Die unbekannte Geburt: Subjektivierungsweisen von gebärenden Frauen zwischen individueller Praxis und öffentlichem Diskurs 9783839452752

Die Frau als passives Gefäß und das Gebären als mechanischer Prozess, der sich von außen steuern lässt - das sind zentra

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Die unbekannte Geburt: Subjektivierungsweisen von gebärenden Frauen zwischen individueller Praxis und öffentlichem Diskurs
 9783839452752

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie
2.1 Geburtsdiskurse als Macht-Wissens-Konfigurationen
2.2 Diskurs und Subjekt
2.3 Diskurs und Biographie
2.4 Diskurs und Körper
3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen
3.1 Von der Diskursanalyse zur Dispositivanalyse
3.2 Methodisches Vorgehen
4. Das dispositive Feld der Geburt
4.1 Diskursformationen
4.2 Praktiken
4.3 Objektivationen
4.4 Subjekte
5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen: Deutungsprozesse der Geburt und Subjektpositionen
5.1 Charakterisierung des Interviewmaterials
5.2 Die unbekannte Geburt
5.3 Entbunden werden oder gebären? Gebärende Frauen im Spannungsfeld der Zuständigkeiten für Geburt
6. Abschlussdiskussion und Ausblick
7. Literaturverzeichnis
Transkriptionsregeln

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Sarah Eckardt Die unbekannte Geburt

Gender Studies

Sarah Eckardt (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für empirische Sozialforschung in Erfurt. Die Soziologin promovierte innerhalb des Promotionskollegs »Familie im Wandel. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung« der FernUniversität Hagen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung, Medizin- und Gesundheitssoziologie und Methoden qualitativer Sozialforschung.

Sarah Eckardt

Die unbekannte Geburt Subjektivierungsweisen von gebärenden Frauen zwischen individueller Praxis und öffentlichem Diskurs

Dissertation, FernUniversität Hagen, 2019 Die Dissertation im Fach Soziologie wurde von Prof. Dr. Frank Hillebrandt (FernUniversität Hagen) und Prof. Dr. Sylka Scholz (Friedrich-Schiller-Universität Jena) betreut und begutachtet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat & Korrektorat: Carola Klinkert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5275-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5275-2 https://doi.org/10.14361/9783839452752 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung .............................................................................. 7 1.

Einleitung........................................................................... 9

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie ................ 15 Geburtsdiskurse als Macht-Wissens-Konfigurationen ................................. 17 Diskurs und Subjekt ................................................................ 23 Diskurs und Biographie ............................................................. 30 Diskurs und Körper ................................................................. 32

Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen ................... 37 Von der Diskursanalyse zur Dispositivanalyse ....................................... 39 3.1.1 Dimensionen der Dispositivanalyse............................................ 41 3.1.2 Dispositivanalyse mit Hilfe von Leitfragen .................................... 45 3.2 Methodisches Vorgehen............................................................. 47 3.2.1 Erhebungsmethode .......................................................... 48 3.2.2 Sample ...................................................................... 49 3.2.3 Auswertungsmethode......................................................... 51 3.2.4 Brückenkonzepte ............................................................ 55

3. 3.1

4. 4.1

Das dispositive Feld der Geburt .................................................... 59 Diskursformationen ................................................................ 62 4.1.1 Geburt im Kreis einer machtvollen Frauengemeinschaft ...................... 63 4.1.2 Beschränkung und Kontrolle der Frauengemeinschaft und der Hebammen .......................................................... 70 4.1.3 Etablierung einer medizinischen Perspektive in der Geburtshilfe .............. 73 4.1.4 Die Macht der objektiven Wissenschaft – Wissens- und Machtkämpfe in der Entwicklung der Geburtshilfe bis zum 19. Jahrhundert ..................................................... 77 4.1.5 Brüche und Diskontinuitäten in der Geburtshilfe seit den 1950er Jahren....................................................... 82

4.1.6 Geburtshilfe der Gegenwart .................................................. 90 4.1.7 Diskursformationen der Geburtsdispositive................................... 93 4.2 Praktiken.......................................................................... 105 4.2.1 Messen, Kontrollieren und Überwachen ...................................... 105 4.2.2 Eltern- und Mütterbildung .................................................... 111 4.2.3 Risiko- und Entscheidungsmanagement ...................................... 113 4.2.4 Praktiken der Geburt zwischen Leitung, Begleitung und Bewältigung .......... 115 4.3 Objektivationen.................................................................... 123 4.4 Subjekte .......................................................................... 132 4.4.1 Professionelle Geburtshelfer*innen.......................................... 133 4.4.2 Private Begleitpersonen .................................................... 134 4.4.3 Geborenes.................................................................. 135 4.4.4 Gebärende.................................................................. 136 5.

Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen:  Deutungsprozesse der Geburt und Subjektpositionen ............................. 139 5.1 Charakterisierung des Interviewmaterials .......................................... 140 5.2 Die unbekannte Geburt ............................................................ 143 5.2.1 Versuche der Annäherung................................................... 145 5.2.2 Die sich ereignende Geburt ................................................. 182 5.2.3 Verstetigung und Wandel der vorläufigen Deutungen......................... 202 5.2.4 Individuelle Deutungsprozesse im dispositiven Feld der Geburt............... 208 5.3 Entbunden werden oder gebären? Gebärende Frauen im Spannungsfeld der Zuständigkeiten für Geburt ..................................... 213 5.3.1 Positionierung angesichts dispositiver Subjektpositionen gebärender Frauen ..........................................................214 5.3.2 Gebärende Frauen im Spannungsfeld der Selbstbestimmung ................. 254 6.

Abschlussdiskussion und Ausblick................................................ 265

7.

Literaturverzeichnis .............................................................. 279

Transkriptionsregeln ................................................................... 293

Danksagung

Das Forschen und Arbeiten an einem solchen Qualifikationsprojekt lässt sich wie die Geburt im Sinne der Natalität verstehen. Die Erschaffung eines neuen Projektes, einer Forschung und einer Idee ist nicht einfach und geht von Zeit zu Zeit mit Schmerz einher. Es braucht Beweglichkeit, Anstrengung, Geduld, Pausen, Beharrlichkeit, beherztes Weitergehen, Kraft und Mut für einen solchen Akt. In diesem Prozess auf so vielfältige Art und Weise Unterstützung, Halt und Zuspruch zu finden, ist dabei ein wirkliches Geschenk und erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Mein großer Dank gilt den Interviewpartnerinnen, die sich in dem Zeitraum rund um die Geburt auf ein Interview eingelassen haben und mir mit Vertrauen und Offenheit über ihre Erlebnisse und Gedanken berichteten. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ernsting’s family ermöglichte mir in Kooperation mit der Fernuniversität Hagen, mit einem Stipendium zu promovieren und damit Familie und Dissertation zu vereinbaren. In dem Kolleg »Familie im Wandel. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung« der Ernsting’s-family-Junior-Stiftungsprofessur entstand unter der Leitung von Jun.-Prof. Dr. Dorett Funcke eine wertvolle Zusammenarbeit mit Sarah Leonie Bauer, Franziska Krüger und Annemaria Köhler. Meinem Erstgutachter Prof. Dr. Frank Hillebrandt danke ich für die Zuversicht, die Unterstützung und den unerschütterlichen Glauben an das Forschungsprojekt und die Relevanz der Fragestellung. Prof. Dr. Sylka Scholz danke ich für die tatkräftige Unterstützung als Zweitgutachterin, das gemeinsame Analysieren, die detaillierten Diskussionen, die klugen und einfühlsamen Ratschläge, Anregungen und Rückmeldungen während des gesamten Zeitraums der Dissertation. In Dresden und Jena fand ich außerdem in den Forschungswerkstätten rund um Prof. Dr. Heike Greschke, Prof. Dr. Andreas Hanses sowie Prof. Dr. Sylka Scholz die Möglichkeit zur kollegialen Diskussion über Forschungsfragen, Analyseergebnisse und gemeinsame Interpretationssitzungen, die meine Arbeit auf vielfältige Art und Weise bereichert haben. Carola Klinkert unterstütze mich mit kritischen Fragen, ihrem hilfreichen Feedback zur Struktur der Arbeit sowie einem achtsamen und wertschätzenden Lektorat. Unser fortwährendes Band der Freundschaft hält mich sicher und warm.

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Die unbekannte Geburt

Dem Team des Schreibzentrums in Dresden und speziell Paulina Hösel danke ich für den umfangreichen Beistand im Schreibprozess. Anna-Thilo Schmalfeld hat mir wunderbare innere Bilder und so manche gemeinsame Kaffeepause geschenkt. Jagoda Motowidlo danke ich für die gemeinsame schöne Schreibzeit, ihre Freundschaft, konstruktive Hinweise und die vielen Aufmunterungen während langer Schreibwochen. Da sich manche Lebenswege immer wieder glücklich kreuzen, kam es zu einem schönen Austausch mit Carolin Thiem angesichts gemeinsamer Herausforderungen und einer solidarische Schreibwoche. Von ganzem Herzen danke ich meinem Mann Felix Eckardt für all das Bestärken und Auffangen und den Glauben in mich und die gemeinsame (und des Öfteren einsame) Betreuung unserer Kinder, sein offenes Ohr, die viele Liebe und in aller turbulenten Zeit, die Chance, gemeinsam zu wachsen. Mit meinen wunderbaren Kindern Benjamin, Immanuel und Jonathan gab es herrlichen Alltag und unbeschwerte Zeit, hier haben sich kleine Menschen immer auf mich gefreut, egal wie angespannt oder unausstehlich ich auch war. Durchatmen, spielen, vorlesen, manche unerwartete Krankheit und schöne, motivierende Basteleien zeigten mir immer wieder, was wirklich wichtig ist und verschafften mir schöne Unterbrechung und Bewegung. Es ist sehr schön, eure Mama zu sein. Mit Hilfe dieser Mischung aus wissenschaftlichem Austausch und engen Beziehungen konnte ich die Arbeit beenden und selbst an dieser Herausforderung wachsen. Danke.

1. Einleitung

Seit 2013 laden die Akteur*innen1 des Roses Revolution Day in Deutschland am 25. November Frauen dazu ein, Berichte ihrer gewaltvollen Geburtserfahrungen im Internet zu teilen und die Einrichtungen, in denen ihnen Gewalt widerfahren ist, mit einer rosa Rose daran zu erinnern, dass jede Frau das Recht auf eine würdevolle Begleitung während der Geburt hat. Die persönlichen Berichte verursachen beim Lesen Hilflosigkeit, Übelkeit, Wut und Unglauben. Es gibt keine Statistiken, die zeigen, wie viele Frauen betroffen sind. Die Schätzungen schwanken zwischen 30 und 50 %. Die Aktion besteht seit sieben Jahren in Deutschland und rückt seit drei Jahren verstärkt ins öffentliche Bewusstsein, es mehren sich die Berichte in Fernsehen und Presse. Das »#MeToo aus dem Kreißsaal« (Wolf 2018), so ein Artikel des Freitags, findet Eingang in den öffentlichen Diskurs. Die Geburt wird erst seit 2011 potenziell mit Gewalt in Verbindung gebracht. Seit 2014 erkennt die Weltgesundheitsorganisation mit einer Erklärung Gewalt unter der Geburt als bemerkens- und behebenswertes Phänomen an (WHO 2015). In Venezuela und Mexiko gibt es seit 2007, in Argentinien seit 2009, gesetzliche Regelungen gegen die Gewaltausübung während der Geburt. In Deutschland verweisen die Hebammenproteste seit 2014 auf die unzureichende Arbeits- und Versicherungslage der Hebammen und es etablierte sich Elternprotest gegen die schlechte Situation der Geburtshilfe: medizinische Überversorgung bei geburtshilflicher Unterversorgung, gepaart mit der gewaltvollen Geburtsmedizin sollen bekämpft und beseitigt werden. Frauen und deren Angehörige erheben ihre Stimmen für eine

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In dieser Arbeit habe ich mich grundlegend für eine geschlechtergerechte Schreibweise mit dem Genderstern entschieden. Wenn die geschlechtergerechte Schreibweise nicht eingehalten wird, liegt das beispielsweise darin begründet, dass vor dem 20. Jahrhundert nahezu ausschließlich Männer Ärzte werden konnten. Auch schreibe ich von Schwangeren, Gebärenden und Frauen ohne das Gendersternchen, da es zentral ist, dass Wissen vergeschlechtlicht und geburtshilfliches Wissen über Frauen hergestellt wurde. Auch Frauen*, Männer* sowie Menschen mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität gebären Kinder, in diesem Forschungsprojekt habe ich jedoch nur gebärende Frauen interviewt. Die Ergebnisse lassen sich nicht pauschal auf alle gebärenden Personen übertragen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Verwendung der geschlechtergerechten Sprache mit einigen begründeten Ausnahmen.

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Verbesserung in der Geburtshilfe durch die konsequente Anwendung evidenzbasierter Methoden und eine Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen. Der Freitag fragt im oben genannten Artikel weiter: »Blut, Schweiß und Tränen. Gebärende erleben Traumata im Kreißsaal. Ist das Gewalt gegen Frauen?« (Wolf 2018) und überlässt es den Leser*innen, zu urteilen. Es stellt sich folglich die Frage, wie Gebärende unterscheiden sollten zwischen Gewalt der Geburt und Gewaltanwendung durch Geburtshelfer*innen während der Geburt. Die französische Soziologin Isabelle Azoulay (1998) erarbeitete die These, dass der Geburtsprozess an sich gewaltvoll sei. Die Idealisierung der natürlichen Geburt würde dem Phänomen nicht gerecht werden und eine Illusion von schönen, sanften oder glücklichen Geburten begründen. Die Geburt passe nicht in unsere Zeit mit ihrem Anspruch auf die Bewahrung der Menschrechte und des Rechts auf Unversehrtheit, denn eine spontane Geburt sei immer »barbarisch«: Es ist das Postulat der Sicherheit, die Garantie auf physische Unversehrtheit, die für die Frau unter der Geburt ins Schwanken gerät. Diese Grundlage wird ihr dort entzogen – und deshalb ist Geburt auch tragisch. Geburt ist eine Naturkatastrophe. (Ebd.: 49) Geburt sei demnach an sich gewaltvoll und unmenschlich und bedürfe darum dem menschlichen Eingreifen und eines aktiven Schmerzmanagements. Die Vorstellung einer schönen, natürlichen, gar lustvollen und selbstbestimmten Geburt, in der sich die Persönlichkeit der Frau durch das Erdulden des Schmerzes entfalte, verhöhne das Gewaltpotential einer natürlichen Geburt. Sie ließe Frauen dieses Erleben gleichsam als erstrebenswert erscheinen. Einen anderen Akzent setzt Christina Mundlos (2015, 2017), indem sie übergriffiges Verhalten und Gewalterfahrungen unter der Geburt als eine tabuisierte Form der (strukturellen) Gewalt gegen Frauen benennt und Erfahrungsberichte zusammenträgt. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Wandel der Geburtskultur und Gewalt her. Dies begründet sich in den steigenden Interventionsraten, der starken Hierarchie im Klinikalltag, der Ökonomisierung und der schlechten strukturellen Lage von Geburtshilfestationen mit zu hohen Betreuungsschlüsseln und dementsprechend zu wenig Zeit der Geburtshelfer*innen sowie der Notwendigkeit einer forensischen Absicherung. Worauf Azoulay und Mundlos, trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierung von Gewalt und Geburt, aufmerksam machen, sind zwei gesellschaftliche Konstruktionen der Geburt, die sich gegenüber zu stehen scheinen: einerseits als riskantes und medizinisch zu steuerndes, andererseits als natürliches, soziales Ereignis. Auch Lotte Rose und Ina Schmied-Knittel (2011) beschreiben in diesem Zusammenhang zwei zentrale Macht-Wissens-Systeme: das medizinische Sicherheits- und Risikodispositiv und das Natürlichkeitsdispositiv. Beide Dispositive und die inhärenten Geburtsmodelle scheinen sich polar gegenüber zu stehen.

1. Einleitung

Auf der einen Seite steht ein medizinisches Modell, häufig assoziiert mit Fortschritt und Sicherheit. In seinem Rahmen werden medizinisch-technische Innovationen generiert und umfangreich angewendet, die Prinzipien der (An-)Leitung und Überwachung sind vorherrschend, um die als Risiko entworfene Geburt zum Vorteil für Mutter und Kind beherrschen und lenken zu können. Prozesse der Medikalisierung, Technisierung und Institutionalisierung sind mit diesem Modell eng verknüpft. Innerhalb des biomedizinischen Paradigmas versteht man Geburt als einen riskanten, »rein biophysikalischen Vorgang aus Geburtskraft, Geburtsweg und Geburtsobjekt« (Hildebrandt 2006: 147). Auf der anderen Seite setzt seit den 1970er Jahren eine Re-Naturalisierung und De-Medikalisierung der Geburt ein, die mit einer zunehmenden Idealisierung und positiven Aufladung der Geburt einhergehen (Rose/Schmied-Knittel 2011: 75). Bestimmend sind die »Normalitäts, Spontanitäts- und Selbstbestimmungsparadigmen« (ebd.: 89). Die Geburt wird hier in der Vorstellung beschrieben, es handele sich um einen normalen Prozess, den Frauen prinzipiell bewältigen könnten und der vor allem ein biographisch und sozial zentrales Erlebnis sei. Beide Modelle verweben sich miteinander, so dass ein Wunschbild einer natürlichen Geburt ohne Risiko beide Modelle paradoxerweise vereint (ebd.: 83). Um sie sprachlich zu differenzieren, unterscheidet Monika Zoege (2004) Geburtsmedizin und Geburtshilfe. Während die Geburtsmedizin Geburt mit Risiko verbindet, welches durch umfangreiche Interventionen gebannt werden kann, versteht sie die Geburtshilfe als grundsätzlich physiologisches, gesundes Ereignis. Einfühlendes Verstehen, eine abwartende und partnerschaftliche Haltung sowie Begleiten und Betreuen stehen hier im Vordergrund (vgl. Dörpinghaus 2010: 33). Dabei sind die jeweiligen Ausprägungen nicht an Berufsgruppen oder Geburtsorte, sondern an die innere Haltung zur Geburt gekoppelt. Es lässt sich also ein gesellschaftliches Spannungsfeld konstatieren zwischen einer stark technischen, biomedizinischen Ausrichtung der Geburtsmedizin und einer gleichzeitigen Re-Naturalisierung, Re-Traditionalisierung und Etablierung der Geburtshilfe. Zwischen beiden kulturellen Vorstellungen von Geburt entfalten sich die konstitutiven Ambivalenzen in der kulturellen Konstruktion von Geburt und dem Gebärenden-Subjekt ebenso wie Macht- und Wahrheitskämpfe. Die gebärenden Frauen innerhalb dieses Spannungsfeldes scheinen Geburten bewusst zu inszenieren. Forscher*innen betonen vor allem den Projekt- und Eventcharakter der modernen kulturellen Vorstellung von Geburt (vgl. Villa et al. 2011a; Rose/Schmied-Knittel 2011). Aufbauend auf der Individualisierungsthese wird die Geburt herausgelöst aus traditionellen Zusammenhängen beschrieben. Die Bedeutung, Deutung und Rahmung scheinen sich die gebärenden Frauen oder Paare selbst innerhalb eines Vorbereitungs-, Auswahl- oder Entscheidungsprozesses aneignen zu müssen. Schwangerschaft und Geburt, als seltenes biographisches und darum stark aufgeladenes Ereignis, gilt es umfangreich zu planen: Vorbereitungs-

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kurse, Informationsabende, Klinikbesichtigungen, das Schreiben eines Geburtsplanes und selbstverständlich die umfangreiche Information über die unterschiedlichen Arten des Gebärens. Das schwangere und gebärende Subjekt werde im Sinne des ›unternehmerischen Selbst‹ adressiert (vgl. Seehaus 2015), womit eine Aufforderung zur umfangreichen und ressourcenintensiven Vorbereitung einhergehe. Eine gute, schöne Geburt sei erreichbar, wenn die Frau sich ausführlich und intensiv vorbereitet durch Ernährungsumstellung, sportliche Übungen, eine ausführliche Wissensaneignung und die gezielte Wahl des idealen Geburtsortes. Während Villa, Moebius und Thiessen im Sammelband »Soziologie der Geburt. Diskurs, Praktiken und Perspektiven« (2011) explizit darauf hinweisen, dass es bisher an einer spezifisch soziologischen Betrachtung des Themas Geburt fehlt, sind in den letzten zehn Jahren eine Vielzahl von Forschungsprojekten und Qualifikationsarbeiten erschienen. So wird das Forschungsdesiderat einer Soziologie der Geburt gründlich und vielfältig bearbeitet. Innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es Untersuchungen, die anthropologische Konstanten der Geburt herausarbeiten (vgl. Kuntner 2000; Azoulay 1998; Schiefenhövel/Sich 1986). Andere Arbeiten denaturalisieren und historisieren Geburt und Geburtshilfe. Studien zur historischen Entwicklung der medizinischen Geburtshilfe beschreiben eine Maskulinisierung und Diskursivierung des geburtshilflichen Wissens (vgl. Duden 1991; Beaufaÿs 1997; Metz-Becker 2013). Beide Ansätze suchen nach anderen kulturellen und historischen Ausformungen der Natalität, sodass im Kontrast dazu die aktuellen westlichen Konstruktionen von Geburt in ihrer Eigenlogik erkennbar werden. In jüngster Zeit werden ebenjene Ausformungen und ihre Spezifikation in den Blick genommen. An die Bearbeitung dieses Desiderats schließt diese Arbeit an und erachtet es als wertvoll, die Aspekte von Macht und Wissen bei der kulturellen Einbettung von Geburt herauszuarbeiten. Bei der vorliegende Arbeit bestand das Forschungsinteresse darin, welche Position Frauen während der Geburt kulturell zugedacht ist und welche sie selbst einnehmen. Um diese Fragestellung zu veranschaulichen, sei noch einmal auf den anfänglich erwähnten Zeitungsartikel des Freitags eingegangen. Illustriert ist der Artikel mit dem klassischen Bild eines Kaiserschnittes. Den Mittelpunkt bildet ein schreiendes, mit Blut und Fruchtwasser verschmiertes, neugeborenes Kind. Es wird vom ärztlichen Operateur gehalten. Drei professionell wirkende, behandschuhte Personen mit Mundschutz und OP-Kittel umrahmen das Kind. Sie sind die Agierenden, die Entbinder. Erst bei genauerer Betrachtung ist die Mutter zu erahnen, ihr scheint in diesem Bild keine zentrale oder aktive Rolle zuzukommen. Wie werden Frauen also als gebärende Subjekte innerhalb des Geburtsdiskurses und -dispositivs adressiert und konstituiert? Wie positionieren sie sich innerhalb des gesellschaftlichen Spannungsfeldes Geburt? Aus einer kritisch-feministischen Perspektive geht es mir auch darum, inwiefern Gewalt innerhalb der Geburtshilfe möglich ist, mit dem Ziel, sie zukünftig zu verhindern.

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit interessiert sich methodisch und methodologisch für das Verhältnis von Diskurs und Subjekt und möchte es ausgehend von konkreten Individuen, in diesem Fall gebärenden Frauen, untersuchen. Die wichtige Frage besteht darin, zu ergründen, mit welcher Theorie und Methode die Thematik der Geburt besonders gut beschrieben werden könnte. Da der Fokus auf Wissens- und Machtstrukturen rund um Geburt liegt, eignet sich Foucaults Diskurstheorie als grundlegenden Ansatz. Daraufhin stellte sich die Frage, inwiefern dieser mit der Zentrierung auf das konkrete gebärende Subjekt und die körperliche Dimension vereinbar ist. Darum erfolgt im zweiten Kapitel eine Einführung zur Betrachtung der Geburt aus diskurstheoretischer Perspektive, mit expliziten Ausführungen zur Verschränkung von Diskurs, Subjekt, Biographie und Körper. Diskutiert werden dabei die Möglichkeiten und Grenzen dieses theoretischen Ansatzes bei der analytischen Erfassung der Geburt. Nach diesen ersten theoretischen Überlegungen geht es um die methodischen Fragen, wie die komplexe Situation der Geburt erfasst und das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt empirisch erforscht werden kann. Besonders zu Beginn der Arbeit gab es eine ausführliche Suchbewegung innerhalb der Methoden der Diskursanalysen, um einen geeigneten Ansatz zu finden und ich entschied mich für die Dispositivanalyse nach Schneider und Bührmann (2008). Der Reiz dieser Forschungsperspektive besteht in der Offenheit gegenüber den unterschiedlichen Dimensionen der Dispositive: diskursive und nicht-diskursive Praktiken, Objektivationen, Subjekte und historische Wandlungsprozesse. Eine weitere Bedeutung besteht in der Möglichkeit, Subjektivationen dezidiert und differenziert zu erforschen. Im Methodenkapitel wird darum diese Forschungsperspektive beschrieben und gezeigt, wie das dispositive Feld der Geburt methodisch konkret zu erfassen ist. Danach erörtere ich, wie mit Hilfe von Interviews die Positionierung gebärender Frauen im dispositiven Feld, ihre Wissensbezüge und Entscheidungsprozesse rekonstruiert werden können. Gründlich wird das methodische Vorgehen im Umgang mit den Interviews beschrieben, das sich an den problemzentrierten Interviews und der Grounded Theory orientiert. Außerdem werden zwei Brückenkonzepte vorgestellt, die eine Verbindung von Diskurstheorie und Interviewanalyse ermöglichen und die Darstellung der folgenden Analysen prägen. Mit einem Blick ins Feld der Geburt lassen sich mindestens zwei Dispositive herausarbeiten, die eng miteinander verwoben und dennoch abgrenzbar in ihren Wissensdefinitionen und Machtwirkungen sind. Es erfolgt in Kapitel 4.2 eine Übersicht über das dispositive Feld und seine historische Entwicklung. Durch die Betrachtung unterschiedlicher historischer Zeitpunkte und Kulturen lässt sich ein epistemischer Bruch mit den fest verankerten kulturellen Konstruktionen von Geburt herbeiführen, nach dem unhinterfragbares oder wahres Wissen als gesellschaftliche oder diskursive Konstrukte verstanden wird. Mit der Betrachtung unterschiedlicher historischer Diskursformationen wird die Kultur der Geburt über

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unterschiedliche Epochen hinweg nachgezeichnet sowie eine Diskursivierung des Geburtswissens und Professionalisierung der Geburtshilfe dargestellt. Des Weiteren wird immer die Situation der gebärenden Frau thematisiert und diskutiert, welche Position ihr in der jeweiligen kulturellen Konstruktion zukommt. Die Argumentation bündelt sich in der Darstellung aktueller Geburtskulturen. Der gesellschaftliche Wandel wird in den Diskursformationen und zentralen Bewertungseinheiten für die aktuelle Lage der Geburtshilfe zusammengefasst. Hernach erfolgt die Darstellung und Kategorisierung einiger zentraler Praktiken im Bereich der Geburt, die in unterschiedlichem Ausmaß Ärzt*innen, Hebammen, Partner*innen und den gebärenden Frauen zur Verfügung stehen und von diesen genutzt werden. Da der Fokus bei den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken liegt, erfolgt eine Überblick über zentraler Objektivationen und beteiligter Subjekte. Die Betrachtung des Gebärenden-Subjekts schließt das Kapitel ab und leitet in das Auswertungskapitel über. Die konkreten Subjektivierungsweisen stehen im Mittelpunkt der Analysen: Wie bewegen und orientieren sich Frauen im dispositiven Feld der Geburt? Auf welches Wissen rekurrieren sie, welches wenden sie an, verändern oder lehnen sie ab? Zentrale Brückenkonzepte bilden erstens, angelehnt an das Deutungsmusterkonzept, die herausgearbeiteten Deutungsprozesse gebärender Frauen angesichts der unbekannten Geburt. Im zweiten Abschnitt werden die Subjektpositionen herausgearbeitet, die in den Interviews aufscheinen, und an denen sich die interviewten Frauen orientieren oder die sie ablehnen. Wesentliche Bestandteile sind dabei die Bewertung der Selbstbestimmung und die Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen dieses Anspruchs. Zum Schluss werden zentrale Thesen aus dem Forschungsstand heraus im Abgleich zu den eignen Forschungsergebnissen diskutiert. Wichtige Themen sind hierbei die des Sicherheits- bzw. Risiko- und Natürlichkeitsdispositivs, der Deutungsoffenheit, der Eventisierung sowie der Gewalt unter der Geburt. Die Betrachtung der Verknüpfung von Weiblichkeit und Geburt bilden den Ausblick und damit Abschluss der Arbeit.

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

Die Geburt, so wurde in der Einleitung deutlich, ist ein körperlicher Prozess und befindet sich als solcher im Schnittpunkt zwischen der Eigenlogik körperlicher Vorgänge und ihrer sozialen Rahmung. Darum empfiehlt Joachim Fischer (2011) die Philosophische Anthropologie als geeignete Theorieperspektive für eine Soziologie der Geburt. Mit diesem theoretischen Ansatz könnten die unvereinbaren Differenzen zwischen den Paradigmen der historischen und der evolutionären Anthropologie, dem Sozialkonstruktivismus und der Evolutionsbiologie und folglich zwischen einem kulturalistischen und naturalistischen Forschungsansatz überbrückt werden, weil er »die konstruktivistischen Momente unter den Bedingungen des modernen Naturalismus« (ebd.: 28) und damit die Annahme einer grundlegenden Existenz menschlichen Natur integriert. Der konstruktivistische Ansatz mit dem Begriff des ›doing‹ wird von Fischer kritisiert, da er »nicht die Phänomene von Gebären und Geborenwerden in ihrer Phänomenalität« (ebd.: 24) erfassen kann. Schwangerschaft und Geburt werden in der Philosophischen Anthropologie als »Widerfahrnis« (ebd.) gedeutet, dem die gebärende Frau, das Kind und beteiligte Dritte nicht durch Tun, sondern durch ›Zulassen‹ begegnen. Die Geburt sei an sich ein passivisches, genuines und sozial konstitutives Phänomen, zentrale passivische Momente sind: in die Empfängnis ›versetzt‹ werden, trächtig werden, dann Wehen, also das unwillkürlich zeitweise Zusammenziehen des Uterus als ein dramatisches Geschehen: der ganze Körper der Gebärenden, der Kreissenden (sic!) ist in Aufregung. Kreißen und Kreischen, das Gebären und Stöhnen, zu dem der Körper der Gebärenden gepresst wird, hängen miteinander zusammen. (Ebd.: 29) In seinen theoretischen Überlegungen verortet Fischer Frauen während Schwangerschaft und Geburt sprachlich in einem tierähnlichen Zustand und beschreibt Aspekte des »Lassens, Durchlassens, Herankommenlassens« (ebd.: 35) und »Zulassen« (ebd.: 30) als dominierend. Darum plädiert er mehr für »eine LassensSoziologie (auch des Unterlassens) als für eine Handlungssoziologie« (ebd.: 35).

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In Abgrenzung zu einer solchen, soziologisch wenig erkenntnisfördernden und mit wenig Reichweite ausgestatteten, passivischen Deutung von Geburt soll sie komplementär vor dem Hintergrund des practice turns viel eher als ein aktivisches Phänomen gedacht werden, in dem Frauen einen aktiven Anteil haben, da sie Kinder in sich tragen, gemeinsam mit anderen erzeugen und gebären. Emily Martin (1989) betont die kulturelle Prägung durch die bio-medizinische Deutung von Geburt als Ergebnis unwillkürlicher Kontraktionen der Gebärmutter, die sich auch mit den Geburtserzählungen der Frauen in ihren Interviews deckt. Geburt als Vorgang, »den es passiv zu erdulden gelte« und der »nicht durch eigenes Tun beeinflusst werden kann« (ebd.: 26), dieses Geburtsverständnis kritisiert Martin als androzentrisch und führt alternative Deutungen auf, in der »Frauen handeln, die etwas tun, indem Körper, Verstand und Gefühle zusammenwirken« (ebd.: 114). Auch das von Fischer beschriebene Unterlassen Dritter lässt sich alternativ als ›unsichtbare Arbeit‹ der mitfühlenden Care-Arbeit beschreiben, die Empathie, Anteilnahme, Begleitung und Emotionsarbeit beinhaltet und gleichsam so (emotional) fordernd ist, wie eine intensive medizinische Geburtshilfe (vgl. Clarke 2012: 129ff.). Aus diesen einführenden Gedanken wird ersichtlich, dass die Deutungen des Phänomens der Geburt im wissenschaftlichen Kontext sehr unterschiedlich ausgeprägt und umkämpft sind und dass die Grundannahmen Auswirkungen auf theoretische Betrachtungen und konkrete Forschungen haben. Zum Beispiel haben die kulturellen Prämissen zur Geburt gleichsam Einfluss auf den konkreten gesellschaftlichen Umgang mit Geburt und das individuelle Empfinden. Martin erprobt in einem Gedankenspiel die Auswirkungen unterschiedlicher Deutungen auf das konkrete Setting der Geburt: Wenn Geburt in unserer Gesellschaft wie ein Produktionsvorgang verlaufen soll, dann können wir sie ohne Weiteres der Steuerung und der Qualitätskontrolle von Maschinen überlassen oder sie sogar als gesamten Vorgang maschinell abwickeln. Wenn aber das Gebären zu unserem Lebenslauf, zu unserem Strom des Lebens gehört, Teil einer Reise nach innen und außen ist, dann werden wir wollen, daß es da geschieht, wo wir unser Leben leben, zu Hause, umgeben von Familienmitgliedern und Freunden. Wenn das Gebären eine harte Arbeit ist, aber auch eine Arbeit, bei der wir Befriedigung finden können, dann hätten wir es gerne, wenn uns Zeit gelassen würde, wenn wir Zuspruch und Hilfe fänden, damit wir diese Arbeit selbst tun können. Wenn Geburt eine ergreifende und erhebende Erfahrung ist, die tiefreichende (manchmal ekstatische) Gefühle mit sich bringt und begreifen läßt, welche Lebenskraft in unserer Welt wirkt, dann wollen wir diese Erfahrung, diesen Teil unseres Lebens nicht missen. (Martin 1989: 192) Fischer schlussfolgert aus seinen Überlegungen: »Die Soziologie hat das Phänomen der Geburt und des Geborenwerdens in ihrer Grundlegung nicht richtig würdigen können – wegen ihrer dominanten handlungs- und praxistheoretischen Begriff-

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

lichkeit« (2011: 35). Tatsächlich ist die Geburt, im Gegensatz zum Tod, in der Soziologie ein kaum beachtetes Themengebiet. Ob die Ursache hierfür in den verbreiteten soziologischen Begrifflichkeiten oder der Verortung als belangloses Frauenthema liegt, ist offen. Forschungsprojekte und Veröffentlichungen finden sich hauptsächlich in der feministischen Literatur, der Ethnographie und im Gesundheitswesen. Der konstruktivistische Ansatz, der eine historische Einordnung der Geburt und des Geburtserlebens fokussiert, ist in den Sozialwissenschaften dominierend. Er begründet sich in unterschiedlichen ethnographischen Beobachtungen anderer historischer oder kultureller Kontexte, in denen die Geburt im starken Kontrast zur westlichen Gesellschaft als undramatisch, weniger schmerzhaft und alltäglich beschrieben und erlebt würde (vgl. Nadig 2011, Baader 2008). Aus solchen Untersuchungen geht hervor, dass die historischen und kulturellen Deutungen sowie die soziale Einbindung der Geburt großen Einfluss auf das individuelle Erleben und die begleitenden Praktiken der Geburt haben. Im vorliegenden Forschungsprojekt geht es nun nicht darum, welches Deutungsangebot von Geburt das richtige, sicherere oder gesündere ist oder was Geburt in ihrem Wesen als anthropologische Konstante beschreibt, sondern wie die diskursiv hervorgebrachten Vorstellungen von Geburt in der heutigen, deutschen Gesellschaft beschaffen sind und wie sie ihre Materialität in der Geburt entfalten. Damit schließe ich an die sozialkonstruktivistische Forschung über Geburt an und untersuche sie aus der diskurstheoretischen Perspektive. Dadurch ist es möglich, verschiedene Diskursstränge und -figuren und ihre machtvolle Anordnung zu identifizieren und in die Analyse einzubeziehen. Im Mittelpunkt meiner Forschung stehen neben den Diskursformationen rund um Geburt die gebärenden Frauen mit ihren Deutungen, Positionierungen und ihrem Erleben. Der Aspekt der konkreten Subjektivierungsweisen wird in der Diskurstheorie eher randständig thematisiert. Gerade in diesem Bereich wird jedoch maßgeblich die Wirkmächtigkeit der Diskurse deutlich, außerdem können sie Quelle des Wandels oder Widerstands sein und sind darum ein lohnenswertes Forschungsgegenstand. Dieses Kapitel führt zuerst in die Perspektive der Diskursanalyse von Michel Foucault ein und verortet das Forschungsprojekt im theoretischen Feld der Diskursforschung. Es folgt eine Abhandlung zum Verhältnis zwischen Subjekt und Diskurs, Biographie und Diskurs sowie Körper und Diskurs, denn diese drei Aspekte sehe ich als zentral für den Themenbereich der Geburt und die Position der gebärenden Frauen an.

2.1

Geburtsdiskurse als Macht-Wissens-Konfigurationen

Eine Geburt wird aus der diskurstheoretischen Perspektive weder als aktiv noch passiv, sondern als ein von Diskursen hervorgebrachtes Ereignis aus diskursiven

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und nicht-diskursiven Praktiken in einem Machtgefüge stabilisierender Dispositive gedacht, im Rahmen dessen Subjektpositionen eröffnet und eingenommen werden können. Diese Gedanken finden ihren Ursprung in Michel Foucaults Werken, dessen zentrales Forschungsinteresse die Konstitution des modernen Subjekts und der Wandel gesellschaftlicher Wirklichkeit war. Er entwickelte eine spezielle Denkart und Forschungsperspektive, die das Arbeiten vor allem darin definiert, »anderes zu denken, als das, was man vorher dachte« (Badinter und Ricke 1987). Foucault gilt als einer der einflussreichsten philosophischen (und soziologischen) Denker des 20. Jahrhunderts und seine Theorie hat große Verbreitung gefunden. Foucault verlagerte während seiner Schaffensphase seine Schwerpunkte und entwickelte unentwegt die Termini seiner Diskurstheorie. Sein Wirken kann in drei Perioden eingeteilt werden: Die Entwicklung einer Diskurstheorie, einer Machttheorie und der Ethik des Selbst (vgl. Ruoff 2009: 14). Manche Begrifflichkeiten nahmen erst durch das Fortschreiten seiner Überlegungen Gestalt an und entwickelten sich im Laufe der Zeit. So ist es kaum möglich, einheitliche Bezeichnungen und inhaltlich konstante Bestimmungen einzelner Begrifflichkeiten festzuhalten. Die Vielzahl der Definitionen öffnet dadurch das Feld für eigene Deutungen und die Entwicklung einer spezifischen, dem Forschungsgegenstand angepassten Vorgehensweise. Verbindlicher ist an dieser Stelle Foucaults Diktum, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und unentwegt nach den Bedingungen kultureller Erscheinungen und der Konstitutionsvoraussetzung der Subjekte selbst zu fragen. Die Beschreibung der Diskurstheorie als einen Werkzeugkasten, den es zu gebrauchen gelte, schließt an diese Überlegungen an (Foucault 1976: 48ff.). Im Folgenden schildere ich die grundsätzliche forschungstheoretische Perspektive, umreiße die widerkehrenden Begriffe Foucaults und beziehe sie auf das Thema meiner Untersuchung. Ein wichtiger Appell findet sich in der Appell Foucaults: »Der erste Mut, den man fassen muss, wenn es um Wissen und Erkennen geht, besteht darin, zu erkennen, was man erkennen kann« (Foucault 1992: 59). Die eigenen Grenzen, Fallstricke und Erkenntnismöglichkeiten auszutarieren, ist eine wichtige gedankliche Vorbereitung der eigentlichen Forschung. Eine immerwährende Rückkehr zu dieser Frage im konkreten Forschungsprojekt ist unerlässlich (vgl. Bührmann 2012: 145). Zuallererst ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Erkenntnismöglichkeiten über Phänomene der Gegenwart eingeschränkt sind, da wir selbst keinen historisch gewachsenen Abstand zu unserer Zeit haben. Weiterhin erscheint es bei der Thematik der Geburt verführerisch, die Geburt wie Fischer (2011) aus anthropologischer Perspektive zu erforschen und zu beschreiben. Sie erscheint als biologische Tatsache vordiskursiv. Selbst wenn man sich für die Forschungslogik der Diskurstheorie entscheidet, eröffnen sich immer wieder Fragen nach der konkreten Körperlichkeit und des körperlichen Zurückgeworfenseins durch die Geburt, die gleichsam über den Diskurs hinaus zu reichen scheinen. Deshalb gilt es, kri-

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tisch nach der diskursiven Konstruktion der Phänomene und ihrer körperlichen Materialisierung zu fragen. Im Zentrum Foucaults theoretischer und praktischer Überlegungen steht der Diskursbegriff. In ihm vereinen sich weitere zentrale Begriffe um einen MachtWissens-Komplex, auf den im weiteren Verlauf genauer eingegangen wird. Die Terminologie und theoretische Vorstellung entwickelte Foucault maßgeblich durch sein erkenntnistheoretisches Forschungsinteresse an konkreten historischen Erscheinungen und Entwicklungen: die Entdeckung des Wahnsinns (1961), die Entwicklung der Klinik (1963), der Humanwissenschaft (1966) sowie der Strafe (1975) und der Sexualität (ab 1976). Statt einer kontinuierlichen und fortlaufenden, beschreibt er eine serielle und kontingente Geschichte. Der Begriff des Diskurses ist, wie Foucaults Gesamtwerk, facettenreich. Eine Bestimmung des Begriffs soll hier dennoch unternommen werden. In Diskursen bilden sich »Sagbarkeits- und Wissensräume« (Link 2012: 57) mit ihren Grenzen und Inhalten. Der Diskurs ist »materiell[e] Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Ding« (Foucault 1993b: 10), der »seinen Gegenstand konstituiert und [transformiert]« (Foucault 1981: 50). Der Diskusbegriff will nachzeichnen, wie sich die gesellschaftliche Wirklichkeit wandelt und sich komplexe Veränderungen in der Ideengeschichte konkreter Systeme, Institutionen und Handlungen vollziehen. Maßgeblich durch die Werke »Die Ordnung der Dinge« (1966) und »Archäologie des Wissens« (1969) beschreibt Foucault die Bestandteile und Formationsregeln des Diskurses. Aussagen stellen dabei ein »Atom des Diskurses« (Foucault 1981: 117) dar, »ein letztes, unzerlegbares Element, das in sich selbst isoliert werden kann und in ein Spiel von Beziehungen mit anderen ihm ähnlichen Elementen eintreten kann« (ebd.: 116). Gemeint sind mitnichten nur sprachliche Äußerungen, sondern »irgendeine Folge von Zeichen, von Figuren, von Graphismen oder Spuren« (ebd.: 123). Nicht nur die einzelnen Aussagen oder die Summe der Aussagen prägen den Diskurs, sondern die Regelstrukturen und Praktiken, die sie erst hervorbringen und damit »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (ebd.: 74). Praktiken werden als »routinierte bzw. institutionalisierte Verhaltens- und Handlungsmuster« (Keller 2008: 50) betrachtet. In einer stark verallgemeinerten Form lässt sich der Diskurs demnach als Bestandteil historischer Formationen begreifen, in deren Rahmen sich die Bedingungen für das Entstehen von Wissen nachvollziehen lassen. (Ruoff 2009: 16) ›Wahr‹ und ›Wirklich‹ ist das, was im Diskurs als wahres Wissen in sogenannten ›Wahrheitsspielen‹ konstituiert wird. Die Grenzen und Negationen der Wahrheit bringen andere Phänomene wiederum erst hervor. Konstitutiv für den Diskurs sind darum nicht allein seine Inhalte, sondern vielmehr seine Ausschließungssysteme, folglich nicht nur, was als wahr betrachtet wird, sondern vor allem das, was als Un-

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wahr oder Nicht-Sagbar beschrieben wird. Foucault unterscheidet zwischen äußeren und inneren Ausschließungssystemen, die den Diskurs verknappen, begrenzen und ihn damit formen. Die äußeren Ausschließungssysteme sind es, die den Diskurs einschränken und kontrollieren. Dazu zählen das Verbot, Grenzziehung und Verwerfung sowie der Gegensatz zwischen wahr und falsch. Der »Wille zur Wahrheit« (Foucault 1993b: 14) durchdringt den Diskurs – »fragt man allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen zum Wissen bestimmen, wird man vielleicht ein Ausschließungssystem (ein historisches, veränderbares, institutionell zwingendes System) sich abzeichnen sehen« (ebd.). Was wahr ist, erscheint als unumstößlich, real, frei von Willkür und als ob es keiner institutionellen Absicherung bedürfe. Das bio-medizinische Wissen über Geburtsverläufe und -prozesse lässt sich hier exemplarisch aufführen. »Obwohl wir geneigt sind anzunehmen, Naturwissenschaft habe nichts mit Kultur zu tun, weil es ihr um die Wahrheit über die Natur geht« (Martin 1989: 40), kann mit Hilfe der Diskurstheorie auch dieses Wissen auf seine immanente Herstellungslogik untersucht werden, was in dieser Arbeit beschreiben werden soll. Weiterhin lassen sich interne Prozeduren darstellen, mit denen »Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben« (Foucault 1993b: 17) und ihn verknappen. Diese Prozeduren umfassen Klassifikations-, Anordnungs- und Verteilungsprinzipien, deren Zweck es ist, Ereignisse und Zufall als Dimension des Diskurses zu bändigen. Foucault nennt hier Kommentar, Autor, Organisation der Disziplin und Verknappung der sprechenden Subjekte. Die Organisation der Disziplin definiert »sich durch einen Bereich von Gegenständen, ein Bündel von Methoden, ein Korpus von als wahr angesehenen Sätzen, ein Spiel von Regeln und Definitionen, von Techniken und Instrumenten« (ebd.: 22) und bringt so neue Aussagen hervor oder validiert ältere Aussagesysteme. Anerkannte Irrtümer der Disziplin können eine positive Funktion haben, müssen aber im Wahren verwurzelt sein. Subjekte wiederum müssen bestimmte Erfordernisse und Qualifikationen erfüllen, um sprechen zu können, wobei manche Regionen der Diskurse stärker eingeschränkt sind als andere. Das biologisch-medizinische Modell von Geburt mit seiner Beschreibung der Geburt als unwillkürlicher Mechanismus und passivisches Phänomen (vgl. Martin 1989: 76ff., Fischer 2011) erscheint uns als real, wahr und nicht anzuzweifeln. Es entwächst unserem tiefsten Verständnis von Wahrheit, Wirklichkeit und Realität. Durch die Absicherung des medizinischen Wissens mit Hilfe von Studien, Experimenten, Visualisierungen und Analysen von Akteur*innen im Diskurs verdichtet sich der Wahrheitsanspruch. In der gegenwärtigen Gesellschaft gibt es jedoch an den Grenzen des Diskurses Aussageformationen, die alternative Modelle im Wahren des Diskurses zulassen – welche beispielsweise von Geburtshelfern*innen wie Michel Odent (1986), Frédérick Leboyer (1974) oder Ina May Gaskin (2004) verfasst werden –, die die Vorstellung einer programmierbaren Geburt kritisieren und akti-

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vische Deutungsmodelle beschreiben. Gegenwärtig werden einzelne Aussagen dieser alternativen Ansätze wiederum in die medizinische Forschung integriert, die unterschiedlichen Diskursstränge beeinflussen sich gegenseitig und es kommt zu Umdeutungen. So wird deutlich, dass der Kampf um Wahrheit einem ständigen Wandel unterliegt. Wenn im Folgenden den aufgeführten Fragen nachgegangen wird, ist es möglich, die Ausschließungssysteme des Diskurses über Geburt genauer zu betrachten und es stellt sich nicht die Frage, was die wahre Deutung von Geburt ist, sondern was die diskursiven Bedingungen von Deutungen einer richtigen Geburt sind. Weiterhin werden die Praktiken analysiert, die Wahrheit (re)produzieren, evaluieren, verteidigen und verbreiten. Der Diskurs erscheint durch die Fokussierung auf Formationsregelungen in den früheren Werken Foucaults als autonome Realität, die nach eigenen Regeln Wissen und Wirklichkeit produziert und ihre Wirkmächtigkeit auf die Subjekte entfaltet. Seine Antrittsvorlesung »Die Ordnung des Diskurses« markiert die Wende zu seiner zweiten Schaffensphase, in der er den Machtbegriff stärkt und ausbaut. Foucault beschreibt den Diskurs nun als »dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht« (Foucault 2017: 11). Wissen und Macht bilden somit einen Komplex, der konstitutiv für den Diskurs ist. Foucault argumentiert gegen die Verwendung eines determinierenden Machtbegriffes und entwickelt ein positives Verständnis, welches die hervorbringende Komponente der Macht und ihre produktiven Eigenschaften betont (Foucault 1978c). Ähnlich wie der Diskurs ist auch die Macht nicht an ausübende Personen oder Institutionen gebunden, sie ist vielmehr eine universelle Kraft, die »innerhalb von Familien, Gruppen und Institutionen einer Gesellschaft ihre wechselseitige Wirkung unter den Subjekten entfaltet« (Ruoff 2009: 17). Den Körper und die Bevölkerung beschreibt Foucault als Hauptziele der Macht. Während sich die Körpermacht in der Disziplinierung des Körpers in Schulen, Kasernen, Werkstätten oder Kliniken entfaltet, adressiert die Bio-Macht die Sexualität und die Bevölkerung. Die Bio-Macht greift durch die Statistik in entindividualisierender Weise auf die Masse der Bevölkerung als große Zahl zurück und findet im Leben selbst ihr Ziel. Die Bio-Politik versucht durch flankierende Maßnahmen eine Steuerung der demographischen Parameter sicherzustellen. Ihr unmittelbares Interesse besteht in der allgemeinen Gesundheit, die sich langfristig als Gesundheitspolitik etabliert. (Ebd.: 88) In der Geburt vereinen sich in besonderem Maße beide Machttypen. Während Schwangerschaft und Geburt kommen innerhalb von Praxen und Kliniken verschiedene disziplinarische Praktiken zum Einsatz, um den Körper der Frau ein-

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bzw. zuzurichten und »gemäß einer Norm zu formen« (ebd.: 45). Gleichzeitig ist die Frau durch ihre reproduktive Fähigkeit ein besonderes Ziel der Bio-Macht. In Weiterentwicklung seines theoretischen Programms entwirft Foucault die kritische Genealogie als zusätzliche Analyseperspektive zur Archäologie1 , die »diskursive Praktiken, Entwicklungsverläufe und Machtprozesse« (Keller 2008: 128) in den analytischen Blick rückt. Somit steht die Betrachtung des Diskurses als Prozess und Praxis im Fokus, zentral ist das Zusammenspiel von Macht, Wissen und Wahrheit. Mit Hilfe der Kritik werden innere und äußere Ausschließungssysteme mit dem Prinzip der Umkehrung herausgefiltert. Neben dem Willen zur Wahrheit, muss die »Beschneidung und Verknappung des Diskurses« (Foucault 1993b: 34) in den Blick genommen werden. Die Diskurstheorie und -analyse umfasst viele Komponenten und Begriffe wie Diskurs, Praktiken, Wissen, Macht, Körper, Materialisierungen des Diskurses und Subjekte, die in ihrem Zusammenwirken als Dispositive beschrieben werden können. Ein Dispositiv ist ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierte Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. (Foucault 1978b: 119) Keller (2008: 138) begreift Dispositive als »Maßnahmenbündel, das Gefüge institutioneller Materialisierung, das einen Diskurs trägt und in weltliche Konsequenzen umsetzt«. Ihr »integraler und übergeordneter Zweck [lässt sich] in einer historischen Anordnung verstehen« (Ruoff 2009: 109f.). Sie sind »machtstrategische Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken, Wissen und Macht« (Fink-Eitel 1992: 80). Foucault selbst setzte die Dispositive, nicht die Diskurse, der Sexualität, des Gefängnisses und des Wahnsinns ins Zentrum seiner Forschung. Ich möchte in meiner Forschungsarbeit Geburtsdispositive in den Mittelpunkt der Analyse stellen (siehe Kapitel 3.1). Vage bleibt Foucault in der konkreten Analysemethode, vielmehr bietet seine Diskurstheorie eine Forschungsperspektive und Denkweise. Probleme bereiten in der konkreten Anwendung die unterschiedlichen, teils konträren oder paradoxen 1

Die Archäologie, vor allem in der ersten Schaffensphase Foucaults entwickelt, »zielt auf historische Rekonstruktion der Erzeugungsmuster gesellschaftlicher Wissensformationen« (Keller 2008: 128), mit dem Ziel, die Wissensordnungen neutral und historisch zu beschreiben. Dabei wird enthüllt, »dass die Grundlage dessen, was einst und heute für wirklich gehalten wurde und wird, in Wahrheit nur historische kontingente Konstruktionen oder Interpretation ist« (Fink-Eitel 1992: 87). Es gilt dabei, die diskursiven Formationen eingehend zu betrachten (vgl. Keller 2007: 44ff.; Foucault 1981).

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

Verwendungen und Definitionen der Begriffe. Obwohl Foucault untersuchte, wie das historische Subjekt konstituiert wurde und sich all seine Forschungstätigkeiten um dieses Thema formieren, stellt sich immer wieder die Frage, wo sich das konkrete Subjekt in der Diskurs- und Machttheorie befindet und welche Rolle es spielt. Deshalb werden im Folgenden die Verhältnisse von Diskurs und Subjekt, Biographie und Körper näher bestimmt.

2.2

Diskurs und Subjekt

Die Konstitution des modernen Subjekts stand, retrospektiv, im Mittelpunkt von Foucaults Analysen, zumindest stellt er es seinen Leser*innen als roten Faden vor. Er beschreibt die Absicht seiner Arbeit darin, »eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden« (Foucault 1994: 242). Analog dazu fragt diese Arbeit nach der Geschichte der verschiedenen Verfahren, durch die Frauen zu Gebär-Subjekten gemacht werden. In seinen früheren Arbeiten scheint das Subjekt durch den Diskurs und die Macht »überwältigt und besiegt zu werden« (Butler 2004: 66). Foucault schreibt: »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1995: 462). Der angesprochene »Tod des Subjekts« oder das »Verschwinden des Subjekts« (Keller et al. 2012: 9) ist eine Metapher, die innerhalb der Sozialwissenschaften für erhitze Diskussionen gesorgt hat. »Akteurs- und Subjektvergessenheit« wird ihm von seinen Kritiker*innen zur Last gelegt, »er habe das Subjekt als bloße Funktion des Diskurses [und der Macht] konstruiert« (Nonhoff und Gronau 2012: 120). Dabei ist Foucaults zentrales Anliegen die Dezentrierung des Subjekts, also die Betonung historischer Subjekte in Abgrenzung zu einem autonomen Subjekt der Aufklärung. In seinem philosophisch-erkenntnistheoretischen Verständnis beschreibt er die Vorstellung des Subjekts als spezifisch historische Konstruktion. Die Betonung liegt, in Abgrenzung zu einer Beschreibung von Souveränität und Autonomie, auf einem Subjekt, das als »tiefreichend beschränkt« gedacht ist und seine »Handlungsfähigkeit inmitten dieser Beschränkung« (Butler 2004: 66) innerhalb der diskursiven Macht-Wissens-Regime manifestiert. Gleichzeitig ist eben dieses Regime als produktiv zu denken, da es das Subjekt in seiner jeweiligen historischen Form erst hervorbringt. Das Subjekt als beschränkt zu definieren, greift also zu kurz. Besonders in Foucaults späten Arbeiten ab 1980 entwirft er die Ethik des Selbst als ein potenzielles Gegengewicht zu den Wissens- und Machtsystemen (vgl. Ruoff 2009). Hier entwickelt er eine Subjektkonstitution mit einem »emanzipatorischen Anspruch« (ebd.: 120), indem historisch-spezifische Selbsttechniken in den Fokus gestellt werden. Ausführlich beschreibt Foucault die »Techniken des Selbst« und die »Sorge um sich selbst« und führt als veranschaulichende Beispiele Techniken der Meditati-

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on, Gewissensprüfung, Erinnerung und Überprüfung von Vorstellungen auf (ebd.: 58). So ist es dem Subjekt möglich, sich selbst zu objektivieren und sich damit im Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umwelt zu betrachten, zu relativieren und zu verändern. Das vorgestellte Subjekt ist nun autonomer gedacht und kann sich durch Praktiken der (Selbst-)Erkenntnis selbst konstituieren (ebd.: 213). In Foucaults Arbeiten lassen sich drei Darstellungen des Subjekts ausfindig machen, die er je nach Werkphase vordergründig diskutiert: das Subjekt als Objekt von »Wahrheitsspielen, in denen es über sich selbst Aussagen unter Benutzung der aktuellen Wissenssysteme« macht und selbst zum Akteur in eben jenen Wissenssystemen werden kann; das Subjekt, welches unter dem Einfluss normierender Macht(praktiken) steht; und ein autonomes Subjekt (Ruoff 2009: 57). Besonders die erstgenannten Subjektpositionen zielen analytisch auf eine Dezentrierung in Abgrenzung zu einem autonomen Subjektverständnis. Durch den epistemologischen Bruch mit dieser Denktradition kommt es zu einer starken und metaphorisch aufgeladenen Dekonstruktion des Subjekts. Erst in seinen letzten Schaffensjahren durchbricht Foucault diesen Ansatz und erweitert ihn durch ein Subjekt, das mit Hilfe von Praktiken zur Selbsterkenntnis, Selbstrelativierung und damit Veränderung des Selbst fähig ist. In diesem Verständnis lassen sich auch die Freiheitsgrade des Subjekts und gesellschaftlicher Wandel verorten und es bildet ein Gegengewicht zu den Macht-Wissens-Komplexen. Zusammenfassend kann der Begriff des Subjekts in doppelter Weise gelesen werden: Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht. (Foucault 1994: 246f.) Foucaults Perspektive und theoretische Überlegungen bilden die Grundlage einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen und theoretisch-methodischen Konzeptualisierungen des Subjekts. Sie nehmen je unterschiedlich die eben erwähnten Subjektkonstitutionen in den Fokus. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über Anwendungen, Untersuchungen und bisherige Fragestellungen gegeben. Die Diskussion von Anschlussmöglichkeiten für meine eigene Untersuchung schließen diese theoretischen Überlegungen ab. Prominente Beiträge zur Analyse (moderner) Subjektformen stammen von Ulrich Bröckling (2007) und Andreas Reckwitz (2006). Bröckling (2007) beschreibt mit der Subjektform des ›unternehmerischen Selbst‹ eine dominante Subjektkonstruktion der Gegenwart und damit »ein hegemoniales Anforderungsprofil zeitgenössischer Subjektivierung« (Bröckling 2012: 131). Damit einher gehen Anrufungen, neue, kreative und unbekannte Wege zu gehen, die Findigkeit gegenüber Gewinnchancen und das Inkaufnehmen von Risiken angesichts anstehender Entscheidun-

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

gen (vgl. ebd.: 137). Das unternehmerische Selbst schließt an eine Vorstellung des unternehmerischen Handelns auf Märkten und im Wettbewerb an. Reckwitz zeichnet in seinem Buch »Das hybride Subjekt« (2006) unterschiedliche historische Subjektkonstruktionen nach und schließt damit an Foucault an. So beschreibt er unter anderem bürgerliche, organisierte, romantische, avantgardistische und postmoderne Subjektordnungen und -kulturen. Für Reckwitz ist der Subjektbegriff ein analytisches Konzept (Schrage 2008: 35). Er arbeitet eine Doppelstruktur des Subjekts heraus, das sich in einem »Spannungsverhältnis von Autonomieansprüchen und Heteronomieerfahrungen perpetuiert« (ebd.: 34) und liefert damit einen Beitrag zur Soziologie der Moderne. Reckwitz und Bröckling versuchen sich mit ihren Analysen an den Konstruktionsverhältnissen des postmodernen Subjekts, das sich maßgeblich »an ökonomischen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausrichtet« (Bührmann 2012: 149). Sie beschreiben dominante Subjektformen, die hegemonial sind, aber keinen Alleingeltungsanspruch haben. Das Individuum wird durch Subjektformen auf eine bestimmte Art und Weise adressiert und bewegt sich zugleich in deren Richtung. Dabei kommt es nie zu einer völligen Annahme oder Passung. Ein bestimmtes historisches Subjekt »ist man nicht, man soll es werden. Und man kann es nur werden, weil man immer schon als solches angesprochen ist« (Bröckling 2012: 132). Subjektivierungregime sind demnach »als Ensemble der Kräfte« zu verstehen, »die auf die Einzelnen einwirken und ihnen nahelegen, sich in einer spezifischen Weise selbst zu begreifen, ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst zu pflegen und sich in spezifischer Weise selbst zu modellieren und zu optimieren« (ebd.: 131). Für die Thematik der Geburt lassen sich bei einem Blick auf das Feld eine Reihe von spezifischen Subjektpositionen in den Wissens-Macht-Komplexen erahnen: als professionelle Geburtshelfer*innen, begleitende Partner*innen oder Gebärende. Auch die Gebärende lässt sich mit einer näheren Betrachtung im Vorhinein ausdifferenzieren: als Gebärende, (werdende) Mutter, Frau mit einer spezifisch sozialisierten Vorstellung von Weiblichkeit, in ihrem Habitus und ihrer Milieuzugehörigkeit oder als Patientin in einem ökonomisch geprägten Gesundheitssystem. Bei der Fokussierung der Konstitutionsumstände von Subjekten sind Subjektpositionen als »Idealtypus oder Angebot des modernen Selbstverhältnisses« (Keller et al. 2012: 12) gedacht, die nicht mit »den tatsächlichen Subjektivierungen zu verwechseln« (ebd.) sind. Genau diese Subjektivierungen sind nicht Gegenstand von Foucaults Forschung und stehen im Sinne der Subjektivierungsweisen im Zentrum des vorliegenden Forschungsprojekts. Die Perspektive der Diskurstheorie bildet dabei den Ausgangspunkt meiner Analysen und begründet eine analytische Betrachtung, wie die Geburtsdiskurse aufgestellt sind, welche Inhalte sie einschließen, welche Wissens- und Machtspiele und Praktiken in ihnen stattfinden und welche spezifisch historischen Subjekte in ihnen adressiert werden. An diese Vor-

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überlegungen schließen sich Überlegungen an, wie sich die konkreten Subjektivierungsweisen fassen lassen können, ohne mit den diskursiven Subjektpositionen/-formen gleichgesetzt zu werden, sondern aus Aneignung, Auseinandersetzung oder In-Beziehung-Setzten bestehen. Wie also positionieren sich schwangere und gebärende Frauen angesichts konkreter, idealtypischer, diskursiver Subjektpositionen? Damit ist es für meine Fragestellung nicht nur relevant, wie sich der Geburtsdiskurs entwickelt hat, was seine konkreten Wissens- und Machtstrukturen sind, sondern wie sich seine Wirkmächtigkeit gegenüber den Subjekten und gleichzeitig die Wirkmächtigkeit der Subjekte im Diskurs entfaltet, wie sie ihn beeinflussen, modifizieren, übertragen und bestätigen. Diese Konstellation verweist auf das Verhältnis von Macht, Diskurs und Subjekt. Im Sinne der Henne-Ei-Problematik schließt sich die Frage an, was zuerst existiert hat: Diskurs oder Subjekt. Jürgen Link beschreibt das Verhältnis dieser beiden Aspekte wie folgt: Das Verhältnis von Diskurs und Subjekt lässt sich also aus diskurstheoretischer Sicht als geschlossener Reproduktionszyklus auffassen: Die frühkindlichen und kindlichen Individuen ›lernen‹ ihre Diskurse und vor allem ihre Interdiskurse analog zum Sprachgebrauch. Dabei identifizieren/gegenidentifizieren sie sich mit diskursiven Positionen. In stabilen Identifizierungen/Gegenidentifizierungen ›kristallisieren‹ sich stabile Subjektivitäten (›Charaktere‹). Dennoch bleiben ›Umwertungen‹ (Nitsche), also ›Apostasien‹ und ›Konversionen‹, selbst relativ stabil kristallisierter Subjektivitäten immer möglich. […] Es produziert dabei kleinere und größere diskursive Innovationen, die die Diskurse ändern. (Link 2012: 66) Im Folgenden betrachte ich nun, wie sich das konkrete Selbstverständnis, »das Selbst-Erleben, die Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Deutung« (Bührmann 2012: 152) innerhalb der Wissens-Macht-Regime theoretisch fassen lassen können. Diese Perspektive fragt demnach nicht, was Menschen sein sollen, sondern »ob sie auch sind, also sein wollen, was sie sein sollen« (ebd.: 155). Im Zentrum meiner Forschung stehen die gebärenden Frauen, wie sie sich im Diskurs positionieren und wie die Diskurse sie positionieren, welche Vorstellungen, Modelle, Deutungen und Leitbilder von Geburt sie als Wirklichkeit annehmen oder ablehnen und wie sie sich in der konkreten Situation der Geburt bewegen und diese deuten. Um diese Fragen zu klären, werde ich zuerst theoretische Gedanken vorstellen, die versuchen den Komplex des Diskurses und der Subjekte und Subjektivierungsweisen zu fassen. Als theoretische Ansätze sind hier die Wissenssoziologische Diskursanalyse von Reiner Keller, die Dispositivanalyse und die Integration des theoretischen Konzepts der Anrufung von Louis Althusser in der Diskursforschung zu nennen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse von Reiner Keller (2006) verbindet die Werke von Foucault mit dem Sozialkonstruktivismus von Berger und Luck-

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

mann (1972). Den Vorteil dieser Verbindung beschreibt Keller in einer positiven Erweiterung und Ergänzung beider Theorien. Die Diskurstheorie lässt sich systematisch um die Position des Subjekts erweitern und beschreibt konkret, wie Aussagen zu Wissen gerinnen und wieder angeeignet werden. Der Ansatz von Berger und Luckmann wiederum erweitert sich um die konsequente Fokussierung und Einbeziehung von Macht- und Wissensaspekten. Den »Faktor Mensch« in das Zentrum einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse zu stellen, ist nach Keller in mehreren Varianten möglich und umfasst die Analyse sozialer Akteure, von Sprecherpositionen, Subjektpositionen, des Personals der Diskursproduktion und von Subjektivierungsweisen (Keller 2012: 92ff.) und ermöglicht damit ein differenziertes Akteurskonzept. Die vier ersten analytischen Konzepte eines Subjekts beziehen sich auf das Verhältnis des Subjekts zum Diskurs beziehungsweise seine (machtvolle) Position in diskursiven Wissenssystemen. Für besonders anschlussfähig halte ich die Begrifflichkeiten der Subjektposition und Subjektivierungsweisen. Während die Subjektpositionen spezifische diskursive »Adressierungen« beschreiben, mit einer »angenommene(n) Form der Reflexion und Handlungssteuerung« (ebd.: 100) und einem spezifischen Selbstverhältnis, fokussiert der Begriff der Subjektivierungsweise die konkrete Aneignung der verschiedenen diskursiven Positionsvariationen. Bisher wurde die Wissenssoziologische Diskursforschung überwiegend zur Interpretation von verschriftlichtem Material genutzt und analysierte damit vor allem Sprecherpositionen, Subjektpositionen und das Personal der Diskursproduktion. Unklar bleibt, wie sich Subjekte mit den angebotenen Deutungsmustern auseinandersetzen, wie sie Zugang zu Wissen erhalten, wie sie sich gegenüber den angebotenen Subjektpositionen einordnen und welche der widersprüchlichen Positionen sie einnehmen. Keller grenzt die Wissenssoziologische Diskursanalyse immer wieder von diesen Fragestellungen ab und versucht sie gleichzeitig dafür anschlussfähig zu machen (Keller 2012: 102). Damit nimmt er eine ambivalente Position ein, wenngleich auch durch andere Forscher*innen Anschlüsse gesucht werden (vgl. Correll 2010, Pfahl 2011, Bosančić 2014, Spies 2010). Das Konzept der Anrufung wird im Bereich der Diskurstheorie durch unterschiedliche Autoren*innen (vgl. Correll 2010, Spies 2009) gerne als Brückenkonzept herangezogen, da sich mit seiner Hilfe genauer beschreiben lässt, wie Diskurse Subjekte adressieren. Gleichzeitig zeigt es den Handlungsspielraum des konkreten Subjekts innerhalb des Diskurses. Louis Althusser (2010) entwirft mit dem Begriff der Anrufung eine Systematik, mit der er die Wirkmächtigkeit des herrschenden Systems beschreibt, aber auch die Möglichkeit von Abweichungen hervorhebt. Althusser (2010: 88f.) illustriert das Konzept der Anrufung unter anderem anhand einer Begegnung mit einem Polizisten: Ruft dieser auf offener Straße: »He, Sie da!«, dreht sich das angerufene Subjekt um. Damit signalisiert es Widererkennung und Anerkennung der Anrufung und drückt eine Reaktion aus, die in einer Ablehnung

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Die unbekannte Geburt

oder Annahme der Anrufung bestehen kann. Er erläutert daran die vier Phasen der Anrufung: die Anrufung, die Antwort, der Wieder- bzw. Anerkennungseffekt und die Vergewisserung. Nach Correll (2010) sind Anrufungen mehr oder weniger stark im Diskurs institutionalisiert, wobei von einer doppelten Subjektkonstitution ausgegangen wird. Zum einen zitiert die Anrufung die Konvention einer sozialen Ordnung, die dem Subjekt vorausgeht (ebd.: 81). Zum anderen muss die Anrufung durch das Subjekt angeeignet, erkannt, angenommen oder abgelehnt werden. Corell geht davon aus, dass bei Ablehnung und Nichtbefolgen der Anrufung Abwertung und Sanktionen drohen. Reckwitz (2008) kritisiert an dieser Sichtweise, dass wiederum ein autonomes, einheitliches Subjekt die Grundlage der Überlegungen bildet. Es steht einer gesellschaftlichen Erwartung beziehungsweise Anrufung gegenüber, ist aber in sich souverän, was wiederum in verschiedenen Arbeiten als eine spezifische, historische Konstruktion dekonstruiert wurde (Krumbügel 2014: 11). Für mein Forschungsvorhaben ist das Konzept der Anrufung dennoch lohnend, obgleich darauf zu achten ist nicht auf bestimmte Subjektkonstitution im Sinne einer anthropologischen Konstante zurückzugreifen. Andererseits betont Althusser (2010: 85ff.) die Verwobenheit des Subjekts im gesellschaftlichen Kontext und damit die grundlegende Sozialität desselben. Im Anschluss an diese Überlegungen ist davon auszugehen, dass in und durch die Diskurse Normalitätsentwürfe konstruiert werden, wie die Frau sich beispielsweise angesichts Schwangerschaft und Geburt zu verhalten hat. Diese Normalitätsfolien zeigen sich in konkreten Anrufungen durch diskursive Praktiken und Objektivationen. Beispielhaft lassen sich hier Vorsorgeuntersuchungen nennen, die eine Vielzahl an routinierten Praktiken beinhalten, wie das Wiegen, Abgabe einer Urinprobe, Ultraschalluntersuchungen und CTG-Untersuchungen2 . Diese institutionalisierten Praktiken werden von Frauen in einem starken Maß angenommen. Abweichungen sind möglich und gelten in Anschluss an Correll gleichzeitig als voraussetzungsvoll. Als Voraussetzung für ein abweichendes Verhalten beschreibt sie die Kenntnisse von alternativen Wissensbeständen und Gegennormen sowie individuelle Ressourcen. Ein überwiegender Teil der Frauen nimmt in Deutschland die regelmäßigen und umfangreichen Vorsorgeuntersuchungen wahr, dieses engmaschige medizinische Überwachungssystem strukturiert maßgeblich das Erleben und Deuten der Schwangerschaft. In ihrem Vorschlag für einen Wandel des analytischen Konzepts der Diskursanalyse zur Dispositivanalyse (siehe Kapitel 3.1) plädieren Andrea D. Bührmann und Werner Schneider (2008a) für die Ausdifferenzierung des Subjektbegriffs. Sie unterscheiden zwischen Subjektivierung/Subjektivation, Subjektformierung/-po-

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Die Kardiotokographie (CTG) bezeichnet eine Untersuchung, die es ermöglicht die kindlichen Herztöne und die mütterliche Wehentätigkeit zu erfassen.

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

sitionierung und Subjektivierungsweisen.3 Subjektivierungen/Subjektivationen entstehen als Korrelat aus den Aspekten, »wie Individuen von Diskursen als ›Subjekte‹ adressiert werden« und »deren dazu in Beziehung zu setzendes ›Bewusstsein‹« (Bührmann/Scheider 2008b: 124). Während die »diskursiv vermittelten Subjektformierungen und -positionierungen […] Wissen darüber [enthalten], wer der oder die Einzelne im Verhältnis zu anderen sein soll, welche Praktiken […] sie oder er als Akteur(in) dabei zu verfolgen hat und welche Bewertungen der Effekte damit einherzugehen haben«, meinen Subjektivierungsweisen »die Selbstdeutung, das Selbsterleben und die Selbstwahrnehmung der Individuen und damit ihr Selbstverständnis« (ebd.: 125). Die Fragestellung nach den Subjektivierungsweisen adressiert dabei besonders das »als Praxis des Selbstverständnisses und der Selbstthematisierung« (ebd.) bezeichnete.

Abbildung 1: Subjektivation/Subjektivierung

Darstellung nach Bührmann/Schneider 2008b: 125

Bührmann und Schneider betonen die zentrale Stellung von Subjektivierungen für die Dispositivanalyse als konsequent in die Analysen einzubeziehenden Aspekt. Für eine Analyse der Subjektivierungsweisen empfehlen sie einen fruchtbaren Dialog mit der Biographieforschung, den ich im folgenden Kapitel näher ausführe. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei Foucault der Diskurs und seine Wissens- und Machtsysteme im Mittelpunkt stehen. Subjekten kommt vor allem eine tragende Funktion bei der Produktion und Absicherung von Wissen zu oder im Sinne institutionell verankerter Rollen. Foucaults Forschungsinteresse gilt der diskursiven und praktischen Konstituierung von historisch spezifischen Subjekten. Es ist umstritten, ob die konkreten Subjektivierungsweisen von Individuen überhaupt innerhalb Foucaults Forschungsperspektive analysiert werden können, 3

Die Begriffe Subjektivierung/Subjektivation und Subjektformierung/-positionierung werden bei Bührmann und Schneider nicht differenziert betrachtet und teils getrennt aufgeführt oder synonym gesetzt.

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Die unbekannte Geburt

klar ist jedoch, dass sie nicht Gegenstand seiner Analysen waren. Dabei ist dieser Themenbereich sehr interessant und aufschlussreich, denn er fragt, inwiefern sich Wissen und Macht in den Individuen tatsächlich materialisieren oder auch umformen. Mit Foucault ist davon auszugehen, dass »Subjektivierungsregime […] den Einzelnen mit spezifischen Erwartungen [konfrontieren], die er zurückweisen, zu unterlaufen oder einzulösen versucht, denen er aber niemals voll und ganz genügen kann« (Bröckling 2012: 134). Diskursive/dispositive Anrufungen erzeugen einen »Sog« (ebd.) und es ergibt sich daraus die Fragestellung, wie konkrete Individuen, im Fall meines Forschungsprojekts gebärende Frauen, damit umgehen. Um diesen Aspekt analytisch besser fassen zu können, erläutere ich anschließend das Verhältnis von Diskurs und Biographie.

2.3

Diskurs und Biographie

Der anfänglichen »Determinierung des Individuums durch diskursive Macht« (Truschkat 2018: 132) in der Diskurstheorie kann mit einer Öffnung gegenüber der Biographieforschung und einer stärkeren Betonung der Technologien des Selbst begegnet werden. Durch diese Verknüpfung – und Betonung der Erweiterung – werden die methodisch und theoretisch eher offenen Fragen nach der Handlungsmacht, also der Agency der Subjekte, der Eigensinnigkeit, den Widerständigkeiten und damit nach der Freiheit des Subjekts in Foucaults Diskurstheorie gewinnbringend bearbeitet (ebd.). Empirisch und theoretisch steht im Mittelpunkt, wie Diskurse und Dispositive konkret durch ihre Macht-Wissens-Komplexe wirklichkeitswirksame Effekte auf die Individuen entfalten und spezifische historische Subjekte überhaupt erst erzeugen und adressieren. Es geht in diesem Abschnitt darum, ob und wie sich Diskurse und Dispositive konkret »in Lebensgeschichten niederschlagen« (Schäfer und Völter 2009: 179) und die Wahrnehmung, Deutung, und damit das Handeln und Interagieren prägen. Die diskursiven Wissens- und Machtstrukturen, Symbole, Objekte und Praktiken bilden die Grundlage der Sozialisation und des Verstehens der Welt, in diesem Sinne ist ein Anschluss an Bourdieus Habitustheorie sinnvoll, um die »Strukturbedingungen von Subjektivität« (Pfahl et al. 2015: 36), also beispielsweise race, class und gender, mit ihrem je spezifischen Zugang zu Ressourcen in den Blick zu nehmen. Neben diesen determinierenden Faktoren sind gleichzeitig die soziale Wirklichkeit des Subjekts und die umgebende Struktur als performativ zu verstehen. Sie wird in der ständigen Wiederholung durch Akteur*innen (re)produziert, wobei die Wiederholungen »niemals eine exakte Kopie« (Keller/Bosančić 2017: 31) sind (vgl. Butler 2003). Aus diesen Überlegungen heraus erklären sich Transformationen und Verschiebungen von Bedeutungen, hier sind auch die Freiheitsgrade der Subjekte gegenüber den machtvollen Diskursen zu verorten.

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

Subjekte sind folglich zugleich Träger und (Re-)Produzent*innen von Diskursen, auch wenn Diskurse nicht als durch Individuen erschaffen, sondern als »nichtintentionalistisch und [von] anonymer Natur« (Schäfer und Völter 2009: 180) zu begreifen sind. »Diskurse […] erweitern (oder schließen) das verfügbare, zirkulierende kulturelle Repertoire der Selbstauslegungen« (Keller/Bosančić 2017: 26), auch die subjektiven Wissensvorräte sind soziokulturell und biographisch geprägt (ebd.: 29). Sie speisen sich aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat und damit aus einem vielfältigen Angebot aus Sinnsystemen, Selbst- und Weltdeutungen und spezifischen Handlungsangeboten. Im Kontext der Biographie bilden Diskurse das biographische Hintergrundwissen. Diskurse und deren angebotenen Subjektpositionen bestimmen als Kontextbedingungen das Biographische hingegen nicht ausschließlich: Emotionen, sinnliche Eindrücke, Begegnung oder spezifische (Lebens-)Ereignisse besitzen eine ähnlich individuell prägende Kraft. Von dispositiven Adressierungen kann deshalb nicht einfach auf ihre wirklichkeitswirksamen Effekte auf die Subjekte geschlossen werden (vgl. ebd.: 34f.). Diese Gedanken spiegeln sich auch im Konzept der Artikulation4 durch Laclau und Mouffe sowie dem Konzept von Stuart Hall wider, welche versuchen, das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt zu beschreiben (vgl. Spies 2009). Gemeint ist damit die »Möglichkeit einer Verknüpfung […], die aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann« und gleichzeitig »eine Verbindung, die nicht über alle Zeiten hinweg bestehen bleiben muss« (ebd.: 71). Individuen befinden sich in einem ganzen Netz aus (widersprüchlichen) Diskursen, mit unterschiedlichen und divergenten Subjektpositionen, die sie in unterschiedlichen Rollen und/oder Situationen adressieren, in dem sie sich positionieren können. »Durch die Anrufung entsteht eine Verbindung zwischen Individuum und Diskurs« (ebd.: 74), die als Artikulation zu verstehen ist. Die Verbindungen sind schwankend und wechselhaft, dennoch müssen die Subjekte »positioniert sein, um etwas sagen zu können« (ebd.: 72). Menschen können sehr unterschiedlich auf die diskursiven Anrufungen reagieren und sich im dispositiven Netz positionieren. Es ist offen, ob und wie sie auf die Anrufungen der diskursiven Subjektpositionen reagieren, welche Bemühungen sie unternehmen, um sie auszufüllen oder sie zu unterlaufen und umzudeuten oder zu ironisieren. Gleichzeitig sind die Subjekte oder kollektiven Akteure mit ganz unterschiedlichen Ressourcen und Zugängen zu machtvollen Positionen oder alternativen Wissensbeständen, Möglichkeiten zum machtvollen Sprechen und zum

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Im englischsprachigen Raum besitzt Artikulation eine stärkere Doppeldeutung: zum einen der sprachliche Ausdruck, zum anderen eine mögliche Kopplung. Bemüht wird hier nach Stuart Hall das Beispiel der Kopplung eines Lastwagens mit einem Anhänger: Beide existieren getrennt voneinander, eine Verbindung kann hergestellt und wieder gelöst werden, andere Hänger können angekoppelt werden (vgl. Spies 2009: 71).

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Die unbekannte Geburt

Widerstand ausgestattet. Es stellt sich folglich immer wieder die interessante Frage, wie das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt zu fassen ist, wie Menschen im dispositiven Feld agieren und sich gegenüber Anrufungen, Subjektpositionen, Wissens- und Deutungskomplexen positionieren. Bührmann und Schneider (2008) empfehlen zur Erforschung dieses Verhältnisses einen engen Dialog mit der Biographieforschung, um konkrete Subjektivierungsweisen untersuchen zu können. Auch seitens der Forscher*innen in diesem Feld werden Anschlüsse an die Diskursforschung formuliert (vgl. Völter et al. 2009; Spies und Tuider 2017). Dabei betonen die Autor*innen das grundlegend unterschiedliche Subjektverständnis innerhalb der Theorietraditionen: Während Foucault die Dezentrierung des Subjekts intendiert, thematisiert die Biographieforschung eher ein mit sich selbst identisches Subjekt. Dieses Konzept wird dabei innerhalb des Forschungszweigs kontrovers diskutiert. Trotz »differenzierenden Grundannahmen« zeigt sich die »Tendenz, das Subjekt auf einer tiefer liegenden, biographietheoretischen Ebene als eine übergreifende Einheit mit einer bestimmten (strukturalen) Identitäts- und Handlungslogik zu konzipieren« (Schäfer und Völter 2009: 175), wenn beispielsweise nach Brüchen und Ambivalenzen und dem Gelingen oder Scheitern der Herstellung von Kohärenz gefragt wird. Mit der Dezentralisierung des Subjekts kritisiert Foucault die machtvolle Konstitution eines autonomen Subjekts und die »Geburt des Menschen als einen Wissensgegenstand« durch die Humanwissenschaft mit einem »Imperativ der Selbstbekenntnis und Selbstprüfung« (ebd.: 164) und der Unterwerfung als Subjekt. In eben jenem Kontext lässt sich auch die Biographieforschung als Bestandteil der Humanwissenschaft verstehen. Eine Verknüpfung beider Perspektiven ist also gleichsam eine Herausforderung und fruchtbare Erweiterung. Im Anschluss an diese Überlegungen schließt sich die Frage an, wie sich das komplexe Verhältnis von Erfahren, Erleben, Erzählen und Diskursen fassen lässt (vgl. Keller/Bosančić 2017: 33), da diese Aspekte nicht in Foucaults primärem Forschungsinteresse lagen. In Literatur und Forschung werden zu diesem Zweck unterschiedliche Brückenkonzepte beschrieben, um die Effekte der Diskurse und Dispositive auf Subjekte in ihren konkreten Lebenslagen und, andererseits, ihre Freiheitsgrade und Handlungsmächtigkeit darin empirisch und theoretisch fassen zu können (siehe Kapitel 3.2).

2.4

Diskurs und Körper

Neben dem Subjekt und der Biographie gilt es nun auch den Körper für das Thema der Geburt systematisch aus der Perspektive der Diskurstheorie zu betrachten und zu beschreiben, wie sich die Verschränkung von Körper und Diskurs theoretisch fassen lassen kann.

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

In »Überwachen und Strafen« (1975) und dem ersten Band von »Sexualität und Wahrheit«, mit dem Titel »Der Wille zum Wissen« (1976) begreift Foucault den Körper als Effekt von Macht und Wissen. Folglich wird er als historisch geprägt und nicht als Entität gedeutet. Indem Foucault die historische Veränderung der strafenden Machttechnologien nachzeichnet, zeigt sich auch der Wandel der konzipierten Körper. Im Körper materialisieren sich Diskurs und Macht, sie entfalten dadurch maßgeblich ihre machtvolle Wirksamkeit. Die Abwendung von einem repressiven, juridisch-diskursiven Machtverständnis eröffnet in Foucaults Analyse der Geschichte der Sexualität (1976) vor allem einen Zugang zur produktiven Kraft der Macht, die eine Vielzahl von Variationen bezüglich Sexualität und Identität erst hervorbringt. Macht ist stets repressiv und produktiv zugleich, sie dringt in den Körper ein und bringt ihn hervor. Mit der Metapher der Machttechnologie durchkreuzt Foucault mit dem »Bild der Technik oder Technologie die Vorstellung einer Lebenskraft oder einer Naturkraft« (Hubrich 2013: 36). Geformt durch die Disziplinarmacht wird der Körper zum nützlichen Objekt des Gesellschaftskörpers. Er wird durch die Bio-Macht und Disziplinarmacht nahezu unsichtbar bis in die kleinsten Ecken der menschlichen Existenz geschult, beobachtet und überwacht (vgl. Foucault 2009). Der so konstruierte Körper kann als ausschließliches Produkt von Sozialität verstanden werden. Hier liegt ein passives Körperverständnis zugrunde, wonach der Körper eher »mechanisch-reaktiv denn produktiv-aktiv« (Hubrich 2013: 38) erscheint. In seinem weiteren Schaffen grenzt Foucault sich vom »überindividuellen Machtuniversalismus« (ebd.: 18) seiner mittleren Werkphase ab und wendet sich den Subjektivierungsformen und Technologien des Selbst zu. Er stellt das aktive Subjekt ins Zentrum seiner Untersuchungen, dessen Wirkmöglichkeiten er damit stärker betont. Im Anschluss an Foucault fokussierte Judith Butler (2003) den vergeschlechtlichten Körper und die Geschlechtsidentität. Butlers These beinhaltet, dass nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht konstruiert ist, damit dekonstruiert sie den Körper als natürliche Tatsache. Sie stellt den Zusammenhang zwischen sex und gender5 radikal in Frage und verfolgt eine kritische Genealogie, indem sie die historischen Machtkontexte nachzeichnet, in denen Körper und Geschlecht als natürlich bezeichnet werden. Auch die Natur hat eine Geschichte, die Körpernatur präsentiert sie als Resultat wissenschaftlicher Diskurse, politischer Interessen und sozialer Machtverhältnisse (vgl. Gugutzer 2015: 86). Sie interessiert »nicht die ontologische oder anthropologische Frage, was der Körper ist, sondern die konstruktivistische Frage, wie er ist – wie er sozial wahrgenommen wird und bewertet wird« (ebd.: 87). Butler geht nicht von einer vor- oder außerdiskursiven 5

Sex und gender sind zentrale distinkte Begriffe, um Geschlecht differenziert zu betrachten. Während sex das biologische Geschlecht mit seinen jeweiligen Eigenschaften meint, bedeutet gender das soziale Geschlecht, das sich in kulturellen Prozessen herausbildet.

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Materialität des Körpers aus und betont vielmehr die starke Verschränkung von Diskurs und Materie. Zentral für Butlers Überlegungen ist der Aspekt der Performativität der Sprechakte, die das, was sie benennen, immer wieder erst hervorbringen und damit Wirklichkeit herstellen und nicht abbilden. Das Konzept beschreibt die »immanente Instabilität scheinbar stabiler Normalitäten« (Villa 2012: 17), wodurch Brüche oder Verschiebungen begünstigt werden. Durch die Denaturalisierung von Geschlecht und Körper können Butlers Analysen als passive Körperdeutung kritisiert werden6 , in deren Anschluss sich die Frage stellt, ob und welche Handlungsmöglichkeiten der*die Einzelne hat. Obwohl dieser Aspekt wesentlich stärker ausgearbeitet ist, bietet der Körper gleichzeitig die Möglichkeit, »daß der Macht etwas Unvorhersehbares […] geschieht« (Butler 2004: 58). Er hat das Potential der Revolte, des Widerstands, der Umlenkung oder Umwertung und damit die Kraft, die Macht zu durchkreuzen. Butler fasst diese konstitutive Paradoxie wie folgt zusammen: »der Körper ist weder eine Substanz, eine Oberfläche, ein unbewegliches oder von sich aus zahmes Objekt, noch ist er eine Menge innerer Triebe, die ihn zum Ort der Rebellion und des Widerstandes machen« (ebd.: 57). »Man kann ihn nicht einfach passiv in der einen und aktiv in der anderen Hinsicht nennen«, vielmehr ist er »unterworfen« und »produktiv« (ebd.: 58). Dabei ist der Körper keinesfalls als vordiskursiv zu denken, sondern immer schon eingebunden in ein machtvolles Geworden-Sein. »Momente des Widerstandes« entstehen, »wenn wir uns gerade in unserem Verhaftetsein beschränkt finden«, was die Möglichkeit eröffnet, das »Verhaftetsein weniger beschränkt« (ebd.: 64) zu leben. Die persönliche Verortung in der Beschränkung des Diskurses »mit weniger Beschränkung bringt jedoch die Gefahr der Nicht-Anerkennbarkeit mit sich, und es birgt das Risiko der Strafen« (ebd.). Auch wenn also Macht-WissensKomplexe Körper und Subjekte hervorbringen und stark auf diese einwirken – im Sinne einer »Fügsamkeit« und »Verletzlichkeit durch Zwang« (ebd.: 52) – kann sich doch eine Handlungsmacht und -fähigkeit entfalten, auch wenn das Strafen, Ausgrenzung oder »Infragestellung der Anerkennbarkeit« (ebd.: 66) nach sich ziehen kann. Auf diese Weise können diskursive Verschiebungen und Wandel begründet werden. Der Körper ist damit nicht nur Produkt der Sozialität, er reproduziert und verschiebt Macht und Diskurs in seinem täglichen Tun und ist damit gleichzeitig Quelle der Sozialität. Er findet seine Beschreibung folglich in einem »konstitutiven Paradoxon […] zwischen dem unterworfenen und dem produktiven Körper« (ebd.: 6

Eine breite Kritik erfährt das von Butler angedeutete Körperkonzept in »Das Unbehagen der Geschlechter« vor allem in Deutschland. Die Hervorbringung des Körpers und des Körperempfindens durch die diskursiv verorteten Sprechakte würde den »Körper als Text« (Lorey 1993: 10) beschreiben, auf andere Bestandteile des Diskurses, wie Praktiken und Objektivationen, die konstitutiv für die Wirklichkeit sind, würde Butler keinen Bezug nehmen. Woraufhin Butler mit dem Buch »Körper von Gewicht« (2017 [1997]) ihre Position in Bezug auf den Körper deutlicher herausarbeitet und auf Kritikpunkte eingeht (vgl. Villa 2012).

2. Die Betrachtung der Geburt aus der Perspektive der Diskurstheorie

62). Die potenzielle Handlungsmöglichkeit, Abweichung oder Widerstand schließen aber immer an diskursive Deutungen und Definitionen an, stehen also genau wie der Körper nie vollkommen außerhalb des Diskurses. Butler dekonstruiert die »angeblich natürlichen Sachverhalte« (ebd.: 23) von Geschlecht und betont ihre diskursive Erzeugung.7 Sie plädiert für ein neues Körper- und Naturverständnis, in Abgrenzung zu einem »Natur/KulturDualismus« (Villa 2012: 96), in dem entweder eine »Essenz des biologischen Geschlechts« oder die einseitige Beeinflussung der Natur durch das Soziale behauptet wird (ebd.: 97). Darum fordert sie, das Konzept der Natur selbst neu zu überdenken, weil das Konzept der Natur eine Geschichte hat und weil das Figurieren von Natur als eines leeren und leblosen Blatts – Natur als dasjenige, was gleichsam immer schon tot ist – eine entschieden moderne, vielleicht mit dem Aufkommen technischer Mittel der Naturbeherrschung verbundene Vorstellung ist. (Butler 2017: 25) Im Kontext des Forschungsgegenstandes der Geburt stellte sich die Frage, ob die konstruktivistische Perspektive auf den Körper ausreichend ist, um somatische und körperliche Aspekte der Geburt hinreichend zu erfassen. Weitere Perspektiven der Körperlichkeit und Leiblichkeit eröffnen sich durch einen Rückgriff auf phänomenologische Theorieansätze.8 Darin wird die Diskursperspektive dafür kritisiert, dass nur Diskurse über Körper sowie deren Materialität adressiert und keine vordiskursive Materialität und Erfahrung einbezogen würde (vgl. Duden 1993). Anschließend an diese Kritik einer anderen Theorietradition stellt sich die anthropologische oder ontologische Frage, was Geburt ist und worin diese anthropologische Konstante bestehen würde. Welche Folgen hat es in letzter Konsequenz, Geburt als ›natürlich‹ zu begreifen? Es besteht die Gefahr, die Natur der Geburt letztendlich als Ideologem (Duden 1993: 31) zu begreifen, ohne Macht-, Wissens- und Herrschaftskontexte in den Blick zu nehmen. In diesem Feld lassen sich auch Fischers (2011) anfangs vorgestellte Überlegungen einordnen, in denen er Geburt als passivisches Widerfahrnis für Frauen schildert. Sie werden ›trächtig‹, wonach während der Geburt »der Körper der Gebärenden gepresst wird« (ebd.: 29). Genau diese passive Deutung des Körpergeschehens nimmt Martin (1989) zum Anlass für ihre Analysen, in deren Resultat sie für die medizinische Gynäkologie und Geburtshilfe der 1980er

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Exemplarisch sei hier eine Studie von Voß aufgeführt: Anhand einer biologischen Untersuchung konnte der Autor die Wirkmächtigkeit der diskursiv verankerten Zweigeschlechtlichkeit herausarbeiten, die uneindeutig wissenschaftliche Ergebnisse dualen Geschlechtern zuordnet und so das natürliche Geschlecht erzeugt (Voß 2011). Die begriffliche Unterscheidung von Körper und Leib stellt eine sprachliche Besonderheit im Deutschen dar. Plessners unterscheidet zwischen Leib-Sein und Körper-Haben und betont damit den Doppelaspekt des Körpers (vgl. Gugutzer 2015: 13ff.).

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Jahre in den USA ein passives Körpermodell von Frauen und ihre Reproduktionsfähigkeiten beschreibt. Die interviewten Frauen beschreiben ihr Selbst losgelöst von ihrem Körper. Menstruation, Schwangerschaft, Geburt und Wechseljahre deuten sie überwiegend als Widerfahrnisse, die es mit Hilfe der Willenskraft zu bändigen oder zu erdulden gelte. Aus diesem Grund beschreibt eine Mehrheit der interviewten Frauen Geburt als etwas, das ihnen zugemutet wird (ebd.: 111). Sie erleben sich als zerrissen oder von ihrem Körper entfremdet. Die Trennung zwischen Körper und Selbst begründet sich laut Martin in der medizinischen Beschreibung weiblicher Körpervorgänge (ebd.: 113). Indem Martin mit einem Gedankenexperiment in Rekurs auf alternative Geburtsvorstellungen und -modelle auf die Kontingenz dieser Deutung aufmerksam macht, öffnet sie auch den Blick für alternative aktive Deutungen und daraus resultierende Erfahrungen und Wünsche für den Umgang mit Geburt (ebd.: 192). Anstatt eine ›natürliche Faktizität‹ des Körperlichen bei der Geburt herauszuarbeiten, geht es vielmehr um die soziale Deutung und die sprachliche Beschreibung des Körperlichen und der Geburt im Kontext historischer WissensMacht-Komplexe, die den Körper formen und hervorbringen. Damit geraten historische, kulturell kontingente Körperwahrnehmung, -deutung, -äußerung und -praktiken in den Blickpunkt. Gleichzeitig ist zu betonen, dass der Körper sich real anfühlt und daher ein »ontologisches Grunderlebnis« (Duden 1993: 33) darstellt. Wenn die Wehen als überwältigend und unbeherrschbar beschrieben würden, ist diese Wahrnehmung in Bezug auf beispielsweise den medizinischen Diskurs und seine Deutungen des weiblichen Körpers im Sinne Butlers zu dekonstruieren und gleichzeitig in seiner Leibhaftigkeit und Sinnlichkeit zu betrachten. Die Idee Foucaults, den Körper als Materialisierung von MachtWissens-Komplexen zu beschreiben, verdeutlicht die leibliche Wirkmächtigkeit. Gleichzeitig liegt das Augenmerk immer auch auf der Eigenlogik des Körperlichen und folglich auf diskursiven Verschiebungen oder Widerständen.

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

Das Verhältnis zwischen Diskurs, Macht, Wissen und Subjekt ist für die Thematisierung der Geburt mit Hilfe der Diskurstheorie von besonderem Interesse. Die Geburt wird regelmäßig als zentrale Statuspassage für Mensch und Gesellschaft gedeutet: neues Leben und damit ein neues Gesellschaftsmitglied entsteht, Frauen werden zu Müttern, Männer zu Vätern oder Familienkonstellationen verändern sich. Damit werden Individuen auch neu als Subjekte adressiert und durch unterschiedliche Praktiken zur Subjektwerdung angerufen. Gleichzeitig ist Geburt in ihrer gegenwärtigen biographischen Seltenheit eine Ausnahme- und Extremsituation für Frauen und ihre Begleiter*innen. Sie kann mit außeralltäglichen Empfindungen und Schmerzen einhergehen und wird häufig als eine Situation zwischen Leben und Tod gedeutet. Folglich ist sie in einem besonderen Maß in das soziale Geflecht einer Gesellschaft eingebunden und ritualisiert. In Deutschland ist die Geburt weithin institutionalisiert und findet überwiegend in außerhäuslichen, hierarchisierten und organisierten Bezügen des Krankenhauses statt (vgl. IQTIG – Institut für Qualitätssicherung 2017). Die Ausstattung, personelle Besetzung, innerinstitutionelle Geburtskonzepte, organisatorische und finanzielle Rahmung spielen damit eine erhebliche Rolle. Daraus ergibt sich die Einordnung der Geburt in ein komplexes soziales Feld und ein Verständnis als spezifischer körperlicher Vorgang: Innerhalb des Diskurses wird ein Wissen generiert, weitergegeben und verbreitet. Konkretes Wissen über Geburt und die beste Umgangsweise mit diesem Phänomen bündeln sich in Deutungsangeboten1 zur Geburt. Aber nicht nur der Diskurs ist handlungsleitend, denn auch Praktiken, wie routinierte CTG-Untersuchungen oder das standardisierte Legen eines venösen Zugangs zu Beginn der Geburt, entfalten ihre Wirkmächtigkeit. Auf ebensolche Art und Weise entfalten Objektivationen, wie die Raumgestaltung des Kreißsaals, Technik und

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Deutungsangebote nach Schwapp-Trap (2006) sind »Angebote für die Wahrnehmung und Deutung von Phänomenen« (Scholz und Lenz 2014: 60), konstituieren die richtige Form des Zusammenlebens und stehen mit Legitimationsmustern in Verbindung.

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Medikamente, ihre Wirkmächtigkeit. Einen weiteren Aspekt bilden (institutionelle) Akteur*innen, wie die verschiedenen Ärzte- oder Hebammenverbände, die die Geburt maßgeblich konzeptualisieren, Richtlinien erstellen oder Informationsbroschüren veröffentlichen. Aber auch Akteur*innen wie Ärzt*innen, Hebammen, private Geburtsbegleiter*innen wie Partner*innen, Verwandte oder Freunde*innen, die gebärende Frau selbst oder die Krankenhausorganisation und Pharmaindustrie beeinflussen und definieren das Geburtsgeschehen. Das vorliegende Forschungsprojekt ist an der Schnittstelle zwischen einer umfassenden Betrachtung der Geburtsdispositive und einer Analyse von Subjektivierungsweisen gebärender Frauen angesiedelt. Es umfasst somit zwei Bereiche, den der gesellschaftlichen Konstruktion von Geburt und den der individuellen Aneignung und Positionierung. An diese Überlegungen schließen sich zwei zentrale Fragen an: Wie gestalten sich die Dispositive der Geburt? Und wie agieren Frauen im dispositiven Feld der Geburt? Um der komplexen Situation der Geburt und der Fragestellung gerecht zu werden, standen zu Beginn der Forschung umfangreiche Suchbewegungen nach einer geeigneten Forschungsperspektive. Ausgehend von der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA), über die Situationsanalyse2 bis zur Dispositivanalyse, wo das Projekt letztlich angesiedelt wurde. Mit ihrem Buch »Vom Diskurs zum Dispositiv« (2008a) präsentieren Werner Schneider und Andrea D. Bührmann eine weitere Variation der Diskursforschung. Statt der Betrachtung des Diskurses plädieren sie für die Analyse des Dispositivs. Ihr erarbeitetes Konzept integriert neben diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, Objektivationen und auch Subjektivationen. So kann das dispositive Feld, in dem sich Geburten ereignen, mit all seinen Aspekten nachgezeichnet werden. Zusätzlich ist es möglich, die Subjekte und Subjektwerdung differenziert in den Blick zu nehmen. Darum wird im weiteren Verlauf die Dispositivanalyse genauer vorgestellt, die das komplexe Verhältnis und Gefüge von gesellschaftlichem Sein, Diskurs, Macht und Wissen analysiert (vgl. ebd.: 32). Zuerst wird im folgenden Unterkapitel eine analytische Systematik zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage im Anschluss

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Zu Beginn meiner Suche nach einer geeigneten Forschungsmethode erschien mir die Situationsanalyse von Adele Clarke (2012) als sinnvolle Methode, um diese komplexe Situation der Geburt in den Blick zu nehmen. Clarke verbindet die Paradigmen des Pragmatismus/Neopragmatismus mit dem Strukturalismus/Neostrukturalismus, mit dem Ziel, die GroundedTheory-Methodology für »die Komplexität von Situationen und Untersuchungsgegenständen« (Diaz-Bone 2013: 187) zu sensibilisieren. Innerhalb der Situationsanalyse geht es folglich auch um die Betrachtung von Diskursen, die Analyse zentriert dennoch die innere Logik von Subjekten, Institutionen oder Organisationen. Diskurse werden hier eher ergänzend behandelt, besonders um die Aspekte der Macht besser herausarbeiten und integrieren zu können. Die »Integration einer vollständigen Form einer tatsächlichen Foucaultschen Diskursanalyse, die […] Diskursordnungen auch auf ihre internen Regeln hin analysiert« (ebd.: 192), unterblieb bislang.

