzgebers) 120 f., 137 ff., 148, 175 ff., 186, 256 ff. Geldstrafe 369 ff., 374 f., 376 f., 379 ff., 383 f., 384 f., 386 f., 389 f., 393 f., 398 f., 403 ff. Generalprävention 222 f., 386, 388, 391 Gesetz (i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB) 208 f., 216, 257 f., 259, 265 Gesetzesänderung (i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB) 205 f., 209 f., 213 f., 216 f., 219 f., 223, 228 f., 231 f., 257 f., 259 f., 265 ff. Gesetzesvorbehalt 350, 359 ff., 367 Gesetzgeberisches Unterlassen 104

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Stichwortverzeichnis

Gesetzlichkeitsprinzip 255, 284, 287, 305, 346, 358, 359 ff. Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 99 ff., 103 f., 109, 112 f., 121 f., 126, 155 f., 158, 170 f., 179, 184, 191 f., 262 Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss 99 f., 109, 111, 238 ff. Grundsatz der Gewaltenteilung 109 f., 121 ff., 126 ff., 141, 147, 171, 192 Grundsatz des Haushaltsausgleichs 160 ff., 174, 181, 186 Inkorporationstheorie 204, 206, 324 Kollisionsmodell 44 f. Konstitutive Gestaltungsentscheidung 37, 39 f., 42 f., 47, 53, 68, 70, 146 Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes 107 ff., 116 ff., 121 ff., 127, 147, 158, 168, 238 f. Lotteriestaatsvertrag 189, 191, 193, 198 ff., 286, 311 Maßgabevorbehalt 192, 275, 280 ff., 289, 298, 306 f., 307 ff., 321, 347, 361, 398, 401 Meistbegünstigungsprinzip 207, 212, 260, 265, 270 Milderung (i. S. d. § 2 Abs. 3 StGB) 215 f., 219, 228 f., 257 f., 265, 328 f. Nichtannahmebeschluss (BVerfG) 229 f. Nichtigerklärung 34 ff., 80 f., 91 f., 96, 97, 99, 100 ff., 104, 105 f., 108 f., 110, 112 ff., 117 f., 121 ff., 126 f., 131, 133, 134, 138, 141, 146, 161 ff., 166 ff., 172, 173 f., 180, 192 ff., 292, 299, 343 f., 345, 351, 357 Nichtigkeitsdogma siehe Nichtigkeitslehre Nichtigkeitsfeststellung 38

Nichtigkeitsgrundsatz 64 f., 65 ff., 69 f., 71, 115, 118, 120, 127 f., 142, 146, 180, 192, 358 f., 362, 366, 373 f., 400, 403 Nichtigkeitslehre – Allgemeines 36 ff., 40, 43 f., 44 ff., 50 ff., 63 f., 65, 68 ff., 118 – eingeschränkte 71, 74, 106, 107, 115, 146, 362 – strenge 61 ff., 106, 118 – und Abwägungslehren 57 f., 59 f., 66, 114 f. – und die Lehre von der besonderen Struktur des Gleichheitssatzes 107 ff., 110, 118 Nichtigkeitsprinzip 59 f., 115 f. Normative Alternative 51 ff. Normative Kraft der Verfassung 59, 70 Normatives Tatbestandsmerkmal 28, 202 f., 203 ff., 208 f., 240, 257, 259, 265, 324 Normenkontrolle – abstrakte 31 f., 33 f., 73, 79 f. – konkrete 31 f., 33 f., 48, 79 f., 83 f., 154, 169 Normenkontrollentscheidungen 32, 34, 47, 73 Normspaltung 255, 382 f. Parteispendenentscheidung 209, 258 f., 261 f. Praktische Konkordanz 62, 364 f. Prinzip (i. S. Alexys) 59 f. Rechtsfolgenargument 102 f., 115, 129 ff., 155 f., 158 f., 193, 234, 355 Rechtsgeltungsmodell 44 f., 51, 112 Rechtsschutzgarantie 120, 139 f., 141, 186 Rechtssicherheit 37, 41, 55, 57, 73 f., 88, 103, 172, 186, 243, 283, 300 Rechtsstaatsgebot siehe Rechtsstaatsprinzip Rechtsstaatsprinzip 55, 67 f., 71, 73 f., 103, 120, 133, 137 f., 141 f., 146 f.,

Stichwortverzeichnis 151, 224, 239, 249, 277, 279 f., 283 f., 287, 289, 292, 300, 301, 350, 358 f., 366, 373 f., 375 ff., 377 ff., 392, 395 f., 400, 404 Regel (i. S. Alexys) 59 Rückwirkungsverbot 255 f., 328, 329 ff., 358, 361 f. Schuldprinzip 253 f., 358, 363 f., 379, 381 Schutzpflicht 78, 345 ff. Schwangerschaftsabbruch 292, 344 ff. Sicherungsverwahrung 132, 292 f., 347 ff., 357 Sozialethischer Tadel 363, 371 f., 374 f., 377 f., 379 ff., 404 f. Spezialprävention 386 Sportwettenentscheidung 188 ff., 270, 275, 279 f., 282, 284, 285, 288 f., 304, 307 ff., 319, 321, 347, 353 f., 356 f., 361, 398 f., 401, 403 Sportwettenmonopol 188 ff., 194 f., 196 f., 198 ff., 274 f., 277 f., 280, 282, 294 f., 297 f., 302, 306, 308, 311 f., 321, 361 Steuerhinterziehung – Allgemeines und Tatbestand 202 ff., 225 – Weitergeltungsanordnung und Strafbarkeit 28, 212 ff., 232 ff., 242, 282, 287 f., 293, 320 f., 341 f., 354, 356, 385 ff., 401 Steuerverkürzung 94 f., 252, 333 ff. Strafzumessung 364, 374 f., 404 Tertium comparationis 124 Übergangsregelung des BVerfG 98, 136, 138, 346, 360 f. Übergangszeit 97 Übermaßverbot siehe Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Ultima-ratio-Prinzip 255, 358, 364, 379, 381

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Unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels – Allgemeines und Tatbestand 188, 190, 271 ff. – Weitergeltungsanordnung und Strafbarkeit 28, 192, 193 ff., 276 ff., 290 ff., 307 ff., 320 f., 341 f., 347, 398 ff., 401, 403 Unverbrüchlichkeit der Verfassung 45 f., 53, 58 f., 63, 65, 67 f., 69 f., 71, 120, 239 Unvereinbarerklärung – Allgemeines 32 f., 81 ff., 146 ff. – dogmatische Grundlagen und Voraussetzungen 105 ff. – einfachgesetzliche Normen und Aussage zur Strafbarkeit 322 ff., 339 f. – Historie 98 ff. – i. S. d. § 79 Abs. 1 BVerfGG 323 – Rechtsfolgen bei Straftatbeständen 327 ff. – und Strafbarkeit siehe Weitergeltungsanordnung – von Straftatbeständen 322 ff., 343 f. Unwirksamkeit – ex nunc 40 f., 42, 139 f., 143, 175 – ex tunc 36 ff., 40 ff., 43, 54, 57, 61 ff., 63 ff., 68 f., 71, 73 f., 106 f., 112, 115, 140, 142, 161, 172, 255 f., 361 f. – ipso iure 36 ff., 39 f., 43 f., 47, 50 f., 53 f., 55 f., 63, 68, 70 f., 74, 106 f., 109, 115, 140, 255 f., 361 f. – pro futuro 40 f., 42 Verbot – präventives 272 f., 302 ff., 312 f. – repressives 272 f., 295, 302 f. Vereinbarerklärung 32 f., 33 f. Verfassungsbeschwerde – allgemein 31 f., 34, 79 f., 83, 105, 150, 178, 188, 230, 310, 372 – Rechtssatzverfassungsbeschwerde 31 f. – Urteilsverfassungsbeschwerde 31 f.

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Stichwortverzeichnis

Verfassungskonforme Auslegung 78 ff., 81, 146, 193, 307, 313 ff. Verfassungsrechtliche Neutralität (des § 284 StGB) 294 ff., 300 f., 310 ff., 319, 399 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 62, 177, 191, 249, 279 ff., 285 ff., 289, 301, 308, 313, 352, 364 f., 368, 379, 386 Vermögensteuerentscheidung 169 ff., 395 ff. Vermögensteuerhinterziehung 202, 207, 213 ff., 256 ff., 270, 282 f., 284, 320, 395 f. Vernichtbarkeitslehre 38 ff., 42 f., 47 f., 50 ff., 57 f., 60 f., 63 ff., 68 ff., 71, 106, 114, 146 Verwaltungsakzessorietät 28, 271 f., 277, 282, 286 f., 294 ff., 302, 311, 313, 315, 318 Verwerfungsmonopol des BVerfG 31, 37 f., 46, 49, 51, 64, 139, 218, 228, 231, 240, 317, 362, 387 Vollzugsdefizit 125 f., 150, 153, 218, 222 f., 224, 227, 231, 235, 248, 388 f., 394 f., 396 Vorläufige Steuerfestsetzung 94 ff., 163 ff., 167, 174, 178, 181, 333 ff.

Vorrang der Verfassung 44 f., 51, 53, 58 f., 63, 65, 67 f., 69 f., 71, 85, 120, 134 f., 146, 239, 358 f., 366 Weitergeltungsanordnung – Allgemeines 96 ff., 147 f. – Auslegung 341 ff., 356 f., 381 f. – bei Straftatbeständen (Historie) 343 f. – dogmatische Grundlagen und Voraussetzungen 128 ff. – eingeschränkte 282, 284, 288, 321 – Legalisierungseffekt 291 ff., 342 – strafrechtlich relevante Entscheidungen des BVerfG 149 ff. – und Strafbarkeit 201 ff., 320 f., 322 ff., 340 ff., 384 ff., 401 ff. – Voraussetzungen der strafrechtlichen Wirksamkeit 357 ff. Wiederaufnahme des Verfahrens 72 ff., 214 f., 220 f., 243, 323 ff., 383 f., 401, 405 Willkürverbot 278, 283 f., 287, 289 Zeitgesetz 207 f., 210 ff., 216, 219 f., 221, 225 f., 229, 231 f., 260 ff., 264 ff., 270, 320