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

an die Dispositivanalyse entfaltet. Die Beschreibung des methodischen Vorgehens zur Bearbeitung der Frage nach der konkreten Positionierung gebärender Frauen schließt das Kapitel ab.

3.1

Von der Diskursanalyse zur Dispositivanalyse

Resultierend aus den permanenten begrifflichen und analytischen Verschiebungen in Foucaults Arbeit entwickelten mehrere Theoretiker*innen und Analytiker*innen unterschiedliche Forschungsperspektiven und formten so ein »heterogenes Feld« (Ballaschk 2015: 14) der Diskursforschung. Jeder Ansatz hat dabei seine besonderen Stärken und Kritikpunkte, sie alle beruhen jedoch auf den Grundideen Foucaults und etablieren eine begriffliche Ausdifferenzierung. Das Anliegen der Dispositivanalyse ist es, die Textlastigkeit der Diskursanalyse zu überwinden und systematisch Praktiken, Vergegenständlichung und Subjekte in die Analysen einzubeziehen. Dabei greifen Bührmann und Schneider auf Überlegungen und Begrifflichkeiten anderer Forschungsperspektiven zurück und binden sie in ihre Systematik ein, beispielsweise den Begriff des Interdiskurses nach Link (2012). Besonders zur Wissenssoziologischen Diskurstheorie (WDA) und der Wissenssoziologie besteht eine enge Verbindung.3 Die Wissenssoziologie betont »die Pragmatik des Wissensgebrauchs bei der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit des Routinewissens über Handlungsvollzüge […] und die Bedeutung von Alltagswissen« (Bührmann/Schneider 2008a: 72). Besonders der Begriff des seinsgebundenen Wissens von Mannheim beschreibt nicht nur die Alltagsrelevanz von Wissen, sondern den Prozess der Institutionalisierung, wodurch es auf Dauer gestellt wird. Er erfasst die Wechselwirkung von Wissen und Individuen und ermöglicht damit die »dispositivtheoretische Verbindung zwischen diskursivem und nicht-diskursivem Wissen mit Intersubjektivität und gesellschaftlicher Erfahrung« (ebd.). In der Dispositivanalyse geht es um die »Bestimmung des je über Wissen vermittelten Verhältnisses von Diskurs, Macht und gesellschaftlichen Sein« (ebd.: 32)

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Keller betont die Möglichkeit, »Dispositive im Rahmen einer (wissenssoziologischen) Diskursforschung verstärkt als Infrastrukturen der Diskursproduktion und als Folgen bzw. als Machteffekte von Diskursen zu untersuchen« (Ballaschk 2015: 17). Entgegen Bührmann und Schneider subsummiert er unter diskursiven Formationen Diskurse und Dispositive (vgl. Bührmann/Schneider 2008a: 52). Auch wenn sich die WDA für weitere Gegenstände zusehends öffnet, ermöglicht die Dispositivanalyse eine systematischere Betrachtung der unterschiedlichen dispositiven Elemente. Keller benennt die Betrachtung der Frage nach »Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken« (Ballaschk 2015: 17) als wissenssoziologische Grundidee, die die Forschung an die WDA anschlussfähig macht. Im Zentrum der WDA steht vor allem die diskursive Konstruktion von Wissen und Wahrheit und damit die Analyse der Diskurse.

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sowie die Vernetzung der unterschiedlichen Elemente des Dispositivs mit ihrer jeweiligen Eigenlogik und ihrer Wirkung auf das gesellschaftliche Sein. Diese zentralen Begriffe und Begriffsdifferenzierungen sollen im Folgenden näher beschrieben werden. Beständig verweisen Bührmann und Schneider darauf, dass viele begriffliche Unterscheidungen vor allem analytischer Natur sind, um den Forschungsgegenstand explizit zu betrachten und zu beschreiben. Sie dienen damit eher als Handwerkszeug, denn als klar definierte theoretische Konstrukte. Vorangestellt sei ihre Definition von Dispositiven: Dispositive sind als Ensembles zu verstehen, welche Diskurse, Praktiken, Institutionen, Gegenstände und Subjekte als Akteure als Individuen und/oder Kollektive, als Handelnde oder ›Erleidende‹ umfassen. Sie bezeichnen mithin komplexe Ausschnitte einer historisch gewordenen Sozialwelt mit ihrem (je typischen) Sagen und Tun, ihren spezifischen symbolischen Sichtbarkeiten wie materialen Vergegenständlichungen […] und den in all diesem erscheinenden, machtvollen Regeln ihrer ›Wahr‹-Nehmung, ihrer Gestaltung, ihres Gebrauchs. Im Dispositivbegriff verschränken sich also die verschiedenen Dimensionen von Foucaults Machtkonzept als strukturierte und strukturierende Wirkung auf Wirklichkeitskonstruktionen (Wissen), institutionelle Handlungsfelder (Praxis) und individuelle Handlungspräferenzen (Subjektivitäten). (Ebd.: 68) Das Dispositivkonzept fokussiert also nicht nur die diskursive Ebene, sondern »öffnet nicht-diskursive[s] ›Praxis-Wissen‹ […] sowie Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen dieser Wissensform und damit einhergehende Prozesse der Subjektivation/Subjektivierung als zwar zusammenhängende, aber eigenständige und -sinnige Analysegegenstände einer relationalen Macht-Analyse« (ebd.). Foucaults selbst definierter Analyseanspruch des Dispositivbegriffs umfasst als erstes genau die eben beschriebene Auffassung, ein Dispositiv als »heterogenes Ensemble« (Foucault 1978a: 119) zu verstehen, in dem einzelne Elemente sich zu einem Netz verknüpfen. Damit beschreibt ein Dispositiv »nicht nur die Gesamtheit von infrastrukturellen Bestandteilen für Diskurse oder gesellschaftlichen Handlungsfeldern« (Bührmann/Schneider 2008b: 117f.), sondern deren Vernetzung. Zweitens wird die machtvolle Verbindung der einzelnen Elemente fokussiert. Dispositive konstituieren so einerseits »Möglichkeitsräume für gültiges, ›wahres‹ Wissen« und sind andererseits »immer schon Effekte von Machtbeziehungen« (Bührmann/Schneider 2008a: 53). Drittens sind Dispositive als Reaktion auf einen spezifisch historischen »Notstand (urgence)« zu verstehen und besitzen damit eine »vorwiegend strategische Funktion« (Foucault 1978: 120). Ich habe gesagt, daß das Dispositiv wesentlich strategischer Natur ist, was voraussetzt, daß es sich dabei um eine bestimmte Manipulation von Kräfteverhältnissen handelt, sei es, um sie in diese oder jene Richtung auszubauen, sei es, um sie zu

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

blockieren oder zu stabilisieren […]. Das Dispositiv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben, immer aber auch an eine Begrenzung oder besser gesagt: an Grenzen des Wissens gebunden […]. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden. (Ebd.: 122f.) Der Dispositivbegriff reicht mit Hilfe der Machtdimension über den Diskursbegriff hinaus. Er betont eine analytische Unterscheidung zwischen Macht und Diskurs und bildet »den Konnex zwischen der Frageperspektive der Diskursanalyse und der Machtanalyse« (Bührmann/Schneider 2008b: 119).4 Die strategische Funktion der Dispositive versteht Foucault als produktiv. Sie bilden »entsprechend historisch-strategischer Erfordernisse über spezifische Diskurs- und Machttechniken« (Bührmann/Schneider 2008a: 54) Vergegenständlichung und spezifische Subjektivitätstypen. Dispositive sind sowohl machtvolle »Effekte der diskursiv erzeugten und vermittelten Wissensordnungen«, als auch »die (Rück-)Wirkungen dieser Praktiken auf die diskursiven ›Wahrheitsspiele‹« (ebd.). Es folgt eine nähere Betrachtung der einzelnen Dimensionen der Dispositive, um sie als »eigenständige Analyseebene« fassen zu können (Bührmann/Schneider 2008b: 120).

3.1.1

Dimensionen der Dispositivanalyse

Unter Diskursformationen subsummieren Bührmann und Schneider Diskurse und diskursive Praktiken, als »regelhafte Praxis der Aussageproduktion« (Bührmann/Schneider 2008a: 97) zur Herstellung von Wissen(sordnungen) und Wahrheit. Diese konstituieren sich entlang der Unterscheidung von Sagbarem und Unsagbarem, Möglichkeitsräumen und Grenzen des Sagbaren sowie Aussageforderungen und Aussageverbot. In Rückgriff auf Jürgen Link (2012) wird die Untergliederung der Diskursformationen in Spezial-, Inter- und Alltagsdiskurse vorgenommen. Spezialdiskurse generieren spezielles Wissen und konstituieren gemäß ihrer Eigenlogik »tendenzielle Eindeutigkeit, spezielle Definition von Begriffen, Dominanz der Denotation und […] Beseitigung aller Ungereimtheiten« (ebd.: 58). Sie zeichnen sich durch stetige Differenzierung und Spezialisierung aus. Beispiele finden sich in institutionalisierten Wissenschaften, was übersetzt auf die Thematik der Geburt beispielsweise den medizinischen Wissenschaftsbereich von Gynäkologie und Geburtshilfe bedeutet. Weitere angrenzende Spezialdiskurse sind die Hebammenwissenschaft oder politische und juristische Diskurse zur 4

Während der Diskursbegriff die Ebenen »des Gegenstands«, der »Äußerungsmodalität«, der »Begriffskonzeption« und der »strategischen Wahl« beinhaltet, fasst der Machtbegriff Aspekte der »Autorisierungsinstanz«, »Machttechnik«, strategische Ziele und »Machtbeziehungen« (Bührmann/Schneider 2008a: 60f.).

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Abbildung 2: Dimensionen einer sozialwissenschaftlichen Dispositivanalyse

Darstellung nach Bührmann/Schneider 2008b: 128

Geburt. Sie produzieren »themenbezogene, disziplinspezifische Wissensbestände mit ihren je eigenen Produktionsregeln« (Bührmann/Schneider 2008a: 66). Der Interdiskurs setzt sich zusammen aus dem aggregierten Wissen der Spezialdiskurse und beschreibt Allgemeinwissensbestände. Interdiskurse beschreiben die »gegenläufige, entdifferenzierende, partiell reintegrierende Tendenz der Wissensproduktion« (Link 2012: 58) und dienen als »selektiv-symbolische und exemplarisch-symbolische Brückenschläge für Subjekte« (ebd.). Sie finden sich in medialen oder literarischen Darstellungen in Zeitungen, Fernsehen, Filmen oder in Ratgebern zu Geburt und Schwangerschaft. Das Alltagswissen wird als Elementardiskurs bezeichnet. Das Dispositivkonzept greift auf die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zurück. Diskursive Praktiken sind definiert als die Verhandlung von Wissen und Wahrheit in sprachlicher und schriftlicher Form. Es interessieren weniger die Inhalte, als die Formationsregeln für die Produktion von Aussagen, sie stellen die Gegenstände erst her, über die sie sprechen. Dabei sind sie

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

»sowohl als generierende Momente der Wissenskonstitution als auch als Momente generierten Wissens« (Bührmann 2012: 155) zu verstehen. Als nicht-diskursive Praktiken5 sind »jene Äußerungen, Artikulationen bzw. Praktiken [zu verstehen,] die noch keinem Diskurs zugehörig sind oder nicht mehr diskursiv vermittelt werden« (Bührmann/Schneider 2008a: 47). Folglich können sie aus Diskursen hervorgehen, hervorgegangen sein oder in Zukunft wieder Bestandteil diskursiver Praktiken werden. Es handelt »sich um alltägliche Praktiken, die den Diskurs nicht gestalten oder ihn verändern, die jedoch diskursiv geprägt« (Ballaschk 2015: 19) sind und gleichzeitig eine Eigenlogik und Eigenwirksamkeit entfalten können. Im Kontext der Geburt ließen sich hier routinierte medizinische (Vorsorge-)Untersuchungen oder andere Praktiken zur Bewältigung der Geburt, wie Massagen oder Verabreichungen von spezifischen Medikamenten, benennen. Die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ist vor allem eine analytische, die keine »prinzipielle Entkopplung oder gar Unabhängigkeit […] behauptet«, sondern das Bestimmungsverhältnis der Praktiken in den Blick nehmen möchte (Bührmann/Schneider 2008a: 51). Ein weiteres Element der Dispositive sind Vergegenständlichungen. In ihnen materialisiert sich diskursives Wissen, gleichsam entfalten sie ihre machtvolle Wirksamkeit auf Diskurse und Subjekte. Inhärent sind ihnen »Wissenselemente und [die] dahinter stehenden Wissensordnungen« (ebd.: 103). Symbolische und materielle Objektivationen können einzelne technische Geräte wie CTG oder Ultraschallgerät sein oder medizinische Instrumente, wie ein venöser Zugang, die Geburtszange oder Saugglocke. Innerhalb der Dispositivanalyse stellt sich weiterhin die Frage, wie das Verhältnis zwischen Subjekt, Macht und Diskurs gefasst werden kann. Das Verständnis von Subjektivation geht über »individuelle Handlungspräferenzen« und »individuelle Identitätsmerkmale« (ebd.: 69) hinaus und umfasst Subjektpositionen/Subjektformierungen und Subjektivierungsweisen. Das Dispositivkonzept bezieht das Subjekt systematisch als Frageperspektive ein und der Begriff wird weiter und differenzierter gefasst. Subjektpositionen »enthalten Wissen darüber, wer der einzelne im Verhältnis zu anderen sein soll, welche Praktiken dabei zu verfolgen sind und welche Bewertungen damit einherzugehen haben« (ebd.). Sie bieten Individuen Wissen, »das sie dazu bringen kann, sich auf ›normale‹ und ›nützliche‹ Weise […] zu sich selbst und zur Welt um sich herum zu verhalten« (ebd.: 71). Konkrete Subjektivierungsweisen beinhalten Aspekte der Selbst-Deutung, des Selbst-Erlebens und der Selbst-Wahrnehmung und können sich affirmativ oder widerständig zu den anrufenden Subjektformen positionieren. Aus dieser Perspektive kann beschrieben werden, »wie Individuen von Diskursen […] als Subjekte adressiert werden« (ebd.) 5

Besonders durch die Betonung der Materialität ließe sich auch ein Anschluss an die Praxistheorie formulieren (vgl. Hillebrandt 2015).

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und wie sich Subjekte zu Diskursen in Beziehung setzen. Bührmann und Schneider weisen darauf hin, dass Subjektpositionen innerhalb des Dispositivs verortet werden, während Subjektivierungsweisen »am Rande oder sogar außerhalb des untersuchten dispositiven Bereichs zu platzieren« (ebd.: 94) sind. Die Einordnung resultiert vor allem daraus, inwiefern das Subjekt sich die »gesellschaftlich hegemoniale[n] Subjektformierungen« erfolgreich aneignet oder diese ablehnt und sich widerständig positioniert (ebd.). Darüber hinaus ist zu betonen, dass einzelne Subjekte oder Gruppen mit bestimmten Positionen ihrerseits auf Diskursformationen einwirken können. Zusammenfassend können in Anlehnung an Foucault vier Absichten formuliert werden, die sich Bührmann und Scheider vom vorgeschlagenen Analyseverfahren der Dispositive versprechen. Das erste Anliegen besteht darin, Dispositive in den Mittelpunkt der Analysen zu stellen und sie als heterogenes Ensemble von unterschiedlichen Elementen zu betrachten und damit die Verbindung einzelner Elemente zu fokussieren und die Relevanz der Macht zu betonen. Das Dispositiv sei eben nicht die Summe seiner Elemente, sondern das Netz zwischen ihnen. Weiterhin ist es das Ziel, diskursive und nicht-diskursive Elemente zu verknüpfen und diese in Hinblick auf die Strategien von Kräfteverhältnissen zu betrachten. Dispositive werden als Konstrukteure von Möglichkeitsräumen gültigen Wissens betrachtet, gleichzeitig sind sie selbst Effekte von Machtbeziehung. Drittens bietet die Dispositivanalyse die Möglichkeit, spezifische historische Situationen zu betrachten und zu erklären, da sie den Wandel der Dispositive systematisch in die Untersuchung einbezieht. Viertens werden durch die Fokussierung auf den Dispositivbegriff neben dem Diskurs auch Praktiken, Institutionen, Objektivation und Subjekte als Bestandteil der Machtstrategie systematisch betrachtet, was die besondere Anschlussfähigkeit an meine Forschungsfragen ausmacht. Damit kann das komplexe Feld der Geburt vielschichtig betrachtet werden und beschränkt sich nicht nur auf diskursive Formationen im Sinne von Formationen, die an der Wissensproduktion beteiligt sind. Zusätzlich können durch die differenzierten Begriffe der Subjektivationen, Subjektpositionen und Subjektivierungsweisen Subjekte in das Zentrum der Forschung gerückt werden. Ziel der Forschungsprogrammatik ist eine »umfassende Rekonstruktion der dispositiven Konstruktion der Wirklichkeit, also der Konstruktion der Wirklichkeit über diskursive und nicht-diskursive Praktiken in ihren sowohl symbolischen wie materiellen Äußerungsformen« (ebd.: 85). Dabei geht es um die Frage, »welche (Wissens-)Elemente aus diskursiv vermittelten Wissensordnungen […] ›wirkliche‹ (und insofern ›machtvolle‹) Effekte zeigen« (ebd.: 152).

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

3.1.2

Dispositivanalyse mit Hilfe von Leitfragen

Der Forschungsstil der Dispositivanalyse zeichnet sich durch mehrere Frageperspektiven aus. Zentrale Fragen fokussieren die Verhältnisbestimmung zwischen den vorgestellten Dimensionen des Dispositivs. Die konkrete Analyse orientiert sich an vier Leitfragen, die je das Zusammenspiel der beschriebenen Elemente akzentuieren. So wird sich damit auseinander gesetzt, wie aus diskursivem Wissen Wirklichkeit wird, wie es zu einer Handlungswirksamkeit im Selbstund Weltbezug kommt und diese wiederum auf den Diskurs zurückwirkt (vgl. Bührmann/Schneider 2008a: 93). Die erste Leitfrage stellt das Verhältnis von diskursiven Praktiken und nichtdiskursiven Praktiken in den Vordergrund, das auch Schneider und Bührmann aufgreifen und systematisch einbeziehen. Neben der traditionell-analytischen Fokussierung der Diskursebene wird die Praxisebene systematisch mit in den Blick genommen und damit die eigenständige Wirkmächtigkeit von nicht-diskursiven Praktiken einbezogen. Die zweite Leitfrage soll das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken mit deren Objektivationen und Subjektkonstitutionen skizzieren. Sie umfasst die Fragen nach Subjektivationen, also den diskursiven Subjektformierungen, -positionierungen und alltagspraktischen Subjektivierungsweisen. Die dritte Leitfrage befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Diskurs, nichtdiskursiven Praktiken und den symbolischen sowie materiellen Objektivierungen und der Machteinwirkung der Objektivationen auf den Diskurs und die Subjekte. Vergegenständlichungen des Diskurses werden als Objektivationen erfasst. Die Betrachtung der Objektivationen umfasst die »eingelassenen Wissensformen und Handlungsskripte ihres ›rechten Gebrauchs‹« (ebd.: 103), in ihnen manifestieren sich Deutungen. So entfalten auch sie ihre eigene Wirkmächtigkeit. Den sozialen Wandel fokussiert die letzte Leitfrage. Hier stehen die historischen Gegebenheiten des Dispositivs und deren Folgen im Vordergrund, Tendenzen des Wandels werden einbezogen. »Dispositive […] stellen institutionelle Antworten auf bestimmte gesellschaftliche Problemlagen dar und produzieren selbst gesellschaftlichen Wandel« (ebd.: 105), aus ihnen resultieren sowohl intendierte als auch nicht-intendierte Folgen, die wiederum zu neuen Problemlagen und der Konstitution anderer Dispositive führen können. Nach Bührmann ist die Dispositivanalyse »keine eigenständige Methode oder eine bestimmte methodische Vorgehensweise« (Bührmann 2012: 154f.), sondern Forschungsperspektive und -stil. Darum können verschiedene qualitative und quantitative methodische Instrumente ihre Anwendung finden. Als anschlussfähig werden beispielsweise Beobachtungen oder Artefaktanalysen beschrieben. Innerhalb der Dispositivanalyse wird eine »standardisierte Abfolge von Verfahrensschritten« genauso abgelehnt wie ein »Set an bestimmten methodischen

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Die unbekannte Geburt

Verfahren«, um die »Flexibilität im Forschungsdesign« nicht zu unterlaufen (Bührmann/Schneider 2008a: 84). Bührmann und Schneider beschreiben eine re-konstruktive Forschungslogik als methodologische Grundlage. Die re-konstruktive Analytik ist mehr als das rekonstruktive Verstehen, weil sie sich auch der*dem Verstehenden widmet. Diese*r ist »immer zugleich auch selbst Teil des (Re-)Konstruktionsprozesses« (ebd.). Folglich ist es als Forscherperson von besonderer Bedeutung, Transparenz herzustellen und selbst »das zu verstehen, was er oder sie zu verstehen glaubt, und wie er oder sie wissen kann, was er oder sie zu wissen meint« (ebd.: 88). Als Forscherin und Frau bin ich in der westlichen Welt in einem spezifischen Medizin- und Bildungssystem sozialisiert, mit einer mentalen Etablierung von Überzeugungen über körperliche, bio-chemische Zusammenhänge und Prozesse. Hinzu kommt eine persönliche Betroffenheit beim Themenbereich der Geburt, die sich auf verschiedene Ebenen erstreckt: Zum einen durch eigene Geburtserfahrungen, kulturelle Deutungen von weiblichen Körpern und Umbruchsphasen sowie die mediale Diskussion um weibliche (reproduktive) Selbstbestimmung. Zum anderen in meiner Position als Tochter, Enkelin und Bekannte von Frauen, die von ihren Geburten berichten. Hinzu kommen vielfältige persönliche Beziehungen mit Hebammen und Frauenärztinnen und der Austausch mit ihnen zur aktuellen Situation der Geburtshilfe in Deutschland. Außerdem spiegelt sich die persönliche Betroffenheit mit der Thematik auch im Standpunkt als soziologische Forscherin, in einer Disziplin, worin eine Soziologie der Geburt, im Gegensatz zur Soziologie des Todes, vor zehn Jahren von Villa, Moebius und Thiessen (2011b: 7) als blinder Fleck beschrieben wurde. Ausgehend von dieser Reflexion des eigenen Standpunktes sind dabei der »epistemologische Bruch mit den Alltagserfahrungen« (ebd.: 85) und der Einbau systematischer Zweifel über alltägliche Gewissheiten und eigene Vorurteile hilfreich. Der ›rekonstruktive‹ Konstruktivismus zeigt Potential und Möglichkeit auf, die Realitätskonstruktion überhaupt erst wirklich werden zu lassen. Er erforscht, wie alltägliches Wissen und Wahrheit, gewohnt unhinterfragte Wahrnehmungsmuster und -kategorien hervorgebracht werden und schließlich als unhinterfragte, quasi ›natürliche‹ Gewissheiten das Handeln der Aktuer(inn)e(n) anleiten (können)« (Bührmann/Schneider 2008b: 130). Aus diesen Überlegungen heraus ist es zentraler Bestandteil der Forschungstätigkeit, den eigenen Standpunkt als Forscherin, die eigenen Vorstellungen und Überzeugungen zu reflektieren und beispielsweise durch die Lektüre anderer historischer und kultureller Geburtskonstruktionen eigene Episteme zu durchbrechen oder aufzulockern. Im Anschluss an die Leitfragen der Dispositivanalyse ergeben sich folgende relevante Fragen: Zum einen stellt sich die Frage, wie sich Geburtsdispositive konsti-

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

tuieren, beziehungsweise welche Geburtsdispositive sich ausfindig machen lassen können. Welches Wissen und welche Wahrheiten über Geburt werden im Diskurs verhandelt? Was sind hegemoniale Positionen und wo gibt es Widerständigkeiten? Wie gestalten sich Subjektpositionen, die an Subjekte normative Vorgaben und Handlungsorientierungen herantragen? Welcher Bedeutung haben Objektivationen und nicht-diskursive Praktiken

3.2

Methodisches Vorgehen

Die aufgeführten Fragen sollen im vierten Kapitel bearbeitet werden und beschreiben damit detailliert das dispositive Feld der Geburt. Dazu wurden verschiedene Materialien wie Zeitungsartikel, Artikel in Fachzeitschriften, Filmbeiträge, Geburtsvideos, Ratgeber und Fachliteratur der Geburtshilfe sowie medizinische, hebammenwissenschaftliche, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen über Schwangerschaft und Geburt betrachtet. In einem Seminar entstanden aus diesem Interesse heraus gemeinsam mit Studierenden fünf Ratgeberanalysen, das Vorgehen orientierte sich an der Ratgeberanalyse im Rahmen einer WDA (vgl. Scholz/Lenz 2014). Des Weiteren beziehe ich eigene Betrachtungen medizinischer und hebammenwissenschaftlicher Lehrbücher zu Inhalten über Geburtshilfe, die Verteilung des Seitenumfangs für regelrechte und regelwidrige Geburten, dargestellte Themenbereiche, bevorzuge Begrifflichkeiten, Metaphern und Umschreibungen sowie die Darstellung der Gebärenden ein. Hinzu kamen die Teilnahme an Podiumsdiskussionen und Kongressen der Geburtsmedizin/-hilfe. Die vielfältigen Materialien inspirierten eigene analytische Gedanken zu relevanten Wissensformationen und Machtstrukturen. Die zentralen inhaltlichen Schwerpunkte wurden nach der Logik der Dispositivanalyse zusammengefasst. Ausdrücklich handelt es sich nicht um eine konkrete Analyse eines spezifischen Dispositivs, beispielsweise des hegemonialen bio-medizinischen Geburtsdispositivs. Ein solches Vorgehen würde die Analyse verengen und die marginalen Dispositivformationen sowie die Grenzen des Dispositivs weniger in den Blick nehmen. Vielmehr bemühe ich mich um eine darstellende Beschreibung des dispositiven Feldes der Geburt. Ich konzentriere mich auf die Darstellung der einzelnen Elemente: Diskursformationen, gesellschaftlicher Wandel, Praktiken, Objektivationen und Subjektivationen. Zentral ist es dabei, ihr Zusammenwirken und ihre machtvolle Konstruktion der Wirklichkeit nachzuzeichnen. Dazu orientiere ich mich an den Leitfragen der Dispositivanalyse. Insgesamt ist es von Bedeutung, die Macht-Wissens-Komplexe darzustellen, die Geburten in Deutschland heute prägen und durchdringen. Diese Betrachtungen sind entscheidend, um Subjektivierungsweisen der gebärenden Frauen in Geburtsdispositive einordnen zu können.

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Die unbekannte Geburt

Innerhalb der Darstellung des dispositiven Feldes der Geburt stellt sich vor allem die Frage, wie Frauen darin explizit als gebärende Subjekte adressiert und konstituiert werden. Auf Grundlage dessen gilt es weiter zu fragen, wie sie sich innerhalb des dispositiven Feldes der Geburt positionieren, Geburt körperlich-leiblich wahrnehmen und deuten. Mit dieser Perspektive fokussiere ich die Subjektivierungsweisen und damit die Fragen, wie das Dispositiv zur alltäglichen Wirklichkeit und Realität gerinnt, wie Macht-Wissens-Regime ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Mit dem vorgestellten Forschungsvorhaben öffnet sich die Diskursforschung der Analyse der »eignen Machtwirkungen und damit verbundenen Materialisierungen« (Bührmann/Schneider 2008a: 102). Wenn der »Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch der Biographieforschung« einem »epistemologischen Interesse für die Präsentationsweisen des Selbst weichen« (ebd.), können die Diskursforschung und die Biographieforschung fruchtbar verknüpft werden (vgl. Schäfer und Völter 2009). Dadurch interessieren das Selbstverständnis und Selbstwahrnehmung der Individuen, denn Dispositive bieten ein Wissen, das es Menschen ermöglicht, sich zu sich selbst und der (sozialen) Umwelt in Beziehung zu setzten (vgl. ebd.: 71). Gleichzeitig gilt das Interesse den Zwängen, denen sie sich ausgesetzt sehen, und ihren Widerständigkeiten. Der beschriebenen Frageperspektive nach den Akteur*innen in den Geburtsdispositiven, hier den gebärenden Frauen, wird mit Hilfe von Interviews nachgegangen. Beide Forschungsprozesse, die Betrachtung des dispositiven Feldes der Geburt und die Analyse der Interviews, verliefen gleichzeitig, bedingten und beförderten sich gegenseitig. Im Folgenden beschreibe ich das konkrete methodische Vorgehen bezüglich der Erforschung der Subjektivierungsweisen gebärender Frauen.

3.2.1

Erhebungsmethode

Die gebärenden Frauen, genauer die Subjektivierungsweise gebärender Frauen, stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit, werden sie doch in der Forschung bisher weniger fokussiert und sind zugleich die zentralen Akteurinnen bei der Geburt (vgl. Makowsky/Schücking 2013). Wie oben bereits aufgezeigt, kann das Subjekt nicht nur als vom Diskurs determinierte*r Akteur*in verstanden werden, vielmehr bewegt es sich in »einem komplexen Spannungsfeld von diskursiven Apellen und Anforderungen der alltäglichen Lebensführung, daraus generier[t] [es] unterschiedliche […] Aneignungen und Stellungnahmen zu den […] Subjektpositionen« (Keller 2008: 103). Der methodisch-praktische Zugang erfolgt über Interviews mit Frauen und die Rekonstruktion von Falldarstellungen. Er bietet dadurch einen Zugang zu subjektiven Sichtweisen und Wahrnehmungen, subjektiven Wissensvorräten und Relevanzsystemen und damit auch zu Subjektivierungsweisen. Die Analyse von Interviews soll zeigen, welche »Wissensvorräte als biographisch relevant gel-

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

ten können und wie die subjektiven Wissensvorräte der biographischen Eigenlogik entsprechend angeeignet bzw. ausgebildet werden« (Correll 2010: 84f.). Durch die Interviews lassen sich Bruchstücke dispositiver Subjektpositionen und kultureller Deutungsangebote ausfindig machen, auf die sich die Interviewteilnehmerinnen beziehen. Methodisch verknüpfe ich episodische und problemzentrierte Interviews (vgl. Helfferich 2009: 36). Die Interviews zielten auf eine Erzählgenerierung bei gleichzeitiger Themenzentrierung mit Hilfe eines Leitfadens und sichern damit Offenheit und Theoriegeleitetheit. Durch den Einsatz eines sozio-demographischen Fragebogens wurden nach dem Interview zentrale Sozialdaten ermittelt. Im Postskript finden sich Aufzeichnungen zu Gesprächssituation und -schwerpunkten, Auffälligkeiten, Kommentare, Anmerkungen und erste Analyseideen (vgl. Witzel 2000: 4). Die Transkripte der Tonaufnahmen bildeten das Basismaterial für die weiteren Analysen. Mit der Durchführung von zwei Interviews pro Frau, jeweils vor und nach der Geburt, sollte eine mögliche Differenz zwischen den Vorstellungen von Geburt und dem individuellen Erleben und Deuten der konkreten Geburt untersucht werden. Das erste Interview war ab der 34. Schwangerschaftswoche angesetzt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Schwangere im dritten Trimenon, was oftmals mit einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Thema Geburt einherging (vgl. Hellmers 2013; Neuhaus 2000). Die Schwangere war im Mutterschutz und besuchte eventuell einen Geburtsvorbereitungskurs. Zu diesem Interviewtermin wurden neben Fragen zur Vorbereitung auf und zu Vorstellungen über Geburt auch solche zur Biographie gestellt. Das zweite Interview erfolgte circa sechs Wochen nach der Geburt, die Eindrücke der Geburt waren sehr präsent und eine Kernnarration zum Thema Geburt entwickelte sich. Es wurden Fragen nach dem momentanen Befinden, persönlichen Erleben der Geburt, Geburtsmodus, Einsatz von Technik und Medikamenten sowie der Bedeutung von Hebammen, Ärzten*innen, Partner*in oder anderen Familienmitgliedern gestellt. Das Ziel bestand in der Generierung einer Narration, in der die Interviewpartnerinnen die genannten Bereiche selbst ansprachen. Bei den Themen Schmerz, Selbstbestimmung oder Gewalterfahrungen während der Geburt wurde offen danach gefragt, inwiefern sie für die Frauen eine Relevanz besaßen oder überhaupt als zutreffend empfunden wurden.

3.2.2

Sample

Ausgehend von einer Pluralität der Lebens- und Geburtsformen wurden Frauen aus verschiedenen sozialen Milieus und unterschiedlicher Herkunft (bezüglich ländlicher und urbaner Regionen, alter und neuer Bundesländer) zu ihren Vorstellungen über die ›richtige‹ Geburt, deren Umsetzung und dem (gewählten) Geburtsmodus

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befragt. Ihr persönliches Erleben und Deuten der Geburtssituation wurde sequentiell rekonstruiert. Die Auswahl der Fälle orientierte sich am Theoretical Sampling der Grounded Theory (Glaser/Strauss 2010: 53) und eigenen strukturellen Vorüberlegungen. Es sollten möglichst unterschiedliche Interviewpartnerinnen in die Analyse einbezogen werden, um marginale Positionen einzubeziehen und so Widerständigkeiten oder Momente des Wandels aufzuspüren. Der Fallkontrast bestand dabei vor allem in der Wahl des Geburtsortes. Die erste Interviewpartnerin war eher im hegemonialen bio-medizinischen Geburtsdiskurs verankert, die sich im Vertrauen auf das System des Krankenhauses für eine Geburt in selbigem entschied. Die nächsten Fälle sollten hierzu einen starken Kontrast bilden und so entschied ich mich für Interviews mit zwei Alleingebärenden, die ohne professionelle Unterstützung ihre Kinder zu Hause auf die Welt brachten. Das Setting der Alleingeburt stellt statistisch ein sehr kleines Randphänomen dar, bildet aber gleichzeitig den stärksten Kontrast zum Normalentwurf der Klinikgeburt. Dadurch ist es besonders geeignet, die konstituierende Kraft des Diskurses zu untersuchen (vgl. Butler 2016: 121). Es schloss sich die Auswahl weiterer Interviewpartnerinnen aus verschiedenen sozialen Kontexten und mit unterschiedlichen Geburtsvorstellungen an. Besonders Frauen, die nicht im bio-medizinischen Diskurs verortet sind oder einen alternativen Geburtsort zum Krankenhaus wählen, haben durch ihr abweichendes Verhalten eine Begründungs- und Erklärungspflicht, während die Entscheidung der Frauen, die im Krankenhaus entbinden, nicht begründungspflichtig ist und als Normalität nicht hinterfragt wird. So entstand zwischen 2015 und 2017 eine vielfältige Materialbasis, bestehend aus 18 Interviews mit neun Frauen kurz vor und nach der Geburt. Das Sample umfasst eine Geburt im Geburtshaus und eine gewünschte, aber nicht durchgeführte Geburt im Geburtshaus, zwei Alleingeburten und sechs Krankenhausgeburten, Erst- und Mehrgebärende, Akademikerinnen und (Fach-)Arbeiterinnen. Da im ersten Interview bereits nach persönlichen Geburtserfahrungen gefragt wurde und einige Frauen bereits mehrfach Kinder zur Welt gebracht haben, umfasst das Sample insgesamt 17 Geburtserzählungen.

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

Tabelle: Überblick über das Sample Name

Alter

Beziehungsstand

Geburt

Art der Geburt

Herkunft

Carmen

33

verheiratet

2. Kind

Geburtshaus

West

Freya

27

verheiratet

3. Kind

Alleingeburt

West

Jelena

30

Partnerschaft

1. Kind

Krankenhaus

West

Johanna

32

verheiratet

1. Kind

Krankenhaus

Ost

Lenka

28

Partnerschaft

1. Kind

Krankenhaus

Ost

Michaela

35

Partnerschaft

1. Kind

Krankenhaus

West

Nadine

29

Partnerschaft

2. Kind

Krankenhaus (Wunsch Geburtshaus)

Ost

Sabina

34

verheiratet

4. Kind

Alleingeburt

West

Stefanie

27

verheiratet

2. Kind

Krankenhaus

Ost

3.2.3

Auswertungsmethode

Grundsätzlich erfolgte die Materialanalyse in Anschluss an die Grounded Theory Methodology (GTM), die Anselm Strauss und Barney Glaser (2010) in den 1960er Jahren in Abkehr vom normativen Forschungsparadigma entwickelten. Sie machten es sich zum Ziel, die Theorien aus dem Material zu entwickeln und nicht Theorien am Material zu verifizieren oder falsifizieren. In einem zyklischen Wechselspiel aus Fallauswahl, Datenanalyse und Theoriebildung sowie den Schritten des offenen, axialen und selektiven Kodierens verdichtet sich die Analyse und führt zur Generierung von Theorien mittlerer Reichweite. Eine solcherart generierte Theorie soll sich gut ›handhaben lassen‹ und auch für Lai*innen verständlich sein, was im vorliegenden Fall besonders für betroffene Frauen und Geburtshelfer*innen ohne Soziologiestudium von Bedeutung ist. Forscher*innen sollten innerhalb dieser Forschungslogik nur an die Theorien anderer Soziolog*innen anknüpfen, wenn sie innerhalb des Forschungskontextes brauchbar sind (vgl. Glaser/Strauss 2010: 13f.). Glaser und Strauss betonen, dass die Entwicklung einer neuen Theorie aus dem Material heraus in Isolation von alten, tradierten Theorien erfolgen soll (ebd.: 14). Das vorgestellte Forschungsprojekt nimmt seinen Ausgang allerdings in den Grundannahmen der Diskurstheorie Foucaults und betrachtet Geburt und die dispositive Verortung gebärender Frauen aus ebenjener theoretischen Perspektive. Die besondere Herausforderung6 besteht in der Verbindung zwischen der indi6

Während in der GTM der Kodierprozess durch Offenheit geleitet ist, interessieren aus diskurstheoretischer Perspektive an dem Interviewmaterial vor allem antizipiertes Wissen,

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Die unbekannte Geburt

viduellen Ebene der Interviews, der Diskurstheorie und der Forschungslogik der GTM. Das konkrete methodische Vorgehen für eine erste Erschließung und Systematisierung des Datenmaterials orientiert sich des Weiteren maßgeblich an den Vorschlägen von Andreas Witzel (1985, 2000): Für die Interviewpartnerinnen wurden einzelne rekonstruktive Fallanalysen, Dossiers und eine Chronologie der Geburtserzählung verfasst. Dieser erste Schritt gründet in der zentralen Stellung der Geburtserzählungen in den Interviews. Diese sind durchaus standardisierte und chronologisch geordnete Erzählungen, die sich im Laufe der Zeit zu einer Kernnarration verdichten (vgl. auch Colloseus 2017). Frauen werden in unterschiedlichen Kontexten dazu aufgefordert, diese Geschichte zu erzählen. Strukturiert ist sie durch Uhrzeiten und die Angabe objektiver Daten: Abstand und Länge der Wehen, Öffnung des Muttermundes oder die Einordnung des Erlebens in das Phasenmodell der Geburt. Um diese Narration fallspezifisch fassen zu können, war es von großer Bedeutung, eine Chronologie und teils Parallelität der Ereignisse mit Uhrzeiten und wiedergegebenen Diagnosen in einer kurzen schriftlichen Zusammenfassung festzuhalten. In den konkreten Analysekapiteln spielt diese Chronologie dann, außer bei exemplarisch ausgewählten Fällen, keine Rolle und wird nicht dargestellt, um sich auf die herausgearbeiteten Zusammenhänge und die Entfaltung der analytischen Gedanken konzentrieren zu können. Es wurden fallspezifisch zentrale Themen identifiziert. Um sie im systematischen Fallvergleich zu Kategorien höheren Abstraktionsgrades kontinuierlich weiter zu entwickeln, half ein verstärkter Rückgriff auf das Kodierverfahren und die Methode des ständigen Vergleichens der GTM. Die GTM stellt keine lineare Abfolge methodischer Techniken bereit, vielmehr handelt es sich bei der Analyse um »einzelne Etappen« die weder als »distinkt«, noch »in einer festen Sequenzialität aufeinander folgend zu verstehen sind« (Strübing 2014: 20). Das offene, axiale und selektive Kodieren wurde von Strauss und Corbin als dreistufiger Prozess ausgearbeitet (vgl. Strauss/Corbin 1996: 43ff.). Alle Teilprozesse begleiten das Ziehen von Vergleichen und das unentwegte Stellen von (Analyse-)Fragen sowie das Schreiben von Memos. Das Ziel des offenen Kodierens besteht im Aufbrechen der Daten und Extrahieren einzelner Phänomene. So entwickeln sich erste Konzepte und werden zu analytischen Kategorien mit ihren Eigenschaften und Dimensionen7 verdichtet.

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Deutungen, die Vernetzung mit Elementen des Dispositivs oder Verkörperungen von Diskursen. Die Herausforderung besteht darin, die theoretischen Grundannahmen dem Material nicht unbedarft überzustülpen. Eigenschaften sind dabei »Attribute oder Charakteristika« einzelner Kategorien. Die Dimensionen beschreiben die »Anordnung von Eigenschaften auf einem Kontinuum« (Strauss/Corbin 1996: 43).

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

Durch die Leitfragen zur Interviewführung, Vorüberlegungen und Gedanken im Anschluss an die Dispositivanalyse wurden bestimmte Kategorien schon vor der eigentlichen Analyse identifiziert. Die theoretischen und praktischen Vorannahmen wirkten sich hinderlich bei dem Analyseprozess aus, da sie dem Material aufgesetzt wurden. Dieses Problem beschreibe ich hier exemplarisch am Beispiel unterschiedlicher Praktiken der Geburtsvorbereitung, nach denen explizit in den Interviews gefragt wurde. Als theoretisch vorgefertigte Kategorie wurde sie am Anfang der Analyse nur noch mit geeignetem Datenmaterial belegt und in ihrer Ausprägung untersucht. Bald stellte sich jedoch heraus, dass die so gewonnene Kategorie das Phänomen nicht angemessen analytisch fassen und sich auch nur schwerlich zu den anderen Kategorien in Beziehungen setzten lassen konnte. Mit Hilfe des offenen Kodierens gelang es, das Material und die Kategorie wieder aufzubrechen, indem immer wieder »theoriegenerierende Fragen« (Boehm 1994: 127) gestellt wurden: •

• • • • • •

»Was? Worum geht es hier? Welches Phänomen wird angesprochen? Wer? Welche Personen, Akteure sind beteiligt? Welche Rollen spielen sie dabei? Wie interagieren sie? Wie? Welche Aspekte des Phänomens werden angesprochen (oder nicht angesprochen)? Wann? Wie lange? Wo? Zeit, Verlauf und Ort Wieviel? Wie stark? Intensitätsaspekte Warum? Welche Begründungen werden gegeben oder lassen sich erschließen? Wozu? In welcher Absicht, zu welchem Zweck? Womit? Mittel, Taktiken und Strategien zum Erreichen des Ziels«

Durch die Rückkehr zum offenen Kodieren gelang es, das Phänomen der Geburtsvorbereitung unter dem Aspekt der Informationsgewinnung, im Sinne einer Wissensaneignung, neu zu akzentuieren. Die Generierung von unterschiedlichen Wissensformen ist besonders angesichts einer bevorstehenden unbekannten Situation von großer Bedeutung und erleichtert die Einordnung des bevorstehenden Ereignisses, erzeugt Sicherheit und eröffnet potenzielle Handlungsoptionen. Beim axialen Kodieren handelt es sich um einen Analyseprozess, in dem Kategorien zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ein »paradigmatisches Modell«8 (Strauss/Corbin 1996: 92) kann hierbei als Hilfskonstruktion hinzugezogen werden. So werden in Rückkopplung zur eigenen Fragestellung »Relevanzentschei-

8

Strauss und Corbin schlagen ein »handlungstheoretisch-interaktionistisch ausgerichtet[es]« (Scholz/Lenz 2014: 71) Kodierparadigma vor, das zentrale Phänomene, Bedingungen, Konsequenzen, Handlungs- und Interaktionsstrategien sowie den Kontext und intervenierenden Bedingungen umfasst und die einzelnen Kategorien in dieses Schema einordnet.

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Die unbekannte Geburt

dungen getroffen« (Strübing 2014: 21), die die einzelnen Phänomene in den Fokus rücken. Auf diese Weise werden »Daten auf neue Art wieder zusammen [gesetzt], indem Verbindungen zwischen einer Kategorie und ihrer Subkategorie ermittelt werden« (Strauss/Corbin 1996: 76). Die daraus entstehenden Hypothesen werden immer wieder am Material überprüft, so gewinnt die Theorie an Dichte und Variationsbreite. Im Analyseprozess wurden kontinuierlich geeignete Kodiermodelle entworfen, um das Konzept der Dispositivanalyse einzubeziehen.

Abbildung 3: Geburtsdispositive und ihre Subjektivationen

Zentral sind die Elemente des Dispositivs, in denen sich Diskursformationen, Objektivationen, Subjekte und Praktiken konstituieren und ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Sie bilden den gesellschaftlichen Überbau und das dispositive Feld, in das die Narrationen der einzelnen Interviewpartnerinnen eingebettet sind und den Kontext der Erzählungen bilden. Dispositive mit ihren unterschiedlichen Subjektpositionen bilden damit einen Rahmen für die Subjektivierungsweisen. Die konkreten Individuen wiederum befinden sich in komplexen Macht-Wissens-Gefügen, ihre jeweilige Position prägt auch das Wissen, das sie sich über Geburt aneignen oder das bereits als feste Vorstellung verankert ist. Gleichzeitig ist die spezifisch biographische beziehungsweise habituelle Prägung zu berücksichtigen. Entscheidungen bezüglich der Geburtsbegleiter*innen, des Geburtsortes oder des Geburtsmodus sind eng an die aufgeführten Positionen geknüpft. Die Analyse der ein-

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

zelnen Interviews ist in diesem Zusammenhang sehr komplex. Einerseits geht es um eine spezifische Rekonstruktion individueller Entscheidungen, Bewertungen und Deutungen, anderseits soll der subjektive Bezug zum Geburtsdispositiv untersucht werden. Zusätzlich handelt es sich durch die zwei Interviewzeitpunkte um ein dynamisches Material mit Deutungsverschiebungen, was durch den Umstand verstärkt wird, dass mehrere der befragten Frauen vorher bereits Geburten erlebt hatten. Mit dem selektiven Kodieren gewinnt die Theorie an Abstraktion. Es kommt zu einer Auswahl einer (oder mehrerer) Kernkategorie(n), die das zentrale Phänomen fassen, »um das herum alle anderen Kategorien integriert« (Strauss 1994: 94) und in Beziehung gesetzt werden können. Die Attraktivität der GTM begründet sich darin, den »interessierenden Gegenstandsbereich in den Vordergrund zu rücken und nicht bereits existierende wissenschaftliche Modelle und Theorien« (Boehm 1994: 122). Mit der Verknüpfung des methodischen Vorgehens der Grounded Theory unter den Basisannahmen der Diskurstheorie (speziell der Dispositivanalyse), kann eine Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand gewährleitet werden. Die Analyse des Materials erfolgt im Sinne der GTM zirkulär im ständigen Wechselspiel zwischen Analyse, Beschreibung des dispositiven Felds, Theorie und Methoden, um das Verhältnis von Subjekten und Dispositiven konzeptuell fassen zu können. Aus dem Material heraus wurde im Zuge des selektiven Kodierens nach geeigneten analytischen Brückenkonzepten9 gesucht, die eine gute Verbindung zwischen den Analysen und den Forschungsfragen bilden.

3.2.4

Brückenkonzepte

In der Auswertung des Materials wurden Subjektivationen, Deutungsmuster, Idealbilder, Prozesse der Entscheidungsfindung und subjektive Wissensvorräte rekonstruiert. Um die Subjektivierungsweisen analytisch fassen zu können, bewerte ich die Fokussierung auf Subjektpositionen und Deutungsmuster nach einer Phase des offenen und axialen Kodierens in ihren individuellen Aneignungen als zielführende Brückenkonzepte. In Auseinandersetzung mit den theoretischen und analytischen Gedanken für eine Verhältnisbestimmung zwischen Subjekt und Diskurs, der verdichteten Analyse und der Fokussierung auf die Forschungsfragen bilden sie die Grundlage für die herausgearbeiteten Schlüsselkategorien. 9

Brückenkonzepte für die Analyse von Subjektivierungsprozessen bilden der Zu-gang über Deutungsmuster (vgl. Schetsche/Schmied-Knittel 2013; Fischer/Tolasch 2017), die Untersuchung der jeweiligen Techniken des Selbst (vgl. Pfahl et al. 2015; Truschkat 2017), Subjektpositionen (vgl. Keller/Bosančić 2017) und Subjektpositionierungen (vgl. Spies 2017), Anrufungen (vgl. Correll 2010) oder die Verwendung von Metaphern und spezifischer Aussagepraktiken.

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Die unbekannte Geburt

Individuelle Deutungsprozesse angesichts kultureller Deutungsmuster von Geburt bilden einen Knotenpunkt der Analysen. Deutungsmuster lassen sich als spezielle »Formkategorie sozialen Wissens« (Schetsche/Schmied-Knittel 2013: 28) verstehen. Sie stellen »Interpretationsschemata oder -rahmen [dar], die für individuelle und kollektive Deutungsarbeit im gesellschaftlichen Wissensvorrat zur Verfügung stehen« (Keller 2007: 104). Deutungsmuster verknüpfen dabei Bedeutungselemente zu einer Deutungsfigur, welche die Wahrnehmung organisiert, zur Handlung anleitet und Sinn stiftet (ebd.: 106ff.; Keller 2008: 240). Das soziale Handeln wird damit in Form von Deutungsmustern, »alltagsweltlichen Wissensbeständen« (Lüders/Meuser 1997: 67) und Normen geleitet.10 Durch das Konzept des Deutungsmusters sind »kollektive Wissensbestände« bedeutsam, »in denen abstraktes Wissen direkt mit Situationsdeutungen und konkreten Handlungsanleitungen verknüpft« sind (Schetsche/Schmied-Knittel 2015: 31). Die Triade zwischen Wissen, Deuten und Handeln erklärt, wie »Diskurse praktisch werden« und sich in Dispositiven manifestieren (ebd.: 32.). Deutungsmuster sind als »zentrale handlungsleitende Form« (ebd.: 33) diskursiven Wissens zu verstehen. Beim Konzept des Deutungsmusters handelt es sich um ein ›Brückenkonzept‹, das gerade erlaubt, den Weg von der Diskursebene zur alltäglichen Deutungs- und Lebenspraxis zu gehen bzw. die Verflechtungen, Adaptionen, Aneignungen und Zurückweisungen im Deutungsmustergebrauch hier und da in den Blick zu nehmen (Keller 2014: 155). Für eine umfassende Deutungsmusteranalyse wird eine Untersuchung der »alltäglichen Umsetzung der Deutungsmuster« (ebd.: 41) empfohlen, indem Handlungspraktiken, die in den Deutungsmustern enthalten sind, und die sich daraus ergebenden Institutionalisierungen untersucht werden. Laut Schetsche und Schmied-Knittel (2015) geht einer Analyse der individuellen Aneignung von Deutungsmustern immer eine textbasierte Analyse des diskursiven Deutungsmusters voraus (vgl. ebd.: 40). Nach der »Introzeption durch die Subjekte entstehen individuelle Ausprägungen« (ebd.: 39). Das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit liegt speziell in der Individualform der Deutungsmuster in den Interviews. Dadurch, dass Deutungsmuster sich durch Latenz auszeichnen und den Subjekten reflexiv nicht zugängig sind, sind sie »soziologisch so schwer zu rekonstruieren«11 10

11

Grundmerkmale kultureller Deutungsmuster finden sich in ihrem »funktionalen Bezug zu objektiven Handlungsproblemen« und ihrer »relativen Autonomie« (Lüders/Meuser 1997: 59). Sie sind »kollektive Sinngehalte«, besitzen »normative Geltungskraft« und befinden sich auf einer »latenten, tiefenstrukturellen Ebene« die »nur begrenzt reflexiv verfügbar« (ebd.) ist. Maßgeblich prägte Ulrich Oevermann den Begriff des Deutungsmusters innerhalb der Objektiven Hermeneutik. Dieses wird als »subjektorientiertes Schematakonzept« beschrieben, das den »Konstitutionszusammenhang zwischen einer objektiven äußeren Realität und de-

3. Methodologie und Methode: Subjektivierungsweisen erforschen

(ebd.: 40), weswegen eine Analyse von öffentlichen und relevanten Dokumenten als Diskursfragmente vorzuziehen sei. So können im vorliegenden Interviewmaterial mit Hilfe des Vergleichs unterschiedlicher Fälle und im zirkulären Rückgriff auf die Betrachtung des dispositiven Feldes der Geburt nur Dimensionen der Deutungsmuster der Situation der Geburt herausgearbeitet werden. Des Weiteren ist es möglich zu erarbeiten, wie der Deutungsprozess stattfindet, was ihn begründet, auf welche Wissensformen zurückgegriffen wird und wo es zu individuellen Veränderungen der Deutung von Geburt kommt. So gelingt es zwar nicht, diskursive Deutungsmuster herauszuarbeiten, aber deren individuelle Aneignung und Ausprägung in den Blick zu nehmen. Deutungsmuster interessieren aus dieser Perspektive nicht nur als Wissensbestände zur Organisation der Wahrnehmung, sondern vor allem in ihrer konkreten Wirkmächtigkeit. Ein weiteres Brückenkonzept formiert sich im Anschluss an die Unterscheidung Schneiders und Bührmanns (2008a: 68ff.) zwischen Subjektpositionen und Subjektivierungsweisen. Subjektpositionen bezeichnen normative Vorgaben und Handlungsorientierungen, die das Subjekt adressieren. Sie spiegeln allerdings nicht die situativen Handlungen und Deutungen (vgl. Keller 2012: 100f.), sondern sind an systematische Anrufungen gekoppelt. Sie lassen sich vor allem durch eine textbasierte Diskurs-/Dispositivanalyse ausfindig machen, scheinen jedoch auch in den Interviews auf. Die Interviewpartnerinnen beschreiben, deuten oder reagieren auf Anrufungen oder beziehen sich auf eine disparate Subjektposition als Kontrasthorizont zur eigenen Positionierung, denn »in antagonistischen Auseinandersetzungen konstituieren [sich] beispielsweise Identifikationsangebote für Subjektivierungen – also Subjektpositionen – entlang von Gegensätzen zwischen einem positiv besetzten ›Wir‹ und den ›gegnerischen Anderen‹« (ebd.: 100). Subjektpositionen sind diskursiv konstruiert und als analytische Konstrukte zu werten, die komplementär aufgebaut sein können. In unterschiedlichen Settings können verschiedene Vorstellungen von Subjektpositionen aufeinandertreffen und so Konflikte verursachen. Die Analyse des Datenmaterials dieser Studie zielt vor allem auf die Subjektivierungsweisen der Subjektpositionen, also die eigenen individuellen und situativen Auslegungen, Erfahrungen und Relevanzen (vgl. ebd.: 102). Mit dem vorgestellten Erkenntnisinteresse steht die Leitfrage nach Subjektivationen im Rahmen des Forschungsprogramms der Dispositivanalyse im Fokus der Untersuchung. Gefragt wird also nach dem Verhältnis »von diskursiven, nichtdiskursiven Praktiken (mit deren jeweiligen Objektivationen) und Subjektkonstitutionen« (Bührmann/Schneider 2008a: 100), genauer gesagt: den »alltagspraktischen Subjektivierungsweisen« (ebd.). Deutungsmuster und Subjektpositionen ren kollektiver Deutung durch die handelnden Subjekte« (Schetsche/Schmied-Knittel 2013: 28) fokussiert. Hiervon grenzt sich die wissenssoziologische Reformulierung ab.

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Die unbekannte Geburt

gelten hierbei als Brückenkonzepte. Subjektpositionen vermitteln Akteuren normative Handlungsanweisungen und Positionen, die sie im Dispositiv zu sich selbst und zu anderen einnehmen. Deutungsmuster sind mit Wissen eng verknüpft, sie bieten Deutungen (der Wahrnehmung) und Handlungsanweisungen. Dadurch lassen sich mit ihnen auch nicht-diskursive Praktiken in den Blick nehmen. Weiterhin in es bedeutsam, symbolischen und materiellen Objektivationen und ihre Handhabung anzuvisieren, wie sie in den Interviews dargestellt werden und wie sich der Umgang mit ihnen gestaltet.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Die Natur hat aber den Menschen im Zuge der Evolution nicht gerade bevorzugt, was die Geburt anbelangt. Der aufrechte Gang brachte die Lendenlordose mit sich, wodurch der Durchtritt des Kopfes durch das knöcherne Becken erschwert wurde. Auch die einmalige Zunahme des Gehirnvolumens – zweifelsohne ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Homo sapiens –, als dessen Folge zwangsläufig die Kopfgröße zunehmen musste, führte ihrerseits zu einer Verkomplizierung der Geburt. Die problematische Entwicklung des Geburtsmechanismus beim Menschen ist seit jeher als hartes Schicksal für die Menschheit erkannt worden. ›Unter Schmerzen sollst du gebären‹ ist schon im Alten Testament zu lesen. Schließlich war in früherer Zeit die Geburt auch durch eine ungeheure Mortalität und Morbidität belastet, und es kann zweifelsohne als Aufgabe der Zivilisation verstanden werden, diese ›evolutionäre Erblast‹ zu korrigieren, was im vergangenen Jahrhundert auch tatsächlich eindrucksvoll gelungen ist. (Schneider et al. 2011: 684; Lehrbuch für Geburtshilfe) Überzeugend und wahr erscheinen uns diese verbreiteten Argumente für die medizinische Betreuung von gebärenden Frauen und den Erhalt der Geburtsstationen in Krankenhäusern. Sie erzählen uns eine Geschichte, in der Geburten zu früheren Zeiten gefährlich waren und die Frauen- und Säuglingssterblichkeit ausschließlich Dank der medizinischen Geburtshilfe gesenkt werden konnte. Wir hören, dass die Geburt beim Säugetier Mensch außergewöhnlich kompliziert, schmerzhaft und risikoreich ist. Andererseits ist eine natürliche Geburt ein erstrebenswertes gesellschaftliches Ideal. Während sich 91,3 % der Frauen eine spontane, vaginale Geburt wünschen, erleben weniger als 10 % von ihnen eine interventionsfreie Geburt (vgl. Mundlos 2017: 313). Die Geburt wird in einem umfassenden Spannungsfeld zwischen einem natürlichen Ereignis, das gesunde Frauen bewältigen können, und einer riskanten, unvorhersehbaren Grenzsituation, die sich zwischen Leben und Tod ereignet, betrachtet. Nur die moderne medizinische Geburtshilfe scheint das Risiko bannen zu können. Solche Narrative der Wahrheit und des Fortschritts der Geburtshilfe laden dazu ein, sie mit Hilfe von Foucaults Werkzeugkasten genauer zu betrachten.

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Die unbekannte Geburt

Dieses Kapitel akzentuiert den historischen Wandel und spezifische Umbruchsituationen der sozialen Einbettung von Geburt. Es zeichnet nach, wie die Geburt immer wieder anders diskursiv konstituiert wurde. Wie eine Geburt stattfindet und soziokulturell gerahmt ist, ist eng verzahnt mit der spezifisch historischen und kulturellen Geburtshilfe, also der Betreuung und Begleitung des Geburtsprozesses. Darum rekonstruiere ich die Sozialgeschichte der professionellen Geburtshilfe. Durch den zunächst archäologischen Blick auf die Thematik kann nachgezeichnet werden, wie sich die Geburtshilfe und der Blick auf Schwangerschaft und Geburt in unserem Kulturkreis veränderten. In der Geschichte der Geburtshilfe lassen sich Diskurspraktiken sowie die Verknüpfung von Wissen, Wahrheit und Macht im foucaultschen Sinne darstellen. Exemplarisch gehe ich auf die unterschiedlichen Wissensstrukturen der Hebammen und Mediziner*innen ein. Das Wissen über Geburt und die sich ausbildende Wissenschaft darum sowie die praktische Geburtshilfe prägen die Geburt und das Selbstverständnis der gebärenden Frau wiederum sehr stark. In wissenschaftlichen Spezialdiskursen wird das Wissen erschaffen, das zur Grundlage für zukünftige Praktiken, Selbstwahrnehmung oder die heutige Eltern- und Mütterbildung wird. Neben dem historischen Abriss der diskursiven Formationen im Bereich der professionellen Geburtshilfe, sollen die Körperbilder, traditionelle Rituale und die jeweiligen Vorstellungen über die Aufgabe und Beteiligung der gebärenden Frau im Prozess der Geburt mitgedacht werden. Neben der klassisch diskursanalytischen Fokussierung auf die Generierung und Verhandlung von wahrem Wissen und die daran gekoppelten Machtstrukturen ist ein Spezifikum dieser Arbeit, die Materialisierung des Diskurses und deren inhärente Deutungs- und Wissensstrukturen zu untersuchen. Mit der Hilfe der Dispositivanalyse (vgl. Kapitel 3.1) betrachte ich die einzelnen Elemente von Diskursen, Praktiken, beteiligten Akteur*innen und Objektivationen ebenso wie Umbruchsituationen und sozialen Wandel, der ebenjene Veränderungen hervorruft. Dabei ist es entscheidend zu betonen, dass in diesem Kapitel nicht nur ein einzelnes Dispositiv betrachtet wird, denn das entspricht nicht der Lebensrealität der gebärenden Frauen und anderer Akteur*innen, die am Ereignis der Geburt beteiligt sind. Die soziale Wirklichkeit zeichnet sich durch ein Nebeneinander, aber auch durch eine Hierarchisierung unterschiedlicher Geburtsdispositive aus. Um das dispositive Feld der Geburt analytisch fassen zu können, ergibt sich die folgende Heuristik. Die dominante medizinische Perspektive begreift Geburt als einen biologisch-physiologischen Vorgang, demgegenüber ist die Geburt durch die Sozial- und Kulturwissenschaften als zentraler sozialer und biographischer Prozess definiert. Bedeutsam sind aus dieser Perspektive kulturelle Vorstellungen, Wissen und Rituale rund um die Geburt, die je in einer spezifischen historischen Weise Geburtspraktiken und die Selbstwahrnehmung gebärender Frauen prägen. Die Geburt ist ein Prozess des Lebensbeginns und des Anfangs, bei dem ein Indivi-

4. Das dispositive Feld der Geburt

duum in die Gesellschaft und die Familie eingegliedert wird. Gleichsam ist sie ein bedeutender körperlicher Prozess für die Frau, die diesen Neubeginn vollzieht. Angesichts der zentralen Bedeutung dieses Prozesses, ersuchen »alle Gesellschaften – gleichgültig in welcher Kultur und in welcher historischen Epoche […] Handlungssicherheit« (Bührmann/Schneider 2008a: 138) und Deutungsgewissheit darüber herzustellen, wie menschliches Leben während der Geburt hervorgebracht wird und wie damit umzugehen ist. Folglich ist zu klären, durch welche Wissenspolitiken ›richtiges‹ und ›wahres‹ Geburtswissen erzeugt wird, um Handlungssicherheit und Deutungsgewissheit herzustellen und wie sich diese gesellschaftliche Ordnung der Geburt durchsetzt und wandelt. Dieses wahre Wissen über Geburt prägt maßgeblich die Selbst- und Fremdwahrnehmung der beteiligten Akteur*innen. Das Wahrnehmen der Geburt, »gründet sich nicht in der scheinbaren Faktizität des Gegenständlichen« (ebd.: 139), sondern in deren diskursiver und dispositiver Hervorbringung in Form von Praktiken und Objektivationen. »Diskurse entfalten ihre Machtwirkungen dabei sowohl ›in‹, ›durch‹ als auch ›zwischen‹ den Individuen« (ebd.: 124) in Objektivationen, Praktiken und Subjektkonstitutionen mit ihren je spezifischen Anrufungen und dem als wahr geltenden Wissen. Als wahr gilt in unserem spezifischen historischen Kontext bio-medizinisches Wissen über den biologisch-physiologischen Prozess der Geburt. Die diskursiven Effekte »ermöglichen, erzwingen oder beschränken das konkrete Handeln von Akteuren« (ebd.: 140) und bilden den Rahmen für Handlungsspielräume und Selbstdeutungen. Die dispositivanalytische Forschungsperspektive ermöglicht eine umfassende Rekonstruktion der gesellschaftlichen Ordnung der Geburt und damit des Lebensanfangs »als relationale Machtanalyse« (ebd.: 142) zwischen den verschiedenen Elementen des Dispositivs. Sie fokussiert den Zusammenhang zwischen diskursivem Wissen und »institutionell-vergegenständlichten Praktiken« (ebd.). Sichtbar werden daneben auch »Normierungen für die sozialen Bezüge und die Selbstwahrnehmungen« (ebd.) von einer guten, richtigen, schlechten, gefährlichen oder sicheren Geburt, die sich in jeweiligen Begriffspaaren gegenüber stehen. Im Spannungsfeld zwischen Risiko und Fest des Lebensbeginns wird die Geburt gedeutet. Das (Handlungs-)Problem definiert sich, zumindest in unserem gesellschaftlichen Kontext, indem Geburt als schmerzhaft, risiko- und komplikationsreich und damit als ein aktiv durch professionalisierte Geburtshelfer*innen zu bewältigender Prozess gedacht wird, Geburt erscheint damit als eine »Krisensituation« (Colloseus 2018: 35). Im Folgenden stelle ich die einzelnen Elemente des dispositiven Feldes der Geburt vor. In den einzelnen Unterkapiteln werden die Elemente beschrieben, aufgeschlüsselt und in ihren Verhältnissen und Verbindungen zueinander diskutiert.

61

62

Die unbekannte Geburt

Die Ausgangslage bildet ein archäologischer und genalogischer Blick auf die Thematik der Geburt.

4.1

Diskursformationen

Die kulturelle Einbettung der Geburt ist seit Ende des 18. Jahrhunderts sehr stark durch eine Verwissenschaftlichung und die Professionalisierung der Geburtshilfe geprägt. Die Sozialgeschichte des Hebammenberufs in Europa teilt Böhme (1993: 34f.) grundlegend in vier Phasen ein: Hebammendienst als solidarische Hilfe, Hebammentätigkeit als Amt, als traditioneller und als moderner Beruf. In den letzten 30 Jahren gibt es in Deutschland zusätzlich Bestrebungen nach einer Akademisierung des Hebammenwesens, was sich als fünfte Phase ergänzen lässt. Diese Unterteilung der Entwicklungsphasen dient der Strukturierung für die Betrachtung der Diskursformationen und beschreibt die »zunehmende Diskursivierung« (Bührmann/Schneider 2008a: 137) der Geburt. Neben der Geschichte des Hebammenberufs umfassen sie auch die Transformation des ärztlichen Berufstandes und die Position gebärender Frauen. Von Bedeutung sind darum die Wahrnehmungen und Deutungen der Gebärenden sowie ihr Handlungsspektrum bezüglich der Geburt. Um die Wissensordnung untersuchen zu können, schlägt Böhme (1993: 34) vor, unterschiedliche Wissenstypen auszudifferenzieren und zu analysieren. Es ist demnach sinnvoll, die »Beziehung von Wissensinhalt und Träger«, die Form des Wissenserwerbs und der Wissensgenerierung, Abgrenzungsprozesse und die soziale Bedeutung des Wissens zu betrachten. In der Geschichte der Geburt gab es eine Vielzahl von Umbrüchen und Transformationen, die mit einem starken Wandel der Macht- und Wissensstrukturen einhergingen. Durch die folgende Beschreibung von Phasen und Zeiträumen kann der Eindruck entstehen, dass es einen großen, radikalen ideengeschichtlichen Umbruch von der traditionellen zur modernen Geburt(shilfe) gegeben habe (vgl. Schlumbohm et al. 1998: 13). Diese Sichtweise wäre jedoch verkürzt: Die Transformationen verliefen parallel und teils gegenläufig, die regionalen Unterschiede, die auf der sozioökonomischen Lage der Bevölkerung und ihrer Verortung im ländlichen oder städtischen Bereich beruhen, sind dabei erheblich. Diese Argumentation liegt ganz im Sinne Foucaults Verständnis einer historisch kontingenten Entwicklung, in diesem Fall »eine vielfältige, mannigfach gebrochene und widersprüchliche Geschichte der kulturellen Ordnungen und sozialen Praktiken der Geburt« (ebd.). Erst im 20. Jahrhundert kam es zu einer sehr schnellen, abrupten und fast vollständigen Transformation, die ihren Ausgang in den Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts nimmt.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Die Basis für diese Beschreibung bilden die historischen Betrachtungen Babara Dudens in »Geschichte unter der Haut« (1991), Jacques Gélis‹ »Das Geheimnis der Geburt« (1989b) und Eva Labouvies »Andere Umstände« (2000), außerdem Sandra Beaufaÿs‹ Diskursanalyse zur »Professionalisierung der Geburtshilfe« (1997).

4.1.1

Geburt im Kreis einer machtvollen Frauengemeinschaft

»Die moderne medizinische Wissenschaft hat den Körper der Frau in einzelne Teile zergliedert und diesen wiederum biologische, soziale und kulturelle Aufgaben und Werte beigemessen«, konstatiert Labouvie (2000: 9) und weitere Autor*innen teilen diese Ansicht (vgl. Duden 1991, Martin 1989). Wie aber ist die vormoderne Vorstellung des Frauenkörpers zu denken? Über das Mittelalter bis Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Körper als Einheit und als Teil des subjektiven Selbst gedacht. Nicht medizinische und technische Maßstäbe, sondern kulturelles Wissen, gemeinsame Bilder, soziokulturelle Wahrnehmungsmuster, Selbsterfahrungen und subjektive Empfindungen prägten die körperliche Wahrnehmung (Labouvie 2000: 9). Unter drei Aspekten wird die traditionelle Geburtshilfe im Folgenden genauer betrachtet. Erstens ist die soziale Position der Frauengemeinschaft rund um Geburt als machtvoll zu betrachten. Zweitens steht die gebärende Frau im Zentrum dieser spezifischen Geburtshilfe. Ein dritter Aspekt umfasst die kulturelle Einbettung von Unsicherheit, Schmerz und Angst angesichts der Geburt mit Hilfe spezifischer Praktiken, Traditionen und Rituale.1 Die Frauen und Hebammen hatten eine machtvolle soziale Position inne, die sich durch ihr umfangreiches Wissen und den exklusiven Zugang zum gesamten reproduktiven Bereich begründete. Familienplanung, Geburt, die Feststellung einer Schwangerschaft, die Erörterung der Vaterschaft bei einer unehelichen Schwangerschaft, Geburten oder Praktiken der Abtreibungen lagen im alleinigen Zuständigkeitsbereich der Frauen.2 Nicht nur das differenzierte Wissen über körperliche Zusammenhänge und Vorgänge, sondern auch der praktische Umgang mit reproduktiven Themen bildete den kollektiven weiblichen Wissensvorrat, der über Jahrhunderte mündlich und praktisch von einer Generation zur nächsten überging. Die Frauengemeinschaft bezeichnet Labouvie (2000: 103) als eine solidarische Not- und Hilfsgemeinschaft (vgl. auch Gélis 1989: 157ff.). In ihr galt eine Gruppe von 1

2

Auch wenn sich dieser Abschnitt auf Frauengemeinschaften des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit in Europa bezieht, lassen sich solche weiblichen Gruppierungen und ihre gesellschaftliche Position auch in anderen Epochen und Kulturen ausfindig machen (vgl.: Kuntner 2000; Nadig 2011). Die Beantwortung richterlich relevanter Fragen nach einer Totgeburt oder einem Kindsmord, der Feststellung einer verborgenen Schwangerschaft oder der Jungfräulichkeit oblag ebenso der Gemeinschaft der verheirateten Frauen.

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Die unbekannte Geburt

Haushaltsvorsteherinnen als Trägerin der weiblichen Fest- und Unterstützungskultur sowie des Brauchtums rund um Fruchtbarkeit und Geburt. Die Hierarchisierung der Frauengemeinschaft erfolgte entlang des sozialen Status als verheiratete oder unverheiratete Frau.3 Im dörflichen Bereich war die Zusicherung dieser Unterstützungs- und Hilfsleistung unabhängig davon gegeben, ob es sich um die Geburt eines ehelichen oder unehelichen Kindes handelte. Auch fremden oder außenstehenden Frauen in widrigen Umständen, denen durch Krieg und Wanderschaft Isolation und Gefahr während der Geburt drohten, gewährte die Frauengemeinschaft, rechtlichen Verboten zum Trotz, Schutz und Unterstützung während der Geburt. Dieser Umstand betont die gegenseitige Verpflichtung unter den Frauen, bei der jede einmal als Helfende und Empfangende an der Reihe war. Aus der Frauengemeinschaft hoben sich besonders talentierte und geeignete Frauen hervor, als ›weise Frauen‹, ›sage femme‹, ›bonne mère‹ oder Hebammen bezeichnet (vgl. Böhme 1993: 35). Sie erwiesen sich auf besondere Weise als geeignet und hatten sich in der Frauengemeinschaft verdient gemacht und als fähig erwiesen. Bei den Hebammen handelte es sich meist um ältere Frauen, die durch langjährige Erfahrungen ein breites Wissen zu Reproduktionsprozessen und Geburt hatten, die eigene Erfahrung des Gebärens war unerlässlich (vgl. ebd.: 35), wenngleich sich auch Aufzeichnungen über kinderlose Hebammen finden lassen (vgl. Gélies 1989: 166). Weiterhin war das Amt und später der Beruf der Hebamme vor allem in ärmeren Milieus anzutreffen, wahrscheinlich weil es sich um eine anstrengende und zeitaufwändige Tätigkeit handelte (vgl. ebd.: 169). Die Position der Hebamme war stets ambivalent, betreute sie gleichzeitig den Lebensbeginn und das Lebensende als Totenwäscherin. Sie befand sich in einem Spannungsfeld, in dem sie sich einerseits mit den ›unreinen‹ Aspekten des Lebens und der Weiblichkeit beschäftigte und gleichzeitig ein respektvolles Amt innehatte (Beaufaÿs 1997: 29). Die notwendigen Kompetenzen wurden in der Praxis erworben, durch die eigene Erfahrung des Gebärens, des Zuschauens und des Begleitens weiterer Geburten innerhalb der Frauengemeinschaft (vgl. ebd.: 27; Böhme 1993: 35), aber auch über somatisches Erspüren und Wahrnehmen, den mündlichen Austausch sowie über das lebensnahe Erlernen von spezifischen Praktiken. Die Vermittlung des notwendigen Wissens erfolgte innerhalb von Traditionen und Ritualen, es umfasste beständiges Wissen über Reproduktion, »Kompetenzen, Riten und Institutionen« (ebd.: 35) und spezifische Handgriffe.

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Mit ihrer Heirat waren die Frauen Teil der Frauengemeinschaft und damit der Hilfs- und Festgemeinde rund um die Geburt. Folglich erlebten Frauen in manchen Regionen bereits vor der ersten eigenen Geburt diesen Prozess, indem sie aktiver Teil der Frauengemeinschaft waren und an der Geburt anderer Frauen teilnehmen konnten.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Geburtsbeschreibungen des 16. bis 18. Jahrhunderts legen nahe, dass neben Hebammen, auch Wehemütter und assistierende Dörflerinnen »sich mit den erforderlichen Handgriffen und Wendungen bei ›unnatürlicher‹ Lage des Kindes auskannten« (Labouvie 2000: 121). Die Grenze zwischen Laiinnen und Hebammen war, soweit überhaupt vorhanden, fließend. Das Geburtsgeschehen war eine lebensnahe Erfahrung, ob als Gebärende oder Unterstützerin, und damit ein wichtiger Bestandteil der weiblichen Lebenswelt. Die Geburtshilfe forderte den Geruchs-, Gehör- und Tastsinn auf vielfältige Weise, nicht zuletzt das Gespür für die Einschätzung des Verlaufs der Geburt und den Zustand der Gebärenden war von entscheidender Bedeutung. Außerdem forderte sie Kraft zum Stützen oder Heben der Frau sowie Geduld. Nicht zu unterschätzen ist des Weiteren die kommunikative Fertigkeit für die Koordination der immerwährenden Verständigung zwischen Hebamme, Helferinnen und Gebärender (ebd.: 125). Aus diesen Darstellungen kann geschlussfolgert werden, dass Geburt ein öffentliches Ereignis in der Frauengemeinschaft war und auch in dieser festlich begangen wurde. Die Familie, im Sinne einer Kernfamilie mit dem Partner, war hingegen zweitrangig. Die Anwesenheit von Männern bei der Geburt ist insgesamt selten dokumentiert (vgl. Labouvie 2000: 107f.; Gélies 1989: 222f.). Ihre Aufgaben und Handlungen bestanden in Hilfstätigkeiten oder der organisatorischen Unterstützung (vgl. Ulrich 1998: 34f.). Weiterhin hatten sie eine spezielle Rolle bei der Aufnahme des Kindes in die Gemeinschaft und der öffentlichen Registrierung (Labouvie 2000: 106) und fanden einen symbolischen Platz4 bei der Geburt (Loux 1998: 61ff.). Andere männliche medizinische Heilspersonen, wie Ärzte, Bader und Chirurgen, standen nicht zur Verfügung und wurden bis zum Beginn des 19. Jahrhundert in Ausnahmefällen zur Geburt gerufen. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts holte sie die Frauengemeinschaft bei Komplikationen oder Notfällen zum Geburtsgeschehen in den Städten dazu.5

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Gegenstände wie Kleidung oder der Ehering symbolisierten die Gegenwart des Ehemannes und hatten eine schützende Bedeutung für die Gebärende. Nach der Geburt hatte der Vater die Aufgabe, das Neugeborene in Kleidung zu hüllen. Damit wurde es symbolisch von ihm anerkannt. Diese Praktik symbolisierte gleichzeitig die Eingliederung in soziales Leben, Sozialisation und Zivilisation (Labouvie 2000: 199). Zusätzlich übermittelte der Träger durch Übergabe des eigenen Hemdes die Kraft und Eigenschaften der eigenen Person. Während die Muttermilch als erste Nahrung nach der Geburt angeboten wurde, folgte das Brot aus der Hand des Vaters als Aufnahmeritual in familiäre Gemeinschaft. Dem Vater kam damit eine »sozialisierende, aber auch beschützende Rolle zu« (Loux 1998: 65). Die männlichen Geburtshelfer hatten eine assistierende Position inne und wurden nur auf Verlangen der Frauengemeinschaft hinzugezogen (vgl. Labouvie 2000: 105f.). Im Falle des Kindstodes blieb ihnen oft nur noch die Zerstückelung und Extraktion des toten Kindskörpers aus der Mutter.

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Die unbekannte Geburt

Die Frauengemeinschaft besetzte folglich eine gesellschaftlich relevante Machtposition innerhalb der Gesellschaft und konnte lange selbstständig und eigenverantwortlich im reproduktiven Bereich walten. Der Brauch der Kindbettzechen oder Weibergelage nach der Geburt illustriert diese These. Bei diesem Fest nach der Geburt waren die beteiligten Frauen geladen, das üppige Essen und das Trinken von Alkohol waren ebenso Bestandteil wie der Gabentausch und das ›Tractieren‹6 der Männer (vgl. Labouvie 2000: 266). Das Fest konnte sowohl zeitlich wie auch kulinarisch erhebliche Ausmaße annehmen und fand unter energischem Ausschluss der Männer statt. Der übliche enorme Verbrauch von Ressourcen anlässlich der Weiberzechen sowie die Grenzüberschreitungen der Normen bezüglich der Sittlichkeit und des Umgangs von Frauen und Männern, stützen die These der machtvollen Frauengemeinschaft innerhalb einer Gesellschaft, die sich ansonsten durch eine patriarchale Organisation auszeichnete. Ein zweites Herausstellungsmerkmal der traditionellen Geburtshilfe besteht in der zentralen Position der Gebärenden. Sie war Teil der Frauengemeinschaft und stand mit ihren Wünschen und Bedürfnissen im Zentrum der nachbarschaftlichen Geburtshilfe. Dem Überleben der Mutter kam stets ein sehr hoher Stellenwert zu und übertraf im Zweifelsfall das Leben des Kindes7 (Labouvie 2000: 192), denn aus dem Tod der Mutter ergab sich eine Notsituation für den Vater und die Familie. Die zentrale Stellung der Gebärenden und ihrer subjektiven Deutungen basiert auf der Vorstellung des Körpers nach der ›Lehre der Körpersäfte‹. Der menschliche Körper galt als ein ständiges Fließen und Ringen um ein sensibles Gleichgewicht der Gesundheit.8 Die schwangere oder gebärende Frau besaß die Entscheidungsmacht über die Definition ihres Zustandes, da nur sie den unmittelbaren Zugang zu ihren subjektiven, inneren Empfindungen, Stimmungen und Gefühlen besaß. Darum oblag ihr die Definitionsmacht über ihren Zustand9 und die Suche nach einer geeigneten Behandlungsmethode (vgl. Duden 1991: 181ff., Labouvie 2000: 13). Die Geburt ging mit einer erhöhten Unsicherheit einher, ob sich das Kind gut entwickeln oder die Geburt für Mutter und Kind positiv verlaufen würde. So normal 6 7

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Bei dem Tancieren necken und ärgern die Frauen in ritualisierter Form die Männer, was laut Labouvie (2000: 266) als »energischer Ausschluss« zu deuten sei. Darum war der Kaiserschnitt durch Hebammen oder Chirurgen auch sehr umstritten und wurde größtenteils als grausam abgelehnt. Ein Kaiserschnitt führte damals unweigerlich zum Tod, weshalb er eine lange Zeit ausschließlich dann erfolgte, wenn die Frau bereits gestorben war. Verstockungen des Fließens und des immerwährenden Austauschs zwischen innen und außen waren gefahrvoll. Die ausbleibende Menstruation konnte sowohl ein Schwangerschaftszeichen als auch ein Krankheitszeichen sein. Die Schwangerschaft war demnach ein labiler Zustand (vgl. Duden 1991: 181f.) und kann auch als eine Gratwanderung betrachtet werden Ausnahmen bildeten verheimlichte, verborgene oder uneheliche Schwangerschaften, die das Misstrauen der Frauengemeinschaft erzeugten und eine haptische Prüfung des Leibes oder eine genauere Beobachtung nach sich zogen (Labouvie 2000: 27f.).

4. Das dispositive Feld der Geburt

und alltäglich eine Niederkunft für die Frauengemeinschaft auch war, bedurfte sie als (körperliche) Grenzsituation Unterstützung, Hilfe und Schutz, um Gefahr, Angst und Schmerz zu bannen oder zu begrenzen. Nach diesem Anspruch richtete sich die Ausgestaltung der Geburtshilfe10 , die im Folgenden vorgestellt wird. Den Geburtsort stellte das häusliche Umfeld der Frau dar, im Kreis der ihr bekannten und vertrauten Frauen. Der Geburtsraum wurde praktisch vorbereitet, aber auch nach außen hin abgedichtet, um die Geburt gegen Dämonen zu schützen11 (vgl. Gélis 1989a: 155). So ließ sich jedes beliebige Zimmer, meist der Aufenthaltsraum des Hauses, durch unterschiedliche symbolische Praktiken und Objektivationen in einen Geburtsort umwandeln. Die Größe und Zusammensetzung der anwesenden Frauengemeinschaft schwankte zwischen zehn und 15 beteiligten Frauen. Kundige Frauen und Hebammen leiteten die Geburt, nächstverwandte Frauen übernahmen unterstützende und assistierende Tätigkeiten, besaßen aber auch, je nach Stellung und Position, ein gewisses Mitspracherecht, andere Frauen machten Feuer und übernahmen andere Hilfstätigkeiten. Im Haus herrschte eine »eigentümliche Atmosphäre«, in der sich Ruhe und Geschäftigkeit abwechseln: »Man weiß zuzuhören, aber es wird auch viel geredet« (ebd.: 159). Die Situationseinschätzung, die Wünsche, Bedürfnisse und das Wohlergehen der Gebärenden standen im Mittelpunkt des Geschehens. Dieses Gleichgewicht und die Herausforderung, eine geeignete Atmosphäre zu schaffen, schien meist gelungen zu sein, allerdings mag es auch Konflikte und Streitfälle gegeben haben, wie historische Akten nahelegen (vgl. Loytved/Wahrig-Schmidt 1998). So lässt sich herausarbeiten, dass »die Hierarchie zwischen Hebamme und Gebärender« (ebd.: 90) und den Helferinnen nicht unwiederbringlich festgeschrieben war, sondern situativ verhandelt wurde. Geburtsschmerz wurde in der christlich-jüdischen Tradition als die Strafe Gottes für Evas Ungehorsam und den daraus resultierenden Sündenfall gedeutet. Die kirchliche Interpretation bestand in der Deutung, dass der Schmerz eine Buße des sündhaften Verhaltes der Frau und damit auch eine weibliche Charakterprüfung war (vgl. Laubouvie 2000: 140; Gélies 1989: 238). Die weiblichen Tugenden Geduld und Leidensfähigkeit bewiesen sich bei der Bewältigung dieses Prozesses (vgl. Degele 2007: 130f.). Die darauf basierenden Anforderungen an Geburtshilfe versprachen wenig Unterstützung. Diese Doktrinen fanden jedoch kaum Eingang in die

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Dabei ist zu beachten, dass die einzelnen Praktiken und Rituale sich regional stark unterscheiden konnten und darum kaum vereinheitlichende Aussagen möglich sind (vgl. Labouvie 2000; Gélis 1989). Darüber hinaus spielten rituelle Handlungen eine zentrale Rolle, wobei es sich um Schutzund Trennungsrituale handelte. Dabei kam es zu einer Verschränkung praktischer und symbolischer Funktionen mit technischen, medizinischen und magischen Elementen (Labouvie 2000: 199ff.).

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Die unbekannte Geburt

Praxis der (Land-)Hebammen, ihr Ziel war vielmehr, den Schmerz gering zu halten, um die gebärende Frau nicht zu erschöpfen. Der Geburtsschmerz erscheint als zentraler Bestandteil der Geburt und fordert den Dienst, die Unterstützung und die weiblich-kollektiven Hilfeleistungen. Die Deutung des Schmerzes zur damaligen Zeit war in ein komplexes Bedeutungsnetz von natürlichen und unnatürlichen Schmerzverursachern eingebunden12 (vgl. Labouvie 2000: 147). Die Schmerzbeurteilung erfolgte nach einer dedizierten Unterscheidung der Schmerz- und Wehenarten in wahre, wilde, natürliche und unnatürliche Wehen, außerdem nach deren Intensität. Geburt und Schmerz wurden in einem engen Zusammenhang gedacht, wohingegen eine schmerzfreie Geburt als un- oder übernatürlich galt.13 Neben der Schmerzdeutung war der konkrete Umgang mit diesem Phänomen von zentraler Bedeutung. Zur Schmerzlinderung standen unterschiedliche Praktiken, Gegenstände und Heilmittel zur »Schmerzreduzierung und Schmerzverwaltung« zur Verfügung (Labouvie 2000: 139). Schmerzmilderung verschafften eine Kombination von Massagen, Druck, Wein mit Kräutern sowie der Einsatz von Kräutern und Pilzen. Die anfänglich freie Bewegung der Frauen in der Stube war üblich und die Geburt fand meist in einer aufrechten Position statt. Die Frauen brachten die Kinder hockend, stehend, sitzend oder kniend zur Welt14 (vgl. Labouvie 2000: 112; Gélies 1989: 189ff.). Daneben gab es Möglichkeiten zur Beschleunigung der Geburt, die gekoppelt waren an den Anspruch, diese nur zu einem geeigneten Moment der Geburtsphase anzuwenden. Die Dauer der Geburt war ein wichtiger Gradmesser für die Notwendigkeit eines Eingreifens. Eine gute Geburt bestand darin, dass Mutter und Kind die Geburt überstanden. Dauer, Komplikationen oder Zwischenfälle waren weniger entscheidend (vgl. Labouvie 2000: 123). Gélies (1989: 176) betont hingegen, dass vor allem eine kurze Geburt als gute Geburt galt. Ein zu gewalttätiges und unnötiges Eingreifen zur Beschleunigung durch die Hebamme wurde von den begleitenden Frauen meist nicht akzeptiert. Das Wohlbefinden der Frau und der empathische Beistand standen an erster Stelle. Bei einer stockenden Geburt wurde andererseits

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Geister und Dämonen hatten in dieser Vorstellung – ebenso wie ein unangebrachtes Fehlverhalten der Schwangeren – Auswirkungen auf die Stärke des Geburtsschmerzes. Bilder von Schuld, Strafe, Reinigung und Initiation bilden eine symbolische Symbiose (Labouvie 2000: 153). So soll die Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria schmerzfrei gewesen sein, aber auch Kindsmörderinnen gaben zu Protokoll, eine schnelle und schmerzfreie Geburt erlebt zu haben. Labouvie (2000: 158) betont, »Schmerzdeutung und Schmerzwahrnehmung [sind; S. E.] nicht nur kulturelle Ausprägungen, vielmehr können sie umgekehrt auch zur Erklärung des Kulturellen dienen«. Regionale Gepflogenheiten prägten die Gebärposition in besonderer Weise, wie auch die jeweilige Gebärsituation und die Wünsche der Gebärenden.

4. Das dispositive Feld der Geburt

ein Eingreifen durch die Hebamme eingefordert. Es handelte sich um ein stetes Abwägen von Abwarten oder Eingreifen (vgl. Pulz 1998: 68). Die Anwendung unterschiedlicher Praktiken konnte in der Frauengemeinschaft diskutiert, eingefordert, abgelehnt oder abgewogen werden. Die Unterstützung und Begleitung der gebärenden Frau richtete sich nach einer spezifischen Deutung der aktiven Gebärenden, »in deren ›Natur‹ es lag, ihr Kind mit eigener Kraft ›zur Gott bestimmten Zeit‹ auf die Welt zu bringen« (Labouvie 2000: 12). Die Frau stand somit im Mittelpunkt des Geschehens, die Bewältigung der Geburt wurde ihr zugetraut ebenso wie die eigene Einschätzung der Situation, freie Bewegungen, das Äußern von Wünschen und Bedürfnissen. Unter der Geburt herrschte eine besondere Ethik der Geburtshilfe, die es nicht erlaubte, einer Niederkommenden zusätzliche körperliche oder seelische Qualen durch unnötiges Betasten, gewaltsame Eingriffe oder die öffentliche Bekundung von Gefahr und Ratlosigkeit zuzufügen. (Ebd.: 120) Aus den späteren Hebammenordnungen erschließt sich weiterhin der Anspruch an die Hebammen, um »ein behutsames geburtshelferisches Vorgehen« (ebd.: 139), bei dem der Schutz, die ruhige und einfühlsame Betreuung der Gebärenden sowie die Schaffung einer ruhigen und angstfreien Atmosphäre zentral waren. Obrigkeiten und Ärzteschaft warnten dementsprechend vor zu starkem und zu schnellem Einwirken auf die Gebärendende. Mehr noch als die aufgeführten (gegenständlichen) Praktiken, besaßen vor allem die Gemeinschaft der Frauen und rituelle Anwendungen, beispielsweise von Gebeten, Geburtssäckchen, Amuletten und Talismanen, eine schützende Bedeutung, um mit der Geburt umzugehen (vgl. Gelies 1989: 265ff.). Das frisch geborene Kind wurde nach der Geburt von den Geburtshelferinnen empfangen und ohne weitere Zwischenschritte auf den Bauch der Mutter gelegt. Die Wöchnerin und das Kind wurden aktiv durch die Frauengemeinschaft umsorgt und gepflegt. In der Zeit des Wochenbettes erfolgte der Übergang von der »Not- und Hilfsgemeinschaft der Frauen in eine Festgemeinschaft« (Labovie 2000: 127). Auch diese spezielle Zeit nach der Geburt war stark rituell geprägt und endete spätestens nach sechs Wochen mit der Aussegnung der Mutter durch einen Geistlichen, der die Frau wieder rituell in die Gemeinschaft eingliederte. Auch die Taufe war ein präsentes Ritual, das die Trennung von Mutter und Kind und die Aufnahme des neugeborenen Kindes in die christliche Gemeinschaft symbolisierte. Es konnte gezeigt werden, wie die Geburt zu denken ist, bevor sie ein thematischer Bereich der Medizin wurde und in welche gesellschaftlich relevante Position die Frauengemeinschaft und die einzelne Frau im Bereich der Reproduktion und der Gesellschaft einnahm. Die schwangere oder gebärende Frau innerhalb der machtvollen Frauengemeinschaft darf jedoch keineswegs mit einem autonomen

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Die unbekannte Geburt

Subjekt gleichgesetzt werden, vielmehr war sie an die anderen Frauen, Traditionen und Rituale gebunden und stand in Abhängigkeit davon (vgl. Hirschauer et al. 2014: 273). Außerdem herrschte insgesamt eine starke patriarchale Ordnung, auch wenn Männer weitgehend von Natalitätsprozessen ausgeschlossen blieben. Ab dem 15. Jahrhundert wandelte sich die Geburtshilfe, indem sowohl die Frauengemeinschaft als auch die Hebammen zuerst kontrolliert und dann mehr und mehr entmachtet und diffamiert wurden, bis sich die Geburt als kulturelles Phänomen umfassend transformierte.

4.1.2

Beschränkung und Kontrolle der Frauengemeinschaft und der Hebammen

Dass ausschließlich Frauen Macht, Wissen und Einfluss über die reproduktiven Aspekte des Lebens hatten und damit auch über Verhütung, Abtreibung, Schwangerschaft und Geburt, stellte für die führenden Mitglieder der Kirche ein Ärgernis dar. Verstärkt wurde die Skepsis durch die traditionell überlieferten Rituale rund um die Geburt, die in einem anderen Volksglauben gründeten, sowie die Existenz eines tabuisierten Frauenraumes ohne den Zugriff durch Männer (vgl. Beaufaÿs 1997: 30). Die Institutionalisierung des Hebammenberufs gründete in der »kirchlichen Verwaltung des Lebenszusammenhanges im Mittelalter« (Böhme 1993: 36) durch erste kirchliche Verordnungen. Daraufhin wurde es nötig, dass die Hebamme Wissen und Fähigkeit hatte, um »die Geburt als sozial kulturelle[n] Vorgang« (ebd.) im kirchlich-christlichen Sinn zu gestalten. Mit der Einführung der Taufberechtigung im Mittelalter war ihnen auch die Sorge um das Seelenheil des Kindes während der Geburt anvertraut. Sie erhielt vom regionalen Geistlichen Taufunterricht, um so Nottaufen durchführen zu können. Daran koppelte sich eine Überprüfung der moralisch-kirchlichen Eignung der Hebamme. Der Hebammentätigkeit ging nun eine Lizensierung der moralischen und religiösen Integrität der Hebamme voraus. So institutionalisierte sich die christliche Einflussnahme auf den reproduktiven Bereich (Beaufaÿs 1997: 30). Ebenso sollte die Hebamme die Sorge bezüglich der Ausgestaltung der Frauenzusammenkunft tragen, beispielsweise bezüglich der Auswahl und des Umfangs der Speisen und Getränke. Weiterhin war es ihre Aufgabe zu bekunden, dass alles bei der Geburt mit ›rechten Dingen zuging‹ und falls nötig, den Kindesvater zu ermitteln. Damit wurde die Hebamme »zur amtlichen Geburtszeugin« (Böhme 1993: 36). Hebammen hatten die Verpflichtung zur »uneingeschränkten Kirchentreue« (Beaufaÿs 1997: 30) und fungierten bei Sendegerichten als Zeuginnen bei der Feststellung des Kindsvaters, einer Abtreibung oder eines Kindsmordes. Diese Aufgaben standen im Widerspruch zum Vertrauens- und Unterstützungsverhältnis zwischen Gebärender und Hebamme und wurden darum auch wenig angewandt.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Der Tätigkeitsbereich der Hebamme weitete sich insgesamt aus: von einer Expertin für Geburtshilfe und Vertrauten der Gebärenden zu einer Verwalterin, die die Aufsicht über soziale Umstände der Geburt eines Kindes und die Einhaltung der kirchlichen Regelungen hatte und die für das Seelenheil des ungeborenen Kindes zuständig war. Die aufgeführten Bemühung zur Vereinnahmung und Kontrolle der Hebammen für die kirchlichen Zwecke standen im Zeichen der Bemühungen, die alten Volksreligionen15 auszuschalten und zu verdrängen, denn innerhalb der Frauengemeinschaft gaben die Frauen Heilwissen weiter und »benutzten Heilmethoden, die aus anderen Glaubenstraditionen herrührten« (ebd.: 32). Weiterhin war es ein Ziel, die weibliche Dominanz im reproduktiven Bereich zu durchbrechen oder wenigstens die Hebammen in den Dienst der Obrigkeit zu stellen. Dennoch blieben ausschließlich Frauen verantwortlich für die Geburt, die schamhafte Grenze zwischen Männern und Frauen blieb bestehen. Es galt weiterhin als unschicklich, wenn Männer bei der Geburt anwesend waren. Ab dem 15. Jahrhundert mehrten sich die Bestimmungen der weltlichen Obrigkeiten, die eine Reglementierung des Kindbettfestes zum Ziel hatten (vgl. ebd.: 27). Es gab umfassende Versuche »die rituelle[n] Komponenten, die der Kindbettphase Sinnhaftigkeit und der Kindbetterin Standhaftigkeit verliehen, zu beanstanden und zu reglementieren« (Labouvie 2000: 250). Die Versuche, die Festivitäten einzuschränken16 , lassen auf deren Ausmaße schließen; vor allem der reichlichen kulinarischen Versorgung, dem Alkoholkonsum und der Anzahl der anwesenden Frauen sollte Einhalt geboten werden.17 Das Anliegen der Reglementierung und Kontrolle blieb bis zum 18. Jahrhundert ohne nennenswerte Erfolge. Der Brauch der Kindbettzechen verschwand erst im 19. Jahrhundert18 im Zuge der Kontrolle und Disziplinierung der weiblichen Kultur (vgl. ebd.: 206).

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Als Trägerinnen von Volkstraditionen und -religion sind Hebammen als besonders gefährdete Personengruppe während der Hexenverbrennung anzusehen. Ein Kausalschluss von der Tätigkeit als Hebamme auf den Verdacht der Hexerei ist hingegen nicht belegt (vgl. Beaufaÿs 1997: 31ff.). Die Beschränkungen umfassten dabei die Anzahl der beteiligten Frauen, Sittlichkeit (Alkohol) und Bescheidenheit (Ausmaß des Essens zu Kosten der Familie), Beschneidung der zeitlichen Dimension (eigentlich zwei bis fünf Tage) und die Zusammenstellung der Speisen. Die Größe der anwesenden Frauengemeinschaft wurde zum Ziel staatlicher Reglementierung und im Laufe der Zeit immer stärker, zuletzt auf zwei Geburtshelferinnen, reduziert und diese als ausreichend deklariert. Allerdings setzten sich die Empfehlungen und Anleitungen kaum in der ländlichen Umgebung durch (vgl. Labouvie 2000: 115). Zusätzlich wurde die weibliche Arbeitskraft beim Übergang zur Industrialisierung unersetzlich und es entstand ein ökonomischer Nachteil durch das Wochenbett, was zu einem frühzeitigen Verlassen und einer Verkürzung des Wochenbettes auf vier Wochen ab Mitte des 18. Jahrhunderts führte.

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Die unbekannte Geburt

Eine weitere Entwicklung begann Anfang des 15. Jahrhunderts, als das Gesundheitswesen in den Städten anfing, sich neu zu ordnen. Bis zu diesem Zeitpunkt existierte ein sehr heterogener Stab an Heilspersonen: Apotheker, Physikus, Hebamme, Heiler, Chirurg und akademische Mediziner, die zueinander in Konkurrenz standen (vgl. Duden 1991: 115). Hebammen vereinten in sich die unterschiedlichen Gesundheitsberufe und die Funktion der Geistlichen durch die Anwendung »magischer Praktiken« (Beaufaÿs 1997: 36). Die zunehmende Konkurrenz in den Städten führte zur Entwicklung von Hebammenordnungen und einer Eingrenzung der Hebammentätigkeit zugunsten der Ärzte und Apotheker. Durch die neuen Ordnungen entwickelte sich eine Hierarchie der Heilberufe, deren Spitze die Stadtärzte bildeten (vgl. ebd.: 34ff.). Von dieser Position wiederum waren die Frauen ausgeschlossen, da sie nicht studieren durften. Exemplarisch führt Beaufaÿs (1997: 34ff.) die erste Regensburger Hebammenordnung 1452 auf. Diese setzte die ehrbaren Frauen der Stadt als Kontrollinstanzen für die eingesetzten Hebammen ein, sie galten als Mittelsperson zwischen Stadtrat und Hebamme. Hier ging es vor allem um die Kontrolle der sittlichen und religiösen Bindung der Hebamme (vgl. ebd.: 37) und die Vermeidung schlechter Betreuung, von Abtreibung und Kindsmord. Die Hebammen wurden verpflichtet, bei Komplikationen eine zweite Hebamme hinzuzuziehen. Mit dieser Verordnung lässt sich eine erste beginnende Unterscheidung zwischen Lai*innen und Expert*innen konstatieren (vgl. ebd.: 38). In einer späteren Fassung von 1555 ist von einer Hinzuziehungspflicht des Arztes bei Komplikationen die Rede. Deutlich wird an dieser speziellen Verordnung das Eindringen der Ärzte in Bereiche, der den Frauen vorbehalten war. Frauen wurde zunehmend der Einsatz spezifischer Instrumente, Medikamente, die Durchführung des Kaiserschnittes und anderer operativer Eingriffe untersagt (vgl. Beaufaÿs 1997: 39). Keinesfalls darf hier unterstellt werden, dass Hebammen zu früheren Zeiten keine geburtshilflichen Instrumente benutzt hätten oder erfanden, sondern vielmehr, dass ihnen mit den neuen Gesetzgebungen deren Nutzung untersagt wurde. Damit einher ging die Beschränkung des Gebrauchs solcher Geräte auf Chirurgen und Ärzte. Für Frauen bedeutet das Hinzuziehen eines Chirurgen oder Arztes eine sehr unangenehme und gefährliche Behandlung. Einerseits wurden diese erst dann hinzugezogen, wenn es bei der Geburt zu schwerwiegenden Komplikationen kam. Zweitens hatten sie bereits, vielleicht auch über Dritte, Erfahrungen mit solchen Eingriffen und verbanden mit dem Erscheinen des Arztes Angst, Schrecken und wahrscheinlich auch den Tod. Zusätzlich galt es als schambesetzt, einen Mann in diesen Lebensbereich zu integrieren. Böhme beschreibt diese Entwicklung als zweite Phase der Berufsentwicklung der Hebamme, in der das Hebammenwesen als Amt gefasst wird (1993: 36ff.). Ihre Fähigkeiten als Geburtshelferin wurden an ihre moralische Integrität gekoppelt. Die Einschränkung ihrer Tätigkeit setzt sich nur sehr schleichend durch, ange-

4. Das dispositive Feld der Geburt

strebt wurde sie vor allem durch die akademischen Mediziner und Chirurgen, die den Hebammen (anatomische) Unwissenheit, eine schlechte Ausbildung und Unfähigkeit vorwarfen (vgl. Loytved/Wahrig-Schmidt 1998: 92). Konkret handelte es sich um Vorwürfe eines zu schnellen oder zu langsamen Eingreifens in den Geburtsprozess (vgl. Barth-Scalmani 1998: 112). Die Weitergabe des traditionellen Volksglaubens mit entsprechenden Geburtspraktiken wurde als gefährlicher Aberglaube abqualifiziert. Nicht nur die Hebammen wurden mit dieser Art der Vorwürfe konfrontiert, sondern auch die Gemeinschaft der Frauen, der »Lärm und die aufgeregte Geschäftigkeit« (Gélies 1989: 159) wurden zunehmend als störend und unangemessen für die Geburt beschrieben. Umfangreiche Diffamierung, Diskreditierung der Hebammen und der Ruf nach einer besseren Ausbildung durch die Führung der akademischen Ärzte führen zur Etablierung und Festschreibung von Hebammenschulen, Hebammenlehrgängen und Wissensprüfungen. Ab dem 15. Jahrhundert gab es eine Vielzahl von Hebammenlehrbüchern, deren Autor*innen überwiegend männlich waren.19 Diese Formen der (Weiter-)Bildung ergänzten das traditionelle, zweijährige Mitlaufen mit einer etablierten und erfahrenen Hebamme. Auf die tatsächliche Geburtshilfe hatten diese neuen (Aus-)Bildungsverfahren jedoch kaum eine Auswirkung20 , denn die anderen Heilsberufe hatten kein Interesse an normal verlaufenden Geburten, sondern nur an den Komplikationen, die eine Entbindungskunst verlangten (vgl. Metz-Becker 2013: 38). Aus der umfangreichen Kritik an der traditionell frauengeleiteten Geburtshilfe bildete sich nach und nach auch ein neues Verständnis von Geburt und der Ausgestaltung einer ›guten‹ Geburtshilfe: Ruhe und motorische Passivität für die Gebärende rückten langsam in den Vordergrund. Das theoretisch-akademische Wissen über den Frauenkörper und den Geburtsprozess galten nun als Grundvoraussetzung für die Tätigkeit in der Geburtshilfe, das lebensnahe Erlernen spezifischer Praktiken war diesem Wissen nachgeordnet.

4.1.3

Etablierung einer medizinischen Perspektive in der Geburtshilfe

Im 18. Jahrhundert kam es im gesamten medizinischen Sektor zu umfassendem Umdenken und Umbrüchen (vgl. Foucault 2016): Die Bio-Macht, deren Ziel die Regulierung der Bevölkerung ist, tritt als relevante Form der Macht hervor. Die moderne Medizin bildete sich heraus und ›Gynäkologie und Geburtshilfe‹ etablierten sich als Sektor der medizinischen Wissenschaft, die Chirurgie wurde akademisiert

19 20

Ausnahmen bilden hierzu im deutschsprachigen Bereich Justine Siegemund und im französischen Raum Marie Anne Victorine Boivin-Gillain. Die diplomierten Hebammen waren besonders im ländlichen Bereich nicht beliebt (vgl. Barth-Scalamni 1998: 103).

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und mit der Medizin vereinigt (vgl. Beaufaÿs 1997: 51). Der Bruch, der mit der Einschränkung der Hebammen durch die Hebammenordnungen begann, setzte sich fort. Böhme (1993: 37) benennt als Ursachen die Säkularisierung, die »Einführung spezifischer Ausbildungen und Diplome für Hebammen« und die Zuspitzung des Konkurrenzverhältnisses zu »männlichen Geburtshelfern«. Gleichzeitig war die Situation der Ärzte prekär, da sie sich in Konkurrenz zu anderen Heilberufen keinen sicheren Kundenstamm aufbauen konnten. So wurden sie zu »Sachverwaltern staatlicher Ziele« (Beaufaÿs 1997: 56), was mit dem Ansinnen zusammentraf, die Ausbildung der Hebammen der männlichen Ärzteschaft zuzuschreiben. »Die Ärzte waren also erfolgreich darin, der Obrigkeit ihre bessere Eignung für die Sicherung der Bevölkerungszahlen zu beweisen« (ebd.: 57), dies gründete in ihrer überlegenen Rhetorik einer »tadelnde[n] Rückschau und optimistische[n] Zukunftsvision« (ebd.: 58), indem sie die Hebammen und ihr Wissen diffamierten und ihnen Unwissenheit und Grausamkeit vorwarfen. Diese Entwicklungen führten auch dazu, dass die Hebammen zunehmend unter Meldepflicht standen und ihrer Tätigkeit eine Examinierung vorausgehen sollte. Dem Körper wurde ein neuer Wert als ökonomische Größe und Arbeitskraft beigemessen (vgl. ebd.: 54). Die Schaffung eines gesunden Volkskörpers war nun ein politisch und sozial relevantes Ziel, mit dem die Ärzteschaft betraut wurde, beispielsweise durch Hygienekampagnen und eine angemessene Kontrolle der Fruchtbarkeit. Darüber hinaus wurde es mehr und mehr zur Pflicht jeder einzelnen Person, auf die eigene Gesundheit zu achten, Frauen galten dabei als Multiplikatorinnen für die gesamte Familie. Die Gesundheit begann, sich zu einem Gut zu entwickeln, das nicht nur Bestandteil des persönlichen Wohls, sondern des Allgemeinwohls war. Im 18. Jahrhundert entstanden überall Hebammenschulen und Gebäranstalten unter ärztlicher Leitung. Die Gebäranstalt oder Accoucierhäuser können als Vorgänger moderner Entbindungsstationen bezeichnet werden (vgl. Schlumbohm 1998; Metz-Becker 1998). Sie hatten nach Beaufaÿs (1997: 59ff.) drei zentrale Bestimmungen: Erstens die Ermöglichung einer heimlichen und gebührenfreien Geburtshilfe für ledige und arme Frauen und damit ein gewisses Maß an sozialer Absicherung für alle schwangere Frauen. Diese Wohltätigkeit bezahlten die Frauen dennoch mit ihrer Arbeit und der Zurverfügungstellung ihrer Körper. Die zweite Bestimmung lag in der Ausbildung von Hebammen und Medizinern oder Chirurgen. Die Forschung und Entwicklung von Wissen stellte die dritte Bestimmung dar. In den Gebäranstalten hatten die männlichen Mediziner ungehinderten Zugang zu den Frauen und konnten sie aufgrund ihrer niedrigen sozialen Stellung ohne Scham betrachten und für Forschungs-, Demonstrations- und Bildungszwecke benutzen. Aus den angegebenen Funktionen ergab sich eine immanente und permanente Ambivalenz zwischen dem offiziellen öffentlichen Anspruch der Fürsorge für die Frauen und der Betrachtung der Frauen als Untersuchungsobjekt.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Die hier behandelten oder zwangsweise eingewiesenen Frauen wurden als liederliche Weibsstücke bezeichnet und galten als ›gefallene Mädchen‹. So dem Respekt beraubt, galten sie nunmehr als schwangeres Anschauungs- und Forschungsmaterial für den Unterricht angehender Hebammen und Ärzte. Mit der unehelichen Schwangerschaft, so betont Beaufaÿs (1997: 61), hatten sie ihre Ehre und damit ihre Rechte verwirkt. Im Gegensatz zu den früheren körperlichen Grenzen zwischen Frauen und männlichen Ärzten, gab es in diesen Räumlichkeiten die Möglichkeit, die Frauen unbekleidet zu betrachten und zu berühren. Die Schamhaftigkeit der Frauen wurde dabei durch die Mediziner als lästig empfunden. Ihnen wurden bei den Präsentationen und Geburten lediglich die Augen verbunden, ansonsten waren sie nackt. Sie wurden anonymisiert und dem klinischen Blick freigegeben, der Objektcharakter verstärkte sich. Demgegenüber waren die subjektiven Empfindungen und Bedürfnisse der Frauen in diesem Setting der Geburt kaum von Bedeutung. Die Ausbildung in den Gebäranstalten sah normale und regelwidrige Geburten vor, wobei das stärkere Interesse den komplizierten Geburten galt, die eine Entbindungskunst erforderten, um technische Hilfsmittel erproben und evaluieren zu können. Besonders bei Touchierübungen wurden die Frauen zu Unterrichtszwecken genutzt und hatten viele vaginale Untersuchungen hintereinander durch Männer und Frauen über sich ergehen zu lassen. Die »entehrenden und beschämenden Untersuchungen« (ebd.: 63) waren für die Frauen sicherlich auch grenzüberschreitend, anstrengend und schmerzhaft, wenn man bedenkt, dass eine Unterrichtsgruppe bis zu 20 Personen umfassen konnte, die alle diese Übungen während der Geburt, also unter den Wehen, tätigten. Die Ärzte nahmen sich das Recht »in den Geburtsvorgang einzugreifen – oder auch nicht, selbst wenn ein Eingriff geboten schien […]. Dabei war der niedrige Status der Frauen von entscheidender Bedeutung, denn er legitimierte offenbar den menschenverachtenden Umgang mit ihnen« (ebd.: 62). In der Bevölkerung waren die Gebäranstalten und die männliche Geburtsmedizin sehr unbeliebt, vor allem aufgrund der hohen Mortalitätsraten. Ein Problem der Accoucieranstalten bestand im sogenannten Kindbettfieber, dessen Ursachen ausgesprochen kontrovers in der Fachschaft diskutiert wurden. Obwohl das Phänomen vor allem durch die hygienischen Bedingungen der Klinik begründet war, wurde die Verantwortung für jene Erkrankung den Hebammen und Frauen in der außerklinischen Geburtshilfe zugeschrieben. Es folgten umfangreiche hygienische Auflagen für die häusliche Geburt. Der Wohlfahrtsgedanke und bevölkerungspolitische Ambitionen in den Gebäranstalten fanden keine Erfüllung. Ihre Funktion lag vor allem in den Forschungsmöglichkeiten und der Generierung neuen wissenschaftlichen Wissens sowie der Disziplinierung der Fruchtbarkeit der Frauen. Trotzdem die akademische Praxis der Geburtshilfe sich vorerst nicht in der Bevölkerung durchsetze, zeichnete sich innerhalb der Spitäler die Entwicklung einer neuen dominanten Wissensform

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ab, die vorerst die Hebammenausbildung in der Theorie prägte. Die Entwicklung und Legitimation von Wissen fand in diesen Anstalten statt. In einem sich neu formierenden Spezialdiskurs männlicher Geburtsmediziner verwissenschaftlichte und diskursivierte sich das geburtshilfliche Wissen. Durch den praktischen Forschungszugang und die neue akademische Geburtshilfe entwickelten sich neue Geburtsmodelle und -theorien: »Es werden Klassifizierungen des Geburtsverlaufs nach einzelnen Perioden vorgenommen, es finden Differenzierungen statt, etwa der Geburtsverläufe in normale, schwere, aber natürliche, und widernatürliche« (Sahmland 2000: 23). Außerdem gab es eine Reihe medizintechnischer Innovationen, wie Gebärstühle, Gebärbetten und medizintechnische Instrumente und Praktiken. Dabei war die ärztliche Praxis sehr umstritten und es herrschte ein reger Streit und Austausch innerhalb der akademischen Medizin über die ideale Geburtshilfe zwischen natürlicher Geburt oder der Notwendigkeit eines stärkeren Eingreifens. Außerdem galt das Hinzuziehen eines Geburtshelfers in manchen sozialen Milieus alsbald als Statussymbol (vgl. Labouvie 2000: 134ff.). Innerhalb dieser Entwicklungen veränderten sich die Berufe um die Geburtshilfe nachhaltig: das Hebammenwesen entwickelte sich zu einem traditionellen Beruf, die medizinische Geburtshilfe und Gynäkologie bildete sich heraus und professionalisierte sich. Zwischen Hebammen und Ärzten etablierte sich ein Komplementärverhältnis mit der klaren Definition von Handlungsbefugnissen und Kompetenzzuordnungen (vgl. Beaufaÿs 1997: 60). Formalhierarchisch standen die Ärzte nun über den Hebammen, aus dieser Transformation folgt eine theoretische Trennung zwischen Experten*innen und Lai*innen, die Geburt rückte langsam aus der alltäglichen Lebensrealität der Frauen heraus. Während des 19. Jahrhunderts etablierte sich die neue Geburtshilfe. Ärzte galten vermehrt als Berater und Vertraute in bürgerlichen Familien und später auch in Arbeiterfamilien. Ihre staatliche und politische, aber auch gesellschaftliche Akzeptanz wuchs zunehmend. Eine Ideologie und Identität des medizinischen Professionalismus bildete sich heraus: Ärzte als Diener der Gesellschaft, deren alleiniges Interesse der Allgemeinheit gelte (vgl. Hitzler 1997: 17f.). Die Verbesserung der schlechten gesundheitlichen Zustände sei allein den Ärzten zuzuschreiben. Die medizinische Beschreibung und Erfassung des Körpers konstituierte sich in Abgrenzung zur traditionellen Leibwahrnehmung. Es kommt zu einer Aufhebung der Trennung von Arzt und Chirurg sowie der staatlichen Beaufsichtigung der Medizin. Die Medizin war nun nur noch sich selbst und eigenen Kontrollinstanzen verpflichtet. Es kam zu einer fortschreitenden Reglementierung und Einschränkung der Hebammen und zu einer Eingrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten im Kontrast zu denen der Ärzte. Lagen die Gabe von volkskundlichen Heilmitteln, die innerkörperliche Wendung von Kindern oder operative Eingriffe (bis hin zum Kaiserschnitt) im Handlungsrepertoire der Hebammen, wurden als kompliziert geltende

4. Das dispositive Feld der Geburt

Geburten nun der Entbindungskunst der Ärzte unterstellt. Die Unterordnung der Hebammen und ihre Abhängigkeit vom medizinischen Wissen nahmen zu.

4.1.4

Die Macht der objektiven Wissenschaft – Wissens- und Machtkämpfe in der Entwicklung der Geburtshilfe bis zum 19. Jahrhundert

Nach diesen historischen Betrachtungen folgt eine Erörterung der Wissens- und Machtkämpfe dieser Zeitspannen, um anschließend auf die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts einzugehen. Die beschriebene Entwicklung umfasst nicht nur einen strukturellen Wandel, bei dem sich die Zuständigkeit für die Geburt neu verteilte und es zu einer Hierarchisierung der Geburtshelfer*innen kam, sondern sie umfasst auch tiefgreifende Transformationen der Wissens-, Deutungs- und Erfahrungsstrukturen. Bezeichnend für die beschriebenen Phasen ist die allmähliche Verwissenschaftlichung und Diskursivierung des Geburtswissens. Um diese Entwicklung dezidiert betrachten zu können, ist es hilfreich, in Anschluss an Böhme (1993) und Beaufaÿs (1997), zwei Wissensformen zu unterscheiden: das (traditionelle) kollektiv-lebensweltliche Wissen der Hebammen und Frauen als Expertinnen für die Geburt und das medizinisch-naturwissenschaftliche Wissen der Ärzte, das sich stark an dem »Typ der neuzeitlichen Naturwissenschaft« (Böhme 1993: 44) orientierte. Das Wissen der Hebammen ist bis zum 18. Jahrhundert als ein kollektiv-lebensweltliches zu bezeichnen (vgl. Beaufaÿs 1997: 95). Es wurde mündlich überliefert, weshalb es kaum schriftlich erhalten ist, speiste es sich vor allem aus Praxis- und Selbsterfahrung. Böhme deutet das Hebammenwissen als Weisheitswissen: Person und Wissen waren hiernach stark aneinandergekoppelt. Die Hebamme galt als »die weise, die erfahrene, die gereifte Frau« (Böhme 1993: 44). Trotzdem diese Wissensform in der Anwendung und Vermittlung an konkrete Personen gebunden war, handelte es sich um ein anonymes, lebensweltliches Wissen und hatte zumeist keine direkte Urheberschaft, es wurde innerhalb von Traditionen und Ritualen weitergegeben und praktisch tradiert. Persönliche Weisheit und spezifische Eignung galten als Voraussetzung der Anwendung. Die Trennung von Theorie und Praxis war im traditionellen Hebammenwissen nicht eindeutig. Das Wissen wurde durch mündliche Überlieferung und praktisch durch das Erfahren und Erspüren erlangt, trug damit ähnliche Komponenten wie handwerkliches Wissen (vgl. ebd.: 46). Demgegenüber gab es im aufsteigenden medizinischen Wissen keine so starke Kopplung von Wissen und Person. Das Wissen galt als objektiv, einmal erlangt war es durch jede beliebige Person anwendbar (vgl. ebd.: 45). Es wurde »unter standardisierten Bedingungen gewonnen« (ebd.: 46) und erschien beliebig reproduzierbar. Alter, persönliche Reife und moralische Eignung waren keine Schlüsselkompetenzen. Der Kreißsaal der Accoucieranstalten bot nach diesem Verständnis stan-

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dardisierte Bedingungen. Im wissenschaftlichen Wissen waren Theorie und Praxis (wenn auch unvollständig) getrennt. Während im Hebammenwissen Fühlen und Wissen eng gekoppelt waren, waren bei Chirurgen und Ärzten Sehen und Wissen gekoppelt. Das Gelehrtenwissen, mit seinem anatomisch-klinischen Charakter, war lange Zeit rein theoretischer Natur. Es speiste sich aus den anatomischen Erkenntnissen durch das Betrachten, Sehen und Sezieren von Frauenleichen und wurde schriftlich verfestigt. Der Aufschwung der Anatomie im 16. Jahrhundert betonte verstärkt den Zusammenhang zwischen Sehen und Wissen und galt als Wegbereiter einer objektiven Humanwissenschaft (vgl. Beaufaÿs 1997: 46). Mit der Anatomie wurde Inneres offengelegt, das Unsichtbare wandelte sich in Sichtbares und leitete die Medizin (vgl. Foucault 2016: 162ff.) und damit auch eine historisch spezifische Wahrnehmungs- und Wissensstruktur. Mit der Priorisierung des Sehsinnes galten die »Augen als bevorzugte Sinnesorgane […], um das Innere des Leibes zu erfassen« (Beaufaÿs 1997: 44). An die beiden vorgestellten Wissensformen war eine Wertung geknüpft, durch die das lebensweltliche Wissen der Hebammen sukzessive entwertet wurde. Gekoppelt an die Hierarchisierung der Wissensformen von Hebammen und Ärzten, kam es zu einer Hierarchisierung der Sinne, wobei der Sehsinn dem Tastsinn überlegen gedeutet wurde. Dem Sehen wurde der Erwerb und die Erweiterung des neuen wissenschaftlichen Wissens zugeordnet. Das lebensweltliche Hebammenwissen beschreibt die »Gleichsetzung von Fühlen und Wissen«21 (Pulz 1994: 78) am besten. Fühlen und Wissen sind Kategorien, die sich bis heute »in der modernen Wissenschaft geradezu ausschließen« (Beaufaÿs 1997: 46). Zusätzlich galt die mündliche und praktische Wissensvermittlung und -erhebung innerhalb der akademischen Medizin als »suspekt« und »defizitär« (ebd.: 49). Die Wissensgrundlage unterschied sich durch unterschiedliche Sinneszugänge für die Generierung und Weitergabe des Wissens, aber auch zwei weitere Aspekte waren von Bedeutung: zum einen die Perspektive auf das Erleben der Geburt, zum anderen eine neue Grundlage der Wissensgenerierung. Eine Wissensgrundlage umfasst das erheblich unterschiedliche Erleben der Geburt von Hebammen, Frauen und Ärzten. Während Frauen unterschiedliche Geburten erleben, die in den meisten Fällen ein gutes Ende fanden, und sich gleichzeitig in das Erleben anderer Frauen hineinversetzten konnten, wurden die männlichen Geburtshelfer nur in extremen Notsituationen am Ende der Geburt dazu geholt und erlebten folglich überwiegend pathologische und gewaltvoll verlaufende Geburten mit einer entkräftenden Gebärenden oder toten Kindern. Ärzte konnten Frauen nur in Notfällen untersuchen (ebd.: 46), sie hatten nicht die Möglichkeit 21

Gab es beispielsweise Unsicherheiten bezüglich der Existenz einer Schwangerschaft, wurde der Leib betastet, auch während der Geburt wurde der Muttermund sowie die Position des Kindes überprüft. Wissen wurde durch tastende Hände erworben.

4. Das dispositive Feld der Geburt

bei einer normalen Geburt anwesend zu sein. Aus dem Erleben dieser höchst unterschiedlichen Geburtssituationen ergaben sich andere Erfahrungshorizonte und -zusammenhänge von Ärzten und Hebammen, aber auch der gebärenden Frauen. Mit der steigenden Popularität von Maschinen und der einsetzenden Industrialisierung wurde der menschliche Körper zunehmend als Maschine gedacht, körperliche Prozesse und Vorgänge wurden als automatisch und unwillkürlich gedeutet (vgl. Martin 1989: 76f.). Das Wollen und Empfinden galt höchstens als Störfaktor. Auch Schwangerschaft und Geburt wurden zu einem mechanischen Vorgang. Der Wunsch nach effektiver Gestaltung des Prozesses, um die Produktivität der Reproduktion zu steigern, setzte sich seit dem 19. Jahrhundert in den Begrifflichkeiten der medizinischen Geburtshilfe durch und bildete damit eine weitere Wissensgrundlage für die Etablierung und Generierung des neuen Wissens. Diese unterteilt sich in der sprachlichen Analogie zu mechanischen Vorgängen und der Vermessung menschlicher Körper: Was diesem Wissen vorausgehen muß, sind Registrierungs- und Überprüfungsverfahren, die es erlauben, die Körper in eine klassifizierende Ordnung zu bringen und die daraus abgeleiteten ›Normen‹ auf die Individuen zu übertragen. (Beaufaÿs 1997: 80) Diesen Vorgang beschreib Foucault als eine »objektivierende Vergegenständlichung« (Foucault 2009: 247). Galt im medizinischen Bereich lange Zeit die Selbstwahrnehmung als zentrales Element der Diagnose und Behandlung (vgl. Duden 1991: 114), verschwindet die Selbstwahrnehmung der Frau mit der Etablierung des neuen Wissens aus dem Diskurs (Beaufaÿs 1997: 80) und wird diskreditiert. Die Grundformen des neuen Macht-Wissens-Komplexes bildeten Prüfung, Messung und Ermittlung (vgl. ebd.: 86): »Diese dokumentarische Ordnung der Individuen funktioniert als objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung; das Individuum wird nicht beobachtet, sondern hergestellt« (ebd.: 88). Daraus etablieren sich Maßstäbe, Normen, medizinisch-physiologische Modelle, systematische Betrachtungen und spezifische Teilungspraktiken. Besonders der Forschergeist in den Gebäranstalten prägte das Klassifizieren, Vergleichen und Unterscheiden (vgl. ebd.: 86). Es kam zu einer Systematisierung von Begrifflichkeiten, um Phänomene in Raster einzuordnen, und zu einer Umgestaltung der Wissensstrukturen, beispielsweise durch die Erstellung übergeordneter Schemata (vgl. ebd.: 78f.). Dabei handelt es sich ausdrücklich um die Umgestaltung des Wissens und nicht, wie aus einem Fortschrittsglauben heraus dargestellt, um die Ergründung des wahren Wissens. Die Konstituierung des medizinischen Subjekts erfolgt über die Objektivierung des Körpers. Gebärende wurden vorerst in die Sichtbarkeit und das Feld der Überwachung gezwungen (ebd.: 87). Später begaben sie sich aus einem Sicherheitsver-

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sprechen heraus freiwillig hinein oder verlangten danach. Das sich ausbreitende Paradigma der Norm war ein »effektiverer Machtzugriff« als das Paradigma der Selbstwahrnehmung (ebd.: 80). Zwischen den Ärzten, Chirurgen und Hebammen entwickelten sich ausgeprägte Auseinandersetzungen um die Deutungsmacht, das richtige Wissen und die geeignete Befähigung und Qualifizierung zur Geburtshilfe.22 Konkurrenz, Konflikte und Diffamierungen waren besonders in den rechtlichen Bestrebungen einer Qualifizierung der Hebammen durch die Ärzteschaft und in der Diskussion um legitimes und wahres Geburtswissen auffindbar (vgl. Beaufaÿs 1997: 41ff.; BarthScalmani 1998; Beauvalet-Boutouyrie 1998; Loytved/Wahrig-Schmidt 1998). Um die Deutungs-, Handlungs- und Erkenntnismacht zu erlangen, lassen sich zwei Strategien seitens der akademischen Geburtsmedizin benennen: zum einen das Okkupieren und Umformen des Hebammenwissens in akademisch-medizinisches Wissen und zum anderen das Entwerten dieser Wissensform als Aberglaube (vgl. Beaufaÿs 1997: 52). Im Verlauf des 17. Jahrhunderts mehrte sich die Kritik an den Hebammen in Form des Vorwurfs der Untauglichkeit, gepaart mit der Forderung nach besserer Ausbildung und Einhaltung ihres Zuständigkeitsbereiches. Kombiniert war diese Forderung mit dem Hinweis auf Notwendigkeit der Ausbildung der Hebammen durch Ärzte (vgl. Beaufaÿs 1997: 43). Für die Hebammen bedeutete das einen starken Kompetenzverlust bei gleichzeitiger Durchsetzung und höherer Bewertung einer anderen Wissensform (vgl. ebd.: 41). Damit einher gingen Vorwürfe der Verantwortungslosigkeit im Gebrauch von medizinischen Instrumenten oder des zu hastigen Eingreifens in natürliche Prozesse. Von Seiten der Ärzte wurde den Hebammen in Bezug zur neuen Wissensordnung Ignoranz vorgeworfen (vgl. Barth-Scalmani 1998: 113). Den Hebammen fehle spezielles Wissen zu Anatomie und Pathologie. Daraufhin erschienen Hebammenlehrbücher in großer Zahl. Die Ärzteschaft konnte sich durchsetzen und rückte in eine Ausbildungsposition für Hebammen. Während sich die akademischen Ärzte und die Chirurgie professionalisierten, gelang dies dem Hebammenwesen nicht. Die Ursache hierfür lag neben ihrer sozialen Position als Frau in ihrer Bindung an die Hebammenordnung, in der mündlichen und praktischen Form der Wissensvermittlung unter Hebammen und in ihrer religiösen und sozialen Funktion (vgl. Beaufaÿs 1997: 43ff.). Hinzu kam die

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Gleichzeitig gab es vielerorts eine friedliche Koexistenz, da die Zuständigkeitsbereiche deutlich getrennt definiert wurden (vgl. Metz-Becker 2013: 38). Es etablierte sich zunehmend eine Aufteilung der Geburtshilfe in die Betreuung normaler Geburten, die weiterhin als Frauensache galt, und pathologischen Geburten, die ein Eingreifen der akademischen Mediziner forderten. Die begriffliche Veränderung einer Frau, die selbst entbindet, und der Frau die durch Geburtshelfer*innen entbunden wird, veranschaulicht diesen Wandel.

4. Das dispositive Feld der Geburt

nun diffamierte Eigenlogik des Fühlens, die der des Sehens konträr gegenüberstand und als subjektive Empfindung nicht mit den Methoden des (Ver-)Messens objektiviert werden konnte. Das Ansinnen der Chirurgen und Ärzte hatte zunächst auf die Mehrheit der Frauen und die tatsächliche Geburtshilfe keine Auswirkung (vgl. ebd.: 51). Erst ab dem 18. Jahrhundert wurde die neue medizinische Wissenschaft im Sektor der Heilberufe verbindlich. Die akademischen Mediziner wollten sich standespolitisch situieren. Mit den Gebär- und Ausbildungsanstalten entstanden Orte, an denen das neue Geburtswissen nicht nur generiert, sondern auch durchgesetzt wurde. Die sich daraus ergebenden moralischen Probleme durch die Übertretung schamhafter Grenzen zwischen Mann und Frau, hier speziell in der der Gebäranstalt, erforderten eine Legitimierung durch den Wohltätigkeitsgedanken und eine staatlich-soziale Fürsorgepflicht (vgl. Metz-Becker 1998: 193). Die enge Verbindung zwischen Macht und Wissen wird hier besonders deutlich sichtbar. Aus dem starken medizinischen Wandel der Wissensformen resultierte eine neue Erfahrungskultur körperlicher Vorgänge. Die vorwissenschaftliche Erfahrungsstruktur wies Komponenten des Magischen und Traditionellen auf (vgl. Beaufaÿs 1997: 75) und ist folglich nicht als natürlich oder frei von Wertungen und Deutungen anzusehen. Das Wissen beruhte auf der subjektiven Selbstwahrnehmung, aus der keine allgemeinen, normierenden Aussagen geschlussfolgert werden konnten. Dem Arzt blieb allein die Möglichkeit, durch Fragen Informationen über den Zustand der Frauen zu erlangen. Nur der Hebamme und anderen Frauen war es möglich, zu berühren (vgl. ebd.: 76) und damit dem Zweifel an Aussagen der Frauen nachzugehen. Beaufaÿs betont, dass die Etablierung einer neuen Erfahrungsstruktur nur gelingen konnte, indem die Frauen dem ärztlichen Blick zugänglich wurden: »Dazu aber mußte auch der Körper der Frauen in ein beobachtungsgünstiges Feld gebracht werden, das wiederum frei war von familiären Einmischungen, traditionellen Riten und Ängsten« (ebd.: 77). Die folgende »Isolierung und Individualisierung des [schwangeren; S. E.] Subjekts« (ebd.) ist nicht als Voraussetzung zu betrachten, endlich wahres Wissen zu produzieren, sondern, dafür spezifische MachtWissens-Konstellation hervorzurufen. Die Wahrnehmung des Körpers ist bis heute stark über anatomisch-klinisches Wissen strukturiert (vgl. ebd.: 71). Der Strukturwandel setzt die Etablierung neuer Erfahrungsstrukturen, sowohl auf der Ebene des Wissens als auch auf der Ebene der Praxis, voraus (vgl. ebd.: 81f.). Die neuen, so konstruierten Körper entsprachen den Bedürfnissen der bürgerlichen Schicht mit dem Willen zur Disziplinierung des (weiblichen) Körpers und der reproduktiven Macht der Frauen (vgl. ebd.: 82). Ein weiterer Aspekt ist die zunehmende Unterscheidung zwischen Lai*innen und Experten*innen. Innerhalb des kollektiv-lebensweltlichen (Hebammen-)Wissens fand keine strikte Unterscheidung statt. Mit der Verwissenschaftlichung ent-

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stand spezifisches Geburtswissen, das mehr und mehr nur speziell ausgebildeten Expert*innen zugänglich war und dadurch eine »soziale Abhängigkeit« (Böhme 1993: 48) erzeugte. Bei den Hebammen trat diese Abhängigkeit besonders hervor und blieb lange bestehen, sie konnten das anatomische Wissen nicht selbst erzeugen, da sie durch ihre geschlechtliche Zuordnung von der medizinischen Wissenschaft ausgeschlossen waren, folglich waren sie auf die ärztliche Vermittlung angewiesen. Das galt ebenso für die Abhängigkeit der gebärenden Frauen, bei denen Geburt durch die ordnungsrechtliche Begrenzung der Frauengemeinschaft immer seltener Bestandteil der alltäglichen Lebensrealität war, sie also vermehrt auf die Expert*innen der Geburtshilfe angewiesen waren. Daraus ergab sich für gebärende Frauen zunehmend »eine Situation der Unmündigkeit, der Abhängigkeit von Experten« (ebd.: 48), da sie weniger die Erfahrung einer kollektiven Hilfsgemeinschaft erfuhren und damit auch kein lebensweltliches Wissen um helfende Handgriffe besaßen. Der Vorgang der Geburt ist folglich immer mehr besetzt »mit Angst, was die Abhängigkeit von Klinik und ärztlichen Geburtshelfern verstärkt« (ebd.: 49). Foucault machte darauf aufmerksam, die Macht nicht ausschließlich juridisch, also im Sinne von Beschränkungs- und Unterdrückungsmechanismen, zu denken, da sie »in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert« (Foucault 1978: 35). Parallel zur Säkularisierung des Heilwesens entwickelte sich die wissenschaftlich-medizinische Disziplin: Nicht (Aber-)Glaube, magische Praktiken oder die Einhaltung bestimmter sozialer Regeln nahmen nunmehr Einfluss auf den Körper, sondern im Körper ereigneten sich zunehmend mechanische beziehungsweise bio-medizinisch konstituierte Prozesse. Kein Gott des christlichen Glaubens oder alte Götter der Volkstraditionen, keine Heiligen oder traditionelle symbolische Praktiken versprachen Heilung und Schutz, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse und Heilmethoden.

4.1.5

Brüche und Diskontinuitäten in der Geburtshilfe seit den 1950er Jahren

Das neue geburtshilfliche Wissen bildete sich maßgeblich seit dem 18. Jahrhundert heraus und etablierte sich. Die Träger des modernen Geburtswissens waren die akademischen Mediziner, die sukzessive das traditionelle Geburtswissen der Frauen und Hebammen übernahmen, sich aneigneten, es gleichzeitig entwerteten und vor den schädlichen Auswirkungen des Aberglaubens warnten. Das medizinische Wissen, die daran geknüpften Praktiken und medizinisch-technischen Innovationen etablieren sich immer mehr, trotz einer anfangs widerständigen Frauengemeinschaft, die auf die traditionelle Geburtshilfe mit ihren Praktiken bestand und diese bewahrte. Indem die Ausbildung der Hebammen den akademischen Medizinern unterstellt wurde, hatten die medizinischen Geburtsmodelle, -deutungen

4. Das dispositive Feld der Geburt

und -praktiken zunehmend tatsächliche Auswirkungen auf die häusliche Geburtshilfe. Die Veränderungen verliefen dabei keineswegs linear, aber auch nicht abrupt, vielmehr handelt es sich um einen fließenden Übergang mit erheblichen regionalen Unterschieden, bei dem besonders in ländlichen Gegenden die traditionelle Geburtshilfe bis Mitte des 20. Jahrhunderts bestehen blieb (vgl. auch Linner 1997; Grabrucker 1990). Damit ist auch der Übergang der Hebammentätigkeit zu einem modernen Beruf ein fließender: der Beginn der Ausbildung rückt biographisch nach vorne, eine moralische Lebensführung und Integrität waren keine relevanten Größen als Voraussetzung für diese Tätigkeit mehr (vgl. Böhme 1993: 38). Die Hebammentätigkeit war nun »der Vollzug spezifischer, erlernter Berufskompetenzen in einer dafür vorgesehenen Arbeitszeit außerhalb ihres Lebensbereichs« (ebd.). Alle tätigen Hebammen wurden in diesem System ausgebildet, nach der Ausbildung hingegen waren sie meist als eigenständig agierende Hebammen im häuslichen Umfeld tätig. Ihr Handlungsrepertoire umfasste keine regelwidrigen Geburten mehr. So etabliert es sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr, beispielsweise Steißoder Querlagen sowie Zwillingsgeburten von vornherein in eine Geburtsklinik zu verweisen. 1934 betrug der Anteil der Klinikgeburten 39 % (vgl. Schumann 2012: 227). So unterschied sich die freie und eigenverantwortliche Tätigkeit der freiberuflichen Hausgeburtshebammen erheblich von ihrer Ausbildung, in der sie vor allem eine assistierende Helferinnenposition innehatten. Aus dieser Situation resultierend hatte die traditionelle, hebammengeleitete Geburtshilfe, trotz des Wandels und Wahrheitsanspruchs des medizinischen Diskurses und der Konflikte zwischen Hebammen und Ärzten, Bestand. Während die Entwicklung und Etablierung neuer Praktiken und Wissensbestände bis dahin sehr langsam erfolgte und sich die moderne Geburtshilfe kaum durchsetzen konnte, gab es in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen »radikalen Umbruch« (Tew 2012: 36). 1954 kamen bereits mehr als die Hälfte der Neugeborenen in einer Klinik zur Welt, 1975 lag der Anteil der Klinikgeburten bei 98,8 %. Innerhalb von 30 Jahren kam es zu einer fast vollständigen Institutionalisierung der Geburtshilfe (vgl. Schumann 2012: 227). Die Kostenübernahme für eine Klinikgeburt durch die Krankenkassen Anfang der 1960er Jahre in der BRD23 führte zu einer fast voll23

In der DDR wurde in den 1950er/1960er Jahren die Klinikgeburt gefördert, die sich daraufhin etablierte und die Hausgeburt damit zu einem Randphänomen wurde (vgl. Major 2003: 83). Im Gegensatz zur Hebammenausbildung der BRD war die Qualifizierung an ein Studium an einer medizinischen Fachschule gebunden (vgl. Ahrendt 2012: 120). Bemerkenswert ist, dass es bis heute signifikante Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern rund um die Themen Schwangerschaft und Geburt gibt: die Erstgebärenden sind jünger, die Kaiserschnittrate ist niedriger und die Schwangerenbetreuung durch eine Hebamme hat eine größere Selbstverständlichkeit (vgl. Selow 2012: 98). Helfferich (2008: 442) schlägt den Be-

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ständigen Institutionalisierung der Geburtshilfe. Mit der Verortung der Geburt im klinischen Bereich ging ein verstärkter Einsatz von technischen Geräten und Medikamenten einher. Parallel zu diesen Entwicklungen sank die Mütter- und Säuglingssterblichkeit erheblich. Marjorie Tew (2012), eine britische Statistikerin, beschreibt, wie die Menschen diese Änderung positiv wahrnahmen. Sie wurde dem Fortschritt der medizinischen Geburtshilfe zugeschrieben, beziehungsweise von dieser vereinnahmt. Die Autorin hinterfragt diese Argumentation, die der Legitimation der zunehmenden Professionalisierung der männlichen Ärzteschaft und der Marginalisierung der Hausgeburt diente. Vielmehr sei die Verbesserung von Gesundheit, Ernährung und Umweltbedingungen für die sinkenden Mortalitäts- und Morbiditätsraten verantwortlich gewesen sowie einige wenige medizinische Innovationen, wie die Entdeckung der Antibiotika und eine Verbesserung des Kaiserschnitts. Aus dem Zusammentreffen der Entwicklung der Geburtsmedizin und der Verbesserung der Sicherheit während der Geburt, kam es zu der Schlussfolgerung, Geburt sei ein medizinisches Ereignis, »das nur von der Medizin sicher und professionell betreut werden konnte« (Schumann 2012: 235). Mit dem modernen, sich langsam vollständig durchsetzenden medizinischen Verständnis von menschlichen (Frauen-)Körpern entwickelten und verfestigten sich neue kulturelle Deutungen von Geburt, die im Folgenden detailliert beschrieben werden, da sie bis heute wirkmächtig sind. Die neuen Deutungen treten besonders deutlich in einem anderen Sprachgebrauch und neuen Metaphern hervor. Seit dem 17. Jahrhundert werden Körper als Maschinen gedacht und hervorgebracht (Beaufaÿs 1997: 89). Aus dieser Deutung folgt die Vorstellung, individuelle Fähigkeiten und menschliche Qualität steigern zu können und damit auch die Möglichkeit, Menschen in ökonomische Kontrollsysteme, im Sinne der Bio-Macht, einzugliedern (ebd.: 89). Mit der genauen Betrachtung der sprachlichen Ebene arbeitet Emily Martin (1989) bedeutsame Metaphern der Geburtsmedizin heraus. Sie umfassen vor allem Sinnbilder der Maschine und der Produktion: Das Cartesianische Modell des Körpers als Maschine läßt den Arzt als Techniker oder Mechaniker erscheinen. Der Körper verliert seine Funktionsfähigkeit und braucht Wiederherstellung; er kann im Krankenhaus repariert werden wie ein Auto in der Werkstatt; ist der Mensch ›in Ordnung gebracht‹, so kann er in den Lebenszusammenhang der Gemeinschaft zurückkehren. […] Die elektronische

griff der reproduktiven Kulturen vor, um solche sozialen Phänomene analytisch beschreiben zu können, damit sollen »soziale Regeln des reproduktiven Handelns und damit verbundene spezifische Strukturierungen des reproduktiven Lebenslaufs für exemplarische Sozialgruppen rekonstruiert werden« können.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Überwachung durch Monitore wurde in der Medizin weithin und fast ohne Einwände akzeptiert, weil es so überaus gut zu dem in der Medizin vorhandenen Modell des Körpers als Maschine paßt. (Ebd.: 78) Wird beispielsweise der weibliche Körper, besonders der Uterus, als Maschine betrachtet, dann erscheinen die Abläufe der Geburt als spezielle Mechanismen, die nahezu automatisch und zwangsläufig körperlich ablaufen. Dementsprechend sind die körperlichen Aspekte und Prozesse in Abgrenzungen zur Frau, ihren Wahrnehmungen und Empfindungen, zu betrachten. Die von Martin interviewten Frauen beschreiben sich in den 1980er Jahren selbst als ihrem Körper ausgeliefert und unterworfen, körperliche Vorgänge erscheinen als nicht willentlich steueroder lenkbar (vgl. ebd.: 101f.). Es kommt zu einer Trennung von Körper und Selbst und damit zu einer Entfremdung. Körperliche Erscheinungen müssen entsprechend dieser Deutung angenommen und erduldet werden. Die Frauen beschreiben sich als ausgeliefert, ohne selbstbestimmte Handlungsoptionen. Getrenntsein von Körper und Selbst findet seinen Ausgang vermutlich, so die These Martins, durch medizinisch passive Beschreibungen (vgl. ebd.: 112), beispielsweise wenn die Wehen als unwillkürliche Kontraktionen des Uterus als Muskel bezeichnet werden (vgl. ebd.: 80). Die Betrachtungsweise des weiblichen Körpers als Maschine hat auch Auswirkungen darauf, wie die Position des Arztes gedacht wird. Er gilt als »Mechaniker oder Techniker«, der den Körper »wieder herstellt‹ in Ordnung bringt« (ebd.: 76). Mit der Produktionsmetapher für die menschliche Fortpflanzung gerät das Kind als Produkt in den Fokus, dessen Qualität zu prüfen und zu überwachen ist. Eine weitere Art der Metapher funktioniert nach dem Muster eines hierarchischen Kommunikationssystems und formiert sich um die Begriffe Signal und Reaktion. Sie werden seit den 1980er Jahren genutzt (vgl. ebd.: 58ff.) und finden sich vor allem in der Beschreibung hormoneller und muskulärer Vorgänge (vgl. Mack 2010: 243). Es etabliert sich ein Phasenmodell der Geburt, in dem einzelne Abschnitte benannt werden: Eröffnungsphase, Austreibungsphase und die Plazentaperiode mit Abnabeln und Ausstoßung der Plazenta (vgl. Schneider et al. 2011: 689). All diesen Phasen sind bestimmte Veränderungen pro Zeiteinheit zuordnet. Die Abstände und Dauer der Wehen und die Öffnung des Muttermundes gelten dabei als zentrale Messgrößen. Aus dieser Perspektive entsteht ein lineareres Modell der Geburt, Abweichungen gelten als regelwidrig und sind behandlungsbedürftig. Aus dieser Beurteilung heraus liegen abweichende Geburtsverläufe im Handlungsbereich der Ärzte. Medikamente, Überwachung oder Eingriffe zur Verbesserung und Beschleunigung verdeutlichen den Charakter der Produktivität. Es wird für angemessen gehalten, die Frauen zu überwachen, in Position zu bringen und den Geburtsprozess durch Dritte aktiv zu steuern (ebd.: 80). In diesem Zusammenhang wird die Frau

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Die unbekannte Geburt

als passive Gastgeberin der Geburt und Umgebung, in der das Kind heranwächst, gedeutet. Weiterhin etablierte sich die Vorstellung, dass Wehen für das Kind nachhaltige, traumatische Auswirkungen hätten: der Uterus als Todesschleuder oder Gefängnis sind bekannte Analogien. Daraus ergaben sich Versuche, die Geburt für das Kind sanfter zu gestalten, Mutter und Kind wurden als Konfliktpaar und nicht als integrale Einheit konstituiert (vgl. Martin 1989: 88f.). In den metaphorischen Deutungen und daran gekoppelten Praktiken entfaltet und verkörpert sich die Bio-Macht, indem zwei Mechanismen fusionieren: die (Gebär-)Fähigkeiten zu steigern und sie in ein ökonomisches Kontrollsysteme einzugliedern (vgl. Beaufaÿs 1997: 89). Obwohl Martins Studie Ende der 1980er Jahren veröffentlicht wurde, sind ihre Ergebnisse bis heute relevant (vgl. Hoffmann-Kuhnt 2013). In aktuellen medizinischen Lehrbüchern finden sich die Beschreibung des ›Geburtsmechanismus‹, sowie die Vermittlung der Praktiken zur ›Überwachung‹ und ›Leitung‹ der Geburt. Im deutschsprachigen Raum kursiert unter Hebammen bis heute ein älterer Merksatz, um sich den Vorgang der Geburt einzuprägen: »Und dann verlässt die Fruchtwalz den Fruchthalter durch das Weichteilansatzrohr«. Die medizinischen Begriffe erzeugen die Vorstellung starrer Körperteile: Wenn kein Passungsverhältnis zwischen mütterlichem Becken und kindlichem Kopf besteht, kann es zu Komplikationen kommen. Eine weitere Vorstellung etablierte sich mit der medizinischen Geburtshilfe: die Frau benötigt während der Geburt Ruhe und eine ruhige Position, um die Geburt gut zu überstehen oder erleiden zu können: Bewegung, Gespräche, eine aufrechte Position, die als anstrengend erachtet wird, gelten als kontraproduktiv. Damit rückt die Geburt in einen Kontext, in dem die horizontale Lage und ein ruhiges Abwarten für ein Gelingen als besonders wertvoll erachtet werden. Der Geburtsschmerz gilt dann als unzumutbar und es muss ein Weg gesucht und gefunden werden, um ihn auszuschalten oder zu beherrschen. Welche Modelle der Geburt ergeben sich nun aus dieser Deutung? Die Frau gilt es zu schonen, was ihr in einer liegenden Position und durch die Gabe von Schmerzmitteln ermöglicht wird. Die Höhepunkte der beschriebenen Entwicklungen bildeten in Deutschland die Geburt im Dämmerschlaf24 und die ›programmierte Geburt‹. Entwickelt wurde das Geburtskonzept der programmierten Geburt in den 1960er Jahren, um Risikoschwangere besser betreuen zu können und Geburtskomplikationen vorzubeugen. Zügig wurde die Anwendung ausgedehnt, denn es brachte einen erheblichen Vorteil für die organisatorischen 24

Die Kombination aus Opiaten und Scopolamin ermöglichte eine Geburt im ›Dämmerschlaf‹, auch als ›twilight birth‹ bekannt. Die Geburt verlief nicht schmerzlos, aber die Frauen konnten sich an die Schmerzen nicht mehr erinnern (vgl. Bremerich et al. 2001: 18).

4. Das dispositive Feld der Geburt

Krankenhausabläufe (vgl. Heindiri 2014: 21). Die unberechenbare und -planbare Geburt wurde nun zu einer planbaren Größe und ließ sich bewusst in günstige Zeiträume legen. Im Mittelpunkt stand die Bestrebung, die Geburt für das Kind leichter und komplikationsloser zu gestalten, die Mutter hingegen trat in den Hintergrund, sie »wurde unter der Prämisse des Kindswohls zum Gegenstand der Geburtsmedizin« (ebd.: 20). Die Leistung der Mutter, ihre körperliche Bereitschaft zur Geburt und ihre psychisch-mentale Verfassung waren nicht von Belang. Sie war der Ort der körperlichen Abläufe und die Hülle für die Entstehung des Kindes. Einmal in Gang gesetzt, so die damalige Vorstellung, verlief die Geburt wie ein mechanischer Prozess, der sich in der Frau ereignete. Damit wurde der errechnete Geburtstermin zu einer orientierungsgebenden Größe, er war ausschlaggebend für die Geburtseinleitung und Durchführung der Geburt. Das eigenständige Einsetzten der Wehen, das eigene Tempo, Rhythmus und Dauer der Geburt hatten keinen Raum (vgl. Martin 1989: 81), dafür jedoch die Anleitung durch professionelle Geburtshelfer*innen. Verlief die Kompetenzgrenze zwischen Ärzten und Hebammen vorher entlang der Definitionsgrenze einer regelwidrigen Geburt, war nun jede Geburt geprägt durch starke organisatorische Einwirkungen und stand damit unter der Kontrolle der Ärzte und ihrem Handeln (vgl. ebd.: 22). Die Frau wurde zu einem Objekt, an dem die Geburt von den Ärzten und Hebammen vollzogen wurde, sie steuerten und lenkten den Vorgang und brachten ihn erst hervor. Hebammen agieren hier in erster Linie als Arzthelferinnen und bedienen die technischen Geräte. Das beschriebene Geburtsmodell und Praktiken zur Steuerung der Geburt hatten Auswirkungen auf die Deutungen der Frauen. Sie wurden »zu Subjekten der medizinischen Disziplin« (Beaufaÿs 1997: 89) und ihre eigene Identität, Wahrnehmung und ihr handelndes Bestreben waren dadurch geprägt. Starke Kritik, gespickt mit den Erfahrungsberichten traumatisierter Frauen, kam von den Frauenbewegungen ab den 1960er Jahren und von kritischen Ärzten. Die Konstruktion einer ›natürlichen Geburt‹ kann hier als Gegenreaktion zur Etablierung der ›programmierten Geburt‹ gewertet werden. Innerhalb dieses Konzeptes und Verständnisses gewannen der Parameter der Selbstbestimmung und das Verständnis von Geburt als individuell bedeutsames Erlebnis für die Frau an Bedeutung (vgl. Heidiri 2014: 28f.; Sayn-Wittgenstein 2007: 18). Eine Kritik an der modernen, invasiven Geburtsmedizin gab es auch während ihrer machtvollen Entfaltung, immer wieder wurde von männlichen Ärzten diskutiert, welche Art der Geburt oder Geburtsposition als die natürliche Geburt anzusehen sei und inwiefern schmerzlindernde Medikamente eingesetzt werden sollten (vgl. Bremerich et al. 2001: 834). Heidiri (2014) beschreibt drei Phasen der medizinischen Kritik: Die erste Phase beschreibt ergänzende Bestrebungen geläufiger Geburtsmodelle und Praktiken durch die Mediziner. Als ein diskursives Ereignis ist die Veröffentlichung des Bu-

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Die unbekannte Geburt

ches »Die natürliche Geburt« (1933) und das Folgebuch »Geburt ohne Schmerzen« (1964 [1950]) von Grantly Dick-Read zu betrachten. Der Geburtshelfer versuchte, das etablierte System der Geburtshilfe um die Aspekte des mütterlichen Gemüts zu erweiterten. Er forderte, den psychischen Aspekten der Mutter für eine gelingende Geburt Beachtung zu schenken. Die natürliche Geburt, so Dick-Read, kann und muss keine Qual oder Schinderei sein. Eine natürliche Geburt definierte er als eine schmerzarme Geburt (vgl. Heidiri 2014: 11). Die zweite Phase beginnt in den 1970er Jahren. Federführende Kritiker sind die Franzosen Fréderick Leboyer (1974) und Michel Odent (1986), die für eine Korrektur der medizinischen Geburtshilfe eintreten und die Beachtung der Bedürfnisse des neugeborenen Kindes einfordern. Besonders Odent entwickelt die ›sanfte Geburt‹ als eine Form der Geburtshilfe, bei der eine sanfte und gewaltfreie Ankunft des ungeborenen Kindes fokussiert wird. Odent appelliert, die Geburt wieder in die Hände der Frauen zurückzugeben. Indem er den weiblichen Instinkt der Frau während der Geburt betont, einen ›wilden Kreißsaal‹ einrichtet und den Zustand der Gebärenden als entrückt beschreibt, schreibt er der Frau während der Geburt einen animalischen und infantilen Zustand zu (vgl. Martin 1989: 193). Allein durch die Nennung dieser bedeutsamen Namen wird deutlich, dass nur den männlichen Geburtsmedizinern, als sehr spezifischem Personenkreis, eine entscheidende Sprecherposition und Kritikmöglichkeit im medizinischen Sektor zustand. Sie beschrieben Fehlentwicklungen und forderten ein Umdenken in der Geburtsmedizin. Es blieb jedoch Kritik, die eine (sichere) Geburt weiterhin im Krankenhaus verortete. Die Monopolstellung einer Krankenhausgeburt und der (männlichen) Geburtsmedizin blieb unangefochten bestehen. In der dritten Phase ab den 1980er Jahren deutet sich eine Abkehr von der Klinikgeburt an. Es entstehen Frauengesundheitszentren, Aufklärungsworkshops und Geburtshäuser. Frauen entwickeln alternative Geburtskonzepte und Geburtspraktiken, die natürliche Geburt wird auch außerhalb des Kreißsaales verortet. Vermehrt entwickeln nun betroffene Frauen, vor allem in Amerika, alternative Geburtskonzepte: Ina May Gaskin (2004) und Marie F. Mongan (2013) können hier exemplarisch benannt werden. Sie betonen die Bedeutung von anderen Frauen und einer häuslichen Umgebung. Gleichzeitig wird diese Bewegung als riskant und verantwortungslos dem ungeborenen Kind gegenüber kritisiert.25 In Abgrenzung zur Analogie zwischen Warenproduktion und gebärenden Frauen, entstehen innerhalb der Kritik neue Schlüsselbegriffe, Metaphern und anschauliche Symbole für die Geburt (vgl. Martin 1989: 189ff.). Die Aspekte der beglücken-

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Aus der massiven Kritik an der außerklinischen Geburtshilfe bildete sich in Deutschland die Gesellschaft für Qualität der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG) und erhebt Daten, die die Qualität gewährleisten und überprüfen sollen. Die Geburt außerhalb des Krankenhauses bleibt in Deutschland eine sehr umstrittene und kritisiert Randerscheinung.

4. Das dispositive Feld der Geburt

den Arbeit oder der positiven Tätigkeit im Einklang mit dem Körper finden in den Metaphern des Tanzes, Marathons, Bergsteigens oder Wettschwimmens ihren Ausdruck. Die jeweiligen alternativen Geburtstheorien, die mit einer Kritik des etablierten Systems einhergehen, haben in ihrer Verschiedenheit den Versuch gemeinsam, die Frau zu ermutigen, »selbstbewusst diesem Ereignis einen ihnen gemäßen Sinn zu geben. Dieses Leitthema – zu einem ganzheitlichen Sinn des Erlebens zu finden – entspricht der Aufforderung der Frauengesundheitsbewegung« (ebd.: 193). Diese Alternativen sind keineswegs widerspruchsfrei oder frei von der »gängigen Ideologie unserer Gesellschaft« (ebd.). In den meisten der alternativen Ansätze kommt es zu einer Idealisierung der natürlichen Geburt, erst in dieser Situation würden Frauen ihre ganze Weiblichkeit entfalten, Geburt könne beglückend, erfüllend oder schmerzarm sein (vgl. Jurgelucks 2004: 7). Sie wird in diesem Kontext zu einem biographisch bedeutsamen und die Persönlichkeit prägenden Ereignis im Leben einer Frau hochstilisiert, sie erfährt damit eine starke Aufwertung (vgl. Rose/Schmied-Knittel 2011).26 Insgesamt entsteht aus den kritischen Bewegungen neues Wissen beziehungsweise eine Besinnung auf die traditionelle Geburtshilfe (vgl. ebd.: 79ff.). Zwar sind manche Autor*innen Ärzt*innen, doch publizieren sie ihre Werke in Form von Ratgebern und Fachbüchern für interessierte Frauen oder Hebammen. Ein alternatives Wissen wird maßgeblich nicht in einem medizinisch-naturwissenschaftlichen Spezialdiskurs der Medizin hervorgebracht, sondern in einem Interdiskurs oder Alltagsdiskurs und unterliegt damit auch nicht den Formationsregeln der Wissenschaft. Dennoch entfalten sie einen Effekt und wirken auf den medizinischen Spezialdiskurs ein. Das Wissen speist sich aus den praktischen Erfahrungen in der Geburtshilfe und einem Verständnis von Geburt, das ein Wohlergehen der Frau, ihre Bedürfnisse, Wünsche und ihr Tempo verstärkt in den Blick nimmt. Es entsteht durch Beobachtungen in der Praxis, experimentelle Praktiken und Überlegungen, ist aber vorerst nicht naturwissenschaftlich oder bio-medizinisch abgesichert und muss sich darum von Seiten der Mediziner*innen oder manchen Strömungen der Frauenbewegung den Vorwurf der Spiritualität gefallen lassen, die mit einem verminderten Wahrheitsanspruch einhergeht. Um die jeweiligen zentralen Personen und Werke entstehen spezielle Geburtstheorien, mit ihren eigenen sprachlichen Besonderheiten, spezifischen Ratgebern und einer eigenen Beratungs- und Kurslandschaft. Exemplarisch sei hier ›Hypnobirthing‹27 aufgeführt. 26

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Darüber hinaus würde sich die Bewertung des Geburtserlebnisses unmittelbar auf die Mutter-Kind-Beziehung, den Stillbeginn, die weitere Entwicklung des Kindes und damit auf die gesamte Familie auswirken (vgl. Sayn-Wittgenstein 2007: 18). Marie Mongan, die Gründerin dieser speziellen Geburtstheorie, entfaltet ihre Überlegungen anhand ihrer eigenen Geburten. Als die eigene Tochter ein Kind erwartete, verfeinerte sie die Methode. Nach der Veröffentlichung des Buches folgen ein umfangreiches Kurs-, Ausbildungs- und Zertifizierungsangebot. Das Konzept des Hypnobirthing erfährt bis heute

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Die unbekannte Geburt

Durch die Frauenbewegung und Verbraucherorganisationen entsteht der Druck zum Wandel auf Krankenkassen und Ärzte zur Wahrung der Grundrechte der Schwangeren und Gebärenden. Die Kritik wird in die Ausgestaltung der Krankenhausgeburt und der Geburtsmedizin integriert und stärkt auf diese Weise wiederum deren Monopol. Das Ziel der neuen Orientierung in der Geburtshilfe besteht in frauenzentrierten und -gerechten Betreuungsangeboten. Es etabliert sich die Information der Gebärenden über Medikamentengabe und spezifische Eingriffe sowie die Anwesenheit der Väter als Vertrauensperson bei der Geburt. Der Anspruch der Geburtshilfe verändert sich, aber das medizinische Konzept des Geburtsverlaufs wird grundlegend nicht abgelehnt oder in Frage gestellt, es etabliert sich kein grundlegend neues medizinisches Verständnis von Geburt (vgl. Martin 1989: 189). Die humane, familienfreundliche und sichere Geburt im Krankenhaus setzt sich nun als Ideal durch (vgl. Heidiri 2014: 48, Hillemanns 1983). Die Kritik an und in der Geburtsmedizin führt zu einer Humanisierung der Geburt ab den 1980er, verstärkt ab den 1990er Jahren (vgl. Jung 2017: 31). Eine sichere Geburt bleibt in Deutschland fest verwurzelt in der Institution des Krankenhauses. Ein weiterer prägender Aspekt besteht ab den 1990er Jahren in der Ökonomisierung der Geburtshilfe, die sich mit der Einführung des DRG-Systems28 2009 verstärkt (vgl. ebd.: 33ff.). Die Geburt wird in Wert gesetzt, das Einkommen kann durch den Einsatz spezifischer Medikamente, Techniken und Praktiken gesteigert werden. Damit geht eine spezifische Motivation beim Einsatz von Vorsorgeuntersuchungen, aber auch bei Geburtsinterventionen und operativen Entbindungen einher. Zunehmend werden die gebärenden Frauen nicht mehr als Patientinnen, sondern als Konsumentinnen bezeichnet und adressiert. Die Medizin wird zum Dienstleistungssektor. Dieses neue Paradigma steht dabei dem früheren medizinischen Selbstverständnis entgegen (vgl. Seehaus 2015: 53).

4.1.6

Geburtshilfe der Gegenwart

Die historischen Entwicklungen, vor allem die der letzten 70 Jahre, und Macht- und Wissensstrukturen prägen die heutige Geburtshilfe und das konkrete Geburtsgeschehen erheblich. Geburten fanden 2017 zu 96,73 % in der Institution des Krankenhauses statt (IQTIG – Institut für Qualitätssicherung 2017: 78). Der Anteil der Geburten, die geplant außerhalb des Krankenhauses stattfinden, beträgt dabei in den

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eine steigende Nachfrage, der Bekanntheitsgrad nimmt zu, auch wenn es sich bei der Anwendung insgesamt um eine kleine Gruppe Gebärender handeln dürfte. Das DRG-System (Diagnosis Related Groups) ist ein Klassifikations- und Fallpauschalensystem, mit dessen Hilfe die Wirtschaftlichkeit, Transparenz und Qualität von Krankenhäusern gesteigert werden sollte. Das Abrechnungssystem wurde in Deutschland 2009 eingeführt (vgl. Braun et al. 2007: 3).

4. Das dispositive Feld der Geburt

letzten Jahren 1-2 %. Während sich historisch eine Maskulinisierung der Geburtspraxis, aber auch der Wissensgenerierung beschreiben lässt, sind heute circa 80 % der Gynäkolog*innen weiblich (Schaudig und Diedrich 2018). Dennoch befinden sich besonders auf Leitungsebenen und in forschungsrelevanten Positionen überwiegend männliche Ärzte. Das hegemoniale bio-medizinische Wissen entspringt nach wie vor einem patriarchal geprägten Modell, auch wenn es hier angesichts der stärkeren geschlechtlichen Durchmischung zu einem Wandel kommt. Objektive Einschätzungen des Geburtsprozesses stehen über der subjektiven Wahrnehmung durch die Gebärende. Seit 2014 wird die Position der Hebammen medial als prekär diskutiert, seit ein Versicherer aus der Versicherung der Hebammen aussteigen wollte und damit die Grundlage der beruflichen Tätigkeit gefährdet war. Hebammen- und Elternproteste bildeten sich und machen seither auf die schwierige Lage der Hebammen aufmerksam. Hinzu kommen Hebammenmangel und die Schließung kleinerer, regionaler Kliniken. Seit die Geburtenzahlen ab 2016 wieder ansteigen, führt das zu Betreuungsengpässen in vielen Teilen Deutschlands, wodurch beispielsweise gebärende Frauen von Kliniken abgelehnt werden oder Geburtshilfestationen und damit auch Geburtshäuser auf deutschen Inseln nicht mehr existieren und die Frauen gebeten werden, zwei Wochen vor der Entbindung auf das Festland überzusiedeln. Zwei Drittel der Hebammen betreuen im Kreißsaal zeitgleich drei und mehr Gebärende (vgl. Stahl 2016: 1). Es fehlt jedoch nicht nur an Hebammen, sondern auch an medizinischen Geburtshelfer*innen. In den letzten Jahren kann folglich von einer Krise der Geburtshilfe gesprochen werden. Der derzeitige Gesundheitsminister Jens Spahn plädiert für die Einrichtung großer Spezialkliniken, die sich auf Geburten spezialisieren und dadurch die Kindersterblichkeit senken sollen. Geburtshilfe gehört aktuell nicht zur Grundversorgung und es gilt: je mehr Geburten ein*e Ärzt*in/Hebamme durchführt und je besser sie spezialisiert ist, umso besser und sicherer ist auch die Geburt. Durch die Zentralisierung der Geburtshilfestationen kommt es zu einem gravierenden »Rückbau geburtshilflicher Infrastruktur« (Jung 2016: 227). Die Interventionsraten sind sehr hoch, nur 6 % der klinischen Geburten verlaufen interventionsfrei (vgl. Mundlos 2017: 313). Der Anteil der Kaiserschnittrate liegt in den letzten Jahren bei etwa 30 % und damit wesentlich höher als der von der WHO empfohlene Anteil von unter 15 %. In den letzten Jahren haben Interventionen, wie die medikamentöse Einleitung und Beschleunigung der Geburt, zugenommen. Außerdem lässt sich das Phänomen der Interventionskaskade beschreiben, wonach eine Intervention die nächste nach sich zieht (Schücking/Schwarz 2004). Die Mortalitäts- und Morbiditätsraten für Mutter und Kind sind dabei durchgehend gering, wobei sie im europäischen Vergleich nur im Mittelbereich liegen und seit dem Anstieg der Interventionen nicht mehr gesunken sind. Die Geburt

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Die unbekannte Geburt

schwebt damit theoretisch nicht zwischen Leben und Tod, dennoch richtet sich die medizinische Geburtshilfe nach wie vor maßgeblich an pathologischen Geburtsverläufen aus. Auch die Vorsorgeuntersuchungen sind am Risikofaktorenmodell ausgerichtet, das die Erkennung von Risikofaktoren und deren Prävention fokussiert (vgl. Baumgärtner/Stahl 2005: 40ff.). 80 % der Schwangeren wird eine Risikogeburt zugeschrieben (IQTIG Institut für Qualitätssicherung 2017: 78), weshalb man von einer Normalisierung der Risikogeburt und der Standardisierung der HightechGeburt sprechen kann (Schücking/Schwarz 2004: 8). Die Ursachen für diese Entwicklung sehen Schücking und Schwarz in der Sorge um juristische Konsequenzen im Schadensfall, das finanzielle Abrechnungssystem und die mangelnde Erfahrung mit der Begleitung physiologischer Geburten.29 Ein Scheinargument hingegen sei die Wahrung der Selbstbestimmung, also der dezidierte Wunsch der Frauen nach eben jenen Interventionen und einem gesunden Kind sowie das Bedürfnis nach Sicherheit. Diese dargelegten Einflussfaktoren sind vor allem struktureller und personeller Natur, worin liegen hingegen die kulturellen Faktoren? Rose und Schmied-Knittel (2011) bearbeiten in ihrem Aufsatz die Frage nach der kulturellen Konstruktion von modernen Geburtsvorstellungen. Als bedeutsame Leitkonzepte benennen sie das medizinische Sicherheitsdispositiv und das Natürlichkeitsdispositiv. Ersteres gründet in einem Geburtsverständnis der medizinischen Geburtshilfe, das die Geburt grundsätzlich als ein riskantes Lebensereignis für Mutter und Kind entwirft. Um das Risiko zu minimieren, werden »technische Überwachungen« und »intensiv ärztliche Interventionen« (ebd.: 77) eingesetzt. Die fachliche, legitimierte und zertifizierte Expertise der Geburtshelfer*innen sowie ihre Handlungs- und Entscheidungsautonomie sind zentral. In Reaktion auf diese Entwicklung kommt es zu einer »De-Medikalisierung und Re-Naturalisierung« (ebd.: 75) und zur Generierung des Natürlichkeitsdispositivs, mit einer Rückbesinnung auf traditionelle Praktiken und Riten sowie der Aufwertung der Hebammentätigkeit. Es kommt zu einer »Bedeutungsaufladung« (ebd.: 88) der Geburt als ein biographisches Event, das es vorzubereiten gilt und dem ein gewisser Erlebnischarakter inhärent ist. Die Schlüsselkonzepte des Dispositivs bilden die Autonomie der gebärenden Frau und ihre Expertise auf Basis ihrer Informiertheit (ebd.: 96). Rose und Schmied-Knittel bewerten das Streben nach einer sanften und natürlichen Geburt als hegemonialen Geburtsdiskurs (ebd.: 89). Gleichzeitig beschreiben sie die paradoxe, ambivalente Verbindung beider Leitkonzepte als konstitutiv für Geburt in der Postmoderne (ebd.: 76).

29

Der Begriff der physiologischen Geburt wird in den letzten Jahren vermehrt benutzt, um für eine Reform der Geburtshilfe einzutreten und nicht ›natürliche Geburt‹ zu verwenden.

4. Das dispositive Feld der Geburt

4.1.7

Diskursformationen der Geburtsdispositive

Die Wandlungsprozesse der Geburt lassen sich mit den Diskursformationen der Medikalisierung, Technisierung, Institutionalisierung, Humanisierung, Ökonomisierung und Professionalisierung charakterisieren. Ein Augenmerk liegt bei der Diskursivierung des Geburtswissens, der Betrachtung der unterschiedlichen Wissensformen und ihr Verhältnis zueinander. Die Beschreibung der jeweiligen Entwicklungslinie und die Diskussion der gegenwärtigen Parameter zur Bewertung des Wandels der Geburtshilfe, Natürlichkeit, Sicherheit und Selbstbestimmung der Frau, schließen das Unterkapitel zu Diskursformationen ab. Medikalisierung Der (kritische) Begriff der Medikalisierung stammt von Ivan Illich und meint die »Monopolisierung von Gesundheitsfragen und Krankheitsbewältigung« (Heinritz et al. 2011: 432) im Bereich der Medizin und den dazugehörigen Institutionen. Metz-Becker (2013) weist darauf hin, dass die akademischen Ärzte zuerst eine Hierarchisierung des Wissens anstrebten. Das lebensweltliche Geburtswissen der gebärenden Frauen und die praktische Ausbildung des Hebammenhandwerks wurde den ›normalen‹ Geburten zugeordnet, während Ärzte und Chirurgen eine Entbindungskunst für pathologische Geburtsverläufe entwickelten. Ab den 1950er Jahren eroberte die Medizin und die Institution des Krankenhauses in Belangen der Geburt eine Monopolstellung. Normierung, Objektivierung, Pathologisierung und Regulierung sind als Komponenten der Medikalisierung zu betrachten (vgl. Kolip 2000: 18). Seit der Möglichkeit zur Erhebung relevanter Messgrößen und rechnerischen Ermittlung statistischer Durchschnittswerte war es möglich, (Grenz-)Werte als handlungsleitende Normen zu etablieren (vgl. Kolip 2000: 18f.). Galt vor dieser Praktik allein die subjektive Wahrnehmung der Frau als ausschlaggebend für die Einschätzung der Situation und die Behandlungsmethoden, gab es nun die Möglichkeit, ›objektive‹ Daten zu gewinnen und zu bewerten. Das führt zu »willkürlich festgelegte[n] Idealwerte[n]« (Kolip 2000: 19), Abweichungen galten als pathologisch und damit behandlungswürdig. Die Festlegung der Grenzwerte definierte damit auch das Handlungsfeld der Ärzt*innen, die bis heute für regelwidrige Schwangerschaften und Geburten zuständig sind. Technisierung Die Entwicklung von medizinisch-technischen Geräten und Innovationen reichte vom vielfältig verstellbaren Gebärstuhlbett über die Gebärzange bis hin zum CTGoder Ultraschallgerät. Die technischen Geräte und Werkzeuge stehen für Modernisierung, Sicherheit und Komfort. Sie ermöglichen die Ermittlung von Messwer-

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Die unbekannte Geburt

ten, Überwachung oder das kurative Eingreifen. Der persönliche (Haut-)Kontakt zur Schwangeren oder Gebärenden, das Erspüren und Begleiten kann durch die technischen Geräte ergänzt oder ersetzt werden. Die Bedienung erfordert eine gesonderte Ausbildung und Fähigkeit von Expert*innen. Der Zugang für Lai*innen kann darum immer nur ein vermittelter sein und erfolgt demnach in Abhängigkeit von den Expert*innen. Institutionalisierung Lange Zeit fand die Geburt in einem häuslichen Umfeld statt. Durch rituelle Praktiken und Vorbereitungen verwandelte sich der Raum in den Ort der Geburt. Die Anwesenheit bekannter Frauen prägte die Atmosphäre. Die Geburt war ein öffentlicher Akt in der vertrauten Frauengemeinschaft. Mit der Einrichtung von Gebäranstalten und Accoucieranstalten rückte das Ereignis der Geburt für arme, ›gefallene‹ Frauen in den Städten in ein außerhäusliches Umfeld. Die Öffentlichkeit der Geburt veränderte sich, indem diese Frauen isoliert von ihrem persönlichen Umfeld, in Begleitung von männlichen Ärzten und unbekannten Hebammen gebaren. Die Institutionalisierung der Geburt fand hier ihren Ausgang. Die Klinikgeburt breitete sich ab Anfang des 20. Jahrhunderts, von den Städten ausgehend, stetig aus. Zuerst wurde es üblich, bei eng definierten Risikogeburten in der Klinik zu gebären. Die Beliebtheit der Institution des Krankenhauses weitete sich nach 1950 in Deutschland schlagartig aus, bis sich ab den 1960er Jahren Geburten fast ausschließlich in Krankenhäusern ereigneten. Bis in die 1980er Jahre hinein bedeutete das für Frauen eine absolute Isolation von ihrer lebensweltlichen, alltäglichen Umwelt. Im Zuge der Humanisierung der Geburtshilfe wurde Geburt als ein privates Ereignis des Paares gedeutet, bei dem die Anwesenheit des Vaters zunehmend gestattet oder erwünscht war. Das private, intime und familiäre Ereignis war eingebettet in den institutionalisierten Rahmen des Krankenhauses und einer professionellen Öffentlichkeit von wechselnden Hebammen und Ärzt*innen. Humanisierung Der Entwicklungslinie der Humanisierung ist differenziert zu betrachten. Ab den 1850er Jahren widmete sich die Medizin der Linderung des Geburtsschmerzes, bis dahin wurde dieser Aspekt innerhalb der Geburtsmedizin nicht thematisiert (vgl. Bremerich et al. 2001: 18). Die medizinischen Errungenschaften der Schmerzlinderung durch Äther wurde von den (besser gestellten) Frauen umfangreich in Anspruch genommen, nachdem es in England bei der Geburt des achten und neunten Kindes von Königin Victoria zum Einsatz kam, und wurde auch durch Akteur*innen des Feminismus als Maßnahme der Humanisierung der Geburt gelobt. Der Geburtsschmerz galt somit in dieser Zeit als inhuman.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Eine weitere Konnotation erfährt der Begriff der Humanisierung mit den Frauenbewegungen der 1970er Jahre. Nun forderten Frauen und kritische Ärzt*innen eine Humanisierung der Geburtshilfe für Gebärdende und ihre Kinder: die Frau sollte während der Geburt menschlich behandelt und ihre subjektiven Empfindungen wahrgenommen werden. Ihr Recht auf Information, Aufklärung, Wahlfreiheit und Selbstbestimmung erhielt zunehmend Bedeutung. Die sterile Atmosphäre des Kreißsaals veränderte sich ab den 1990er Jahren, ein bestimmtes Maß an Privatheit und privater Geburtsbegleitung wurden möglich. Zunehmend waren die Kinder nun nach der Geburt bei ihren Müttern und nicht im Säuglingszimmer untergebracht. Mittlerweile etablieren sich Familienzimmer, die der neuen Familie auf der Geburtshilfestation einen gemeinsamen Aufenthalt ermöglichen. Der Begriff der Humanisierung der Geburtshilfe suggeriert, es habe eine inhumane Geburtshilfe gegeben beziehungsweise eine humane Geburt sei das Ergebnis des medizinischen Schmerzmanagements. Andere Autoren betonen, dass eine humane Geburtshilfe eine frauengerechte und -zentrierte Ausrichtung bedeutet, in der die Frau mehr als Subjekt denn als Objekt betrachtet wird. Ökonomisierung Während die oben beschriebenen Veränderungen sehr langsam seit dem 17./18. Jahrhundert erfolgten und sich durchsetzten, ist die Ökonomisierung der Geburt ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Bis dahin war die Geburtshilfe eine unentgeltliche Hilfsgemeinschaft der Frauen beziehungsweise eine (nach der sozialen Situation der Eltern) gering entlohnte oder durch Naturalien geleistete Bezahlung der Hebamme. In Accoucierhäusern wurde die Gegenleistung für die Aufnahme zur Geburt über Arbeit und Zurverfügungstellung des eigenen Körpers für Forschungszwecke erbracht. Die Geburtshilfe war demnach der Sorgearbeit der Frauen oder der Wohltätigkeitsarbeit zugeordnet. Mit der vollständigen Institutionalisierung und der Erstellung der Mutterschaftsrichtlinien wurden 1966 in der BRD Leistungen der Schwangerschaftsversorgung, Geburtshilfe und Wochenbettbetreuung aufgeschlüsselt und in Wert gesetzt. Die Ökonomisierung verstärkte sich ab den 1990er Jahren und mit der Einführung der DRG-Systems 2009 (vgl. Jung 2017: 33). Zunehmend finden sich statt der Bezeichnung Ärzt*in und Patient*in die Begriffe Dienstleister*in und Kund*in. Mit der Ökonomisierung entfalten sich im Gesundheitssystem Überlegungen zu Kosteneffizienz, Gewinnmaximierung, Bedarf und Nachfrage (Reibnitz und List 2000). Verschiedene Akteur*innen haben ökonomische Interessen an Schwangerschaft und Geburt: Krankenkassen, Pharmaindustrie, Medizingerätehersteller und Krankenhausverwaltungen (vgl. ebd.).

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Die unbekannte Geburt

Professionalisierung Die Entwicklungslinie der Professionalisierung (vgl. Sayn-Wittgenstein 2007; Zoege 2004) beschreibt den Prozess der Transformation der Tätigkeit der Geburtshilfe, in deren Rahmen es zu einer Verwissenschaftlichung und Akademisierung kam. Es lässt sich eine Verschiebung der geschlechtlichen Aufteilung der Aufgabenbereiche und der Hierarchie zwischen Hebammen und Ärzt*innen feststellen. Mit der Professionalisierung wird die Unterscheidung zwischen Expert*innen und Lai*innen bedeutsam. Die Bewältigung der Geburt rückt allmählich aus dem lebensweltlichen Zuständigkeitsbereich der Frauen. Mit dieser Entwicklung ergibt sich eine lebensweltliche Distanz zum Ereignis der Geburt. Die Geburtenraten und die zunehmende Verbreitung der Ein-Kind-Familie lassen darauf schließen, dass das Erleben der Geburt für Frauen heute ein exklusives und seltenes Erlebnis des eigenen Empfindens ist. Auch die Stellung der Hebammen veränderte sich sehr stark, von einer speziellen, helfenden Frau unter vielen zu einer besonders qualifizierten, erfahrenen und zertifizierten Expertin der Lebenswelt bis hin zu einer Ausbildung in Abhängigkeit zu den Ärzt*innen, bei gleichzeitigen, eigenständigen Geburtshilfen im häuslichen Umfeld. Den akademischen Mediziner*innen gelang in der historischen Entwicklung eine vollständige Professionalisierung mit einer Monopolstellung über geburtshilfliches Wissen und dessen Generierung sowie eine höhere (Ausbildungs-)Position gegenüber Hebammen und gebärenden Frauen (vgl. Beaufaÿs 1997: 95ff.). Damit ging eine höhere gesellschaftliche und ökonomische Stellung sowie eine Deutungshoheit über wahres, legitimes Wissen ebenso wie Handlungsautonomie einher (vgl. Zoege 2004: 217), was an die besseren Verdienstmöglichkeiten und die hohe gesellschaftliche Anerkennung des Ärztestandes gekoppelt war. Die Verteilung der Verantwortlichkeit und Zuständigkeit wird in der sprachlichen Veränderung sichtbar: Die Frau entbindet sich nicht mehr von ihrem Kind, sie wird von ihm entbunden. Geburtsleitung oder Geburtsmanagement werden besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zentralen Formen der Geburtshilfe. Mit zunehmender Institutionalisierung kam der Hebamme im Krankenhaus, besonders bei Komplikationen, eine assistierende Helferinnenposition zu. Hebammen können darum auch der Semiprofession zugeordnet werden (vgl. ebd.: 228): Die Ausbildungszeit ist mit drei Jahren kürzer als die der Mediziner*innen und Hebammen produzieren kaum (wissenschaftliches) Wissen, ihre Arbeit wird kontrolliert und sie unterstehen den Ärzten. Diese Einordnung des Berufes beschreibt ihn vor allem als defizitär und in Abhängigkeit vom generierten Wissen anderer Professionen. Jedoch zeichnet sich gerade die Hebammentätigkeit nach wie vor durch ein hohes Maß an Selbstständigkeit aus.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Ab den 1980er Jahren geriet die Medizin in ihren Professionsmerkmalen Status, Wissenskorpus, Autonomie und Handlungsverantwortung in eine Legitimationskrise, da der Glauben an die Wissenschaft nachließ und Patient*innen sich zunehmend selbst (und konträr zur Lehrmeinung) informierten (vgl. ebd.: 237). Die Wissens- und Autoritätsdistanz eines ›doctor knows best‹ wurde brüchig. Daraufhin etablierte sich die Wahrung von Transparenz und offener Entscheidungsprozesse zugunsten der Patient*innen im gesamten medizinischen Sektor. Das Wissen der Hebammen (aber auch anderer Pflegeberufe) scheint nach wie vor schwer vereinbar mit der universitären Wissenschaft (vgl. ebd.: 216), Beispiele hierfür zeigen sich in der Bedeutung der ›unsichtbaren Arbeit‹ emotionaler Zuwendung gegenüber Pflegebedürftigen oder einer salutogenetischen Blickrichtung. Seit den 1990er Jahren lassen sich Akademisierungstendenzen seitens der Hebammen beobachten, vermehrt finden sich nun auch Forschungsbeiträge oder Lehrbücher von Hebammen (Zoege 2004: 273). Die Akademisierung ist, besonders unter Hebammen, sehr umstritten, denn durch diese Tendenz könnte das praktische und emotionale (lebensweltliche) Wissen dem bio-medizinischen unterliegen. Durch einen EU-Beschluss soll die Verortung der Hebammenausbildung an Hochschulen jedoch 2020 abgeschlossen sein, in Deutschland hat sich dieser Wandel noch nicht vollständig in allen Bundesländern vollzogen (vgl. DHV 2018: 66). Wissensformen in der heutigen Geburtshilfe Die zentrale Quelle für geburtshilfliches Wissen und die Ausbildung von Geburtshelfer*innen ist die medizinische Wissenschaft, entscheidend sind anatomische Grundlagen sowie physiologische, biologische Zusammenhänge, die in den unterschiedlichen Basiswissenschaften erzeugt und verhandelt werden. Das epistemologische Verständnis der Medizin gründet im positivistischen Paradigma (vgl. Dörpinghause 2010: 20), demnach es eine objektive Realität gibt, die wissenschaftlich erschlossen werden kann. In diesem Zusammenhang können Wissenschaftler*innen die Wahrheit über naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Kausalitäten zutage fördern. Damit produzieren und legitimieren sie Wissen mit einem spezifischen Wahrheitsanspruch: Es gibt wahre und wertneutrale, von einzelnen Subjekten unabhängige Erkenntnisse. Die Geburtsmedizin basiert auf einem »medizinisch-technischen Modell« (Dörpinghaus 2013: 26), das von einem Paradoxon ausgeht: die Geburt als ein natürlicher, normaler Vorgang, der gleichzeitig sehr riskant, unberechenbar und potenziell lebensbedrohlich ist. Durch Interventionen und Prävention kann das (vermeintlich) erhebliche Geburtsrisiko minimiert werden (vgl. ebd.). Damit legitimiert die Geburtsmedizin ihre Existenz und Relevanz mit dem Schutz des Lebens von Frau und Kind.

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Unmittelbar handlungsleitend sind neben wissenschaftlichen Erkenntnissen weitere Wissensbestandteile, die sich aus der Praxis speisen und die Entscheidungsfindung von professionellen Geburtsmediziner*innen und Geburtshelfer*innen beeinflussen. Das tatsächliche Handeln in der Praxis orientiert sich an medizinischen Standards, Richt- und Leitlinien, Routinen in der jeweiligen Institution, dem kollegialen Austausch und persönlichen Erfahrungen am Einzelfall (vgl. Wagner 2003: 52), genauso wie an ökonomischen und juristischen Diskursen und Abwägungen (vgl. Dörpinghaus 2013: 28f.). Es entsteht ein komplexes, teils widersprüchliches Verhältnis von Theorie und Praxis, darum werden Fallgeschichten und die persönliche Erfahrung ergänzend zum theoretischen Wissen hinzugezogen. So beschreiben Hellmers, Krahl und Schücking (2010) in ihrer Untersuchung über »Ärztliches Handeln in der Geburtshilfe« multifaktorielle Entscheidungsprozesse, die sich an medizinischen und nicht-medizinischen Indikatoren orientieren und ebenso strukturelle wie subjektive Komponenten umfassen. Sie verweisen auf eine »Dominanz der medizinischen Indikatoren« und eine Orientierung an »abteilungsinternen Leitlinien« (ebd.: 553), weitere Faktoren bilden die eigene Berufserfahrung und die mütterlichen Wünsche. Ende der 1970er Jahre wurde das dominante medizinische Handlungs- und Wissensfeld mit steigender Autonomie und Unabhängigkeit zunehmend durch die Epidemiologie kritisiert. Die althergebrachten Entscheidungsprozesse und Orientierungsgrößen sowie die Eigenkontrolle und Erstellung von Richtlinien aus der medizinischen Disziplin heraus waren die Basis der Kritik. Daraus entwickelte sich, maßgeblich durch Archibald Cochrane angestoßen, eine evidenzbasierte Medizin (EBM) (vgl. Dörpinghaus 2013: 26). In ihr wurde die Möglichkeit zur Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis gesehen (vgl. Wagner 2003: 54). Nachdem die EBM zunächst verschmäht wurde, entwickelte sie sich bis heute zu einer zentralen Disziplin, die eng an die medizinische Wissenschaft gekoppelt ist. Das Ziel ist, ein ärztliches Handeln zu etablieren, das sich maßgeblich an Evidenzen ausrichtet und sich damit von verzerrenden »anekdotische[n] Einzelfallanalyse[n]« (ebd.: 52) distanziert. Die medizinische Ausrichtung an der EBM soll gewährleisten, dass in der Praxis nur Behandlungen angewendet werden, deren Richtigkeit und Wirksamkeit durch quantitative Studien belegt werden konnte (vgl. Dörpinghaus 2013: 28). Das fortwährend kritische Überprüfen von routinierten oder etablierten Praktiken und Methoden sowie die Betonung der vernünftigen Anwendung von Behandlungsmethoden ist ein zentraler Bestandteil der EBM. Die Sicherstellung von Sicherheit, Effektivität und Nutzen stehen im Vordergrund (vgl. Ashcroft 2004: 131). Medizinische Irrtümer sollen aufgedeckt und Handlungspraktiken, deren Nutzen nicht nachgewiesen werden konnte, eliminiert werden. Beispiele aus der Geburtsmedizin bilden hierbei Conterganbehandlungen, Dauer-CTGÜberwachungen oder eine horizontale Gebärhaltung. Um eine Tyrannisierung

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durch Evidenzen zu vermeiden, gilt es, die ärztliche Entscheidungsfindung, externe Evidenzen und den Patien*innenwillen bei Entscheidungsprozessen in einer Triangulation zu integrieren (vgl. Sackett et al. 1996: 72). Seitens der Mediziner*innen wird die EBM jedoch nicht ausschließlich positiv bewertet, so lautet der Vorwurf, sie sei nicht praktikabel und umsetzbar. Trotz dieses Vorwurfs konnte sie sich in den letzten Jahren als fester Bestandteil medizinischen Handelns etablieren und wird darüber hinaus verstärkt von Politik und gesellschaftlichen Akteur*innen gefordert, um die medizinische Versorgung zu verbessern (vgl. ebd.). Damit ist dem medizinischen Wissen, mit den Aspekten Fachwissen, praktischer Expertise und der persönlichen Erfahrungen der Mediziner*innen, eine weitere Disziplin zur Seite gestellt, um eine gute Medizin und Geburtshilfe zu gewährleisten, wahres Wissen zu generieren und optimale Behandlungsmethoden zu erheben. Beide Disziplinen gründen im positivistischen Paradigma einer objektiven Wahrheit, die es mit Hilfe unterschiedlicher Basiswissenschaften zu ergründen gilt. Die EBM bewertet das traditionelle medizinische Handeln, welches ärztliche Kompetenzen, Erfahrungen und Entscheidungen umfasst, damit dessen subjektive Aspekte, problematisch (vgl. Ashcroft 2004: 132). Um diese subjektiven Fehlerquellen auszuschließen und Fehlverhalten vorzubeugen, schlägt sie unabhängige Evidenzen als maßgebliche Orientierungsgröße vor. Nur Behandlungspraktiken, die sich in ihren positiven Auswirkungen beweisen lassen, also auf Evidenz basieren, sind zulässig, wobei es unterschiedliche Stufen der Einschätzung gibt.30 Diese Wahrheit beruht auf Populationsdaten und Berechnungen und wertet individuelles und subjektives Einschätzen und Entscheiden ab. Zwischen beiden Wissensarten lassen sich Machtkämpfe beschreiben, die um den Wahrheitsgehalt und die Eignung zur medizinischen Praxis kreisen. Während der EBM noch 1979 ein Schmähpreis der Wissenschaft, der ›wooden spoon‹, verliehen wurde und sie sich den Vorwurf der Unumsetzbarkeit gefallen lassen musste (vgl. Antes et al. 2016: 37), ist das traditionelle medizinische Handeln weiter bestimmend. Die Evidenz verspricht im Sinne des positivistischen Paradigmas eine Verbesserung und den Ausbau des Wissens sowie eine fortschreitende Eliminierung subjektiver Faktoren beziehungsweise eine Relativierung subjektiver Faktoren: Ärzt*in und Patient*in sind nach den Empfehlungen der evidenzbasierten Medizin gleichwertig. Die EBM wird von Expert*innen herangezogen, um neue Leitund Richtlinien zu erstellen oder zu überprüfen.

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Die fünf Hauptstufen geben Auskunft über den Grad der Evidenz für die jeweiligen Praktiken und damit über die Qualität der Forschungsstudien. Die unterste Stufe umfasst die Expertenmeinung und beschreibende Studien, die oberste eine systematische Review kontrollierter randomisierter Studien (vgl. Mehrholz 2010: 14). Aus den Evidenzen werden Behandlungsempfehlungen abgeleitet.

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Seit den 1980er Jahren etabliert sich neben der EBM eine weitere Form der Kritik am herkömmlichen medizinischen Vorgehen. Die (Geburts-)Medizin rückt in den Blickpunkt von Kultur- und Geisteswissenschaften. Es erscheinen zunehmend Beiträge, die eine medizinische Wahrheit historisieren oder als kulturell spezifische Prägung herausarbeiten. Geschichte, Soziologie, Pädagogik, Anthropologie oder Ethnographie diagnostizieren der westlichen Geburtshilfe unter anderem Medikalisierung, Technisierung und Ökonomisierung. Sie begründen neben einer (feministischen) Kritik auch eine soziale Umschreibung der aktuellen Entwicklungen und ihrer Folgen für Familien und Institutionen. Grundsätzlich lässt sich betonen, dass sich die klassische Geburtsmedizin nach wie vor am Pathologischen, der Heilung und einem Risikomodell orientiert (vgl. Baumgärtner/Stahl 2005: 42f.), allein diese Modelle werden genutzt, um einen Prozess zu erfassen, den jeder Mensch und eine Vielzahl der Frauen durchlaufen. Während es einen Wissenskampf um den Wahrheitsanspruch bio-medizinischen und evidenzbasierten Wissens gibt, scheinen das Gespür und Gefühl der subjektiven Wahrnehmung weiterhin an handlungsleitender und -orientierender Relevanz zu verlieren. In der Praxis hingegen sind strukturelle Leitlinien und die subjektiven Empfindungen nach wie vor, wenn auch ohne positive Konnotation, bedeutend, wenn es um das professionelle Treffen von Entscheidungen und das Durchführen von Behandlungspraktiken geht (Hellmers et al. 2010). Das Hebammenwesen (und die Pflegewissenschaft) und deren Berufsvertretungen sind sich der Schwachstellen des hegemonialen, bio-medizinischen Wissens bewusst und orientieren sich gleichsam daran. Die Orientierung an der EBM wird auch von dieser Seite gefordert, um als falsch gedeutete Praktiken zu eliminieren. Trotz der Akademisierungstendenzen und der Höherstellung der Ausbildung, soll die zentrale Position der praktischen Ausbildung, der Erfahrung und des Spürens erhalten bleiben. Zoege (2004: 280f.) betont, dass sich das Wissen der Hebammen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Zweigen speist: Medizin, Psychosomatik, Gesundheitswissenschaft, internationale Hebammenforschung ebenso wie Pädagogik, Soziologie und Psychologie. Diese Wissensbestände sollen durch die Kernkompetenz der Reflexionsfähigkeit und das Eingehen auf die Lebenswelt der Familie ergänzt werden, damit erhält die persönliche Qualifizierung und Erfahrung eine Betonung und Aufwertung. Des Weiteren fordern die Hebammen eine Orientierung am Modell der Gesundheitsvorsorge, der Care-Arbeit und der Salutogenese, also der Orientierung an der Erhaltung und Förderung gesunder Zustände (vgl. Sayn-Wittgenstein 2007: 17). Neben der Orientierung an naturwissenschaftlichen Wissensbeständen mit ihren quantitativen und mechanistischen Paradigmen, die vor allem versuchen, die Geburtssituationen objektiv zu erfassen und zu steuern, und salutogenetischen Modellen, gibt es ein diffuses, nebulöses Wissen in der Geburtshilfe (Dörpinghausen 2010: 25), den »unsagbaren Rest« (ebd.: 9). Dieses Wissen meint Intuition und

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Fingerspitzengefühl. Trotzdem es vorhanden ist und seine Anwendung findet, fehlt es an einer geeigneten Theorie, um diese Aspekte der Tätigkeit erfassen zu können (vgl. ebd.: 33; Sayn-Wittgenstein 2007: 35). In der Weiterbildungslandschaft zeigt sich, dass Hebammen sich besonders unmittelbar nach der Ausbildung alternativen Heilmethoden zuwenden. Diese als besondere Spiritualität oder Aberglaube abzutun, wäre verkürzt. Vielmehr scheint es so, dass Hebammen bewusst auf der Suche nach alternativen Wissens- und Theoriebeständen sind, die ihnen systematisch andere (ganzheitliche) Wissensbestände und -zusammenhänge liefern. Denn viele Hebammen beschreiben, während ihrer Arbeit, ein ›Gefühl‹ für die Geburtssituation zu haben, das mitunter den medizinischen Untersuchungsdaten und Ergebnissen widerspricht. So untersucht beispielsweise Dörpinghaus (2010; 2013) das Gefühl der Unruhe der Hebammen angesichts kritischer Situationen und Komplikationen, bei denen entweder das CTG positiv ausfällt, die Hebamme aber das Gefühl hat, eine Komplikation steht bevor, oder das CTG negativ ausfällt und die Hebamme das Gefühl hat, es gehe dem Kind gut. Selten trüge die Hebammen ihr Gefühl, stellt Dörpinghaus fest und beschreibt, dass jede tätige Hebamme diese Situationen nachempfinden könne. Indem die Wissenschaftlerin das Hebammenwissen mit der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz verknüpft, versucht sie, das ›Gespür‹ in der Geburtshilfe zu theoretisieren. Damit rückt das leibliche Spüren der Gebärenden und des*der Geburtshelfer*in in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses (Dörpinghaus 2010: 35). Atem- und Entspannungstechniken werden als Praktiken aufgeführt, die ein »Widererlernen der Leiblichkeit« (ebd.) ermöglichen. Das Ziel liegt in der Aufwertung und Rehabilitierung des Subjektiven, seiner Theoretisierung und der Ausdifferenzierung des leiblichen Spürens (vgl. ebd.: 106). Ergänzend ist nicht nur für die Geburtshelfer*innen, sondern auch für die Gebärende selbst die Betonung des Subjektiven und des leiblichen Spürens von Bedeutung. Alternatives oder traditionelles Wissen hat demnach eine andere Erfahrungsstruktur als wissenschaftliches Wissen, es etabliert sich durch Erfahrung, Fühlen, Erspüren und das soziale Miteinander in einer existentiellen Lebenssituation. Außerdem erscheint eine Abkehr von bio-medizinischen Paradigma notwendig (Zoege 2004: 274), denn Geburt ließe sich nicht ohne weiteres in ein Modell einführen, das sich auf die Behebung von Krankheiten fokussiert, vielmehr muss es um »Wissen von gesellschaftlichen Bedingungen von langfristige[r] Gesundheit« (ebd.) gehen. In Abgrenzung zu Böhme (1993) kann dieses Wissen jedoch auch nicht mehr als lebensweltliches Wissen der Frauen(gemeinschaft) begriffen werden, denn die Hebammen beziehen es nicht aus ihren Lebenszusammenhängen als Frauen, sondern aus ihrem professionellen Wissen und den praktischen Berufserfahrungen. Nachdem die zentralen Entwicklungslinien erörtert und die unterschiedlichen Wissensformen der aktuellen Geburtshilfe dargestellt wurden, sollen abschließend die Parameter zur Bewertung der historischen Entwicklungen beschrieben wer-

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den: Sicherheits-Risiko-Abwägungen und damit Mortalitäts- und Morbiditätsraten ebenso wie die Natürlichkeit der Geburt und die Selbstbestimmung der Frau in der Geburtshilfe. Sicherheit und Natürlichkeit Rose und Schmied-Knittel benennen mit dem Sicherheits- und Natürlichkeitsdispositiv zwei kulturelle Konstrukte von Geburt und etikettieren sie mit den Begriffen Sicherheit und Natürlichkeit. Die Begriffe sind in beiden Dispositiven zentral, erfahren jedoch eine unterschiedliche Konnotation. Der Begriff der Sicherheit ist entscheidend und bemisst die Qualität der Geburtshilfe (vgl. Beaufaÿs 1997: 7). Sie wird durch Mortalitäts- und Morbiditätsraten von Mutter und Kind verdeutlicht. Ein zentraler diskursiver Argumentationsstrang der modernen Geburtshilfe besteht darin, dass die Mortalität der Frauen und Neugeborenen durch die modernen Entwicklungen bekämpft und eingedämmt werden konnte. Dabei ist die Datenlage schwierig, anhand von Tauf- und Sterberegistern lassen sich Moralitätsraten früherer Zeiten nur vage berechnen. Labouvie (2000: 167ff.) macht darauf aufmerksam, dass erhebliche regionale und historische Schwankungen zu verzeichnen sind. Der Säuglingstod während der Geburt lässt sich beispielsweise nicht klar herausarbeiten, 0,2-1,6 % der Frauen sterben Mitte des 18. Jahrhunderts im Kindbett. Diese niedrigen Zahlen mögen überraschen, so entspricht es der Wirklichkeitsdeutung unserer Zeit, dass Geburten früherer Zeit extrem gefährlich und risikoreich waren und sehr viele Frauen und Kinder unter der Geburt starben. Es gilt festzuhalten, dass die Entwicklung und Durchsetzung der modernen, technisch-medizinischen Geburtshilfe diskursiv an eine Verbesserung der Sicherheit für Frauen und Kinder während der Geburt gekoppelt wird. Damit werden eine umfangreiche medizinische Betreuung der Schwangeren und Gebärenden sowie die Weiterentwicklung der Geburtsmedizin legitimiert. Mütter riskieren in Deutschland den Vorwurf, das Wohl und die Sicherheit des Kindes zu gefährden, wenn sie nicht die medizinische Geburtshilfe im Krankenhaus in Anspruch nehmen. Die weichen Faktoren des Wunsches nach Geborgenheit und Ruhe scheinen einer sicheren Geburt entgegen zu stehen (vgl. Beaufaÿs 1997: 7f.). Die Bedürfnisse von Mutter und Kind werden zu potenziellen Gegnern gemacht. Konträr gegenüber stehen die Rechte des Kindes auf einen »unversehrter Lebensbeginn« und das »Recht der Mutter auf eine selbstbestimmte Geburt« (ebd.: 9). »Der Wert der Sicherheit« dient als »Grenze der Wahlmöglichkeiten« für Frauen (Krumbügel 2014: 56). Umfangreiche Eingriffe in das Geburtsgeschehen gelten gegenüber der »gekonnte[n] Nichtintervention« (Duden 1998: 161) auch im juristischen Sinne als sicher.

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Dem Sicherheitsparadigma wird oft das Natürlichkeitsparadigma gegenüber gestellt (vgl. Husslein et al. 2000: 852). Zentral ist es dabei zu fokussieren, wie der Begriff der Natur im jeweiligen Kontext verwendet wird. Wenn etwas als natürlich definiert ist, dann gilt es als ursprünglich und unabänderlich, es ist nicht mehr legitimierungspflichtig. Außerdem lässt sich eine vergeschlechtlichte Dichotomie zwischen der männlichen Kultur und weiblichen Natur festhalten (vgl. Honegger 1983: 204). Argumentativ wird die Natur in beiden Dispositiven eingesetzt: die riskante, gefährliche und mangelhafte Natur kann Interventionen legitimieren, ihre positive Funktionalität kann ebensolche aber auch ausschließen (vgl. Krumbügel 2014: 30). Das konkrete Deutungsmuster der ›natürlichen Geburt‹ kann als Abgrenzungsversuch zu einer medikalisierten Geburt verstanden werden, bei der es zu viele Eingriffe gebe (vgl. Heidiri 2014: 10) Selbstbestimmung Ein zentrales Konzept zur Diskussion der aktuellen Geburtshilfe ist Selbstbestimmung. Bei der Forderung nach Selbstbestimmung geht es vor allem um die Verhandlung des Einflusses, den Ärzt*innen, Hebammen oder gebärende Frauen auf die Geburt haben: Wer trifft die Entscheidungen und hat einen umfassenden Zugang zu Informationen? Mit dem Recht auf Selbstbestimmung soll die Frau wieder im Zentrum des Geburtsgeschehens stehen und (mit)bestimmen können, was mit ihr und ihrem Körper geschieht. Die Grundlage hierfür bildet eine umfassende, unabhängige Kenntnis der medizinischen Methoden und Anwendungen, um sich eigenmächtig in diesem Feld bewegen zu können. Das Buch »Our bodies, oureselves« (Boston Women’s Health Book Collective 2005) steht für Empowerment, eine Bewegung zur Ermächtigung und Anrufung zur Übernahme von Verantwortung im Umgang mit dem eigenen Körper. Die Empowerment-Bewegung ist als eine Aufforderung von Frauenrechtlerinnen an alle Frauen zu deuten, sich innerhalb der medizinischen Wissenschaft bewusst mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzten und ihn zu verstehen. Selbstbestimmung und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, ist folglich voraussetzungsvoll und gekoppelt an (Selbst-)Bewusstsein, die kognitive Fähigkeit, sich Informationen anzuzeigen und Entscheidungsoptionen nach einem ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül abzuwägen. Es schließt sich die Frage an, wie die Möglichkeit zur Selbstbestimmung unter der Geburt umzusetzen ist und von den unterschiedlichen Seiten gedeutet wird. Die allgemeine Narration über die Entstehung der Patient*innenautonomie ist laut Samerski (2015: 568f.) diskursiv eine Befreiungsgeschichte mit der Funktion des Empowerments, also der Ermächtigung der Patient*innen und der Abkehr vom Paternalismus. Aus den entmündigten Patient*innen, die den Ärzt*innen vertrauen, werden autonome Patient*innen. Als Leitspruch gilt nun nicht mehr ›doctor

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knows best‹, sondern ›patient decides best‹. Die Autorität der Ärzteschaft wird brüchig, ihr Wissen, ihre Behandlungspraktiken und Entscheidungen gelten in einer Informationsgesellschaft als diskussionswürdig, angreifbar oder zu hinterfragen. In Anschluss an Foucault formuliert Samerski den diskursanalytischen Anspruch, »den versteckten Schatten der üblichen Aufklärungsgeschichte in den Blick zu nehmen, […] die Orte aufzusuchen, wo das Recht Gestalt annimmt, Praktiken formt und evoziert und Subjekte konstituiert« (ebd.: 566). Die Macht der Biopolitik wirkt durch das Autonomierecht, um »die Bevölkerung als (biologisches) Gesamtphänomen zu regulieren« (ebd.: 573) und zu kontrollieren. Nach dieser Auffassung lässt sich neben der Selbstermächtigung eine weitere Konnotation der Selbstbestimmung herausarbeiten, die darin besteht, die Mitwirkung des*der Patient*in an der eignen Gesundheit und damit dem Gesundheitssystem zu fördern. Aus diesem Anspruch folgen subtile Zwänge, die ein ökonomisches Entscheider-Subjekt adressieren, das sich für die Verbesserung der eigenen Gesundheit entscheidet (vgl. ebd.: 573). Zusammenfassend beschreiben die genannten Diskursformationen die Wandlungsprozesse und Prägung der modernen Geburtsmedizin, die meist zur (kritischen) Bewertung und Beschreibung der modernen Geburtshilfe herangezogen werden. Die jeweiligen Entwicklungstendenzen erzeugen Spannungsfelder, die sich mit widersprüchlichen Anforderungen an die Akteur*innen richten: Das Handeln der Ärzt*innen und Hebammen soll sich im Sinne der Orientierung an Humanismus und Selbstbestimmung am Wohl der Patient*innen ausrichten, aber sie müssen auch die monetären Aspekte ihrer Arbeit im Blick behalten. Die Frauen sind mit den Auswirkungen der Ökonomisierung konfrontiert und mit der Ambivalenz, als Entscheider-Subjekte angerufen zu werden und gleichzeitig von Expert*innenwissen und -praktiken abhängig zu sein. Mit der Diagnose einer verlorenen Geburtskultur beschreibt Duden (1998) eine Verlustgeschichte über die Entwicklung der Geburtshilfe. Sie zeichnet den radikalen Wandel der Geburt von einer aktiven Bewältigung eines körperlichen Ereignisses unter Frauen zu einem durch »ein technisch angeleitetes Hantieren am Frauenkörper« als »professionell geregelten Unternehmen« (ebd.: 154) nach. Dadurch hätten Frauen ihr Selbstvertrauen in ihre eigene Gebärfähigkeit verloren. Duden interessiert die Umgestaltung des Bewusstseins der Gebärenden und fokussiert dabei die bewusstseinsprägenden neuen medizintechnischen Rituale, sie will wissen, »welche Gewißheiten durch diese Routinen entstehen« (ebd.: 167). Sie resümiert, dass die Praktiken vor allem einen Glaubenssatz heraufbeschwören: Geburten sind krisenhaft und gefährlich, sie können nur durch die bewusste Leitung des medizinischen Apparates bewältig werden. Daraus ergebe sich für die Gebärenden die Angst als ein dominierendes Gefühl, in Folge dessen sich Gebärende allen Praktiken fügen würden. Ihre analytischen Gedanken schließt Duden mit der These, dass die Gegenwart nur so wimmelt von Ungeborenen. Geburt, wenn man

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das Ereignis noch so nennen könne, sei zu verstehen »als Interaktion des Frauenkörpers mit der technisch gerüsteten Institution« (ebd.: 150). Ich plädiere dafür, nicht von dem Verlust, sondern dem Wandel der Geburtskultur auszugehen und ebenjene bewusstseinsschaffenden Praktiken und Objektivationen zu betrachten, die das (somatische) Erleben und Deuten von Geburt heute prägen.

4.2

Praktiken

Die Materialität der Geburtsdispositive mit ihren nicht-diskursiven Praktiken, Objektivationen und Subjektivationen stehen im Fokus der folgenden Betrachtungen. In Bemühung um eine Inventarisierung werden zentrale Praktiken näher und strukturiert beschrieben. Sie lassen sich in Kategorien31 des Kontrollierens, Messens und Überwachens, der Eltern- und Mütterbildung, des Entscheidungsmanagements sowie im Spannungsfeld zwischen Anleitung und Eigeninitiative systematisieren. Einige der Praktiken werden von werdenden Müttern rund um die Geburt selbst ausgeführt und angewendet, andere können nur durch die spezielle Expertise von professionellen Geburtshelfer*innen ausgeführt werden.

4.2.1

Messen, Kontrollieren und Überwachen

Die Praktiken der Kategorie Messen, Kontrollieren und Überwachen bilden einen zentralen Tätigkeitsbereich rund um die medizinische Versorgung von Schwangeren und Gebärenden. Sie strukturieren das Geburtsgeschehen, prägen das Erleben der Frauen und das Handeln von Hebammen und Ärzt*innen sehr stark. Bei genauerer Betrachtung lassen sich die Begriffe des Messens, Kontrollierens und Überwachens im Bereich von Produktionsprozessen zur Qualitätssicherung verorten, deren Begutachtung zur Prüfung von Produkt- oder Prozessqualität notwendig sind. Sie beschreiben einen Vorgang, bei dem Menschen Kontrolle über ein Objekt, einen anderen Menschen oder sich selbst ausüben. Dabei lassen sie sich von spezifischen Maßstäben, Normaltypen oder Idealen leiten. Beim Messen werden Durchschnittswerte und (natur)wissenschaftliche Orientierungsgrößen erhoben. Messen bezeichnet eine Erfassung oder »Zuordnung von Symbolen […] zu einer Klasse von Objekten um ihre Merkmalsprägungen« (Werner et al. 2011: 438). Aus den erhobenen metrischen Daten konstruieren Expert*innen (Erklärungs-)Modelle, Richt- und Leitlinien, Standardgrößen und Durchschnittswerte. Diese Praktik bildet auch die methodische Grundlage für das naturwissen-

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Die Kategorien ergaben sich aus der Analyse der Interviews, der Durchsicht von medizinischen Lehrbüchern für Hebammen und Ärzt*innen sowie der Ratgeberanalyse innerhalb eines Seminars.

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schaftliche Arbeiten. Im medizinischen Bereich ergeben sich aus diesen Messungen Werte, die »Maße für den gesunden und kranken Zustand« (Hess 1999: 266) darstellen. Die Unterscheidung zwischen normalem und pathologischem Zustand ist aus sozialkonstruktivistischer Perspektive eine konstruierte Grenzziehung, die eine Normalität entwirft, bestehend aus statistischen Mittelwerten und arithmetischen Durchschnittswerten zur Ermittlung einer Norm des Lebens (vgl. ebd.), im hiesigen Fall für eine Norm der Geburt. Eine weitere Akzentuierung des Begriffs besteht im Anlegen eines spezifischen Maßstabes, welcher vorher in oben beschriebener Weise produziert wurde. Die metrischen Skalen und Daten gelten als objektive Orientierungsgrößen, die ein therapeutisches Handeln oder Eingreifen legitimieren. Nach dieser allgemeineren Betrachtung werden im Folgenden konkrete Praktiken beschrieben. Innerhalb der Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft formieren sich eine Reihe zentraler Praktiken, die die Schwangerschaft stark prägen. Die Ergebnisse werden mit dem Beginn der Schwangerschaft im Mutterpass dokumentiert. Die Vorsorgeuntersuchungen finden in regelmäßigen, sich verkürzenden Abständen statt und folgen den Mutterschafts-Richtlinien. Gewichtsmessung, Urinprobe, Blutabnahme, Vermessung und Abtasten des Bauches und eine genaue visuelle Vermessung des Kindes über Ultraschalluntersuchungen, dass Abhören der kindlichen Herztöne sowie erste CTG-Messungen gehören zum Standardrepertoire dieser Vorsorgeuntersuchungen: Durch die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung sollen mögliche Gefahren für Leben und Gesundheit von Mutter oder Kind abgewendet sowie Gesundheitsstörungen rechtzeitig erkannt und der Behandlung zugeführt werden. […] Vorrangiges Ziel der ärztlichen Schwangerenvorsorge ist die frühzeitige Erkennung von Risikoschwangerschaften und Risikogeburten. (Gemeinsamer Bundesausschuss 2016: 2) Das Ziel der Untersuchungen besteht in der Überwachung der Schwangerschaft und der Entwicklung des Kindes. Die Untersuchungen orientieren sich an einem Risikomodell, das vor allem das Aufspüren von potenziellen Risiken und Komplikationen zum Ziel hat (vgl. Baumgärtner/Stahl 2005). Schäfers und Kolip (2015) machen darauf aufmerksam, dass in Deutschland durch die stark institutionalisierte und selbstverständliche Vorsorgepraxis fast 100 % der schwangeren Frauen erreicht werden. Im Gegensatz zum europäischen Ausland gibt es umfassende Screening-Verfahren, bei denen ohne Indikationen oder erhöhtes Risikopotential eine Vielzahl von Untersuchungen routiniert durchgeführt werden. Darüber hinaus erhalten 99 % der Schwangeren erheblich mehr Untersuchungen als durch die Mutterschaftsrichtlinien vorgesehen. Folglich kann von einer Überversorgung von Schwangeren gesprochen werden. Schäfers und Kolip konnten in der Untersuchung von BARMER-Versicherten herausarbeiten,

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dass die jeweiligen Zusatzuntersuchungen überwiegend durch die Ärzt*innen und Hebammen, unabhängig von Befunden, angeboten wurden und dass die Frauen diese als Empfehlungen deuteten und annahmen. Im Mittel erhielten die Frauen in diesem Sample 7,6 statt der empfohlenen drei Ultraschalluntersuchungen und 6,6 CTG-Untersuchungen, obwohl diese überhaupt nur unter speziellen Indikationen vorgesehen sind. Betont wird, »dass Frauen die Grenze zwischen routinemäßigen und außerhalb der Routine liegenden Maßnahmen nicht immer bewusst ist« (ebd.: 5). Die angebotenen (Zusatz-)Untersuchungen erscheinen den Frauen notwendig, um die Schwangerschaft und die Entwicklung des Kindes optimal zu unterstützen. Aus der ökonomischen Perspektive gilt es festzuhalten, dass die zusätzlichen Untersuchungen nicht in der Abrechnungspauschale enthalten sind. Sie bieten dadurch bei geringem zeitlichen Aufwand einen zusätzlichen monetären Anreiz für Gynäkologen*innen und Hebammen, für die Frauen bedeuten sie mehr Untersuchungen und unter Umständen (Zusatz-)Zahlung.32 Allerdings fordern auch die Frauen zusätzliche Untersuchungen ein, wie beispielsweise 3D-/4D-Ultraschalluntersuchungen. Außerdem wird die Qualität der medizinischen Betreuung, so die Autorinnen, seitens der Frauen »oft über das Ausmaß medizinischer Maßnahmen und weniger über ein abwartendes Verhalten definiert« (ebd.: 13). Die Überversorgung wird sehr unterschiedlich diskutiert. Einerseits gibt es die These, dass sich die Mutter-Kind-Bindung durch Ultraschalluntersuchungen verbessert (vgl. ebd.: 7). Anderseits werden die umfangreichen, routinierten Untersuchungen kritisiert: Sie könnten Frauen emotional belasten und »führen zu einem defizitären, gleichsam pathologischen Blick auf die Schwangerschaft« (ebd.: 8). Ein Zusammenhang mit hohen Kaiserschnitt- und Interventionsraten während der Geburt wird vermutet und unterstellt. Schäfers und Kolip (2015: 1) fragen danach, ob besonders die Zusatzangebote eine sichere Versorgung gewährleisten oder doch nur ein Geschäft mit der Unsicherheit der Schwangeren darstellen. Die Untersuchungen bieten Sicherheit, Gewissheit und einen scheinbar objektiven Zugang zum ungeborenen Kind. Die medizinische Selbstverständlichkeit der umfangreichen Untersuchung und die Nachfrage durch die Frauen legitimieren den flächendeckenden Einsatz, nicht deren nachgewiesener Nutzen. Ob die Unsicherheit der Frauen mit den Untersuchungen tatsächlich bearbeitet wird, ist fraglich. Ein anekdotisches Beispiel liefert der Roman »Unter dem Herzen« von Ildikó Kürthy (2013), in dem die Ich-Erzählerin

32

Zusatzzahlungen können entstehen in Form von Pauschalen für die Ultraschalluntersuchung und das Ausdrucken der Bilder sowie für ausführliche (3D-/4D-)Ultraschaluntersuchungen (mit Videodokumentation), für zusätzliche Blutuntersuchungen, Akkupunktur oder CranioSacral-Therapie.

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anmerkt: »Ich ringe mit mir, meinen Gynäkologen zu bitten, in unser Gästezimmer einzuziehen. Nur zur Sicherheit und bloß für die nächsten acht Monate« (ebd.: 36), immer wieder wird die Sehnsucht nach dem nächsten Ultraschall beschrieben, die mit der Sicherheit einhergeht, dass es dem Kind gut geht. Eine Untersuchung führt zur Nächsten. Die Schwangerenvorsorge und das dadurch geprägte Schwangerschaftserleben haben unmittelbar Auswirkungen auf die zu erwartende und vorzubereitete Geburt. In der Vorsorge wird beispielsweise ein errechneter Geburtstermin (ET) festgelegt.33 Der ET bestimmt, ob beispielsweise eine zeitige Geburt als Frühgeburt gedeutet wird oder es nach einer Terminüberschreitung zur Einleitung kommt. Weitere entscheidende Parameter für die Geburt sind die Kindslage, die Größe des Kindes und die Diagnose spezifischer Auffälligkeiten, die eine besondere Überwachung bei der Geburt notwendig machen. All diese Parameter haben Auswirkungen auf die Geburt(splanung), die Einstellung der Frauen zur Geburt und die Wahl des Geburtsortes (vgl. Heimerl 2013: 291). Die Praktiken des Messens, Kontrollierens und Überwachens finden auch während der Geburt ihre Anwendung. Mit dem Geburtsbeginn und der Ankunft in der Geburtsinstitution entfaltet sich dort zuerst eine Art Begrüßungsritual, meist festgeschrieben durch die internen Richtlinien der jeweiligen Einrichtung. Zuerst wird die Frau aufgenommen und zumeist durch die*den Partner*in angemeldet, überwiegend erfolgt dann eine mindestens halbstündige CTG-Untersuchung sowie eine vaginale Untersuchung des Muttermundes, in manchen Fällen wird erneut ein Ultraschall durchgeführt, um die Kindslage und -größe zu ermitteln. Betrachtet wird im Folgenden das Aufnahme-CTG, zu der die Frau meist in ein sogenanntes Wehenzimmer gebeten wird. Egal wie der Zustand der Frau und ihre emotionale Befindlichkeit ist, wird mit der CTG-Untersuchung als erstes der Herzton des Kindes und die mütterliche Wehentätigkeit überprüft. Besonders während dieses ersten CTG im Krankenhaus sind die Hebammen, Pfleger*innen oder Ärzt*innen nicht – oder nur kurz – anwesend. Um bei Abwesenheit der Hebamme eine solche Untersuchung gut durchführen zu können, ist es notwendig, dass sich die Frau in passiver, sitzender oder liegender Position befindet, damit auswertbare Daten entstehen und keine Störungen zustande kommen. Nicht das Wohlbefinden steht im Zentrum dieser Praktik, sondern die Gewinnung von Daten zur Dokumentation und Einschätzung der Geburt durch Dritte. Die Aus- und Bewertung des CTG ermöglicht den professionellen Geburtshelfer*innen eine objektive Einschätzung der Geburt von außen. Der eigenen Einschätzung der Frau wird in diesem stark standardisierten Verfahren selten ein hoher Stellenwert beigemessen. Die objektive 33

Die Festlegung des errechneten Geburtstermins erfolgt in Orientierung am Zyklus der Frau oder während der Ultraschalluntersuchungen aufgrund spezifischer Größenverhältnisse. Er kann im Laufe weiterer Untersuchungen verändert werden.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Bewertung der Situation eröffnet folgende Handlungsoptionen: Bei festgestelltem Geburtsbeginn kann die Frau den Kreißsaal beziehen, sollte die Untersuchung auf einen Fehlalarm oder auf eine lange Geburt hindeuten, wird die Frau wieder nach Hause oder auf Station geschickt. Die CTG-Untersuchung beschränkt sich nicht auf den Beginn der Geburt, in regelmäßigen Abständen kommt es zu wiederholten Untersuchungen. Auch eine dauerhafte Registrierung ist möglich.34 Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) fokussiert die CTG-Untersuchung die Überwachung des Fötus, »Gefahrenzustände« zu erkennen und nötige Interventionen einzuleiten ist demnach das Ziel dieser Praxis (vgl. DGGG 2013: 4). Zu betonen ist an dieser Stelle, dass 50 % der CTG-Registrierungen in der Schwangerschaft und während der Geburt pathologisch sind, wobei die Falsch-Positiv-Rate beträchtlich hoch ist (vgl. ebd.) und die Befunde damit nicht sicher auf den Zustand des Kindes schließen lassen. Aus diesem Grund folgt aus dem regelmäßigen Einsatz des Gerätes und der Interpretation der Messdaten ein »Anstieg der Geburtseinleitungen und der operativen Entbindungsfrequenz« (ebd.).35 Entgegen der flächendeckenden Verbreitung des CTG-Gerätes, ist dessen Einsatz keineswegs unumstritten. Auch in den Leitlinien der DGGG ist vermerkt, dass die CTG-Registrierung vor und während der Geburt nicht oder nur bedingt zu einer »Verbesserung des perinatalen Outcome« (ebd.: 8) führt, aber zu einer Erhöhung der operativen Eingriffe und der Geburtseinleitung. Für die Erfassung wird empfohlen, sie »in halblinker bzw. linker Seitenlage der Mutter« (ebd.: 7) anzufertigen. Daraus ergeben sich erhebliche Einschränkungen in der Beweglichkeit und dem Wohlbefinden der gebärenden Frau, dennoch gelten CTG-Untersuchungen nicht als Interventionen und damit als minimalinvasiv. Darum fordern sie auch nicht die Zustimmung der Gebärenden, vielmehr handelt es sich um ein stark normiertes und routiniertes Verfahren. Die starke Einbindung in Macht-Wissens-Regime und Handlungsrichtlinien bewirken, dass mit der Verwendung des Geräts eine nahezu verbindliche Anrufung an die Frauen und Geburtshelfer*innen zusammenhängt.

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In den Leitlinien finden sich Empfehlungen zur Anwendung, die CTG-Dauer wird zwischen 20 und 30 Minuten veranschlagt, wobei sich die Untersuchungsintervalle zwischen 30 Minuten und zwei Stunden bewegen, je nach Auffälligkeit und Intervention. Eine Einleitung und andere Interventionen, die Zuordnung der Gebärenden zu einer Risikogruppe oder ein auffälliger Befund können eine dauerhafte und kontinuierliche Erfassung bedingen (vgl.: DGGG 2013: 10). Erst in Kombination mit weiteren Kontrollpraktiken kann aus der medizinischen Perspektive der Zustand des Kindes genauer spezifiziert und dem Handlungstrend der Geburtsintervention entgegengewirkt werden. Weitere Praktiken ergänzen die CTG-Untersuchung, um bei einem pathologischen Befund weitere handlungsleitende Daten zu erfassen, beispielsweise die Dopplersonographie und die Fetalblutanalyse.

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Die unbekannte Geburt

Althans und Tegethoff (2008) beschreiben die Handlungsoptionen, die der Technik innewohnen als »›Prothese‹ der Beobachtungskapazität von Hebammen oder Ärzten« (ebd.: 250), Archiv zur Dokumentation, Absicherung der professionellen Geburtshelfer*innen und handlungsanleitend für Interventionen. Trotz der hohen Falsch-Positiv-Raten ergeben sich nur selten »Zweifel an der Aussagekraft des CTG« (ebd.: 255). Diese spiegeln sich in der Metapher des Affengebrülls im Urwald, das »die Assoziation von sinnlosem Geschrei [erweckt, S.E.], das man eben ertragen muss, wenn man sich im Urwald aufhalten will« (ebd.: 257). Das CTG gilt als unhinterfragtes technisches Gerät und gehört zu den Qualitätsstandards von Kliniken. ›Objektive‹ Daten36 werden erzeugt, denen auch auf der praktischen Ebene eine hohe Aussagekraft zugeschrieben wird. Damit rücken subjektive Empfindungen, Einschätzungen oder Bedürfnisse der Gebärenden in den Hintergrund. Konstruiert wird so ein »Gegensatz zwischen den ›weichen‹ Bedürfnissen der werdenden Mutter, also eine Geburt ohne Angst, und den ›harten‹ medizinischen Erfordernissen für die Sicherheit des Kindes« (ebd.: 253). Regelmäßig erfolgen neben der CTG-Registrierung vaginale Untersuchungen des Muttermundes. Diese Untersuchung ermöglicht Hebammen oder Ärzt*innen eine Einschätzung des Geburtsverlaufes und eine Einordnung der vorliegenden Geburt in das Geburtsmodell. Die Beurteilung richtet sich nach der erspürten Eröffnung des Muttermundes und der Zeitspanne, in dem die Öffnung stattfindet. Grundsätzlich galt eine Öffnung des Muttermundes um einen Zentimeter pro Stunde als regelrecht verlaufende Geburt. Diese starre Regelung hat sich in den letzten Jahren aufgeweicht, dennoch kann durch die Untersuchung des Muttermundes eine zu langsame Geburt definiert werden, was zu Handlungsmaßnahmen führen kann, die die Geburt beschleunigen sollen. Eine vollständige Öffnung des Muttermundes von zehn Zentimetern gilt als Voraussetzung für den Beginn der Austreibungsphase. Es gibt folglich ein Modell, in dem eine bestimmte Geschwindigkeit und ein erwünschter Fortschritt definiert sind, es ist »nicht gestattet, dem eigenen natürlichen Rhythmus entsprechend zu beginnen und anzuhalten« (Martin 1989: 81). Empfindet die Frau beispielsweise vor der vollständigen Öffnung des Muttermundes einen starken Pressdrang, so wird sie angehalten, diesen Drang zu veratmen und die vollständige Öffnung abzuwarten. Die vaginale Untersuchung ist für die Gebärende eine intime Untersuchung, die je nach Vorgehen der Hebammen oder Ärzt*innen auch schmerzhaft sein kann. Nach der Geburt werden die Vitalwerte der Mutter und des neugeborenen Kindes durch die Apgar-Werte37 und den pH-Wert des Nabelschnurblutes erfasst und 36

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Hebammen und Ärzt*innen beschreiben die Ergebnisse der CTG-Registrierung überwiegend »als objektive, unbeeinflussbare Darstellung des Befindens des Kindes« (Althans/Tegethoff 2008: 257). Der Apgar-Score dient der Beurteilung des kindlichen Zustandes eine, fünf und zehn Minuten nach der Geburt. Es werden die Vitalparameter des Herzschlags, der Hautfarbe, der Atmung,

4. Das dispositive Feld der Geburt

bewertet, um den Gesundheitszustand einschätzen zu können. Auch diese Daten sind handlungsleitend. Ersichtlich wurde aus diesen Erläuterungen, dass die Vermessungen von Mutter und Kind vor, während und nach der Geburt in engmaschige, umfassende Kontroll- und Überwachungspraktiken eingegliedert sind. Die beschriebenen Praktiken strukturieren das Erleben der Frauen und die Handlungen von Hebammen und Gynäkolog*innen. Die erfassten Daten müssen fortwährend klassifiziert, ausgewertet und bewertet werden. Zur Beurteilung werden »Messergebnisse, das Erfahrungswissen der Helfer und Durchschnittsdaten abgeglichen« (Althans/Tegethoff 2008: 258). Aus den Ergebnissen und der Einschätzung professioneller Geburtshelfer*innen ergeben sich objektive Bewertungen und Daten zur Einschätzung der Geburt und des Zustandes von Mutter und Kind, wodurch gleichzeitig den subjektiven Empfindungen, Bedürfnissen und Bewertungen der gebärenden oder schwangeren Frauen weniger Bedeutung zugemessen wird.38 Es entwickelt sich seitens der Frauen eine starke Außen- und Normorientierung, denn sie führen die Praktiken, und sei es nur die Gewichtskontrolle, nicht selbst durch, sondern sind auf Expert*innen angewiesen. Hier etablieren sich Abhängigkeitsverhältnisse der Schwangeren vom medizinischen Apparat, um ein bestimmtes Maß an Sicherheit zu erlangen. Ein hohes Maß an Untersuchungen stellt auch ein hohes Maß an Sicherheit in Ausblick. Die Assoziation zwischen Technik, ärztlicher Deutung und Sicherheit für Mutter und Kind ist weit verbreitet (vgl. ebd.: 259). Die Aussagekraft der Ergebnisse entsprechender Praktiken werden selten angezweifelt, sondern erscheinen als unbeeinflussbar und objektiv (vgl. ebd.: 257). Doch durch die hohen Falsch-Positiv-Raten erzeugen diese Praktiken nicht nur Sicherheit, sondern auch Unsicherheit, die den Einsatz weiterer Kontrollpraktiken legitimiert.

4.2.2

Eltern- und Mütterbildung

Die Eltern- bzw. Mütterbildung vor der Geburt spielen eine zentrale Rolle. Hebammen und Ärzt*innen haben einen Aufklärungs- und Bildungsauftrag39 , während werdende Mütter und Väter mit großer Selbstverständlichkeit entsprechende Angebote annehmen und sich über die nahende Geburt und spezifische Praktiken zu informieren. So soll eine fundierte, selbstbestimmte Entscheidung seitens der Frau vorbereitet und umfangreiches Wissen über Geburt vermittelt sowie der

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des Muskeltonus und der Reaktion auf das Absaugen erhoben, dokumentiert und bewertet (vgl. Schneider et al. 2011: 1067). Aus den Daten folgt jedoch nicht zwingend die Zuschreibung eines regelgerechten oder pathologischen Geburtsverlaufes, vielmehr handelt es sich bei der Einordnung und Deutung um eine situative Aushandlung (Althans und Tegethoff 2008: 258). Hebammen und Ärzt*innen haben eine ergebnisoffene und nicht-direktive Beratungs- und Informationspflicht, bevor sie Leistungen anbieten.

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Die unbekannte Geburt

Angst vor der bevorstehenden Geburt entgegengewirkt werden. Die Teilnahme an einem Geburtsvorbereitungskurs, der Konsum von Ratgeberliteratur und entsprechender Beiträge im Internet stellen Praktiken dar, die von Eltern und vor allem von Müttern ausgeführt werden. Im Segment der Ratgeber findet sich ein umfangreiches Repertoire an vielfältiger Literatur. Üblich, und in vielen Buchläden erhältlich, sind Standardwerke des Gräfe und Unzer Verlags (GU) und Dorling Kindersley Verlags (DK). Sie beinhalten die Themen Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und die erste Zeit mit dem Kind und umfassen damit den gesamten Prozess der Natalität, bei dem der Geburt nur ein verhältnismäßig kurzer Abschnitt zukommt. Neben diesen Büchern findet sich eine Vielzahl spezifischer Literatur, die sich der Geburt aus einer speziellen Perspektive (Geburt von Zwillingen, Geburt nach traumatischer Geburtserfahrung, Fehlgeburt oder Kaiserschnitt) oder mit speziellen Geburtstheorien, wie der sanften oder selbstbestimmten Geburt, nähern. Aus diesen Beobachtungen lässt sich eine große Vielzahl und Ausdifferenzierung der Ratgeberliteratur rund um Geburt festhalten (vgl. Baader 2008). Baader beschreibt den Zweck der Geburtsratgeber wie folgt: Der Ratgeber ist also ein eher mütterlicher Assistent des Arztes, der gerade so viel Aufklärung betreibt, wie es bedarf, damit die Frau keine Fehler macht. Er präsentiert ein auf die Frau zugeschnittenes Wissen, das sie gleichermaßen vor der Überfrachtung durch medizinisches Fachwissen wie vor Aberglaube und Unwissenheit schützt. (Ebd.: 3) In den Ratgebern findet eine Grenzziehung bezüglich der geeigneten Wissensarten statt, die den Frauen zuzumuten sind und die für sie einen praktischen Nutzen haben. Es wird Wissen beschrieben, das für die gebärende Frau schädlich ist: Aberglaube, Ammenmärchen, Horrorgeschichten oder detailliertes medizinisches Fachwissen. Das medizinisch-wissenschaftliche Wissen soll in den Ratgebern in vereinfachter Variante vermittelt werden, um die Frau vor der Geburt über unterschiedliche Praktiken aufzuklären. Die »spezifische Logik von Geburtsratgebern bewegt sich zwischen Risikobeschreibung und Beruhigungsstrategie« (ebd.: 6), Gefahren und potenzielle Probleme werden genau beschrieben, zudem gibt es klare Hinweise für Verhaltensweisen bezüglich Ernährung, Bewegung und Sexualität. Den zugeschriebenen Problemen von Unsicherheit und Angst wird die Lösungsstrategie der genauen Information entgegengestellt, denn wer informiert ist und informierte Entscheidungen trifft, der hat auch keine Angst; die Unsicherheit der gebärenden Frauen wäre gebannt. Demnach richten sich die Ratgeber auch hauptsächlich an die Frauen. Auch die institutionalisierte Praktik des Geburtsvorbereitungskurses und ergänzende Spezialkurse wie Säuglingspflege, Stillvorbereitung, Schwangeren-Yoga oder Hypnobirthing-Kurse haben zum Ziel, die Eltern des ungeborenen Kindes

4. Das dispositive Feld der Geburt

intensiv auf die Geburt vorzubereiten. Vermittelt werden hier, je nach Schwerpunktsetzung, medizinisches Wissen, praktische Handlungsanleitungen zu Atemund Bewegungstechniken, Körpertechniken und erste Kenntnisse über das Stillen. Rose, Seehaus und Tolasch (2017) beobachteten für eine ethnographische Studie Geburtsvorbereitungskurse und Informationsabende an Klinken sowie Stillberatungen. Bezüglich des Stillens beschreiben sie ein Paradox: »Trotz der unterstellten Natürlichkeit des Stillens werden diverse Instanzen, Techniken und Qualifizierungen benannt, die das Stillen erst ermöglichen« (ebd.: 48). Damit ist die natürlichste Sache der Welt nicht allein intuitiv oder einfach zu bewältigen, »sondern ist anspruchsvoll und bedarf des Beistands besonders geschulter Expertinnen und Experten« (ebd.: 50). Analog kann dieses Ergebnis auch auf das Setting der Geburt übertragen werden. So wird behauptet, alle Frauen können gebären und hätten eine natürliche Gebärkompetenz, gleichzeitig wird die Geburt gesellschaftlich und medizinisch in einen engen Zusammenhang mit einem Todes- und Gesundheitsrisiko gedeutet, das nur mithilfe von Expert*innen, Vorbereitungs- und Kontrollpraktiken und einem geeigneten Verhalten der Schwangeren reduziert werden kann (vgl. Rose/Schmied-Knittel 2011: 93).

4.2.3

Risiko- und Entscheidungsmanagement

Begründet durch das Selbstbestimmungsparadigma werden gebärende Frauen als Entscheider-Subjekte adressiert (siehe Kapitel 4.1). Da die Selbstbestimmung in den letzten Jahren zu einer entscheidenden Komponente für die Qualität der medizinischen Versorgung avanciert ist, bekommen auch die Praktiken der Entscheidung und Entscheidungsfindung einen immer höheren Stellenwert. Beratung zur Entscheidungsfindung, ein umfassendes Bildungsangebot und Lektüre zur Auseinandersetzung mit medizinischen Termini, Praktiken und Entscheidungsoptionen bilden den Interdiskurs, der bio-medizinisches Spezialwissen anschlussfähig für gebärende Frauen und ihre Partner*innen macht. In diesem Kontext wird Entscheidung als erwartete und zu leistende Praktik von gebärenden Frauen begriffen. Schon vor der Geburt können Entscheidungen getroffen und vorbereitet werden, indem Geburtspläne verfasst werden oder die Geburtsinstitution ausgewählt wird. Auch während der Geburt lassen sich unterschiedliche Wahl- und Entscheidungssituationen ausfindig machen: Ratgeber, Informationsbroschüren, Geburtsvorbereitungskurse und Vorsorgeuntersuchungen bilden einen umfassenden Informationsmarkt, um die Geburt und anstehende Entscheidungen vorzubereiten. Unterschiedliche Interventionsmaßnahmen und Routinepraktiken sind weitere Themen des Briefings, gepaart mit der Aufforderung, sich vor der Geburt bewusst für oder gegen gewisse Praktiken zu entscheiden. So erhalten Frauen einen mehr oder weniger umfassenden Einblick in die bio-medizinische Deutung der Geburt und erlernen das Denken und Einordnen der Geburt in eine medizinische Denk- und

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Die unbekannte Geburt

Sprechweise, was wiederum ihre Körperwahrnehmung und die Einschätzung des Stellenwerts ihres subjektiven Empfindens prägt. Der medizinisch-spezialisierte Bereich mit seiner spezifischen Eigenlogik in Theorien, Begrifflichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, bedarf einer Vermittlung der Entscheidungsvarianten und möglicher Folgen durch Ärzt*innen oder Hebammen. Samerski (2008) untersucht die Bedeutung von Selbstbestimmung in der aktuellen medizinischen Praxis der Pränataldiagnostik. Die ›informierte Entscheidung‹ bedeutet eine neue Entscheidungsaufgabe von schwangeren Frauen. Durch genetische Beratungsstellen werden zukünftige Mütter auf ihre Entscheidungsaufgaben vorbereitet, indem sie eine Art Selbstbestimmungsunterricht bekommen: Einführungskurse in genetische Grundlagen, Eröffnung von Entscheidungsoptionen und Hinweise auf Chancen und Risiken. Dabei ist der Duktus der genetischen Berater ausdrücklich nicht-direktiv. Samerski spricht in diesem Zusammenhang von der Etablierung einer entmündigenden Selbstbestimmung, da die Entscheidung erstens durch den*die Berater*in aufgedrängt wird und zweitens nahelegt, der eigenen Wahrnehmung zu misstrauen, Wahrscheinlichkeiten, Berechnungen und Befunden zu vertrauen und folglich das Handeln und Denken darauf auszurichten (vgl. ebd.: 230). Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass die so gemeinte Selbstbestimmung voraussetzungsvoll ist, weil die Beratungspraktiken in die Sprache und Denkweise des medizinischen Systems einführen und Frauen dadurch lernen, »in diesem Rahmen zu denken und zu empfinden« (ebd.: 233). Mit der Zuweisung der Entscheidung geht letztendlich auch die Verantwortung für ein gesundes Kind einher (vgl. ebd.: 230). Ratgeber, Zeitschriften und Untersuchungen bei Gynäkolog*innen implizieren außerdem, dass Schwangerschaft »jede Menge versteckte Risiken« mit sich bringt und »deshalb medizinisch überwacht und verwaltet werden muss« (ebd.: 231). Samerski schlussfolgert: »Was schwangeren Frauen heute als ›Selbstbestimmung‹ verkauft wird, zerstört also genau diejenigen Fähigkeiten, für die der Begriff bisher stand: Sie macht eine eigensinnige Wahrnehmung, ein unabhängiges Urteil und selbstständiges Handeln unmöglich« (ebd.: 232). Trotz der Dominanz der diskursiven Formation der Selbstbestimmung stellt sich die Frage, ob diese in der Praxis so angewendet wird. In einer Untersuchung zur ärztlichen Entscheidungsfindung40 gingen Hellmers, Krahl und Schücking 40

Heimerl 2013 spricht in ihren ethnographischen Beobachtungen von klinischen Ultraschallsprechstunden von einer »lavierenden Argumentationspraxis« (ebd.: 321) seitens der Ärzt*innen in Gesprächen zur Geburtsplanung bezüglich des Wehenschmerzes und des Kaiserschnitts. Dabei agieren die Ärzt*innen sehr unterschiedlich und es lässt sich keine einheitliche Struktur in der Aufklärungspraktik herausarbeiten, Aufklärung und Information sind bei allen Beobachtungen unterschiedlich und erscheinen kaum als nicht-direktiv. Heimerl sieht die Ursache für die »widersprüchliche ärztliche Gesprächsführung« in der Erzeugung einer »Art ›Reflexionsschleife‹ […], die die Schwangere zum Abwägen aller Risiken und Nebenwirkungen motivieren soll« (ebd.: 327).

4. Das dispositive Feld der Geburt

(2010) der Frage nach, wie ärztliche Entscheidungen in der Geburtshilfe getroffen werden und welchen Stellenwert die selbstbestimmte Entscheidung der Gebärenden dabei hat. Es ließen sich keine generellen Entscheidungskriterien herausarbeiten, die einen Einbezug der Frauen generell beinhaltet. Hinsichtlich der Entscheidung für Geburtseinleitung oder einen Kaiserschnitt konnte ein hohes Maß an Berücksichtigung der maternalen Wünsche festgestellt werden, wohingegen Episiotomie (Dammschnitt) und CTG-Überwachung keine Erwähnung seitens der Ärzt*innenschaft fand und nicht im Kontext der informierten Entscheidung verhandelt wurden. Die Autorinnen konnten eine höhere Akzeptanz von subjektiven Wünschen bei weichen Indikationen feststellen, betont wird die Bedeutung des »Durchsetzungswillens« der Frau, gleichzeitig wird ihre »Entscheidungskompetenz unter Wehentätigkeit infrage gestellt« (ebd.: 557). Aus dieser Betrachtung wird ersichtlich, dass dem Selbstbestimmungsrecht der Gebärenden und der informierten Entscheidung formal ein erheblicher Stellenwert zugesprochen wird, die tatsächliche Praxis jedoch sehr ambivalent ist. Manche routinierte Praktiken erscheinen nicht verhandelbar und bei anderen ist die Zustimmung der Patientin stärker institutionalisiert, wenn diese beispielsweise einen Aufklärungsbogen unterzeichnen soll.

4.2.4

Praktiken der Geburt zwischen Leitung, Begleitung und Bewältigung

In der Geburtshilfe lassen sich zwei Ausrichtungen unterscheiden: Eine betont den medizinischen Aspekt und umfasst Praktiken der aktiven Leitung und Steuerung des Geburtsprozesses (Geburtsmedizin), die andere den Aspekt der Hilfe und Unterstützung der aktiven Geburtsarbeit der Gebärenden (Geburtshilfe). Besonders in medizinischen Lehrbüchern finden sich Praktiken, die mit der Leitung der Geburt überschrieben sind. Leitung meint damit die aktive Steuerung des Geburtsprozesses (vgl. Schneider et al. 2011: 694f.). Mit der Begründung, Risiken für Mutter und Kind abzuwenden erscheint es notwendig und angebracht, den Geburtsprozess zu leiten und zu führen. Der Geburtsprozess ohne entsprechend notwendige Eingriffe erscheint fehlerhaft oder störanfällig. Bezüglich der Leitung, Begleitung oder Verarbeitung der Geburt gibt es eine Vielzahl von Praktiken: manche reihen sich um die Einflussnahme auf die Dauer der Geburt. Andere Praktiken fokussieren den Umgang mit dem Schmerz, hierfür gibt es verschiedene Variationen: medikamentöse, mentale, physische, psychische und soziale Praktiken. Hinzu kommen jene, die das Gefühlsmanagement der Gebärenden fokussieren. All die aufgezählten Praktiken changieren zwischen der konkreten Anleitung durch die professionellen Geburtshelfer*innen, der Anleitung zur Eigeninitiative und der konkreten Eigeninitiative der Frauen. Während es Praktiken gibt, die am weiblichen Körper durchgeführt werden, gibt es andere, die ein Mitwirken der Frauen benötigen oder ausschließlich durch sie erfolgen können.

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Die unbekannte Geburt

Im Folgenden sollen sie überblicksartig, in einer Art Bestandaufnahme vorgestellt werden. Zeitmanagement Mit der medizinischen Fokussierung der Dauer von Geburt, gilt die Dimension der Zeit als Gradmesser, um Geburt als regelrecht oder pathologisch zu bewerten. Eine lange Geburt gilt als gefährlich, aber auch eine zu kurze Geburt (Sturzgeburt) gilt als problematisch. Konkret orientieren sich Lehrbücher an einer ideellen Geburtsdauer von ca. 13 Stunden bei Erstgebärenden und 9 Stunden bei Mehrgebärenden (vgl. Stauber und Weyerstahl 2007: 588; Geist und Ahrendt 2005: 241), eine Abweichung von den ermittelten Standardwerten gilt als behandlungsbedürftig. Der Zeitpunkt der Geburt orientiert sich sehr stark am errechneten Geburtstermin.41 In der Klinik gibt es unterschiedliche Medikamente, die Wehen einleiten oder eine Geburt aufhalten sollen. Aber auch unter der Geburt werden wehenfördernde und wehenhemmende Mittel und Praktiken angewendet. Die Wehentätigkeit soll damit gesteuert werden, Ziel ist eine lineare Steigerung der Wehenintensität und die Öffnung des Muttermundes oder der Fruchtblase. Eine Reihe von Maßnahmen lassen sich als traditionelle Praktiken oder Hausmittel beschreiben, sie werden von den Frauen selbst angewendet, um die Geburt beispielsweise in Gang zu setzten: Bewegung, Treppensteigen, das Trinken spezieller Getränke oder Sex. Ein (schnelles) Eingreifen und Beenden der Geburt wird dann als notwendig erachtet, wenn Hebammen und Ärzt*innen die Blutwerte und Herztöne des Kindes oder die Situation der Mutter als schlecht bewerten. In folgenden Praktiken geht es um eine schnelle Beendigung der Geburt: Einsatz wehenhemmender und -fördernder Mittel, die manuelle Öffnung der Fruchtblase, Dammschnitt42 , Kristeller-

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Sowohl eine Frühgeburt vor der 36. Schwangerschaftswoche als auch eine Übertragung nach der 42. Woche gelten als regelwidrig. Beide Konstruktionen gelten als gefährdend und legitimieren Eingriffe. Ein Dammschnitt hat zum Ziel, Platz im mütterlichen Becken oder Geburtskanal zu schaffen. Vorgängig ist die Annahme, dass hier kein Passungsverhältnis zwischen dem kindlichen Kopf und dem mütterlichen Becken besteht. Früher eine routinierte Standardpraktik, ist seine Einsatzhäufigkeit in den letzten Jahren radikal gesunken.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Manöver43 , operative Geburt (Zange oder Glocke)44 und der Kaiserschnitt. Diesen Praktiken ist gemeinsam, dass sie von den professionellen Geburtshelfer*innen an der Frau durchgeführt werden. Sie zeichnen sich durch unterschiedliche Grade der Invasivität aus und verletzen in vielen Fällen die Mutter durch klinische Schnitte und starke Einwirkung auf ihren Körper. Kaiserschnitt als Symbol Der Kaiserschnitt45 ist die am stärksten diskutierte Diskursfigur der Geburtshilfe. Wegen der steigenden Zahlen wird immer wieder erörtert, welche Spätfolgen diese Art der Geburt hat und worin die Ursachen der aktuellen Entwicklungen zu suchen sind. Als Erklärung gelten dabei die Medikalisierung der Geburt, der Anstieg von Komplikationsgeburten und Wunschkaiserschnitten.46 43

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Das Kristeller-Manöver ist ein spezifischer Handgriff, der mit dem Ziel angewendet wird, die Geburt in der letzten Phase zu beschleunigen und den Austritt des kindlichen Köpfchens hervorzurufen. Dabei werden die Hände, aber auch der Unterarm oder ein Bettlaken um den Bauch der Mutter gelegt, um einen Druck auf den oberen Bauch zu erzeugen und so das Kind (idealerweise mit den körpereigenen Wehen) herauszudrücken. Besonders durch fehlerhafte Anwendung und bei falscher Indikation kann es zu schweren Verletzungen von Mutter und Kind kommen. Dabei ist das Kristeller-Manöver in seiner Anwendungshäufigkeit nicht dokumentiert, findet aber scheinbar eine breite Anwendung (vgl. Krause 2004). Operative Entbindungen durch Saugglocke und Zange, aber auch der Kristeller-Handgriff werden durch den Einsatz von Kraft angewendet und haben das Ziel, das Kind mit Druck oder Zugkraft aus der Mutter und dem Geburtskanal zu ziehen oder zu drücken. Eingesetzt wird die sekundäre Sectio, um die Dauer der Geburt zu verkürzen, sie überhaupt zu ermöglichen oder als Reaktion auf Notsituationen, bei denen eine akute Gesundheitsund Lebensgefahr diagnostiziert wird. Bei einer primären Sectio handelt es sich um eine präventive Maßnahme im Umgang mit regelwidrigen Geburten, beispielsweise Zwillings- oder Steißgeburten. Die elektive Sectio bezeichnet den sogenannten »Wunschkaiserschnitt«, der auf Wunsch und Bestrebung der gebärenden Frau durchgeführt wird. Formal gibt es diese dokumentierten Unterscheidungsformen, es ist jedoch auch möglich, dass eine Geburt spontan gegen den Willen der Geburtshelfer*innen beginnt und schneller zur Entscheidung eines Kaiserschnitts führt oder eine elektive Sectio als primär indiziert verrechnet und ausgegeben wird. Unterschieden wird zudem zwischen Notkaiserschnitten mit einer vollkommenen Betäubung der Gebärenden und einer Sectio mit einer Lokalanästhesie, bei der die Gebärende die Geburt bewusst erleben kann. Wagner 2003 hält fest, dass Sectio-Indikationen beständig ausgeweitet werden und die Sectio-Raten dadurch kontinuierlich steigen. Es sei bald ein Ausmaß erreicht, bei dem das Risiko der Sectio den lebensrettenden Vorteil überwiegt. Obwohl er die Verantwortung in erster Linie beim System und der Ärzteschaft lokalisiert, thematisiert Wagner den Wunschkaiserschnitt und verurteilt ihn, wodurch er die Entscheidung für einen Kaiserschnitt individualisiert (vgl. ebd.: 55). Ein weiterer Aspekt wurde mir gegenüber immer wieder in Gesprächen mit Hebammen und Ärzt*innen geäußert: die heutigen Frauen würden nicht mehr so viel Schmerz aushalten und darum den Kaiserschnitt selbst einfordern (vgl. Jurgelucks 2004: 15). Sie würden sich um ihre Schönheit, die Unversehrtheit ihrer Geschlechtsorgane, Inkontinenz, die starken Schmerzen oder die nachgeburtliche Sexualität sorgen und folglich einen Kaiserschnitt vorziehen. Au-

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Ein Forschungsprojekt (Hopkins 2000) ging der Frage nach, wie sich Entscheidungsprozesse für einen Kaiserschnitt in Brasilien gestalten. Auch hier gaben Ärzt*innen an, Frauen würden von sich aus nach einem Kaiserschnitt verlangen. Hopkins untersuchte daraufhin die Einstellungen der Frauen zur Geburt. Die Analysen ergaben, dass die meisten (erstgebärenden) Frauen spontan und vaginal entbinden wollten, der Wunsch nach einer Sectio entwickelt sich erst während der Geburt. Die Ärzt*innen beschrieben ausdrücklich einen Druck für eine Sectio durch die Schwangere, da diese die Schmerzen nicht durchstehen wöllten. Die Beobachtungen ergaben, dass bei steigender Wehentätigkeit und Schmerzen die Ärzt*innen keine Unterstützung und Hilfe, sondern den Kaiserschnitt als Ausweg anboten. Auch bei einer längeren Geburtsdauer würden Kaiserschnitte eingeleitet, trotz der Einwände der Gebärenden. Die Schlussfolgerung ergab, dass »die Ängste vieler Frauen vor Schmerzen und Komplikationen bei einer spontanen Geburt von Ärztinnen/Ärzten dramatisiert würden« (Reime 2003: 15) und folglich »der Kaiserschnitt als schmerzfreie Alternative« (ebd.) sei. Daraus würden sich Zeitersparnisse und ein geringerer Betreuungsaufwand der Gebärenden als Vorteile ergeben. Hopkins spricht den Ärzt*innen »eine sehr aktive Rolle im Entscheidungsprozess« (ebd.) zu. Baumgärtner (2013) erforscht die Beweggründe der Frauen für einen Wunschkaiserschnitt. Dabei arbeitet sie heraus, dass nur 3-4 % der Gebärenden einen dezidierten Wunsch nach einem Kaiserschnitt haben. Die Ursache liegt im Bedürfnis, die psychische und physische Integrität zu bewahren, angesichts eines als unvorhersehbar und unkontrollierbar definierten Ereignisses, das mit einer Auslieferung an äußere und innere Umstände einher ginge (vgl. ebd.: 99). Die geringe Verbreitung von Wunschkaiserschnitten steht in einem starken Kontrast zu deren großer medialer Präsenz und hohem Stellenwert im fachmedizinischen Diskurs. Das subjektive Erleben des Kaiserschnitts stand im Zentrum von Jurgelucks (2004) Untersuchung. Sie hält fest, dass betroffene Frauen nach der Geburt mit »Schuld, Versagen und Abwertung der eigenen Person« (ebd.: 102) zu kämpfen hätten. Sie formulieren Gefühle der Entfremdung, des Ausgeliefertseins, des Verlusts der Situationskontrolle, des Erlebens von Gewalt und Angst sowie die schmerzliche nachgeburtliche Trennung von Mutter und Kind. Dabei ist die Bewertung von Kaiserschnitten keinesfalls ausschließlich negativ, sondern umfasst auch positive Beschreibungen.47

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ßerdem lässt sich ein Kaiserschnitt kostenlos mit einer Sterilisation verbinden, was als ein zusätzlicher Gewinn betrachtet werden kann. Jurgelucks konzentriert sich jedoch aus ihrem Forschungsinteresse heraus für das negative Erleben und eine Entwicklung von Handlungsstrategien für eine Verbesserung der Hebammenpraxis.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Der Kaiserschnitt, als häufigster operativer Eingriff von Frauen im gebärfähigen Alter, ist stark diskursiv aufgeladen. In Anlehnung an Wagner (2003), der den unnötigen Kaiserschnitt als Symbol einer dehumanisierten Geburtshilfe begreift (vgl. ebd.: 54), kann er auch allgemeiner als Symbol betrachtet werden. Er symbolisiert die negativen Aspekte der Medikalisierung, »wobei der operierende Arzt die Verantwortung trägt und die Frau keinen Einfluss mehr hat« (ebd.), genauso wie die vermeintliche Unfähigkeit heutiger Frauen zum Gebären sowie die Entfremdung und Passivität der Frau im Geburtsprozess. Gleichzeitig steht er für technischen Fortschritt und eine optimale Leitung der Geburt, indem Zeitpunkt, Tag und Länge der Geburt sicher kontrollier- und planbar gemacht werden. Daraus lässt sich eine sehr ambivalente Besetzung dieser Praktik schlussfolgern. Verhandelt wird vor allem das Ausmaß der Selbstbestimmung der Frau am Thema des Wunschkaiserschnittes anhand der Argumente, er sei gegen die Natur, mit höherem finanziellem Aufwand verbunden oder er brächte ein höheres gesundheitliches Risiko für Mutter und Kind mit sich. Die institutionellen und systematischen Ursachen der steigenden Kaiserschnittrate, die Rolle der Ärzt*innen und Hebammen oder die finanziellen Bestrebungen der Klinik sind hingegen nahezu unsichtbar. Damit wird das System der Geburtshilfe entlastet, sich kritisch zu hinterfragen und eigene Praktiken zu reflektieren. Umgang mit dem Schmerz Ein zentrales Phänomen der Geburt ist der Schmerz der Mutter und die Praktiken, die versuchen, ihn zu bewältigen oder einzudämmen. Die Deutung und Konstruktion des Schmerzes ist bei der Geburt ambivalent besetzt (vgl. Degele 2007): einerseits als positives und gutes Zeichen der voranschreitenden Geburt, ein Schmerz der dazugehört und nicht pathologisch ist, den es auszuhalten gilt und der zu etwas Positivem führt; andererseits als eines der schmerzhaftesten Erlebnisse überhaupt, das mit Angst einhergehen kann. Eine andere Nuance der Deutung schreibt dem Schmerz einen Sinn zu, »seine Überwindung gibt Kraft, die sich auch – das vermuten die Frauen – in der Bewältigung des Alltags fortsetzen werde« (ebd.: 125). Damit wird die Deutung des Geburtsschmerzes potenziell an eine wichtige biographische Erfahrung, persönliche Entwicklung und die Steigerung des Selbstbewusstseins gekoppelt. Da Schmerz als allein subjektiv spürbar gilt, gibt es nur vage medizinische Möglichkeiten, um ihn zu messen und damit zu objektivieren. Daraus resultieren Schwierigkeiten der Legitimation und des Einsatzes von Praktiken: Kann der Gebärenden geglaubt werden, oder ist sie zu empfindsam? Welche Schmerzen dürfen gebärenden Frauen zugemutet werden? Die Erwartungen, Vorstellungen und Deutungen der professionellen Geburtshelfer*innen, der gebärenden Frauen und ihrer Partner*innen können hier auseinandergehen. Die Skepsis und der Argwohn

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Die unbekannte Geburt

gegenüber subjektiven Einschätzungen und die potenzielle Distanz zur objektiven Einschätzung durch das medizinische Personal werden hier evident. In den folgenden beschriebenen Praktiken geht es nun darum, dem Schmerz zu begegnen, ihn zu reduzieren oder auszuschalten. Klassisch-medizinische Varianten liegen in der vielfältigen medikamentösen Schmerztherapie, besonders kontrovers diskutiert wird die Periduralanästhesie (PDA). Sie verspricht eine schmerzfreie Geburt und geht, je nach Stärke, mit einem Verlust oder einer Einschränkung des Körpergefühls einher. Der Zugang zu einer medikamentösen Schmerzbewältigung erfolgt ausschließlich über das medizinische Personal, kann empfohlen oder erfragt, aber auch ohne Rücksprache eingesetzt werden. Bei all diesen Praktiken ist eine intensivere medizinische Überwachung notwendig, bei der PDA kommt es zusätzlich, in Abhängigkeit von ihrer Dosierung, zu einer Einschränkung der Mobilität der Frau. Ein weiterer Typus sammelt vielfältige traditionelle oder alternative Praktiken zur Schmerzreduktion. Hierzu gehören manuelle Methoden – wie Massagen, Bewegung oder Veränderung der Position der Gebärenden –, Methoden aus alternativen Gesundheitsmodellen – wie Akkupunktur, Homöopathie und Aromatherapie – sowie spezielle Formen der Entspannung oder Atmung. Die Praktiken bedürfen in stärkerem Maß eines Eigenanteils der gebärenden Frau an der Geburt. Besonders bei Atmung, Positionswechsel und Bewegung obliegt die Anwendung (unter Anleitung) der Frau. Manche Praktiken erfordern körperlichen Kontakt zur Gebärenden oder ein genaues Erfragen ihres subjektiven Zustandes.48 Die Gebärposition nimmt eine herausragende Rolle ein. In dieser Praktik vereint sich nicht nur die Möglichkeit der Schmerzlinderung, sondern auch der Schmerzsteigerung und Einflussnahme auf die Geburtsdauer sowie die Beeinflussung des Geburtswegs für den kindlichen Kopf und Körper durch das mütterliche Becken. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts geriet die vertikale Haltung zunehmend in Kritik und wurde als zu beschwerlich für die Gebärende beurteilt. Sie verhindere, dass das Kind sich richtig in das Becken absenke. Es entbrannte eine wissenschaftliche Diskussion um die richtige Gebärhaltung, bei dem sich die Empfehlung durchsetzte, dass die Frauen in der Austreibungsphase liegen sollten (vgl. Labouvie 2000: 113f.). Die horizontale Gebärposition setzte sich durch und das Gebärbett ist bis heute der zentrale Einrichtungsgegenstand im Kreißsaal. Kuntner (2000) führt einen Kulturvergleich zu Geburtspositionen durch. In Abgrenzung zur Praxis der horizontalen Gebärposition kann von einer starken Verbreitung der vertikalen Haltung in vielen Kulturen gesprochen werden (ebd.: 65). Allerdings stellt Kuntner ab den 1950er Jahren eine zaghafte »Wiedereinführung 48

Alternative Heilpraktiken setzten zumeist eine spezifische Anamnese der Körperwahrnehmung oder eine genaue Situationsanalyse voraus.

4. Das dispositive Feld der Geburt

der vertikalen Gebärhaltung« (ebd.: 76) in Deutschland fest49 , die aufrechte Gebärhaltung wird damit wieder verstärkt Gegenstand des wissenschaftlichen Spezialdiskurses. Dies hatte Auswirkungen auf die Entwicklung von Klinikbetten und die erneute Einführung von Gebärstühlen. Die liegende Geburt galt nun als schmerzhafter und ungünstig für die Geburt. Entgegen der Konstruktion der Geburt als individuelles, potenziell gefährliches Ereignis beschreibt Kuntner, dass sich im Verhalten der Frauen eine »gewisse Kontinuität« zeigt: »Drang zur Mobilität, zur Einnahme gewisser Körperstellungen und zu deren Wechsel [, das] Einschalten von Entspannungspausen [sowie] einen engen Körperkontakt zu einer Hilfsperson« (ebd.: 77). Auch die allgemeinen Empfehlungen der WHO raten zur Sicherung der Bewegungsfreiheit und einer vertikalen Gebärhaltung. Gleichzeitig finden sich in medizinischen Lehrbüchern, Ratgebern und Schulbüchern nahezu ausschließlich bildliche Darstellungen von Geburten in horizontaler Position mit einer aktiven Entwicklung des Kindskörpers durch das medizinische Personal (vgl. HoffmannKuhnt 2013: 115). Auch die Darstellungen von Gebärhaltungen in Filmen und Serien ist meist horizontal. Aus diesen beiden Blickwinkeln entsteht ein Spannungsfeld. Kuntner macht darauf aufmerksam, dass aus der praktischen Geburtshilfe bekannt sei, »dass Frauen beim Aufsuchen des Bettes dieses oft aus verschiedenen Gründen nicht mehr verlassen« (2000: 77f.). Dieser Überblick zeigt deutlich den kulturellen Wandel der idealen Gebärposition und Bewegungsmöglichkeit während der Geburt: heute werden Frauen durch unterschiedliche Informationsquellen aufgefordert, eine selbstbestimmte Gebärposition zu wählen (Seehaus 2015: 61). Trotzdem ein Umdenken stattgefunden hat und sich die diskursiven Wahrheitsansprüche gewandelt haben, unterscheiden sich hier auf bemerkenswerte Weise Theorie und Praxis. Emotionsmanagement Die Medizin befolgt grundsätzlich die Leitsätze des Hippokrates: Leiden und Schmerz sollen vermieden werden. Im medizinischen Kontext der Geburtshilfe gibt es ein Erklärungsmodell, das auf einen engen Zusammenhang zwischen Angst, Unsicherheit, Verspannung und Erschwerung der Geburt verweist (vgl. Stauber und Weyerstahl 2007: 68). Darum gelten Angst und Unsicherheit als problematisch oder gar schädlich, da sie Schmerzen und Verspannungen verstärken sollen. Auch in vielen Ratgebern werden Angst und Unsicherheit als

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Kuntner beschreibt umfangreich die Vorteile für Mutter und Kind, wenn die Frau sich während der Geburt frei bewegen kann und das Kind in einer vertikalen Gebärposition zur Welt bringt. Aus dem Kulturvergleich entwickelt Kuntner anthropologische Konstanten: möglichst freie Bewegung, Entspannungspausen und das Bedürfnis, sich zu stützen und Halt zu finden.

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Die unbekannte Geburt

Problem konstruiert. Damit werden vor allem die Gefühle der (erstgebärenden) Frauen problematisiert und eine Steuerung der Gefühle gefordert. Als zentrale Lösungsstrategien beschreiben Lehrbücher ebenso wie Ratgeber die umfassende Information und Aufklärung der Gebärenden. Folglich legitimiert sich auch der Einsatz von Informationspraktiken bei Geburtsvorbereitungskursen, Informationsabenden im Krankenhaus, Geburtsvorgesprächen, Broschüren und Ratgebern. Der kognitive Erwerb bio-medizinischen Wissens über bestimmte medizinische Praktiken und die Phasen des Geburtsmodelles soll auf die bevorstehenden Ereignisse einstimmen, getreu dem Motto: Unwissenheit fördert Angst. Andererseits würden sich ein Zuviel an Wissen – vor allem als falsch klassifiziertes Wissen wie Schauergeschichten anderer Frauen oder Aberglaube sowie ein Zuviel an Wissen über Pathologie, Komplikationen und Gefahren – ebenfalls schädlich auf den Geburtsverlauf auswirken. Aus diesem Grund sind auch die professionellen Geburtshelfer*innen dazu angehalten, aufzuklären, zu beraten: Von Anfang an, sollte die persönliche Zuwendung und die psychische Betreuung durch Hebamme und Arzt selbstverständlich sein. […] Trotzdem bestehen natürlich, insbesondere bei Erstgebärenden, bei der Kreißsaalaufnahme erhebliche Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf die anstehende Geburt. […] Es sollte daher versucht werden, der Gebärenden ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln und die Gebärende nicht in die Patientenrolle zu zwingen. (Stauber und Weyerstahl 2007: 596) Zum Abbau von Ängsten und zur Förderung der Entspannung wird empfohlen, die Gebärende genau in einfachen, verständlichen Worten ohne die Verwendung einer »angsteinflößende Fachsprache« (ebd.) zu informieren. Wie genau Sicherheit und Geborgenheit vermittelt werden sollen, dazu finden sich, in Kontrast zu den genau beschrieben medizinischen Praktiken bei Geburtskomplikationen, keine genauen Erklärungen und Vorgehensweisen. Benannt werden vonseiten der Hebammen und Ärzt*innen Beruhigung und eine häusliche Atmosphäre. Es lässt sich nur vermuten, dass die ungenauen Beschreibungen überfordern, denn der konkrete Umgang mit Angst und der Aufbau von professionellen Beziehungen sind selten Bestandteil der theoretischen Ausbildung. Außerdem bedingt die strukturelle Situation der Geburtshilfe, dass zu wenig Zeit für diese Aspekte der praktischen Arbeit bleibt. Die Forderung an die Gebärende, keine Angst und Unsicherheit angesichts eines unbekannten und als risikoreich definierten Ereignisses zu empfinden, erscheint ebenfalls als Überforderung. Neben Aufklärung und Information gibt es weitere Praktiken, um Angst und Verspannung zu vermeiden oder zu lösen. Benannt werden können Praktiken zur muskulären Lockerung und Entspannung sowie zur Ablenkung (vgl. Kuntner 2000: 56ff.). Wärmebehandlungen sollen beispielsweise das Wohlbefinden fördern und

4. Das dispositive Feld der Geburt

Verkrampfungen entgegenwirken. Ein weiteres Ziel ist die Erzeugung einer ruhigen und häuslichen Atmosphäre mit Musik, gedämpften Licht, bewusst eingesetzten Düften und dezent versteckter Technik. Eine weitere Praktik besteht im nahen (Haut-)Kontakt zur Gebärenden durch Massagen oder das berühmte Händchenhalten, gemeinsames Atmen, gutes Zureden und Motivieren. Anleitung und Eigeninitiative Alle Praktiken bewegen sich in einem Feld zwischen Anleitung, Leitung, der Aufforderung zu aktivem Handeln durch die professionellen Geburtsbegleiter*innen sowie die eigenmotivierte Initiative der Gebärenden. Unterschieden werden kann folglich zwischen aktiven und passiven Maßnahmen (vgl. Kuntner 2000: 59). Viele Praktiken werden von professionellen Geburtshelfer*innen an und mit der Gebärenden vollzogen. Außerdem müssen eine Vielzahl der Praktiken durch die Hebammen und Ärzt*innen durchgeführt werden, dies betrifft vordergründig den Einsatz von technischen und medikamentösen Mitteln. Bekannt und durch die Gebärenden erwartet ist beispielsweise eine Anleitung zum richtigen Atmen oder Bewegen. Das Verständnis von Geburt korreliert im gesellschaftlichen Bild mit der notwendigen professionellen Leitung von außen. In der feministischen Kritik und Patient*innenbewegung wurde die Geburtsmedizin, welche die Geburt an der Frau wie an einem Objekt vollzieht, stark kritisiert, was wiederum Eingang in die medizinische Praxis fand. Das einsetzende Umdenken bezog sich auf die Betonung der Selbstbestimmung und der höheren Bewertung der Wünsche der Gebärenden. Gefördert wird die Eigeninitiative durch Entscheidungs- und Wunschfragen und die Einforderung von Zustimmung. Bei einem Blick in die Lehrbücher fällt jedoch auch auf, dass die Anleitung zur Eigeninitiative und das Nachkommen der Wunschäußerungen nur selten oder nur in Nebensätzen formuliert wird. Seitens der Frauen ist es teils gewünscht, dass sie eigenständig die Geburt bewältigen. Gleichzeitig scheint es eine starke Orientierung an einem medizinischen Dienstleistungsdenken zu geben, in dem die Einforderung von Techniken, Medikamenten und Praktiken selbstverständlich scheint.

4.3

Objektivationen

Mit der Betrachtung der Objektivationen kann aufgezeigt werden, wie Gegenstände und Räume das Geburtsgeschehen prägen und sich Geburtsdiskurse materialisieren. Artefakte sind als »heimliche Aktanten« (Althans/Tegethoff 2008: 267) zu betrachten, in ihnen manifestieren sich Wissen und Macht. Der Ort der Geburt ist heute überwiegend ein Kreißsaal in einem Krankenhaus, nur selten das eigene Zuhause oder ein Geburtshaus. Mithilfe Foucaults theoreti-

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Die unbekannte Geburt

schen Konzepts der Heterotopien, also der anderen Räume, kann eine dezidierte Betrachtung von Geburtsräumen gelingen.50 In höchstem Maße sind heterotope Orte symbolisch aufgeladen und aufgefüllt mit einer Vielzahl von Objektivationen. Wie in anderen Räumen auch zeigt sich hier, durch welches Wissensnetz sie bestimmt und mit welchen (Macht-)Techniken sie besetzt sind (vgl. Foucault 1993a: 224). Gewohnt philosophisch schreib Foucault: Heterotopien51 sind wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. (Ebd.: 226) Heterotopien gibt es in allen Gruppen und Gesellschaften. Sie sind daher als Konstanten zu betrachten, die sich auf gesellschaftliche Räume beziehen und in enger Beziehung zu ihnen stehen, gleichzeitig widersprechen sie ihnen (vgl. ebd.). Krisen- und Abweichungsheterotopien bezeichnet Foucault als die zwei großen Typen. Der Kreißsaal kann, ähnlich dem Altersheim, als eine Mischform dieser Typen bezeichnet werden. Die Geburt als existentielles, krisenhaftes Ereignis von Mutter, Kind und Partner*in ereignet sich an einem speziellen Ort, an dem sich Menschen »inmitten ihrer menschlichen Umwelt in einem Krisenzustand befinden« (ebd.: 227). Gleichzeitig ist die Geburt eine Abweichung von der Norm und dem alltäglichen, gesellschaftlichen Leben. Es handelt sich um eine Statuspassage (vgl. Mozygemba 2011), in der dem Schmerz eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Während im gesellschaftlichen Raum Schmerz hauptsächlich als körperliches Warnsignal gilt, dessen Ursache gefunden und geheilt werden muss und kann, ist diese allgemeine medizinische und kulturelle Deutung bei der Geburt nicht relevant. Geburtsschmerz ist zugleich positiv besetzt und wird als notwendig angesehen. Auch steht Geburt potenziell der Norm einer aufgeklärten Gesellschaft mit den Komponenten der (Entscheidungs-)Freiheit, Selbstbestimmung, des Rechts auf Autonomie und Wahrung der Menschlichkeit gegenüber. Azoulay (1998: 57) betont, wie Geburt diesen Ansprüchen entgegensteht:

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Das Konzept der Heterotopien soll nicht helfen zu verifizieren, inwiefern und welcher Art Geburtsorte andere Orte sind, vielmehr soll es genutzt werden, um den Ort analytisch zu entfalten und seine Dimensionen zu begreifen. Sechs Grundsätze beschreiben dabei die Merkmale der Heterotopien und bilden die Grundlage für die folgenden Überlegungen: sie sind Konstanten menschlicher Gruppen, die Funktionen der Heterotopien können transformiert werden, in ihnen vereinen sich unvereinbare Orte, es existieren eigene Heterochronien, sie setzen ein Öffnungs- und Schließungssystem voraus und sie haben eine spezifische Funktion (Foucault 1993a: 227ff.).

4. Das dispositive Feld der Geburt

Was sich antipodisch gegenüber steht, ist ein weibliches Selbstbewusstsein am Ende des 20. Jahrhunderts, das sich Aufklärung, Mitbestimmung, Bürgerrecht, Autonomie und materielle Unabhängigkeit zu eigen gemacht hat und die animalische Wirklichkeit des Gebärens, die das Individuum negiert, ausschaltet. Für die Zeit des Gebärens entsteht eine Kluft, die an der Grundlage weiblicher Identität rührt. Gebären passt nicht in unsere Zeit. Die Sorgfalt, mit der wir sauber unsere Affekte eingedämmt haben, macht Geburt für das weibliche Bewusstsein zu einer Erniedrigung des Individuums, im Grunde einen Atavismus. Auch Ekel und Scham verlieren während der Geburt ihre Wirksamkeit. Der Kreißsaal ist folglich ein anderer Ort, an dem Menschen Krisen erleben, an dem gleichzeitig Abweichungen vom gesellschaftlichen Sein möglich sind. Foucault hebt das Wandlungspotential von Heterotopien hervor: Der Kreißsaal entstand im Zuge der Etablierung von Accoucieranstalten als Ort der Forschung, an dem die Regeln der Schamhaftigkeit zwischen Männern und Frauen aufgehoben waren. Das Überleben von Mutter und Kind spielte beim Erproben und Erforschen spezifischer geburtshilflicher Praktiken eine untergeordnete Rolle. Nachfolgend wurde aus diesem Ort ein Raum der Produktion möglichst idealen, gesunden menschlichen Lebens, bei dem die gebärende Frau dem Produkt des Kindes untergeordnet war. Die Funktion des ungehinderten Zugriffs auf gebärende Frauenkörper und der Produktion neuer Staatsbürger ist einer humanistischen, medizinischen Hilfestellung gewichen, wenn auch Forschung, Ausbildung und die Hervorbringung gesunder Kinder weiterhin von Bedeutung für diesen Ort sind, offiziell jedoch der Unterstützung untergeordnet sind. In Heterotopien vereinen sich unvereinbare Orte: eine private, subjektive und biographische Platzierung trifft auf einen stark institutionalisierten, halböffentlichen Ort mit objektivierter Qualitätskontrolle. Der Kreißsaal besteht gesellschaftlich beständig an demselben Ort, ist jedoch für das individuelle menschliche Leben unterschiedlich relevant. In den Lebensphasen familiärer Veränderungen tritt die Geburtshilfestation für Frauen und deren Partner*innen, aber auch für Verwandte und Freunde in den Vordergrund. Hier treffen sich zwei zeitliche Dimensionen, »die des Festes und die der Ewigkeit« (Foucault 1993: 230). Der Aufenthalt im Kreißsaal und anderen Gebärräumen ist begrenzt52 , und zeichnen sich durch Öffnungs- und Schließungsmechanismen aus. Das beschriebene Aufnahmeritual des Kreißsaales objektiviert Subjekte und subjektive Empfindungen durch Praktiken des Vermessens, der Kontrolle, Überwachung und Dokumentation. Durch das teils übliche Angebot spezieller Kleidung (OPHemd), die Rasur des Intimbereichs, Dusche und Einlauf kommen spezielle 52

Ganz im Gegensatz zu der häuslichen Geburt: hier wird der Ort der Geburt in einen alltäglichen Kontext gestellt, verwandelt sich aber gleichzeitig durch bestimmte Objektivationen und Subjekte zu einem Geburtsort.

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(Reinigungs-)Rituale zum Einsatz, in deren Verlauf die subjektiv empfindenden Gebärenden im medizinischen Kontext symbolisch zu ein Objekt transformiert, das der aktiven Geburtsleitung und -überwachung untergeordnet ist.53 Der Zugang zum Kreißsaal wird durch professionelle Akteur*innen geregelt, erst ab einem bestimmten Punkt der Geburt wird Frauen der Eintritt zum Kreißsaal gewährt, ermittelt wird dieser Augenblick durch die technische und professionelle Beurteilung der körperlichen Verfassung der Gebärenden. Andere haben nur als Angehörige die Möglichkeit diesen Ort in begrenzten Umfang zu betreten, sie unterstehen den Anweisungen der professionellen Geburtsbegleiter*innen. Nach der Geburt des Kindes und der Plazenta werden Mutter und Kind gereinigt, das Kind erhält Kleidung und wird damit ein Mitglied der Gesellschaft, im weiteren Verlauf werden die Vitalwerte von Mutter und Kind für etwa drei Stunden überwacht, dies kann gemeinsam im Kreißsaal oder auch getrennt in Kreißsaal und Kinderstation erfolgen. Zudem wird im Falle beidseitig günstiger Vitalwerte eine gemeinsame Zeit von Mutter und Kind angestrebt, in der beide Körperkontakt haben und das sogenannte Bonding gefördert wird. Dieser Anspruch steht hierarchisch unter der getrennten medizinischen Versorgung des Kindes bei einer komplikationsreichen Geburt. Foucault unterscheidet die Funktion von Heterotopien anhand zweier Pole und benennt diese Räume als Illusions- und Kompensationsraum. Der Kreißsaal ist dem Typ des Kompensationsraums zuzuordnen, ein wirklicher Raum, »der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet, ist wie der unsrige ungeordnet, mißraten und wirr ist« (ebd.: 231). Ähnlich einer Kaserne, einer Schule oder eines Krankenhauses gibt es hier sehr genaue Ordnungen, Öffnungs- und Schließungsrituale, festgeschriebene Richtlinien und Qualitätsstandards und definierte Handlungsabfolgen. Die Uhr und die technischen Geräte zur Überprüfung der Vitalfunktionen von Kind und Mutter bestimmen die Abläufe. Die institutionelle Ordnung und eine starke Hierarchie regeln das Zusammentreffen unterschiedlicher Subjekte. Jede Existenz ist in diesem Raum in »jedem ihrer Punkte geregelt« (ebd.). Festgelegte Normen und Standardwerte gelten als Maßstab aller Handlungen. Durch diese Ordnung und medizinischen Rituale wird eine Handlungssicherheit angesichts der unbekannten Größe Geburt erreicht. Das abweichende Geburtsgeschehen wird eingedämmt und der Norm angepasst, indem Frauen vor, während und nach der Geburt gereinigt, Schmerz und animalische, außergesellschaftliche Kräfte durch Sedativa und andere Praktiken gedämpft werden. Im Rahmen der Geburt ist jedoch auch der Illusionsraum von Bedeutung, der für alternative Geburtsräume, vor allem den Geburtsraum des Geburtshauses, gilt.

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Viele dieser Praktiken, besonders die Intimrasur, sind rückläufig, finden sich aber nach wie vor in den einzelnen Einrichtungen.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Hier handelt es sich um einen Raum, »der den gesamten Realraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert« (ebd.: 231). Es ist ein Raum der Utopien, in dem anderes entstehen kann. Er zeichnet sich durch ein großes Illusionsarsenal aus, in dem Nähe, Beziehung und emotionaler Beistand und die Wichtigkeit subjektiver Empfindungen der Gebärenden, ihrer Handlungswünsche und Bedürfnisse zentral sind. In unterschiedlichem Maß ist dies auch ein Raum, wo der ›Natur‹ der gebärenden Frau fern bürgerlicher Regeln des Benehmens und des Unterdrückens von Körperfunktionen ein Raum zugesprochen wird. Diese Orte sind an andere Wissensnetze gebunden, die in der Gesellschaft einen eher marginalen Stellenwert innehaben: alternative und ganzheitliche Heilpraktiken, alternative Wissensbestände oder esoterische Strömungen. In ihrer Studie analysieren Bowden, Sheehan und Foureur (2016) diskursanalytisch Bilder von Geburtsräumen in Krankenhäusern und erarbeiten drei Typen: »the technological, the ›homelike‹, and the hybrid domesticated birth room« (ebd.: 76). Dabei arbeiten sie die besondere Bedeutung und Wirkung der technischen Geräte und des Gebärbettes (oder der Gebärwanne) heraus. Deutlich wird auch, wie unterschiedlich die Räume die Haltung des Geburtsteams zur Geburt widerspiegeln. Der materialisierte Geburtsraum ist als sozialer Raum eingebunden in Wissensnetze und Machtstrukturen. In ihm verdichten sich symbolische Objektivationen der (medizinischen) Geburtshilfe. Einige dieser zentralen Objektivationen sollen in ihrer Historie, Variation, Gebrauchs- und Wirkungsweise an dieser Stelle überblickshaft vorgestellt werden, um das Bild der materiellen Geburt weiter zu differenzieren. Gebärstuhl und Gebärbett Zentraler Einrichtungsgegenstand des Geburtsraums, so legen auch Bowden, Sheehan und Foureur (2016) nahe, ist das Gebärbett. Neben dem Bett gibt es noch weitere Gegenstände, die eine bestimmte körperliche Haltung während der Geburt unterstützen: Wasserbecken, Gebärbett, Gebärhocker, Sprossenwand, Pezzi-Ball und Seil. Die aufgezählten Gegenstände sind teils konkret für die Geburt entwickelt worden und erfüllen Funktionen, die auch in einer häuslichen Umgebung für eine geeignete Position und Umgebung zur Geburt genutzt werden könnten: Bett, Sofa, Schränke, Stühle, Kissen, Seil, die körperliche Unterstützung durch Helfer*innen oder Badewanne. Den Ausgangspunkt nimmt die Entwicklung des Gebärbettes in einer Kritik des Gebärstuhls, der in Deutschland eine besondere Verbreitung fand. Sahmland (2000) zeichnet die akademische Diskussion über die richtige Gebärhaltung und

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die Entwicklung von unterstützenden Gegenständen nach. Diskutiert wurde der Gebäruntergrund im historischen Kontext der richtigen Gebärposition zwischen den Polen der horizontalen und der vertikalen Haltung vermehrt ab dem 18. Jahrhundert und damit im Zeitraum der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe. In Deutschland fand vor allem der Gebärstuhl Verbreitung, auf den sich die Frau in der letzten Geburtsphase begab. Zwischen den einzelnen Forscher*innen der akademischen Medizin entstand ein regelrechter Wettstreit über die geeignete Form und es herrschte eine Situation, in der »jeder Geburtshelfer, der etwas auf sich hält, wohl auch zum Gebärstuhl Stellung« (ebd.: 10) beziehen musste.54 In diesem Zusammenhang wurden auch genaue Anforderungskataloge entwickelt, in denen die Haltung der gebärenden Frau exakt festgeschrieben wurde. Besonders die Anwendung von geburtshilflichen Operationen erforderte eine horizontale Position, weshalb sich das flexible Gebärstuhlbett als tauglich erwies. In der weiteren Entwicklung verdrängte »das Gebärbett den Gebärstuhl« und die »horizontale Lagerung der Kreißenden [wurde] zur Norm« (ebd.: 20). Sahmland hält die These für unhaltbar, dass sich die Bevorzugung der horizontalen Geburtshaltung in der besonderen Eignung für operative Eingriffe und der Demonstration der männlichen Herrschaft begründet. Vielmehr betont sie, dass gerade die liegende Position »für normal verlaufende Geburten proklamiert« (ebd.: 26) wurde und damit zu jener Zeit als natürlich galt. Durch diesen Blickwinkel setzt sie sich für eine differenziertere Betrachtung ein. Die horizontale Geburt auf einem Gebärbett manifestierte und verbreitete sich. Allerdings lässt sich ab den 1950er Jahren eine »Wiedereinführung der vertikalen Gebärhaltung« in den wissenschaftlichen Spezialdiskurs und eine stärkere Diskussion der Gebärposition feststellen (vgl. Kuntner 2000: 76). Eine Hebamme und Entwicklerin eines Gebärbettes bezweifelt jedoch die tatsächliche Umsetzung: Im Kampf um Geburtenzahlen schafft sich jedes zweite Krankenhaus einen Hocker und eine Sprossenwand an, um ein Angebot vorzugaukeln, das letztlich von sehr wenigen Frauen genutzt wird, weil viele GeburtshelferInnen nichts damit anzufangen wissen. (Berghammer 2006: 13)

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Kritisiert wurden unter anderem prinzipiell die sitzende Haltung mit dem daraus folgenden starken Druck und der größeren Verletzungsgefahr, die Geburt sei dadurch schmerzhafter und würde unnötig verzögert (vgl. Sahmland 2000: 12f.). Dennoch finden sich besonders in dieser Zeit mannigfaltige Variationen des Gebärstuhles mit vielfältigen Veränderungsmöglichkeiten und Ausschmückungen. Als Gegenentwurf (und Übergangslösung) entwickelten medizinische Geburtshelfer*innen Stuhlbetten, sie sollten vor allem bessere Ruhephasen ermöglichen. Der technische Entwicklergeist konnte sich hier voll entfalten und die Betten fanden ihre Anwendung vor allem in den Accoucieranstalten, da sie schwer und immobil waren (vgl. ebd.: 18).

4. Das dispositive Feld der Geburt

In den heutigen Kreißsälen befinden sich variabel einsetzbare Entbindungsbetten oder Gebärlandschaften unterschiedlicher Anbieter, die sich umfunktionieren lassen. So können sie gleichermaßen für eine vertikale und horizontale Position genutzt werden, außerdem sind sie farblich ansprechend gestaltet. Diese Betten sollen die freie Wahl der Entbindungsposition gewährleisten und gleichzeitig den professionellen Geburtshelfer*innen gute Arbeit ermöglichen (vgl. ebd.). Alle Broschüren zeigen bildlich die unterschiedlichen Möglichkeiten, um das Gebärbett zu nutzen. Die Betten zeichnen sich durch mechanische Raffinessen mit einer hohen Flexibilität aus, gleichzeitig erscheint es so, dass die Verstellung der Betten dem professionellen Personal obliegt und komplex in der Anwendung ist. Die Betten sollen neben der Gebärenden auch anderen Personen Platz bieten, um diese zu stützen oder nahen Körperkontakt zu ermöglichen. In einer solchen Gebärlandschaft vereinen sich vier Funktionen: die variable Gebärposition der Frau, Platz für eine*n Geburtsbegleiter*in, eine rückenschonende Arbeit für professionelle Geburtshelfer*innen und die leichte Ermöglichung operativer Eingriffe. Gedeutet wird ein Bett im herkömmlichen Sinne, um sich darauf niederzulassen und sich hinzulegen, vor allem wenn es durch seine Ausmaße so präsent ist wie ein Gebärbett. Genau diese implizierte Handlungsaufforderung kann zu einem passiven Verhalten der Gebärenden führen. Während das Gebärbett variabel ist und in alle möglichen Richtungen bewegt werden kann, verbleibt die Gebärende an einem Ort. Das aktive Laufen, die eigenständige Suche nach einer angenehmen Gebärhaltung, sind nicht vorgesehen. Bei Matten und Gebärhockern hingegen ist es zusätzlich für die Geburtshelfer*in notwendig, die Frauen körperlich zu stützen und sich im Raum bewegen zu können. Wenn spezifische Untersuchungen oder operative Eingriffe notwendig sind, muss die Frau den Ort der Geburt wechseln. In der Gebärwanne sitzt die Gebärende allein oder gegebenenfalls mit ihrem*r Partner*in. Untersuchungen und Berührungen, Überwachungen oder die horizontale Gebärhaltung sind erschwert. Die aktuelle Be-up-Studie untersucht seit 2018 in mehreren deutschen Krankenhäusern, in welcher Weise die Gebärumgebung die Bewegung der Gebärenden beeinflusst. Ein Kreißsaal wird experimentell nach Art eines Wohnzimmers mit Tisch, Stoffelementen und Matten eingerichtet. Untersucht wird, inwiefern diese Einrichtung Frauen dazu anregt, während der Geburt aktiv zu sein. Den Kontrast hierzu bildet ein herkömmlich eingerichteter Gebärraum. Die aufgeführte Studie verdeutlicht, dass die Frage nach der Wirkmächtigkeit der Objektivationen im Kreißsaal aktuell auch in der medizinischen Forschung verhandelt wird. Ultraschall Das Ultraschallgerät ist eine Objektivation, die weniger bei der Geburt als bei der Schwangerenvorsorge und Geburtsvorbereitung handlungsleitend ist. In

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den 1950er Jahren nimmt die geburtshilfliche Ultraschalluntersuchung ihren Anfang. Was sich im Inneren des schwangeren Bauches befand, ließ sich bis dahin nur durch Tasten, Spüren und anatomische Untersuchungen erahnen. Mit dieser technischen Innovation wurde etwas Unsichtbares sichtbar, wobei sich die Visualisierungsmöglichkeiten in einer ständigen Entwicklung steigern. So verbessert sich fortwährend die Qualität und Genauigkeit der zweidimensionalen Schnittbilder, seit den 1990er Jahren sind dreidimensionale Darstellungen möglich. Die Verwendung von Ultraschalluntersuchungen ist mittlerweile routiniert und standardisiert, sie gilt als nicht-invasiv und ungefährlich. Die technischen Entwicklungen ermöglichen eine Betrachtung des Fötus isoliert von der Mutter (vgl. Heimerl 2013: 17; Duden 2007: 63f.). Tegethoff (2008, 2011) beschreibt ausführlich die Differenz zwischen der medizinischen und privaten Deutung und Nutzung der Ultraschallbilder. Im medizinischen Kontext werden die Visualisierungen ausschließlich durch Ärzt*innen angefertigt und ausgewertet. Die medizinischen Untersuchungen dienen »der Objektivierung von körperlichen Eigenschaften der Feten« (Althans und Tegethoff 2008: 187). Die Ergebnisse unterstützen und leiten »das weitere geburtshilfliche Handeln« (ebd.: 190). Kritisch diskutiert wird im medizinischen und ethischen Diskurs die ambivalente Situation, die aus Diagnosen von nicht-therapierbaren Behinderungen folgen und potenziell in einem Abbruch der Schwangerschaft enden können. Auch die Folgen von Unsicherheit, die aus auffälligen Ultraschallbefunden resultieren können, das Misstrauen gegenüber der körperlichen Selbstwahrnehmung und die schweren Folgen von Messungenauigkeiten und Verdachtsmomenten werden diskutiert (vgl. ebd.: 190f.). Neben dieser Deutung steht der Wunsch der Eltern, »ihrem zukünftigen Kind als Subjekt zu begegnen« (ebd.: 187). Tegethoff betont, wie Eltern und Familien sich die medizinischen Ultraschalluntersuchungen aneignen und durch die Visualisierung über die haptische Wahrnehmung hinaus Kontakt zum ungeborenen Kind finden, erste Eigenschaften imaginieren und zuschreiben. Der »Charakter der medizinischen Untersuchung tritt insgesamt in den Hintergrund« (ebd.: 202), vordergründig hingegen sind der visuelle Zugang zum Kind und die Ermöglichung der Teilnahme Familienangehöriger am Wachstum des Kindes. Gleichzeitig wird seitens der Ärzt*innen dem reinen ›Babywatching‹ ohne medizinischen Hintergrund mit Skepsis begegnet bzw. wird es abgelehnt (vgl. ebd.). Die Verkörperung des ungeborenen Kindes zeichnet die Ethnographin Birgit Heimerl (2013) ebenso nach wie die soziale Situation der Ultraschallsprechstunde mit der dazugehörigen Sonographie. Ein Teilergebnis beschreibt die Ultraschallsprechstunde als Bestandteil der Geburtsvorbereitung. Heimerl fokussiert sich dabei auf die Verhandlung zwischen Ärzt*innen, Frauen und Partner*innen über die Möglichkeit eines Kaiserschnittes. Dabei weist sie auf die medizinische Bedeutung des Passungsverhältnisses zwischen der Größe des kindlichen Kopfes, dem

4. Das dispositive Feld der Geburt

mütterlichen Becken sowie der Kindslage hin. Die Ultraschalluntersuchungen mit ihren Messungen tragen zur Beurteilung des Geburtsrisikos bei und sind darum maßgeblich handlungsleitend bei der Wahl des Geburtsmodus. Immanent ist hier eine Vorstellung, dass Kind und mütterliches Becken wie Puzzleteile zusammenpassen müssen. Die Passung wird vor dem Geburtsbeginn durch die Ultraschalluntersuchung und die erhobenen Daten, gepaart mit dem Erfahrungswissen der Ärzt*innen, beurteilt. Messfehler werden an dieser Stelle nicht diskutiert, ebenso wenig die Flexibilität des mütterlichen Beckens durch Bewegung und hormonelle Einflüsse. Bei einer Sonographie handelt es sich für die schwangere Frau um einen vermittelten und abhängigen Zugang zum Kind, der sowohl mit positiven wie auch negativen Emotionen verbunden sein kann. Der persönliche Stellenwert der Ergebnisse wird von der medizinischen Fachwelt aus den Perspektiven der Angstreduktion und der ersten Bindungsaufnahme diskutiert. Wenn ›alles in Ordnung‹ ist mit dem ungeborenen Kind, bewerten Frauen und Familien die Ultraschalluntersuchungen sehr positiv. Gibt es Auffälligkeiten und werden Folgeuntersuchungen notwendig, kann sich die Ungewissheit in Angst und Depression manifestieren. In gleichem Maße, wie Ultraschalluntersuchungen für die Eltern Sicherheit erzeugen, erzeugen sie auch Unsicherheiten und Ängste. Das medizinische Ziel des Einsatzes des Gerätes ist die Objektivation der Feten, dennoch eignen sich schwangere Frauen und deren Angehörige die entstehenden Visualisierungen an und beleben diese. Die Ärzt*innen werden zu Dienstleister*innen und Familienfotograph*innen, die den exklusiven visuellen Zugang zum ungeborenen Kind ermöglichen und gewährleisten (vgl. Heimerl 2013: 13). CTG Eine Cardiotographie (CTG) ermöglicht die Erfassung der kindlichen Herztöne und der mütterlichen Wehentätigkeit55 , indem am Bauch der Mutter zwei elastische Bänder befestigt werden, die zwei Schalköpfe fixieren. Visualisiert werden beide Ergebnisse in Form von Kurven (vgl. Althans und Tegethoff 2008: 250). In den 1960er Jahren eingeführt, entwickelte es sich sehr schnell zu einer standardisierten Routineuntersuchung, obwohl die Vorzüge bis heute nicht erwiesen sind. Althans und Tegethoff (2008) betonen, dass CTG-Geräte »fundamental für den Alltag in der Geburtshilfe« (ebd.: 251) sind. Das Gerät gilt als selbstverständlich, unverzichtbar und notwendig, um die Sicherheit des Kindes zu gewährleisten. In Gruppeninterviews mit Ärzt*innen und Hebammen beschreiben die Autorinnen es als auffällig, dass über das CTG-Gerät nicht mit unverhohlener Begeisterung, sondern vielmehr mit einer »Verteidigungshaltung« (ebd.: 252.) diskutiert wird. Dar55

Es lassen sich jedoch kaum Aussagen über die Wehenstärke machen, da es in diesem Bereich zu viele Störvariablen gibt.

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Die unbekannte Geburt

aufhin beschreiben sie drei Arten von Spannung, Unbehagen und Widersprüchen, die mit der Nutzung des Gerätes einhergehen, und die sich um den konstruierten Gegensatz einer ›schönen‹ und einer ›sicheren‹ Geburt formieren. Zum einen gibt es den Konflikt zwischen der Notwendigkeit des Geräts und dessen Einsatzes und zum anderen die daraus folgende Einschränkung des Komforts und Bewegungsfreiheit der Frau. Zweitens steht sie Annahme, Frauen würden durch den Anblick der umfangreichen Technik verängstigt, im Widerspruch zum professionellen Anspruch der positiven Gefühlsregulierung, in der Folge dieses Konflikts wird die Technik versteckt und damit unsichtbar. Der letzte Widerspruch besteht zwischen der Technisierung der Geburt und dem Anspruch, eine natürliche Geburt zu unterstützen. Insgesamt scheinen jedoch die Vorteile des CTG-Geräts zu überwiegen: Es kommt zu einer umfangreichen Anwendung und die Untersuchungsergebnisse gelten »als objektive, unbeeinflussbare Darstellungen des Befindens des Kindes« (ebd.: 257), andere Sichtweisen und Arten der Wahrnehmung werden ausgeschlossen. Das (Wohl-)Befinden der Mutter und ihre Wahrnehmung sind der Objektivität der CTG-Daten unterlegen und werden außerdem dem Wohl des Kindes untergeordnet (vgl. ebd.: 258). Neben den genannten Objektivationen gibt es noch eine Vielzahl weiterer Gegenstände, die bei der Geburt von Bedeutung sind, sie können hier nur kurz erwähnt werden: Saugglocke, Geburtszange, spezielle Kleidung für die Frau oder der venöse Zugang. Ebenso wie die anderen Elemente des dispositiven Feldes entfalten sie ihre Wirkmächtigkeit und können als »heimlicher Aktant« (ebd.: 267) beschrieben werden, indem an sie bestimmte Handlungen, Wissens- und Wahrnehmungsformen gekoppelt sind.

4.4

Subjekte

Die Anzahl der Subjekte, die am Geburtsgeschehen direkt und indirekt beteiligt sind, ist sehr groß. Unmittelbar sind es die gebärende Frau, deren persönliche Begleitpersonen und das Kind, auf professioneller Ebene sind es Pfleger*innen, Hebammen und Ärzt*innen in einem hierarchischen Verhältnis. Andere Akteur*innen wirken für die gebärenden Frauen und deren Angehörige unsichtbar auf der Hinterbühne: pharmazeutische und medizintechnische Industrieanbieter, Krankenkassen oder Berufsverbände. Sie alle stehen in einem »komplexen Wechselverhältnis« (Kolip 2000: 23). Aus der Perspektive der Dispositivanalyse ist es von Interesse, wie die entsprechenden Subjektgruppen innerhalb der spezifischen kulturhistorischen Rahmenbedingungen situiert sind: welches Verhältnis zu anderen, zu sich selbst und zur eigenen Tätigkeit ist konstitutiv? Welche Praktiken und Ressourcen stehen zur Verfügung und wie werden die einzelnen Positionen bewertet?

4. Das dispositive Feld der Geburt

4.4.1

Professionelle Geburtshelfer*innen

Der Begriff professionelle Geburtshelfer*innen umfasst Ärzt*innen und Hebammen, die zueinander in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Grenzen der Zuständigkeit und Verantwortung verlaufen entlang der Beurteilung des Geburtsprozesses als regelrecht oder regelwidrig (pathologisch). Während die Hebammen für normale Geburten allein zuständig sind, müssen sie auf Risiken und Regelwidrigkeiten achten, um gegebenenfalls eine*n Ärzt*in hinzuzuziehen. Wenn diese*r die Geburtshilfe angesichts von Komplikationen übernimmt, wird die Hebamme zu einer Erfüllungshelferin. Andererseits gilt für jede Geburt laut § 4 HebG die Hinzuziehungspflicht einer Hebamme (vgl. Diefenbacher 2016). Gemeinsam ist beiden Berufsgruppen formal eine starke innere, altruistische Orientierung an Wohl und Gesundheit von Mutter und Kind. Die beiden Berufsgruppen durchlaufen unterschiedliche Ausbildungsmodelle. Aus der höheren Ausbildung der Ärzt*innen wird eine unterschiedliche Entlohnung abgeleitet. Im Krankenhaus sind die Hebammen den Ärzt*innen hierarchisch untergeordnet (vgl. ebd.: 252). Beide Berufsgruppen können in ihrer inneren Haltung der Geburtsmedizin oder der Geburtshilfe zugeordnet werden, wobei Hebammen öfter zugeschrieben wird, dass sie sich stärker für die Interessen und Wünsche der Gebärenden einsetzen, was durchaus kontrovers bewertet wird (Tegethoff 2008: 154). Wie die Beziehung mit und die Wahrnehmung von Gebärenden sich durch die professionellen Geburtshelfer*innen gestaltet, untersuchte Tegentoff (2008) und erarbeitete zwei unterschiedliche Konzeptionen der Geburtshelfer*innen und Geburtsinstitutionen, die sich stark auf die Gestaltung der Geburten auswirken: Die eine beschreibt Geburt als gemeinsame Bewältigung eines sozialen Ereignisses, die andere als einen medizinischen Prozess. Eine Dimension dieser Konzeptionen besteht in der Thematisierung einer Wissensdifferenz zwischen Ärtz*innen, Hebammen und Lai*innen. Je nach Ausrichtung wird diese Differenz als erheblich dargestellt und die Stellung des professionellen Fachwissens entweder höher bewertet oder relativiert, indem das persönliche Wissen der Gebärenden als wertvoll und bedeutsam eingeschätzt wird. Innerhalb der partnerschaftlichen Konzeption von Geburt haben die Vorstellungen und Gestaltungswünsche der Frauen und des Paares eine hohe Bedeutung, werden positiv bewertet und eingefordert. In konkreten Situationen müssen das Vorgehen und die Praktiken zwischen den Geburtshelfer*innen und der Gebärenden ausgehandelt und kommuniziert werden (vgl. ebd.: 157). Die (genauen) individuellen Vorstellungen oder Pläne der Gebärenden sowie geburtliche Inszenierungen lösen in der medizinischen Konzeption hingegen Irritation und Skepsis aus. Begründet wird das Unbehagen damit, dass Frauen keine realistischen Vorstellungen und kein Fachwissen von Geburt hätten. Die Aneignung von Fachwissen durch die Paa-

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Die unbekannte Geburt

re stellt vielmehr eine Bedrohung der eigenen Professionalität und ein Hemmnis für die Geburtsleitung dar (vgl. ebd.: 156). Gewünscht ist die »vertrauende Hingabe« der gebärenden Frau an die Geburtshelfer*innen und an den Geburtsprozess: »Das Personal führt und die Frau lässt sich führen« (ebd.). Eine weitere Dimension umfasst die Frage, wer bei der Geburt die Verantwortung trägt und Entscheidungen trifft. Die Ärzt*innen tragen innerhalb der medizinischen Konzeption selbstverständlich Verantwortung und Entscheidungsmacht, den Eltern wird nur eine geringe Entscheidungskompetenz zugeordnet. Problematisiert werden daraufhin Situationen, in denen von den Geburtshelfer*innen keine Passung zwischen professionellem Handeln und der elterlichen Deutung der Geburtssituation hergestellt werden kann: die Handlungen sind für sie nicht nachvollziehbar (vgl. ebd.: 160). Die aktive Einbeziehung der Eltern in Entscheidungsprozesse und Handlungsverantwortung stellt die Geburtshelfer*innen mit einer partnerschaftlichen Konzeption immer wieder vor Herausforderungen der Kommunikation, Vermittlung und Verhandlung (vgl. ebd.: 159). Deutlich wurde, wie unterschiedlich das Verhältnis und der Stellenwert der einzelnen Personengruppen innerhalb der beiden Konzeptionen gestaltet sein kann. Das medizinische Modell bildet eine starke Hierarchie zwischen Ärzt*innen, Hebammen und Gebärenden ab. Je stärker und legitimer das (Fach-)Wissen ist, umso stärker ist es handlungsleitend. Verantwortung und Leitung der Geburt wird bei den Geburtshelfer*innen verortet. Die Geburt wird vor allem als ein »körperliches Ereignis konzeptualisiert« (ebd.: 156), das durch die Leitung der professionellen Geburtshelfer*innen bearbeitet wird. Die Wissenssphären der Geburtshelfer*innen und Eltern sind wesentlich getrennt, wobei das Fachwissen gegenüber dem Laienwissen höher bewertet wird (vgl. ebd.: 163). Die Wissensdifferenz wird auch in der partnerschaftlichen Konzeption hervorgehoben, jedoch mehr als Differenz als ein Wissensgefälle gewertet. Kommunikation und Kooperation sowie die Selbstbestimmung und Einbeziehung in Entscheidungsprozesse des Paares haben eine zentrale Position. Dabei sehen sich die Geburtshelfer*innen auch mit der Autonomie der Frau konfrontiert, die gegebenenfalls ihrem professionellen Selbstverständnis widersprechen kann, beispielsweise mit einem Wunschkaiserschnitt.

4.4.2

Private Begleitpersonen

Mit dem Ansinnen, die Geburt familienfreundlich zu gestalten, etablierte sich auch die Anwesenheit persönlicher Bezugspersonen der gebärenden Frau, durch interne Leitlinien der Geburtsinstitutionen wird deren Anzahl meist beschränkt. Verwandte, Freund*innen oder Partner*innen bilden den Personenkreis der Begleiter*innen. Besonders die Anwesenheit des Vaters, beziehungsweise des*der Partner*in, hat sich in den letzten Jahren fest als Norm etabliert (vgl. Seehaus/Rose 2015). Wulf (2008: 78) beschreibt den Vater als »emphatischen Zeugen der Geburt«.

4. Das dispositive Feld der Geburt

Innerhalb des Forschungsprojekts »Statuspassage Elternschaft« entstanden mehrere Artikel, die sich dezidiert mit der Position der Väter bei der Geburt auseinandersetzen. Rose (2017) weist auf die historische Besonderheit hin, dass aus dem Tabu der Anwesenheit männlicher Privatpersonen im Kontext der Geburt eine selbstverständliche Anforderung wurde (vgl. ebd.: 115f.). Sie fragt, welche Position dem Mann im Kreißsaal zukommt und beschreibt diese als fragil und brisant. Die Anwesenheit des Vaters würde »die ›matriarchale Ordnung‹ des Kreißsaals auf den Kopf« (ebd.: 118) stellen. Während die Gebärende als Hauptakteurin und -verantwortliche adressiert wird, sei er nur eine Randfigur (vgl. ebd.: 125). Die normative Adressierung der Väter thematisieren Seehaus und Rose (2015). Sie beschreiben die Teilnahmeverpflichtung der Väter bei der Geburt, bei der es keine Verweigerung zu geben hat (vgl. ebd.: 98ff.). Sie korreliert mit dem gesellschaftlich relevanten Bild der ›neuen Väter‹, die sich aktiv an der Reproduktionsarbeit beteiligen. Die Adressierung und Positionierung der Väter beschreiben sie in unterschiedlichen sozialen Figuren. Zum einen der ›müde Vater‹ dem in der Institution des Krankenhauses Möglichkeiten zur Regeneration gegeben werden. Inhärent ist diesem Angebot, dass Geburten lang und anstrengend sein können und die Väter eine Rückzugsmöglichkeit brauchen (vgl. ebd.: 100). Weiterhin kommt der räumlichen Platzierung der Väter eine zentrale Bedeutung zu. Sie sollen den weiblichen Unterleib nicht in den Blick bekommen, dessen Betrachtung bei der Geburt wird als »Gefahr für das Paar« (ebd.) und deren sexuelle Beziehung dargestellt. Außerdem erscheinen sie als Bündnispartner der Gebärenden, um den Geburtshelfer*innen ihre Bedürfnisse zu vermitteln (vgl. ebd.: 101). Zuletzt bekommen sie eine zentrale Rolle als Ersatzobjekt für das Kind zugeschreiben, falls die Gebärende selbst nicht für das Bonding zur Verfügung steht (vgl. ebd.: 102f.). Auch in diesem Artikel werden die Rolle des Vaters und seine Aufgaben während der Geburt zwar unter der Norm der Anwesenheit, aber auch angesichts der Diffusität seiner Aufgaben beschrieben.

4.4.3

Geborenes

Fötus, Embryo, Baby, Ungeborenes oder neugeborenes Kind: die sprachliche Unterscheidung verdeutlicht die unterschiedliche Akzentuierung der Konzeptualisierungen. Während Fötus und Embryo medizinische Bezeichnungen sind und offenlassen, inwiefern es sich um eine Person handelt, beschreiben die anderen Begriffe den persönlichen Bezug zum Kind oder die Existenz eines menschlichen Wesens. Bis ins 18. Jahrhundert galten die Frau und das Ungeborene als Einheit (vgl. Arni 2012: 48f.). Zunehmend wird das Ungeborene als unabhängiges Subjekt konstruiert, mit eigenen Bedürfnissen und Rechten. Nun gilt es als zu »schützendes, autonomes Wesen und als Rechtssubjekt […], die Frau dagegen [gilt] als Objekt und ihr Körper als überwachsungsbedürftiges […] Umfeld« (Heimerl 2013: 17). Die Posi-

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Die unbekannte Geburt

tion der Mutter ist dabei ambivalent, sie gilt als schützend und nährend, gleichzeitig als potenziell gefährliches Umfeld des Ungeborenen (vgl. Krumbügel 2014: 87). Althans und Tegethoff (2008: 258) betonen, dass erst das CTG-Gerät ermöglichte, die Interessen des Kindes und der Mutter »während der Geburt als gegensätzlich darzustellen«. Die Funktion und der Mehrwert der Nutzung bestehen in einem objektiven Zugang zum Kind, der Gewährleistung seiner Sicherheit sowie in der juristischen Sicherheit und Entlastung der Geburtshelfer*innen. Der Zugang zum ungeborenen Kind oder Fötus ist damit nicht nur über die körperlichen Empfindungen der Mutter, sondern über unterschiedliche Visualisierungs- und Messtechniken möglich. So wird der Frauenleib zum öffentlichen Ort und fetalem Umfeld und der Fötus, sofern gesund und der Norm entsprechend, erhält einen Subjektstatus. Folglich können Mutter und Fötus als getrennte Subjekte mit je eigenen Bedürfnissen und Rechten gedacht werden. Die Mutter und ihr Selbstbestimmungsrecht werden zum möglichen Gefahrenfeld für das ungeborene Kind. Mutter und Kind befinden sich, zumindest potenziell und diskursiv, in einem Konkurrenzverhältnis.

4.4.4

Gebärende

Aus der Medikalisierung der Geburt ist nicht zu schlussfolgern, dass die gebärenden Frauen passive Opfer wären, sondern es gilt, sie als aktive Akteurinnen zu betrachten. Kolip (2000: 28f.) gibt diesbezüglich den »Wunsch nach Bestätigung von Normalität« und Sicherheit an. Besonders in biographischen Umbruchsituationen böten technisch-medizinische Praktiken ritualisierte Ersatzfunktionen angesichts fehlender Initiations- und Übergangsrituale, die Sicherheit und die Machbarkeit eines gesunden und normalen Kindes versprächen. Zusätzlich betont Kolip, dass sich der Umgang von Frauen mit ihrem Körper insgesamt verändert habe und sie vor allem versuchen, dessen kontinuierliches Funktionieren zu gewährleisten, weshalb sie die Verantwortung »für den eignen Körper absichtlich in die Hände von medizinischen ExpertInnen« (ebd.: 30) geben. Diese Entwicklungen bezögen sich auf (Beginn der) Menstruation, Geburt und Wechseljahre. In Auseinandersetzung mit dem subjektiven, oft negativen Erleben von Frauen während eines Kaiserschnittes beschreibt Jurgelucks drei Ideale, an denen sich die Vorstellungen schwangerer Frauen56 orientieren (vgl. 2004: 62ff.): Zum einen ist hier das Ideal einer natürlichen und instinktiven Geburt zu nennen, was mit einer positiven Aufladung der interventionsfreien Geburt und der Erwartung einer vertrauensvollen Begleitung durch eine Hebamme einhergeht, der Geburtsschmerz 56

Auch die professionellen Geburtshelfer*innen können sich an den jeweiligen Idealen orientieren, was potentiell in Kontrast zu den Idealen der Gebärenden stehen kann (vgl. Jurgelucks 2004: 108).

4. Das dispositive Feld der Geburt

scheint zu diesem Erlebnis dazuzugehören und zu bewältigen zu sein. Gleichzeitig zeichnet es sich durch die Betonung der Offenheit und des Wunsches nach medizinischer Sicherheit aus. Die bewusste Geburt bildet ein weiteres Ideal und betont positive Aspekte der Selbst- und Grenzerfahrung angesichts des Geburtsschmerzes. Durch ein »Scheitern am überhöhten Ideal« (ebd.: 65) können das Selbstbild und -vertrauen der Gebärenden in Gefahr geraten. Geburt als medizinisches Problem ist die zentrale Deutung innerhalb des Ideals der medizinisch kontrollierten Geburt. Unsicherheit und Kontrollverlust wird mit der Vermeidung eines »natürlichen ungestörten Geburtsverlaufes« (ebd.) begegnet. Jurgelucks Analysen legen nahe, dass der Kaiserschnitt an sich für Frauen eher traumatisierend ist, wenn sie sich am bewussten Geburtsideal orientieren oder der »Selbstwert als Frau und Mutter« (ebd.: 103) an die Geburtsbewältigung geknüpft ist, andere Frauen bewerten eher die äußeren Umstände als negativ. Neben anderen Bedingungsfaktoren ist es damit von Bedeutung, ob es zwischen dem Orientierungsideal und dem Erleben der Geburt zu einer Passung kommt oder eine Diskrepanz besteht. Resultierend aus der Beobachtung von Informationsveranstaltungen und Geburtsvorbereitungskursen beschreibt Seehaus (2015) die institutionellen Adressierungen an gebärende Frauen. Aus ihren Analysen schlussfolgert sie zwei Subjektpositionen, zum einen die »zentrale Adressierung der Schwangeren als selbstverantwortliches Subjekt« (ebd.: 64), das sich eigenverantwortlich und selbstbestimmt möglichst ideal auf die Geburt vorbereitet und auch während der Geburt dementsprechend agiert. Geburt erscheint als Projekt. Unter dem Maßstab der Machbarkeit gelte es, sich intensiv auf dieses Ereignis vorzubereiten. Maßgeblich prägend sei das Leitbild des unternehmerischen Selbst und vermittelt würden dementsprechend vor allem »Veränderungs- und Optimierungsmöglichkeiten« (ebd.: 63). Nur in bestimmten (Not-)Situationen scheint es zu einer paradoxen Revidierung dieser Anrufung zu kommen, stattdessen wird dann auf ein entmündigtes Patientinnen-Subjekt zurückgegriffen, »das sich möglichst widerstandslos in die institutionellen Prozeduren und Mechanismen einfügt« (ebd.: 64). Beide Studienergebnisse weisen auf die unterschiedlichen, teils paradoxen Orientierungen und Konstitutionen des Gebärenden-Subjekts hin. Die Untersuchung von Seehaus (2015: 56) beschreibt die zentralen institutionellen Adressierungen der Gebärenden, im folgenden Kapitel geht es nun darum, inwiefern die Gebärenden »versuchen, die zugerufenen Subjektpositionen tatsächlich auszufüllen, zu modifizieren oder abzuwehren«.

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5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen:  Deutungsprozesse der Geburt und Subjektpositionen

Das dispositive Feld der Geburt wurde im vorherigen Kapitel umrissen. Gezeigt werden konnten die historisch-spezifischen Konstitutionen der Geburt, ihre soziale Einbettung sowie zwei gegenwärtige Mach-Wissens-Regime, wobei das biomedizinische Dispositiv als hegemonial anzusehen ist. Die Betrachtung von Praktiken und Objektivationen sowie der beteiligten oder prägenden Subjekte zeigten exemplarisch die Materialisierung des Diskurses in unterschiedlichen Dimensionen. Nach diesem Einblick stellt sich die Frage, welche Wirklichkeitseffekte sich auf die Subjektivierungsweisen der gebärenden Subjekte ausfindig machen lassen. Es ist davon auszugehen, dass sich von diskursiven Adressierungen und Subjektkonstitutionen nicht zwingend auf den Effekt und die Aneignung durch die Individuen schließen lässt. Daraus ergeben sich die Fragen, wie konkrete Subjektivierungsweisen innerhalb der Wissens-Macht-Regime beschaffen sind. Im Theoriekapitel wurde gezeigt, dass es bisher unklar ist, wie sich Subjekte mit Deutungsangeboten auseinandersetzen, welches Wissen und welche Praktiken Relevanz entfalten oder Widerstand erzeugen. Genau bei diesem Desiderat setzt das folgende Kapitel an und analysiert das Interviewmaterial daraufhin, wie das Verhältnis zwischen einzelnen Subjekten, Wissen, Macht und Diskurs gestaltet ist. Die Interviews zielten auf die Frage ab, wie sich gebärende Frauen angesichts von Wissens-MachtRegimen positionieren, diese fortschreiben oder Wandel initiieren. Also auch darauf, wie Macht wirkt und sich entfaltet und welches Wissen und welche Wissensformen rezipiert und von welchen Wissensformen sich abgewendet wird. Damit wird neben der diskursiven und materialisierten Ebene die Perspektive der gebärenden Frauen dazugewonnen und es wird analysierbar, wie Dispositive in konkreten Geburten zu Wirklichkeit gerinnen. Die Analysearbeit mit dem Interviewmaterial und die Erarbeitung des dispositiven Feldes erfolgten parallel und bedingten sich wechselseitig. Auffälligkeiten im Interviewmaterial wurden so rückgekoppelt, um sich beispielsweise den Praktiken auch aus dieser Perspektive nähern zu können. Damit entstand ein zirkulärer

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Die unbekannte Geburt

Prozess, der die Vertiefung der Analysen unterstütze. Die Ausgangslage bildeten die Kategorien aus dem Prozess des offenen Kodierens. Das dispositive Feld ist im Sinne der Grounded Theory als gesellschaftlicher und institutioneller Kontext für die individuelle Positionierung anzusehen. Durch die Vielfältigkeit relevanter Kategorien und die zeitliche Dynamik der Daten war es eine dringende Notwendigkeit, die herausgearbeiteten Kategorien immer weiter zu reduzieren, zu fokussieren und in Anlehnung an die Forschungsfrage Relevanzen zu entwickeln. In Auseinandersetzung mit den Fragestellungen und im Bezug zu den Wissens- und Machtstrukturen der Dispositive wurden zwei ertragreiche Brückenkonzepte ausgewählt und mit den Kategorien aus dem Prozess des offenen Kodierens abgeglichen, die das Kapitel strukturieren: an Deutungsmustern orientierte Deutungsprozesse und Subjektpositionen. Zunächst werden das Sample und die Interviewpartnerinnen dargestellt, um einen detaillierten Überblick über das Interviewmaterial zu erhalten. Danach werden die Analysen auf die zwei Brückenkonzepte gebündelt dargestellt. Zuerst werden, in Orientierung an Deutungsmustern, zirkuläre Deutungsprozesse der Geburt ausgelegt. Dieser Prozess beinhaltet individuelle Annäherungsversuche an das Phänomen der unbekannten und unvorhersehbaren Geburt, das konkrete Erleben der Geburt und die Einordnung des Geschehens mit Verstetigung oder Veränderung der Deutung. Im zweiten Teil des Auswertungskapitels fokussieren sich die Analysen auf das Konzept der Subjektpositionen, an denen sich die Frauen orientieren und die in den Interviews aufscheinen. Hier geht es vor allem darum, welche Position und Handlungsmacht sie sich selbst und anderen Personen(kreisen) zuschreiben. Die Thematik der Selbstbestimmung tritt als besondere Subkategorie heraus und wird dezidiert in ihren Möglichkeiten und Grenzen beschrieben. Während der erste Teil sich auf die Aspekte der Aneignung und Relevanz dispositiver Wissensstrukturen konzentriert, betont der zweite Teil die der Machtwirkung und -entfaltung.

5.1

Charakterisierung des Interviewmaterials

Die Interviews wurden mit neun Interviewpartnerinnen in zwei Erhebungswellen, vor und nach der Geburt, zwischen Ende 2015 und Anfang 2017 geführt. Die beiden ersten Fälle sollten bezüglich des Geburtsortes dem normalen, selbstverständlichen Entwurf einer Krankenhausgeburt entsprechen. Die erste Interviewpartnerin, Michaela (35 Jahre), erwartete zum Zeitpunkt des Interviews mit ihrem Freund das erste Kind. Sie ist selbst als Medizinerin tätig. Aufgrund ihrer Abschlussprüfungen und einem Umzug beschreibt Michaela, kaum Zeit für die Geburtsvorbereitung gehabt zu haben. Sie zieht die Möglichkeit in Betracht, dass dies positiv ist, da sie so offen für das bevorstehende Ereignis bleibt

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

und sich nicht so viele Gedanken macht, andererseits hat sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Michaela wünscht sich eine natürliche Geburt im Krankenhaus. In ihrer Stadt kann sie zwischen einem Geburtshaus und einem Krankenhaus wählen. Die Geburt beginnt am errechneten Geburtstermin und endet als eine operative Saugglockengeburt. Michaela beschreibt sie als dramatisch und traumatisch. Auch Jelena (30 Jahre), Akademikerin, erwartet ihr erstes Kind mit ihrem Freund. Die Schwangerschaft verläuft positiv und unauffällig. Die Vorsorgeuntersuchungen werden größtenteils von der Frauenärztin übernommen, wenige Untersuchungen lässt sie von ihrer späteren Nachsorgehebamme machen. Jelena wünscht sich eine natürliche Geburt im Krankenhaus. Das Krankenhaus, in dem sie gebären wird, ist ein kleines Krankenhaus, das sich ganz in der Nähe befindet. Die Nutzung der größeren Uniklinik mit einer anliegenden Kinderstation hält sie für unnötig. Ihr Wissen über Geburt, Schwangerschaft und Säuglingszeit stützt sich hauptsächlich auf das Erfahrungswissen befreundeter Frauen, nach deren Rat sie auch ihre Geburtsvorbereitung ausrichtet. Die Geburt beginnt zehn Tage nach dem errechneten Geburtstermin. Da die Eltern wegen eines geplanten Besuchs zugegen sind, verbringt Jelena den Nachmittag mit der Familie, während sie die ersten Wehen verarbeitet. Retrospektiv beschreibt Jelena die Geburt positiv und weniger aktiv als erwartet. Die nachfolgenden Fälle sollten zu den beschriebenen Geburtsentwürfen und -planungen einen maximalen Fallkontrast bilden und fanden sich in der statistisch extrem kleinen Gruppe der Frauen, die eine Alleingeburt ohne die Unterstützung professioneller Geburtshelfer*innen anstreben. Es ergaben sich hierzu zwei Interviews: Freya, 27 Jahre, bekommt mit ihrem Mann das dritte Kind. Ihre (Erwerbs-)Biographie zeichnet sich durch viele Krisen und Umbrüche aus. Die erste Tochter bringt Freya in einem Krankenhaus in Begleitung einer Beleghebamme zur Welt, bei der Geburt gibt es Komplikationen und sehr viele Interventionen. Das zweite Kind bringt sie komplikationslos allein auf die Welt. Auch für die anstehende Geburt entscheidet Freya sich wieder für eine Alleingeburt und bewertet vor allem die Geburt im Krankenhaus als risikoreich. Besonders im ersten Drittel der Schwangerschaft lässt sie noch Vorsorgeuntersuchungen von einer Ärztin machen, nach vielen Fehldiagnosen bricht sie die Betreuung ab. Ab der 23. Schwangerschaftswoche hat sie vorzeitige Wehen und einen leicht geöffneten Muttermund, woraufhin sie versucht, sich zu schonen. Auf diese Geburt bereitet sich Freya zum Zeitpunkt des Interviews kaum vor, da sie Geburt als etwas Normales begreift, mit dem sie schon Erfahrung hat. 13 Tage nach dem errechneten Geburtstermin wird ihre Tochter im heimischen Bad geboren. Die Geburtserfahrung schildert Freya als besonders intensiv und krisenhaft, bewertet sie insgesamt jedoch als schön. Sabina (34 Jahre) erwartet mit ihrem Mann das vierte Kind. Sie ist Akademikerin und wohnt nahe eines großen Ballungszentrums. Nachdem die erste Tochter

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Die unbekannte Geburt

nach einer schnellen Geburt im Geburtshaus zu Welt kam, entscheidet sich Sabina bei den folgenden Kindern für eine ›freie Geburt‹ in Anwesenheit ihres Mannes. Angesichts ihrer Geburtserfahrungen und des familiären Alltags bereitet auch sie sich kaum auf die Geburt vor, sie versucht sich die anstehende Ankunft des neuen Kindes immer wieder bewusst zu machen. Gezielt lässt Sabina einen Ultraschall machen, um die Entwicklung des Kindes sowie den Sitz der Plazenta zu überprüfen und den errechneten Geburtstermin zu erfahren. Wenige Tage vor dem errechneten Termin bringt sie ihre Tochter im Badezimmer zur Welt. Die kurze Geburt erscheint in ihrer Erzählung in die alltäglichen Abläufe der Familie eingegliedert und nebensächlich. Nach diesen Interviews bestand das nächste Ziel darin, weitere Variationen bezüglich der Bildung und Herkunft und der Wahl des Geburtsortes im Sample abzubilden. Lenka, 28 Jahre, erwartet ihr erstes Kind mit ihrem Freund. Nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hat, ist sie während der Schwangerschaft arbeitslos und hat darum viel Zeit, sich auf die Geburt vorzubereiten. Nach langem Abwägen entscheidet sich das Paar für eine ambulante Geburt in einem nahen Krankenhaus, die Vor- und Nachsorge übernimmt eine Hebamme aus dem Geburtshaus. Intensiv bespricht das Paar, ob das Kind in einem Geburtshaus oder Krankenhaus zur Welt kommen soll, dabei haben sie in ihrer regionalen Umgebung eine große Auswahl an Geburtsinstitutionen. Während der komplikations- und interventionsfreien Geburt spielt die betreuende Hebamme nur eine nachgeordnete Rolle, ihr Partner ist für Lenka die zentrale Bezugsperson. Die 28-jährige Stefanie ist mit ihrem zweiten Kind schwanger. Sie lebt in einer dörflichen Gemeinde und ist Fachverkäuferin. In ihrer Umgebung gibt es ein Krankenhaus, in der nahen Großstadt lassen sich allerdings eine breite Auswahl an Kranken- und Geburtshäusern finden. Die erste Geburt fand nach Einleitung im Krankenhaus statt, Stefanie beschreibt dieses Ereignis als schön. Für die kommende Geburt wünscht sie sich den Verzicht auf eine Einleitung und erhofft sich dadurch schmerzärmere Wehen. Aufgrund der Größe ihres Sohnes befürchtet sie, dass ihrem Wunsch nicht nachgegangen werden könnte. Im zweiten Interview berichtet sie dann von der schönen Geburt ohne Einleitung. Auch Nadine (29) ist mit dem zweiten Kind schwanger. Sie ist Kauffrau und wohnt in einer Großstadt mit mehreren Kranken- und Geburtshäusern. Nachdem das erste Kind im Krankenhaus aufgrund einer Beckenendlage schnell geboren wurde, will sie nun in ein Geburtshaus gehen. Allerdings befindet sich auch dieses Kind in einer regelwidrigen Geburtsposition, was die freie Wahl des Geburtsortes unmöglich macht. Sie lässt sich von ihrer betreuenden Hebamme und einer Ärztin im Krankenhaus zu einer äußeren Wendung überzeugen. Der Handgriff gelingt nicht und so bringt sie ihr Kind im Krankenhaus, in Begleitung ihrer Hebamme

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

aus dem Geburtshaus, zur Welt. Die sehr kurze Geburt bewertet Nadine unter den gegebenen Umständen als positiv. Die Fachverkäuferin Johanna (32) erwartet mit ihrem Mann das erste Kind. Sie wohnt in einer Großstadt mit mehreren Kranken- und Geburtshäusern. Aufgrund einer früheren Fehlgeburt und eines Nierenleidens entscheidet sie sich für ein Krankenhaus mit angegliederter Kinderstation. Als zehn Tage nach dem errechneten Geburtstermin die Wehen noch nicht einsetzten, geht sie zur Einleitung ins Krankenhaus. Die Geburt wird aktiv durch die Geburtshelfer*innen geleitet. Da die Analyse parallel zur Erhebung erfolgte, zeigte sich, dass die Frauen, welche ein alternatives Geburtsmodell favorisieren und anstreben, diesem gegenüber nicht dogmatisch eingestellt waren oder andere Frauen überzeugen wollten, obwohl sie das medizinische Modell als risikoreich definieren. Alle Frauen vertreten die Überzeugung, dass Frauen für sich selbst den richtigen Geburtsort wählen müssten und man den richtigen Geburtsort nicht pauschal benennen könnte. Darum wurde zuletzt nach einer Interviewpartnerin gesucht, die sich für ein alternatives Geburtsmodell einsetzt: Carmen, 33 Jahre, ist schwanger mit dem zweiten Kind. Nach ihrer beruflichen Tätigkeit im IT-Bereich hat sie sich selbst für eine spezielle Art des Schwangerschafts- und Rückbildungssports und als Trageberaterin weitergebildet. Das erste Kind hat sie bereits im Geburtshaus mit der Technik des Hypnobirthing zur Welt gebracht. Die Initiative zur Orientierung an diesem Geburtsmodell ging von ihrem Mann aus, dessen Familie sich mit alternativen Gesundheitstheorien beschäftigt. In ihren Sportkursen gibt sie bestimmte erprobte Atemübungen sowie Denkanstöße weiter. Die sehr schnelle Geburt ereignet sich sofort nach der Ankunft im Geburtshaus.

5.2

Die unbekannte Geburt

Deutungsmuster sind in einer Triade von Wissen, Deuten und Handeln zu denken (Schetsche/Schmied-Knittel 2013: 31). In einem ähnlichen Zusammenhang steht das handlungstheoretisch-interaktionistische Kodierparadigma nach Strauss und Corbin (1996). Um die zentralen Phänomene im Prozess des Deutens analytisch detailliert beschreiben zu können, werden sein Kontext, seine Bedingungen, Handlungsstrategien und Konsequenzen beschrieben (ebd.: 75ff.). Im Material konnte ich dadurch drei zentrale Phänomene herausarbeiten. In ihrem Zusammenspiel beschreiben sie Deutungsprozesse der Geburt durch (gebärende) Frauen. Wenn Julia Foltys (2008) betont, dass Geburten in der Gegenwart deutungsoffen sind und sich Frauen bzw. Paare dabei an kulturellen Deutungen orientieren, stellt sich in diesem Zusammenhang mit der Individualisierungsthese die Frage, wie Frauen sich im variationsreichen dispositiven Feld der Geburt

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Die unbekannte Geburt

Abbildung 4: Deutungsprozesse der Geburt

orientieren und positionieren. Durch die Analyse des Datenmaterials konnte ich ein zyklisches Deutungsmodell (siehe Abbildung 4) von Geburt entwickeln, in dem die drei zentralen Phänomene – unbekannte Geburt, Geburt und Momente des Wandels – zueinander in Beziehung stehen und in ihrem Zusammenhang individuelle Deutungsprozesse darstellen. An das Phänomen der unbekannten Geburt sind unterschiedliche Praktiken der Geburtsvorbereitung geknüpft, die zu einer Annäherung an den Geburtsprozess und einer Deutung führen, damit gehen konkrete imaginierte Handlungsoptionen für die bevorstehende Geburt einher. Bei der Geburt kommen die entwickelten Deutungen und imaginierten Handlungsstrategien zur Anwendung, dabei ist die Geburt kein isolierter Prozess, da mehrere Akteur*innen an der Geburt beteiligt sind. Wenn die interviewten Frauen nach der Geburt eine Differenz zwischen ihrer Deutung von Geburt und dem eigenen Erleben reflektieren, kommt es zu Momenten des Wandels, Deutungen werden überdacht oder revidiert. Die Deutungsprozesse können so, beispielsweise anlässlich einer weiteren bevorstehenden Geburt, von neuem beginnen. Kommt es hingegen zu einer Passung, verfestigen sich die Deutungen. Um diese Kategorien entfalten und beschreiben zu können, ist es notwendig, die einzelnen Geburtserzählungen in ihre Bestandteile zu zerlegen. Dieser Prozess bricht die Geburtsnarrationen auf, die sehr dicht und fest gefügt sind. An dieser Stelle ist es jedoch notwendig, um die Kategorien herausarbeiten zu können.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

5.2.1 5.2.1.1

Versuche der Annäherung Das zentrale Phänomen der ›unbekannten Geburt‹

Die Geburt ist nicht nur als deutungsoffen zu beschreiben, sondern vielmehr als unbekannt. Deutungsoffen bedeutet, dass die Geburt kulturell unterschiedlich gedeutet werden und dies als Prozessleistung sowohl der Frau als auch des Paares zu interpretieren ist. Dieser Aspekt ist von großer Bedeutung und kann nachgezeichnet werden. Darüber hinaus beschreiben die interviewten Frauen unterschiedliche Aspekte von Unsicherheit bezüglich der Geburt: teils haben sie Bedenken, teils regelrecht Angst. Dabei wirkt die Angst oft diffus, unkonkret und wird selten von allein angesprochen. Die Kategorie der unbekannten Geburt umfasst über die Aspekte der Deutungsoffenheit hinaus die Unsicherheiten, die für die Frauen mit einer Geburt einhergehen. Das betrifft den genauen Zeitpunkt, den Ablauf, das potenzielle Auftreten von Komplikationen, die eigene Reaktion auf die Geburt sowie das Ausmaß des Geburtsschmerzes. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie die Geburt verlaufen wird, weder professionelle Geburtsbegleiter*innen noch die Gebärenden selbst. Die daraus resultierende Unsicherheit beschreibt Jelena: Und ich ähm (.) freu mich eigentlich sehr darauf, dass es ʼne natürliche Geburt wird, was ich natürlich nicht mit Sicherheit weiß. Aber das (.) das fände ich schon schön, das genau so ähm (.) auch zu durchleben (.) und äh hab auf der anderen Seite natürlich wahnsinnige (.) Bedenken und äh Unsicherheit, //Mhm// weil auch egal wie viel man liest oder mit Hebammen und Ärzten redet, ähm soʼn Unsicherheitsfaktor bleibt, der doch relativ groß ist, find ich. //Ja// Also man kann weder sagen, wann genau, man kann weder sagen, (.) wie’s dann genau abläuft. Das ist immer lehrbuchartig soʼn bisschen beschrieben. //Mhm// Diese Etappen der Wehe gibt es, aber (.) im Prinzip [(lachend) weiß niemand wieʼs da läuft.] (.) //Ja// Das find ich schon sehr faszinierend daran. (Jelena I: 21ff.) Der Ausgangspunkt der Frauen bezüglich der Geburt kann dabei sehr unterschiedlich sein. Manche Frauen haben weder im sozialen Umfeld noch in der eigenen Biographie bereits Erfahrungen mit einer Geburt, mit Säuglingen oder starken Schmerzen. Andere Frauen, wie Freya, Sabina, Nadine oder Stefanie, haben bereits selbst Kinder geboren, sind erfahrener und können sich dem Ereignis der Geburt auf diese Weise annähern, auch wenn sie betonen, dass jede Geburt anders ist und tendenziell immer etwas Unerwartetes oder Neues passieren kann. Fragen der Angst und des Todes schweben über der Geburt, genauso wie die freudige Aussicht auf die Zusammenkunft mit einem neuen Leben und dem eigenen Kind. Ängste werden von den Frauen kaum angesprochen und stehen eher im Zusammenhang mit der Ungewissheit angesichts der Geburt. Den konkreten Begriff der Angst benutzen die Frauen nicht, eher sprechen sie von ›Unsicherheit‹

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und ›Sorge‹. Zum einen kann das in Zusammenhang mit der Norm stehen, dass Frauen keine Angst haben sollen, da sich dieses Gefühl negativ auf die Geburt und auf den pränatalen Zustand des Kindes auswirken kann. So beschreibt Lenka ihren Wunsch, auf die Geburtsschmerzen adäquat reagieren zu können: Na einfach richtig reagieren. Also, oder=oder möglichst gut reagieren und irgendwie. […] Ich glaub schon, dass (.) Angst oder so Panik dann in dem Moment richtig schlecht ist. //Ja// (.) Also dass man versucht, vielleicht nicht panisch zu sein. (Lenka I: 313ff.) Angst oder Panik, so macht diese kurze Interviewsequenz deutlich, erscheinen Lenka als ungünstig für den Geburtsverlauf. Die negative Bewertung von Angst erinnert an das Angst-Spannungs-Schmerz-Syndrom1 , auf das beispielsweise in verschiedenen Ratgebern verwiesen wird. Hier wird immer wieder vor den schädlichen Auswirkungen von Angst auf Geburt und Schwangerschaft gewarnt. Fraglich bleibt dabei jedoch, wie ein angstfreier Zustand zu erreichen ist. Zum anderen ist der Begriff der Angst für die interviewten Frauen vielleicht nicht passend, da es sich bei den beschriebenen Gefühlen um ein Konglomerat ambivalenter Gefühle handelt: Freude und Sorge, Angst und Zuversicht, Unsicherheit und Gewissheit, Hoffnung und Glaube an eine positive Geburtserfahrung für Mutter und Kind. Dabei lassen sich die Angst um das ungeborene Kind und die Angst vor dem Schmerz als unterschiedliche Komponenten herausfiltern. Konkret gefragt, ob sie mit der Geburt auch Angst verbindet, antwortet Michaela: Also ich glaube jetzt das wär auch (.) falsch, dass man, (.) dass ich keine Ängste hätte. Oder das ist glaube ich auch ganz, (.) ganz natürlich und normal. //Mhm// Also denk ich. Jede Frau hat irgendwo da gewisse Sorgen oder gewisse Ängste und (.) klar, also es kommt auch manchmal bei mir so der Gedanke, so ›geht das alles gut?‹ und und kl=ge='gehtʼs dann dem Kind dann auch gut während der Geburt?‹ und ›passiert da hoffentlich nichts‹. (.) Keine Ahnung, dass sich irgendwie die Nabelschnur irgendwie abdreht oder irgendwie (.) Sauerstoffmangel auftritt oder irgendwie das Kind stecken bleibt und man dann irgendwie nix vorwärts geht. //Mhm// Und (.) ähm, (.) also, (.) es gibt durchaus (.) schon Sorgen. (Michaela I: 87ff.) 1

Das Syndrom verweist auf den medizinisch negativ bewerteten Aspekt der Angst. Umfassende Information, die Anwesenheit einer Vertrauensperson und die stetige Begleitung sollen die Angst reduzieren. Als angstauslösend gelten die Wehen mit dem einhergehenden Geburtsschmerz, andere Faktoren werden nicht benannt. Die Angst, als individuell-psychologische Reaktion auf die Wehen, führe zu Spannung und muskulärer Verkrampfung, Überempfindlichkeit und Atemstörungen und in Folge zu einem erhöhten Geburtsschmerz (vgl. Stauber/Weyerstahl 2007: 67ff.).

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Michaela normalisiert und naturalisiert ihre Sorgen und Ängste um das Kind während der Geburt, die gleichzeitig spezifisch und diffus sind. Das ungeborene Kind scheint bedroht durch potenzielle Risiken, zum Beispiel nicht mehr gut durch die Nabelschnur versorgt zu werden oder während der Geburt nicht durch das Becken der Frau zu passen. Die Frauen wissen sehr gut Bescheid über potenzielle Komplikationen, die sich negativ auf das Kind auswirken können. Der Tod oder eine Behinderung werden jedoch nicht als letzte Konsequenz benannt, sondern narrativ umschifft. Die Frauen geben an, sich diese Gedanken fernzuhalten und so bleiben negative Folgen oder die Ursache der Angst unausgesprochen und angedeutet. Anders ist das bei den Alleingebärenden Sabina und Freya sowie bei Johanna, die bereits eine Fehlgeburt erlebt hat. Exemplarisch kommt hier Sabina zu Wort: Und ich, also ich, (.) mhm (.) ich versuch schon immer mit=mit einzuplanen. (.) Das hab ich beim dritten=, bei der dritten Schwangerschaft ziemlich stark gemacht. (.) Dass das gar nich=, es=es muss nicht sein, dass alles gut geht. //Ja// Also es kann halt auch (.) sein, das Kind stirbt oder so. (.) //Mhm// Ähm (.) aber, //Mhm// aber das passiert=, ich sag mir halt, das pa=, das kann immer passieren. Das kann immer (.) irgend=irgendwas schief gehen. //Ja// Es ähm kann nicht=, ich kann mein Bestes geben, um das abzuwenden, das mach ich auch, aber (.) es wird glaub ich nicht weniger. Also ich kann mich nicht von außen absichern dagegen. (Sabina I: 726ff.) Hier beschreibt Sabina, wie sie sich in der dritten Schwangerschaft innerlich mit dem Gedanken beschäftigt, dass eine Geburt negativ verlaufen und das Kind dabei sterben kann. Sabina deutet die Geburt hier als etwas Unverfügbares: Auch wenn sie alles tut, was in ihrer Macht steht, betont sie, dass sie sich nicht von außen absichern könne und es möglich sei, dass das Kind während der Geburt stirbt. Diese zwei Interviewpartnerinnen benennen es als Tatsache, dass Geburten für das Kind tödlich verlaufen können. Weder die Frauen selbst noch andere Personen könnten daran etwas ändern. Die Angst bleibt nicht diffus, sie wirkt in ihrer Konsequenz sehr real und drastisch. Deutlich wird bei allen Frauen die Risikowahrnehmung bezüglich der Geburt, die als Orientierung am medizinischen Risikofaktorenmodell interpretiert werden kann, welches die Geburt zwischen Leben und Tod verortet (vgl. Dörpinghaus 2013; Baumgärtner/Stahl 2005). Tod oder Komplikation schweben wie ein Damoklesschwert über den Frauen, denn auch bei der Schwangerschaftsvorsorge steht die Erkennung von Risikofaktoren im Mittelpunkt (Baumgärtner/Stahl 2005: 55). Daneben finden sich die Deutung der Geburt als normales Erlebnis im Leben einer Frau und eine große Zuversicht, die Geburt bewältigen zu können. Denn dem Risikobegriff ist die Unsicherheit sowie die Möglichkeit, Schaden abzuwenden, inhärent (vgl. ebd.: 12ff.). Die Frauen befinden sich damit in einer Ambivalenz: Neben

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Die unbekannte Geburt

der eigenen empfundenen Gewissheit, dass sie die Geburt bewältigen können, besteht eine Gefahr, die über ihnen und vor allem ihrem Kind schwebt. Die Geburt, so ist deutlich geworden, ist auf mehreren Ebenen eine unbekannte Größe. Sie betrifft die Unsicherheit bezüglich des Verlaufes sowie die Deutungsoffenheit angesichts einer Vielfalt von Modellen. Die Verortung der Geburt als riskantes Lebensereignis und persönliche Krisensituation, bereiten im Umgang mit dem Geburtsschmerz Sorgen und Ängste. Wie nun gehen die Frauen mit dem Phänomen der ›unbekannten Geburt‹ um?

5.2.1.2

Bewältigungsstrategien

  Wissens- und Informationsgewinn über Geburten und die Entwicklung des Kindes Es lassen sich auf den Ebenen der Kognition und des Handelns mehrere Strategien herausarbeiten, die von den Frauen in unterschiedlichem Umfang genutzt werden, um mit der Handlungsunsicherheit, die sich an die unbekannte Geburt knüpft, umzugehen. Eine zentrale Strategie besteht in der umfassenden Information über Geburten und die Entwicklung des Kindes. Dieses Wissen ist teils stark institutionalisiert. Weiterhin gibt es spezifische Zusatzangebote, derer sich die Frauen bedienen, hinzu kommt die Erfahrung anderer. Durch die mehr oder weniger umfangreiche Information wird Wissen akkumuliert. Um die Art des Wissens genauer fassen zu können, kann es in seinen Eigenschaften und Dimensionen differenziert beschrieben werden. Zum einen geht es um die Verortung des Wissens: Handelt es sich um professionelles Wissen von Ärzt*innen bzw. Hebammen oder um Lai*innenwissen von bekannten oder verwandten Frauen? Weiterhin kann das Wissen nach seinem Status als objektives oder subjektives Wissen unterschieden werden. Objektives Wissen bedeutet hier das Wissen um bio-medizinische Geburtsmodelle oder Annahmen über die eigene Schwangerschaft und konkrete Messewerte. Das subjektive Wissen kann privates oder professionelles, eigenes oder fremdes Erfahrungswissen oder Wissen, das nur intuitiv zugänglich scheint, umfassen. Aus den Interviewanalysen ließen sich fünf Arten ausfindig machen, um Informationen über Geburten im Allgemeinen, die eigene Schwangerschaft und das ungeborene Kind zu erlangen: Schwangerschaftsvorsorge, Lesen, Teilnahme an Elternund Mütterbildungsangeboten oder Informationsveranstaltungen von Geburtsinstitutionen und der Zugang zu weiblichem Erfahrungswissen. Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft : Die Schwangerschaftsvorsorge stellt eine stark institutionalisierte Möglichkeit für die Frauen dar, umfassende Informationen zum Zustand ihres Kindes während der Schwangerschaft und ihrem eigenen Befinden zu erlangen. Potenzielle Sorgen können zum Beispiel die über-

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

mäßige Größe des Kindes oder die abweichende Lage von Plazenta und Kind sein, was auf eine schwierige Geburt für Mutter und Kind schließen lässt. So beschreibt Freya (I: 429) ihren »Schwangerschaftsärztemarathon« in der ersten Hälfte der Schwangerschaft, bei der sie mehrmals katastrophale Untersuchungsergebnisse erhält: Bei der ersten Untersuchung sieht die Ärztin kein Kind auf dem Ultraschallbild, bei einem weiteren Vorsorgetermin stellt sie einen Knoten in der Brust fest, danach wird in der Blutprobe fälschlicherweise ein auffälliger Röteln-Titer gefunden und eine Plazenta praevia diagnostiziert. Und das hat mich richtig mitgenommen und aus meiner Mitte geworfen. //Ja// Sehr nachhaltig. Da kam ich dann schwer wieder rein. […] Und dann dacht ich mir auch nur: Nee! (Lacht) Jetzt nicht mehr! (Lacht) (.) Ich will nicht mehr! Ich hatte wirklich dann in zwölf Wochen oder dreizehn, vierzehn Wochen, seit ich das erste Mal beim Arzt war, hattʼ ich permanent irgendwelche (.) Ängste, //Ja// irgendwelche Unsicherheiten. (.) //Ja// Ja, (.) genau und halt=, da=, ab da (.) ʼne=, also den=, sie hat die Organe vom Kind in der sechzehnten Woche angeguckt. (.) Da wusstʼ ich dann auch, dass die Plazenta nicht an Ort und Stelle war. Ich hatte keine neue Diagnose //Ja// und dachte dann gut, jetzt wissen wir, dass alles okay ist. Jetzt hörnʼmer mal auf. (Freya I: 448ff.) Aus den Vorsorgeuntersuchungen resultieren für Freya viele Ängste und Sorgen, sie wird mit schwerwiegenden Diagnosen konfrontiert, die sich wenig später als Fehldiagnosen erweisen. Nach ihrer letzten Vorsorgeuntersuchung in der 16. Woche zeigt sich, dass sich das Kind normal entwickelt hat und sich die Plazenta nicht vor dem Muttermund befindet. Diese Informationen erachtet sie als ausreichend und sie verzichtet auf weitere Vorsorgeuntersuchungen. Die Informationen über die Entwicklung des Kindes und die Lage der Plazenta verschaffen ihr daraufhin wiederum Gewissheit und Sicherheit für die Geburt. Im weiteren Verlauf der Schwangerschaft nimmt sie keine Vorsorgetermine mehr wahr. Auch Nadine und Stefanie bereitet die Beschreibung des ungeborenen Kindes als relativ klein bzw. groß durch Ultraschall-Messungen Sorgen. Während Nadine Angst hat, durch ihr zu kleines Kind nicht die gewünschte ambulante Geburt erleben zu können, hat Stefanie Sorge um ihre körperliche Unversehrtheit wegen eines großen Kindes und einer drohenden frühzeitigen Einleitung. Die Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchungen sind folglich als ambivalent zu beschreiben. Die Informationen können, soweit sie auf eine positive Entwicklung des Kindes schließen lassen, beruhigend wirken und Sicherheit geben. Handelt es sich bei den erhobenen Werten jedoch um Grenzwerte, die Interventionen oder Komplikationen nach sich ziehen können, resultiert aus dieser Information eine erhöhte Unsicherheit und Sorge um den erwünschten normalen Geburtsverlauf und um das ungeborene Kind. An Freyas Fall wird deutlich, wie verheerend Fehldiagnosen für das Wohlbefinden der Frauen während der Schwangerschaft sein können.

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Ein Kontrast zur potenziellen Verunsicherung ist Sabina, die sich mit konkreten Vorsorgewünschen an eine Frauenärztin wendet: Das hab ich eigentlich (.) jetzt immer so gemacht, also ich hatte immer so ein oder zw=, also den ersten Ultraschalltermin wollt ich immer haben, um den Termin ungefähr //Ja// zu bestimmen. […] Und dann hab ich halt immer (.) in allen drei Schwanger=, also jetzt inklusive dieser, wo ich so ʼne Alleingeburt plane, (.) ähm, eine freie Geburt, //Ah// (.) ähm, immer dann am Ende nochmal ʼnen Ultraschall gemacht und jetzt ja, (.) also, (.) jetzt diesmal wollt ichʼs wissen, ja genau, wo die Plazenta isʼ und so, (.) nach Herzfehlern gucken. […] Ja, (.) hat mir=, (.) gibt mir Sicherheit. Ich weiß, dass das auch viel nicht erkannt wird oder viel falsch erkannt wird aber irgendwie (.) hat mich das so (.) beruhigt. (Sabina I: 216ff.) Sabina entscheidet sich während der Schwangerschaft sehr bewusst für zwei ärztliche Vorsorgeuntersuchungen. Während sie bei der ersten Untersuchung den errechneten Geburtstermin erfahren möchte, will sie bei der zweiten Untersuchung Informationen über die Lage der Plazenta und die Entwicklung des kindlichen Herzens erhalten. Obwohl sie sich der Fehleranfälligkeit dieser Untersuchungen bewusst ist, beruhigen sie die unauffälligen Ergebnisse. Sie hat damit die Gewissheit, ohne Sorgen in die Alleingeburt gehen zu können, da lebensbedrohliche Vorergebnisse ausgeschlossen sind, die eine vaginale Geburt unmöglich machen würden oder das Kind ohne eine unmittelbare medizinische Erstversorgung nach der Geburt gefährden könnten. Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, zeigen die Interviews, dass die Vorsorgeuntersuchungen und das Vermessen des ungeborenen Kindes sowohl Sicherheit als auch Unsicherheit produzieren (siehe Kapitel 4). Für Freya und Nadine handelt es sich durch die Diagnosen um ein enges Überwachungsraster, das zeitlich sehr aufwändig ist, immer wieder neue Untersuchungen nach sich zieht und es erforderlich macht, auf diese Untersuchungen und ihre Ergebnisse zu warten. Sie versuchen, sich davon zu emanzipieren, indem Freya keine weiteren Vorsorgeuntersuchungen mehr wahrnimmt und Nadine die Vorsorge von einem Hebammenteam des Geburtshauses durchführen lässt. Anders ist es bei Johanna, die ein angeborenes Nierenleiden hat und bereits eine Fehlgeburt erlebt hat. Die Vorsorgeuntersuchungen sind für sie beruhigend, sie lässt auch ein Feinscreening machen und wählt eine Geburtsstation mit Kinderklinik, um ihren Sorgen zu begegnen. Im Anschluss an diese Beobachtungen kann davon ausgegangen werden, dass Frauen mit bestimmten Erfahrungen, einer spezifischen gesundheitlichen Konstitution oder einer sogenannten Risikoschwangerschaft in eine Vorsorgespirale gelangen, die immer mehr Untersuchungen und damit auch Angst und Wartezeit produziert. Besonders betroffene Personengruppen könnten Frauen mit einer körperlichen Vorerkrankung sein, Risikoschwangere, beispielsweise im Alter über 35 Jahren oder mit einer Lageanomalie des Kindes, oder Frauen, die sich in einer Kin-

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derwunschbehandlung befanden. Die Frauen erleben sich in Abhängigkeit von den professionellen Vorsorgeuntersuchungen und fordern mehr Untersuchungen ein, um Sicherheit zu erlangen, woraufhin potenziell aber auch neue Unsicherheiten produziert werden können. Das eigene leiblich-körperliche Spüren, Wohlfühlen und Vertrauen in die Zukunft (›guter Hoffnung sein‹) gerät gegenüber der medizinischen Überwachung in den Hintergrund. Lesen : Eine weitere verbreitete Art des Informationserwerbs über die Geburt ist die lesende Aneignung von Geburtsmodellen und -theorien. In gynäkologischen Praxen und Geburtsstationen finden sich Informationsbroschüren, es gibt ein vielfältiges Angebot an Ratgeberliteratur, Zeitungsartikeln, Zeitschriften, Blogs, Internetseiten und Forenbeiträgen. Die Schwangeren werden angerufen, sich umfassend über die Abläufe einer Geburt zu informieren, um ihrer Angst und Unsicherheit zu begegnen und dadurch aktiv zu einem guten Geburtsprozess beizutragen. Gleichzeitig finden sich Verweise, was die ›richtigen‹ Informationen sind, denn es besteht immer auch die Gefahr, dass sich die Frauen falsch informieren und dadurch Angst entwickeln oder vom medizinischen Wissen überfordert sind. Alle interviewten Frauen nutzen diese Strategie mehr oder weniger intensiv, um sich zu informieren. Die interviewten Frauen Michaela, Lenka und Johanna, die weniger umfangreich Lektüre betreiben, verfallen bei konkreten Nachfragen der Interviewerin eher in Erklärungsversuche. Auch das Weitergeben und Verschenken entsprechender Literatur ist unter den Frauen eine verbreitete Praktik, so hat Jelena ein halbes Regal mit den unterschiedlichsten Ratgebern zu Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit gefüllt. Über das Lesen oder anderweitige Informationen können die gebärenden Frauen sich allerdings auch Zugang zu alternativen Geburtsmodellen verschaffen. So gibt es einen sehr vielfältigen Markt von Ratgebern und Blogs, die alternative Geburtsmodelle verbreiten, beispielsweise die ›sanfte Geburt‹ oder ›Hypnobirthing‹. Diese Literatur stützt sich stärker auf ein Geburtsmodell das sich an der Salutogenese orientiert und Geburt als ein natürliches, wichtiges und aktiv zu bewältigendes Erlebnis konstituiert. Je nach inhärenter Theorie und Logik kann Geburt als positives Erlebnis konstituiert werden. Meist gehen solche Theorie mit einer Kritik an der Medikalisierung der Geburt einher und formieren eine wie auch immer geartete Vorstellung einer natürlichen Geburt. Eltern- und Mütterbildungsangebote – Geburtsvorbereitungskurs : Um bio-medizinisches Wissen über einen idealtypischen Geburtsverlauf zu erlangen, können Frauen auch die institutionalisierten und gesellschaftlich fest verankerten Bildungsangebote nutzen, wobei der Geburtsvorbereitungskurs ein verbreitetes Format ist. Ergänzend gibt es auch Säuglingspflege- und Stillkurse oder solche, die in alternative Gebärmodelle einführen, wie beispielsweise Hypnobirthingkurse. An die

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Schwangeren werden hier auch konkrete Subjektpositionen als Gebärende herangetragen (vgl. auch Seehaus 2015: 63f.). In den Kursen wird die Geburt, in Analogie zum Stillen, als natürlicher Prozess verstanden, der dennoch »diverse Instanzen, Techniken und Qualifizierungen« voraussetzt, die das Gebären erst ermöglichen (vgl. Rose/Seehaus/Tolasch 2017: 48). Das Format des Bildungskursangebots für Schwangere und deren Partner*innen bietet einen Modus mündlicher Wissensvermittlung und unmittelbaren Zugangs zu professionellem Erfahrungswissen. Gleichzeitig fungieren die Kurse als Multiplikatoren bio-medizinischer Geburtsmodelle und orientieren sich an durchschnittlichen Standardwerten. So beschreibt Jelena das Modell des Geburtsprozesses, das ihr in visualisierter Form vermittelt wird: Oder auch, was eben äh Hebammen oder im Geburtsvorbereitungskurs (.) //Ja// gesagt wird. Manchmal sindʼs auch nur so kleine Details, hab ich das Gefühl, //Mhm// die man sich besonders gut merkt. //Ja// Wie gesagt, und die hatte das erste Mal in diesem Kurs das mit den Wehen beschrieben. Da konntʼ ich erst mal ʼne Nacht nichʼ schlafen; oder schlecht (.) (lacht) Wo ich dachte, du musst dir merken, in welchen Abständen die kommʼ so. Ich bin so rational, //Ja// alsoʼn Kopfmensch dann auch, ne? //Ja// Dass ich denke, ich brauch da diese (.) Linie, //Ja// irgendwas in der Hand zu haben. //Ja// Und diese Phasen und so, was wann kommt. Total bescheuert, kann ich jederzeit nachlesen und jederzeit jeden fragen. Aber (.) ich dacht=, hab immer wieder dieses Plakat, was die aufgemalt hatte (lacht), ins Gedächtnis gerufen nachts. //Ja// Und das so, hat mich arg beschäftigt. (…) […] Ähm. (.) Ja, dass ich eben wach lag und äh mich nicht wieder beruhigen konnte, wieder einzuschlafen, weil ich //Ja// absurderweise immer wieder überlegt hab. Ähm, weiß ich nichʼ, erst im Abstand von fünf Minuten (.) und dann hat die immer so Smileys daneben gemalt. [(lachend) Isʼ die Frau noch ganz happy und dann wirdʼs immer schlimmer so.] //Ja// Weil ich glaub, wenn man ganz am Ende isʼ, dann isʼ das auch alles egal. Aber diese Phasen vorher, dachtʼ ich, irgendwie darauf musst du dich jetzt vorbereiten, (.) mental. //Ja// Und deswegen bin ich das immer wieder durchgegangen, //Okay// anders kann ichʼs mir nicht erklären. (Jelena I: 235ff.) In Jelenas Geburtsvorbereitungskurs visualisiert die Hebamme die Geburtsphasen mit den Abständen der Wehen und dem Zustand der Frauen auf einem Plakat. Es ist Jelena wichtig, sich dieses Modell einzuprägen und sich mental darauf vorzubereiten. Die kognitive Verarbeitung des modellhaften Wissens über einen idealisierten Geburtsverlauf hält sie nachts wach und fordert sie sehr stark. Es ist ihr auf einer rationalen Ebene wichtig, den idealtypischen Prozess kognitiv zu erfassen, um sich vorzubereiten. Allerdings entsteht dadurch gleichzeitig Unsicherheit, Unruhe und ein innerer Druck zur guten Vorbereitung, ähnlich eines Examens. Deutlich wird, dass die Aufnahme und Verarbeitung der Informationen auch spezifische

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Ressourcen voraussetzen und große Anforderungen an die Frau stellen, nämlich sich das medizinische Fachwissen anzueignen, um sich auf die Geburt vorzubereiten oder im Fall des Geburtsbeginns adäquat den Geburtsprozess einschätzen zu können. Diese Wissensvermittlung ist eine Einstimmung auf medizinische Abläufe, manche Frauen verweisen auf die Expertise der Hebamme und das Vertrauen, dass diese sie im Augenblick der Geburt begleitet und an spezifische Praktiken erinnert. Spezielle Kurs- oder Vortragsangebote können jedoch auch Multiplikatoren für alternative Geburtsmodelle sein, finden insgesamt jedoch eine geringe Verbreitung, auch wenn sie im Interdiskurs präsent sind: Mein Mann hat dann auch= (…) ist auf jemanden auch auf einem anderen Seminar aufmerksam geworden, (.) ähm auf das Thema Hypnobirthing. Und (.) ähm daraufhin haben wir uns ähm (.) dann in die Richtung informiert, (.) ähm, was wir sehr, sehr interessant einfach (.) fanden. Weil da die Geburt halt als etwas Natürliches noch angesehen wird (.) und ähm //Mhm// man mit=mit Technik, mit speziellen Entspannungstechniken (.) quasi wieder (.) ja so zu dem Natürlichen zurückkommt. Also so ein bisschen den Frauen die Angst nimmt, was halt (.) oftmals ja so als, ähm (.) [(lachend) Mantra] ist jetzt vielleicht ein falsches Wort, aber in den Köpfen einfach ist. Was, was (.) so Geburt ist schmerzhaft, Geburt ist äh (.) schrecklich, Geburt tut weh, dass man davon so ein bisschen wegkommt, ähm und dass es das nicht sein muss. //Mhm// Ist natürlich, am Anfang denkt man so: Was man so hört ist ja meistens doch irgendwelche (.) Horrorgeschichten, die dann so, oh je, was kommt da auf einen zu? Ähm (.) wir fanden das eben sehr, sehr interessant. Und als es dann so weit war, haben wir dann eben auch einen Kurs belegt, einen Hypnobirthingkurs als Geburtsvorbereitung. (Carmen I: 12ff.) Carmens Mann beschäftigt sich insgesamt mit alternativer Medizin und wird dabei schon vor der ersten Schwangerschaft auf das Konzept des Hypnobirthing aufmerksam. Beide beginnen, sich mit der Thematik zu beschäftigen, die die von Carmen angenommene gesellschaftliche Konstruktion eines negativen Geburtserlebnisses radikal hinterfragt und ein positives, natürliches Geburtserlebnis propagiert. Im Kurs und der dazugehörigen Literatur wird der negativen Geburt ein positives Geburtsmodell entgegengesetzt, bestehend aus alternativen Geburtsbegriffen, positiven Suggestionen, Atem- und Entspannungstechniken. Das Ziel ist die Auflösung der Angst durch die positive Aufladung der Geburt. Teilnahme an Informationsveranstaltungen von Natalitätsinstitutionen: Eine vierte Form des Informationserwerbs besteht in der Teilnahme an Kreißsaalführungen oder institutionellen Informationsveranstaltungen der Kranken- oder Geburtshäuser sowie einem Anmeldegespräch für die Geburt. Die Teilnahme an solchen Veranstaltungen erscheint fast obligatorisch, ihnen wird ein Einfluss auf die Auswahl der ge-

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eigneten Geburtshilfestation nachgesagt. Die Führungen informieren über strukturelle Gegebenheiten der jeweiligen Institutionen, wie Anmeldeformalitäten oder Ausstattung. Darüber hinaus vermitteln sie weitere Informationen und einen ersten Kontakt zu den örtlichen Hebammen und Ärzt*innen, schaffen einen Eindruck von den Räumlichkeiten sowie der konkreten Atmosphäre vor Ort. Michaela berichtet über den erwarten Geburtsbeginn und bezieht sich dabei auf ihren Erstkontakt zur Geburtsklinik: Es wird wohl sein, dass ich dann ja schon dort irgendwie bekannt bin. Also ich hab jetzt auch nächsten Montag da nochmal soʼn Gespräch (.) in der Hebammensprechstunde, wo man also diese Voranmeldung machen kann, so dass hoffentlich dann der Papierkram dann schon mal wegfällt. //Ja// […] Ja ähm, die Räumlichkeiten: Also ich hab mir den Kreißsaal schon mal angeschaut bei ʼner Kreißsaalführung. Die Kreißsaalräumlichkeiten sind deutlich angenehmer als ich mir das so in meiner Fantasie ausgemalt hab. (.) Also (deutliches einatmen) hier in [Stadt] ist es ja ein relativ altes äh Krankenhaus, äh sind ja noch recht altertümliche Gebäude. (.) […] Ähm ja, also meine Vorstellung war irgendwie, dass das so wirklich soʼn ganz=ganz altertümlicher, riesiger Kreißsaal ist, wo da irgendwie so Vorhänge [(lachend) zwischen den Gebärenden sind] //Okay// Aber so ist es definitiv gar nicht. Also sie haben drei kleine Räume, wo man für sich privat ist //Ja// und die anderen nicht sieht und nicht hört. [(Lachend) (.) Und es ist eigentlich] ja es ist also deutlich, ähm, deutlich angenehmer und=und irgendwie (.) ja, privater als ich das jetzt irgendwie so erwartet hätte. //Ja// Von daher (.) ähm (.) denk ich, dass es ähm schon dann ganz okay ist, da hinzugehen und=und da das Kind zu kriegen. (Lacht) (.) Und ähm, also mit allen Hebammen, wo ich bis jetzt Kontakt hatte, war (.) das auch sehr angenehm. Also die Atmosphäre scheint irgendwie= (.) bis jetzt zumindest macht es ʼnen sehr entspannten und=und netten Eindruck; =netten=Eindruck, ja. (Michaela I: 33ff.) Durch die Veranstaltung und die persönliche Anmeldung erhält Michaela einen ersten Zugang zu den professionellen Geburtshelfer*innen, die sie während der Geburt eventuell begleiten werden. Eine, wenn auch oberflächliche, Bekanntschaft zwischen der Gebärenden und der Hebamme erachtet Michaela als positiv. Sie erscheint als Basis für die Vertrauensbeziehung und als Grundlage für eine private und positive Geburtshilfe (vgl. Sayn-Wittgenstein 2007: 39), ebenso wie ansprechende Räumlichkeiten und eine geeignete Atmosphäre. Auch wenn ihr bewusst ist, dass sie nur einen Ausschnitt des Klinikalltags erlebt, ist es ihr doch möglich, sich durch die Nutzung dieser Angebote der Institution des Krankenhauses anzunähern und eine Vorstellung vom Geburtsort zu entwickeln. Der Unsicherheit angesichts ungewohnter, neuer Räume oder das Unbehagen im Hinblick auf die erwarteten altertümlichen Gebärstationen, die keine Privatsphäre versprechen, kann sie dadurch begegnen. Sie ist positiv überrascht, das zeigt auch, wie tief alte Bilder

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

und Vorstellungen früherer Gebärinstitute wirken.2 Die Atmosphäre bewertet sie als entspannt und nett. Durch die Führung zeigte sich die Klinik in einem Bild, das ganz zur Orientierung der Geburtsmedizin passt, nämlich eine familienorientierte Ausrichtung, die die private Situation der Geburt achtet (vgl. auch Heidiri 2014: 50). Eine private, familiäre Atmosphäre erscheint hier genauso zentral wie das erwartete Miteinander und eine empathische Geburtshilfe. Zugang zu weiblichem Erfahrungswissen: Die letzte Form der Tätigkeit, um Wissen zu erlangen, unterscheidet sich erheblich von den anderen und zielt auf eine andere Form des Wissens. Hier geht es um den Austausch und Gespräche mit anderen Frauen. Explizit handelt es sich hier nicht um objektives oder strukturelles Wissen, sondern um die Weitergabe subjektiver Erfahrungen oder Handlungsoptionen. Diesbezüglich bedauert Jelena einen persönlich und kulturell schwierigen Zugang zu Geburtserfahrungen: Da find ichʼs auch schade, dass manʼs eben nie ähm so erlebt vielleicht wie so in anderen Familien oder Kulturen, dass man da soʼn bisschen vielleicht auch schon Kontakt hatte. Weil ichʼn Mensch bin, der sich auch an Sachen gewöhnen muss immer erst. //Ja// Führʼ ich das darauf zurück, dass (.) ich so ʼne Unsicherheit habe und wenn ich dann nochʼn bisschen sacken lasse, dann geht das. (Jelena I: 35ff.) Jelena beschreibt, dass es für sie in ihrem kulturellen und familiären Umfeld kaum eine Möglichkeit gibt, direkten Kontakt zu Geburten zu haben und den Umgang mit Säuglingen zu erleben. Ihre Unsicherheit führt sie auf die fehlende praktische Annäherung an das Phänomen der Geburt zurück. Hinzu kommt ihre biographische Prägung als ein Mensch, der sich langsam an Änderungen gewöhnen muss. Der Kontakt zu Geburten würde ihr den Zugang zu diesem Ereignis erleichtern, so handelt es sich bei der Lektüre von Ratgebern und dem Besuch von Informationsveranstaltungen um rein kognitiv vermittelte Informationen. Im Prozess der langsamen Verarbeitung und Annahme der Informationen findet sie einen Umgang mit der Unsicherheit und spricht sich selbst Mut zu: Es wird schon gut gehen. Ein zartes Vertrauen in das Gelingen der Geburt und die Zuversicht auf einen guten Verlauf und Ausgang der Geburt. Dieser Austausch über und der direkte Kontakt zu Geburt kann durch Gespräche mit der Mutter, Verwandten, Bekannten oder Freund*innen erfolgen, aber auch durch das Lesen von Blogeinträgen oder Geburtsberichten in Internetforen. Ein visueller Zugang zu den Erfahrungen Dritter bieten öffentlich zugängliche (private) Geburtsvideos. Entscheidend ist hier, die Frauen als hauptsächliche Trägerinnen dieses subjektiven, vergeschlechtlichten Wissens zu betrachten. Es gibt ei2

Auch Johanna beschreibt die Vorstellung großer, unpersönlicher Kreißsäle und ist von den familiären Räumen des Krankenhauses überrascht.

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nen regen Austausch über das breite Erfahrungswissen, der gleichzeitig aber auch durch die Trägerinnen selbst eingeschränkt wird. Von den Erzählungen und Geburtsberichten scheint auch eine Gefahr auszugehen. So erzählt Michaela: Ähm, also tatsächlich ist es so, dass (.) dass ich irgendwie (.) in der Zeit bevor ich schwanger war, viel mehr über die=die Geburten so erzählt bekommen hab. Also es warʼn jetzt=ich bin so in unserem Bekanntenkreis eher spät dran, //Mhm// also es haben schon fast alle Kinder (.) und alle haben natürlich irgendwie auch von ihren Geburten erzählt. Immer wenn man (.) dann Besuch macht und das erste Mal das Kind sieht //Mhm// und dann sich so unterhält und so, dann haben die au=im=immer alle irgendwie erzählt, wieʼs bei ihnen so abgelaufen ist. (.) //Ja// Und (.) in der Zeit jetzt, wo ich schwanger war, warʼs eher so, dass eigentlich (.) gerade die Bekannten auch eher zurückhaltend waren //Mhm// mit den Erzählungen. (.) Und (.) ähm, (.) soʼn bisschen vielleicht auch, ja (lacht), also eher dann so die Meinung vertreten=Also insbesondere auch die, die vielleicht jetzt sogar das zweite Kind parallel zu mir jetzt irgendwie //Mhm// bekommen haben, (.) also dann auch von ihrer ersten Geburt eher (.) nicht mehr so viel erzählt haben, //Mhm// und irgendwie meinten, naja mhm, (.) wollen dich da jetzt nicht [(lachend) irgendwie beunruhigen.] Und irgendwie auch, (.) //Ja// das war auch so etwas, was eigentlich die=die Hebamme in (.) in dem Geburtsvorbereitungskurs irgendwie eigentlich so ein bisschen, ja, d=darauf verwiesen hat, (.) dass ähm, (.) dass man sich also da von den Horrorgeschichten, die kursieren, oder von den //Ja// Erlebnissen, die teilweise da sehr drastisch oder sehr (.) ja, die da halt so beschrieben oder geschildert werden, dass man sich da nicht so beeindrucken lassen soll, weil das halt auch (.) ja individuell sehr unterschiedlich empfunden //Mhm// wird und=und eigentlich bei jedem anders ist und sich deswegen= deswegen (deutliches Einatmen) glaub ich, man sich kein so ʼnen Kopf oder sehr irgendwie schon so ʼne Angst schon aufbauen sollte, //Ja// durch=durch die Erlebnisse, die jetzt andere irgendwie so schildern, die vielleicht (.) auch im Nachhinein (.) dann (.) doch wieder irgendwie verzerrt auch erlebt //Mhm// oder dargestellt werden. (Michaela I: 298ff.) Die genannten Aspekte des Zugriffs auf weibliches Erfahrungswissen spiegeln sich in diesem Zitat von Michaela auf interessante Art und Weise wider. Sie beschreibt eine Differenz im Zugang zu weiblichem Erfahrungswissen in Abhängigkeit von ihrem Status als (Nicht-)Schwangere. Während ihr vor ihrer Schwangerschaft Freundinnen ihre Geburtserfahrungen mitteilten, waren diese in ihrer Schwangerschaft zurückhaltend mit detaillierten Geburtsbeschreibungen. Sie erklärt dies durch zwei Gründe: zum einen wollen die Frauen Michaela nicht beunruhigen, zum anderen gelten ihre Erfahrungen als potenzielle Gefahr für die Schwangere und als Übertreibung. Die Warnung der Hebamme aus dem Geburtsvorbereitungskurs veranschaulicht die potenziell negative Wirkung die sie subjektivem,

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weiblichem Erfahrungswissen zuspricht. Ihm wird damit der Wahrheitsgehalt abgesprochen, es gilt als verzerrt, da es sich immer um erinnertes Wissen unter Schmerzen handelt. Die Folge für die Schwangere könne im Aufbau der als schädlich erachteten Angst liegen und dadurch die Geburt negativ beeinflussen. Eine Besonderheit besteht bei dieser Wissensform darin, dass um schwangere Frauen scheinbar eine narrative Schutzzone errichtet wird. Sogenannte Horrorgeschichten werden möglichst zurückgehalten. Dadurch gibt es auch Sprechregeln in der Kommunikation mit schwangeren Frauen. Frauen sind dazu aufgefordert, ihre Geburtsgeschichte anderen schwangeren Frauen nicht als Horrorgeschichten zu erzählen. Die Schwangeren wiederum werden dazu aufgefordert, die Geburtsberichte anderer Frauen zu relativieren oder ihnen komplett aus dem Weg zu gehen. Weniger, weil, das ist auch etwas, was im (.) Hypnobirthing einem quasi einem geraten wird, (.) das nicht zu viel zu machen, sondern ähm (.) also quasi, dass man vorher sagt: ›Wenn du mir was über die Geburt erzählen willst, bitte nur Positives. Nur positive Geburtsberichte.‹ Klar, man kriegt trotzdem immer (.) mal wieder was gesagt: ›Ja, aber wenn doch dann, und stell dir mal vor, bei mir war das so.‹ Gibt es immer mal wieder. Aber (.) viele sind dann auch, wenn (.) man dann sagt: (.) ›Ja ähm (.), kannst du mir gern erzählen, aber erst möchte ich mein eigenes Geburtserlebnis haben, und danach kannst du mir das dann erzählen.‹ //Mhm// Also deswegen habe ich da nicht mit vielen nicht so drüber geredet. Ähm (.) das wussten die dann aber auch vorher, dass (.) wir das ein bisschen anders sehen. Und ja, einfach so diese positiven (.) ja, (.) sich selbst ein Bild zu machen. (Carmen I: 878ff.) Carmen hört und liest ausschließlich positive Geburtsberichte, um sich ein positives Bild von Geburt zu machen und zu erhalten. Die dramatischen Geschichten verlieren hier zwar nicht ihren Wirklichkeitsanspruch, könnten aber das schützenswert erscheinende Konstrukt einer guten, natürlichen Geburt beschädigen. Sie gefährden potenziell die positive Suggestion und damit den Geburtsprozess, da sich in diesem Modell Angst und schlechte Vorstellungen negativ auf die tatsächliche Geburt auswirken. Dennoch entwickelt sich durch die Bedeutung des Erfahrungswissens eine vielfältigere Bandbreite subjektiver Geburtserfahrungen und spezifischer Geburtsverläufe in Kontrast zur standardisierten Vorstellung eines normalisierten Geburtsmodells. Besonders Lenka beschreibt diese Form der Wissensvermittlung positiv und befragt Freundinnen und Bekannte: Die hab ich auch ausgefragt, wie das so war, //Ja// wie lange das gedauert hat und, weiß ich nicht, (.) wie während jetzt nach dem Geburtsvorbereitungskurs, wie war denn dein Geburtsanfang? Hattest du diese Latenzphase? Hast du die doll gemerkt oder nicht? //Ja// Oder (.) so. Oder hattest du gleich gekotzt und hattest

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Durchfall? (lacht) Oder so. So, //Ja// ja, (.) genau. Oder doch, hab ich schon gefragt. (.) Also (.) wennʼs mich interessiert. (Lenka I: 193ff.) Durch das Nachfragen und die Gespräche mit Freund*innen bildet sich bei ihr eine ganze Bandbreite potenzieller Geburtsverläufe und Anzeichen des Geburtsbeginns. Um einen Zugang zu dieser Wissensform zu erlangen, sind auch die eigenen (körperlichen) Erfahrungen als Informationsquelle zentral. Das können vorangegangene Geburten ebenso wie Schmerzerfahrungen oder Krankenhausaufenthalte sein. Sie scheinen sich am stärksten auf die Annäherung an die unbekannte Geburt auszuwirken. Sabina berichtet über ihre erste Geburt: Das hat mir halt so viel Kraft gegeben und Vertrauen in den Prozess. //Ja// Und das=das=das= (.) Ich brauch da nich= (.) Ich=ich (.) Das=das kann ich einfach oder ich also (.) ich will nichʼ ›Mein=mein Körper kann das.‹ sagen. Aber, sondern ich= irgendwie klappt das halt (lacht). (Sabina I: 68ff.) In einer sprachlichen Suchbewegung mit mehreren Abbrüchen beschreibt Sabina durch die positive und schnelle erste Geburt, zwei Dinge gefunden zu haben: Kraft in sich selbst und Vertrauen in den Prozess. So entfaltet sich eine persönliche Gewissheit, eine Geburt bewältigen zu können, sowie in den Prozess der Geburt an sich. Dieser Prozess werde unausweichlich ablaufen und er werde gut gehen. Nicht nur bei der ersten, sondern auch bei den folgenden zwei Geburten hat sie das am eigenen Körper erfahren. Sie beschreibt sich selbst als Person, die Geburten bewältigen und vollbringen kann. Sie eignet sich die Geburt aktiv an, es ist ein Ereignis, das sie aktiv vollbringt und für dessen Bewältigung sie mit ihrem Körper besonders geeignet scheint. In Kontrast dazu scheint es auch die Möglichkeit zu geben, dass es Personen gibt, die Geburten nicht so einfach wie Sabina vollbringen können. Sie schwächt die Aussage in nachfolgenden Relativierungen ab und möchte es nicht allein ihrem Körper zuschreiben. Aber es scheint noch einen unbenennbaren Grund zu geben, dass Geburten bei ihr funktionieren und dass dieser gute Ablauf der Geburten gleichzeitig über sie hinausgeht. Auch Stefanie bezieht im ersten Interview ihre erste Geburt immer wieder als Erzählhorizont ein, bei Wünschen orientiert sie sich sehr stark an der zuerst erlebten Geburt. Also wenn ich mir die Geburt nochmal aussuchen könnte, (.) würd ich dieselbe nehmen wie bei der [Name der Tochter]. (.) Bloß halt vielleicht ohne Einleitung. Dass es (.) spontan selber los geht. Aber ansonsten, (.) so war das super. //Ja// Ich kann mir eigentlich nichts vorstellʼn, was jetzt noch (.) besser ist. (Stefanie I: 543ff.) Die erste Geburt prägt Stefanies Vorstellung maßgeblich, sie verläuft fast wie im Bilderbuch und sie geht bekräftigt daraus hervor. Da sie bereits diese positive leib-

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liche Erfahrung hat, hat sie eine Vorstellung davon, was auf sie zukommt und dass sie die Geburt bewältigen kann. Folglich hat das (weibliche) Erfahrungswissen insgesamt eine sehr ambivalente Position inne und gilt keineswegs als ausschließlich positive, geeignete Quelle für praxisrelevantes Wissen. Vielmehr ist es eine potenzielle Gefahr, die Angst erzeugt. Dieser Wissensform ist nicht zu trauen, ihr ist grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen, besonders bei negativem Erfahrungswissen. Besonders Frauen, die alternative Geburtsmodelle präferieren, suchen im Internet gezielt nach positiven Berichten, Bildern oder Videos. Gleichzeitig scheinen die umstehenden Frauen selbst die eigenen Geburtserlebnisse im Beisein einer Schwangeren zu zensieren, damit diese unbeeinflusst eigene Erfahrungen machen kann. Die Skepsis und Abwertung des Erfahrungswissens steht in einer langen kulturellen Tradition, in der sich das medizinische Wissen durch Abwertung und Diffamierung des lebensweltlichen, weiblichen Erfahrungswissens etablieren konnte. Körperliche Vorbereitung Die Strategie der körperlichen Vorbereitung3 lässt sich in drei Formen untergliedern, welche die interviewten Frauen als mehr oder weniger sinnvoll bewerten: Förderung der Öffnung im Becken, die Stärkung körperlichen Flexibilität und Kraft durch sportliche Angebote sowie Entspannungstechniken. Während der Schwangerschaft sollte der gravide Körper umschließend, haltend und fest sein, um das Kind zu schützen und im Bauch zu halten, damit es wachsen kann. Zum Ende der Schwangerschaft soll er in einen anderen Zustand gelangen, der immer weicher und offener ist, um das Kind gebären zu können. Diese körperlichen Statuspassagen sind mit starken Veränderungen, Belastungen und damit auch Verletzungsgefahren verbunden, die längerfristige körperliche Veränderungen nach sich ziehen könnten. Darum wird versucht, diesen potenziellen Gefahren zu begegnen und den Körper zu pflegen, um ihn bei diesen Umwandlungen zu unterstützen. Die Ziele bestehen zum einen in der regelrechten Öffnung des Körpers, um ihn auf die Geburt vorzubereiten. Um Muttermund, Vagina und Damm für den Zeitpunkt der Geburt ›weich‹ und dehnbar zu machen, werden von manchen Frauen spezielle Tees, Dammmassage, Sitzbad, Homöopathie und Akkupunktur als Mittel benannt. Aber auch die Vorbereitung der Brust auf die Belastung des Stillens und das Einmassieren von Ölen in die Haut des schwangeren Bauches soll den Körper

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Seehaus (2015: 56) beschreibt die Anrufung und Adressierung der Schwangeren, den Körper zum geeigneten Zeitpunkt zu bearbeiten und auf die Geburt vorzubereiten. Dabei gelten körperliche Beweglichkeit und Flexibilität als wünschenswerte und herzustellende Eigenschaften für die Geburt. Durch die Vorbereitung wird eine schnellere und schmerzärmere Geburt in Aussicht gestellt.

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der Frau während der Schwangerschaft vor Verletzungen schützen. All diese Praktiken und (Heil-)Mittel lassen sich der alternativen oder naturkundlichen Heilkunst zuschreiben, sie erfordern eine intensive und regelmäßige Beschäftigung mit dem eigenen Körper. Daraus folgt, dass manche Frauen nicht an ihre Wirkung glauben, beziehungsweise sie nicht als notwendig erachten. Andere berichten, dass sie sich bei vorrangegangenen Geburten bewährt haben und darum wiederholt werden. Sabina beschreibt: Ich glaub halt, dass alles so (.) gut tut, was (.) einen darauf einstellt, dass man sich so nach unten hin öffnet. //Ja// Und bei mir bewirkt das halt ʼne Dammmassage nicht. Führt eher dazu das ich [(lachend) verkrampfe] und der Tee=, da hattʼ ich jetzt auch=, also es ist gut, wenn das bei anderen Frauen den Effekt hat, dann ist gut. Aber bei mir hat es den nicht. […] Also bei mir ist das nicht so über Tees, sondern über, (.) naja (.) so (.) in mich gehen oder so (.) und nach unten locker zu lassen und das trotz der Schmerzen (.) zu machen. (Sabina I: 669ff.) Bei den üblichen körperlich-naturheilkundlichen Praktiken zur Geburtsvorbereitung hat Sabina keinen Glauben in ihre Wirksamkeit. Obwohl sie viele dieser Praktiken bei ihrer ersten Schwangerschaft angewendet hat, bewertet sie diese retrospektiv negativ und unangenehm. Bei ihr führen sie zur Verkrampfung. Dennoch spricht sie den Praktiken ihre Wirksamkeit im Allgemeinen nicht ab. Den symbolischen und objektbezogenen Praktiken setzt sie mentale entgegen, die sie »nach unten hin öffnen« (ebd.: 670). Zusätzlich beschreibt sie: Ich mach jetzt zum ersten Mal einen Schwangerenyogakurs //Mhm// und den find ich eigentlich ganz gut. Und das hat mehr damit zu tun, dass ich denk, ar ich muss mich irgendwie mit dieser=dieser Schwangerschaft und der Geburt beschäftigen und dann da soʼn bisschen exklusiv Zeit schaffen. […] Also das ist so die gedankliche Übung. (Sabina I: 673ff.) Der Besuch eines Schwangerenyogakurses bedeutet für Sabina, die ihr viertes Kind erwartet, exklusive Zeit zur Einstimmung auf die Geburt und das neue Kind. Darüber hinaus beschreibt sie die unterschiedlichen Yogapositionen, die sie körperlich auf die Geburt einstimmen und in denen sich das Becken besonders gut öffnet. Andere Frauen, beispielsweise Carmen, Lenka und Nadine nutzen sportliche Kursangebote: Also beim ersten Kind find ich das vollkommen in Ordnung, dass man sich daʼn bissel informiert und so.//Nu//Aber jetzt beim zweiten Kind (.) hab ichʼs ja alles vor Kurzem eigentlich gehört, ne? So lange ist es ja noch ni her. (.) Und man hat sich bei dem Schwangerengymnastikkurs sehr viel mit seinem Becken beschäftigt und mit der Bewegung vom Becken und hat da Übungen gemacht und (.) […] darauf hingewiesen: ja, hier merkt ihr jetzt die=, dass ihr jetzt zum Beispiel so=, dass

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ihr jetzt in der Position=, wird jetzt das Becken quasi so (.) viel weiter sein ne? (Nadine I: 656ff.) Einerseits geht es um die Entwicklung von Stärke und Kraft, die es braucht, um das ungeborene Kind im Körper zu tragen und die Schwangerschaft und Geburt als starken und aktiven Vorgang bewältigen zu können. Zum anderen haben diese Angebote das Ziel, das körperliche Empfinden des Beckens und seiner Bewegungsspielräume zu verbessern sowie Bewegungsalternativen und Atemvariationen für die Geburt einzuüben oder zu erproben. Hier kommt es zu einer bewussten körperlich-spürenden Annäherung an den eigenen Körper und die zu erwartenden Geschehnisse während der Geburt. Vorausgesetzt wird dabei jedoch auch, dass die Frauen nicht instinktiv oder natürlich geeignete Positionen und Atemtechniken wählen, sondern diese erst erlernen müssen (vgl. auch Rose/Seehaus/Tolasch 2017: 48). Als letztes Ziel lassen sich die aktive Entspannung und die exklusive Zeit für den Zugang zum ungeborenen Kind benennen. Gezieltes Lockerlassen, die Vermeidung einer zu starken Arbeitsbelastung, Atmen- und Entspannungsübungen, aber auch der Besuch eines Yogakurses lassen sich hier als Wege benennen. Jelena versucht insgesamt, gestärkt in die Geburt gehen zu können: Ich mit=versuche mit viel ähm=äh Zuversicht und Kraft reinzugehen. //Ja// Deswegen ähm mach ich auch gerne jetzt noch’n paar Sachen und versuch so, die Balance zu finden, mich auch genug auszuruhen. (Jelena I: 16ff.) Um einen Gegenpol zu einem beruflichen und geburtsvorbereitenden Arbeitseifer zu entwickeln, versucht sie sich immer, sich aktive Ruhephasen zu gönnen und besucht einen Yoga-Kurs, in dem sie Techniken der Entspannung erlernt und dadurch regelmäßig anwendet. Sehr spezialisierte und gezielte Körperpraktiken finden ihre Anwendung nur, wenn die Schwangerschaft und Vorbereitung auf die Geburt von den normalisierten Standardwerten abweichen, beispielsweise bei Variationen des Geburtsbeginns vom errechneten Geburtstermin oder bei einer Steißlage des ungeborenen Kindes. Traditionelles, überliefertes Wissen findet eine umfassende Anwendung ebenso wie invasive medizinische Praktiken. Nadines Kind befindet sich in der Steißlage, vom langen Verweilen in der Knie-Ellenbogen-Lage, über rückwärts die Treppe hochlaufen, bis zum Tragen eines Hüftgürtels mit Glöckchen4 versucht sie, das

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Nadine trägt unter dem schwangeren Bauch ein Band um die Hüfte, an dem Glöckchen befestigt sind. Der akustische Reiz soll das Kind dazu bewegen, sich im Bauch zu drehen und sich, dem Geräusch folgend, in Schädellage zu begeben. Eine ähnliche Variante ist es, mit einer Taschenlampe einen visuellen Reiz zu setzten.

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Kind zum Drehen in die regelgerechte Schädellage zu animieren. Letzten Endes lässt sie den Eingriff einer äußeren Wendung5 vollziehen, der erfolglos bleibt. Auch der Einfluss auf den Geburtsbeginn wird von den interviewten Frauen beschrieben: Während Lenka und Carmen sich schonen und viel liegen, um ihre vorzeitigen Wehen nicht zu verstärken, überlegt sich Stefanie ein Repertoire umfangreicher Praktiken, um die Geburt in Gang zu setzten und so die medikamentöse Geburtseinleitung zu umgehen: Treppenlaufen, spazieren gehen und geburtsvorbereitende Akkupunktur. Die beschrieben Körperpraktiken knüpfen an das Körperwissen der Frau an und bilden es wiederum auch aus. Körperwissen setzt sich zusammen aus dem Zusammenspiel von »Wissen vom Körper« und dem »Wissen des Körpers« (Keller/Meuser 2011: 10). Das kulturelle Wissen vom Körper kann kognitiv erworben und repräsentiert werden, es stützt sich auf Körpertheorien und -modelle. Zentral bei dieser Kategorie ist das Wissen des Körpers, das beispielsweise »Körpertechniken, körperliche Routinen und Fertigkeiten« (ebd.), aber auch Habitualisierungen umfasst. So sind Mehrgebärende bereits geburtserfahren und haben Fertigkeiten entwickelt, um mit den bevorstehenden Wehen umzugehen, sie vielleicht sogar zu lenken und zugleich das Erleben einschätzen, bewerten und an Geburtsmodelle rückkoppeln zu können. Lenka lässt sich wiederum auf eine andere Weise als schmerzerfahren und -erprobt bezeichnen: durch eine lange Krankheit in der Jugend, starke Menstruationsschmerzen und die Bewältigung schmerzhafter Stellungen in ihrer langjährigen Yogapraxis hat sie Praktiken entwickelt und erprobt, mit denen sie unausweichlichen Schmerzen begegnen kann. Angesichts eines biographisch selten gewordenen körperlichen Ereignisses ist es besonders interessant, welches Körperwissen anschlussfähig gemacht wird und wie sich die Frauen diesem Ereignis körperlich annähern. Die beschrieben Praktiken bedeuten einen anderen Umgang mit Unsicherheit und Angst, gleichzeitig sind sie sehr stark an das Erfahrungswissen und die mentale Annäherung gekoppelt. Mentale Vorbereitung und Einstimmung Neben den unterschiedlichen Strategien, die Frauen wählen, um sich umfangreich auf verschiedenen Ebenen Wissen über die Geburt anzueignen, beschreiben die 5

Die äußere Wendung ist ein alter, nun wieder in Mode kommender Handgriff, bei dem Ärzt*innen versuchen, das Kind im Bauch durch äußere Handgriffe zu wenden. In Nadines Fall bedeutet es, dass sie für zwei Tage ins Krankenhaus eingewiesen wird und zwei Ärzt*innen in zwei Versuchen probieren, das Kind im Mutterleib zu drehen. Um die muskuläre Bauchdecke zu entspannen wird ein Medikament gespritzt, parallel bezieht ein Notfallteam Stellung, um einen Notkaiserschnitt vollziehen zu können, wenn das Kind durch das Manöver in eine Gefahrenlage gerät. Nadine beschreibt den Eingriff als sehr schmerzhaft und hat danach blaue Flecken am Bauch, was auf die starke Krafteinwirkung hindeutet, die notwendig ist, um das Kind äußerlich zu drehen.

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interviewten Frauen weitere Möglichkeiten, um sich der Geburt oder dem Kind anzunähern oder mit der Unsicherheit umzugehen. Ein Aspekt, der immer wieder in kleinen Sequenzen aufscheint, ist die mentale Vorbereitung und Einstimmung. Eine mentale Vorbereitung besteht darin, kraftvoll und mit positiven Gedanken in die Geburt zu gehen und gut für sich selbst zu sorgen. Die Selbstfürsorge kann in dem Versuch bestehen, die Balance zwischen Aktivität und Entspannung zu suchen, oder ein spezifisches Kursangebot zu nutzen. »Vorfreude« (Jelena I: 83) oder »Lampenfieber« (Lenka I: 302) beschreiben den emotionalen Zustand freudiger Erregung angesichts der Herausforderung der Geburt und der Möglichkeit, das ungeborene Kind bald noch besser kennenzulernen und als Familie zusammenzuwachsen. Nadine erzählt: Also ich bin ja eher positiv eingestellt, ne? Dass es ähm (.) klappen wird, (.) dass das gut geht. (.) Und dass’n gesundes Kind bei rauskommt. (.) //Ja// (.) Die Angst ähm, (.) dass ähm (.) ›n Kind (.) geboren wird, also dass die Geburt (.) ähm (.) so schlecht verläuft (.) oder das Kind sogar tot geboren wird oder so, gibt’s ja auch, ne? //Mhm// (.) Oder dass ähm das Kind behindert wird, (.) die (.) gibt’s vielleicht, aber die ist ni‹ sehr stark. Also ich hab schon die Hoffnung auf jeden Fall oder den Glaube daran, (.) dass es ’ne normale Geburt wird. (Nadine I: 578ff.) Nadine beschreibt trotz der Existenz von Ängsten eine positive Grundeinstellung gegenüber einer normalen und guten Geburt. Aber auch hier treten die Möglichkeit und das Risiko einer schlecht verlaufenden Geburt und einem eventuell daraus resultierenden Kindstod oder eines beeinträchtigten Gesundheitszustands des Kindes hervor. Diese Möglichkeit scheint in Nadines Vorstellungen über Geburt auf, nimmt aber keinen starken Raum ein. Die Zuversicht überwiegt. Auch die Freude auf das kommende Kind hilft den Frauen, die Gedanken an die Geburt zu bewältigen. Die Anstrengungen einer Geburt bestreiten sie gerne, wenn sie am Ende ihr Kind kennenlernen können. So beschreibt Stefanie ausführlich, dass sie sich absichtlich das Geschlecht des Kindes nicht sagen lässt, um sich auf etwas freuen zu können. Sabina drapiert überall in der Wohnung Kleidungsstücke, um sich auf ihr viertes Kind mental vorzubereiten und denkt immer wieder an die Geburt und in welchen Positionen sie den Schmerz in welchem Zimmer verarbeiten könnte: Die Schwangerschaft verging so schnell und //Mhm// und jetzt sind nur noch’n paar Wochen und ich bin aber ansch=, ich bin aber noch gar nicht so weit. Ich muss irgendwie (.) mir das jetzt mal bewusst machen: Okay da wird jetzt bald wieder so’n Baby sein und ähm (lacht), die Familie sich irgendwie neu zurecht rütteln. Und ähm die Geburt und ja so, (…) ich muss mir mal dann (.) ja so die Babysachen wieder raus=auspacken und schon mal (.) aufhängen so um mich rum, //Ja// um einfach das so (.) ’n bisschen (.) mehr in die Gedanken zu holen. […] Und ich hab

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jetzt angefangen, in den letzten Tagen eigentlich erst so, (.) äh mir ähm vorzustellen, wie wird die Geburt. //Mhm// Einfach so, (.) so’n paar Bilder im Kopf schaffen. //Mhm// Also die sind dann= (.) ich bin nicht mehr bei schönen Bildern, sondern eher so (.) ähm was für Gefühle werd ich dann da haben und so. Dass ich mich dann eher so’n bisschen schon mal anfange, mich drauf einzulassen.//Ja. Was sind das für Bilder?//Na ja, ich überleg zum Beispiel=, also ich geh halt so die (.) räumlichen Optionen durch in unserer Wohnung. //ja// Wenn’s im Bad ist, (.) wie=wie könnte es also dann sein? (Sabina I: 558ff.) In dieser Sequenz beschreibt Sabina ihre mentale Annäherung an das kommende Kind und den Geburtsprozess und die erwarteten Schmerzen. Sie erprobt geistig mögliche Empfindungen der Geburt, Handlungsstrategien und Orte der Geburt. Eine weitere Form besteht darin, die Sorgen und Ängste beiseitezuschieben. Dadurch bleiben sie diffus vorhanden, werden nicht konkret oder kommen nicht nah an die Schwangere heran. Beispielsweise sieht sich Jelena durch Praktiken des Informationsgewinns mit einer Vielzahl von Komplikationen konfrontiert: In diese Schwangerschaftsbücher ähm guck ich dann aber höchstens so ’ne Viertelstunde rein. //Ja// Muss ich dann wieder weglegen. Is’ mir dann (.) sonst too much da irgendwie (lacht). //Ja// Muss ich dann sagen, da kommt auch so ’ne Emotionalität dann manchmal hoch, //Mhm// wo ich denke, okay das reicht. (Jelena I: 163ff.) Durch das Zuschlagen des Buches sichert Jelena ihr emotionales Gleichgewicht. Die Abhandlung und Aufzählung möglicher Komplikationen berühren sie negativ. Als Gegenstrategie werden die positiven Aspekte der Geburt und der Glaube an den positiven Verlauf besonders betont. So wie sich ein paar der Frauen versuchen, von den Ängsten zu distanzieren, ist es Freya wichtig, ihnen zu begegnen: Also das=die meiste Arbeit hat mental stattgefunden. Also //Ja// das sind ja super viele Ängste, die du dann irgendwie erst mal überwältigen musst. […] Die meiste Arbeit war mental. (Freya I: 47f.) Freya beschreibt in mehreren Interviewsequenzen, wie sie sich ihre konkreten Ängste bewusst macht und sich diesen durch die Akkumulation von Wissen, aber auch durch das Durchspielen diverser Szenarien annähert. Die Begegnung mit der Angst und ihre Bewusstwerdung sind im Interview das zentrale Thema, was in ihrer Biographie begründet sein kann6 und was darum auch bei Themen wie Schwangerschaft und Geburt allgemein zutage tritt.

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Freyas Biographie ist geprägt von vielen persönlichen und beruflichen Umbrüchen. Sie beschäftigt sich viel mit spirituellen Ideen und Esoterik.

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Auffällig ist, dass mehrere Interviewpartnerinnen immer wieder ihre Offenheit gegenüber dem Geburtsprozess betonen. Mit dieser Offenheit bekommen die schwangeren Frauen aber auch Risikobewusstsein und werden unsicher. Selbst wenn sie bereits Geburtserfahrungen gemacht haben, bleibt das Bewusstsein, dass die bevorstehende Geburt ganz anders sein könnte. »Es wird bestimmt ganz anders«, betont Sabina (I: 687). Um mit der Unsicherheit umgehen zu können, bewahren sich die Frauen Offenheit. Michaela (I: 14) fasst immer wieder zusammen: »Ich lass es jetzt auf mich zukommen!«. Sie wartet auf das Ereignis und wird sich damit auseinandersetzen, wenn es so weit ist. Die Ambivalenz dieser Offenheit zeigt auch, dass eine zu detaillierte Planung, Information, Vorbereitung und Absicherung vor allen Eventualitäten im Widerspruch zu dieser Offenheit stehen (vgl. Seehaus 2015: 58ff.). Das entlastet die Frauen auch davon, absolute Handlungssicherheit herzustellen oder sich permanent und ausdauernd mit der nahenden Geburt zu beschäftigen oder die Verantwortung für eine gelingende Geburt allein zu tragen. »Kann natürlich immer was passieren aber das kannʼs ja halt immer«, resümiert Lenka (I: 626). Durch aktive Handlungen und Planung kann das Risiko, das mit einer Geburt einhergeht, etwas minimiert werden, es lässt sich jedoch nie ganz auflösen. Lenka fasst zusammen: Ich denke, (.) dass ich da gar nicht so viel mitzureden habe (.) oder haben sollte. //Mhm// Weil das glaub ich auch ganz schön viel versperrt. //Mhm// Also so wie’s sein wird, wird’s sein. Also wenn man sich jetzt (.) //Mhm// ganz fest ’ne Wassergeburt vornimmt, glaub ich kaum, dass das funktioniert. Also //Mhm// kann ich mir nicht vorstellen. (.) Deswegen (.) denk ich da gar nicht gr=größer drüber nach. (Lenka I: 42ff.) Eine feste Planung oder Verankerung von Wunschvorstellungen lehnt Lenka ab. Sie strebt keine Planung und keine Mitsprache an, was aber nicht damit gleichzusetzten ist, dass sie sich einer paternalistischen Medizin unterwerfen würde. Vielmehr scheint der eigenständige, unwillkürliche Geburtsprozess über ihrem Mitspracherecht und Planungsvermögen zu stehen. Sie betont damit die Grenzen der Machbarkeitsidee angesichts der Geburt. Im Extremfall kann die fehlende Offenheit Handlungsoptionen verschließen und sich darum negativ auswirken. Durch die Betonung der Offenheit tragen die Frauen auch dem Umstand Rechnung, dass sie einen großen Teil der äußeren Umstände nicht bestimmen können. Besonders bei einer Geburt im Krankenhaus können sie nicht aktiv planen oder bestimmen, wer von den professionellen Geburtshelfer*innen anwesend sein wird. Bei Erstgebärenden kommt hinzu, dass sie selbst nicht einschätzen können, wie sie bei der Geburt reagieren werden. Auch hier wirkt die Betonung der Offenheit handlungsentlastend.

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Die Offenheit steht im Kontrast zur diskursiven Aufforderung zur Erstellung eines Geburtsplanes. Eine zu starke Planung könnte sogar belastend und schädlich sein, wenn während der Geburt doch alles anders kommt. Die Offenheit kann damit auch eine seelische Schutzfunktion haben, die Geburt nicht zu idealisieren, um dann nicht enttäuscht zu sein oder den eigenen Ansprüchen, beispielsweise einer Geburt ohne Schmerzmittel, nicht zu genügen. Organisatorische Vorbereitung Die zeitliche Unsicherheit und Unplanbarkeit bedeutet für die interviewten Frauen einen vorherigen organisatorischen Aufwand: Wie können sie die Anwesenheit des anderen Elternteils gewährleisten und was geschieht mit den vorhandenen Geschwisterkindern? Stefanie berichtet: Weil ja keiner den Termin weiß. //Mhm// Und wiederum das ist vielleicht noch’n Gedanke, der mir Sorge macht: (.) Wenn das Kind jetzt doch schon (.) so groß ist und doch schon selber irgendwann (.) eher kommt, (.) //Mhm// wie schnell können wir reagieren? Wie schnell können wir unser großes Kind unterbringen? //Mhm// Und vor allem: wohin? Weil so viele Möglichkeiten haben wir ni‹. Am Tag haste die Krippe. (.) […] Ja, was ist wenn’s nachts losgeht? //Mhm// Mhm. (.) Das müss’mer jetzt die nächsten Wochen denk ich mal klären. […] Und meine Hebamme hat auch immer gesagt, (.) das Kind kommt erst, wenn das große Kind untergebracht ist. […] Erst wenn das große Kind untergebracht ist, (.) dann kann’s losgehen. Genau. (.) Ja und (.) wie ich halt=, (.) ist halt die Frage, ich bin dann eben wirklich, (.) wenn es doch spontan losgeht und ich bin zu Hause. (.) Bei mir ist die Frage: wie komm ich ins Krankenhaus? (.) //Ja// Ne? Ich hab jetzt kein Auto mehr, (.) würde [(lachend) aber auch ni‹ selber fahren] und gut, dadurch, dass ich in der Feuerwehr bin, würd ich (.) mir ’nen Krankenwagen rufen. Und (.) ist halt die Frage, wie lange dauert’s? Kommt mein Mann dann direkt erst mal nach Hause (.) oder=oder direkt ins Krankenhaus? //Mhm// Das musst du dann spontan entscheiden. (.) //Ja// Du kannst dir Gedanken machen wie du willst. Am Ende (.) wird das alles ganz anders. (Stefanie I: 576ff.) Für den Geburtsbeginn gibt es keine Planungssicherheit, da die Geburt auch vor dem errechneten Termin beginnen könnte. Der mögliche Zeitraum für den Geburtsbeginn von sechs Wochen ist Stefanie sehr bewusst, der errechnete Geburtstermin kann maximal als Orientierungsgröße dienen. Hinzu kommt die Vorstellung, bei Geburtsbeginn relativ schnell reagieren oder umplanen zu müssen. Das Bild der Feuerwehr und des Krankenwagens verstärken den Eindruck, dass bei der beginnenden Geburt unverzüglich zu reagieren und ins Krankenhaus zu fahren sei. Die Möglichkeit, den Weg eigenständig zu erledigen, erscheint lächerlich, wie das lachende Erzählen zeigt, und geht mit der Vorstellung unwillkürlicher Wehen einher, die eine konzentrierte Fahrweise nicht möglich machen. Gleichzeitig stellt

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sich die Frage nach der Anwesenheit des Partners und der Unterbringung des Geschwisterkindes. Stefanie erfährt bezüglich der Betreuung ihrer Tochter die Versicherung durch ihre Hebamme: die Geburt beginnt erst, wenn die Betreuungssituation geklärt ist. Unterstellt wird hier ein psychologischer Einfluss der Frau auf den Geburtsbeginn. Diese Gewissheit gibt Stefanie die Sicherheit, alle organisatorischen Vorkehrungen treffen zu können und von der Geburt nicht in einer ungünstigen Situation überrascht zu werden. Dienstreisen, Arbeitszeiten oder lange Arbeitswege des*der Partner*in, aber auch die Betreuungssituation der Geschwisterkinder lassen manche Zeitpunkte für den Geburtsbeginn für die interviewten Frauen ungünstig erscheinen. Auch wenn die äußeren Umstände geklärt sind, bleibt die Frage, wie die wehenden Frauen in das Krankenhaus oder Geburtshaus gelangen können. Um der Unsicherheit zu begegnen, entwickeln sie verschiedene Handlungsabläufe, Notfallpläne und ein (dichtes) soziales Unterstützungsnetzwerk. Gefragt nach den Wünschen für die Geburt antworten Johanna und Stefanie in ähnlicher Weise: Ja ich bin sehr wahrscheinlich (.) alleine zu Hause, wenn das losgeht. (.)//Mhm ja//Schä=schätz ich jetzt mal. //Ja// Äh, überleg ich=, ich hab schon mal meinen Mann gefragt, ob ich dann (.) ihn anrufen soll, (.) ob er mich dann ins Krankenhaus fährt oder ob ich gleich den Krankenwagen rufen soll. //Mhm// Weil er hat ja den Arbeitsweg oft von ’ner halben Stunde ungefähr, //Ja// wenn grad ni’ viel los ist //Mhm// auf den Straßen. (.) Ich mein, das dauert ja wahrscheinlich, so ’ne Geburt. (.) Die Zeit könnte man wahrscheinlich überbrücken. (Johanna I: 418ff.) Also ich wünsch mir, dass vorneweg alles mit meinem großen Kind geklärt ist. (lacht) //Ja// Dass das gut untergebracht ist, dass das= (.) und dass das dann reibungslos (.) so läuft wie’s letzte Mal. //Mhm// Genau. (Stefanie I: 572ff.) Nicht der Verlauf der Geburt ist hier zentral, sondern inwiefern das soziale Umfeld zur Unterstützung anwesend und das vorhandene Geschwisterkinder gut versorgt ist. Weitere Aspekte der organisatorischen Vorbereitung sind in Rategebern, Zeitschriften oder Geburtsvorbereitungskursen stark standardisiert aufgelistet. Sie finden sich auch in den Interviews: Zentral ist die Suche einer Vor- und Nachsorgehebamme, die Geburtsanmeldung in einer Geburtshilfeeinrichtung sowie die Vorbereitung von Gegenständen und das Packen einer Kliniktasche. Hier spiegelt sich auch die schwierige gesellschaftliche Situation der Geburtshilfe wider, denn es ist nicht so leicht für die Frauen, eine Hebamme zu finden. Die Anmeldung in der Klinik und die etwaige Unterzeichnung von Aufklärungsbögen für PDA, Kaiserschnitt etc. soll die eigentliche Situation der Geburt von organisatorischen Aufgaben entlasten. Für die Alleingebärenden kommt noch eine organisatorische Vorbereitung hinzu, in der es darum geht, Essen vorzubereiten

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oder alte Handtücher und Plastikfolien bereitzuhalten, um die Wohnung für die Geburt zu präparieren.

5.2.1.3

Deutungen der Geburt

Was ergibt sich nun aus diesen Handlungsstrategien im Umgang mit der unbekannten Geburt als Konsequenz? Innerhalb der Vorbereitung auf und Annäherung an die Geburt verfestigen oder bilden sich individuelle Deutungen. Des Weiteren ergeben sich Entscheidungen und potenzielle Handlungsoptionen für die direkte Bewältigung der Geburt. Mit dem Begriff der deutungsoffenen Geburt beschreibt Foltys (2008: 127), dass die Deutung der Geburt den Paaren in der heutigen Zeit offensteht und diese sich im »Rahmen historisch gewachsener gesellschaftskultureller Diskurse und Praktiken« bewegen. Im Deutungsprozess verfestigen, etablieren oder verändern sich Deutungen durch den umfangreichen Wissenserwerb (in der Schwangerschaft) angesichts der unbekannten Geburt. Mit der Etablierung von Deutungsgewissheiten ist es auch möglich, Handlungssicherheit herzustellen. Die Bedeutung von Geburt lässt sich auf drei Ebenen aufschlüsseln: der medizinischen, der sozialen und individuell-biographischen Ebene. Aus medizinischer Sicht wird die Geburt als eine Abfolge physiologischer und hormoneller Abläufe, die zur Ausstoßung des Kindes führen, gedeutet. Die Geburt ist hier (siehe Kapitel 4.1) in drei Phasen untergliedert, in denen die Stärke und Abstände der Wehen linear zunehmen, der Muttermund sich zunehmend öffnet und der kindliche Kopf und Körper den Geburtsweg passiert. Es gibt Angaben darüber, wie lange diese Phasen durchschnittlich dauern. Es wird beschrieben, wie sich das Kind durch das mütterliche Becken wendet und dreht. Jede Regung, jeder Schmerz und auch Panik scheinen eine Bedeutung und Funktion zu haben, die letzten Endes zur Geburt führen und diese gleichsam behindern können. Mit der dezidierten Beschreibung des ›Geburtsmechanismus‹ erscheint im medizinischen Modell – vor allem durch die Sprachgebung – die Geburt als Prozess, der im Körper der Frau passiert und abläuft. Auf diesem Geburtsmodell beruhen die Vorstellungen und Deutungen der Frauen maßgeblich, sie sind vertraut mit dem spezifischen Fachvokabular, den idealtypischen Geburtsabläufen sowie Praktiken zur Überwachung und Leitung der Geburt. Auf dieser Ebene eignen sich die Frauen durch die oben beschriebenen Strategien ein breites, interdiskursives, medizinisches Wissen an. Sie werden zu Spezialistinnen der Geburt und als solche auch durch Ratgeber, Kurse und Informationsveranstaltungen angerufen. Medizinische Entscheidungssituationen haben ihre Grundlage in diesem Wissen: die Frauen müssen beispielsweise um die Anwendung, Wirkung, Vor- und Nachteile einer PDA wissen, um diese einfordern, annehmen oder ablehnen zu können. Auf der sozialen Ebene kann die Geburt als Statuspassage gedeutet werden:

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Was ist Geburt? //Mhm// ((räuspern)) Na erst mal ’ne Geburt ist so, (.) ähm (.) erst mal für das Kind, es kommt dann auf die Welt und das ist ganz neu und muss sich einleben, ist wahrscheinlich fix und alle. (.) Naja, und für mich ist es auch’n= (.) oder für uns (.) eigentlich. //Mhm// Ist ja auch’n neuer Schritt. Man hat ’nen Menschen neben sich, der=von dem man weiß, dass es wahrscheinlich das Nächste, was man jetzt erst mal haben wird. Also das Näheste so. (Lenka I: 269ff.) Mit der Geburt kommt ein neuer, unbekannter Mensch auf die Welt und die Situation des Paares verändert sich, so Lenka. An die neue Situation müssen sich alle erst allmählich gewöhnen. Für die Eltern handelt es sich auch um eine familiäre Erweiterung, wenn dem Leitbild der Elternliebe gefolgt wird. Die Familie und das Paar müssen neu zusammenwachsen. In diesem Zusammenhang sind also mehrere Menschen an der Geburt beteiligt, für die die Geburt eine biographische Bedeutung hat und Veränderungen im engeren biographischen Sinn mit sich bringt. Dabei wird die Geburt in allen Interviews als privates Ereignis der Kernfamilie, in erster Linie also des Paares, gedeutet. In gewisser Weise ist sie damit für das Paar (oder die Frau) ein von sonstigen alltäglichen sozialen Zusammenhängen isoliertes Ereignis, weitere (geburtserfahrene) Frauen und Männer der Familie oder des sozialen Umfeldes erscheinen nicht.7 Neben der Verortung in der Privatheit, als familiär-intimes, biographisch relevantes Ereignis, lokalisieren die Frauen, mit Ausnahme der Alleingebärenden, die Geburt in einer professionellen Öffentlichkeit, die mit dem Grad der Bekannt- und Vertrautheit mit den Geburtshelfer*innen variiert. Während mit der Wahl eines Geburtshauses eine vertraute soziale Beziehung mit den Hebammen besteht, sind die (professionell-therapeutischen) Beziehungen zu den Ärzt*innen und Hebammen im Krankenhaus bestimmt durch den Wechsel der Bezugspersonen gemäß des Schichtsystems und einer Konfrontation mit unbekannten Personen. Für die gebärende Frau selbst beschränkt sich die Geburt nicht auf das eigene körperliche Erleben, denn es geht nicht nur um sie selbst, sondern auch um das Kind. Das eigene körperliche Erleben hat eine intersubjektive Bedeutung. Nicht nur sich selbst, sondern auch dem Kind sprechen die Frauen eigensinnige Handlungsmacht (agency) zu. Auf einer individuell-biographischen Ebene finden sich in den Interviews subjektivierte Deutungen in der individuellen Aneignung von kulturellen Konstruktionen der Geburt mit gesellschaftlich verankerten Mustern, Metaphern, Modellen 7

Das bedeutet nicht, dass Geburten immer privat-isolierte Ereignisse sind, in manchen familiären Konstellationen oder in einigen Familien mit Migrationshintergrund kann Geburt auch als soziales Ereignis in einem umfassenderen Sinn innerhalb einer Großfamilie gedeutet werden. Berichte von Hebammen und die informelle Beschränkung mancher Kreißsäle auf drei anwesende Vertrauenspersonen verweisen auf diese Praxis. Im untersuchten Sample kommen diese Konstellationen nicht vor.

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und Theorien. Ergänzt und selektiert werden sie durch individuelle (und kulturelle) Bedeutungs- und Sinnzuschreibung. Die Deutungen entfalten sich in den folgenden Spannungsfeldern: Das erste besteht zwischen der Zuschreibung von Risiko und Sicherheit sowie der Verortung der Geburt im natürlichen und (medizinisch) kulturellen Bereich. Hier lohnt sich eine kurze Wiederholung der kulturellen Deutungsangebote: Als zentrale kulturelle, diskursive Leitkonzepte beschreiben Rose und SchmiedKnittel (2011) das medizinische Sicherheits- und Risikodispositiv sowie das Natürlichkeitsdispositiv. In Anlehnung an diese Thesen lassen sich die Auffälligkeiten im Material besser fassen: Die interviewten Frauen deuten Geburt im Spannungsfeld zwischen einer Situation in einer »grundsätzlichen Gefährdungslage« (ebd.: 85) und der Vorstellung von Geburt als natürlichem, prinzipiell gesundem Prozess. Inhärent ist beiden Vorstellungen das medizinische Modell eines Geburtsmechanismus, der nach inneren biophysikalischen Zusammenhängen abläuft. Dieser Mechanismus wiederum erscheint als ein Prozess, der unweigerlich und unwillkürlich abläuft und der die Entstehung eines neuen menschlichen Lebens voraussetzt. So sagt Freya: Also es ist ja immer der Mechanismus, (räuspern) (.) der einfach passiert. Also die=die Welt als physischen Ort zu begreifen, //Ja// wo bestimmte Gesetze einfach herrschen. (Freya I: 885f.) Der gravide Frauenkörper ist in dieser Sequenz ein Ort, an dem Naturgesetze und -kräfte wirken. Der Wille und der Geist der gebärenden Frau oder die äußere Umgebung haben dabei kaum Einfluss auf das Geschehen, das unweigerlich passieren wird. Oder wie Lenka beschreibt: Also das Kind muss da raus und zwar auf ›ne ziemlich bestimmte Art und Weise, ne? Und das wird wahrscheinlich passieren. Das kann ich ja nicht beeinflussen. (Lenka II: 550ff.) Angesichts der Art und Weise, wie Kinder von Frauen geboren werden (müssen), erscheint der Prozess Lenka unveränderlich und naturgegeben. Frauen, die ein Kind erwarten oder einmal ein eigenes Kind haben möchten, würden unweigerlich der Schauplatz dieses Prozesses sein. Während dieser nahezu automatische Vorgang nach dem medizinischem Leitkonzept potenziell riskant konstruiert ist und durch eine aktive Geburtsleitung in seiner Sicherheit, Effizienz und Produktivität gesteigert werden kann, scheint im natürlichen Leitkonzept ein Geschehenlassen im individuellen Tempo von Bedeutung zu sein. Weil da [in der Theorie des Hypnobirthing, S. E.] die Geburt halt als etwas Natürliches noch angesehen wird. Ähm (.) Und man mit speziellen Entspannungstechniken quasi wieder zu dem Natürlichen zurückkommt. (Carmen I: 13ff.)

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Die Natürlichkeit, so scheint es hier, ist etwas, das (kulturell) verdeckt werden kann: sei es durch eine verbreitete pathologische Deutung der Geburt oder die dramatischen Geburtsberichte anderer Gebärender. Durch die Methoden des Hypnobirthing könne die Schwangere jedoch zurückfinden zu der positiven ursprünglichen Natürlichkeit des eigentlichen Gebärprozesses. Gleichzeitig ist Geburt als potenziell riskant konstituiert, obwohl die interviewten Frauen überwiegend konkrete Gedanken an Komplikationen verdrängen und die Angst vor der Geburt diffus bleibt. Auch die interviewten Frauen, die sich sehr stark an einem natürlichen und interventionsfreien Geburtsverständnis orientieren, treffen immer einschränkende Aussagen. Ebenso wie der Natur ein grundsätzlich positiver, funktionaler Geburtsprozess zugeschrieben wird, scheinen mögliche Komplikationen diesem Konstrukt inhärent zu sein. Damit bleiben auch die Frauen, die sich Geburt als natürlichen, normalen und gesunden Prozess vorstellen, offen für ein medizinisch indiziertes Eingreifen. Damit deuten alle Frauen Geburt als ein Erlebnis zwischen Leben und Tod, obgleich die Geburt in Deutschland kein lebensbedrohliches Ereignis ist, wenn man die niedrigen Mortalitätsraten von Müttern und Kindern bedenkt. Michaela wünscht sich, dass die Geburt so einfach wie irgendwie möglich //Mhm// abläuft und eigentlich halt//((Husten))//keine Notwendigkeit besteht, irgendwie medizinisch einzugreifen oder irgendwelche Maßnahmen zu (.) zu ergreifen.//Mhm, ja//Aber wenn eben doch irgendwas passiert oder wenn irgendwas schief geht, dann ist es mir wichtig, dass ich dann trotzdem halt (.) versorgt bin und auch das Kind gut versorgt ist. //Ja// Vor allem das Kind auch gut versorgt ist. (Michaela I: 608ff.) Angesichts des potenziellen Geburtsrisikos tritt die paradoxe Verflechtung der zwei Leitkonzepte hervor: die »ursprüngliche Natürlichkeit« soll bewahrt werden bei der gleichzeitigen Gewährleistung eines hohen klinischen Sicherheitsstandards (vgl. Rose/Schmied-Knittel 2011: 83). Die sichere Versorgung lokalisiert Michaela in der technisch und medikamentös ausgestatteten Geburtsklinik mit ihren professionellen Geburtshelfer*innen, die im Notfall unterstützen oder invasiv-medizinisch eingreifen können. Während Michaela das Risiko im natürlichen Geburtsprozess verortet, erweitert Freya das Risikokonzept um eine andere Zuschreibung: Ich bin mir darüber bewusst, dass=dass ’ne Geburt ’n gewisses äh (.) Komplikationsrisiko mit sich bringt. //Ja// Genau wie Kacken oder Geschlechtsverkehr oder über die Straße gehen oder //Ja// mit’m [(lachend) Zug fahren oder so was.] //Ja// Und (.) das tut sie, //Ja// ob du nun zu Hause bist oder im Krankenhaus. //Ja// Jetzt ist nur die Frage, wo du die Komplikationen begünstigst. //Ja// Ob du das tust, wenn du dich selbstbestimmt und intuitiv bewegst oder ob du das tust, wenn du in ’ner komplikationsreichen Umgebung bist, (.) äh in ’ner interventionsreichen Umgebung bist und (.) ähm (.) Befehle von anderen (.) befolgst, //Ja// die

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eigentlich gegen deine Intuition gehen oder gegen anderes, als unnatürliche Bewegungen, unnatürliche (.) Haltungen einnimmst. //Ja// (.) Oder deinem Körper Sachen zuführst, die (.) völlig unnatürlich sind in dem Moment, //Ja// völlig wider der Situation sind. […] Das ist dann der Punkt, wo ich für mich sage, dass ich (.) ’ne (.) entspanntere Umgebung, (.) wahrscheinlich einfach prophylaktisch. (Freya I: 835ff.) Freya relativiert das Geburtsrisiko, indem sie es zu anderen Risiken des alltäglichen Lebens in Beziehung setzt und ihm keinen höheren Gefährdungsgrad als anderen Lebensvollzügen beimisst. Dennoch streitet sie das Komplikationsrisiko nicht ab. Die Verortung des Risikos liegt bei Freya nicht ausschließlich im Geburtsprozess, sondern auch in der Geburtsumgebung und darin, ob die Handlungsleitung bei der gebärenden Frau oder den professionellen Geburtshelfer*innen liegt. Das Krankenhaus als interventionsreiche Umgebung, so Freya, begünstige Komplikationen und bringt sie erst hervor. Ein häusliches Umfeld definiert sie als risikoärmer. Das beschriebene Spannungsfeld gipfelt in dem oft artikulierten Wunsch vieler interviewter Frauen nach einer natürlichen Geburt. Die Frauen erzählen, dass sie sich auf eine natürliche Geburt freuen und sich diese wünschen. Bemerkenswert ist, dass dieser Wunsch scheinbar vor allem vor der Geburt von Erstgebärenden besonders intensiv geäußert wird:8 Also ich persönlich wünsch mir eigentlich ’ne möglichst natürliche Geburt, die (.) soweit es geht auch eigentlich ohne=ohne zusätzliche medikamentöse Hilfen auskommt. Also ich (.) leg jetzt nicht gesteigerten Wert darauf, irgend ’ne PDA zu bekommen. (.) Und ähm (.) ja, also ich hoffe eigentlich, dass ich wie gesagt (.) also die Entbindung so (.) ganz natürlich hinbekomme, (.) ohne Kaiserschnitt, ohne=ohne zusätzliche Hilfen. (Michaela I: 8ff.) In erster Linie umfasst die natürliche Geburt hier die Bestrebung zu einer vaginalen Geburt, in Abgrenzung zu einem Kaiserschnitt. Die Einnahme von Schmerzmitteln und die Hilfestellung durch andere liegen im eigenen und professionellen Ermessen. Für Michaela schließt eine natürliche Geburt die Einnahme von Medikamenten zur Reduktion von Schmerz oder zur Steuerung des Geburtsprozesses aus. Die Geburt auf diesem Weg zu (er)tragen, erscheint dabei auch als eine Leistung, die es selbst zu bewältigen gilt. Unter der natürlichen Geburt lassen sich insgesamt ganz verschiedene Haltungen subsummieren, von der vaginalen Geburt bis zur interventions- und schmerzmittelfreien Geburt finden sich im Material unterschiedliche Abstufungen und Relevanzen. Die Begrifflichkeit der ›natürliche Geburt‹ repräsentiert die Wünsche der

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Im Interview nach der Geburt scheint er nicht mehr als adäquater Begriff in Frage zu kommen, dazu weiter unten.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Erstgebärenden genauso wie das Idealbild der Frauen, die sich für ein Geburtshaus entscheiden. Interessanterweise benutzen die Alleingebärenden dieses Begriffspaar nicht, um ihre Vorstellung von Geburt zu beschreiben. Wichtig ist allen Interviewpartnerinnen die Einschränkung, im Notfall von diesen Idealen und Wünschen Abstand zu nehmen. Das Credo lautet: »so natürlich wie möglich« (Michaela I: 604). Die Abweichung vom Idealzustand richtet sich nach dem eigenen Empfinden, der subjektiven Schmerzbewältigung und nach den Empfehlungen der professionellen Geburtshelfer*innen. Es lässt sich eine situative Offenheit gegenüber dem Einsatz von Schmerzmitteln und Interventionen konstatieren, auch wenn diese grundsätzlich ambivalent bewertet werden. Nachdem die Grenzen der natürlichen Geburt beschrieben wurden, geht es nun um ihre Ausgestaltung. Natürliche Geburt bedeutet, dass es im Prinzip egal ist, wo ich bin, also die=wo ich bin. Und das wird gleich ablaufen. Egal, also losgelöst von der Umgebung. (.) //Ja// Ähm, (.) also die Hebamme ausgeschlossen, die wär=, also die (.) Hilfe würd ich schon haben wollen, das=das ist für mich dann auch noch natürlich. […] Aber keine, keine Schmerzmittel keine verlängernden oder verkürzenden Maßnahmen oder so. So lange wie’s halt dauert dann, so wie’s halt ist. //Mhm// Dann ist es halt so. (Lenka I: 355ff.) Für eine natürliche Geburt, so der Tenor, braucht es nicht viel. Der gesunde Prozess der Geburt läuft wie oben beschrieben ab, Eingriffe zur Einleitung und Beschleunigung oder Schmerzmittel liegen außerhalb dieser Wünsche. Die Geburt soll frei von kulturell bedingten Interventionen zur Steuerung des Prozesses verlaufen. Daneben scheint eine Begleitung durch vertraute Personen und Hebammen, sowie die professionelle Überwachung im Krankenhaus zum Prozess zu gehören. Geburt ist kein isoliertes, sondern ein soziales Ereignis in Begleitung professioneller Geburtshelfer*innen. Mit dieser Vorstellung geht der Gedanke einher, dass Frauen, sofern sie gesund sind, Geburt bewältigen und vollbringen können: Ich denk mir halt irgendwie so, es ist (.) jahrhundertelang, jahrtausendelang irgendwie ohne all diese medizinische (.) äh (.) Trickkiste gegangen und=und so viele Frauen haben da ihre Kinder bekommen. Es muss irgendwie möglich sein, das auch so zu schaffen. //Ja// (.) Und ähm, (.) deswegen (.) wär’s eigentlich mein Wunsch, das auch (.) erst mal so zu pro=probieren einfach, (.) um=um //Mhm// um die Erfahrung zu machen und auch (.) zu gucken, wie weit man eben da an seine Grenzen gehen kann. (Michaela I: 569ff.) Die Geburt wirkt in dieser Sequenz als anthropologische Konstante und weibliche Grunderfahrung. Evolutionstheoretisch erscheint es Michaela als logisch und konsequent, dass Geburt ein Ereignis im Leben einer Frau sein müsse, das ohne medizinische Hilfe bewältigt werden könne. Außerdem erscheint eine natürliche

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Geburt als positive Herausforderung, an körperliche Grenzen zu gehen und den Geburtsprozess in seiner Ursprünglichkeit vollständig zu erleben. Beide Aspekte finden sich auch in anderen Interviews. Ähnlich einer sportlichen Herausforderung oder Mutprobe macht diese Deutung einigen interviewten Frauen Lust und Neugier darauf, diesen Prozess im Sinne einer persönlichen Leistung zu erleben und auszuhalten. Eine Geburt sollte im Idealfall etwas »Einmaliges, Schönes und (.) zwar sehr Kraftvolles (.) ja und auch Eindrucksmäßiges sein«, so die geburtserfahrene Carmen (I: 244f.). Geburt ist hier positiv aufgeladen und erhält einen Erlebnischarakter. An diese Interpretation schließt sich die Frage an, welche Rolle dem Schmerz in den Vorstellungen der Frauen zukommt. Die Deutung der Wehen verläuft entlang der Dimensionen der Schmerzerwartung als körperliche Zumutung, der körperlichen und seelischen Herausforderung sowie der Deutung als schmerzarm. Kulturell wird der Geburtsschmerz als eine der stärksten Schmerzformen konstruiert. In Bezug auf die christlich-abendländische Tradition gilt er als Bürde der Frau und Strafe Gottes für den Sündenfall.9 Darüber hinaus ist diese Schmerzform nicht ausschließlich negativ konnotiert, sondern auch positiv durch die Verbindung mit der Ankunft eines neuen Kindes. Außerdem werden an sie weitere Aspekte geknüpft: das erfolgreiche Aushalten und Bewältigen einer körperlichen Herausforderung als Bestandteil der positiven Persönlichkeitsentwicklung, die Alternativlosigkeit der Geburt, um neues Leben auf die Welt zu bringen sowie eine grundlegende weibliche Aufgabe und Fähigkeit. Im Kontrast dazu gibt es mehrere Konzepte einer schmerzfreien (oder zu mindestens schmerzreduzierten) Geburt, beispielsweise durch die Reduktion von Angst (vgl. Dick-Read 1964: 46ff.), bewusste Veränderung des Denkens über Geburt (Hypnobirthing), den Einsatz von Schmerzmitteln, speziell einer PDA, sowie einen elektiven Kaiserschnitt als operative Entbindung, um einer persönlichen Auslieferung an die Unberechenbarkeit des Schmerzes zu entgehen. Die meisten Frauen verorten die Wehen in den Bereich der schmerzhaften Körperempfindungen: Ich denke, das wird sehr wehtun. //Mhm// Ich glaub, ((lachen)) ich glaub, (.) das wird sehr schmerzhaft. Was ja gerade die=, was ich glaube die größte Schwierigkeit ist an der=, oder d=der=die größte Bürde= //Ja// Oder die (.) größte Herausforderung an einer Geburt, glaub ich, sind ja die Schmerzen //Ja// oder find ich (.) sind die Schmerzen. (Lenka I: 377ff.)

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Degele (2007: 130) beschreibt in einem Artikel eine Skala der Schmerzreaktion innerhalb christlicher Schmerzkultur: ohnmächtige Kapitulation, Widerstand und heroisches Dulden. Alle drei Formen findet sie in ihrem Analysematerial von Gruppendiskussionen mit Hebammen und Frauen, die bereits geboren haben, wieder.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Die Schmerzen bei der Geburt imaginiert Lenka als sehr stark. Sie stellen auch eine zu überwindende Schwierigkeit einer Geburt für die Frau dar. Indem sie Wehen als Bürde beschreibt, werden auch christliche Assoziationen hervorgerufen, wonach die schmerzhafte menschliche Geburt eine auferlegte Last im Leben einer Frau ist. Positiv gewendet bedeutet diese bevorstehende Erfahrung jedoch auch eine körperliche und seelische Herausforderung, mit diesen Schmerzen umzugehen. Für Jelena sind die Wehen verortet zwischen einer sehr schmerzhaften, aber auch einem sehr positiven Empfinden: Also ich denke, dass=dass=dass der Schmerz ›n noch mal’n ganz anderer ist als=als ich kenne. Also sei es so ’nen Verlustschmerz vielleicht //Ja// oder ähm, äh wenn man sich jetzt extrem was gebrochen hat oder so. //Mhm// Wobei ich auch das Glück hatte, so was noch nicht viel erlebt haben zu müssen, so ne? Ja deswegen denk ich generell, (.) ich denk, es ist noch was Drittes, //Ja// ’ne dritte Kategorie so’n bisschen. (…) Und die= (.) das fand ich auch ganz interessant, in dem Geburtsvorbereitungskurs sagte sie ja auch, das ist so ’ne=, (.) dass durch die Wehen auch noch mal so’n bestimmtes Hormon freigesetzt wird, //Mhm// was eigentlich positiv ist. //Ja// Und das fand ich immer so ganz witzig. Und dann= Aber alle reden immer nur von Schmerzen. //Ja// Das wird sicherlich auch weh tun, aber ähm dass der Ursprung eigentlich positiv ist. //Ja// Genau. Und ich find schon krass, dass ähm= (.) Man kann natürlich atmen und sich darauf konzentrieren und so, aber man (.) kommt nicht daran vorbei. […] Ich mach mir nicht zu viel Gedanken, weil (.) wie gesagt, also, meine Vorstellungsmöglichkeiten sind glaub ich auch (.) begrenzt.//Ja mhm//Da=da reagier ich ganz anders. […] Und dieses ähm äh (.) Rumschreien oder irgendwas in die Richtung, also //Mhm// ähm (.) hab ich auch erst gedacht, ist natürlich mir auch sehr fremd, ne? Weil man hat sich ja immer sehr unter Kontrolle in Situationen. (Jelena I: 727ff.) Der erwartete Schmerz liegt außerhalb von Jelenas Vorstellungskraft, denn eine Ahnung vom Geburtsschmerz könne sich erst durch Erfahrung bilden. Schmerzen unterscheidet sie nach zwei unterschiedlichen Kategorien, wobei sie für den Geburtsschmerz eine eigene, dritte Kategorie entwirft, in der der Schmerz mit positiven körperlich-hormonellen Empfindungen zusammentrifft. Dennoch ist er in seiner Stärke nicht zu umgehen, Geburt und Schmerz hängen unweigerlich miteinander zusammen. Den Geburtsschmerz assoziiert Jelena außerdem mit einem potenziellen Kontrollverlust, der ein Verhalten hervorbringen könnte, das ihr sonst fremd ist.10 In Jelenas Vorstellung sind bei der Geburt verschiedene Aspekte ver-

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Die Soziologin Azoulay (1998: 57) fokussiert die animalische Wirklichkeit der Geburt als gegensätzlich zum modernen weiblichen Selbstbewusstsein. Damit positioniert sie sich kritisch gegenüber dem Natürlichkeitsdispositiv, in dem die Geburt als positiver, bedeutsamer Prozess konstituiert ist.

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eint: Kraft, körperliche Leistung und damit Stärke. Geburt bedeutet damit etwas Positives, gleichzeitig potenzielle Erschöpfung und Schmerz. Freya und Sabina beziehen sich in ihrer Schmerzdarstellung auf die Konstruktion einer schmerzfreien Geburt, die sie sich aus der eigenen Erfahrung heraus nicht vorstellen können, dennoch bietet sie den Kontrasthorizont für die eigene Erzählung: Wobei ich keine Angst bei [Name des zweiten Kindes] Geburt hatte. //Ja// Und trotzdem (.) tat es (.) weh. (Beide lachen) Danach hab ich auch gesagt, nee, kann ich mir nicht vorstellen, dass das nicht wehtut. Also ich hab nach ’ner Woche gesagt, dass ich schon wieder entbinden könnte und=und auch //Ja// Lust darauf hätte und so. (.) Aber (.) das tat weh (lacht). (Freya I: 97ff.) Mit ihren Äußerungen bezieht sich Freya direkt auf Dick-Reads (1964: 46ff.) These, dass durch Angstreduktion eine schmerzarme Geburt möglich sei. Trotzdem sie aus ihrer Erfahrung Geburtsschmerz kennt und sich selbst vor ihrer zweiten Geburt als angstfrei beschreibt, verspürte sie Schmerzen. Damit widerlegt sie für sich selbst diese These. Die Schmerzen erscheinen aushaltbar, da sie nach der Geburt wieder eine Geburt hätte meistern können, dennoch gehören diese beiden Dinge in ihrer Vorstellung und unmittelbaren körperlichen Erfahrung zusammen. Geburt und Schmerz sind in den meisten Vorstellungen der Frauen eng miteinander verbunden, wie stark diese Schmerzen sein werden, scheint dabei offen zu bleiben. Bei den geburtserfahrenen Frauen des Samples werden die Geburtsschmerzen als stark, aber aushaltbar gedeutet. Sie werden als unausweichlich und alternativlos gewertet, selbst ein Kaiserschnitt bietet kein Entrinnen. Nur eine PDA beschreiben manche Frauen als letztmöglichen Ausweg. Die Bedeutung des Lebensereignisses bewegt sich zwischen den Dimensionen des Alltäglichen und des Außeralltäglichen. Die Geburt befindet sich für die meisten Frauen in einem Bereich des Außeralltäglichem und wird als besonderes (weibliches) Lebensereignis definiert. Carmen resümiert: Es ist ein unglaubliches Erlebnis. Es ist was, was ganz Kraftvolles, (.) was man erlebt. Und ähm (…) ja, es ist was ganz Einmaliges, deswegen kann man auch jedem wünschen, dass das wirklich eine natürliche= eine natürliche Geburt ist. (Carmen I: 233ff.) Carmen wertet die natürliche Geburt auf und beschreibt sie als Lebenserfahrung mit einem besonderen, positiven Erlebnischarakter. Sie plädiert regelrecht für eine natürliche Geburt. Sie belegt die Geburt mit vielen positiven Attributen, sie steht im Zusammenhang mit einem spezifischen, positiven und aufgewerteten Geburtserlebnis (vgl. auch Pellengahr 2001: 277), auch wenn im Interview kaum Aktivitäten sichtbar werden, die eine positive Ausgestaltung ermöglichen sollen. Im Gegensatz

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

dazu verorten die Alleingebärenden Freya und Sabina die Geburt im Alltäglichen und nehmen ihr dadurch die herausragende Bedeutung: Also ich stell=stell mir Geburt (.) eigentlich (.) sehr unkompliziert vor, //Ja// also sehr nebenbei, //Mhm// sehr (.) wenig spektakulär. Also ganz im Gegensatz zu dem, was jetzt heute eigentlich so groß aufgebauscht wird, //Ja// auch medial und so, ist äh die Schwangerschaft von mir jetzt auch schon sehr nebenbei gelaufen. //Mhm// Und so (.) recht alltäglich //Ja// stell ich mir auch Geburt vor. […] Ich hab gewitzelt, dass ich bestimmt das Baby bekomme, während ich spüle (.) //Mhm// oder so. //Ja// (.) Oder beim Duschen und dann pack ich das ins Tragetuch und hol die Kinder vom Kindergarten. (Freya I: 15ff.) Die Geburt rückt hier in den Bereich des Alltäglichen, Normalen und Unspektakulären. Diese Deutung scheint gegen die gesellschaftliche Konstruktion von Geburt als etwas Besonderes im Leben einer Frau zu stehen und geht mit Pragmatismus statt Aufwertung einher. Die Geburt, wie die Schwangerschaft, bedarf keiner starken Beachtung oder ausführlicher Erzählungen. Das letzte Spannungsfeld entfaltet sich entlang der Dimensionen der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die gebärenden Frauen Einfluss auf die Geburt nehmen können und sollen oder inwiefern sie dieser unbekannten Größe in gewisser Weise ausgeliefert sind. Die Geburt wird selten als plan- oder berechenbar dargestellt, die aufgeführten Vorbereitungs- und Annäherungspraktiken können nur einstimmen oder Entscheidungen vorbereiten. Die Geburt als ein Mechanismus, automatischer Prozess oder eine Naturkraft scheint nicht vollständig steuerbar, muss aber aktiv durch die Frauen bearbeitet werden. Sie könnten sich potenziell positiv auf die Dauer der Geburt oder die Schmerzreduktion auswirken, aber ob sie tatsächlich diese Erwartung erfüllen, bleibt offen. Den institutionellen Anrufungen zur Vorsorge und Vorbereitung folgen die meisten Frauen unhinterfragt und selbstverständlich, um die kulturell angemessene Form der Prävention zu betreiben. Die pragmatische und radikale Akzeptanz der unplanbaren Geburt steht im Mittelpunkt der Erzählungen. Im Gegensatz zu einer Vorstellung der Geburtsoptimierung durch Vorbereitung und Planung, beschreiben die Schwangeren die Mitsprache beim Verlauf des Geburtsprozesses überwiegend als negativ. Folglich verweigern sie sich einer genauen Planung oder der Anrufung zur ausführlichen Qualifikation zur Geburtsexpertin. Die Deutung der Geburt befindet sich hier in einer Ambivalenz zwischen einem nahezu schicksalhaften Ereignis und den persönlichen Einflussmöglichkeiten, damit zwischen Plan- und Unplanbarkeit. Aus den Vorstellungen und subjektivierten, vorläufigen Deutungen des Geburtsprozesses ergeben sich diverse Handlungsstrategien, welche die interviewten Frauen vor der Geburt erwähnen, um mit der (unbekannten) Geburt umzugehen. Von Handlungsgewissheit kann jedoch besonders bei der ersten Geburt nicht

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die Rede sein. Die potenziellen Variationen bleiben imaginierte Strategien. Selbst wenn sie sich bei einer vorherigen Geburt bewährt haben, kann die nächste Geburt wieder ganz anders sein. Für viele Frauen ist es zentral, den richtigen Moment abzupassen, um ins Krankenhaus zu fahren. Dabei gilt es, den richtigen Zeitpunkt zu finden und die Geburt demnach auch gut selbst beurteilen zu können. Die richtige Einschätzung ist dabei eine Mischung aus Abwarten und Ruhe sowie (eigen)diagnostischer Kompetenz, die durch Natalitätsinstitutionen vermittelt wird. Beobachtung körperlicher Zeichen, deren Bewertung, Zuordnung und Einschätzung sind Bestandteile der geforderten Diagnosekompetenz. Dabei sind die Anzeichen nicht eindeutig und es besteht die Gefahr der Fehlinterpretation (vgl. Seehaus 2015: 58f.). Die von Seehaus analysierte Anrufung spiegelt sich in den umfangreichen, unsicheren Überlegungen, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um das Kranken- oder Geburtshaus aufzusuchen. Interessanterweise beschreibt Emily Martin (1989) diese Taktik als ein potenziell widerständiges Verhalten der Frauen, um den medizinischen Eingriffen der Geburtshilfe und Gängelungen zu entgehen. Die interviewten Frauen bekommen allerdings bereits in den Geburtsvorbereitungskursen die Empfehlung, möglichst lange zu Hause die Wehen zu verarbeiten. Es stellt sich damit die Herausforderung einer möglichst guten Eigeneinschätzung des Geburtsfortschrittes, einer eigenen Wehenverarbeitung und des Vertrauens in die eigene Bewältigung der Situation zu Hause. Das steht im Kontrast zur Vorstellung, bei Geburten müsse es schnell gehen und die Frauen würden eine professionelle Begleitung benötigen. In ihrer Vorstellung über die eigene Handlung befinden sich die Frauen zwischen dem Wunsch, einerseits Anregungen oder Anleitungen durch die professionellen Geburtshelfer*innen zu erhalten und andererseits in Eigeninitiative nach Varianten zu suchen, um dem Schmerz zu begegnen. Damit nehmen sie die Ambivalenz der Adressierung durch Diskurse, Praktiken und Objektivationen auf (siehe Kapitel 4.2). Als eine Handlungsstrategie für den Geburtsprozess ist die Einstellung zu verstehen, die Situation auf sich zukommen zu lassen, also abzuwarten und wiederum innere Offenheit zu bewahren, um situativ zu entscheiden oder zu handeln. Im Rahmen der allgemeinen Vorbereitungsprozedere der Geburt werden die gebärenden Frauen des Weiteren als Entscheider-Subjekte angerufen (vgl. Samerski 2015). Es geht um die Wahl des geeigneten Geburtsortes, aber auch um die Meinungsbildung und Positionierung bezüglich spezifischer medizinischer, geburtshilflicher Methoden, beispielsweise Schmerzmitteleinsatz oder Dammschnitt. Auch die Zusammenstellung des ›Geburtsteams‹, also der anwesenden und professionellen Geburtshelfer*innen, obliegt der Schwangeren als aktive Entscheiderin und Gestalterin. Die bewussten Entscheidungen sollten nach Abwägen aus dem breiten Informationsfundus erfolgen.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Das Treffen von bewussten Entscheidungen steht der unberechenbaren und unbekannten Geburt gegenüber, bannt allerdings auch ihre Wirkmächtigkeit durch unterschiedliche Variationen der Risikobeschränkung. Zentral sind bei der folgenden Erörterung, wer die Entscheidungen bezüglich der Geburt trifft. Dem Postulat der Selbstbestimmung folgend, sind die Frauen diejenigen, die Entscheidungen treffen. In den Interviews zeigt sich, dass diese Annahme manchen Frauen als unpassend erscheint, ihre Entscheidungen treffen sie gemeinsam mit ihrem Partner oder sie können manche Entscheidungen nicht treffen, da bestimmte Bestandteile als Voraussetzung für Entscheidungsoptionen nicht gegeben sind. Betrachtet wird an dieser Stelle zunächst, in welchen Situationen Entscheidungen getroffen werden. Die Wahl des Geburtsortes steht dabei im Mittelpunkt der Abwägungen. Je nach regionaler Verortung und den damit einhergehenden strukturellen Möglichkeiten haben die Frauen eine Wahl zwischen unterschiedlichen Krankenhäusern11 , Geburtshäusern oder der Geburt zu Hause. Dabei ist die Entscheidung für eine Geburt im Krankenhaus als Normalentwurf zu betrachten. Abweichungen sind hier voraussetzungsvoll (vgl. auch Correll 2010: 81) und liegen in einem spezifischen kulturellen Zugang zu alternativen Wissensmodellen, der regionalen Verbreitung von Alternativen oder eigenen negativen Geburtserfahrungen. Im Folgenden beschreibe ich zwei Entscheidungsprozesse. Exemplarisch für Frauen, die das Krankenhaus für sich selbst als alternativlos betrachten, ist hier ein Zitat von Johanna aufgeführt: Für mich persönlich war es eigentlich immer klar, im Krankenhaus //Mhm// zu entbinden. //Ja// Ich kann=, ich kenn’s auch nicht anders. Ich mein, meine Cousine, […] (.) die hat im Geburtshaus entbunden. (.) //Mhm// Und von meinem kleinen Bruder die Freundin, (.) was ich vorhin erzählt hab, wo es relativ schnell ging, (.) die war’n zwar im Krankenhaus, aber glaub eher ambulant, //Mhm// (.) relativ schnell wieder draußen. Aber ich= (.) und wir wollen eigentlich dann (.) auch die zwei, drei Tage oder was das ist, wenn alles gut ist, im Krankenhaus halt bleiben. […] Wir den Frauenarzt zwischendurch mal gefragt, (.) //Ja// der hat uns auch das [Name]-Krankenhaus empfohlen, weil die Uniklinik ist sicherlich auch gut, aber die ist halt wahrscheinlich (.) mit mehreren Notfällen (.) eher mal beschäftigt, (.) oder schwierigeren Geburten, //Mhm// als das Krankenhaus hier. […] Dann ist mir das Krankenhaus in [Stadtteil] lieber, weil da ist ’ne (.) Kinderkr= äh Kinder- (.) Klinik mit dran. //Ja// (.) Ja, aber das kommt wahrscheinlich auch von=vom vorigen Jahr, 11

Um die ideale Versorgung bei Risikoschwangerschaften zu gewährleisten, sind die Kliniken bestimmten Versorgungsstufen zugeordnet. Perinatalzentren Level I und II finden ihren Zuständigkeitsbereich in der Betreuung von Hochrisikoschwangerschaften und -geburten. In der mittleren Versorgungsstufe finden sich Geburtskliniken mit einem perinatalen Schwerpunkt und einer angegliederten Kinderklinik. Die Grundversorgung besteht in einer einfachen Geburtsklinik.

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weil ich hatte voriges Jahr schon mal ’ne Fehlgeburt (.) […] und dann ist es mir lieber, falls doch irgendwas noch schief gehen sollte, (.) dass ich dann //Ja// (.) dort’n bisschen abgesicherter noch bin, als wo keine Kinderklinik ist. (.) //Mhm// Oder im Geburtshaus kann mir auch erst mal keiner so schnell helfen, oder dem Kind. (Johanna I: 369ff.) Die Entscheidung für das Krankenhaus muss nicht sonderlich legitimiert oder gerechtfertigt werden. Das Krankenhaus erscheint als ein altbekannter Geburtsort selbstverständlich. Zwar kennt Johanna aus ihrem familiären Umfeld andere Settings der Geburt, wie Geburtshaus und ambulante Geburt, aber für sie ist die klassische Geburt in der Klinik mit einem dreitägigen Klinikaufenthalt angenehmer. Ein entscheidendes Kriterium bei der Auswahl der Klink ist das Vorhandensein einer Kinderklinik, die Empfehlung des Gynäkologen und die räumliche Nähe. Das wichtigste Kriterium besteht jedoch in der Sicherheit, die Johanna hier mit schnellen medizinischen Reaktionsmöglichkeiten im Fall von Komplikationen assoziiert. Demgegenüber beschreibt sie, im Geburtshaus keine Hilfe für sich selbst und das Kind bekommen zu können. Auch die anderen Frauen aus dem Sample entscheiden sich für das Krankenhaus als Absicherung bei unvorhersehbaren Notwendigkeiten. Dabei ist es sehr unterschiedlich, ob für sie eine angegliederte Kinderstation entscheidend ist oder ob sie das Gefühl haben, sich nicht gegen alle Eventualitäten absichern zu müssen. Freya stellt dazu einem komplementären Fall dar, indem sie sich für eine Geburt ohne professionelle Geburtshelfer*innen zu Hause entscheidet. Wobei auch ihr zentrales Entscheidungskriterium die Sicherheit für sich selbst und das Kind darstellt, sie verortet die Risiken für eine komplikationsreiche Geburt im Krankenhaus. In den Interviews finden neben dem Entscheidungskriterium der Sicherheit auch das eigene Gefühl für die Atmosphäre der Geburtsinstitution bei Informationsveranstaltungen, die eigenen Erfahrungen, der Rückgriff auf die Erfahrungen anderer Frauen oder die Praktikabilität Berücksichtigung. Langandauerndes Abwägen und Ergründen sind ebenso wie schnelle, pragmatische Beschlüsse oder Bauchentscheidungen zu identifizieren. Entscheidungsberatung erfolgt in der ärztlichen Schwangerenvorsorge sowie durch Bekannte und den*die Partner*in. Neben der Wahl des Geburtsortes bedarf es einer Positionierung gegenüber dem Einsatz von (schmerzstillenden) Medikamenten oder spezifischen Praktiken. Wie oben bereits erwähnt, finden sich in den vorliegenden Interviews keine idealistischen oder festen Entscheidungen, vielmehr haben die Frauen eine Vorstellung von den unterschiedlichen Optionen, so bewahren sie sich eine situative Offenheit.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Abbildung 5: Bewältigungsstrategien angesichts der unbekannten Geburt

5.2.1.4

Zwischenfazit

Die bevorstehende Geburt als unbekannte Größe, so konnte gezeigt werden, wird durch die Frauen selbst, aber auch Berufsstände und Institutionen bearbeitet. Deutlich wird, dass die Geburtsvorbereitung, die den Umgang mit Unsicherheit und Angst berücksichtigt und eine gut verlaufende Geburt mit einem gesunden Kind und einer gesunden Frau begünstigen soll, auf drei Ebenen zu denken ist: Die kognitive Ebene mit der umfangreichen Information über objektiv-medizinisches Fachwissen und (weibliches) subjektives Erfahrungswissen; die seelische Ebene mit der mentalen Auseinandersetzung mit der Geburt als potenzielles Risiko und die Aktivierung positiver Ressourcen sowie die körperliche Ebene mit der Akzentuierung eines körperlichen Spürens und Erprobens. Geburtsvorbereitung ist damit ein ganzheitlicher Prozess, der institutionell stark abgesichert und unterstützt wird. So gibt es umfangreiche Kurs- und Vorbereitungsangebote mit verschiedenen Listen, welche die Frauen bei der Geburtsvorbereitung unterstützen sollen. Dabei ist der Zugang zu den Vorbereitungspraktiken regional sehr unterschiedlich, so gibt es beispielsweise Geburtsvorbereitungskurse, die alle drei Ebenen in gleichem Maße fördern und fordern, andere verbleiben bei der dominanten monologischen Angebotsstruktur der Wissensvermittlung, die auch in Ratgebern als der Königsweg zur Bearbeitung von Unsicherheit beschrieben wird. Innerhalb der Vorbereitungspraktiken bilden, verfestigen und etablieren sich Deutungen, die die Vorstellungen der Frauen über Geburt beschreiben. Deutlich wurde, dass Geburt innerhalb von Spannungsfeldern gedeutet wird, so dass viele

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Die unbekannte Geburt

Ambivalenzen und Paradoxien sichtbar werden. Oft gibt es paradoxe Verstrickung und Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Deutungen, die Geburt bleibt auch nach den unterschiedlichen Deutungspraktiken eine unbekannte Größe, auf die mit Flexibilität und Offenheit situativ reagiert werden muss.

5.2.2

Die sich ereignende Geburt

Die nächsten Kategorien kreisen um das Phänomen der konkreten Geburt und ergeben sich aus dem Datenmaterial der zweiten Interviewwelle nach der Geburt. Dabei sind die zwei zentralen Merkmale des Phänomens die Geburtserfahrungen als überwiegend schmerzhafte Wehen und die (physiologische) Entwicklung des Kindes aus dem mütterlichen Becken durch die Wehenarbeit der Mutter. Der lebensweltliche, persönliche Wissensvorrat, welcher sich aus Diskursen speist, die entwickelten oder manifestierten Deutungen und die daraus abgeleiteten persönlichen Handlungsoptionen und Entscheidungen entfalten sich in der Situation der Geburt. Da die Geburt als eine unbekannte und unberechenbare Situation gedeutet wird, können sich die Frauen zwar gedanklich während der Schwangerschaft annähern, der Geburtsprozess kann aber von den Vorstellungen der Frauen unabhängig eine eigene Dynamik entfalten.

5.2.2.1

Übergangsstadium des Geburtsbeginns

Der Geburtsbeginn stellt die Frauen vor die Herausforderung, das körperliche Empfinden als Geburtsbeginn zu deuten, was potenziell trügerisch sein kann. Die Unsicherheit und Aufregung zu bannen und den richtigen Zeitpunkt zu finden, um Geburtsort oder -institution aufzusuchen, ist dabei in jedem Interview ein Thema. Die Orientierung am errechneten Geburtstermin ist vor allem bei dessen zunehmender Überschreitung eine Belastung, daraus ergibt sich die Anwendung einiger Praktiken, die eine Geburt in Gang setzen sollen. Freya berichtete schon im ersten Interview, regelmäßige Wehen zu haben, dieser Zustand hält sich die restliche Schwangerschaft. Mit den regelmäßigen Wehen und der selbst diagnostizierten leichten Öffnung des Muttermundes beginnt die Geburt dennoch weit nach dem Geburtstermin. Daraus ergibt sich eine sehr vage Definition des Geburtsbeginns und der Geburtsdauer: Der Anfang ist sehr schwierig zu finden. Also die=die (.) ja, (.) also entweder du sagst, die Geburt hat so acht Wochen vor der Ge= vor der eigentlichen //Mhm// Geburt angefangen. Oder, (.) was noch ’ne Option wäre, so drei vier Tage? //Ja// Oder (lacht) vier- (.) einhalb Stunden. //Mhm// Das wäre noch ’ne Möglichkeit. (.) Ja. (Freya II: 28ff.)

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Es gelingt Freya nicht, einen Geburtsbeginn zu definieren, wobei die Zeiträume der Geburtsdauer erheblich zwischen vier Stunden und acht Wochen variieren. In einer späteren Sequenz im Interview beschreibt Freya, wie frustrierend und anstrengend die Situation für sie ist. Sie beginnt, sich zu informieren, wie sie die Geburt selbständig auf natürliche Art einleiten kann. Als sie anfängt mit unterschiedlichen Praktiken, die Geburt aktiv zu fördern, mehren sich auch die Geburtsanzeichen: die Wehen verändern sich etwas und der Schleimpfropf löst sich. Als die Wehen mich dann tatsächlich in die Knie gezwungen haben, (.) hab ich auch langsam angefangen, an Geburt zu glauben. Davor hab ich das=, also hatt‹ ich die Hoffnung, (.) //Mhm// aber daran geglaubt hab ich noch lange nicht. (Freya II: 226) Erst als die Wehen sehr stark werden und sie sich nicht mehr wie gewohnt bewegen kann, beginnt sie zu ›glauben‹ und zu ›hoffen‹, dass nun die Geburt beginnt. Ab diesem Zeitpunkt verläuft die Geburt dann sehr schnell. Obwohl Freya bereits ihr drittes Kind zur Welt bringt, verbleibt eine Unsicherheit, den Geburtsbeginn zu bestimmen. Außerdem belastet sie die Verzögerung nach dem errechneten Geburtstermin. Für Freya hat der Geburtsbeginn durch die gewählte Alleingeburt keinen Ortswechsel zur Folge. Für andere Frauen hat die Definition des Geburtsbeginns eine zentrale Bedeutung, da sie einen Ortswechsel nach sich zieht. Lenka erzählt: Also den Geburtsanfang würd ich (.) beschreiben eigentlich so: (.) Sie kam am Freitag zur Welt //Mhm// und (.) ab Dienstag hatte ich (.) Senkwehen, //Ja// also auch (.) relativ intensiv. Die wurden dann immer stärker und wahrscheinlich gingen die dann irgendwann über in Geburtswehen. […] Zumindest hatten wir Freitagmorgen um zehn (.) bei der Hebamme ’nen Termin die hat ’nen CTG geschrieben und meinte: ja, das sind schon Wehen. (.) //Mhm// Wahrscheinlich fahrt ihr dann heute noch (.) ins Krankenhaus. Oder (.) vielleicht auch erst morgen. Oder müsst ihr mal gucken, fahrt mal nach Hause und wie ihr’s aushaltet, (.) fahrt ihr dann. (.) Und (.) ähm (.) das war um zehn. Und um (.) sechs, halb sech=sechs hab ich dann gesagt: ›Komm, wir fahren jetzt.‹ Da konnte=, da=das=, dann wurde es richtig nervig. So //(lacht)// richtig nervig und anstrengend und hat weh getan und wir konnten kein Backgammon mehr spielen, obwohl wir das noch wollten. (Lenka II: 10ff.) Auch Lenka hat bereits vor der eigentlichen Geburt regelmäßige und starke Wehen. Sie reagiert darauf nicht weiter und versucht, ihrem Alltag nachzugehen. Zu einem Vorsorgetermin definiert ihre Hebamme die Wehen als Geburtswehen, beschreibt das weitere Vorgehen und eröffnet den Eltern die möglichen Verlaufsoptionen. Damit tritt die Hebamme als kundiger Mensch im nahen Umkreis auf (vgl. auch Seehaus 2015: 59), ihr Behandlungsangebot ist niedrigschwellig und sie unter-

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stützt das Paar bei der Deutung der Körperzeichen. Der Zeitpunkt, zu dem Lenka beschließt, ins Krankenhaus zu fahren, kommt in der Situation, als sie nicht mehr ihrem Alltag nachgehen kann, da sich die Wehen steigern. Aus diesen Schilderungen lässt sich schlussfolgern, dass der Geburtsbeginn sich nicht so konkret und lehrbuchhaft bestimmen lässt, es kann sich um eine längere Übergangsphase handeln ebenso wie um einen plötzlichen Geburtsbeginn. Für die Frauen gilt es, die körperlichen Anzeichen der Geburt richtig zu deuten und angemessen darauf zu reagieren. In der medizinischen Fachliteratur werden Wehen, die Öffnung des Muttermundes und die Kindslage als evidente Zeichen für den Geburtsbeginn gedeutet. Hinzu kommen sekundäre Indikatoren wie der Abgang eines Schleimpfropfes, der Verlust von Fruchtwasser, Rastlosigkeit und Schlaflosigkeit, Durchfall oder Erbrechen. Den Frauen sind einige dieser Anzeichen bekannt und sie deuten damit den Beginn der Geburt. Um zu überprüfen, ob es sich um Geburtswehen handelt, kursiert unter den Schwangeren der sogenannte Badewannen-Test, bei Sabina ein selbst entwickelter »Film-Guck-Test«. Nach einem sehr entspannten Zustand in der Badewanne oder bei einem Film soll geprüft werden, ob die Wehen sich verstärken oder nachlassen. Sollten sie sich verstärken, handelt es sich um die Geburt. Für die Frauen ist das ein alltagspraktischer Hinweis, um abschätzen und prüfen zu können, ob es sich um den Geburtsbeginn handelt. All diese Praktiken verweisen darauf, dass auch der Geburtsbeginn eine unbekannte Größe ist, mit dem Unsicherheiten einhergehen. Eine soziale Rückkopplung zu einer Hebamme, Freundin oder anderen Personen wirkt unterstützend. Des Weiteren bleibt den Frauen nur abzuwarten, ob sich die Wehen steigern und ob es sich tatsächlich um den Geburtsbeginn handelt. Es verbleibt die Unsicherheit, wie schnell sich die Geburt ereignen wird und wann der richtige Moment ist, ins Krankenhaus zu fahren und ob es sich um Geburts- oder Senkwehen handelt. Den Geburtsbeginn zu bestimmen oder festzulegen, ist dabei eine letzte Etappe der Beschäftigung mit der Unsicherheit, bevor die Geburt sich ereignet.

5.2.2.2

Die Wehen als zentrale Eigenschaft des Phänomens Geburt

Die Dimensionen der Geburtserfahrung reichen von einer sehr schmerzhaften Geburt über erträgliche, aushaltebare Schmerzen bis hin zu gar keinen Schmerzen. Selbst über lustvolle, orgastische Geburten gibt es Berichte, die sich jedoch nicht im vorliegenden Material finden. Der Begriff der Wehen ist negativ und passiv konnotiert als etwas, das über die Frau kommt, dem sie ausgeliefert ist. Unterschieden werden im medizinischen Kontext verschiedene Arten und Phasen der Wehen. Sie unterscheiden sich unter anderem in ihrer Dauer, Intensität, Schmerzempfindung, Lokalisierung (Bauch, Unterleib, Rücken, Vagina), ihrer Regelmäßigkeit und ihrer Wirksamkeit auf den

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Muttermund. Prinzipiell wird im medizinischen Kontext davon ausgegangen, dass sich die Wehen kontinuierlich und linear steigern. Pausen können als Wehenschwäche diagnostiziert werden und legitimieren ein medizinisches Eingreifen. Die Wehen werden professionell, aber auch durch die Frauen selbst und deren Partner*innen vermessen und bewertet. Sie sind Zeichen, nach denen maßgeblich entschieden wird, wann es Zeit ist ins Krankenhaus aufzubrechen: regelmäßige Wehen im Abstand von fünf Minuten gelten als ausschlaggebend. Die Betonung liegt in den Erzählungen auf dem Leiden, einem Gefühl des Genervtseins, der heftigen Steigerung der Wehen, traumatischen Empfindungen, Anstrengung, Pausenlosigkeit, starken Schmerzen und der Notwendigkeit, alles zu geben und alle Kraftressourcen zu mobilisieren. Kritisch zu fragen ist, inwiefern die Geburt tatsächlich ein Erlebnis der Superlative ist. Die Alleingebärenden Sabina und Freya hatten Kontakt zum Konzept der schmerzfreien Geburt, beide positionieren sich demgegenüber als erfahrene Gebärende, die bei der Geburt Schmerzen verspüren: Also ich fand sehr anstrengend und ich hatte Schmerzen. (6) Ähm, (…) aber ich konnte irgendwie diesmal viel besser so (.) damit umgehen. (.) Ich hatte so das Gefühl, das arbeitet in die richtige Richtung. (Sabina II: 229ff.) Ja (…) und dann wurd’s halt eklig. Dann wurd’ ich laut, dann hatt’ (.) ich=, also da hatt’ ich die Wehen eigentlich in Zweiminutenabständen. //Mhm// Ich konnte=, ich hab dann aufgehört, die zu (.) zu messen. War aber eh Schwachsinn, weil ich hatte keine Abstände mehr, (.) so ’ne Stunde dann ungefähr. //Ja// Das war echt eklig. Also schon Wellen, aber ohne Pause. Immer wieder, uähhh mhm. (…) Äh ja, das war (.) scheiße, ne? Dann kam (.) kam dieses äh ja Tot-oder-lebendig-Ding, was du ja bei jeder Geburt hast irgendwie. //Ja// Der Moment, wo du= (.) wo’s dir egal= – klingt total grausam, aber ich glaube, das ist normal, (.) der Moment, wo’s dir dann letztendlich völlig scheißegal ist, ob das Kind lebendig oder tot rauskommt, wo du einfach nur willst, dass es rauskommt. (Freya II: 251ff.) Eindrücklich intensiv beschreibt Freya das Ausmaß ihres Schmerzes am Ende der Geburt als einen typischen Moment.12 Jede Frau, so erscheint es in Freyas Erzählung, distanziert sich vom Kind und fokussiert alle Energie, damit die Geburt vorbei geht. Sie ist zurückgeworfen auf sich selbst, der Zustand des Kindes ist nicht 12

Der Fötus-Ausscheide-Reflex ist eine medizinische Beobachtung, die durch Michel Odent beschrieben wird und die seiner Beobachtung nach nur auftritt, wenn eine private Gebärsituation gegeben ist. Gemeint ist ein Zustand besonders starker Wehen kurz vor der Austreibungsphase, der mit Angst, Panik oder dem Wunsch nach dem Tod einhergeht. Odent funktionalisiert und naturalisiert das starke Schmerzerlebnis und versieht es durch seine Erläuterungen mit einem biophysikalischen Sinn. Es wird zu einer anthropologischen Konstante aller Frauen, bei denen es zu einer Ausschüttung von Adrenalin und Oxytocin kommt, um das Kind gefahrlos zu gebären.

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Die unbekannte Geburt

(mehr) von Bedeutung. Damit beschreibt Freya einen radikalen Zustand, in dem es für sie nur noch den Wunsch nach dem Ende der Geburt gibt. Aber dieser Superlativ ist nicht die einzige Facette des Erlebens. Im Kontrast zu diesen Erzählungen mit einer starken Schmerzbeschreibung berichtet Stefanie: Die Wehen waren (.) vollkommen in Ordnung. (.) Also man konnte es wirklich gut wegatmen. Es war= (.) wir haben bis zum Schluss Spaß gehabt. (Stefanie II: 30f.) Die Wehen erscheinen in ihrer Erzählung aushalt- und bearbeitbar. Ein Anzeichen für die Art der Wehen ist, dass Stefanie sich bis zum Schluss auch auf andere Dinge konzentrieren konnte und sie beschreibt, gute Laune, sogar Spaß gehabt zu haben. Eine Umdeutung finden die Wehen innerhalb des Hypnobirthing. Wehen werden hier als Wellen bezeichnet, um nicht den Schmerz, sondern die starke und positive Kraft dieser Geburtserscheinung zu fokussieren. So beschreibt Carmen die Wehen als spürbaren Druck: Also es war (.) natürlich, ich habe immer (atmet intensiv aus) geatmet und aber (.) es war einfach ein unglaublicher Druck wieder gewesen, (.) //Mhm// wo ich richtig gemerkt habe, mein Körper tut was (.) ähm. Aber jetzt nicht so, dass ich sage, (.) dass es unaushaltbare Schmerzen sind. Also einfach auch dadurch, dass ich wusste, ja, (.) mit jedem kommt er mir näher (.) und das ist ähm (.) quasi fördernd für die Geburt oder vorbereitend. Dadurch war das ganz anders als jetzt zum Beispiel beim Nähen der Wunde dann am Ende unten. Da weißt du, (.) ja, es muss gemacht werden, aber es ist jetzt nicht irgendwie dass du=du hast jetzt gleich ein positives Ergebnis dadurch (lacht). (Carmen II: 93ff.) Während sie den Wehen eine starke Zentrierung auf den Schmerz abspricht, beschreibt sie die Nachwehen und das Nähen der Geburtsverletzung wiederum als schmerzhaft und unangenehm. Die Wehen erhalten durch die aktive Umdeutung eine andere Bedeutung und einen Sinn, was dazu führt, dass Carmen die körperlichen Empfindungen durch die Kontraktionen anders wahrnimmt und deutet. Bei starken Schmerzen, so die naheliegende Annahme, ist außer dem Schmerz nichts mehr wahrnehmbar. Die Menschen entfernen sich von sich selbst und alternativen Möglichkeiten, sie sind zurückgeworfen auf ihr subjektives Empfinden. Das körperliche Empfinden der Wehen geht weit über den Schmerz hinaus, vielmehr handelt es sich um einen Prozess mit unterschiedlichen Stufen und unterschiedlicher Intensität. Neben dem Schmerz sind die Entwicklung und der Zustand des Kindes zentral für die Konkretisierung des Phänomens der Geburt. Der physiologische Verlauf der Geburt bedeutet hier das Durchtreten des Kindes durch das mütterliche Becken, dabei vollzieht das Kind unterschiedliche Drehbewegungen. Medizinisch entscheidend ist, ob ein Passungsverhältnis zwischen kindlichem Kopf und mütterlichem Becken besteht. Gemessen an den kindlichen Herztönen kann es durch die Wehen

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

oder das Durchtreten des Kindes durch das Becken zu Komplikationen kommen. Eine Beschleunigung der Geburt oder Erweiterung des mütterlichen Beckenraumes durch einen Dammschnitt können medizinisch indiziert sein.

5.2.2.3

Handlungsstrategien

Wie gestaltet sich nun das weitere Vorgehen, nachdem der Geburtsbeginn festgestellt wurde und die Frauen Zugang zum Kreißsaal erhalten? Vom Erleben der Geburt und des potenziellen Schmerzes sind auch die anderen teilnehmenden Personen betroffen. Ebenso wie der Gebärenden stellt sich ihnen die Frage, wie sie dem Phänomen des Geburtsempfindens und dem Heraustreten des kindlichen Körpers begegnen können. Im Kreißsaal (oder Geburtshaus) angekommen, stehen den beteiligten Personen eine Reihe von Praktiken und Objektivationen zur Verfügung, um Schmerzen einzudämmen, einen Umgang mit den Geburtswehen zu finden, die Geburt zu beschleunigen und eine gute Position zu finden, die das Hinaustreten des Kindes aus dem mütterlichen Becken begünstigen, aber auch Praktiken, um den Geburtsfortschritt zu kontrollieren und zu überwachen. Sie finden ihren Ausgang in den Praktiken und Objektivationen des dispositiven Feldes (siehe Kapitel 4.2). Im Zentrum der Geburt stehen ebenjene Handlungsstrategien und Praktiken, die den Frauen, Partner*innen und Geburtshelfer*innen auf unterschiedliche Art und Weise zur Verfügung stehen. Die Unterschiede bestehen in der Zuweisung der Zuständigkeit und in der Auswahl der zur Verfügung stehenden Praktiken. Die gebärenden Frauen haben einen privilegierten Zugang zum subjektiven Empfinden, Spüren und Bedürfnissen. Trotz der kommunikativen Vermittlung oder der empathischen Teilnahme hat die Geburt für andere Beteiligte nicht die gleiche Intensität und Bedeutung. Es ist die Frau, die eine Geburt vollbringt und erduldet, deren Erleben ein körperlich präsenter Bestandteil ihrer reproduktiven Biographie ist. Ähnlich biographisch bedeutsam ist die Geburt nur für den*die Partner*in. Für professionelle Geburtshelfer*innen oder -begleiter*innen ist die Geburt eher ein alltägliches Ereignis, eingebunden in den institutionellen Kontext. Handlungsstrategien der Frauen Zur Verarbeitung des Schmerzes sind für die Frauen drei Bestandteile zentral, je nach Fall jedoch unterschiedlich relevant: körperliche Bewegung, Atmung und unterschiedliche Arten der lautlichen Äußerung durch Stöhnen, Schreien oder Tönen13 . Dabei kann die Verarbeitung des Schmerzes eigeninduziert oder durch Anleitung erfolgen.

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Tönen beschreibt die gezielte Produktion von Tönen im Vergleich zu einem lauten Schreien oder stummen Ertragen. Tiefe, laute Töne mit geöffnetem Mund sollen die Geburt erleichtern und beschleunigen.

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Das Herumlaufen, Abstützen und Festhalten während der Wehen sind sich widerholende Tätigkeiten, die die interviewten Frauen besonders zum Beginn der Geburt beschreiben. Zum Ende der Geburt werden die Frauen im Krankenhaus eher angeleitet, sich in bestimmte Positionen zu begeben oder bestimmte Bewegungen auszuführen. Bei den meisten interviewten Frauen beschränkt sich die Bewegung auf die Anordnung, sich abwechselnd auf die linke oder rechte Seite zu drehen und das Kind in einer halb horizontalen Position zu gebären. Nadine, Stefanie und Lenka begeben sich in eine Art Vierfüßlerposition. Die Frauen beschreiben weiterhin, sich während der Wehen an Gegenständen oder Menschen festzuhalten oder abzustützen (vgl. auch Kuntner 2000: 77). Neben der Ausrichtung des Körpers in eine bestimmte Position zur besseren Verarbeitung der Wehen spielt die Atmung eine wichtige Rolle. Stefanie beschreibt ausführlich: Man erinnert sich da an diese Atemübungen, gerade vom Kurs. //Ja// (.) Findet dann aber irgendwie sein eigenes (.) Ding, (.) weil sie sagen ja immer im Kurs dieses ›A‹ oder ›O‹ oder ›U‹ oder wie das war. (.) Das hab ich jetzt ni gemacht, (.) sondern man kann (.) ganz tief in seinen Körper reinatmen, //Ja// genau in die Richtung. (.) Und das hab ich dann richtig raus gehabt und das war wirklich gut. […] Das hat richtig geholfen. Bei jeder Wehe (.) hab ich das so gemacht. (.) Und dann braucht ich= (.) also ich war ganz leise im=im (.) das=, ganz komisch klingt das, aber in mir drin. Dann war das wieder vorbei und dann ging’s. (Stefanie II: 170ff.) Schon vor der Geburt erprobt Stefanie eine spezielle Atemtechnik. Sie ändert das Wissen und die Empfehlungen aus dem Kurs ab und eignet sie sich durch das eigene Erfahren selbst an, bis die Praktik für sie wirksam und stimmig ist. Auch während der ersten Geburt hat sie damit gute Erfahrungen gemacht und konnte die Technik erproben und verfestigen. Dezidiert beschreibt sie die von ihr weiterentwickelte Köpertechnik der Veratmung der Wehen. Die Wirkung dieser speziellen Atmung hingegen kann sie nicht richtig fassen, es scheint dafür keine feste Erfahrungsgröße zu geben. Stefanie beschreibt, durch die Atmung zu sich selbst zu gelangen und dadurch den periodisch wiederkehrenden Schmerz gut verarbeiten zu können. Einen Kontrast hierzu bildet die professionelle Anleitung, den Presswehen und dem Pressdrang durch eine spezielle Atemtechnik nicht nachzugeben und diese zu ›verhecheln‹. Die Frauen beschreiben diese Technik als extrem anstrengend und nahezu unmöglich: Wenn ich dann nicht drücken durfte, wo die Presswehen dann schon (.) hätten da sein= und nicht durfte, weil der Muttermund im Weg war, (.) das war schon (.) äußerst schwierig (.) aufzuhalten. (.) Das hat auch nicht immer geklappt, (.) ich hab

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

trotzdem gedrückt (.) und ich hab gedacht, (.) wo soll ich denn jetzt mal bitte hin? (Lacht) //Ja// Das hab ich nicht= irgendwie nicht veratmet gekriegt, (.) so’n paar gingen zu veratmen. (Johanna II: 147ff.) Johanna wird von der Hebamme aufgefordert, dem inneren Pressdrang nicht nachzugehen und dagegen zu arbeiten. Diese Tätigkeit ist für sie praktisch nicht ausführbar, dennoch bemüht sie sich, der Aufforderung nachzukommen. Vermutlich verschafft ihr dieser Versuch und diese Art der stoßweisen Atmung mehr Schmerz, vor allem aber Hilflosigkeit, den Anforderungen der professionellen Geburtshelfer*innen nicht nachkommen zu können und auch nicht zu wissen, wie dies möglich sein solle. Nadine und Michaela beschreiben ähnliche Szenarien. Den Presswehen oder dem Pressdrang etwas entgegenzusetzen, erscheint aus der Perspektive der Interviewpartnerinnen als sehr anstrengend und nahezu unmöglich. Die Praktik des Veratmens der Presswehen basiert auf dem medizinischen Leitungs- und Überwachungsanspruch der Geburt. Damit geht die Vorstellung einher, dass ein aktives Herauspressen des Kindes nur erfolgen darf, wenn der Muttermund vollständige zehn Zentimeter geöffnet ist, da sonst eine Muttermundlippe zwischen Kind und Becken eingeklemmt sein könnte, was Verletzungen nach sich ziehen kann. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass der Pressdrang falsch sein kann und erst auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden muss. Auch eine zu schnell voranschreitende Geburt soll dadurch von den Frauen aufgehalten werden, bis die professionellen Geburtshelfer*innen anwesend sind. Die Austreibungsphase erscheint überwiegend als ein Abschnitt der Geburt, der unter Anleitung geschehen sollte, um Sicherheit zu gewährleisten. Eine weitere Art der Praktik zur Verarbeitung der Geburt betrifft die Gefühlsregulierung. Die interviewten Frauen beschreiben hier den Versuch, sich besonders zu Beginn der Geburt zu entspannen, zu schlafen oder ein warmes Bad zu nehmen, um Kraft zu schöpfen und Verkrampfungen zu lösen. Damit folgen sie dem Rat aus Geburtsvorbereitungskursen mit dem Badewannen-Test oder individuellen, situativen Empfehlungen. Ebenfalls wird der Versuch beschrieben, dem Schmerz durch Wärme im Bett oder mit einer Wärmflasche zu begegnen. Eine weitere Form fokussiert das Ablenken von den ersten Wehen durch die Beibehaltung alltäglicher Abläufe und Tätigkeiten. So beschreibt Jelena, dass die Eltern des Paares zu Besuch sind und sie mit diesen während der Geburt ein Café besucht und spazieren geht. Sie bewertet dieses Ereignis folgendermaßen: Ich war auf der einen Seite froh, die Zeit irgendwie rumzukriegen. //Ja// Ne? Da haben die auch immer gesagt: Ja, jetzt noch mal bewegen, jetzt noch mal was trinken, jetzt gehen wir noch mal schön Kaffeetrinken und so. Aber genießen konnte ich das auf keinen Fall. (Jelena II: 191ff.)

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Durch die Beschäftigung mit ihrer Familie und den kleinen Ausflug kann sie die Zeit bis zur Geburt herumbringen und konzentriert sich nicht auf das Abwarten, bis sie in den Kreißsaal kann und die Wehen die nötige Stärke und Muttermundwirksamkeit erreichen. Aber auch die Beschäftigung mit dem Handy, das Anschauen eines Films, Vorlesen oder Backgammon-Spiele werden benannt. Diese Praktiken werden in den Interviews jedoch überwiegend in der außerklinischen Phase der Geburt beschrieben. Während der Geburt im Krankenhaus spielen Entspannung und Ablenkung, besonders zum Ende der Geburt, in den Erzählungen kaum mehr eine Rolle. Die Praktiken des Kontrollierens und Überwachens des Geburtsprozesses wenden die Frauen bereits bei Geburtsbeginn an. Sie versuchen zu Hause die Wehen und Wehenabstände zu messen, die Körperwahrnehmung strukturiert sich durch medizinische Messpraktiken. Die Aufgabe, die Wehen zu messen, um sie einschätzen zu können, bereitet dabei durchaus Probleme. So beschreibt Jelena: Wir war’n dann einmal in der Klinik gewesen, weil ich hab auch immer gewusst, man muss ja (.) die Abstände messen, [(lachend) wo keine Wehe ist und wie lange die Wehe dauert. Ich hab das nicht geschafft.] Ich hab das irgendwie nicht hingekriegt, diese Zeitabstände da //Ja// wirklich zu messen. (Jelena II: 25ff.) Die Vermessung ist eine kognitiv herausfordernde Arbeit. Es ist notwendig, Anfang und Ende der Wehen einschätzen und eine Uhr im Blick behalten zu können. Jelena erscheint es nicht möglich, der Aufforderung zur Selbsteinschätzung des Geburtsbeginns nachzukommen. Auch Lenka beschreibt ihre Schwierigkeiten damit, die Wehen einzuschätzen, da sie zwar insgesamt kontinuierlich an Intensität zunehmen, aber sowohl in Abstand und Stärke variieren: Die sind eigentlich dann einfach stärker geworden. Also ich hab die Abstände=, ich glaub die Abstände sind gar nicht kürzer geworden, ne? Die waren schon die ganze Zeit //Mhm// fünf Minuten, //Ja// vier, drei oder so. (.) //Ja// Und dann halt mal war länger= Also nee, die Wehen wurden nicht (.) kontinuierlich stärker, (.) sondern (.) ähm (.) eigen=(.) in der Summe, ja. Aber nicht jetzt von Wehe zu Wehe. //Mhm// Also dann war mal ’ne stärkere Wehe und dann war wieder ’ne (.) schwächere Wehe. //Mhm// Das war schon auch unterschiedlich. (Lenka II: 200ff.) Auch bei Lenka erzeugt das Modell von den sich kontinuierlich entwickelnden Wehen retrospektiv Irritation, die Abstände erscheinen ihr gleichbleibend, während sich die Wehen in ihrer Stärke sehr unterscheiden. Die letzte Praktik beschreibt das Treffen von Entscheidungen angesichts von Wahlmöglichkeiten. Manche der Frauen berichten, wie ihnen unterschiedliche Behandlungsmethoden oder Medikamente angeboten werden. Die Frauen sind dabei jedoch zu einem großen Teil verunsichert, da sie sich selbst nicht zutrauen, die Folgen abzuschätzen.

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Da nicht groß zu fragen, [(verstellte Stimme) ›was willste denn jetzt?‹] Weil das war’n echt die schlimmsten Fragen. Ich wusste nicht. (Jelena II: 394f.) Die kognitive Entscheidung wirkt überfordernd, Jelena kann die Geburt und die Auswirkungen ihrer Entscheidung nicht überblicken. Sie selbst ist unsicher und wägt ab. Auch das Formulieren von Wünschen und Bedürfnissen erscheint erschwert. Nur Lenka und Stefanie können diese formulieren, die anderen richten sich nach den Anleitungen der professionellen Geburtshelfer*innen. Handlungsstrategien anderer Akteur*innen In den Interviews mit gebärenden Frauen tritt die Perspektive der Partner*innen und professionellen Geburtshelfer*innen zurück. Sie treten als Personen in Erscheinung, die Wahlmöglichkeiten eröffnen, Praktiken durchführen, Medikamente verabreichen, Anweisungen für die Frauen formulieren, motivieren oder bei Entscheidungen unterstützen. Professionelle Geburtshelfer*innen Die Position der professionellen Geburtshelfer*innen fasst Hebammen und Ärzt*innen zusammen, da sie gegenüber den Lai*innen einen Expert*innenstatus innehaben. Besonders bei komplikationslosen Geburten schreiben die Frauen den Ärzt*innen eine Nebenrolle zu. Bedeutsam ist für die Frauen der Umfang, in dem professionelle Geburtshelfer*innen bei der Geburt im Kreißsaal anwesend sind. Während sich ein Teil der Frauen gut und kontinuierlich betreut fühlt, beschreiben andere Frauen, während der Geburt fast allein gewesen zu sein. Dieser Aspekt findet sich auch in der angespannten Situation der Geburtshilfe, in der 65 % der Hebammen drei und mehr Gebärende gleichzeitig betreuen (vgl. Stahl 2016: 1). Wie auch bei den gebärenden Frauen schlüssele ich die möglichen Handlungsstrategien der professionellen Geburtshelfer*innen in die Kategorien der Praktiken auf. Kontrollieren und Überwachen hat auch hier eine zentrale Position. Die professionellen Geburtshelfer*innen befestigen das CTG als Messinstrument und werten die metrischen und visuellen Informationen aus, um daraufhin den Geburtsprozess und die Wehen zu bewerten. Für die Frauen wird das vor allem dann deutlich, wenn sie sich den routinierten, scheinbar unabwendbaren Kontrolluntersuchungen unterziehen: Was mich sehr genervt hat, war die ganze Zeit dieses CTG-Band. Ich hätte nicht gedacht, dass man das die ganze Zeit tragen muss. Das fand ich so’n bisschen eingeschnürt (lacht). (Jelena II: 89ff.) Nachdem sie in den Kreißsaal kommt, bekommt Jelena das CTG umgelegt und verbleibt dadurch die gesamte Geburt lang auf der rechten Seite liegend. Sie wundert

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sich und fühlt sich mit dem Band unwohl, dennoch bittet sie nicht darum, es ablegen zu können. Der Anrufungscharakter dieser Kontrollpraktik und -objektivation wirkt so stark, dass sie als notwendiger Zwang erscheint. Die Praktik geht mit einer liegenden, ruhigen Position einher, um optimale Messergebnisse zu liefern. Die Messungen von Wehen, Herztönen und Öffnung des Muttermundes sind für die Frauen nicht vollständig zugänglich, sie sind angewiesen auf die Erhebung und Deutung durch die professionellen Geburtshelfer*innen. Gerade zu Beginn der Geburt reflektieren die Frauen eine Skepsis der professionellen Geburtshelfer*innen, die ihnen entgegenschlägt: Handelt es sich wirklich um den Geburtsbeginn und effektive Wehen? Erst nach der Objektivierung des subjektiven Empfindens mithilfe der CTG- und Muttermunduntersuchung ist der Geburtsprozess für die professionellen Geburtshelfer*innen einschätzbar. Die Frauen begegnen dieser Skepsis mit Verständnis. Die Praktiken der Schmerzlinderung erfahren interessanterweise kaum Anwendung oder werden durch die Frauen selten thematisiert. Nadine beschreibt die Rückenmassage durch ihre Hebamme vor der Fahrt in die Klinik und Johanna die selbstverständliche Gabe von Schmerzmitteln bei ihrer eingeleiteten Geburt. Auffällig ist, dass bei der komplikationsreichen und dramatischen Geburt von Michaela die Linderung ihrer Schmerzen nicht im Zentrum der Praktiken steht. Ne PDA wollt ich ja nicht haben, //Mhm// und das war auch überhaupt nicht mehr Thema. Also da wurde auch im Krankenhaus nicht mehr danach gefragt //Mhm// oder es gab irgendwie nicht die Entscheidung: ›Sollen wir ’ne PDA machen? Möchten sie ’ne PDA?‹ //Mhm// (deutliches Einatmen) Oder sonst irgendwas. So. (.) Da war überall so wegen den Schmerzen, (.) da gab’s null Kommunikationen. Es wurde darauf eigentlich nicht (.) eingegangen. Und es wurde dann auch= (.) Ja, also es gab eigentlich auch nichts, was da irgendwie Erleichterung verschafft hätte. (Michaela II: 769ff.) Die Schmerzlinderung wird weder durch die professionellen Geburtshelfer*innen noch durch Michaela selbst kommuniziert oder überhaupt thematisiert. Damit ist Michaela dem Schmerz ausgeliefert und sieht selbst auch keinen Ausweg, es gibt nichts, das ihr in dieser Situation Erleichterung verschafft. Neben der Steuerung der Geburt und der Extraktion des Kindes aus einer gefährdeten Lage sind Michaelas Bedürfnisse und ihre Schmerzen nicht mehr von Belang, sie treten hinter die Bedürfnisse des Kindes zurück. Auch die Schmerzlinderung durch die willkürliche Bewegung der Frauen spielt in den Interviews kaum eine Rolle. Der Positionswechsel von der linken auf die rechte Seite und die implizite Anrufung zu einer liegenden Position durch die dauerhafte CTG-Untersuchung scheint eher der Untersuchung des Kindes als der Schmerzlinderung der Frauen zu dienen. Die Gebärposition und Haltung der Frau,

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

so scheint es, muss angeleitet werden und kann sich nicht nach ihren Bedürfnissen frei entfalten. Die Schmerzlinderung, so kann geschlussfolgert werden, steht in vielen Fällen nicht im Mittelpunkt der Geburtshilfe oder wird von den Frauen als solche kaum wahrgenommen. Durch die professionellen Geburtshelfer*innen, so wird in den meisten Interviews deutlich, werden Schmerzmedikamente, scheinbar einmalig, angeboten. Komplementärmedizinische Schmerzlinderungen, wie Bewegungsfreiheit, Massagen oder Akkupunktur, scheinen gegenüber den medikamentösen Lösungen kaum zur Anwendung zu kommen oder auch nur angeboten zu werden. Anders ist es mit Praktiken und Medikamenten zur Regulierung der Geburtsdauer. Die Frauen erwähnen Medikamente zur schnelleren Öffnung und Erhöhung der Flexibilität des Muttermundes, den Gebrauch eines Tropfes zur Regulierung oder Einleitung der Wehen, Dammschnitte, die Öffnung der Fruchtblase, der KristellerHandgriff oder die Anleitung von Geburtspositionen und Atemtechniken zur Unterdrückung des Pressdranges. Immer erscheint es, als ob der Körper der Frauen nicht gut genug Wehen produziert, es kein Passungsverhältnis zwischen Kind und mütterlichem Becken gibt oder ihr Pressdrang und Bewegungswunsch erst einmal nicht richtig wäre. In der Geburtshilfe gibt es den professionellen Anspruch zur Aufklärung über alle Behandlungen und Eingriffe und Einholung der Zustimmung von Patient*innen, allerdings gilt das nicht für Kontroll- und Überwachungspraktiken. Diese unterliegen vielmehr dem institutionellen Qualitätsmanagement der Klinik und den Anforderungen der Richtlinien. Sie werden damit nicht angeboten oder verhandelt, sondern einfach angewendet. Auch wenn sie die Frauen in ihrer Beweglichkeit einschränken oder invasiv sind. Die Durchführung von regelmäßigen oder permanenten CTG-Untersuchungen oder das Legen eines venösen Zugangs gehört im überwiegenden Anteil von Kliniken zu standardisierten Routinepraktiken. Andere Behandlungen, wie die Gabe von Schmerzmitteln, Medikamenten zur Beschleunigung oder Verlangsamung der Geburt ebenso wie invasive Eingriffe, erfordern die Zustimmung der Gebärenden, zumindest theoretisch und rechtlich. Das heißt, in den Interviews müssten sich Situationen finden lassen, in denen Frauen Entscheidungsoptionen offeriert werden und in denen sie abwägen. Wie oben bereits ersichtlich wurde, sind die interviewten Frauen eher verunsichert durch die kognitive Herausforderung, Entscheidungen zu treffen, deren Ausmaß und Wirkung auf die Geburt sie kaum überblicken können. Außerdem scheint es Entscheidungen zu geben, die nur innerhalb des Teams diskutiert und getroffen werden und bei denen die Frau kaum einbezogen wird. Michaela beschreibt dieses Vorgehen exemplarisch:

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Und dann ging das auch recht schnell, dass irgendwie die Herztöne vom Kind irgendwie nicht mehr gut waren //Mhm// und dass dann irgendwie ganz rasch auch die Entscheidung gefällt wurde. Also es muss jetzt irgendwas passieren. ((Deutliches Einatmen)) Man muss das Kind jetzt irgendwie holen. Also wir brauchen ’ne Saugglocke. Und ähm //Mhm// genau, (.) und dann ähm (.) hat das letztendlich dieser Assistent entschieden, beziehungsweise der hat dann noch mal Rücksprache mit seinem Hintergrundsarzt ähm (.) ge=gehalten. Also der hat das dann=, im Endeffekt hat der das dann glaub ich entschieden. (Michaela II: 124ff.) In einer Entscheidungssituation, die auf eine Notsituation des Kindes schlussfolgern lässt, werden der Gebärenden keine Optionen dargeboten, sondern diese nur unter den professionellen Geburtshelfer*innen verhandelt und abgestimmt, um den operativen Eingriff mit einer Saugglocke zu legitimieren. Der Einsatz einer Praktik zur Beschleunigung und Beendigung der Geburt, bei gleichzeitiger medikamentöser Verlangsamung der Wehen, erscheint alternativlos und als durch die Geburtshelfer*innen zu lösendes Problem. Nicht die Eigeninitiative oder Beruhigung der Gebärenden steht im Vordergrund, sondern der Notzustand des Kindes, welches im Mutterleib in Gefahr gerät. Die Emotionsregulierung wird in den Interviews vor allem durch die Hebammen geleistet: sie feuern an, geben Zuspruch, motivieren oder sind einfach nur anwesend. Vor allem bezüglich der permanenten und andauernden Anwesenheit der Hebammen beschreiben die Interviewten eine positive Wirkung auf sich selbst. Als Jelena befürchtet, sie könne die letzte Phase der Geburt nicht bewältigen, sichert ihr die Hebamme beispielsweise zu, die Geburt gemeinsam zu vollbringen: Und ähm, (.) vor= kurz vor den Presswehen hab ich die Hebamme noch gefragt, [(lachend) ob ich das jetzt schaffe.] Weil ich auch nicht wusste, was auf mich zukam und dann hat die so’n bisschen irritiert geguckt und irgendwie gesagt: ›Ja, wir beide schaffen das jetzt, ne?‹ (lacht) Und da war ich froh. (Jelena II: 68ff.) Die Zusicherung der Hebamme und deren Aneignung des Geburtsprozesses zu einer gemeinsamen Leistung bestärken Jelena und geben ihr Sicherheit. Sie ist herausgelöst aus der Zuschreibung, die Geburt allein bewältigen zu müssen. Partner*in oder andere private Geburtsbegleiter*innen Der Partner ist bei den Geburten der interviewten Frauen immer dabei, eine Ausnahme bildet Freya, deren Partner sich in einem Nebenraum befindet. Diese Tatsache unterstreicht, wie stark sich in den letzten Jahren die Anwesenheit des Partners etabliert hat und wie bedeutsam die Gebärenden dessen Anwesenheit bewerten. Dabei sind nicht sein Handeln, sondern die Anwesenheit, das gemeinsame Erleben und der Zuspruch von zentraler Bedeutung für die Frauen. So unterstreichen Jelena und Johanna:

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Und der [Partner] war die ganze Zeit da, das war total gut. Hat mir auch so’n bisschen geholfen. (Jelena II: 664f.) Mein Mann war dabei, (.) auch im Geburtssaal, (.) im Kreißsaal. Die ganze Zeit. (Johanna II: 33) Als eine Art Co-Pfleger sichern private Geburtsbegleiter*innen die konstante Betreuung und Anwesenheit bei den Frauen ab, auch wenn professionelles Personal nicht anwesend ist. Ihre Anwesenheit kann Sicherheit oder Ruhe vermitteln, daneben ist das gemeinsame Erleben der Geburt ein Paradigma der heutigen, familiennahen Geburtshilfe. Dabei wird die Anwesenheit des Mannes bei der Geburt durchaus kritisch diskutiert.14 So beschreibt auch Nadine die Anwesenheit des Partners: Na der ist da immer ›n bissel (.) so. (.) Der hält sich da auch gerne immer ›n bissel zurück. (.) Und ich dann auch so irgendwann so bei den letzten= (.) ›[Partner], komm jetzt mal hier rum.‹ //(lacht)// Na der sollte auch mal um’s Bett drum rum kommen, na? Der stand irgendwie so dahinter. (Nadine II: 74ff.) Sie beschreibt ihren Partner als zurückhaltend und versucht ihn aktiv in das Geschehen zu integrieren. Bei der ersten Geburt ist ihr Partner ohnmächtig geworden, dennoch ändert diese Tatsache nichts an der Selbstverständlichkeit, dass er bei der Geburt anwesend ist. Bei den Praktiken des Kontrollierens und Messens betrachtet Jelenas Partner interessiert das CTG und fragt bei der Hebamme nach. Auch beim Treffen von Entscheidungen ziehen die Frauen ihre Partner zurate oder überlassen ihnen das Treffen von Entscheidungen. Eine zentrale Position schreiben die interviewten Frauen den Partnern bei der Gefühlsregulierung zu. Die Anwesenheit und Nähe der Partner*in ist für die Frauen wichtig und bedeutsam, sie schafft Vertrautheit und potenzielle Beruhigung in einer fremden Umgebung und Situation. Außerdem erhalten sie von den Partner*innen motivierenden Zuspruch und körperliche Nähe. Es fällt in den Aufgabenbereich der Männer, organisatorische Aufgaben zu übernehmen oder der Frau Unterstützungsleistungen anzubieten. Das ist so der Part, den er, mein=mein Freund, dann übernimmt. //Ja// (Lacht) Irgendwie, so das Kinder-Drumherum-Organisieren. Irgendwelche Sachen da aufbauen. (Sabina II: 105ff.)

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So gibt es Männer, die Sorge vor der eigenen Hilflosigkeit und Überforderung in der Situation der Geburt haben und damit der diskursiven Adressierung der alternativlosen Anwesenheit widersprechen. Außerdem lässt sich die Konstruktion des ›müden Mannes‹ rekonstruieren, der sich im Angesicht einer langen Geburt gegebenenfalls aus dem Geburtsgeschehen zurückziehen können muss. Dem Mann wird hier, im Gegensatz zur gebärenden Frau, Ermüdung und Entkräftung zugestanden (vgl. Seehaus/Rose 2015: 100f.).

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Die Aufgabe des Partners besteht für Sabina in der Organisation der Kinderbetreuung für die älteren Geschwisterkinder und in der Herrichtung des Geburtsortes, auch wenn das bei ihrer vierten Geburt nicht nötig ist. Außerdem berichten manche Frauen von Besorgungen oder Handreichungen durch ihre Partner*innen. Die Partner*innen oder andere potenzielle Geburtsbegleiter*innen nehmen auch selbst an Körperpraktiken teil, indem sie mit der Frau gemeinsam die Wehen verarbeiten oder tönen, auch das aktive Stützen in vertikalen Geburtspositionen ist möglich. So berichtet Lenka: Da haben wir uns so ein= (.) ein(.)gegroovt wir beiden. Also [Partner] und ich. Der hat immer gesagt: ›tiefer‹, (.) also ich hab immer ›oh‹ gemacht, ne? […] Genau, wir haben gemeinsam getönt. [Partner] hat meistens mitgetönt und er hat immer aufgepasst, dass ich nach jeder Wehe, dass ich ein bisschen Wasser trinke und (.) hat=hat das echt wirklich sehr gut gemacht alles. Die ganze Zeit. (Lenka II: 45ff.) Weil ich immer das Gefühl hatte, (.) dass das ähm= (.) dass das [Partner] mich leitet. Das hat mir gereicht. Ich wollte nicht mehr. //Ja// So. Aber wahrscheinlich hat er das, was die Hebamme wollte ve= übersetzt. (Lenka II: 298ff.) Lenka beschreibt ein gemeinsames Gebären des Kindes. Ihr Partner tönt und atmet mit ihr. Sie hat das Gefühl, von ihm angeleitet und umsorgt zu werden. Die Hebamme tritt in den Hintergrund, auch wenn Lenka retrospektiv vermutet, dass diese dem Partner Anleitungen und Hinweise gibt. Auch Johannas Mann gibt die Anweisungen der professionellen Geburtshelfer*innen an seine Frau weiter: Genau. (.) Und die Hebamme saß (.) vorne da. //Mhm// (.) Und die Ärztin stand an der Seite und hat gedrückt und mein Mann auf der Seite und hat meine Hand festgehalten. //Mhm// (Lacht) (.) Nee, meinen Kopf. (.) Ich glaub der hat immer hier=, (.) weil ich hab die ersten zwei, drei, vier Mal nicht so richtig geschnallt, was die jetzt eigentlich von mir wollen. (.) Dass ich (.) den Kopf einfach nur hier vorlegen soll (.) und schieben soll (.) praktisch. //Mhm// (.) Ich hab dann aber noch versucht, ’n bisschen zu atmen (.) und (.) [(lachend) Töne von mir zu geben.] (.) //Mhm// Aber das wollt ich alles nicht. Und dann haben sie dann […] meinen Mann mit animiert. (.) //Mhm// So (.) damit ich den Kopf jetzt runter mache. (Johanna II: 178ff.) Johanna wird während der Austreibungsphase dazu aufgefordert, ihr Kinn auf die Brust zu legen, versteht in dem Moment jedoch nicht, was die professionellen Geburtshelfer*innen von ihr verlangen. Angeleitet drückt ihr Partner ihren Kopf nach unten, um ihr körperlich zu zeigen, was sie tun soll.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Ankunft des Kindes Die Geburt des Köpfchens und kindlichen Körpers ist im Vergleich zur ganzen Geburt oder dem gesamten Reproduktionsprozess nur ein sehr kurzer Abschnitt und umfasst eine vergleichsweise geringe Anzahl der zu bewältigenden Wehen. Dieser Abschnitt beginnt mit dem Tiefertreten des kindlichen Kopfes ins Becken und die Vagina sowie dem Einsetzten der sogenannten Presswehen oder des Pressdranges. Auch wenn der Moment des Austretens des kindlichen Kopfes und der vollständigen Geburt des Körpers gesellschaftlich als zentraler und emotionaler Augenblick gedeutet wird, ist er im Interviewmaterial erzählerisch gar nicht so aufgeladen wie erwartet: Ich glaube, die ersten zwei Presswehen hab ich auch irgendwie noch versucht zu (.) veratmen und irgendwie so gegenzuwirken. //Ja// Und (.) ja, (.) und dann kamen irgendwie noch mal zwei (.) und da hab ich gefragt, ob’s noch lange dauert und da hat sie gemeint: Naja vielleicht noch zwei Wehen. Und dann (.) hat die Ärztin gesagt, dass sie den Po noch zurückhält bei der nächsten Wehe, damit dann bei der übernächsten Wehe halt (.) das komplette Kind rauskommt. Und dann, (.) platsch gemacht (lacht) und dann lag er da. (Nadine II: 51ff.) Nadine kannte von der ersten Geburt die Aufforderung, dem Pressdrang nicht nachzugeben und versucht auch bei dieser Geburt, die Wehen zu veratmen, erhält hierfür jedoch keine Anleitung und fragt noch einmal nach. Sichtbar wird in dieser Sequenz Nadines fest verankerte Vorstellung, den Presswehen nicht einfach nachgehen zu können, sondern das Einverständnis und die Absicherung eines*r Ärzt*in oder Hebamme zu benötigen. Die Presswehen scheinen eine exponierte Phase der Geburt zu sein, in der die Frauen verstärkt dazu angehalten werden, ihren Körper zu kontrollieren beziehungsweise nicht den körperlichen Impulsen nachzugehen, auch wenn das eine anstrengende und schmerzhafte Aufgabe zu sein scheint. Auf Nachfrage stellt die Ärztin Nadine das nahe Ende der Geburt in Aussicht und beschreibt ihr weiteres Vorgehen. Nachdem der Po geboren wird, kommt während der nächsten Wehe das komplette Kind. Dabei ist die Schilderung keineswegs bildlich oder ausgeschmückt. Das Kind ist geboren und einfach da. Diese kurze Sequenz wird im gesamten Material selten übermäßig ausgebaut. Vielmehr ist die Beschreibung der letzten Phase der Austreibungsperiode durch den Durchtritt des kindlichen Kopfes (oder des Pos) und die Anzahl der Wehen, bis der restliche Körper geboren wird, gekennzeichnet. In Jelenas Geburtsbericht wird die Ankunft des Kindes sogar fast unsichtbar: Und ähm (.) dann ähm (.) ist halt alles problemlos gewesen. Der hatte wohl die (.) Nabelschnur um (.) den Hals gehabt […] und hat die Hebamme aber prima gelöst. (.) Und auch die Nachgeburt hat die sofort rausgeholt. Hat irgendwie (.) noch mal= (.) kam noch mal glaub ich ’ne Wehe, hat die noch mal draufgedrückt auch auf

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meinen (.) Unterleib. //Mhm// Und dann war sofort= war ich auch froh. Ich hab gelesen, das kann auch noch mal zwei Stunden dauern (lacht). Da hätt ich jetzt keinen Bock drauf gehabt. […] Und denn, (.) der [Partner] durfte die Nabelschnur durchschneiden und alles. (.) Der hat ganz viele Haare der [Sohn]. […] Hat dann ähm= haben die noch gesagt: Ach, man sieht schon die Haare. Willste mal fühlen? (Lacht) [(lachend) Ich hab nur gedacht: Nee, ich will nix fühlen] (lacht). Dann hat er am Ende noch mal kurz (.) gestrampelt, //Ja// als er schon fast draußen war. Fand ich auch witzig. //Ja// Vielleicht wollt er noch mal mithelfen oder so was? Keine Ahnung. (.) Und dann legen die das Kind ja einem=, also ich lag ja eben auch auf dem Rücken, auf’m Bauch. Und da hab ich (.) nur gedacht, jetzt bin ich aus dem Schneider. (.) Jetzt//(Lacht)//können die anderen alle ihren Job machen. (.) Jetzt brauch ich nichts mehr machen, ne? War ich echt erleichtert. (Jelena II: 92ff.) Mit der einfachen Beschreibung, die Geburt wäre komplikationslos verlaufen, fährt sie fort mit dem weiteren Verlauf, also der Förderung der Nachgeburt durch die Hebamme und die Durchtrennung der Nabelschnur durch ihren Partner. Erst in diesem Moment beschreibt sie die eigentliche Geburt des Köpfchens doch genauer. Deutlich wird vor allem ihre starke Erleichterung, die Geburt, den größten Schmerz und die Anstrengung hinter sich gebracht zu haben. Die Aspekte des Abschlusses und der Erlösung am Ende der Geburt sind deutlich sichtbar. Eine genaue Beschreibung der Ankunft des Kindes erfolgt erst auf Nachfrage. Eine Ausnahme bildet die Schilderung von Lenka, die die Geburt und die damit einhergehenden körperlichen Empfindungen detailliert beschreibt: Und ich mich hingekniet und hatte meinen Kopf in seinem Schoß und meine Hände um seine= //Ja// seinen Rumpf so. Und so bin ich dann auch geblieben bis= so kam sie auch zur Welt. Sozusagen im Knien. //Mhm// Wie lange das noch gedauert hat, weiß ich auch nicht mehr. (.) Aber ähm (.) es g= (.) es ging relativ gut. Ich konnte ziemlich (.) früh=, da hatt‹ ich das Gefühl, ich kann mitmachen. Also ich weiß nicht, ob ich’s zu früh gemacht hab. War mir aber auch=, also eigentlich glaub ich nicht. Weil es hat gefühlt was gebracht. //Mhm// Mh ,(.) und der Kopf: hat natürlich ’ne Weile gedauert, bis der raus ist. Der kam dann auch erst= also man merkt das ja, //Mhm// diesen Widerstand, oder diesen ersten Widerstand wahrscheinlich. Ganz raus ist dann noch mal was anderes. (.) Aber da ist er wieder rein und da nach der Wehe: (schnalzt mit der Zunge) wieder (.) zurückgerutscht, drei oder vier Mal. (.) Und da hat sie nachher dann gesagt, da wäre die (.) Nabelschur auch zweimal um, war= und wahrscheinlich ’n bisschen (.) //Mhm// halt ’n bisschen (.) zurückgezogen halt. Aber ging alles gut. Und dann ist sie so auf die Welt gekommen. Das tat= das tat am Ende noch mal richtig weh. //Mhm// Da dacht ich, sie reißt mir da die Schamlippen auseinander, die Hebamme dacht ich ist das. […] Ich dachte, sie will dem Kind helfen und zieht da so mit. Ich hatte es richtig vor Au-

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

gen, mit zwei Fingern jeweils so ›chrrr‹. Und da dacht ich= aber das war alles dein Kopf. (Lacht) Oder? und dann war sie da, ganz hübsch, (.) ’n bisschen oliv getönt, so’n bisschen. (.) Relativ dunkel war die. //Ja// Viele Haare. Überraschend. Das hat mich überrascht, (.) //Mhm// dass sie viele Haare hat. (.) Und (.) komplett= (lacht) und die Wehen waren weg. (.) Das war schön, das war so schön. (.) Ja, (.) aber (.) echt krass, was man da für Kräfte entwickelt, ne? //Ja// Das war auch (.) //Mhm// schon ›n Erlebnis, wie= wo das herkommt. (Lenka II: 94ff.) Ausführlich, genau und bildlich beschreibt Lenka in dieser Sequenz das Gefühl, wenn der kindliche Kopf immer weiter durch die Vagina kommt und das Kind einen ›Widerstand‹ überwinden muss. Das Kind kommt nicht schnell oder linear durch den Geburtsweg, sondern rutscht immer wieder ein kleines Stück zurück. Auch Lenka ist sich nicht sicher, richtig gehandelt zu haben, indem sie mit den neuen Empfindungen den Wehen nachgibt und mitarbeitet. Intensiv beschreibt sie die Geburt des Köpfchens als einen sehr schmerzhaften Moment, bei dem sie das Gefühl hat, die Labien würden durch die Hebamme gewaltsam aufgerissen. Dass es jedoch die Kraft des kindlichen Kopfes ist, reflektiert sie erst später. Das Staunen über die Wucht dieses Vorgangs, der durch den kindlichen Kopf ausgelöst wird, wird deutlich. Dennoch spricht sie in diesem Moment liebevoll zu ihrer Tochter, obwohl diese den Schmerz ausgelöst hat. Der Schmerz und die Geburt des Kindes gehören zueinander. Nach der vollständigen Geburt ist das Kind einfach da und das Paar betrachtet es genau. Lenka beschreibt ausführlich die äußere Erscheinung der Tochter und die Überraschung angesichts der langen Haare. Durch die Lautmalerei wird ihre Begeisterung nachspürbar. Die Geburt des Kindes und den Moment danach bewertet sie wie Jelena doppelt positiv. Zum einen kann sie ihr Kind nun ansehen und sich von seiner Vollkommenheit und Gesundheit überzeugen, zum anderen sind die Geburt und die körperliche Anstrengung abrupt verschwunden. Sie reflektiert am Ende der Erzählung ihr Erstaunen über die eigene Stärke und Kraft, um die Geburt meistern zu können. Der letzte Abschnitt der Austreibungsphase ist damit die Phase mit starken Schmerzen, aber auch dem Bewusstsein, dass dieses Gefühl im Vergleich zum gesamten Verlauf der Geburt nur einen sehr kurzen Augenblick dauern wird. Hier geht es nun sehr schnell. Die Geburt endet erzählerisch meist mit der Ankunft des Kindes, dem abrupten Ende der Geburtswehen und dem Durchtrennen der Nabelschnur. Medizinisch endet sie mit der Geburt der Plazenta, was jedoch weniger thematisiert wird, und der Versorgung der Geburtsverletzungen. Eine weiterere Phase des ersten (Haut-)Kontaktes zum Neugeborenen, der Säuglingsernährung und des Wochenbettes beginnt. Besonders bedeutsam ist dabei der erste Hautkontakt zu den Eltern. Als Ritual erscheint die (meist professionell angeleitete) Ablage des Neugeborenen auf dem Bauch der Mutter, das sich in allen Interviews auffinden lässt. Dieses Ritual ist, wie viele der modernen Zeit,

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medizinisch legitimiert in Rückgriff auf die psychologische Bindungstheorie. Die erste Zeit nach der Geburt wird innerhalb der Theorie als herausragende BondingPhase beschrieben, die den Grundstein für die Mutter-(Eltern-)Kind-Bindung bildet und nicht gestört werden darf. Selbst Michaela, die eine dramatische Geburt erlebt, wird eine kurze Bonding-Phase gewährt, bevor das Kind zur medizinischen Überwachung in ein anderes Zimmer verlegt wird. Es ist besonders diese Trennung, um die sie sich sorgt, weil diese sich laut der Theorie negativ auf die Beziehung zum Kind und dessen psychische Entwicklung auswirken könnte. Auffällig ist des Weiteren die sprachliche, visuelle und körperliche Hinwendung zum anwesenden Kind während dieser Sequenz, sofern sie im Interview thematisiert wird. Ab der Ankunft des Kindes ist es ein interaktives Gegenüber, das diesen Moment miterlebt hat. Darin kommt die Ankunft eines neuen Menschen und eines erwachenden kindlichen Bewusstseins zum Ausdruck, das in diesem Moment noch einmal stärker wahrgenommen wird.

5.2.2.4

Zwischenfazit – Die Geburt als sozialer Prozess

Abbildung 6: Die Geburt als sozialer Prozess

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Die in Kapitel 4.2 aufgeführten Praktiken sind den verschiedenen Akteur*innen im Feld der Geburt in unterschiedlichem Umfang zugänglich. Aus den Beschreibungen wurde ersichtlich, dass die heutige Geburt eine Schnittmenge aus einem professionell-öffentlichen und einem privaten Ereignis ist. Geburt erscheint damit nicht als Eigenleistung eines autonomen, weiblichen Subjekts, sondern als ein fortwährender sozialer Austausch und Kommunikation zwischen den beteiligten Akteur*innen. Während die Frau und das Kind die Geburt körperlich und emotional vollbringen, kann sich die Frau positionieren und körperlich ausrichten, ihre Atmung und ihre Geräusche mehr oder weniger lenken. Sie hat einen privilegierten Zugang zu ihrem körperlichen Empfinden, was Rückschlüsse auf den Geburtsprozess zulässt. Sie kann Wünsche und Bedürfnisse oder Anweisungen formulieren, sich mitteilen und so anderen ihr persönliches (körperliches) Erleben zugänglich machen. Gleichzeitig kann sie Anweisungen und Anleitungen folgen und ihre Bewegungen oder Atmung den Anforderungen in einem gewissen Maß anpassen. Den professionellen Geburtshelfer*innen wiederum obliegt die objektive Einschätzung des Geburtsverlaufes sowie des gesundheitlichen Zustandes von Mutter und Kind anhand unterschiedlicher Kontroll- und Untersuchungspraktiken. Durch ihr medizinisches Fachwissen und die berufliche Zertifizierung können sie unterschiedliche Medikamente oder Praktiken zur Auswahl anbieten, verabreichen oder durchführen. Angesichts eines (selbst definierten) Notfalls scheint die Zustimmung der Gebärenden keine wesentliche Voraussetzung für eine medizinische Anwendung zu sein. Partner*innen oder andere Geburtsbegleiter*innen gewährleisten besonders in Kliniken eine permanente Anwesenheit, sie werden aktiv in Praktiken einbezogen. Besonders die Anwesenheit von Männern wird diskursiv ambivalent als Selbstverständlichkeit und Überforderung verhandelt (vgl. auch Seehaus/Rose 2015: 96): Männer könnten Geburten in Anbetracht von Blut, Leid und Schmerz nicht verkraften, anekdotisch werden sie ohnmächtig dargestellt, gleichzeitig ist der anwesende Vater eine ›Normalitätsfigur‹. Die Positionen der Akteur*innen im Geburtsgeschehen sind aber keineswegs als gleichrangig zu betrachten. Rechtlich wird das Selbstbestimmungsrecht der gebärenden Frau betont und ihr Aufklärungs- und Informationsrecht festgeschrieben. Gleichzeitig liegt die Expertise, das professionelle Wissen über Geburtsprozesse, notwendige Untersuchungen, die Verabreichung von Medikamenten sowie das Erkennen und Eingreifen bei Komplikationen aufseiten der Hebammen und Ärzt*innen. Sie tragen zudem die juristische Verantwortung, sind also in einem Schadensfall haftbar. Damit geht eine Hierarchisierung zwischen dem Lai*innenwissen, das aus weiblichem Erfahrungswissen, Körperwissen und interdiskursivem Wissen besteht, und dem Expert*innenwissen, das aus spezifischem Fach-

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wissen, einem objektiven Zugang zum Körper der Gebärenden und der Berufserfahrung zusammengesetzt ist, einher. Dem Expert*innenwissen als zertifiziertes, objektiv gedeutetes und wissenschaftlich legitimiertes Wissen kann ein höherer Wert beigemessen werden und es ist unter Umständen stärker handlungsleitend. Die ausgeprägte Hierarchisierung in der Institution des Krankenhauses kann diese Rangordnung noch verstärken. Abhängig ist die jeweilige Bedeutung und Wertung der unterschiedlichen Wissensarten von den kontextuellen Bedingungen und dem geburtshilflichen Grundverständnis der jeweilige Einrichtung (vgl. Tegethoff 2008: 163ff.). Aber auch andere regionale Bedingungen, wie die Leitung des Krankenhauses, ökonomische Voraussetzungen und die Betreuungssituation können hier ausschlaggebend sein. Das wiederum hat starke Auswirkungen auf die Geburt und die handlungsgleitende Relevanz der unterschiedlichen Positionen. Um zwischen den unterschiedlichen Positionen zu vermitteln, werden Kommunikation und körperliche Anleitung genutzt. Die gebärenden Frauen können Bedürfnisse, Wünsche und Entscheidungen kommunizieren, aber auch Anweisungen erteilen. Die professionellen Geburtshelfer*innen fordern auf, animieren, leiten körperliche Praktiken an, geben konkrete Anweisungen und kontrollieren durch Datenerhebung den Geburtsprozess. Die Position des Partners ist dabei situativ und persönlichkeitsabhängig, das Paar kann die Geburt als gemeinsame Aufgabe betrachten oder angesichts der Geburt eine Verteilung der Zuständigkeit praktizieren. Die Meinungen und Entscheidungen, das körperliche Mitgehen des Partners bei der Geburt durch die Adaption körperlicher Praktiken sind von Bedeutung.

5.2.3

Verstetigung und Wandel der vorläufigen Deutungen

Das Geburtserlebnis verarbeiten die interviewten Frauen im Wochenbett, also den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt. Dabei ist es gleichgültig, ob sie die Geburt als ein positives oder negatives Erlebnis beurteilen. Es bildet sich in ihrer Erinnerung eine Bewertung des Erlebten heraus, sie kann darin bestehen, die Geburt als ›gut‹, ›schön‹, ›ein bisschen traumatisch‹ oder ›dramatisch‹ einzuordnen. Dabei erscheint es den Frauen gleichsam als ambivalent oder paradox, die erlebte körperliche Herausforderung mit dem einhergehenden Schmerz als schön oder gut zu beschreiben. Mit der gedanklichen, aber auch narrativen Bewältigung kann eine Bestätigung oder Veränderung der entwickelten Deutungen der Geburt einhergehen. Bei Stefanie, Lenka, Jelena und Carmen konkretisieren und bestätigen sich die Deutungen der Geburt durch das Erleben, es kommt zu einer Passung zwischen den Vorstellungen und dem Ereignis, die durch das tatsächliche Erleben (der ersten Geburt) gegebenenfalls konkretisiert werden kann. Gefragt danach, ob die Geburt ihren Vorstellungen entsprach, antwortet Jelena:

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Im Ganzen hätt ich glaub ich echt damit gerechnet, dass es ähm, (.) dass es alles irgendwie alles länger (.) ist. Wobei man ja auch kein Zeitgefühl hat. //Ja// Ne? (.) Die Stunden sind ja wie nix vergangen im Prinzip. (.) Eigentlich war’s gar nicht so, wie ich mir das=, also auch schon von Anfang an (.) nicht. Ich hab dann ja die (.) die Wehen gespürt, aber dacht auch am Anfang, hmm, vielleicht Unterleibsschmerzen? Was ist das denn jetzt? (Lacht) //Ja// So. Kann einem ja keiner (.) vorfühlen, wie sich das anfühlen wird, ne? (.) Eigentlich war’s (.) war’s nicht so=, also ich glaub das kann man sich nicht vorstellen, [(lachend) würd ich jetzt mal sagen.] Aber genau. Was wiederum (.) ähm so ist, wie ich’s mir vorgestellt hab, ist dass das Kind (.) so (.) gesund, alles=alles dran, //Ja// war schwer genug. Hatte jetzt=, also es war ja=, man weiß ja da doch nicht, wie’s nachher aussieht, ne? //Ja// Das war alles super. […] Das war so, wie ich’s mir gewünscht hab. (Jelena II: 605ff.) Manche Vorstellungen der Geburt, beispielsweise eine aufrechte Gebärhaltung, entsprechen nicht dem eignen Erleben, auch das Erspüren der Wehen beschreibt Jelena als im Voraus unvorstellbar. Das antizipierte Ergebnis der Geburt, ein gesundes Kind, hat sich bestätigt. Insgesamt entspricht das Erleben den Wünschen und Vorstellungen, an anderer Stelle bewertet Jelena die Geburt als schön. Dadurch konkretisiert sich die Vorstellung von Geburt. Interessanterweise ist die natürliche Geburt in der zweiten Interviewwelle keine adäquate Beschreibung mehr für das Erlebte, selbst wenn sie ohne Interventionen verlief. Nach einer intensiven, schmerzhaften und anstrengenden Geburt erscheint der Begriff der Natürlichkeit nicht mehr adäquat und die Frauen artikulieren eine Bewertung der gesamten Geburt. Die Geburt, sofern nicht dramatisch, bewerten alle Frauen insgesamt im positiven Sinne als schön oder gut: Also eigentlich fand ich’s ’nen, ah schönes Erlebnis. //Ja// (Lacht) Es ist jetzt leicht zu sagen, weil’s ja vorbei ist, ne? //Ja// Aber kommt ja vielleicht auch gerade da, man hat’s ja überstanden. //Ja// Das war eigentlich ’nen= also weil’s ja auch so’n tolles Kind dabei rausgekommen ist. Das fand ich eigentlich ’n schönes Erlebnis. (Jelena II: 729ff.) Aus den Analysen ergibt sich, dass Geburt auch bei komplikationslosem Verlauf und Bestätigung der Deutung ambivalent bleibt: Es ist ein Erlebnis, das sich lohnt, um ein Kind zu bekommen. Gleichzeitig ist es anstrengend und in der konkreten Situation der Geburt unangenehm, nervig und durchaus, wenn auch nicht immer, krisenhaft. Insgesamt bewerten die Frauen, bei denen sich Deutungen bestätigen, die Geburt als positiv, selbst wenn sie vorher in der Narration die Existentialität der Geburt beschreiben. In anderen Interviews können Momente des Wandels herausgearbeitet werden, die das dynamische Interviewmaterial mit zwei Erhebungswellen und die unterschiedlichen Geburtsdeutungen gut fassen können. Dabei setzten Momente des

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Wandels eine Geburt nicht unmittelbar voraus. Sie können angesichts einer weiteren anstehenden Geburt, in der späteren Reflexion der Geburt, in Konfrontation mit anderen Geburtsnarrationen oder diskursiven Ereignissen entstehen. Das Erlebte passt nicht zu den Vorstellungen, sodass die Deutungen angepasst werden. Exemplarisch sei hier der Fall Sabina aufgeführt, sie hat bereits vier Geburten erlebt. Obwohl alle Geburten von ihr positiv bewertet werden, beschreibt sie viele Veränderungen ihrer Deutung von Geburt. Insgesamt reflektiert sie, dass ihre Vorstellungen von Geburt im Laufe der Zeit einem grundlegenden Wandel unterlagen. Solche Momente des Wandels entstehen dann, wenn sie über Schwangerschaft und Geburt nach einer erlebten Geburt nachdenkt. Aus den beiden Interviews, die vier Geburtserzählungen beinhalten, lassen sich drei Momente herausarbeiten, in denen sich ihre Einstellung ändert. Ein Moment besteht in der Aufarbeitung der ersten Geburt und Schwangerschaft. Ein zweiter Moment lässt sich nach der zweiten Geburt feststellen, als Sabina bewusst wird, dass sie die Geburt nicht wie gewünscht als schön empfinden konnte und ein dritter Moment wird sichtbar, als Sabina von ihrer vierten Geburt berichtet. Im Folgenden betrachte ich diese Momente genauer. Die Einstellung zur Geburt und die Vorstellung von Geburt hat sich bei Sabina »total verändert […] im Lauf meiner Biographie« (I: 11f.). Sie erzählt hier von einer starken Transformation, was erstaunlich erscheint, denn sie war auch bei der ersten Geburt klinischen Interventionen und dem Krankenhaus gegenüber kritisch eingestellt. Nach der Geburt beginnt sie, die erste Schwangerschaft aufzuarbeiten. Sie merkt: So diese ganzen Frauenarzttermine, die haben mir eigentlich nicht wirklich gutgetan. Also die haben mir halt (.) dann immer das Gefühl gegeben, irgendwas= also es wurde immer so nach Pathologien gesucht und (.) die war’n nie da, zu meinem großen Glück aber. (.) Es hat mir halt auch nicht das Ver= also das so Vertrauen in mich (.) gegeben. (Sabina I: 73ff.) Die standardisierten Routineuntersuchungen in der ersten Schwangerschaft verunsichern und stören sie retrospektiv, außerdem nehmen sie viel Zeit in Anspruch. Mittlerweile sucht sie sich aus dem Angebot der Vorsorge heraus, was sie in Anspruch nehmen will. Es vollzieht sich ein starker Wandel von einer »ziemlich starke[n] Antihaltung« (I: 1039), mit der sie viele medizinische Vorsorgeuntersuchungen ablehnt, zu einer Haltung, bei der sie sehr klar formuliert, welche Untersuchungen sie haben möchte. Sabina schildert ihre schrittweise Befreiung vom routinierten Vorsorge- und Betreuungssystem, indem sie zunächst viele Untersuchungen ablehnt, um sich später als selbstbewusste Konsumentin die Vorsorgeuntersuchungen auszusuchen, die sie haben möchte. Diese Befreiung von der normalisierten Schwangerschaftsbegleitung geschieht nicht abrupt, sondern ist ein aktiv gestalteter Prozess. Dabei geht es auch darum, für sich selbst zu begreifen, dass die

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Vorsorgeuntersuchungen kein Zwang sind. Sie nimmt in der Schwangerschaft einige ausgewählte Vorsorgeuntersuchungen wahr, diese Auswahlmöglichkeiten und die Finanzierung über die Krankenkasse empfindet sie sehr positiv. Außerdem stellt sie sich nach der ersten Geburt, die sie als positiv und bestärkend beschreibt, die Frage, ob es Frauen gibt, die die Geburt ohne Hebamme erleben. Sie schildert einen inneren Dialog, der von wiederkehrender Gegenrede geprägt ist und von einer Geburtsgestaltung, die über ihr Vorstellungsvermögen geht. Sie ist ungläubig und fragt sich, wie eine Geburt allein bewältigt werden kann. Immer wieder beantwortet sie sich ihre Frage selbst – eine Geburt ohne professionelle Begleitung ›geht nicht‹ und ›gibt’s nicht‹. Davor (.) hab ich da schon mal drüber nachgedacht. Kann das eigentlich sein, dass (.) Frauen ohne (.) Hebammen oder so= Und ich dachte, nee, das geht doch gar nicht. Irgendwie. Also es war so außerhalb meines (.) Vorstellungsvermögens. (Sabina I: 81ff.) Als sie während der zweiten Schwangerschaft auf ein Alleingeburtsvideo im Internet aufmerksam wird, ist das für sie ein einschneidendes Erlebnis. Sie beginnt, sich fachlich mit dem Thema zu beschäftigen und entscheidet sich für eine ›freie Geburt‹. Ich hab mir einfach die Freiheit rausgenommen, wie ich dachte, so ist es am besten. Nicht weil das andere (.) unbedingt dachten, das ist jetzt ganz schlecht. //Mhm// Aber (.) ich hab mich einfach jetzt nicht davon=, meine Entscheidung nicht davon abhängig gemacht, ob (.) dann irgendein Risiko noch abgewendet wird. Weil die Risiken, die sind halt alle dann so, (.) in der Beschäftigung haben sich so aufgelöst. (Sabina I: 96ff.) Sie betont, dass sie keine Deutungshoheit über eine gute Geburt als Alleingeburt beansprucht. Damit tritt sie möglichen Kritiken oder Einwänden an ihrer Position als Vertreterin der ›freien Geburt‹ von vornherein entgegen und bleibt gleichzeitig offen für einen eigenen Meinungswechsel. Es handelt sich nicht um eine abrupte Verschiebung, sondern einen langsamen Prozess, ein Herantasten mit anderen Optionen, die sie sich offenhält. Eine weitere Umwandlung der Geburtsdeutung ereignet sich nach der zweiten Geburt. Ein zentraler Wunsch war, durch die Form der ›freien Geburt‹ eine schöne Geburt zu erleben. Aber auch die zweite Geburt erlebt sie als schmerzhaft und anstrengend. Sie deutet Geburt nun als ein Erlebnis, das nicht schön sein kann. Sie revidiert ihren Wunsch. Ich dachte immer, ich=ich will so ’ne schöne Geburt haben. //Mhm// Dacht ich damals immer vorher. Das würd ich jetzt zum Beispiel nicht, [(lachend) also ich erwarte jetzt] nicht mehr, dass es ’ne schöne Geburt wird. (Sabina I: 102ff.)

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Die Wehen prägen das Erleben der Geburt so stark, dass sie die Geburt nicht wie erhofft genießen kann. Sie hat keine Lust auf die dritte und vierte Geburt. Ihr Unwille wird stark spürbar, durch Lautmalerei. In anderen Sequenzen betont Sabina ihren Unwillen und ihre Ausweglosigkeit, denn die Geburt erscheint ihr als etwas Alternativloses. Im zweiten Interview nach der vierten Geburt beschreibt Sabina eine gute Geburt, die sie als schnell und leicht empfindet. Aber es gibt etwas, dass sie »eigentlich immer noch (lacht) stresst oder (.) richtig stört« (Sabina II: 131). Von diesem Aspekt redet sie sehr ausführlich und intensiv, fast zehn Minuten lang und damit ein Drittel des Interviews, was dafür spricht, dass sie eine Situation erlebt hat, die im Widerspruch zu ihren Vorstellungen steht und demnach wieder einen Wandel nach sich ziehen könnte. Sabina beschreibt, dass die ihr unbekannte Vertretungshebamme gegen ihren Wunsch gleich am Abend der Geburt kam und eine Reihe von Untersuchungen durchführte, die sie nicht wollte. Sie konnte sich nicht gegen das Vorgehen der Hebamme wehren, relativiert diese Aussage jedoch gleich wieder und beschreibt, dass sie ihre Wünsche nicht klar formulieren und damit in dem Moment nicht ablehnen kann, was die Hebamme an sie und das Kind heranträgt. Mehrmals betont sie intensiv, dass sie nicht ›nee‹ sagen kann und ist gleichzeitig verwundert, dass sie es nicht kann. Sie erklärt es sich damit, dass sie nicht diskutieren möchte. Sabina beschreibt diese Erfahrung als Möglichkeit, etwas über sich zu lernen. Also das war mir davor gar nicht so klar, wie=wie empfindlich so diese (.) oder wie=, (.) also ich hab mich=, ich hab das mal mit so offen= ich hab mich so offen gefühlt in dem Moment und konnte die nicht so= //Ja// also ich hatte nicht so ’ne Schutzschicht um mich rum //Ja// in den Stunden nach der Geburt. Und (.) dann kam halt in dem Moment dann so das rein und konnte halt nicht abprallen //Ja// an irgendeiner Stelle. Und (.) da war ich nicht so drauf eingestellt, dass diese= (.) dass diese Schicht da nicht ist. //Ja// Das hab ich jetzt über mich gelernt (lacht). (Sabina II: 212ff.) Die Worte erzeugen eine starke Intensität. Durch die Geburt fühlt sie sich ›offen‹ und ihre ›Schutzschicht‹ ist nicht intakt, sie ist verletzlich und kann sich nicht wehren. Mit dem Besuch der Hebamme wird Sabina mit der starken Anrufung einer professionellen Versorgung nach der Geburt konfrontiert, die professionelle, medizinische Routinen beinhaltet, die Hebammen nach einer Geburt zu vollziehen und Frauen anzunehmen haben. Auch die standardisierten Vorsorgeuntersuchungen stellen eine solche Anrufung dar. Gegen diese kann sich Sabina durch strategisches Taktieren abgrenzen. Unmittelbar nach der vierten Geburt gelingt es ihr unerwarteterweise nicht, wodurch ihre eigenen Grenzen überschritten werden. Mit diesem neuen Wissen um ihre Verletzlichkeit erhält sie neue Erkenntnisse über ihre persönlichen Grenzen und Abwehrmechanismen beziehungsweise

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

fehlende Abwehrmechanismen in vulnerablen Situationen – und kann hier neue Strategien entwickeln. Ein weiterer Bereich umfasst nun ihre Vorstellung von Geburt, die sie verletzlich macht. Eingriffe von außen können trotz klarer Wünsche und Vorstellungen ihrerseits nicht abgewehrt werden. Michaela stellt den zweiten Fall dar, der hier näher beschrieben werden kann. Bei ihrer Geburt »hat sich alles ganz anders entwickelt als [(lachend] als ich mir das vorgestellt habe]« (5f.). Sie bezeichnet die Geburt als »irgendwie ernüchternd« (8), »jetzt nicht (.)//Ja//ähm schön« (9), »ne scheiß Geburt« (586), »in ’nem ganz dunklen Licht« (599), »kacke« (ebd.) und als »kein schönes Erlebnis« (ebd.). Die dramatisch erlebte Geburt hat starke Auswirkung auf ihr Verständnis von Geburt und steht in Diskrepanz zu ihren vorherigen Vorstellungen von einer natürlichen Geburt und ihren impliziten Erwartungen eines positiven Erlebnisses. Das erste negative Geburtserlebnis hat auch Auswirkungen auf ihren weiteren Kinderwunsch, den sie nun als eingeschränkt sieht. Ihre Geburtsvorstellungen bezüglich des zu erleidenden Schmerzes und Leids haben sich konkretisiert. Ein zweiter Wandlungsprozess geht unmittelbar nach der Geburt vonstatten, als sie ihre Nachsorgehebamme mit dem Konzept von Gewalt in der Geburtshilfe konfrontiert: Einerseits war das so, dass ich ähm= das hat das dann alles halt in ›n ganz anderes Licht gerückt. //Mhm// Also in ein= (4) Das ist eben die Frage, ja. Also einerseits wie gesagt war ich erleichtert, dass=dass ich die Empfindungen, die ich hatte, (.) also die= (.) dass mir da irgendwie ’n Unrecht widerfahren= //Mhm// Also ich fand das auch wirklich=, also ich fand das sehr, sehr verletzend, was der Assistent zu mir gesagt hat. Also von wegen so, ich soll da jetzt mal mitmachen gefälligst. Weil= //Mhm// (lacht) Also, ja. (Lacht) Das fand ich extrem verletzend. Und ähm ich wusste immer, wenn ich da am Anfang dran gedacht hab (.) oder mir die Szene so durch den Kopf gegangen ist, da sind mir auch irgendwie die Tränen gekommen //Mhm// (.) und das sozusagen dann zuzulassen. (.) Als= (.) also dass das wirklich quasi Unrecht war. Und=und=und eigentlich auch ’ne Gewalt, die mir da angetan wurde. Also ich hatte ja auch blaue Flecken da am Bauch und so.//Mhm okay//Dass das=dass das (.) ähm, (.) ja also, dass das zum Beispiel=, dass das Gewalt ist, und dass das überhaupt nicht so normal ist. Das=das kam mir bis dahin ja nicht in den Sinn. (Michaela II: 572ff.) Während Michaela direkt nach der Geburt froh ist, die Geburt überlebt und ein gesundes Kind zu haben, wird sie durch die Deutung des Geschehens als Gewalt durch die Hebamme in ihren Gedanken so beeinflusst, dass auch sie das Geburtserlebnis in einem ausschließlich negativen Licht sieht. Das negative Gewaltparadigma schließt die positiven Erfahrungen aus. Unmittelbar nach dem Ereignis beurteilt sie die schreckliche Geburt als Schicksal und verortet die professionellen Geburtshelfer*innen als rettend und unterstützend. Ihre Nachsorgehebamme hinge-

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gen bewertet das Geschehene als Gewalt und teilt ihre Einschätzung Michaela mit. Die daraufhin einsetzende Umdeutung bewertet sie zwiespältig: Zum einen findet ihr eigenes negatives, diffuses Empfinden einen Platz, zum anderen wird sie selbst zu einem Opfer von Gewalt. Die Geburt bewertet sie danach als sehr negatives Ereignis. Momente des Wandels entstehen folglich, wenn bei der Geburtserfahrung eine Dissonanz zwischen den Vorstellungen von Geburt und der Praxis entsteht oder die Frauen einen Zugang zu alternativen Wissensformen erlangen. Die Dissonanz der Erfahrung und der Zugang zu alternativen Wissensformen sind konstitutiv für den Wandel der Vorstellungen und des Handelns und können zusammenwirken, müssen es aber nicht. In anderen Interviews beschreiben die Frauen keine Dissonanz, die Deutungen bestätigen und verfestigen sich vielmehr. Das Kristeller-Manöver beschreibt Johanna nicht als gewaltvoll, sondern deutet es als notwendig und hilfreich für den Verlauf der Geburt. Das Erlebte integriert Johanna in ihre Vorstellung einer Geburt, die vor allem durch Untersuchungsverfahren und Interventionsmöglichkeiten sicher ist. Die Momente des Wandels begleitet eine Verschiebung der Deutung und der Deutungsprozess beginnt von vorne, muss dabei aber keine Geburt einschließen.

5.2.4

Individuelle Deutungsprozesse im dispositiven Feld der Geburt

Ein zentrales Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, das Verhältnis zwischen dem dispositiven Feld der Geburt und der Wirklichkeit gebärender Frauen in den Blick zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass dispositive Adressierungen nicht unweigerlich auf einen Effekt und die Aneignung durch die Individuen schließen lassen (Keller/Bosančić 2017: 31). In Anschluss an die Kritikpunkte an Foucaults Diskurstheorie stellt sich die Frage nach Agency (Handlungsmacht), Aneignung oder Entwicklung von Widerständigkeit gegenüber dem hegemonialen Dispositiv, aber auch nach Aneignung und Fortschreibung, in Abgrenzung zu einem den Diskursen unterworfenen Subjekt. Es ist also zu analysieren, welche Wirklichkeitseffekte der Wissens- und Machtstrukturen sich auf die Subjektivierungsweisen der gebärenden Frauen ausfindig machen lassen. In diesem ersten Teil des Auswertungskapitels nahmen das Interviewmaterial und die Erzählungen der Frauen einen großen Raum ein und wurden detailliert dargestellt, so konnte ein Deutungsprozess herausgearbeitet werden, der zentrale Kategorien aus dem Prozess des offenen und axialen Codierens integriert. Die Analyse der Deutungsprozesse wurde vorgestellt, worin vor allem Aspekte des Wissens und der körperlichen Eigensinnigkeit zum Tragen kommen. Der herausgearbeitete Deutungsprozess gebärender Frauen zur Geburt zeigt die Verwebung von Diskurs und Subjekt an mehreren Schnittpunkten, welche nun dezidiert zusammengefasst

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

werden. Als methodisches Brückenkonzept diente das Konzept des Deutungsmusters, das den Dreiklang aus Wissen, Deuten und Handeln in den Blick nimmt. Auf der Basis dieser theoretischen Grundannahme konnte das Material strukturiert und gleichzeitig die innere Struktur der Geburtserzählungen erhalten werden. Jede Geburt, ob von Geburtsnovizinnen oder Erfahrenen, wird von den Frauen im ersten Interview als unbekanntes Ereignis dargestellt, das mit Ungewissheit einhergeht, die sich potenziert, je geringer oder problematischer die persönliche Erfahrung ist. Angesichts einer unmittelbar bevorstehenden Geburt greifen Frauen auf teils stark standardisierte und institutionalisierte Strategien zurück, um mit diesem Phänomen umzugehen, wie beispielsweise Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen oder Geburtsvorbereitungskurse. Die Frauen können dabei aus einem vielfältigen Fundus kultureller Informations-, Vorbereitungs- und Organisationspraktiken schöpfen. Ein zentraler Bestandteil ist das Ziel, Wissen über Geburt(en) zu akkumulieren. Der Rückgriff auf unterschiedliche Wissensformen ist dabei durchaus vielfältig: bio-medizinisches Wissen zum physiologischen Geburtsmechanismus, eigenes Erfahrungswissen oder Erfahrungswissen anderer oder aus Foren, Zugang zu alternativen Wissensmodellen über Geburt oder der Rückgriff auf Körperwissen. Neben der Akkumulation von Geburtswissen werden geburtsvorbereitend auch Praktiken eingeübt, die Geist und Körper auf das bevorstehende Ereignis vorbereiten sollen, wie Atem- und Entspannungsübungen, Schwangerenyoga oder Akkupunktur. Dadurch entwickeln manche Frauen eine persönliche Expertise. Während sich bei den Alleingebärenden dieser Aspekt stärker ausbildet, wollen sich andere stärker auf die Expertise professioneller Geburtshelfer*innen verlassen. Das Wissen ist durch Interdiskurse rückgekoppelt an medizinische oder hebammenwissenschaftliche Diskurse zu Geburt in Form von Ratgebern, Informationsbroschüren oder Vorbereitungskursen. Es gilt festzuhalten, dass alle Interviewpartnerinnen ihre Vorstellungen grundlegend auf ein bio-medizinisches Verständnis von Geburt stützten und detailliert Fachtermini benutzten. Um ihre Vorstellung von Geburt zu spezifizieren, beziehen sich alle Interviewpartnerinnen auf das Phasenmodell der Geburt und damit kulturell verfestigte Deutungen. Die Informiertheit der Frauen über medizinische Praktiken, körperliche Zusammenhänge und Prozesse war auch ein Ziel des Empowerments der Frauenbewegung und ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die auch zum Zwang werden kann. Geburt im bio-medizinischen Kontext wird paradox gedeutet: einerseits als natürliche Kompetenz aller Frauen und gleichzeitig als riskantes, lebensbedrohliches Ereignis für Gebärende und Kind. Die Deutung von Geburt, so konnte gezeigt werden, konkretisiert sich im Verlauf der Vorbereitung. Aber anstatt zentrale Deutungsmuster herausarbeiten zu können, wurden Spannungsfelder identifiziert, in denen Geburt gedeutet wird. Dabei konnte in vielen Fällen ein Nebeneinander paradoxer Einschätzungen ge-

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zeigt werden. Zentral war die Verortung der Geburt im Spannungsfeld zwischen natürlichem und medizinisch-kontrolliertem Bereich. Die ›natürliche Geburt‹ ist dabei ein wichtiger Deutungszusammenhang, der einen wichtigen und oft formulierten Wunsch der schwangeren Frauen darstellt. Paradox verwoben ist die Vorstellung einer möglichst natürlichen Geburt mit der Absicherung, im Notfall auf medizinische Interventionen und Steuerungen zurückgreifen zu können. Gewährleistet wird die Gesundheit von Mutter und Kind entweder durch die Institution des Krankenhauses und seine Kontroll- und Interventionsmöglichkeiten oder durch das Fernbleiben von ebenjenen Institutionen, welche von Frauen, die allein oder im Geburtshaus ihre Kinder zu Welt bringen wollen, als komplikationsfördernd interpretiert werden. Gemeinsam ist allen Interviewpartnerinnen, dass Geburt im Kontext eines natürlichen Komplikationsmodus gedeutet wird, dem letzten Endes vor allem durch medizinische Interventionen im Krankenhaus begegnet werden kann. Zeitgleich zu dieser Einschränkung soll die Geburt dennoch so natürlich wie möglich gestaltet sein, ohne Schmerzmittel oder Interventionen zur Steuerung, vor allem aber ohne den operativen Eingriff eines Kaiserschnitts. Risiko- und Sicherheitseinschätzung bilden die Bewertungsparameter, die auch zur Entscheidung für den geeigneten Geburtsort beitragen. Dabei stellt sich die Frage, wo Risiko und Sicherheit verortet sind und wie die entsprechenden Praktiken bewertet werden. Die Frauen verorten das Risiko für Komplikationen entweder in einer medizinischen oder außerklinischen Einrichtung sowie im Geburtsprozess selbst, durch den Zusatz einer Kinderstation kann, wie bei Johanna, das Sicherheitsgefühl gesteigert werden. Besonders durch die Risikobetonung gewinnen die Institution des Krankenhauses und die unterschiedlichen medizinischen Praktiken ihre Legitimität und Attraktivität. Während das obenstehende Spannungsfeld in den Deutungen der Frauen paradox verwoben und verknüpft ist, findet sich bei den folgenden Deutungen eine Einordnung der Frauen entlang der unterschiedlichen Pole. So wird Geburt in seiner Erlebnisdimension im Spannungsfeld zwischen schmerzvoll und schmerzarm gedeutet. Die meisten schätzen Geburt als ein schmerzvolles Ereignis ein. Andere im Sample sind mit dem Konzept der schmerzarmen Geburt vertraut, lehnen dies aber persönlich ab und begründen ihre Einschätzung durch die eigenen Erfahrungen oder den starken Kontrast zur eigenen Vorstellung. Der überwiegende Teil der geburtserfahrenen Frauen schätzt den Geburtsschmerz als stark, jedoch aushaltund damit händelbar ein. Außerdem beschreiben ein paar Interviewpartnerinnen die Verwebung von Schmerz mit Notwendigkeit, Positivität und Herausforderung. Nur Carmen vertritt die Idee einer schmerzfreien Geburt mit Hilfe der Praktiken des Hypnobirthing. Bewusst interpretiert sie die Geburtsempfindungen positiv als anstrengend und zielführend und damit sinnhaft. Die Begriffe Schmerz oder Wehen nutzt sie kaum, sondern ersetzt sie durch Wellen oder Geburtskraft.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Ein weiteres Spannungsfeld bildet sich entlang der Einschätzung der Geburt als all- oder außeralltägliches Erlebnis. Während der überwiegende Teil der Frauen sie als einen besonderen Prozess beschreibt, ordnen die Alleingebärenden sie in einen alltäglichen Zusammenhang ein. Romantisierung oder Idealisierung, beispielsweise durch eine besondere, individuelle Ausgestaltung des Geburtsraumes mit Düften und Kerzen, oder eine Überhöhung des Geburtserlebens zu einer zentralen weiblichen Grunderfahrung finden sich im Material kaum. Schwangerschaft und Geburt werden bei Carmen und Sabina auch als Wunder beschrieben, das sich ohne das Zutun der Frauen ereignet. Insgesamt zeigt sich eher ein gewisser Pragmatismus sowie die Neugier auf die Bewältigung einer bevorstehenden Herausforderung. Diese Überlegung führt zum nächsten Spannungsfeld, das sich wiederrum durch seine paradoxe Verstrickung auszeichnet, indem es die Zuschreibung von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit koppelt. Zum einen beschreiben alle Interviewpartnerinnen Geburt als einen Prozess, der nahezu automatisch und unausweichlich abläuft und gleichsam an ein erhöhtes Risiko geknüpft ist, da Geburten komplikationsreich verlaufen oder die Schmerzen deutlich steigern könnten. Im Extremfall bedroht das Ereignis das Leben von Mutter und Kind, die Komplikationen scheinen nicht vorhersehbar und kaum beherrschbar zu sein, sie ließen sich nur im Prozess durch Interventionen korrigieren. Auch werden Geburtserzählungen von anderen Frauen, die extrem anstrengende und schwierige Geburten erlebten, exemplarisch aufgeführt. Sie werden als negativer Erzählhorizont und Beweis für die Unberechenbarkeit genutzt, ebenso wie der Kontrast zu Erzählungen über die Situation der Geburtshilfe in anderen Ländern. Der Prozess wird damit unverfügbar gestellt. Andererseits besteht die potenzielle Möglichkeit, die Geburt durch eine gute Vorbereitung von Atmen- und Entspannungstechniken oder die Auswahl des Geburtsortes und Geburtsteams positiv zu beeinflussen. Aus diesem Spannungsfeld resultieren auch die Ablehnung von konkreten Geburtsplänen und die Betonung der eigenen Offenheit gegenüber dem Geschehen. Diese Handlungsstrategie ermöglicht es, flexibel auf Ereignisse und Gegebenheiten zu reagieren. Keine der Frauen möchte sich festlegen, bestimmte Interventionen abzulehnen, die während der Geburt als notwendig erscheinen. Sichtbar wird, dass die Handlungs- und Gestaltungsmacht Gebärender innerhalb dieser Deutung eingeschränkt ist und der Einfluss beispielsweise professionellen Handelns auf den Prozess der Geburt verschleiert wird. Der letzte Aspekt des Deutungsprozesses der Geburt besteht in der Verstetigung oder der Transformation von Deutungen durch konkrete Geburtserfahrungen oder den Zugang zu alternativen Deutungs- und Wissensstrukturen. Durch die Analysen konnte gezeigt werden, dass die Vorstellung von Geburt durch das eigene Erleben und Einordnen eine Konkretisierung erfährt und sich darüber hinaus vorherige Vorstellungen verstetigen oder zu einer Änderung anregen können. Die

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körperliche Eigensinnigkeit des Geburtsprozesses und der Zugang zu alternativen Wissensstrukturen können einen Wandel oder Widerständigkeit hervorrufen. So empfindet Sabina nach ihrer ersten Geburt die Geburtshilfe und die kulturelle Überhöhung und Betonung der Geburt als unangemessen und zu ihrem persönlichen Empfinden im Kontrast stehend. Sie kann diese Gedanken jedoch nicht konkretisieren, da sie nicht über anschlussfähiges Wissen verfügt. Eine Geburt, die ohne professionelle Hilfe stattfindet, gehörte zur damaligen Zeit nicht in den Bereich des Diskurses und damit des wahren Wissens. Erst als sie auf Videos von Alleingebärenden im Internet stößt, eröffnen sich für sie neue Möglichkeiten zur Einbettung von Geburt. Mit jeder Schwangerschaft und Geburt verändert sich Sabinas Vor- und Einstellung von einer ablehnenden zu einer freiwillig auswählenden Haltung gegenüber medizinischen Vorsorgepraktiken. Auch bei Michaela kommt es zu einer Transformation. In ihrem Geburtserleben verkörpert sich die kulturell dominante Deutung der Geburt als unberechenbar, potenziell komplikationsreich und lebensgefährlich, auch wenn sie vor dem ersten Interview davon ausgeht, dass Frauen Geburten weitestgehend selbstständig bewältigen können. Besonders der schnelle Umbruch der Situation von einem scheinbar normalen und kaum professionell betreuten Verlauf zu einer äußerst dramatischen Entwicklung mit vielen Beteiligten erscheint Michaela abrupt. Sie macht eine dramatische Geburtserfahrung, erleidet extreme Schmerzen und Angst um das Leben des Kindes. Das Erlebte lässt sich nicht in ihre vorherige, prinzipiell positive und natürliche Vorstellung von Geburt integrieren. Neben der Differenz zu den Vorstellungen kommt es zur Verwebung einer lebensbedrohlichen Situation mit Aspekten der Missachtung und Gewalt. Es entsteht ein Bruch mit der vorherigen Deutung und Vorstellung, hinzu kommt eine zentrale Erschütterung durch die reflektierte Gewalterfahrung, die sie kurz nach der Geburt nicht überwindet oder überbrückt. Die Einordnung des Geschehens bleibt ambivalent zwischen einem Behandlungsfehler und einer zufälligen Komplikation. Exemplarisch zeigen die Erzählungen von Sabina und Michaela die Brüche mit den vorherigen Deutungen. Deutlich wird außerdem, dass der somatischen Eigensinnigkeit des Erlebens einer Geburt eine zentrale Bedeutung zukommt. Bei anderen Frauen im Sample kommt es zu einer Passung zwischen Deutung und der eigenen Erfahrung, sodass sie sich verfestigt. In der Geburt zeigt sich, inwiefern sie den Deutungen entspricht oder die Deutungen dem Erleben in einer neuen Form angepasst werden müssen. Die Deutung der Geburt ist folglich nicht abgeschlossen, sondern ein zyklischer Prozess, der immer wieder neu angestoßen werden kann, sei es durch eine erneute Schwangerschaft, Erzählungen anderer oder den Zugang zu alternativen Wissensbeständen. Hervorzuheben ist, dass besonders durch problematische Situationen Routinen aufgebrochen werden (vgl. Keller/Bosančić 2017: 32), doch auch die fehlende Passung allein kann als Anstoß dienen.

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Nachdem bisher die Aspekte von Wissen, Deuten und Handeln herausgearbeitet wurden, zeigte sich die Verwebung von Subjekt und Dispositiv vor allem im Bereich des Wissens und der inhärenten Deutungen, durch die sich Macht entfaltet. Gezeigt wurde ferner die Adressierung durch stark institutionalisierte Schwangerenvorsorge und Geburtsmedizin/-hilfe genauso wie durch Objektivationen. Besonders der Aspekt der Macht soll im folgenden Abschnitt fokussiert werden. Bereits in diesem Abschnitt zeigte sich, dass die Geburt kein natürliches, ontologisches oder individuell durch die Frau zu bewältigendes Ereignis ist, sondern in ihrem sozialen Zusammenhang betrachten werden muss. Entgegen dem Paradigma der Selbstbestimmung und des Anspruchs auf Patient*innenautonomie, das sich vermehrt in medizinischen Diskursen findet, konnte Geburt als sozialer Prozess herausgearbeitet werden, der sowohl vom institutionellen Umfeld als auch durch die direkte Interaktion zwischen den unterschiedlichen Beteiligten geprägt ist. Die in Kapitel 4.2 aufgeführten Kategorien der Praktiken stehen den beteiligten Personen in einem unterschiedlichen Ausmaß zur Verfügung. So kann beispielsweise das Atmen angeleitet und angetrieben werden durch Hebammen und Ärzt*innen oder Partner*in, in der konkreten Anwendung kann jedoch nur die Gebärende selbst diese Praktik vollziehen. Das Analyseergebnis betont die soziale Einbettung und den kulturellen Einfluss auf das Geburtsgeschehenen. Geburt ist fest in soziale Praktiken eingebunden, die diese zentrale menschliche Statuspassage der Generativität vergesellschaftet, begleitet und in dieser Form erst hervorbringt. Welche Position dabei Selbstbestimmung und die (Macht-)Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen Gruppen von Akteur*innen einnehmen, wird im folgenden Analyseschwerpunkt dargestellt und erörtert.

5.3

Entbunden werden oder gebären? Gebärende Frauen im Spannungsfeld der Zuständigkeiten für Geburt

In den unterschiedlichen Macht-Wissens-Regimen, deren inhärenten Geburtsmodellen und -kulturen gibt es verschiedene Adressierungen gebärender Frauen: Zum einen die Frau als »passive Empfängerin von Anleitungen« und »Objekt von Kontrolle, Überwachung und Umlagerung« (Hoffmann-Kuhnt 2013: 119), auch beschrieben als eine Person, die »sich möglichst widerstandslos in die institutionellen Prozeduren und Mechanismen einfügt« (Seehaus 2015: 64). Zum anderen eine Adressierung als »aktiv, selbstbestimmt, eingebunden in Entscheidungsprozesse« (Hoffmann-Kuhnt 2013: 119). Während die Geburtsmedizin sich darauf konzentriert, Frauen anzuleiten, ihre Wehentätigkeit zu kontrollieren, sie zu überwachen, umzulagern oder anzuweisen, fokussiert die Geburtshilfe Begleitung und Unterstützung. Zentral erscheint folglich eine Unterscheidung zwischen Aktivität

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und Passivität sowie die daran gekoppelte Konstitution der gebärenden Frau als Objekt oder Subjekt: Während das Subjekt handelt, wird das Objekt behandelt. Für die Analyse der Interviews ergibt sich aus den vorgestellten Überlegungen die Frage, wie Frauen ihre eigene Rolle während der Geburt definieren und wie sie sich im dispositiven Feld der Geburt positionieren. Es schließen sich weiter Fragen an, die sich um die Zuordnung von Zuständigkeit, Verantwortung, Entscheidung, Einschätzung und die Zuweisung von Handlungen an professionelle Geburtshelfer*innen, Partner*in, die gebärende Frau oder das Neugeborene gruppieren lassen: Sind es die (professionellen) Geburtsbegleiter*innen, die die Frau entbinden oder ist es die Frau, die das Kind auf die Welt bringt? Während der Geburt agieren mehrere Subjekte, folglich kann es auch zu Konflikten kommen, wenn keine Passung unterschiedlicher Vorstellungen oder Handlungsweisen besteht. Das herausgearbeitete theoretische Konzept der Zuschreibung von Zuständigkeit arbeitet aus, welche Zuständigkeit die Frauen sich selbst, ihren privaten Geburtsbegleiter*innen und den professionellen Geburtshelfer*innen zuschreiben. Aber auch welche Zuständigkeit an sie durch andere Personen herangetragen oder ihnen abgesprochen wird. Zentral ist die daran geknüpfte (Eigen-)Positionierung angesichts der dispositiven Subjektpositionen (vgl. Spies 2017). Zuerst werden in Anlehnung an die Betrachtung des dispositiven Feldes der Geburt drei Subjektpositionen beschrieben, die eine grundsätzliche Orientierung der Interviewteilnehmerinnen beschreiben (5.2.1). Anschließend werden, quer zu den ausgearbeiteten Formen, Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung aus Sicht der Gebärenden während der Geburt herausgearbeitet (5.2.2).

5.3.1

Positionierung angesichts dispositiver Subjektpositionen gebärender Frauen

Im Anschluss an die einführenden Überlegungen zur Zuordnung von Zuständigkeit mit ihren jeweiligen Aktiv-Passiv-Konstruktionen der Geburtsdispositive lassen sich durch die Analyse der Interviews Subjektpositionen ausfindig machen. Subjektpositionen sind normative Vorgaben und Handlungsorientierungen, die das Subjekt adressieren. Gleichzeitig bilden sie nicht die situativen Handlungen und Deutungen ab, da sie nie eine vollständige Verkörperung erfahren (vgl. Keller 2012: 100f.). Sie sind systematisch an Anrufungen gekoppelt. Die herausgearbeiteten Subjektpositionen sind als Orientierungsgrößen zu betrachten, welche die Individuen anrufen und ihre Integration in Dispositive gewährleisten oder sie an dessen Grenzen verorten. Dadurch können die einzelnen Subjekte Gegendiskurse verkörpern und so auch Ablehnung erfahren, wenn es sich um marginale Dispositive handelt. Dabei sind Subjektpositionen eher wie Idealbilder zu betrachten, die sich Menschen niemals vollständig aneignen und welche dennoch starke Kräfte in ihren Adressierungen entwickeln. In den Interviews

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scheinen sie nur als Orientierungsgrößen durch, gezeigt wird hier die konkrete Aneignung durch die Frauen. Aus vorangegangenen Überlegungen und der Analyse der Interviews ergaben sich drei Subjektpositionen: die vertrauende, die selbstbestimmte sowie die widerständige Schwangere und Gebärende. Im Folgenden werde ich, entsprechend der drei Subjektpositionen, drei Fälle genauer erläutern. Weitere Fälle verdeutlichen die Dimensionen, Variationsmöglichkeiten und die situativen Handlungen, Deutungen und Reflexionen. Vertrauende Schwangere und Gebärende Michaela erwartet zum Zeitpunkt des ersten Interviews ihr erstes Kind und steht repräsentativ für die vertrauende Gebärende. In der folgenden Interviewpassage beschreibt sie, wie sie sich die Geburt und die einzelnen Geburtsphasen vorstellt: Wenn da tatsächlich Presswehen kommen und das Kind sich da so durch das Becken schraubt und (lacht) und die Hebamme dann irgendwie noch Anweisungen gibt, wie man da atmen soll und=und pressen soll oder nicht pressen soll, aber= (.) ja also, (.) da hoff ich halt einfach, dass da jemand ist, der mich da leitet. (Michaela I: 78ff.) Die Hebamme stellt für Michaela eine zentrale Person während der Geburt dar, von der sie Orientierung erwartet. Die Aufgabe, die sie der Hebamme zuschreibt, besteht in der konkreten Anleitung bezüglich der Atmung und des Pressens, aber auch der Gebärhaltung und der Säuglingspflege. Damit spricht sie der Hebamme nicht nur eine anleitende, sondern auch eine leitende Position zu. Die Vorstellung der Geburt ist an eine führende Hebamme geknüpft, die Anweisungen gibt, den Prozess der Geburt gut einschätzen und daraus passende Praktiken ableiten kann. Michaela kann sich die Geburt und die erste Zeit mit dem Baby konkret nicht vorstellen und betont in mehreren Sequenzen ihre Unsicherheit und Unerfahrenheit. Obwohl sie über genaues medizinisches Wissen zum Ablauf einer Geburt verfügt, ist genau dieser anatomische Ablauf emotional und körperlich für sie unvorstellbar. Im Anschluss an die Beschreibungen des vierten Kapitels ist darauf hinzuweisen, dass das bio-medizinische Wissen kaum Wissen darüber beinhaltet, wie es sich in somatischer oder emotionaler Art und Weise anfühlt, zu gebären. So weiß Michaela beispielsweise, dass das Kind während der Geburt verschiedene Drehungen durchführt, um das Becken zu passieren, es bleibt ihr jedoch unverständlich. Es erscheint fraglich, wie ein Wesen, das erst neu auf die Welt kommt und kaum Orientierungsgrößen kennt, so komplexe und vielfältige Drehungen ausführen kann, um geboren zu werden. Michaela hat kein Wissen darüber, warum und wie sich das Kind dreht, was sie zu seiner Unterstützung tun könnte oder wie sich diese Bewegungen für sie selbst anfühlen. Es verbleibt eine diffuse Lücke zwischen dem genauen anatomisch-medizinischen Wissen über Geburt und dem, was ihr mit der

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konkreten Geburt als lebensnahe Erfahrung bevorsteht. Dieser Lücke und ihrer Unsicherheit begegnet sie, indem sie den Geburtshelfer*innen vertrauen möchte und auf deren Anleitung hofft. Durch ihre vertrauende Haltung ist es für Michaela auch denkbar, trotz ihres Wunsches nach einer natürlichen Geburt, in die Gabe von Medikamenten oder medizinische Eingriffe einzuwilligen, wenn der Hebamme eine solche Maßnahme sinnvoll erscheint. Jetzt ist es halt so, dass ich mir denke, ich lass es jetzt auf mich zukommen (.) und (.) irgendwie wird die Hebamme dann schon mir sagen, [(lachend) was jetzt das richtige ist.] //Ja// Also ich verlass mich da jetzt ein bisschen dann auf die Hebamme, dass es irgendwie klappt. Wobei (.) das natürlich im Krankenhaus jetzt auch immer ein bisschen schwierig ist, wenn man=, (.) weil man kennt die Hebamme halt nicht, ne, (.) mit=mit der man dann tatsächlich (.) //Mhm// da zu tun hat, aber (.) ich vertrau jetzt einfach mal darauf, dass es einfach (.) gut wird und dass ich= (.) dass es irgendwie= (.) also dass die Chemie dann stimmt und dass man da dann gut geleitet wird. (Michaela I: 197) Da die Hebamme15 eine so zentrale Rolle bei der Geburt spielt, beschreibt Michaela Problematiken und Ambivalenzen, die sich aus dem Setting des Krankenhauses ergeben. Die Anleitung der Geburt setzt Vertrauen in die Expertise und Sympathie der professionellen Geburtshelfer*innen voraus. Außerdem wird antizipiert, dass die zwischenmenschliche Dynamik während der Geburt positiv sein sollte, denn es handelt sich um eine intime und individuell relevante Situation in einer Umbruchsphase und gleichzeitig eine unsichere Grenzerfahrung. Das Vertrauen in unbekannte oder kaum bekannte Personen aus dem Krankenhaus ist dabei ein Vertrauensvorschuss, dieser kann nur auf Profession und Expertise der Personen beruhen. Michaela ist sich dieser Ambivalenz bewusst und betont, dass sich im Krankenhaus die Hebamme und die Entbindende vor der Geburt nicht kennen. Schichtwechsel und Belegungsplan erschweren die Vertrauensbildung. Diesen Bedenken und Zweifel versucht sie mit Vertrauen und Gelassenheit zu begegnen. Im zweiten Interview beschreibt Michaela in einer langen, ausführlichen, dichten und sehr intensiven Narration eine dramatische und traumatische Geburt. Schon als die Interviewerin den ersten Frageimpuls für eine ausführliche Geburtserzählung gibt, schiebt Michaela ein: Ja, ich hab auch oft an dich gedacht.//(Lacht)//Also das wird spannend in dem Interview, weil (.) es hat sich schon einiges=, also es hat sich alles ganz anders 15

Michaela spricht in Vorbereitung und Begleitung der Geburt vor allem der Hebamme anleitende Kompetenzen zu. Ärzt*innen spielen in ihrer Erzählung vor der Geburt keine Rolle. Sie verortet die Betreuung einer normalen Geburt damit bei den Hebammen. Die persönliche Beziehung und Empathie, aber auch ein qualifiziertes, professionelles Wissen sind ihr wichtig.

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entwickelt als [(lachend) als ich mir das vorgestellt habe.] Wobei ich ja gar keine konkreten Vorstellungen hatte, aber (.) ähm, ja also zumindestens das, was ich mir so’n bisschen überlegt hab, das ist überhaupt nicht eingetroffen. Also das war auch irgendwie ernüchternd (lacht). Die Geburt an sich war jetzt nicht (.) //Ja// ähm schön (lacht). (Michaela II: 4ff.) Sie deutet an, dass sie sich schon vor dem Interview bereits ausführlich Gedanken gemacht hat. Ihre Vorstellungen von Geburt, wenn auch im ersten Interview nur sehr vage und dennoch positiv und zuversichtlich, haben sich nach der Geburt stark verändert. In der Negation des positiv besetzten Wortes ›schön‹ bleibt offen, wie schlecht, schrecklich, unangenehm oder hässlich die Geburt war. Die weitere Narration beginnt ruhig und unverfänglich, indem Michaela den nächtlichen Geburtsbeginn beschreibt, der mit Unsicherheit einhergeht: Mir war’s eher unheimlich, (.) an=bevor wir das erste Mal ins Krankenhaus //Ja// gefahren sind. Also da hatt ich dann so’n bisschen das Gefühl, (.) ich möcht jetzt gern wissen, was ist mit dem Kind. Und (.) mir wär’s jetzt schon auch ganz recht, wenn da mal ’n CTG geschrieben wird, um zu gucken, dass es dem Kleinen auch gut geht. (Michaela II: 680ff.) Während die Geburt langsam in der Nacht beginnt, deutet zuerst Michaela und später ihr Partner die Situation als unheimlich. Diese außergewöhnliche Bezeichnung beschreibt die Unsicherheit, das Außergewöhnliche und auch beängstigenden Aspekte. Mit den ersten Wehen ist sich Michaela nicht sicher, ob die Geburt beginnt und wie es dem Kind geht. Das Paar begegnet der Unsicherheit und dem Bedürfnis nach der Bestätigung eines normalen und gesunden Verlaufs, indem sie sich im Krankenhaus einfinden. Nachdem die Untersuchungen bezüglich des Geburtsbeginns im Kontrast zu Michaelas somatischem Empfinden einen unsicheren Befund ergeben, fahren sie wieder nach Hause, wo es nach einiger Zeit wiederum dem Lebensgefährten unheimlich wird und sie erneut ins Krankenhaus fahren, wo die Messungen wiederholt werden. Zu diesem Zeitpunkt hat Michaela jedoch bereits selbst entschieden, dass es sich um den Geburtsbeginn handelt. Weil ich hab dann schon irgendwie für mich selber eigentlich äh entschieden, dass das jetzt ganz klar der Geburtsbeginn ist. Also äh, (.) das gehört jetzt schon dazu. (Michaela II: 678f.) In dieser Sequenz des Geburtsbeginnes zeigt sich bereits eine erste Verhandlung darüber, wer das richtige Wissen und die Gewissheit über den Geburtsprozess hat und wer entscheidet, wann die Geburt beginnt. Erst nachdem beim zweiten Krankenhausaufenthalt in einem mindestens einstündigen Verfahren die standardisierten Messungen und Prüfverfahren wiederholt werden und ergeben, dass es sich um die Geburt handelt, darf sie in den Kreißsaal gehen. Im System des Krankenhau-

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ses ist diese Praktik gleichbedeutend mit dem wirklichen, betreuungsbedürftigen Beginn der Geburt. Der zuständige Assistenzarzt stellt sich vor: ›Es sieht so aus, als würden wir heute zusammen ein Kind bekommen‹, was ich//(Lacht)//irgendwie im hohen Maße irritierend (lacht) fand und mir nur so dachte: Okay, also mit dir krieg ich heute ganz bestimmt kein Kind (lacht). Das ist nämlich mein Mann, mit dem ich [(lachend)‹n Kind bekomm.] (Michaela II: 119ff.) Mit seiner Begrüßung beurteilt der Arzt auch den bisherigen Verlauf und prognostiziert das Ende der Geburt während seiner Schicht, damit verfestigt er den Beginn der Geburt. Außerdem eignet er sich den Geburtsprozess zu einem Teil an, indem er eine Phrase verwendet, die eigentlich im privaten Rahmen genutzt wird. Er entwirft sich als aktiver Teil der Geburt mit einer zentralen Rolle. Andere Personen treten dabei in den Hintergrund. Vorbereitend auf die Geburt erhält Michaela vor Eintritt in den Kreißsaal auf Anraten der Hebamme einen Einlauf, woraufhin sich die Wehen verstärken. Die Geburt verläuft nun sehr rasant, die Herztöne des Kindes fallen ab und Michaela hat einen Pressdrang. Nachdem das Paar über längere Phasen, besonders während der langen CTG-Untersuchung und der ersten Zeit im Kreißsaal, allein war, kommen nun immer mehr Personen hinzu, die weitere Untersuchungen durchführen und Rücksprachen halten: eine Hebammenschülerin, die Hebamme, der Assistenzarzt und ein weiterer Arzt. Am Ende dieser Verhandlung unter den Geburtshelfer*innen steht der Entschluss, die Saugglocke wegen der schlechten Werte des Kindes anzuwenden. Michaela wird nun das genaue Vorgehen erklärt und sie erinnert sich an die folgenden Geschehnisse: Also da wurde noch Anweisung gegeben: ›So, wir machen das jetzt irgendwie zusammen und wir warten sozusagen auf sie. Sie geben das Kommando.‹ Also ich=, ähm wann die Wehe kommt und dann wird gezogen und äh der eine, also der=der Facharzt, der dazu= der da noch zusätzlich gekommen ist, der hat also die Saugglocke bedient und der Assistent war oben und [(lachend) hat mir auf den Bauch gedrückt] und das war ziemlich scheiße. (.) Weil ähm der auch gleich mit Mordsspannung auf den Bauch drauf ist und schon vorgedrückt hat und ich eigentlich das Gefühl hatte, ich kann überhaupt nichts mehr machen. Also (.) ähm da irgendwie noch aktiv mitzupressen oder irgendso=, das war überhaupt nicht möglich. […] Und dann gab also= kam also von schräg unten so die Anweisung, (lacht) […] also ich müsse da jetzt schon irgendwie mal mitpressen, weil er könne das [(lachend) Kind jetzt nicht allein auf die Welt bringen,] ((deutliches Einatmen) [(lachend) wo ich mir nur so dachte: ›Ja wie denn?‹] (Michaela II: 163ff.) Zuerst wird Michaela eine anweisende Position bei der Verwendung der Saugglocke zugesprochen, indem sie mit Beginn der Wehe das Kommando für das Manöver

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

der Saugglockenentbindung geben soll. Sie wird hier als Anleitende angesprochen, die das Kommando und die Führung über die Austreibungsphase hat, diese Position jedoch auf Anweisung übernehmen soll. Ihr somatischer Zugang zur Geburt durch das Spüren der Wehen wird angesprochen, sie könne durch den inneren Zugang zu ihrem Körper und der Geburt den richtigen Zeitpunkt für die Anwendung der Saugglocke bestimmen. In starkem Kontrast dazu kann sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, weder reden, agieren oder mitpressen, da der Assistenzarzt hohen Druck auf ihren Oberbauch ausübt, bevor eine Wehe kommt. Der erste Versuch misslingt, woraufhin der Arzt sie ermahnt mitzumachen und ihr sagt, er könne das Kind nicht allein auf die Welt bringen. Wieder eignet sich ein Arzt die Geburt sprachlich aktiv an und stellt eine Verbundenheit mit Michaela her, indem er an ihre Mitarbeit appelliert. Sie kann jedoch aufgrund ihrer körperlichen Situation nicht darauf eingehen. Daraufhin entsteht bei Michaela eine emotional stark aufgeladene Situation, in der sie gleichzeitig unter sehr starken Schmerzen steht und Angst um ihr Kind hat. Beim Entscheidungsprozess für den Einsatz der Saugglocke hat Michaela keine Mitsprache und auch innerhalb des durchgeführten Manövers durch den Facharzt kaum eine Mitwirkungsmöglichkeit. Das führt zu einer Entfremdung von der Situation und der Geburt, ihr bleibt nicht die Möglichkeit zu handeln und sie wird auch nicht als Handelnde, nur als Reagierende angesprochen. Während ihres gesamten Aufenthalts zur Geburt bekommt sie immer wieder klare Anweisungen. Das Personal entscheidet, wann die Geburt beginnt und wie sie sich zu bewegen hat. Auch in der Austreibungsphase der Geburt entscheiden die professionellen Geburtshelfer*innen über das weitere Vorgehen. Weder der Lebenspartner noch Michaela haben hier etwas mitzureden: Also das ist irgendwie das Gefühl gewesen, das passiert nur noch mit mir. //Ja// Ja, (.) geschehen lassen oder über sich ergehen lassen. So. (Michaela II: 834) In der Reflexion beschreibt Michaela sich mit dem Voranschreiten der Geburt zunehmend als eine passive Erdulderin, die für sich selbst keine Handlungsoptionen mehr sieht. Sie zeichnet damit ein bedrückendes Szenario ihrer Geburtserfahrung. Deutlich treten die ambivalenten Anrufungen durch die Klinikroutine und die professionellen Geburtshelfer*innen hervor. Einerseits werden der Gebärenden Wahlund Entscheidungsmöglichkeiten offeriert, selbst bei dem stark invasiven Manöver der Saugglockengeburt wird ihr zugesprochen, den Beginn festzulegen. Andererseits obliegt die Rolle des Unterbreitens von Entscheidungsmöglichkeiten dem Klinikpersonal. Michaela wird bei der Geburt eine aktive Rolle zugesprochen, sie soll das Kommando geben und mit der Wehe pressen. Bei der Durchführung jedoch wird ihr durch das Verhalten des Arztes jede Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeit genommen. Die Zuständigkeit für die Beurteilung der Geburt und für die Eröffnung von Optionen liegt bei den professionellen Geburtshelfer*innen, die

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Zuständigkeit für die Auswahl zwischen verschiedenen Optionen und die Mitarbeit liegt bei Michaela. Also so von wegen Gestaltung, (.) ähm was irgendwie (.) Schmerzstillung oder irgendwelche Akkupunktur oder irgendwelche Lagewünsche betroffen hat: Da war überhaupt kein Spielraum für gar nichts. (.) Also da (.) ging nichts. (Michaela II: 145ff.) Der Begriff des Spielraums steht für einen freien Raum, der ungehinderte Bewegungsmöglichkeiten oder Optionen eines freien Ausprobierens und Entfaltens beinhaltet. Wie in Michaelas Vorstellung vor der Geburt erhält sie konkrete Anleitungen, die jedoch ihren vorherigen Wünschen und Vorstellungen einer natürlichen Geburt entgegenstehen. Deutlich wird außerdem, dass Michaela nicht beschreibt, dass dem Wohlergehen der gebärenden Frau Aufmerksamkeit geschenkt würde, es geht hauptsächlich darum, das ungeborene Kind aus der Notlage zu befreien. All die Handlungen geschehen schnell und in einem großen organisatorischen Aufwand der Entscheidungsfindung zwischen Hebammenschülerin, Hebamme, Assistenzarzt, Fach- und Oberarzt unter Zeitdruck, sodass kein Raum für Michaelas Wünsche und Bedürfnisse bleibt und diesen auch kein Raum zugestanden wird. Sie wird während der gesamten Geburt konkret angeleitet. Einen Großteil der Geburt verbringt sie ohne Geburtshelfer*innen in der angewiesenen, seitlichen Liegeposition und mit einem CTG verbunden. Als ihr ein Einlauf vorgeschlagen wird, richtet sie sich nach der Empfehlung der Hebamme. Problematisch sind für Michaela die sprachliche Aneignung der Geburt durch den Arzt sowie der Widerspruch zwischen der Anleitung und der tatsächlichen Ausführung des Kristeller- und Saugglockenmanövers. Die Gestaltung einer Geburt durch alternative Praktiken wie Entspannungsübungen oder Akkupunktur sowie die Möglichkeit zur freien Bewegung oder der Anwendung von Techniken zur Angstreduktion werden hingegen zu keinem Zeitpunkt angeregt. Die Geburt hat für Michaela schwerwiegende körperliche Folgen, neben einer Dammnaht und Hämatomen am Bauch vermutet sie ein gebrochenes Steißbein. Im Krankenhaus spricht sie mehrmals ihre sehr starken Schmerzen am Steißbein an, die potenzielle Verletzung wird aber nicht untersucht oder geröntgt. Michaela diagnostiziert sich eine Verletzung des Steißbeins selbst, sieht aber davon ab, sich ärztlich behandeln zu lassen, da solche Verletzungen ohnehin nur mit Ruhe zu behandeln seien. Während des gesamten Wochenbetts leidet sie unter starken Schmerzen. Auch Johanna und Jelena orientieren sich an der Subjektposition der vertrauenden Gebärenden, vertreten aber stärker die Einstellung, Geburt als Eigenleistung zu betrachten, die sie vor allem körperlich allein durchleben müssen. Jelena entfaltet ihre Vorstellung von Geburt anhand der Metapher eines Marathonlaufes. Sie geht offen, positiv und vertrauend an die Geburt im Krankenhaus

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heran und ist von der dortigen Atmosphäre überzeugt. Durch Erzählungen von Freundinnen hat sie die Vorstellung: dass (.) man eigentlich (.) gar nicht viel (.) Hilfe braucht, sondern das in erster Linie selbst weiß, was man […] genau, so ähm (.) auch zu durchleben, […] (.) dass man eigentlich nicht viel Unterstützung braucht. (Jelena I: 117ff.) Hier wird deutlich, dass grundsätzlich keine Unterstützung und keine Eingriffe notwendig erscheinen, um den Geburtsprozess zu steuern. Die Aufgabe der Hebammen und des Partners besteht lediglich in der Unterstützung und emotionalen Begleitung. Die Gebärende steht im Mittelpunkt und soll von den Anwesenden umsorgt werden, während sie die Geburt vollbringt. Jelena wünscht sich, aktiv und natürlich gebären zu können, gleichzeitig räumt sie ein: Wobei ich mich gegen nichts wehren würde, ähm wenn es aus ärztlicher Sicht sein muss. //Ja// So ist es jetzt nicht, da weiß ich auch zu wenig. Da vertrau ich auch Ärzten zu sehr. //Ja// Das ist vielleicht auch nicht immer das [(lachend) Beste, aber da bin ich dann] schon so, dass ich denke, das brauch ich dann einfach. (Jelena II: 122ff.). Zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews betont sie: Also das ist mir= ich w=will auch was abgeben können, //Ja// nicht alles so selbst kontrollieren müssen. (Ebd.: 459) Auch für Jelena ist das Vertrauen gegenüber den professionellen Geburtsbegleiter*innen ein wichtiger Aspekt und gleichzeitig sehr fragil. Sie ist sich der Gefahr bewusst, dass dieses Vertrauen enttäuscht werden könnte und dass die Ärzt*innen Entscheidungen treffen, die sich auf sie negativ auswirken. Das Vertrauen ist für sie auch daran gekoppelt, Entscheidungen und Verantwortung abgeben zu können, was für sie eine Entlastung bedeutet. Nach der Geburt erzählt sie, dass sie sich während der Geburt im Krankenhaus mehr Anleitung zur Atmung und Bewegung, besonders in der ersten Phase der Geburt, gewünscht hätte. Mit Entscheidungen, die ihr besonders zu Beginn der Geburt eröffnet wurden, ist sie eher überfordert und sie richtet sich nach den Vorschlägen des Partners. Durch die fortwährende CTG-Überwachung im Krankenhaus nimmt sie im Kreißsaal eine liegende Position ein und dreht sich nach Anweisung der Hebamme mal auf die linke, mal auf die rechte Seite. Obwohl sie sich durch die Fixierungsbänder des CTG gestört fühlt, spricht sie ihr Unbehagen nicht an und hofft, dass das Dauer-CTG unterbrochen wird. In der Austreibungsphase erhält sie dann durch die Hebamme konkrete Anweisungen, wie sie in einer halbaufgerichteten Sitzposition pressen soll, während die Hebamme ihre Beine hochhält.

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Kurz vor den Presswehen hab ich die Hebamme noch gefragt, [(lachend) ob ich das jetzt schaffe? Weil ich auch nicht wusste, was auf mich zukam] und dann hat die so’n bisschen irritiert geguckt und irgendwie gesagt: ›Ja, wir beide schaffen das jetzt, ne?‹ (Lacht) Und da war ich froh, irgendwann mal Anweisungen zu kriegen. (Jelena II: 69ff.) Bei der Hebamme sucht sie Bestärkung und Zuspruch und erwünscht ihre Einschätzung, ob sie die Austreibungsphase bewältigen kann. Die Hebamme bestärkt sie, indem sie ihr die nötige Kraft zuspricht und eine Art Team imaginiert, das die Aufgabe gemeinsam meistert. Auch sie eignet sich damit die Geburt an und aktiviert ein Gemeinschaftsgefühl, dass Jelena anders als Michaela Sicherheit gibt, die Situation bewältigen zu können und an ihre eigene Kraft zu glauben. Die Geburt ist nicht mehr ein allein zu bewältigendes Erlebnis, sondern eine Zusammenarbeit von drei Personen. Während die Aufgabe des Partners und der Hebamme das Anfeuern, der Hebamme noch stärker die des Anleitens ist, muss Jelena die körperliche Herausforderung der Geburt meistern. Jelena wertet diese konkreten Anweisungen positiv und ist sehr zufrieden mit der Geburt, auch wenn sie sich diese aktiver und in aufrechter Position vorgestellt hätte. Sie beschreibt die permanente CTG-Untersuchung: Ein paar Stunden lagen wir da noch. Da lag ich da ja noch (.) und dann haben wir auch immer geguckt und da wurde da nix und (.) irgendwann hatte die Hebamme nämlich gesagt, (.) ähm weil wir Zweifel geäußert haben, oder der [Partner], ähm ich seh ja, dass die Frau leidet. Ich seh ja, dass was ist. //Ja// So, da muss ich jetzt das Gerät gar nicht für angucken. //Ja// Da waren wir da auch beruhigt, (beide lachen) weil man fragt sich ja irgendwann doch: Ist das jetzt hier alles? Ich meine, irgendwann kam ich mir auch wehleidig vor, weil [(lachend) zum einen] dieses Gerät nicht ausschlug. (Jelena II: 327ff.) Jelena und ihr Partner versuchen, das CTG zu lesen und zu entschlüsseln und äußern der Hebamme gegenüber ihr Bedenken, dass die Wehen nicht stark genug seien und die Anzeige mehr ausschlagen müssten. Die Hebamme betont ihr Gespür, ihre Sinne und ihre Wahrnehmung, die ihr zeigen, dass Jelena in einer fortgeschrittenen Geburtsphase sei und die Aussagekraft des CTG für diese Einschätzung nicht benötige. Das Paar versucht damit, sich die Interpretation der Technik anzueignen und einzuschätzen. Die Werte sind auch für sie, nicht nur für die professionellen Geburtshelfer*innen, von Bedeutung. Allerdings werden sie von der Hebamme nicht in ihren Annahmen bestätigt, sondern auf ihre professionelle Einschätzung verwiesen, die sich zusammensetzt aus ihrer Wahrnehmung und ihrem professionellem Erfahrungswissen. Johanna vertritt eine ähnliche Position. Für die Verarbeitung der Wehen hofft sie, dass ihr die erlernten Techniken aus dem Geburtsvorbereitungskurs wieder

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einfallen oder ihr Mann sie daran erinnert. Das Wissen, auf das sie sich bezieht, ist hier ein vermitteltes, auf das sie kognitiv zurückgreifen will. Sie möchte sich auf keine Praktiken festlegen und beschreibt, dass sie sich nach Gefühl entscheiden wird. Die Erwartungen von Johanna zeichnen sich durch eine große Offenheit gegenüber der bevorstehenden Geburt aus. Also ich versuch das eher alles (.) auf mich zukomm= (.) also ich leg mich jetzt auf nichts fest. (.) //Ja// Ich (.) denke, (.) das ist meistens, wenn man sich festlegt, kommt das sowieso anders. (.) //Ja// Haben wir ja festgestellt mit der Fehlgeburt. //Mhm// Das ähm =(.) kann man nix machen. //Ja// Dann muss man das dann so nehmen, wie’s kommt. (Johanna I: 474ff.) Durch die vorangegangene Fehlgeburt entsteht ihre Einstellung, dass Vorausplanung meist keinen Mehrwert hat, denn es komme sowieso anders. Trotzdem beispielsweise eine Fehlgeburt immer passieren könne, empfindet sie doch durch medizinische Untersuchungen und die Wahl des Krankenhauses eine gewisse Sicherheit für sich selbst und ihr Kind. Die Anwesenheit und Begleitung durch ihren Mann und eine Hebamme sind ein wichtiger Bestandteil ihrer Vorstellung von Geburt: Ansonsten sind’s ja dann Hebammen. (.) Und mein Mann. (.) Und ja, (.) hoff ich doch, (.) also mein Mann, hoff ich doch, dass er mir (.) helfen kann. (.) Und wenn er nur (.) mich streichelt oder festhält oder Mut macht. […] (…) Bei den Hebammen, (.) die versuchen’s ja dann auch ähnlich dann. //Ja// ›Und das wird schon, (.) und machen sie mal dies (.) und wollen wir mal das versuchen.‹ (.) Also vielleicht kommt von der Hebamme: ›Wollen wir das mal so versuchen?‹, (.) wenn ich selber nicht auf die Idee komme oder so. (Johanna I: 538ff.) Von ihrem Mann erwartet sich Johanna vor allem seine Anwesenheit und emotionale Unterstützung, ebenso von der betreuenden Hebamme. Außerdem erhofft sie sich von dieser Vorschläge und Anleitungen für den Umgang mit der Geburt. Das Interview nach der Geburt verläuft sehr zügig, es kommt keine längere Geburtsnarration zustande. Nach der Einleitung der Geburt, zehn Tage nach dem Entbindungstermin, bezieht sie zunächst mit ihrem Mann ein Familienzimmer und verbringt dort die erste Zeit. In Abständen werden CTG-Untersuchungen gemacht. Sie beschreibt ganz selbstverständlich, wie die Untersuchungen oder Medikamentengabe verlaufen. Sie thematisiert keine Entscheidungsprozesse oder eigenständiges Agieren. Die Geburt scheint medizinisch gesteuert und kontrolliert zu werden. Johanna verarbeitet die Wehen und interessiert sich weniger für die Steuerungsprozesse oder die Ergebnisse der Kontrolluntersuchen. Bezüglich der CTG-Untersuchungen formuliert sie:

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Ich hab gedacht, die Hebamme wird schon was machen. Oder die Ärzte, (.) die werden ja da drauf gucken, (.) wenn sie’s schon dran machen. (.) //Ja// Ich hab= (.) eigentlich hab ich nichts mehr gedacht. (.) Ich hab einfach nur (.) nach Anweisung gehandelt, //Ja// versucht zu handeln. //Mhm// (.) Ja. (Johanna II: 205ff.) Während der Geburt schreibt sie es komplett den Hebammen und Ärzt*innen zu, die Geburt einzuschätzen und anzuleiten. So bringt sie ihre Tochter nach den Anweisungen der professionellen Geburtshelfer*innen zur Welt, auch wenn es ihr besonders gegen Ende der Geburt schwerfällt, die Presswehen wie angewiesen zu veratmen: Es war (.) anstrengend, (.) weil ich ja eigentlich (.) nicht pressen sollte, (.) weil der Muttermund noch im Weg war. (.) //Mhm// (.) Ähm ja, (.) (zischt) (.) hält man ja kaum aus, (lacht) durchzuatmen und nicht zu= (.) zu drücken. //Ja// Das hat nicht immer geklappt. (.) Es hat manchmal geklappt, aber nicht immer. (Johanna II: 53ff.) Das Vertrauen in die Ärzt*in und die Hebammen ist sehr groß und ungebrochen, ihre Anweisungen sind für sie selbstverständlich und es gilt, diese nach bestem Vermögen umzusetzen. Im Gegensatz zu Michaela und Jelena formuliert sie hier keine Ambivalenzen oder Spannungsverhältnisse. Die Öffnung der Fruchtblase, die Beschleunigung der Geburt durch einen Wehentropf, die liegende Gebärposition, die Verabreichung von Schmerzmitteln oder das Kristeller-Manöver zum Ende der Geburt betrachtet Johanna pragmatisch: »Wie’s kommt, das kommt. Da müssen wir eben durch« (II: 518). Mit der Geburt ist sie in der Reflexion zufrieden. Johanna und Jelena wünschen sich zusammenfassend, dass ihr Partner oder die professionellen Geburtshelfer*innen verschiedene Handlungsvorschläge und -anleitungen machen, um die Wehen gut verarbeiten zu können und eine geeignete Position zu finden. Sie schreiben sich vor der Geburt eine auswählende und entscheidende Position von dargebotenen Optionen zu. Im Gegensatz zu Michaela besteht bei ihnen vor der Geburt nicht der Wunsch nach Anweisung, sondern nach Anleitung im Sinne eines Unterbreitens von Möglichkeiten und Erinnerns an unterschiedliche Techniken. Der Fokus der beiden Fallbeispiele liegt hier eher auf dem eigenständigen Agieren und dem Vergegenwärtigen erlernter Techniken aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Sollten sie nicht mehr weiter wissen, gehen sie davon aus, dass ihre Partner oder die Hebamme ihnen alternative Atem- oder Bewegungstechniken vorschlagen. In der konkreten Situation der ersten Phase der Geburt sind sie jedoch davon überfordert, kognitive Entscheidungen zu treffen und folgen vor allem beim Fortschreiten der Geburt und während der Austreibungsphase den Anweisungen der Hebamme. Besonders in der letzten Phase der Geburt beschreiben sie nicht mehr, inwiefern ihnen Entscheidungen angeboten werden.

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Auch von einer Anleitung zu alternativen Bewegungen, Positionen oder Atemtechniken wird nicht berichtet. Die herausgearbeitete Subjektposition kann auch als negativer Kontrasthorizont oder als Begründung für eigene alternative Entscheidungen gesehen werden. Die Interviewpartnerin Freya, die sich zur Zeit des ersten Interviews auf ihre zweite Alleingeburt vorbereitet, beschreibt die erste Geburt, die im Krankenhaus stattfindet. Die Geburt ihrer ersten Tochter war komplikationsreich. Die Einschätzung der professionellen Geburtsbegleiter*innen und die Aussagen des CTG standen in starkem Kontrast zu den Aussagen und Wünschen der Gebärenden selbst. Indem sie mit der Artikulation ihres körperlichen Erlebens auf keine Resonanz stieß, hatte Freya das Gefühl, dass man ihr nicht glaubt und sie nicht ernst nimmt. Auch die Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach sozialer Nähe, Getränken, Bewegung oder Musik wurde während der Geburt fortdauernd eingeschränkt. Rückblickend beschreibt sie, »das ja alles noch mitgemacht« (ebd.: 68) zu haben und begründet, sie habe das »hingenommen in dem Moment« (ebd.: 96), da sie dachte »das muss so, […] man denkt halt das muss so. Das gehört so.//Ja//Alles andere wäre fahrlässig. Man will’s ja richtig machen.« (Ebd.: 112) Die richtige Geburt ist in dieser Lesart eine Geburt, die von Experten*innen eingeschätzt und geleitet wird und damit auch dem Kindeswohl dient, welches die Gebärende schützen möchte und darum Unannehmlichkeiten oder die Missachtung eigener Bedürfnisse erduldet. Die vertrauende Gebärende wünscht sich aktive Anleitung und das Unterbreiten von Handlungsvorschlägen, sie ist während der Geburt gewillt, den Anweisungen und Vorschlägen von Hebammen und Ärzten*innen Folge zu leisten und auf deren Einschätzung des Geburtsprozesses zu vertrauen. Die Expertise und das Wissen zur Leitung und Einschätzung der Geburt wird aufseiten der professionellen Geburtshelfer*innen verortet. Diese Subjektposition wird gut in der Aufforderung eines GU-Ratgebers sichtbar: »Vertrauen sie auf ihre Hebamme und folgen Sie ihren Anweisungen« (Gebauer-Sesterhenn/Villinger 2005: 206). Gleichzeitig versteht beispielsweise Michaela die Geburt als einen aktiven Prozess, den sie selbst durch Entspannungsübungen positiv gestalten kann. Auch Jelena und Michaela begreifen die Geburt als Prozess, den sie selbst bewältigen. Das Schenken von Vertrauen und die Abgabe der Handlungsleitung ist ausdrücklich nicht als ein passiver Akt zu werten, was besonders in Michaelas Interview deutlich wird. Sie ist sehr unsicher, kann sich die Geburt nicht vorstellen und hat Angst davor, darum möchte sie der Hebamme vertrauen. Die Verantwortung, Handlungsleitung und Expertise rund um den Geburtsprozess wird aktiv den Geburtshelfer*innen zugeschrieben und geht mit einer Erwartung von sicherer Führung und Geborgenheit einher. Die Delegation der Gestaltung geht auch mit einer Übertragung von Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit einher. Sie stellt für Frauen eine Handlungsentlastung dar und wird von diesen daher nicht zwingend als Einschränkung ihrer Autonomie betrachtet. Ihnen geht es um das Wohl des Kindes und ihr eige-

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nes, weshalb sie für alternative Geburtsprozesse fern ihrer eigenen Vorstellungen offen sind. Die Einschätzung davon und das Wissen darum, was das Beste ist, oder auch die Einschätzung des Geburtsprozesses überlassen sie eher Dritten. Sie halten sich bewusst alle Optionen offen und konzentrieren sich nicht vorab auf eine Geburtsweise, die bei Nichterreichen automatisch ein Scheitern bedeuten könnte. Sie handeln adaptiv und flexibel in Vorbereitung auf die Geburt, um in der Situation eher behandelt zu werden, als selbst zu handeln. Wenn ihnen durch die Geburtshelfer*innen keine Frei- oder Bewegungsräume angeboten werden, fordern sie diese auch nicht ein. Selbstbestimmte Schwangere und Gebärende In Abgrenzung zu der beschriebenen Form der vertrauenden Gebärenden, lässt sich eine weitere Subjektposition ausfindig machen: die der selbstbestimmten Gebärenden. Exemplarisch sei hier Stefanie vorgestellt, die ihr zweites Kind erwartet. In ihren Vorstellungen und Wünschen orientiert sie sich stark an ihrer positiven Erfahrung der ersten Geburt: Stell ich mir das eigentlich schon so vor, (.) wie’s jetzt war. //Mhm// Genau. Weil es war ja wirklich= Du kriegst deine Wehen, (.) werden schlimmer (.) und (.) du (.) hast ’ne Betreuung, (.) kannst dich frei bewegen, //Ja// kannst dir wirklich aussuchen, wie du’s kriegst. (.) Und (.) dann ist es eigentlich nach ›n paar Stunden da. //Mhm// Das ist so das, (.) also es war wirklich so (.) fast Bilderbuch. (Stefanie I: 537ff.) Stefanies Vorstellung einer Geburt ist an das Erleben der Wehen und die Erfahrung ihrer ersten Geburt gebunden, außerdem an ein Phasenmodell der Geburt. Sie imaginiert eine Art Freiraum, in dem sie sich nach eigenem Verlangen bewegen und entscheiden kann, wie sie ihr Kind zur Welt bringt. Die Entscheidungen, Einschätzungen und Betreuung durch die professionellen Geburtshelfer*innen sind selbstverständlich, haben in ihrer Erzählung aber keine zentrale Bedeutung, vielmehr betont sie ihre eigene Wahrnehmung, Einschätzung und das selbstständige Agieren. Der Begriff der Betreuung unterstreicht den Care-Charakter der Aufgabenbereiche von Geburtshelfer*innen, der nicht in der Anleitung oder Entscheidung zu bestehen scheint, sondern in einer Begleitung. Im Kontext der Geburt kann hier darauf geschlossen werden, dass die betreuenden Personen für einen freien Bewegungsraum sorgen sollen, in dem die gebärende Frau selbstständig agieren kann, sowie darauf, dass sie Fürsorge, Sicherheit und Orientierung bieten. Deutlich wird an der Formulierung mit dem Verb ›kann‹ aber auch, dass die Möglichkeit besteht, ebenjene erwünschte Freiheit nicht zu haben, die damit fragil erscheint. In einer ausführlichen Erzählung der ersten Geburtsgeschichte wird deutlich, dass sich Stefanie in einer ambivalenten Position zwischen Eigeninitiative und An-

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leitung einordnet. Dabei handelt sie die Freiheitsgrade mit der betreuenden Hebamme immer wieder aus. Die Geburt wird zehn Tage nach dem errechneten Geburtstermin eingeleitet, nachdem die Hebamme dem Paar dazu geraten hat. Während der Geburt entscheidet sich Stefanie für eine PDA: Ich war so in der Arbeit drin. (Lacht) //Ja// Ähm. (.) War’s dann doch wieder so extrem, dass ich gesagt hab, ich nehm doch ’ne PDA. Bei der PDA ist es ja so, dass es im Rückenmark=, kriegst du ja so=so ’ne= na Spritze ist es nicht, das ist ja so so’n Zugang, //Mhm// kriegst du in dein Rückenmark rein. Musst auch liegen bleiben und kriegst dadurch (.) Schmerztropfen, was dann am Rückenmark eben dann so ›n bissel=, (.) alles ähm= (.) Wie sagt man? (.) Betäubt. //Ja// Und dann darfst du eben nicht aufstehen. (.) (Deutliches Einatmen) Ja weil die Wehen kamen wirklich, (.) weil ich hatte Wehe, Wehe, Wehe. […] Und ich dachte mir, wenn du wirklich hier noch Stunden sitzt, dann brauchst du irgendwas. (Stefanie I: 369ff.) Stefanie begreift die Geburt und die Verarbeitung der Wehen als Arbeit und damit als von ihr zu erbringende Leistung, die anstrengend ist, Konzentration, Kraft und Ausdauer erfordert. Sie selbst schätzt die Situation der Geburt ein und entscheidet sich aus einer Kosten-Nutzen-Abwägung zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geburt für eine PDA, um ihre Kräfte einzuteilen und zu schonen, da sie die ersten Stunden mit dem Neugeborenen in einem guten Zustand verbringen möchte. Detailliert beschreibt sie den Eingriff und dessen Konsequenzen: eine Beschränkung auf eine horizontale Position und eine Betäubung. Sie wägt die Einschätzung ihrer eigenen Kraft und die Möglichkeiten der PDA ab und begründet einer professionellen Logik folgend ihren Wunsch. Mit dieser Entscheidung hofft sie, sich aktiv eine Pause von den Anstrengungen zu verschaffen, hierbei ist sie auf die Unterstützung der Hebamme und der Anästhesisten*innen angewiesen, die auch wie gewünscht reagieren. Die Hebamme überprüft die Öffnung des Muttermundes, die bei sechs Zentimetern liegt, was nach einem zeitlich-linearen Geburtsmodell darauf schließen lässt, dass die Geburt noch dauern wird. Stefanie beschreibt daraufhin, wie sich die Situation ändert, während ihr die PDA gelegt wird: Und ich hab immer zu meiner Hebamme gesagt: ›Dort.‹ (.) Ich sag: (.) ›Das drückt einfach.‹ Ich sag: (.) ›Als würd es jetzt wirklich'= Und da sagt sie: (.) ›Wir haben doch vor zehn Minuten geguckt. Da war der Muttermund bei sechs Zentimetern.‹ //Mhm// Und sagt sie: ›Aber ich guck nochmal.‹ (.) […] Und (.) sie hat nachgeguckt und ich sag noch so zu ihr: (.) ›Ich brauch einfach mal ’ne Pause.‹ (.) Und sie so: (.) ›Äh nee, wir brauchen jetzt keine Pause.‹ Ich so: ›Warum?‹ (.) Sagt sie: ›Der Muttermund ist jetzt plötzlich bei zehn Zentimetern. Es geht jetzt los.‹ (Stefanie II: 383ff.) Stefanie fühlt eine körperliche Veränderung und einen Druck. Sie gibt die Beschreibung ihrer inneren Wahrnehmung an die Hebamme weiter. Diese urteilt

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aus ihrer persönlichen professionellen Erfahrung und ihrem Wissen, dass Stefanies Einschätzung nicht stimmen kann und schließt eine ruckartige Öffnung des Muttermundes aus. Dennoch geht sie auf die Darstellung der Gebärenden ein und macht eine weitere Untersuchung, sie ist überrascht, da sich der Muttermund plötzlich vollständig geöffnet hat. Als während der ersten Geburt die Einschätzung der Hebamme zum Geburtsfortschritt nicht mit dem somatischen Empfinden von Stefanie übereinstimmt, gibt diese der Hebamme nahezu die Anweisung, nach dem Muttermund zu schauen und die Hebamme bestätigt ihre Eigenwahrnehmung. Das Deuten und Interpretieren ihres Zustandes fällt in den Aufgabenbereich der Hebamme. Stefanie formuliert ihr Bedürfnis nach einer Pause. Daraufhin übernimmt wieder die Hebamme die Führung und formuliert im Imperativ, dass es jetzt keine Pause für alle Beteiligten gibt. Sie eignet sich die Geburt sprachlich an und appelliert an die gemeinsame, unmittelbare Bewältigung der Geburt. Sie stellt den Beginn eines Prozesses fest und verwendet den Code des zehn Zentimeter geöffneten Muttermundes und ist darauf angewiesen, dass die Gebärende ihn deuten kann und er an ihr bio-medizinisches Wissen zur Geburt anschließt: Bei einer Öffnung des Muttermundes von zehn Zentimeter beginnt die Austreibungsphase, die unmittelbar innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes zur vollständigen Geburt des Kindes führt. Der Wunsch nach einer Pause ist damit obsolet und nicht mehr relevant. Stefanie muss ihre Kraft nicht mehr einteilen, denn die Geburt wird bald zu Ende sein. Für die zweite Geburt wünscht sich Stefanie einen spontanen Beginn. Aus Erzählungen anderer Frauen und ihrer eigenen Erfahrung schließend, schreibt sie einer eingeleiteten Geburt stärkere Wehen und Schmerzen zu. Gleichzeitig ist ihr bewusst, dass aus praktisch-medizinischer Perspektive meist nach maximal zehn Tagen eine Einleitung folgt. Dieser Fakt stellt sie vor ein Dilemma. Einerseits spricht nach ihrer Einschätzung vieles dafür, dass sie wieder über den errechneten Geburtstermin gehen wird: die Erfahrung der ersten Geburt, die Herstellung einer familiären Konstante zu ihrer Mutter, die ihre Kinder ebenfalls nach dem ET zur Welt brachte und die überdurchschnittliche Größe des Kindes, woraufhin die Gynäkologin in Erwägung zieht, den ET vorzuziehen. Andererseits schätzt sie ihre Möglichkeit auf Selbstbestimmung bei einer Terminüberschreitung als gering ein. Im Folgenden zeichne ich die Strategien und Praktiken nach, mit denen Stefanie versucht, ihre Handlungsmacht vor der Geburt zu entfalten und auszuschöpfen. Mit ihrer Gynäkologin verhandelt sie aufgrund ihrer eigenen Einschätzung, den Termin nicht nach vorne zu verschieben. Parallel dazu überlegt sie sich, wie sie die Wehen durch alternative Praktiken in Gang setzten kann: Naturheilkunde, Homöopathie und Akkupunktur nutzt sie zur körperlichen Einstimmung auf die Geburt. Auch wenn sie nicht sicher ist, ob diese Praktiken Erfolg haben werden, wendet sie diese vorbeugend an. Auch für die Zeit kurz vor der Geburt hat sie einige alltagsweltliche Praktiken wie ausgiebige Bewegung oder Treppensteigen parat,

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um die Geburt in Gang zu setzten. Zu guter Letzt ist sie innerhalb ihrer Vorbereitungen auch bereit, das Wunschkrankenhaus zu wechseln, auch wenn das einen größeren organisatorischen Aufwand nach sich zieht. Stefanies Wunsch nach dem spontanen Einsetzen der Wehen und die Vorteile, die sie sich daraus erhofft, sind sehr stark, es widerspricht jedoch dem standardisierten Vorgehen in der Geburtsklinik. Ihre Erzählungen im ersten Interview kreisen intensiv darum, wie es ihr gelingen kann, in einem angemessenen Rahmen einen spontanen Geburtsbeginn zu erzeugen. Die Richtigkeit der medizinischen Orientierung an dem ET zweifelt sie nicht an, entwirft sich selbst jedoch als einen Sonderfall und versucht ihre Handlungsmacht und Handlungsspielräume im einschränkenden medizinischen System auszuarbeiten. Auf vielfältige Weise und in stetiger Kommunikation mit professionellen Mediziner*innen und Hebammen erreicht sie letzten Endes eine Angleichung. Im zweiten Interview berichtet Stefanie von der Geburt, die sie trotz der überdurchschnittlichen Größe des Kindes als sehr positiv und schön bewertet. Die Narration ist sehr zügig und linear, was darauf schließen lässt, dass es sich um ein stringentes, positives Erlebnis ohne Spannungen handelt. Und samstags ging’s so am Tag immer so mal (.) wie halt Senkwehen. Also (.) ich kannte ja nur so die Senkwehen, (.) aber im regelmäßigen Abstand und (.) ich wusste nicht, ob das nun losgeht. Mit meiner Freundin geschrieben […] und sie sagte: ›Also ich würde erst ins Krankenhaus fahren, (.) wenn du ’nen Abstand von sechs Minuten hast und du hältst es ni mehr aus.‹ […] Naja, und das hat sich den ganzen Nachmittag gezogen (.) und (.) irgendwann sind wir dann (.) ich glaub (.) um neun ins Bett. […] Da hab ich meinen Mann geweckt (.) und sag: ›Pass auf!‹ Ich sag: ›Wir fahren jetzt ins Krankenhaus!‹ […] Und dort merkt ich dann schon, dass es doch schon (.) Wehen sind. Aber es war alles (.) super in Ordnung. (.) Durch die Erfahrung von der Großen konnte man das wirklich gut (deutliches Einatmen) //Mhm// dort wegatmen. (.) Naja, dann waren wir dreiviertel zwölf im Krankenhaus. (.) Das war abends, so wie ich’s mir bei der [Tochter] gewünscht hatte. (Lacht) //Mhm// Sind hoch gefahren auf die Station und dort kam mir schon die Schwester entgegen, die ich mir auch gewünscht hatte. Das war ganz toll. (Lacht) //Ja// Die hat die [Tochter] ja bis kurz vorm Schluss entbunden. //Mhm// Also zumindest begleitet, ni entbunden. (.) Ja (.) und dann eh, (.) der Muttermund war grade mal bei einem Zentimeter. Da war ich ›n bissel enttäuscht. (Stefanie II: 6ff.) In dieser Anfangssequenz werden mehrere Aspekte sehr deutlich. Stefanie verspürt zuerst Unsicherheit bezüglich des Geburtsbeginns. Mit einer Freundin teilt sie ihr Empfinden und holt sich ihren Rat. Danach gewinnt sie an Sicherheit und geht abwartend mit der Situation um, indem sie dem Alltag weiter nachgeht. Sie kann den Prozess einschätzen, bestimmt den Beginn der Geburt und fordert ihren Mann auf, sie ins Krankenhaus zu fahren. Einer der Befunde der Erstuntersuchung ergibt,

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dass der Muttermund kaum geöffnet ist, was Stefanie enttäuscht. Ihr somatisches Empfinden passt nicht zu den objektiven Daten, die durch die Hebamme erhoben wurden. Dennoch ergibt die Einschätzung der Hebamme, dass es sich um den Geburtsbeginn handelt und sie richten sich im Kreißsaal ein, sodass Stefanie keine Zweifel bezüglich ihrer eigenen Einschätzung kommen. Es kommt zu einer Passung beider Situationsbewertungen. Sie betont, dass sie die Wehen aufgrund ihrer Erfahrung besser einschätzen und verarbeiten kann. Ihre aktive, leitende Position spiegelt sich auch in der Beschreibung der ihr bekannten Hebamme. Sie führt die Hebamme zuerst ein als eine Frau, die sie von ihrer ersten Tochter entbunden hat. Nachdem ihr die passive Konnotation auffällt, verbessert sie sich unverzüglich und schreibt der Hebamme eine begleitende Position zu. Vice versa betrachtet sie sich selbst als aktiv gebärende Frau. Deutlich wird Stefanies Positionierung auch in ihrem Wunsch, im Vierfüßlerstand zu gebären, während die ältere Hebamme ihr während der Geburt erklärt, warum sie eine liegende Position für geeigneter erachtet: Sie wollte das mit dem Vierfüßlerstand ni so wirklich unbedingt, (.) weil die Älteren machen das ni so gerne. //Mhm// Und dann hab ich aber noch mal gesagt, dass ich mir das gerne wünsche. Hat sie gesagt: ›Na wenn sie sich das wünschen, machen wir das auch.‹ (Stefanie II: 97ff.) Stefanie besteht auf ihren Wunsch und kommuniziert ihn aktiv und progressiv während der Geburt unter den Wehen, sodass sich die Hebamme nach ihrem Wunsch richtet. Eine weitere Passage macht die aufeinander bezogene Kommunikation und Aushandlung des geburtshilflichen Vorgehens deutlich: Und dann wurde es mal ›n bissel stärker und dann hat sie mir geraten, noch mal so= (.) Da gibt’s so ’ne Art Spritze, so ›ne große. Also wie so ’n Tropf ist das, //Mhm// wo man einfach zwischen den Wehen mal ’n bissel durchatmen kann. Und die Wehen bleiben trotzdem bestehen. Und das hatte ich bei der [Tochter] auch (.) und hab ich wieder verwendet. (Stefanie II: 32ff.) Die Hebamme bietet ihr die Anwendung eines Medikaments an und erklärt ihr ausführlich dessen Wirkung und Nutzen. Sie folgt damit den Anforderungen zur medizinischen Aufklärung und dem Entscheidungsrecht der Patientin, denen keine Direktion vorrausgehen darf. Stefanie kann im Interview die Erläuterung genau wiedergeben und beschreibt, sich für die Anwendung entschieden zu haben, was sie mit der positiven Erfahrung aus der ersten Geburt begründet. Auch hier nutzt sie sprachlich eine aktive Verbkonstruktion. Das vorgeschlagene Medikament kann sie nicht allein verwenden, da hier ein venöser Zugang notwendig ist, und sie fordert es auch nicht selbstständig ein. Dennoch beschreibt sie sich als aktive Anwenderin. Sie eignet sich damit die Anwendung des Medikaments als EntscheiderSubjekt an.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Lässt sich nun eine Veränderung von der ersten zur zweiten Geburt feststellen? Ihr Bauchgefühl ist insgesamt leitend für Stefanies Entscheidungen, gleichzeitig räumt sie ein, besonders während der ersten Geburt eher den Anweisungen und Vorschlägen der Hebamme zu folgen, ihr Bauchgefühl spielte zu diesem Zeitpunkt noch eine untergeordnete Rolle. Das hatte ich schon (.) bei der Großen (.) bei Zeiten, dieses Bauchgefühl. (.) Ähm (.) gut, unter der Geburt hatte ich bei ihr jetzt (.) ni so darauf geachtet, sondern mehr so wirklich, was die Hebamme sagte oder meinte (.) ähm (.) und was=was ich mir aber jetzt, (.) wo ich sage, ich hör auch mit auf mich= (.) Also es war jetzt ni negativ bei der ersten Geburt. Aber ich vermute mal, dass viele (.) sich gewisse Sachen nicht trauen zu sagen unter der Geburt, //Mhm// als Erstgebärende. Und wo du jetzt sagst, (.) nee, (.) ich (.) find die Idee zwar gut, aber ich mach’s dann doch so, wie ich das im Gefühl hab. //Mhm// (.) Nach der Geburt hab ich das immer schon gemacht. //Mhm// Alles nach Bauchgefühl und Mutterinstinkt. (Stefanie II: 815ff.) Stefanie räumt ein, während der ersten Geburt eher auf die Hebamme als auf ihr Bauchgefühl gehört zu haben, obwohl sie sonst ausschließlich nach ihrem ›Mutterinstinkt‹ handelt. Das Bauchgefühl entspricht hier einer kognitiv oder logisch nicht zugänglichen Orientierungsgröße. Es bleibt vage, beschreibt einen Zugang zu vorreflexivem Wissen und dient damit als Quelle unbewusster oder natürlicher Wissensvorräte, denen eine bessere Handlungsanleitung zugesprochen werden kann. Der Begriff des Instinkts kann als ein Synonym gedeutet werden und rückt eine animalische Komponente in den Vordergrund. Hiermit werden natürliche Automatismen angesprochen, die nicht auf intellektuelle Leistungen, sondern auf Reaktionen schließen lassen. Stefanie bezeichnet sich selbst insgesamt als eine Person, die ihre Meinung durchsetzt und dennoch, vor allem während der ersten Geburt, mehr auf die Hebamme und weniger auf sich selbst hört. Bei der Geburt nach eigenen Wünschen und Einschätzungen zu handeln, erfährt eine besondere Betonung, denn es scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein. Die gebärenden Frauen müssten sich trauen, eigene Anliegen durchzusetzen, angedeutet wird damit die soziale Norm einer gebärenden Frau, die sich vor allem nach den Anweisungen der Geburtshelfer*innen ausrichtet. Für Stefanies Erzählung bilden damit andere Frauen, insbesondere Erstgebärende, einen Kontrasthorizont für die eigene Positionierung. Es wird deutlich, dass es nicht so einfach ist, eigene Wünsche während der Geburt durchzusetzen, auf die eigene Meinung zu bestehen und dem Bauchgefühl zu folgen, dementsprechend unterstreicht diese Argumentation die besondere Fähigkeit von Stefanie. Durch die Erfahrung der ersten Geburt ist sie in ihrem Bauchgefühl bestärkt. Sie ist durchaus bereit, den Hinweisen der Hebamme zu folgen und diese auch für berechtigt zu halten, sie ernsthaft abzuwägen und damit nicht die Hebamme in ihrer Expertise anzuzweifeln. Dennoch ist es für sie legitim, zu einer an-

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deren Entscheidung zu gelangen. Sie sagt zum Abschluss des zweiten Interviews: »Man muss schon sagen, was man will«. Die Verantwortung darüber, ob Frauen sich trauen, sich mitzuteilen und die Geburt nach eigenem Anliegen zu gestalten, liege folglich bei den Frauen selbst. Auch bei Lenka lässt sich eine starke Orientierung an der Subjektposition der selbstbestimmten Gebärenden herausarbeiten. Sie wünscht sich, wie die meisten Frauen des Samples, explizit eine natürliche Geburt. Auf Nachfrage bedeutet das, […] dass es im Prinzip egal ist, wo ich bin. Also die= wo ich bin. Und das wird gleich ablaufen. Egal, also losgelöst von der Umgebung. (.) //Ja// Ähm, (.) also die Hebamme ausgeschlossen, die wär= also die (.) Hilfe würd ich schon haben wollen. Das das ist für mich dann auch noch natürlich. Also man könnte ja auch sagen, natürlich ist komplett alleine //Ja// (deutliches Einatmen) in einer dunklen Ecke, aber (.) ähm, ach nee. Ich glaub (.) [(lachend) es ist schon schöner] mit Hebamme. //Ja// Also das versteh ich so da drunter. (.) Ja aber keine=keine Schmerzmittel, keine verlängernden oder verkürzenden Maßnahmen oder so. Solange wie’s halt dauert, dann so wie’s halt ist. //Mhm// Dann ist es halt so. (Lenka I: 355ff.) So erwartet Lenka, dass die Geburt so natürlich wie möglich ist. Damit wird gleichzeitig ein offener Raum für Eingriffe gegeben. Unter der natürlichen Geburt fasst sie verschiedene Komponenten zusammen: Erstens verläuft die Geburt, egal wo sie stattfindet, gleich, das heißt, dass die äußere Umgebung die Geburt geschehen lassen und keinen Einfluss auf die Geburt haben sollte. Zweitens soll der Geburt ihr Lauf gelassen werden, sodass keine geburtsverlängernden oder -verkürzenden Maßnahmen ergriffen werden. Eine natürliche Geburt scheint keiner Schmerzmittel zu bedürfen. Geburt ist ein Vorgang, der nicht vorher geplant oder vorausgesagt werden kann. Lenka beschreibt damit eine gewisse Ergebenheit gegenüber dem Verlauf der Geburt. Drittens ist die Geburt etwas, das tendenziell auch allein bewältigt werden kann, aber für sie gehört eine Hebamme zu einer Geburt. Die Geburt erscheint mit einer Hebamme angenehmer. Hier kann die Frage angeschlossen werden, welche Funktion der Hebamme hier zugesprochen wird. Eine Hebamme ist assoziiert mit Empathie, Fürsorge, Erfahrung und professionellen Wissen, ihre Anwesenheit impliziert Sicherheit, Anteilnahme und Orientierung. Ein vierter Aspekt ist die Rolle der Intuition während der Geburt: Also das (.) würd ich sogar bei der natürlichen Geburt mit einschließen, dass man eben //Mhm// auf die Intuition (.) eingeht, weil man da was spürt oder (.) merkt, dass man darauf reagiert. //Ja// Ja also, //Mhm// vielleicht ist das sogar an das Unterbewusstsein abgeben (lacht) //Ja// alles. Und nicht so kontrollieren wollen, so bewusst. (Lenka I: 610ff.) Die natürliche Geburt erscheint als etwas, das passiert und abläuft, auf das die Gebärende reagieren kann. Der Verlauf und die Leitung der Geburt kann an das

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Unterbewusstsein abgegeben werden. Hier bezieht sich Lenka auf eine Art des Ergebens an den Geburtsprozess und äußert eine Abgrenzung zur bewussten Kontrolle. Damit lässt sich eine Passivität gegenüber dem Geburtsprozess herausarbeiten, die Zuständigkeit wird jedoch nicht an die Hebammen oder Ärzt*innen delegiert, vielmehr erscheint die Geburt als ein übermächtiger körperlicher Prozess, der allein abläuft und von der Gebärenden zugelassen werden muss. Dieser Aspekt bezieht sich auf die Deutung der Geburt als unverfügbar und unplanbar. Demzufolge haben auch die Gebärende oder die Geburtshelfer*innen kaum Möglichkeiten, auf die Geburt einzuwirken. Im Gegensatz zu einem genauen Plan, erfordert diese Deutung der Geburt eine große Offenheit gegenüber dem Unbekannten, das die Geburt mit sich führt. In einem Spannungsfeld zwischen der unplanbaren Geburt und dem Einfluss, den die Gebärende auf die Geburt haben kann, entfaltet Lenka eine ambivalente Vorstellung ihrer Position als Gebärende. Die Herausforderung der Geburt bleibt unberechenbar und geht mit großen Schmerzen einher. Gleichzeitig scheint die Frau als Gebärende großen Einfluss auf den Verlauf der Geburt zu haben, sie darf sich dem Prozess nicht entgegenstellen. Es ist also die Aufgabe der gebärenden Frau sich der Geburt zu ergeben und vor allem die Schmerzen anzunehmen und zu meistern. Bei dieser Aufgabe spielen andere Personen keine Rolle. Sie spricht sich zum Teil ihre Handlungsmacht aktiv ab und sieht sich im Geburtsgeschehen nicht als aktives Subjekt, sondern dem Körper unterworfen. Die unlösbare Paradoxie16 , Geburt gleichzeitig als beeinflussbares und unverfügbares Ereignis zu deuten, führen zu Bewegungen und der aktiven Suche nach Bewältigungsmöglichkeiten. Die Unverfügbarkeit beinhaltet auch eine mentale Entlastung, die Verantwortung für die Geburt kann niemand übernehmen und sie kann niemandem zugesprochen werden, so kann auch flexibel auf Ereignisse reagiert oder Notfälle einberechnet werden. Deutlich wird die Ambivalenz zwischen Aktivität und Passivität auch, als gefragt wird, in welcher Gebärposition sie das Kind zu Welt bringen möchte: Wird mir schon [(lachend) jemand sagen.] Oder wird schon irgendwoher kommen. (Lacht) Ich werd’s wissen wahrscheinlich (lacht). (Lenka I: 372f.) Lenka formuliert eine Abstufung und sucht nach einer passenden Antwort. Ihre erste Assoziation ist, dass ihr jemand von außen sagen wird, welche Position sie 16

»Die Macht von Paradoxien beruht darauf, dass sie Unauflösbarkeit suggerieren und deshalb als Problem prozessieren. Weil man paradoxen Aufforderungen weder genügen noch ihnen entkommen kann, bleibt man in Bewegung. Nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Unmöglichkeit sind Paradoxa ein wirksames Regierungsinstrument, an dem die herkömmlichen Waffen der Kritik stumpf werden. Paradoxa installieren eine Diskursfalle und immunisieren sich gegen den Widerspruch, indem sie die Widersprüchlichkeit selbst zum Prinzip erheben.« (Bröckling 2012: 141)

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einnehmen wird. Sie verbessert sich und stellt fest, dass die Orientierung von irgendwoher kommen wird, was unverfügbar und nahezu spirituell wirkt. In einem dritten Versuch beschreibt sie, dass sie selbst situativ das Wissen haben wird, welche Gebärhaltung die angemessene ist. Der Verbesserung des eignen Arguments verläuft von einer äußeren zu einer inneren Orientierung bezügliche der geeigneten Haltung. Lenka beschreibt im zweiten Interview eine komplikationsfreie und doch aufwühlende Geburt, in der sie viel Freiraum durch die professionellen Geburtsbegleiter*innen bekommt und sich diesen Raum auch nimmt und ihn ausnutzt. Die ersten regelmäßigeren Wehen, hier als Senkwehen gedeutet, beschreibt Lenka vier Tage vor der eigentlichen Geburt, sie sieht sich aber nicht veranlasst, darauf zu reagieren. Nach vier Tagen nimmt sie eine Vorsorgeuntersuchung mit ihrer betreuenden Hebamme wahr, die ihr mitteilt, dass sie sich für die Geburt bereit machen sollte. Zumindest hatten wir Freitagmorgen um zehn (.) bei der Hebamme ’nen Termin. Die hat ’nen CTG geschrieben und meinte: ›Ja, das sind schon Wehen. (.) //Mhm// Wahrscheinlich fahrt ihr dann heute noch (.) ins Krankenhaus. Oder (.) vielleicht auch erst morgen. Oder müsst ihr mal gucken. Fahrt mal nach Hause und wie ihr’s aushaltet, (.) fahrt ihr dann.‹ (.) Und (.) ähm, (.) das war um zehn. Und um (.) sechs, halb sechs, sechs hab ich dann gesagt: ›Komm wir fahren jetzt.‹ Da konnte= da=das= dann wurde es richtig nervig, so.//(Lacht)//Richtig nervig und anstrengend und hat weh getan und wir konnten kein Backgammon mehr spielen, obwohl wir das noch wollten. […] Und dann sind wir eben gefahren. Und dann waren wir halb sieben da. Und siehe da: der Muttermund war sieben Zentimeter [(lachend) weit offen.] //Mhm// Genau. (.) Und die haben dann auch noch mal (.) ’nen CTG geschrieben. Ich hab= ich musste dann erstmal kotzen. […] Dann musst ich aufstehen, hab ich Ärger bekommen. (.) War mir egal. (.) Und ähm nach dem CTGSchreiben haben die da halt untersucht, //Mhm// wie weit der Muttermund ist. (Lenka II: 21ff.) Von der Hebamme erhält Lenka den Hinweis, dass es sich bereits um Geburtswehen handeln könnte. Aber weder die Hebamme noch Lenka schenken den Wehen besondere Aufmerksamkeit. Für Lenka sind die Wehen körperliche Erscheinungen, mit denen sie eingeschränkt ihren Alltag bewältig und die ihr unangenehm, jedoch nicht behandlungsdürftig erscheinen. Das Paar folgt der Einschätzung und dem Rat der Hebamme und gegen Abend entscheidet Lenka, ins Krankenhaus fahren zu wollen. Im Krankenhaus wird durch umfangreiche Testverfahren geprüft, wie weit die Geburt fortgeschritten ist und ob es sich bereits um die Geburt handelt. Für Lenka haben die objektivierenden Daten keinerlei Bedeutung oder Erkenntnisgewinn, sie weiß bereits, dass es sich um die Geburt handelt.

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In der aufgeführten Sequenz beschreibt sie, dass sie sich während der CTGUntersuchung übergeben muss und darum aufsteht. Das ungefragte und unerlaubte Aufstehen mit der Entfernung des CTG-Gerätes stößt auf Missfallen bei den Hebammen. Die Wortgruppe ›Ärger bekommen‹ lässt auf ein unterschiedliches Machtverhältnis schließen. Lenka tut etwas, zu dem sie nicht befugt ist und wobei sich die Grenze zwischen Hebamme und Laiin manifestiert. Lenka hingegen emanzipiert sich davon, für sie hat diese Grenze keine Bedeutung, sie handelt nach ihrem Willen und Bedürfnis und nicht nach den Routinen einer CTGUntersuchung. Weitere solcher ambivalenten Situationen finden sich rund um die Körperhaltungen während der Geburt. Lenka möchte probieren, die Wehen in der Wanne zu verarbeiten und wird, gegen ihren Wunsch, angehalten, länger dort zu verweilen. Auch ihr folgender Wunsch nach Schlaf und Ruhe in einer liegenden Position findet Erwiderung in einer Anleitung zu einer sehr unbequemen seitlichen Liegeposition. Später wird ihr eine hockende Position empfohlen: Das hat so wehgetan, das hab ich boykottiert. Hab ich gesagt: ›Das mach ich nicht, vergiss es!‹ (lacht) Und dann hat die= ähm, (.) aber dann hat mich auch [Partner] überredet, dass wir das noch drei Mal versuchen (.) und dann können wir das auch wieder lassen. Und dann ist die tatsächlich geplatzt, (.) die Fruchtblase. (.) Und ab dem Zeitpunkt ging’s bergauf. (Lenka II: 66ff.) Auch hier soll Lenka eine Position einnehmen, die sie nicht beibehalten will, da diese ihre Schmerzen verstärkt. Vehement äußert sie ihr Unbehagen und scheint den Versuch abzubrechen. Ihr Partner, der sich unmittelbar vor ihr befindet, überzeugt sie dennoch, in dieser empfohlenen Haltung zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt der Geburt erinnert sie sich, zunehmend in einer schlechten Stimmung zu sein, da sie die Wehen aushalten muss und ein Ende herbeisehnt. In der angeleiteten Haltung platzt die Fruchtblase, die Wehen verändern sich und läuten die letzte Phase der Geburt ein. Die schmerzhafte Körperhaltung scheint den Verlauf der Geburt positiv zu beeinflussen und bekommt dadurch retrospektiv eine positive Bedeutung. Im Gegensatz zu den anderen Geburtsberichten innerhalb des Krankenhauses verarbeitet Lenka die Wehen in wechselnden, aufrechten Körperhaltungen, die sie in Eigeninitiative oder nach Anleitung der Hebamme einnimmt. In deutlichen Worten beschreibt sie Szenen, in denen sie sich anders als vorgesehen verhält. Ihr eigener Wille tritt damit in jeder Phase der Geburtsbeschreibung in unterschiedlichen Situationen deutlich hervor, indem sie ihre Grenzen und Möglichkeiten sprachlich markiert. Ihre eigenen Intentionen und die der Geburtshelfer*innen reflektiert sie wie folgt: Und natürlich, wenn dann da eine Erstgebärende ins Krankenhaus kommt und sagt, ich hab Wehen, sagt der: ›Naja, wir gucken erst mal.//Ja, mhm//Und ähm (.)

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ganz ruhig, leg dich erst mal hin‹. ›Es ist aber ernst.‹ ›Ja ja, ich weiß.‹ (Lacht) So ist ja auch logisch, ne? Die beiden Seiten (.) wurden da halt vertreten. (Lenka II: 313ff.) Sie beschreibt die unterschiedlichen Seiten bei der Geburt und äußert Verständnis für die skeptische, abwartende und kontrollierende Haltung der Geburtshelfer*innen bezüglich des Geburtsbeginns. Ihre Seite beschreibt sie als »die eine, die sich nicht ernst genommen fühlt, aber alles besser weiß« (ebd.: 65), die sie kurz darauf wieder relativiert. Damit markiert sie die unterschiedlichen Subjektkonstitutionen: die Geburtshelfer*innen als machtvoll und handlungsleitend, den somatischen Empfindungen der Gebärenden vorerst überprüfend gegenüber stehend, und den Standpunkt der Gebärenden, die sich dadurch nicht ernst genommen fühlt und nach eigenem Verlangen agieren möchte. Beide Standpunkte stehen in ständiger Kommunikation und Aushandlung von Kompromissen, so nähern sich die unterschiedlichen Einschätzungen oder Meinungen der Geburtshelfer*innen und der Frauen einander an. Deutlich wird, dass die Frauen, die sich an dieser Subjektposition orientieren, die Geburt als aktiv durch sich selbst zu bewältigen begreifen. Ihren eigenen Einschätzungen und Wünschen, die aus ihrem persönlichen Wissensvorrat, ihren Erfahrungen, ihrer Körperwahrnehmung und ihrer Intuition resultieren, schreiben sie die gleiche Bedeutung wie denen der Experten*innen zu. Die Position der Hebamme und der Gebärenden sind als gleichrangig und handlungsleitend anzusehen. Das konkrete Vorgehen muss ausgehandelt werden. Unterschiedlich stark beziehen sich die Frauen auf die dispositive Anrufung als rationales Entscheider-Subjekt (vgl. auch Samerski 2015: 573ff.), die ihr umfangreiches Wissen einsetzten, um souverän die Situation der Geburt zu gestalten. Allerdings ist nicht nur das rationale Abwägen, sondern auch die Intuition von Bedeutung. Die beschriebene Subjektposition wertet vor allem das somatische Empfinden der Gebärenden auf, wie auch ihre Einschätzung der Geburt und den eigenständigen Umgang mit den Wehen. Die Frauen positionieren sich als aktive Gebärende und schöpfen dabei aus ihrem individuellen Wissensvorrat, darum ist auch ihr Gefühl handlungsleitend, sowohl in ihrer Vorstellung vor der Geburt als auch in der konkreten Situation. Andererseits gehört für sie eine Hebamme zur Geburt dazu. Die Vorschläge von Medikamenten oder bestimmten Bewegungen werden als Handlungsmöglichkeiten aufgefasst und dementsprechend angenommen oder abgelehnt. Gepaart ist diese Position mit einer gewissen biographischen Prägung zur Durchsetzungsfähigkeit, die auch während der Geburt fortwirkt. Stefanie beschreibt sich selbst als durchsetzungsstark. Lenka, die in ihrer Jugend lange Krankenhausaufenthalte durch eine Krankheit hatte und starke Menstruationsschmerzen gewöhnt ist, hat ein großes Erfahrungswissen über institutionelle Mechanismen und ist schmerzerfahren. Die biographische, habituelle Prägung hat

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einen großen Einfluss auf die Positionierung der Frauen im Rahmen der Geburtshilfe und darauf, an welchem Wissen sie sich orientieren. Widerständige Schwangere und Gebärende Eine weitere Subjektposition umfasst Frauen, die eine Sonderposition einnehmen und darum von der sozialen Umwelt als mutig, extravagant, ungewöhnlich, anspruchsvoll oder auch anstrengend beschrieben werden. Sie stehen am Rand des hegemonialen bio-medizinischen Dispositivs der Geburt und beschreiben unerwünschtes Verhalten. Die Frauen, die sich an dieser Subjektposition orientieren, bekommen von ihrem sozialen Umfeld besorgte Rückmeldungen, ihnen kann vorgeworfen werden, ihr eigenes Leben oder das Leben des Kindes zu gefährden und fahrlässig zu handeln. Die Subjektposition der widerständigen Gebärenden dient den vorher beschriebenen Typen als Abgrenzung für ihre eigenen Entscheidungen, so meint beispielsweise Jelena (I: 420f.): »Kann man natürlich gern machen, aber brauch ich irgendwie nicht, so was Extravagantes«. Die Option einer Haus- oder Geburtshausgeburt tritt hier als offene Möglichkeit zutage, die es nicht zu degradieren gilt. Dennoch handelt es sich um etwas Außergewöhnliches, Unnormales, übertrieben Ausschweifendes oder Ausgefallenes. Die Wortwahl impliziert auch eine Dekadenz. Die Frauen betonen, dass sie so etwas Extravagantes wie eine Geburt an einem alternativen Geburtsort nicht benötigen. Eine solche Entscheidung würde eine Reihe von Unannehmlichkeiten mit sich bringen, so fordert die Wahl einer außerklinischen Geburt oft weite Anfahrtswege, eine zeitige Anmeldung sowie einen höheren monetären Aufwand. Diese zusätzlichen Mühen auf sich zu nehmen, erscheint aus dieser Perspektive übertrieben und nicht notwendig. Folgend werden Sabina, Freya und Carmen vorgestellt, die sich in ihrer Eigenpositionierung an der widerständigen Schwangeren und Gebärenden orientieren. Sabina ist mit ihrem vierten Kind schwanger. Nachdem sie ihr erstes Kind in einem Geburtshaus auf die Welt gebracht hat, entscheidet sie sich für eine Alleingeburt, als sie ihr zweites Kind erwartet. Geburt deutet Sabina als einen kleinen Bestandteil des umfassenden Reproduktionsprozesses. Was bei einer Geburt genau passiert beschreibt sie nur vage, sie ist sprachlos und es fehlen ihr die Worte, immer wieder wird das an langen Pausen und sprachlichen Suchbewegungen deutlich. In der folgenden Sequenz rekurriert sie auf die Erfahrung der ersten, positiven Geburtserfahrung. Also alles total ähm (.) so, (.) dass ich halt danach so das Gef= ja das=das=das=das hat mir halt so viel Kraft gegeben und Vertrauen in den Prozess. //Ja// Und das=das=das (.) ich brauch da nicht= (.) ich=ich= (.) das=das kann ich einfach oder ich=also (.) ich will nicht mein=mein Körper kann das sagen, aber= sondern ich= irgendwie klappt das halt (lacht). (Sabina I: 68ff.)

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Aufgrund dieser ersten Erfahrung beschreibt sie, dem Prozess der Geburt und sich selbst zu vertrauen. Deutlich wird, das Geburt etwas zu sein scheint, was über einen längeren Zeitraum in mehreren Etappen verläuft und dieser Prozess erscheint unabwendbar, er braucht allerdings auch keine Kontrolle oder Leitung. Der Begriff des Prozesses ist insgesamt sehr zentral für Sabina und dabei ambivalent besetzt. Zum einen ist der Prozess etwas, das ohne ihr Zutun abläuft und passiert. Gleichzeitig ist er etwas, dass sie bewältigen kann. So betont Sabina anschließend ihre spezifische Fähigkeit, die Geburt bewältigen zu können. Das Wort ›einfach‹ spielt darauf an, dass es ihr ohne weitere Anstrengungen oder Sorgen möglich ist, ein Kind auf die Welt zu bringen. Im nächsten Satz versucht sie, diese Gebärkompetenz auf ihren Körper zu beziehen und die Erklärung zu präzensieren, bricht hier jedoch ab, denn es ist nicht nur ihr Körper, der Geburten vollbringen kann. Damit eignet sie sich den unverfügbaren Prozess der Geburt an. Die Geburt ist trotz des beschriebenen Spannungsfeldes ein eigenständig zu bewältigendes Ereignis. Andere professionelle Geburtshelfer*innen, medizinische Unterstützung oder technische Geräte braucht es bei dieser spezifischen Deutung der Geburt nicht. Diese Handlungskonsequenz läuft allerdings den gesellschaftlichen Deutungs- und Handlungsangeboten entgegen. Während der Beschreibung der Entwicklung ihrer persönlichen Unabhängigkeit von routinierten Kontrolluntersuchungen in der Schwangerschaft oder einer spezialisierten Geburtshilfe entfaltet Sabina den Begriff der freien Geburt: Alleingeburt. Also erstens mal (…) ähm (.) bin ich nicht allein und das ist auch nicht das, auf das es mir ankommt. (.) […] Aber eigentlich hört der sich so nach alleingelassen an (.) und gar nicht so sehr //Mhm// als bewusste Entscheidung, irgendwas allein zu sein. Man wird so (.) allein zurückgelassen quasi. //Ja// Irgendwie steckt das für mich so drin. Und freie Geburt ist halt, weil= (.) mag ich lieber, weil (.) das für mich ausdrückt, dass ich mich (.) befreit hab von (.) diesem (.) Geburtsvorsorge (.) -system.//ja//Und das war schon ein aktiver Prozess. Also es ist nicht einfach so: (.) Huch, da war ich auf einmal (lacht) da draußen, sondern ich musste schon Termine absagen. Sagen ich=ich= also ich muss= Also erstmal (.) zu verstehen, ich muss=, ich=ich muss das gar nicht machen. Ich muss da überhaupt nich= Also ich hab ’ne Ultraschallkontrolle gemacht, aber nicht weil ich muss, //Mhm// sondern weil ich dachte, das=das hilft mir jetzt //Ja// oder irgendwas und so diese (.) ja Entscheidungen (.) frei, (.) frei treffen zu können, also frei von Ängsten, weil du= weil’s darum vorhin so viel ging, und auch (…) frei von so (.) Konventionen, was (.) also (…) was= (.) Das hab ich halt in der ersten Schwangerschaft nicht hinterfragt so, das und das //Mhm// das= Na klar geht man aller vier Wochen und dann aller zwei Wochen da [(lachend) irgendwo hin.] Und wenn’s nicht zur Frauenärztin, dann zur Hebamme. (…) Und (.) jetzt hab ich mich auch zweimal mit ’ner=mit ’ner Hebamme getroffen, die dann auch so die Nachsorge machen wird. Aber (.) dann

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sitz ich da (.) (lacht) und weiß eigentlich gar nicht, was ich da soll und= (lacht) //Mhm// Also (.) sie weiß auch nicht so richtig, was ich soll. (5) Ja, ich=ich kann halt= ja, (…) also dass ich mir sozusagen aussuchen kann, was (.) was nehm ich eigentlich da von diesem Angebot, was es da gibt //Ja// an Vorsorge. Was (.) will ich davon in Anspruch nehmen? //Ja// Und das war auch= (…)Ich glaub (.) das (.) unterscheidet so ›n bisschen die (.) die Schwangerschaften von den Alleingeburten. (.) Also (.) bei der= in der ersten Schwangerschaft war das dann eher noch so, eher so ’ne ziemlich starke Antihaltung. (.) Also (.) ich hab halt alles abgelehnt und //Ja// also das steht ja dann [(lachend) auch in diesen Mutterpass] oder deren Akten. Ich hab alles Mögliche […] erst mal alles so abgelehnt und musste auch so ›n Antigefühl entwickeln. (.) Und dann bei der dritten Schwangerschaft hab ich eben gemerkt, wenn ich so ganz klar (.) meine Wünsche äußere, das will ich nicht, das will ich auch nicht, aber das möchte ich gerne kontrolliert haben, dann (.) //Ja// ist es auch okay. (Sabina I: 1010ff.) In dieser langen und dichten Sequenz expliziert Sabina auf Nachfrage den Begriff der ›freien Geburt‹. Eine freie Geburt, wie Sabina das Setting der Alleingeburt benennt, zeichnet sich durch den Verzicht auf professionelle Geburtsbegleiter*innen aus. Die Narration zu dieser Thematik ist eine schrittweise, aktive Befreiungsgeschichte vom konventionellen, routinierten Vorsorge- und Betreuungssystem während Schwangerschaft und Geburt, wobei sie viele Untersuchungen ablehnt und dies an Beispielen konkretisiert. Die ›freie Geburt‹ ist ein Gegenentwurf. Die Erzählung erhält eine besondere Intensität durch Lautmalerei, Abbrüche und neues Einsetzten. Sie entwirft reflexiv einen sehr positiv besetzten Begriff, in Abgrenzung zum landläufigen Begriff der Alleingeburt. Die Schwangerschaftsbetreuung stellt explizite Situationen bereit, um darzustellen, wie sich Sabina von dem tradierten medizinischen System abgrenzt. Der Begriff der Befreiung impliziert die aktive Loslösung oder das Ausbrechen aus begrenzenden, einschränkenden Verhältnissen. Dieser emanzipatorische Prozess erinnert gleichzeitig an Widerstand und Kampf. Die Freiheit beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Auswählen von Vorsorgeuntersuchungen, sondern auch auf das Brechen mit den damit verbundenen normativen Konventionen. Nach der ersten Geburt beginnt Sabina, Konventionen und Ängste bezüglich der Geburt zu hinterfragen und entwickelt daraufhin zuerst eine ›Antihaltung‹. In anderen Interviewsequenzen beschreibt sie diesen Aspekt genauer, indem sie oft erzählt, welche Praktiken sie ablehnt oder wie sie sich gegen diese wehrt. Auch diese Wörter verweisen auf den Charakter der Abwehr und Verweigerung und beschreiben einen aktiven Moment der Widerständigkeit. Sabina betont die Prozesshaftigkeit der Befreiung von dem Vorsorgesystem, in dem die breite Nutzung der Untersuchungen als selbstverständlich und normal erscheint. Besonders an der Reaktion der Arzthelferinnen beschreibt sie die Probleme, die

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aus einer solchen Haltung resultieren. Um diesen Aspekt herauszuarbeiten wird exemplarisch eine solche beschriebene Situation gezeigt: Und bei der dritten Schwangerschaft, also zweite Alleingeburt, da (.) ähm (.) war ich dann für den ersten Ultraschall irgendwo in ’ner Praxis, (.) wovon ich halt gehört hatte, dass die so hausgeburtsfreundlich sind. Und für den zweiten dann noch mal irgendwo anders. //Mhm// (.) Und die f= also die=die Ärztinnen hatten da eigentlich nie so ’ne Schwierigkeit mit. Also die waren schon so erstaunt, (.) dass ich auch (.) das alles gar nicht (.) so nötig finde. //Mhm// Das größere Problem hatten ehrlich gesagt die Arzthelferinnen und so, (.) //Mhm// wenn sie ihr Routineprogramm da nich= und dann den Mutterpass (.) aufgeschlagen haben [(lachend) und da stand halt nichts] (lacht) und: ›Wie jetzt?‹ (Beide lachen) Eine: ›Ja, das wollen sie nicht und das.‹ Und dann kam sie irgendwann dann noch mal ins Wartezimmer: (.) ›Darf ich dann wenigstens= darf ich sie wenigstens wiegen?‹ (Beide lachen) Und da hab ich mich dann halt auf die Waage gestellt immer, //(lacht)// was auch natürlich totaler Quatsch, wenn ich einmal in der ganzen Schwangerschaft da bin und mich dann auf irgendeine Waage stelle, //(lacht)// liefert das ja null Vergleichswerte. (Lacht) Und also, aber es hat halt irgendwie anscheinend die Arzthelferin //glücklich gemacht.// Ja. (Lacht) Und mir nicht weh getan und= oder mich nicht gestört. (Sabina I: 236ff.) Bei der dritten Schwangerschaft wandelt sich ihre Haltung noch einmal von einer ablehnenden zu einer frei entscheidenden Haltung, sodass Sabina frei aus dem Angebot schöpfen kann und das als wertvoll und bereichernd empfindet. Sie nimmt in der aktuellen Schwangerschaft einige ausgewählte Vorsorgeuntersuchungen wahr, aber mit einer anderen Herangehensweise: diese Auswahl und die Finanzierung über die Krankenkasse empfindet sie sehr positiv. Angebote, die sie nun nutzt, erscheinen aus dieser Argumentation und Haltung heraus begründungspflichtig und müssen abgewogen werden. So beschreibt und erklärt sie, welche Vorsorgetermine sie in Anspruch nimmt: Sie möchte an Anfang und Ende der Schwangerschaft einen Ultraschall, um den ET zu bestimmen und den Sitz der Plazenta sowie das Herz des Babys überprüfen zu lassen, auch das Geschlecht lässt sie sich sagen. Die Ultraschalluntersuchung gibt ihr »Sicherheit« (Sabina I: 225) und »beruhigt« (ebd.: 256). Das Benutzen der Technik für ihr persönliches Sicherheitsempfinden erscheint ihr unangenehm, sie relativiert die Aussagekraft der Technik und ordnet die Geburt insgesamt in einen unsicheren und unberechenbaren Kontext ein, in dem es auch zum Tod des Kindes kommen kann. Diese Position ist sehr ungewöhnlich, angesichts der Tatsache, dass die Ängste und Sorgen der Frauen, die sich an anderen Subjektpositionen orientieren, eher im Vagen bleiben. Konkrete Risiken und Konsequenzen sprechen die Frauen nicht an, die sich an anderen Subjektpositionen orientieren. Mit der Konkretisierung von möglichen Komplika-

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tionen werden gleichsam eigene Handlungsspielräume und die Grenzen eigener Möglichkeiten abstrahiert. Sabina nimmt eine Irritation der professionellen Akteurinnen wahr, aber auch, dass ihre Wünsche respektiert werden. Bei genauerer Betrachtung ist es auffällig, dass sie scheinbar sehr strategisch und überlegt mit dem Vorsorgesystem umgeht, aber auch die Suchbewegung nach einem adäquaten Umgang wird deutlich. Sabina sucht sich sehr bewusst die Ärzt*innen aus, bei denen sie die Ultraschalluntersuchungen machen lässt und wechselt diese innerhalb der Schwangerschaft, sodass sie keine durchgängige Schwangerschaftsbetreuung hat. Außerdem scheint sie ein ausgeklügeltes Informationsmanagement zu haben, bei dem sie viele Informationen nicht selbstverständlich preisgibt und die Normalitätserwartung der Ärzt*innen damit nicht in Frage stellt. So erzählt sie, dass sie sich nicht sicher sei, ob ihre aktuelle Ärztin weiß, dass sie eine Alleingeburt plant. Gleichzeitig reflektiert oder präsentiert sie kein strategisches Vorgehen, um sich den Vorsorgeuntersuchungen weitestgehend konfliktfrei zu entziehen. Es entsteht ein Bild, dass Sabina deeskalierend und dabei gelassen zeigt. Sie ist bereit, auch auf die Arzthelferin einzugehen und sich beispielsweise wiegen zu lassen. Sie gibt sich nicht kämpferisch oder missionarisch. Ihre starke Positionierung bezüglich der freien Entscheidung beziehungsweise die anfängliche Antihaltung gegenüber Vorsorgeuntersuchungen und ihre strategische Konfliktvermeidung stehen im Kontrast zur Beiläufigkeit und anekdotenhaften Weise, mit der sie die ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen schildert. Deutlich wird hierbei eine Suchbewegung nach einem guten Umgang mit gesellschaftlichen Normen. Die dispositiven Anrufungen zur medizinischen Überwachung der Schwangerschaft und Betreuung während der Geburt benennt sie als potenziell konflikthafte oder unnötige Anforderungen und Routinen. Im starken Kontrast zu den Frauen in anderen Subjektpositionen, thematisiert sie diese überhaupt als verhandelbar. Viele Routinen empfindet sie als unnötig und lokalisiert eine Schwangerschaft und Geburt in Abgrenzung dazu im Alltäglichen. Der Personenkreis der ausgewählten Geburtshelfer*innen ist damit sorgfältig ausgewählt und beschränkt, sodass Sabina davon ausgehen kann, dass sie nicht auf Widerstand trifft oder ihre Einstellung diskutieren muss. Sabina hält strategisch alle Annahmen im Vagen, geht auf manche Anrufungen wie Ultraschalluntersuchungen, die Suche nach einer Nachsorgehebamme oder das Wiegen in der Arztpraxis durch die Arzthelferin ein und entzieht sich vielen anderen, indem sie sich dem medizinischen Feld fast komplett entzieht und eher als Phantom hier und da erscheint. Für die Arzthelferinnen gilt sie als widerständig und anstrengend. Sie unterbricht die Routinen und nimmt die standardisierten Anrufungen der Vorsorgeuntersuchung nicht auf beziehungsweise lehnt sie ab, was die Arzthelferinnen im Mutterpass dokumentieren und damit festschreiben.

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Sabina beschreibt sich als eine Person, die Entscheidungen allein trifft und folglich auch allein den Modus der freien Geburt wählt: Also er [der Partner, S. E.] unterstützt das total. (.) Er findet das auch gut. //Ja// Aber ich hab nicht das Gefühl, das ist ’ne Entscheidung, die wir zusammen treffen können, sondern das ist schon ’ne Entscheidung, die ich treffe. //Ja// Oder auch treffen muss, weil ähm (…) also das= Ich bin die Schwangere und das ist mein Körper. Und ähm (.) ich freu mich, ich bin total glücklich, dass er das so mitträgt, //Mhm// ähm (.) aber würde er das nicht tun, würde ich ihn eher rausschmeißen, als ähm meine Entscheidung anders treffen. (Sabina I: 1083ff.) Ihr Freund bekommt von Sabina kein Mitspracherecht bei der Wahl des Geburtsortes eingeräumt. Die Entscheidung, wie sie gebären möchte, erachtet Sabina nicht als teilbar. Sie freut sich über die Unterstützung ihres Partners, sagt aber ganz klar, dass es ihre Entscheidung ist, wie sie gebären möchte. Die Entscheidung für eine freie Geburt beschreibt Sabina letztendlich als »Bauchentscheidung« (ebd.: 398), sie trifft ihre »Entscheidungen nicht (.) nur intellektuell, sondern es muss auch vom Gefühl her (.) passen.« (ebd.: 976f.). Dennoch wird an verschieden Stellen immer wieder deutlich, wie stark Sabina sich auf eine intellektuelle Art mit Geburt beschäftigt und sich viel (professionelles) Wissen aneignet. Auch der Geburt im Geburtshaus geht ein langer Abwägungsprozess voraus, an dessen Ende sie sich aus einem Bauchgefühl heraus für das Geburtshaus entscheidet. Sie versucht, den Entscheidungsprozess zu explizieren: Mhmh (…) und also (.) mein=mein= (.) das= Die Entscheidungen, die ich treffe, die haben natürlich schon viel damit zu tun, worüber ich nachgedacht hab, (.) //Ja// Ohne dass ich (.) dann so (.) das so (.) immer eins zu eins logisch begründen (.) will eigentlich. //Mhm// Also (.) dass ich halt früher noch stark versucht, so zu= (.) Also (.) ich hatte das Gefühl, (.) ich (.) mehr= (.) ich muss jetzt eine Entscheidung auch so rational bergründen. //Mhm// Und das versuch ich aber, aufzuhören so und sag: ›Nee, so das fühlt sich jetzt einfach richtig an, deswegen mach ich das jetzt so.‹ Und (.) woher das dann kommt, das muss ich gar nicht allen irgendwie erläutern und auch mir selber nicht. Wenn das Gefühl so da ist, dann (.) ist das die richtige Entscheidung. (Sabina I: 982ff.) Als sie Familie und Bekannten ihre Entscheidung für eine Alleingeburt mitteilt, hat sie ihre Entscheidung bereits getroffen und kann sie mit Sicherheit vertreten. Während die Schwiegermutter sehr sorgenvoll reagiert, anruft und versucht zu intervenieren, sind die anderen Familienmitglieder kritisch, aber auch vertrauend und offen für Sabinas Erläuterungen. Im Freundes- und Bekanntenkreis gilt Sabinas Meinung als extrem, es wird aber nicht versucht, ihr die Alleingeburt oder die Geburt im Geburtshaus auszureden. Die Subjektposition der widerständigen

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Schwangeren und Gebärenden wird also vor allem durch die eigene Deutung und die Wahrnehmung durch Dritte bestimmt. Das war [(lachend) so von meiner Familie] an=an (.) kritischen Nachfragen. (.) Also sie haben’s jetzt nicht unterstützt, aber sich halt sehr, sehr zurückgehalten und mich machen lassen. (.) Und meine Schwiegermutter, die hat halt (.) ähm (…) ja die dachte halt, als es so weit über den Termin ging, das Kind stirbt (.) im Mutterleib. //Mhm// Nur weil’s halt (.) 14 Tage nach Termin, da sterben die ja alle, [(lachend) so ungefähr.] (Sabina I: 475ff.) Eine Geburt außerhalb des medizinischen Systems und ohne professionelle Geburtshelfer*innen erscheint demnach als höchst risikoreich und gefährlich. Die Anrufung besteht im Verbleib und der Verortung im hegemonialen Dispositiv. Abweichendes Verhalten stößt auf Ablehnung oder kritische Nachfragen, die die betreffende Person zur Rechtfertigung anregen. Ihre Position ist begründungspflichtig. Sabina führt die Angst der Schwiegermutter ins Lächerliche und in den Bereich der Unwissenheit. Im zweiten Interview nach der vierten Geburt treffe ich Sabina nach einer guten Geburt an, die sie als schnell und leicht einordnet. Dann hat sie sich also den zweiten Januar ausgesucht, (.) das fand ich ziemlich gut. (.) Ähm da hatte ich dann am Morgen schon so’n paar (.) Wehen, (.) aber ich hab immer (.) eher so, denk ich so, ich will jetzt noch nicht beschließen, jetzt fängt die Geburt an, sondern ich denk immer: Naja, (.) nee, vielleicht. Aber wahrscheinlich eher nicht. Hilft mir (.) dann, erst mal nicht in Großvorbereitungen ausbrechen, //Mhm// sondern eher noch mal so’n bisschen abwarten.[…] Denn also ich mach keinen Badewannentest, sondern ich mach einen Film-Guck-Test und //Mhm// (lacht) der war nicht so eindeutig, also ich hatte dann noch so’n paar Wehen, aber sind auf jeden Fall weniger geworden. Und (.) bin ich irgendwann wieder aufgestanden und dann war klar, okay, das wird jetzt die Geburt. (Sabina II: 40ff.) In der Wortwahl macht sie darauf aufmerksam, dass sie die ungeborene Tochter als aktive Akteurin konstruiert, die für den Geburtsbeginn verantwortlich ist und diesen auslöst. Den ersten Geburtszeichen schreibt Sabina noch keine starke Bedeutung zu, sie will sich noch nicht festlegen, ob es sich um den Geburtsbeginn handelt. Damit wird deutlich, dass auch sie sich eine aktive Position beim Geburtsbeginn zuspricht. Um zu testen, ob es sich bei den körperlichen Zeichen um die Geburt handelt, orientiert sich Sabina an einem individuell entwickelten Test, in dessen Mittelpunkt es steht, sich zu entspannen und zu beruhigen und abzuwarten, wie sich die Wehentätigkeit verändert. Zu einem späteren Zeitpunkt ist ihr deutlich bewusst, dass es sich bei den körperlichen Symptomen tatsächlich um die Geburt handelt.

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Während der vierten Geburt bringt Sabina ihren jüngsten Sohn zum Mittagsschlaf, schaut noch einen Film und macht sich danach, kurz vor der Geburt, Tee, dann geht sie ins Bad »und da bin ich dann auch nicht mehr rausgekommen« (ebd.: 57). Sabina beschreibt sich als »schön ausgeruht« (ebd.: 243) und macht »dann (.) kurz die Geburt« (ebd.: 224), danach legt sie sich mit dem Neugeborenen wieder ins Bett. Kurz nach der Geburt sind sie und das Baby schon wieder völlig in die Familie und deren Normalität integriert, die anderen Kinder kommen und sind aufgeregt und hüpfen auf dem Bett. Für die Geburt braucht sie keine besonderen Gegenstände oder Räumlichkeiten. Der Pragmatismus überwiegt: zum Trinken benutzt sie einen Becher im Bad und auch für die Versorgung der Nabelschnur reichen Zahnseide und eine ausgekochte Schere. Es entsteht der Eindruck einer unaufgeregten, nebensächlichen Geburt, eingebunden in den Familienalltag. Geburt wird damit normalisiert und zu etwas Alltäglichem. Eine weitere dieser Sonderpositionen nimmt Freya ein. Die Geburt ihrer ersten Tochter beschreibt sie als »alles andere als selbstbestimmt« (I: 263). Sie entschied sich für eine Geburt im Krankenhaus mit Beleghebamme. Sie hatte während der Geburt das Gefühl, sich nicht so verhalten zu können wie sie möchte: Den Wünschen, sich zu bewegen, so viel zu trinken, wie sie möchte, die Musik zu hören, die sie hören möchte, oder persönliche Begleitung zu haben, wird nicht entsprochen. Sie werden genauso wie die Wehen, die durch das CTG nicht aufgezeichnet werden, vom professionellen Personal nicht ernst genommen. Die Geburt verläuft »komplikationsreich« (ebd.: 275), Freya hat 18-20 Stunden »starke Wehen« (ebd.: 276), beim Einsatz der Medikamente »wurde jetzt nicht gefragt« (ebd.: 326) oder über Behandlungsmaßnahmen aufgeklärt. Zusammenfassend sagt sie über die Geburt: man denkt halt, das muss so, (.) ne? Das ist ja auch in der Schwangerschaft mit den ganzen Untersuchungen, man denkt halt, das muss so, das gehört so. //Ja// Alles andere wäre fahrlässig. Man will’s ja richtig machen. (Freya II: 358ff.) Freya lässt sich also für die erste Geburt in die Subjektposition der vertrauenden Gebärenden einordnen, im Nachhinein reflektiert sie die Geburt und durch einen Blog-Beitrag im Internet erfährt sie von der Variante der Alleingeburt. Bei der Geburt ihres zweiten Kindes entscheidet sich für eine Alleingeburt. Die Forderung nach Selbstbestimmung und die Möglichkeit, intuitiv zu handeln sieht Freya hier am besten verwirklicht. Sie grenzt sich von anderen »angstinfiltriert[en]« (ebd.: 152) Müttern ab und schätzt das Risiko anders ein. Bewusst bezieht Freya, wie Sabina, den Gedanken in ihre Überlegungen ein, was passiert, wenn es zu einer Komplikation kommt. Freya thematisiert besonders den Aspekt der Verantwortung.

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Aber das ist dann die Anschlussfrage, die sich mir gestellt hätte, wäre ja auch, ob ich mit den= was=was würde der Arzt machen, um das zu behandeln? Und würde ich das überhaupt wollen, //Ja// dass der das tut? (.) Und als ich mit ihr in der 23. Woche anfing, Wehen zu haben, (.) da hätte ich sie lieber hier zu Hause verloren, als mit ihr sieben Wochen im Krankenhaus rumzugammeln und sie dann da zu verlieren. //Ja// Ähm. (.) Weil ich glaube nicht, das=das klingt total=total heftig irgendwie. //Mhm// […] Da hat sich mir dann eigentlich noch mehr die Frage gestellt, (.) warum ich dann trotzdem noch zum Arzt gehen möchte, wenn ich eigentlich schon weiß, dass ich=dass ich da auf die Natur vertrauen kann. Und dann ging mir auf, dass das ganz viel auch mit den anderen Leuten zusammenhängt, (.) wenn du die Verantwortung dafür nimmst, übernimmst, die du ja zwangsläufig hast, ne? //Mhm// Und sie nicht falsch irgendwelchen Leuten überträgst, die sie gar nicht tragen können. //Ja// Dann (.) musst du die Verantwortung auch den anderen gegenüber tragen. (.) Und wenn ich sie jetzt hier zu Hause bekommen hätte, (.) völlig kontrolliert und mich dann von ihr in Frieden verabschiedet hätte in meinen Armen und so weiter, dann hätte ich damit leben müssen, dass mir die anderen Leute mein Leben lang Vorwürfe machen, dass ich nicht zum Arzt gegangen bin. Und so war das dann auch am Ende der Schwangerschaft, dass ich= (.) dass es mir schwerfiel, (.) mich auf diesen Gedanken einzulassen, dass ich=dass ich das Risiko in Kauf nehmen kann, (.) was noch da ist. Also ich glaube nach wie vor, dass im Krankenhaus mehr Risiken //Ja// (.) bestehen, als wenn du das Kind so zu Hause bekommst. (4) Zumindest wenn du deinen Körper ganz gut kennst. (Freya II: 627ff.) Freya möchte die Verantwortung, die aufgrund des unbekannten, unverfügbaren Ereignisses der Geburt sowieso niemand vollständig übernehmen könne, selbst tragen. In Konfrontation mit ihren vorzeitigen Wehen und der Auseinandersetzung mit anderen überdenkt sie intensiv ihre eignen Handlungsoptionen und die Handlungskonsequenzen, bis hin zum potenziellen Tod des Kindes und wie sie sich diesen wünschen würde, wenn er unausweichlich wäre. Die volle Verantwortung zu tragen, erscheint damit auch sehr belastend. Für Freya stellt sich damit sehr bewusst auch die Frage der Vertretbarkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Sie beschreibt, was sozial akzeptiert ist und was nicht: Sozial akzeptiert ist eine überwachte Schwangerschaft und Geburt und die Abgabe der Verantwortung für die eigene Geburt. Die Verantwortung für das eigene Kind komplett selbst zu tragen, ist hingegen sozial nicht akzeptiert. Würde dem Kind in dieser Situation etwas passieren, wäre sie allein schuld. Carmen möchte ihr zweites Kind wieder im Geburtshaus zur Welt bringen und die Methode des Hypnobirthing nutzen. Während ihr beim ersten Kind eine Geburt im Krankenhaus selbstverständlich erschien, machte ihr Mann sie darauf aufmerksam, dass es dazu Alternativen gebe. Sie beschäftigten sich gemeinsam intensiv

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mit der Thematik und entschieden sich für ein Geburtshaus. Carmen beschreibt die Rolle ihres Mannes: Also der (.) der Partner spielt beim Hypnobirthing auch eine ganz wichtige Rolle, dass der quasi unterstützend dabei ist, dass auch gerade (.) wenn von außen irgendwelche Fragen kommen oder Einwände, dass der Partner dann, vorher schon natürlich mit dem Partner abgesprochen ist, was will man, was will man nicht, //Mhm// dass der Partner dann sagt: ›Nein, das wollen wir nicht.‹ Oder: ›Das machen wir jetzt nicht so, meine Frau möchte das jetzt aber so haben.‹ Dass man einfach als Frau, in dem Moment kann man ja auch nicht mehr [(lachend) so richtige Entscheidungen treffen], da ist man ja in so einer eigenen Welt. (.) Ähm. (.) Ja, (.) dass das einfach zusammen einfach gut klappt. (Carmen I: 470ff.) In dieser Sequenz beschreibt Carmen, dass es für die Gebärende während der Geburt nicht immer möglich sei, ihren eigenen Standpunkt deutlich zu vertreten. Dem Partner komme dadurch eine zentrale, vermittelnde Position als ihr Anwalt zu. Im Angesicht von Entscheidungen oder anstehenden Praktiken solle er als Fürsprecher wirken und die Wünsche der Gebärenden vortragen, wenn es dieser selbst nicht mehr möglich sei. Die Vorrausetzung für dieses Vorgehen bestehe in möglichst detaillierter vorheriger Absprache des Paares und der Auseinandersetzung mit den medizinischen Praktiken und den eigenen Wünschen. Ein weiteres Merkmal des Hypobirthing sei die intensive, partnerschaftliche Vorbereitung auf die bevorstehende Geburt. Hierzu müssen spezifische Routinen erlernt werden: Atem-, Entspannungs- und Massagetechniken, die Einübung positiver Affirmationen und positiver Vorstellungen zu Geburt. Während Carmen die Körperübungen erlernt, stellt ihr Mann CDs mit Entspannungsmusik und selbst eingesprochenen Affirmationen zusammen. Das Paar wird dadurch zu Experten für die bevorstehende Geburt, da sie sich beide intensiv die Praktiken des Hypnobirthing aneignen. Diese Vorbereitung hilft Carmen auch angesichts vorzeitiger Wehen und der Angst vor einer Frühgeburt im Krankenhaus: »Das ist einfach schön, diese Techniken zu haben, um nicht so hilflos zu sein, sondern um einfach was an der Hand zu haben« (Carmen I: 487f.). Für das Paar ist es wichtig, sich intensiv auf die Geburt vorzubereiten und sich mit ihr auseinanderzusetzen: Aber nach wie vor (.) bin ich der Meinung, dass so das Äußere, die Vorbereitung, dass das schon sehr viel ausmacht, wie eine Geburt= (.) wie eine Geburt sein kann. //Mhm// Und dass man (.) sich nicht zu sehr auf ein Krankenhaus verlassen sollte, sondern dass man vorher sich schon selbst (.) auf jeden Fall Gedanken machen muss und sollte, was möchte ich, was möchte ich nicht. Ähm (.) genau. (.) Dass man sich jetzt nicht zu irgendwas überreden lässt, was man vielleicht nicht will. Aber ist einfach schwierig, weil, (.) weiß ich ja selbst, habe ich ja selbst mitbekom-

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men (.) in der Schwangerschaft, wenn ein Arzt zu dir irgendwie was sagt, dann glaubst du dem das erst mal. (Carmen II: 382ff.) Die Vorbereitung scheint nach Carmen einen großen Einfluss auf die Geburt zu haben. Einem Vertrauen auf die Geburtshelfer*innen im Krankenhaus steht sie skeptisch gegenüber und spricht gleichzeitig die eigene Erfahrung an, Ärzt*innen zuerst einen Vertrauensvorschuss zu geben. Die Geburtsmedizin erscheint insgesamt als etwas, das es zu hinterfragen gilt. Darum, so Carmens Aufforderung, sollten Frauen sich ausführlich informieren und gegenüber den unterschiedlichen medizinischen Praktiken vor der Geburt positionieren. Der eigene Standpunkt erscheint handlungsleitend und unter Zuhilfenahme des Partners schützenswert. Sie entwickelt ihre Orientierung auch in Abgrenzung zu anderen Frauen: Und sagt halt auch, dass die Frauen auch immer mehr halt verunsicherter heutzutage sind. Auch gar nicht mehr (.) so auf sich hören, sondern nur so auf das, was man halt so sagt. (Carmen II: 564ff.) Dem eigenen Willen, eigenen Impulsen der Frauen scheint im Allgemeinen während der Geburt kein Platz eingeräumt zu werden. Sie würden viel nach gesellschaftlichen Normen und Empfehlungen handeln, durch den Kontakt mit Schwangeren und Frauen mit Säuglingen in ihren eigenen Trainingsgruppen bekräftig sich ihr Eindruck. Dabei sei es wichtig, sich fernab der gesellschaftlichen Normalitätsentwürfe eine eigene Meinung zu bilden, um nicht ausschließlich ›fremdbestimmt‹ zu agieren. Carmen räumt ein, dass das gar nicht so einfach sei, da der Zugang zu alternativem Wissen erst einmal geschafft werden müsse: Also wir haben uns auch schon viel informiert und eingelesen und geguckt, was gibt es (.) und was wollen wir und was wollen wir nicht. Und auch einfach (.) so dieses Selbstbestimmte (.) //Mhm// (.) auch einfach schon immer wollten. Bei= bei meinem Mann in der Familie ist das auch schon immer (.) intensiver (.) //Mhm// so ein bisschen Thema gewesen. Es kommt= es kommt überwiegend von ihm aus. (.) Auf manche Sachen muss man ja erst mal aufmerksam werden […]. Wenn man es nicht weiß, informiert man sich nicht. (Carmen II: 616ff.) Durch die aktive Wahl ihres Geburtsortes und des Geburtsmodells schafft sich Carmen selbst ein Umfeld, das ihre Impulse während der Geburt priorisiert. Zusätzlich hat sie eine Vereinbarung mit ihrem Mann, der ihre Wünsche während der Geburt ebenfalls schützen würde. Zudem verläuft die Geburt so schnell, dass alle Handlungen als Reaktionen erscheinen. Unterschiedliche Vorstellungen, Meinungen oder Aushandlungen werden nicht thematisiert. Die Widerständigkeit bezieht sich bei Carmen vor allem auf den konträren Standpunkt zur allgemein üblich erscheinenden invasiven Geburtsmedizin. Die Entscheidung für das Geburtshaus teilt das Paar nur wenigen Menschen mit, »weil vorher versuchen die Leute einem dann,

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auch unbewusst wahrscheinlich, echt Ängste zu machen« (I: 573f.). Durch diese Strategie vermeiden sie die Konfrontation mit negativen und beängstigenden Vorstellungen anderer. Neben den Frauen, die außerklinisch entbinden und sich damit nicht innerhalb des gesellschaftlichen Normalentwurfes der Geburt befinden, kann widerständiges Verhalten auch in anderen Kontexten aufgespürt werden. Hierfür lässt sich noch einmal der Fall von Lenka aufführen. Insgesamt beschreibt sie einerseits den Wunsch nach Unterstützung und Orientierung, gleichzeitig zeigt sich während der Geburt, dass sie lieber selber entscheidet und nicht so viel angeleitet werden möchte. Die widerständigen Gebärenden haben eine konkrete und umfassende Vorstellung davon, dass sie das Kind aktiv auf die Welt bringen und daher auch die Geburt gestalten. Sie sind die Expertinnen ihrer Geburt, ihrer Bedürfnisse und Wünsche, außerdem haben sie ein breites und spezielles medizinisches Fachwissen. Sie formulieren sehr genau, was sie sich wünschen und agieren strategisch, um ihre Wünsche ohne große Diskussionen oder Konflikte zu erfüllen. Medizinische Versorgung sehen sie als potenzielle Gefährdung des Geburtsprozesses und des eigenen Wohlbefindens und stehen damit Anrufungen des hegemonialen bio-medizinischen Geburtsdiskurses skeptisch gegenüber. Sie wägen folglich stärker ab, ob sie diese Anrufungen annehmen. Sie stützen sich auf die Deutung, dass im Krankenhaus übliche Interventionen den Geburtsprozess stören und damit ein erhöhtes Risiko für eine komplikationsreiche Geburt entsteht oder sie empfinden das Setting einer außerklinischen Geburt für besser und angenehmer. In Abgrenzung zum ›Mainstream‹ beschreiben sie sich selbst als hinterfragend und reflektierend. Damit grenzen sie sich bewusst von der gesellschaftlich normal definierten Geburtsdeutung ab, ohne diese jedoch zu entwerten. Vielmehr sagen alle Frauen in den Interviews, dass jede Frau selbst für sich entscheiden muss, wo sie sich wohlfühlt und diese Entscheidungen zu respektieren seien. Durch die Wahl eines alternativen Geburtsortes sehen sie sich, je nach sozialem Umfeld, ohne soziale Anschlussfähigkeit. Das bedeutet beispielsweise, dass Frauen, die in einer Stadt wohnen, wo Hausgeburten und Geburten im Geburtshaus sehr stark vertreten sind, stärker Kontakt zu Frauen finden, die ebenfalls eine solche Geburt erlebt haben. Folglich ist die Präsenz alternativer Diskurse und Dispositive viel stärker ausgeprägt und damit auch die Akzeptanz alternativer Entscheidungen. Gegenüberstellung der Subjektpositionen Abschließend gilt es, Subjektpositionen als feste Bestandteile der Dispositive zu begreifen, die konkrete Deutungen, Handlungen und Handlungsreflexionen beinhalten, komplementär aufgebaut sind und die Frauen auf spezifische Weise adressieren. Das dispositive Feld der Geburt zeichnet sich durch widersprüchliche und

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paradoxe Adressierungen aus. Es konnten mehrere Spannungsfelder aufgezeigt werden (vgl. 5.2), eines besteht zwischen den zwei Polen der selbst- und fremdbestimmten Patientin. Im Vergleich der Subjektpositionen treten unterschiedliche Dimensionen der Kategorie deutlich zu Tage. Der stärkste Kontrast zwischen den Subjektpositionen besteht darin, welches Verhältnis zwischen der Gebärenden und den professionellen Geburtshelfer*innen konstitutiv ist. Welche Wissensart gilt als legitim und handlungsleitend, wer trifft die Entscheidungen und trägt die Verantwortung für die Gestaltung und den Ausgang der Geburt, wem wird Handlungsmacht zugeschrieben und letztendlich auch: wem oder was kann angesichts der unbekannten Geburt vertraut werden? Die entscheidende Position kommt den professionellen Geburtshelfer*innen bei der Subjektposition der vertrauenden Schwangeren und Gebärenden zu. Sie werden als Expert*innen konstituiert, die über das legitime medizinische Fach- und Erfahrungswissen verfügen, um die Geburt einzuschätzen und zu leiten. Dementsprechend sollten sie durch Kontrollpraktiken und Handlungsvorschläge, -anweisungen und -anleitungen den Prozess der Geburt und die Gebärenden selbst lenken. Diese wiederum vertrauen auf die richtige Einschätzung und adäquate Leitung und Betreuung durch die Expert*innen. Die Position von Gebärender und professionellen Geburtshelfer*innen ist in der Adressierung der selbstbestimmten Schwangeren und Gebärenden im selben Maße handlungsleitend. Während Geburtshelfer*innen Fachexpert*innen der Geburt sind, haben die Gebärenden einen somatischen Zugang zu ihren Empfindungen. Dadurch sind die Verständigung, Kommunikation und Aushandlung von Entscheidungen von zentraler Bedeutung. Äußere Handlungsanleitung und Eigeninitiative sind eng miteinander verwoben. Bei der widerständigen Schwangeren und Gebärenden ist die Frau stärker als Expertin ihrer Geburt adressiert und kann damit potenziell in Konflikt zur Expertise der Geburtshelfer*innen geraten. So beschreiben sich die Frauen selbst als kritisch hinterfragend, der Schulmedizin oder dem Setting des Krankenhauses skeptisch gegenüberstehend. Das Vertrauen spielt auch bei ihnen eine zentrale Rolle, wird aber in die Natur, beziehungsweise den Geburtsprozess und die eigenen Fähigkeiten und Einschätzungen gesetzt. Die Unterscheidung von Fremd- und Selbstbestimmung erscheint auf den ersten Blick konstitutiv für die verschiedenen Subjektpositionen. Dabei entwerfen sich alle interviewten Frauen als aktive Gebärende, die in letzter Konsequenz unabhängig dem Grad der Anleitung die Geburt körperlich erleben und bewältigen. Folglich ist es als aktive, wenn auch nicht immer bewusste, Bewältigungsstrategie anzusehen, Handlungs- und Einschätzungsmacht vertrauend den Expert*innen zuzuschreiben. Eine weitere Dimension besteht in der Außenwahrnehmung der Frauen. Die widerständige Gebärende gilt nach außen als widerspenstig und anstrengend. Sie ist eine negative soziale Figur, obwohl sie der Anrufung einer selbstbestimmten

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Frau entspricht. Sie entzieht sich teilweise den Anrufungen einer normalen Klinik und durchbricht damit etablierte Hierarchien und Routinen. Dieses Verhalten wird von der Außenwelt kommentiert, wobei es hier deutliche Unterschiede regionaler Geburtskulturen, der sozialen Verortung und der Verbreitung von alternativen Geburtsmodi (Hausgeburten, Geburtshaus oder Alleingeburt) gibt. Wenn alternative Geburtsorte und -modelle regional verbreitet sind und mehrere Paare bekannt sind, die sich dafür entscheiden, dann reagiert das soziale Umfeld weniger normierend. Illustrativ führe ich hier die Fallbeispiele von Nadine und Freya an. Während Nadine in einer ostdeutschen Hauptstadt mit mehreren Geburtshäusern lebt und im Freundeskreis Bekannte hat, die das Angebot von Hebammenpraxen oder Geburtshäusern nutzen, stößt ihr Anliegen, eine Geburt im Geburtshaus zu erleben, auf keine besonderen Reaktionen ihres Umfeldes. Die Hebamme im Krankenhaus ist zwar skeptisch und genervt, die Ärztin hingegen befürwortet und befolgt Nadines Wünsche für die Geburt. Freya hingegen wird durch Dritte, ob Familie, Menschen auf der Straße oder Bekannte, sehr stark mit deren Ängsten und Zweifeln konfrontiert. Sie hat, außer in spezifischen Foren, keine Austauschmöglichkeiten zum Thema Geburt. Den sozialen Gegenwind deutet sie auch positiv, indem eigene Gedanken angeregt werden. Das persönliche Umfeld oder regionale Gegebenheiten beeinflussen also, mit welchem diskursiven Wissen Frauen in Berührung kommen, aber auch, wie Dritte auf ihre Entscheidungen und Wünsche reagieren. Worin begründet sich nun die Selbstpositionierung der Frauen? Sie bildet sich im Zusammenspiel der biographischen Prägung und dem Zugang zu unterschiedlichen Wissensressourcen, aber auch im persönlichen Erfahrungswissen mit Geburt heraus. Den Anlass für ein kritisches Verhältnis zur Medikalisierung der Geburt bildet zum Beispiel eine frühere Geburtserfahrung oder wie bei Lenka mehrere lange Krankenhausaufenthalte in der Jugend. Das bisher Erlebte oder das Setting der Krankenhausgeburt wird dabei nicht als grundsätzlich negativ bewertet, ruft aber keine Passung zu persönlichen Gefühlen hervor und regt zu einem Hinterfragen gängiger Praktiken und Routinen an. Stefanie empfand die Einleitung der Geburt der ersten Tochter als schmerzhaft und unnötig, da sie sich selbst als eine Frau beschreibt, die über den Geburtstermin geht, und rückt in ihren weiteren Überlegungen von der starken schulmedizinischen Orientierung an einem konkreten errechneten Geburtstermin ab. Nadine erlebt ihre erste Geburt als insgesamt positiv und schnell, stört sich aber an der zeitaufwändigen Vorsorgepraxis angesichts einer Beckenendlage, an der Anwesenheit so vieler Geburtshelfer*innen und am Dammschnitt, der ohne Rückfrage und Information erfolgt. Während Freya aus der komplikationsreichen Geburt ihres ersten Kindes eine andere Vorstellung von Geburt entwickelt hat und für die Geburt der beiden folgenden Kinder das Setting der Alleingeburt wählt, findet Sabina vor allem mit der gesellschaftlichen Überbewertung und Aufwertung der Geburt im Geburtshaus keine persönliche Passung.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Diese Deutung passt nicht zu ihrem Empfinden, dass Geburt etwas Unspektakuläres, Alltägliches ist, weshalb sie die weiteren Geburten allein vollzieht. Die drei aufgeführten Subjektpositionen sind in ihrer Aneignung nicht als klar abgetrennte Idealtypen zu betrachten, sondern als Kontinuum, wie der Fall der Interviewpartnerin Nadine exemplarisch verdeutlichen soll. Nadine ist schwanger mit ihrem zweiten Kind, das erste Kind brachte sie in Beckenendlage in einem Krankenhaus zur Welt, nun wünscht sie sich eine außerklinische Geburt, doch die erneut regelwidrige Position des Ungeborenen steht diesem Wunsch entgegen. Die Vorsorge lässt sie zu einem großen Teil von einem Hebammenteam aus dem Geburtshaus vornehmen, das sie auch während der Geburt und dem Wochenbett begleiten wird. Ihnen bringt sie großes Vertrauen entgegen, sie geht davon aus, dass sie Risiken und Komplikationen zuverlässig erkennen und nur intervenieren, wenn es zwingend notwendig ist. Außerdem geht mit dem Entschluss für ein Geburtshaus die Annahme einher, dass sie eine kontinuierliche Betreuung durch die ihr bekannten und vertrauten Hebammen gewährleistet ist. Auch Nadine beschreibt die Geburt, wie die meisten Frauen des Samples, als einen natürlichen Prozess und verbindet das Frau-Sein mit der Fähigkeit zur Geburt. Wenn Frauen dazu geschaffen sind, Geburten zu bewältigen oder zu vollbringen, dann benötigen sie dabei wenig Unterstützung. Medikamente oder der Einsatz spezifischer technischer Geräte sind nur in Notfällen bedeutsam. Wie schon das erste Kind befindet sich auch das zweite zum Zeitpunkt des ersten Interviews in Steißlage. Angesichts der Lageanomalie des ungeborenen Kindes gilt die bevorstehende Entbindung automatisch als Risikogeburt und verhindert die gewünschte Geburt im Hebammenhaus. Folglich stellt sich für Nadine die bedeutsame Frage, wann Geburten als riskant definiert werden und damit umfangreiche Interventionen und die Einschränkung der Wahlfreiheit gerechtfertigt wären, denn ihre erste Geburt verlief komplikationsfrei. Die einzige Möglichkeit, ihre volle Gestaltungsmöglichkeit wieder zu erlangen, ist eine Drehung des Ungeborenen. Daraufhin befasst sich Nadine mit der äußeren Wendung und anderen Methoden, um das Kind doch noch in die Beckenendlage zu bewegen. Eine Ambivalenz wird hier deutlich, Nadine scheint das Gefühl zu haben, dass die Kinder in der Steißlage verbleiben und empfindet diesen Zustand selbst als nachvollziehbar. Anderseits wird ihr durch das medizinische Fachpersonal nahegelegt, sich für eine Positionsveränderung zu engagieren und der abweichenden Kindslage entgegenzuwirken, sogar zur Durchführung einer äußeren Wendung im Krankenhaus wird ihr geraten. Durch die Steißlage sind einige Übungen sowie zusätzliche Untersuchungen erforderlich, die viel Zeit, Aufwand und Abwägung in Anspruch nehmen. Die Schwangerschaft wird damit zu einer Zeit des Hoffens auf Veränderung, ohne diese garantieren zu können. Nadine beschreibt diesbezüglich einen gewissen Druck, der auf ihr lastet und verhindert, dass sie diese Schwangerschaft und Geburt entspannt erlebt. Um in der Abweichung einer Beckenendlage und der damit einhergehenden Wahl-

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einschränkung zu entgehen, nimmt Nadine eine umfangreiche Körperarbeit sowie ein relativ großes Risiko und Schmerzen in Kauf. Die begleitenden Hebammen und Ärztinnen ermutigen sie zu einer äußeren Wendung. Die Risiken und Schmerzen werden nur am Rand thematisiert. Da ihr allerdings die Entscheidungsfreiheit obliegt und sie konstant von ihren vertrauten Hebammen betreut wird, beschreibt sie die intensive Empfehlung der Geburtshelfer*innen nicht negativ. Alle Versuche, das Kind zu drehen, scheitern. Die Geburt im Krankenhaus erscheint nun unausweichlich, darum versucht Nadine sich wieder andere Handlungsmöglichkeiten zu erobern. Dies gelingt ihr, indem sie bewusst ein Krankenhaus auswählt, in das sie ihre Hebammen als Begleitpersonen begleiten können und wollen und sie konkrete Anforderungen in einem Vorgespräch zur Geburt artikuliert. Bei der Auswahl des Krankenhauses beschreibt Nadine eine unterschiedliche Behandlung der Hausgeburtshebammen in diesem institutionellen Rahmen. Der Konflikt mündet in der Vermeidung dieser Institution durch die Hebammen. Damit wird ein Konflikt zwischen Hebammen des Krankenhauses und des Geburtshauses auch auf individueller Ebene spürbar. Die Hebammen des Geburtshauses werden als ›Esoterikerinnen‹ verkannt und haben in manchen Krankenhäusern keinen guten Stand, darum gehen sie lieber in das Krankenhaus, mit dem sie bereits gute Erfahrungen gemacht haben und gut zusammenarbeiten. So begleiten sie Nadine auch zum Vorgespräch. Im Krankenhaus nimmt sie eine Sonderposition ein, denn sie ist die Frau »mit ihren zwei Hebammen aus’m Geburtshaus« (Nadine II: 400f.) und den Sonderwünschen. Sie formuliert dies so, als ob sie mit einem bestimmten Stereotyp konfrontiert werden würde und damit eine Sonderposition im Gefüge des Krankenhauses einnehmen würde: Also es war schon so in dem Vorgespräch ganz schön, (.) ar da musst ich ganz schön so= (.) da war ich schon wieder so’n bissel so: Ar ja, ›die mit ihren zwei Hebammen aus’m Geburtshaus.‹ (.) So, ne? So vom Gefühl her, ne so? //Mhm// Ja ich will hier, (.) ähm (.) dass die Nabelschnur auspulsiert //Mhm// und ich will das und das und ich will (.) ähm, (.) dass ähm (.) kein Dammschnitt gemacht wird. (.) Und wenn einer gemacht werden muss aus irgend ’nem Grund, dass er dann ähm, (.) dass es angekündigt wird. Weil beim [erstes Kind] war ich ja so, da wurde dann plötzlich (.) ohne irgend ’ne Vorankündigung: kr. (.) //Mhm// Und man hat’s nur so (.) auseinander klatschen hören und dann= (.) //Mhm// und das war für mich irgendwie so (.) puh: (.) blöd. Das fand ich irgendwie doof und (.) hab gesagt, ich will das halt ankündigt haben, wenn so was gemacht werden muss //Ja// irgendwie. Und dann hab ich noch gesagt, dass ich ähm (.) eigentlich keinen Wehentropf haben will, solange es geht. Also (.) ne? Wenns= Es gibt natürlich immer Situationen, das= wo’s dann gemacht werden muss, (.) ne? (Nadine II: 399ff.) In dieser langen Passage beschreibt Nadine ihre Sonderposition und Wünsche, die sie an das Personal des Krankenhauses heranträgt. Ihr fehlen die Worte, um ih-

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

re Position im Krankenhaus zu beschreiben. Das »ar« wirkt wie ein Knurren und deutet auf Kampf, Wut vielleicht auch Verzweiflung oder den Versuch hin, sich zu behaupten. Sie ist diejenige, die eigentlich ins Hebammenhaus möchte und die während der Schwangerschaft von zwei Hebammen aus dem Geburtshaus betreut wird. Zusätzlich hat sie genaue Anforderungen an die Geburt, ähnlich einem Geburtsplan: Sie wünscht sich, dass die Nabelschnur auspulsieren kann; sie möchte keinen Dammschnitt und wenn, dann nur mit Ankündigung; keinen Wehentropf und keine Antibiotika. Ein Teil dieser Wünsche beschreibt, wie sie versucht, diese Geburt anders zu gestalten als die erste Geburtserfahrung. Beim ersten Gespräch zeigt sich die Hebamme gleich kritisch und manche Details werden im Team des Krankenhauses diskutiert. Im zweiten Interview berichtet Nadine nur sehr kurz von der eigentlichen Geburt: Einerseits handelt es sich um eine sehr schnelle Geburt, so dass für viele (routinierte) Praktiken schlicht keine Zeit bleibt, andererseits betont Nadine »es wurde auch alles so gemacht, wie ich wollte« (Nadine II: 80f.). Die Nabelschnur kann auspulsieren, eine der ihr vertrauten Hebammen begleitet sie zur Geburt, direkt nach der Geburt unterstützt die Hebamme das erste Anlegen, auch der mitgebrachte Kaffee wird für den Dammschutz17 genutzt. Die Geburt verläuft sehr schnell. Kaum im Krankenhaus und Kreißsaal angekommen, wird Nadine schon auf die Gebärlandschaft gebeten und kurz darauf setzten die Presswehen ein. So bleibt keine Zeit, eine standardmäßige Braunüle zu legen oder ähnliche Maßnahmen zu ergreifen, was Nadine sehr recht ist. Also es ging echt (.) ziemlich (.) schnell (.) für ’ne Beckenendlagengeburt und (.) //Ja// (.) und ich war eigentlich auch ziemlich glücklich drüber. Weil normalerweise kommste ins Krankenhaus und bei Beckenendlage wird eigentlich (.) grundsätzlich immer der Wehentropf gelegt, (.) //Ja// also auch wenn du ihn erst mal nicht brauchst. Und es wird erst mal alles vorbereitet und so. (.) Und dafür hatten die gar keine Zeit. (.) //Mhm// Die haben gerade noch so das CTG um meinen Bauch drumrum gewürscht und das war’s dann auch schon. (Nadine II: 59ff.) Nadine befindet sich zwischen den benannten Subjektpositionen. Ihrem Hebammenteam und der Ärztin des ausgewählten Krankenhauses vertraut sie, sodass sie auch die äußere Wendung durchführen lässt, der sie eigentlich skeptisch gegenübersteht und letzten Endes auch keiner Frau empfehlen würde, die bereits problemlos ein Kind aus der Beckenendlage entbunden hat. Durch die aktive Wahl und Abwägung der Geburtsorte und den Beziehungsaufbau mit ihrem Hebammenteam schafft sie eine Vertrauensbasis, mit der sie davon ausgeht, gut beglei17

Der Dammschutz ist eine Maßnahme, um das Gewebe des Dammes vor dem Einreißen zu schützen. In diesem Fall wird eine mit starkem Kaffee getränkte Kompresse an den Damm gehalten, um das Gewebe bei der Dehnung zu unterstützen.

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tet und beraten zu werden. In Absprache mit ihren Hebammen gelingt es, eine kontinuierliche Betreuung im Geburtshaus über die Geburt hinaus zu sichern. Im Anmeldegespräch in der Klinik reflektiert sie wiederum ihre Sonderstellung und positioniert sich mit ihren Sonderwünschen als widerständig gegenüber dem etablierten Vorgehen im Krankenhaus. Während der Geburt hingegen werden all ihre aufgelisteten Wünsche beachtet und sie wird innerhalb des Kreißsaals als selbstbestimmte Gebärende wahrgenommen. Das tatsächliche Agieren während der Geburt ist neben der Selbstpositionierung der Frau auch davon abhängig, welche Subjektposition im theoretisch-praktischen Geburtshilfekonzept der Einrichtung als Ideal verankert ist und welche Subjektposition durch die Geburtshelfer*innen angerufen wird (vgl. auch Tegethoff 2008). Es stellt sich die Frage, wer die Verantwortung trägt, ob die Frauen selbstständig und eigensinnig agieren können und wollen und ob sie den Raum für ein selbständiges Agieren haben.

5.3.2

Gebärende Frauen im Spannungsfeld der Selbstbestimmung

An die vorgestellten Subjektpositionen schließen sich Überlegungen zum Stellenwert der Selbstbestimmung an. Selbstbestimmung stellt eine zentrale diskursive Formation im Geburtsdiskurs dar (siehe Kapitel 4.1.7), darum ist es von Bedeutung, zu betrachten, inwiefern diese Konstruktion und dieser Anspruch sich auch in den Interviews zeigen. Für die meisten interviewten Frauen ist Selbstbestimmung überraschenderweise nicht der richtige Ausdruck, er scheint nicht zur Situation der Geburt zu passen. Kaum benutzen die Interviewpartnerinnen ihn von sich aus, sondern positionieren sich diesbezüglich nur auf Nachfrage oder in Form einer Negation, indem sie beschreiben, nicht selbstbestimmt gewesen zu sein. Wenn die Geburt von Frauen als Prozess gedeutet wird, auf den sie kaum Einfluss haben und dem sie ausgeliefert sind, den sie bestehen oder erdulden müssen, erscheint es folgerichtig, dass dem Begriff der Selbstbestimmung keine große Bedeutung zugeschrieben wird. Nachdem im vorherigen Unterkapitel die Subjektpositionen darauf hin entwickelt wurden, welche Position Frauen sich selbst während der Geburt zusprechen, geht es nun um den konkreten Aspekt der Selbstbestimmung. Dabei ist es irrelevant, an welcher Subjektposition sich die Frauen orientieren, ob sie sich mehr oder weniger bewusst als vertrauende Gebärende in die Hände der professionellen Geburtsbegleiter*innen begeben, selbstbestimmt auftreten oder sich als widerständige Figur positionieren. Auf einer weiteren Abstraktionsebene sind all die unterschiedlichen Orientierungen innerhalb des Selbstbestimmungsparadigmas zu verorten. So kann eine Wertung oder Zuordnung von Verantwortung vermieden werden, auch wenn es sich nicht immer um bewusste Entscheidungen oder Positionierungen handelt. Insgesamt war Selbstbestimmung für die wenigsten Frauen vor und nach der Geburt eine Orientierungsgröße. Sie

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

wählen diesen Begriff sehr selten in der Selbstbeschreibung, sondern thematisieren ihn nur auf Nachfrage. Eine Begründung hierfür lässt sich im Anspruch zur rationalen Abwägung und der Betonung der Autonomie finden. Der Begriff scheint kaum zum Erleben der Geburt zu passen und wird darum auch nicht in den Narrationen verwendet. Auch alternative Begriffe finden keine Anwendung, allerdings beschreiben die Frauen Situationen, in denen sie das weitere Vorgehen vorgeben, Entscheidungen treffen oder frei agieren. Es schließt sich die Frage an, wie die Grenzen der Selbstbestimmung konstruiert, erfahren und gerechtfertigt werden. Aus dem Interviewmaterial lässt sich rekonstruieren, dass sich die Grenzen der Selbstbestimmung in Schwangerschaft und Geburt um Aspekte der Notfallversorgung, des Messens standardisierter Werte, die Selbstzuschreibung des Bewusstseinszustands, der Unverfügbarkeit der Geburt und der Verletzungsoffenheit formieren. Notsituationen Besonders in Notsituationen, in denen das Wohl des Kindes als gefährdet definiert wird, scheinen Selbstbestimmung und das persönliche Empfinden der Gebärenden nicht von Bedeutung zu sein. Dies zeigt sich an der Geburt, die die Interviewpartnerin Michaela beschreibt. Nach dem Geburtsbeginn erhält sie auf Nachfrage der Hebamme einen Einlauf, woraufhin sich die Wehen verstärken. Als sie im Kreißsaal ankommt, ist sie vorerst mit ihrem Partner allein und versucht mit den starken Wehen umzugehen. Als sie einen starken Pressdrang verspürt, kommt eine Hebammenschülerin hinzu. Sie ist von der Situation überfordert und hält Michaela dazu an, die Presswehen zu veratmen, woraufhin die Herztöne des Kindes sich verschlechtern. Weitere Geburtshelfer*innen kommen hinzu und diskutieren die Möglichkeit des Einsatzes der Saugglocke, die im weiteren Verlauf auch angewendet wird. Michaela wertet die Geburt als dramatisch und traumatisch. Ja. Also das ist irgendwie das Gefühl gewesen, das passiert nur noch mit mir. //Ja// Ja, (.) geschehen lassen. Oder über sich ergehen lassen. So. […] Aber=aber das war irgendwie, ja eigentlich ausgeliefert oder hilflos irgendwie so. //Ja// Ja. //Mhm// Nicht Herr der Lage oder irgendwie selbstbestimmt. //Ja// Ja. (Michaela II: 834ff.) Sie beschreibt sich in einer entgrenzten Situation, in der sie die Prozedur der Geburt unter starken Schmerzen und verletzenden Kommentaren des Assistenzarztes über sich ergehen lässt. Sie beschreibt, während der Geburt sei »kein Spielraum für gar nichts« gewesen, weder für »Gestaltung« noch für »Schmerzstillung« (ebd.: 6). »Was ich haben möchte, hat da glaub ich keine Rolle gespielt« (ebd.: 50), fasst sie die Situation zusammen. Sie ist in einer Lage, in der sie selbst nicht mehr agieren und entscheiden kann und darf. Ihrem Befinden wird von den professionellen Geburtshelfern*innen keine Bedeutung beigemessen, sie erfährt kaum empathische Fürsorge. Über das intensive Erzählen und Verarbeiten der Situation eignet sie

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sich das Erlebte jedoch wieder an. Michaela definiert die Geburt als nicht selbstbestimmt. Auf die Frage, ob für sie die fehlende Selbstbestimmung eine Rolle gespielt habe, antwortet sie: Das wär in Ordnung, wenn’s irgendwie ’ne medizinische, (.) also ’ne zwingende medizinische Indikation gegeben hätte. (.) Dass das= dass das eben= dass diese ganzen Handlungen erforderlich gemacht hätten. Ähm (.) weil’s eben dem Kind schlecht ging. //Ja// Und weil’s irgendwie kritisch war. Und wenn das jetzt aber nur ’ne Überreaktion ist von ’nem Einzelnen, (.) der da irgendwie in Panik verfallen ist, so’n Assistent, der da irgendwie in Panik verfallen ist (deutliches Einatmen) und insofern auch die Situation vielleicht dann noch schlimmer gemacht hat, dann (.) ist es eher so, dass ich’s halt blöd find. (Michaela II: 844ff.) Das Erlebte wäre für Michaela akzeptabel, wenn das Vorgehen medizinisch indiziert gewesen wäre und zur Erhaltung des Kindeswohls beigetragen hätte. Damit legitimiert sie das grenzüberschreitende Verhalten und die fehlende Fokussierung auf ihre Bedürfnisse und sie als Person. Die abschließende Bewertung der Geburt hängt an der Einschätzung der Ereignisse: Handelt es sich um einen wirklichen Notfall oder sind die Ereignisse als Folge unglücklicher Entscheidungsverkettungen so traumatisch verlaufen? Die medizinische Notwendigkeit würde für sie auch die verbale und körperliche Gewalt erträglich machen. Die Hämatome am Bauch, ein vermutlich gebrochenes Steißbein und die verbale Grenzüberschreitung seitens der Ärzte ist sie bereit, für ein gesundes Kind zu erdulden, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche wären in einer Notsituation weniger wichtig und es wäre legitim, diese dann zu übergehen. Die Bedürfnisse des Kindes und der Mutter können sich also potenziell gegenüberstehen, die Priorisierung des Kindeswohls zum Nachteil der Mutter ist gerechtfertigt. Deutlich wird hier, dass in einer Notsituation des Kindes das Mitoder Selbstbestimmungsrecht der gebärenden Frau und ihre körperliche und seelische Unversehrtheit weder für die Geburtshelfer*innen noch für die Frau selbst von Bedeutung ist. Mit Babara Duden kann davon ausgegangen werden, dass dem Kindeswohl ein höherer Wert beigemessen wird als dem Wohl der Frau, da schon das ungeborene Kind als eigenständiges Subjekt konstruiert und aufgewertet wird. Auch wenn die Notsituation der Mutter mit einer Notsituation des Kindes zusammentreffen können,die beiden Körper aneinander gekoppelt sind und während der Geburt zusammen arbeiten, können sie getrennt betrachtet werden und es kann theoretisch zu einer Art Konkurrenz kommen, bei der ein Bedürfnis als weniger wichtig bewertet wird als das andere. Diese Konkurrenz bleibt hingegen analytisch, denn es herrscht nach wie vor ein Leitbild von Mutterschaft, nach dem Mütter bereit sind, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Wird eine Notsituation seitens der professionellen Geburtshelfer*innen definiert, kommt es zu automatisierten Handlungsabläufen, die eine Einwilligung, Entscheidung oder Information

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

der Frau nicht mehr zwangsläufig einbeziehen. Grenzüberschreitendes Verhalten scheint seitens der Geburtshelfer*innen als angemessen gewertet oder nicht problematisiert zu werden, es wirkt schlicht notwendig. Auch Freya beschreibt ihre erste Geburt als »alles andere als selbstbestimmt« (Freya I: 263). Sie wird in ihrem Erleben nicht ernstgenommen und Grundbedürfnisse, wie das Trinken von Wasser werden eingeschränkt. Sie kann sich nicht frei bewegen, sondern wird von einer Seite auf die andere gelagert. Eingriffe und Medikamentengabe werden nicht mit ihr besprochen. Selbstbestimmung wird im Kontext ihrer Nichterfüllung eigenständig thematisiert und gleichzeitig kann die Einschränkung der Selbstbestimmung durch die empfundene Notsituation des Kindes legitimiert werden. In anderen Interviews beschreiben Frauen schon vor der Geburt, dass sie sich keinem Eingriff entgegenstellen würden, der nötig wird. Welche Eingriffe nötig sind, entscheiden und schätzen sie jedoch nicht selbst ein, sondern die Geburtshelfer*innen. Messen Eine weitere Begrenzung und Einschränkung erfährt die Selbstbestimmung in der Geburtshilfe durch die Orientierung an normalisierenden Durchschnittswerten wie Größe und Gewicht des Kindes, ebenso wie durch Abweichungen von den regelgerechten Geburten. Deutlich wird dies im Interviewmaterial von Stefanie und Nadine. Stefanie wünscht sich, in Abgrenzung zur ersten Geburt, einen natürlichen Geburtsbeginn ohne Einleitung, was durch ihre persönlich-familiär begründete Anlage zu einem Wehenbeginn nach dem errechneten Geburtstermin erschwert wird. Das ungeborene Kind wird durch die Ultraschalluntersuchungen zusätzlich als groß und schwer geschätzt. Die behandelnde Gynäkologin möchte daraufhin den Geburtstermin vordatieren. Stefanie ist im ersten Interview besorgt, ob sie ihren Wunsch nach einem natürlichen Geburtsbeginn in ihrer Wunschklinik durchsetzen kann. Alternativ spielt sie mit dem Gedanken, in einer anderen Klinik zu entbinden. Es wird deutlich, wie stark sie sich mit den Maßgaben, internen Vorschriften und Empfehlungen auseinandersetzt, die durch das Überschreiten des Geburtstermins und ein (zu) großes Kind folgen. Durch die Unsicherheit, die aus der Vermessung resultiert, ist sie in ihrer eigenen Entscheidungsmöglichkeit beschränkt. Im argumentativen Rückgriff auf das Kindeswohl und die Einordnung in Risikomodelle erscheinen Eingriffe, wie hier die Einleitung der Geburt, als wahrscheinlich, auch wenn Stefanie diese Intervention ablehnt und den späteren Geburtsbeginn für familiär veranlagt und daher normal bewertet. Außerdem hat sie vorher in Gesprächen mit anderen Frauen und durch die Erfahrung der ersten, eingeleiteten Geburt die Wahrnehmung, dass eingeleitete Geburten schmerzhafter sind. Es geht ihr also auch um die Möglichkeit, während der Geburt weniger Schmerz zu

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empfinden. Tatsächlich bringt sie ein großes und schweres Kind zur Welt und bewertet die Geburt als sehr positiv, was sie auch mit dem spontanen Geburtsbeginn begründet. Auch Nadine wird in ihrer Wahlmöglichkeit des Geburtsortes und dem Wunsch nach einer ambulanten Geburt beschnitten. Die Rechtslage und die Qualitätssicherung des Geburtshauses beschreiben Beckenendlagen als Risikogeburten, die im Krankenhaus stattfinden müssen. Nadine hält fest: »weil das Kind halt ni richtig rum liegt halt (.) so, (.) darf man halt nicht mehr wählen« (Nadine I: 724f.). Durch mehrere Praktiken versucht sie, das Kind zu wenden und willigt auch in das (riskante) Manöver einer äußeren Wendung ein, obwohl sie diesen Eingriff als unvereinbar mit ihrem Wunsch nach einer natürlichen Geburt hält und das Gefühl hat, dass das Kind sich nicht drehen wird. Die behandelnde Ärztin und ihr Hebammenteam überzeugen sie dennoch zu diesem Schritt, um ihren Wunschort zu ermöglichen. Die schnelle Geburt erfolgt schlussendlich im Krankenhaus, auch hier ist allen Beteiligten das genaue Vorgehen klar, welches sich an bestimmten Richtlinien orientiert. Damit spielt es auch keine so große Rolle, wie Nadine die Geburt gestalten oder sich bewegen will. Eine Beckenendlage soll aus medizinischer Sicht am besten im Vierfüßlerstand entbunden werden und so ist die Gebärposition festgeschrieben. Das Legen eines venösen Zugangs und die CTG-Überwachung sind in demselben Maß obligatorisch, Nadine entgeht diesem Vorgehen nur durch die sehr schnelle Geburt. Weiterhin wird auch in diesem Fall die Größe des Kindes thematisiert. Wie auch das erste Kind wird das Ungeborene unterdurchschnittlich klein geschätzt. Bei kleinen Kindern wiederum wird von einer ambulanten Geburt abgeraten, da sie als überwachungsbedürftig gelten. Und wenn ich aber ins Krankenhaus gehe, (.) gibt’s ja an sich auch die Möglichkeit der ambulanten Entbindung. //Mhm// Ähm, davor hab ich ’n bissel (.) Angst. […] Wenn das Kind jetzt wieder unter drei Kilo wiegt oder so, (.) ähm (.) mit ’nem sehr leichten Kind nach Hause (.) und wenn was passiert, dann ja und das ist ja ihre Verantwortung und= Also (.) wir würden das ihnen ja ni empfehlen und //Mhm// dass man dann wieder so viel (.) eingeredet kriegt und so viel Angst (.) gemacht (.) kriegt. (Nadine I: 138) Nadine hat aus der Erfahrung mit der ersten Geburt Angst, dass ihr ein schlechtes Gefühl gemacht wird und sie auf Widerstand stößt, wenn sie auf ihren eigenen Wunsch besteht, das Krankenhaus nach der Geburt so schnell wie möglich zu verlassen. Sie fürchtet dann eine manipulative Verunsicherung und die komplette Übernahme der Verantwortung für aufkommende Probleme oder Komplikationen zugeschrieben zu bekommen. Kindslage und -größe sowie der errechnete Geburtstermin als Abweichungen von Normalverteilungen grenzen die Selbstbestimmung und Wahlfreiheit ein.

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

Fehlentwicklungen und Risiken sollen durch medizinische Praktiken vorgebeugt werden. Abweichungen von Durchschnittswerten stellen dabei bereits ein Risiko des Kindeswohls dar und sollen entsprechend behandelt und kontrolliert werden. Es kommt zu einer Verhandlung von Verantwortlichkeit noch vor der Geburt. Bei all diesen Abwägungen zählen medizinische Praktiken (rechtlich) als Risikominimierung, nicht das Unterlassen dieser Handlungen. Deutlich wird auch, dass Verantwortung für eine gute, gelingende Geburt und ein gesundes Kind den Frauen, Ärzten*innen oder Hebammen zugeschrieben werden kann und damit verfügbar gestellt wird. Selbstzuschreibung des Bewusstseinszustands Neben dem Kindeswohl ist der Bewusstseinszustand der gebärenden Frau, den sie sich selbst zuschreibt, ein weiteres Hindernis für Selbstbestimmung während der Geburt. Eine Zuschreibung in unterschiedlichen diskursiven Formationen lautet: Frauen wöllten und könnten während der Geburt und vor allem in der Austreibungsphase gar nicht mehr entscheiden oder kommunizieren. Die Begriffe Delirium, Willenlosigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit begründen diese (Selbst-)Einschätzung. Das oft beschriebene Delirium führe dazu, dass Frauen nicht in der Lage seien, Entscheidungen zu treffen oder sich an Details der Geburt zu erinnern. Dieses Bild von Geburt ist auch sehr beliebt bei der filmischen Darstellung von Geburt: Geburten erscheinen sehr schnell und akut, Frauen sind nur im Schmerz versunken und können sich nicht mehr bewegen oder am alltäglichen Leben teilhaben, sie sind entgrenzt und gefangen im Schmerz. Die (diskursive) Funktion solcher (Selbst-)Zuschreibungen liegt im legitimen Umgang mit Frauen während der Geburt: Wenn Frauen unter der Geburt nicht selbst entscheiden und agieren können, werden sie zu Objekten, an denen die Geburt vollzogen wird. Es erscheint legitim, dass an ihnen und ihrem Körper etwas getan wird und sie behandelt werden. Mit dieser Zuschreibung bedürfen Praktiken und Handlungen keiner Absprache. In den Interviews zeigen sich sehr unterschiedliche Ausprägungen. Michaela betont in ihrer Erzählung immer wieder, dass sie sich kaum an etwas erinnert, während sie detailreich und ohne zu zögern sehr ausführlich von der Geburt berichtet. Sie beschreibt, dass sie durch die Schmerzen »dermaßen weg« war und sich in einem »Tunnel« und »Delir« (Michaela II: 230) befindet. Sie hätte auf Kommunikationsvorschläge über ihre Bedürfnisse oder die Wahl zwischen Behandlungsalternativen nicht reagieren können. Darum ergänzt sie relativierend ihre Erzählung: »ich muss aber auch ganz fairerweise sagen: (.) selbst wenn’s glaub ich so gewesen wäre, ich hätt’s nicht mehr richtig mitbekommen« (ebd.: 762f.). Auch Jelena berichtet von ihrem Problem, Entscheidungen während der Geburt zu treffen:

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Aber ich war ja auch nicht die Gesprächigste, (beide lachen) von daher war schon alles richtig, da nicht groß zu fragen: (verstellte Stimme) ›Was willste denn jetzt?‹ Weil das waren echt die schlimmsten Fragen. Ich wusste nicht= ich wollte nur Anweisungen haben. (Jelena II: 393ff.) Sie beschreibt in mehreren Sequenzen ihre Schwierigkeit, auf Entscheidungsfragen zu reagieren. Zwar hat sie ein schwaches Gefühl für ihre eigenen Wünsche, versucht aber auch die anderen Möglichkeiten, Interessen und Empfehlungen auszuloten und die Meinung ihres Partners mit einzubeziehen, der daraufhin letztendlich entscheidet. Ein Beispiel dafür bildet die Abwägung, die Wehen im Krankenhaus weiter zu verarbeiten oder wieder nach Hause zu fahren und dort abzuwarten. Mehrfach betont sie ihre Unsicherheit und den Wunsch nach Anleitung, besonders in der letzten Phase resümiert sie, sich nicht mehr so genau an die Geschehnisse erinnern zu können. An mehreren Stellen im Interview mit Jelena wird deutlich, dass sie während der Wehen sehr ruhig und in sich selbst zurückgezogen ist: »Bin auch eher so’n Typ, der da nicht viel redet« (ebd.: 33). Daraus entstehen auch Probleme für die Außenstehenden, also die Hebamme und ihren Partner, da Jelena nicht klar sagen kann, was sie möchte und was nicht. Auch kann sie, die »nicht die Gesprächigste« (ebd.: 393) ist, nicht sagen, was sie möchte, sondern bevorzugt es, klare Anweisungen zu bekommen. Im Gegensatz dazu beschreibt Stefanie ihre Klarheit in Wünschen und Einschätzungen während der gesamten Geburt und ihre Bestrebungen, die Geburt wenn möglich kurz zu halten, damit sie nicht »so fertig« (Stefanie I: 659) ist. Auch Lenka schreibt sich Selbstbestimmung zu, begründet dies mit dem Fehlen des beschrieben diffusen Bewusstseinszustands. Insgesamt lässt sich die These aufstellen, dass die Narration von einem (Schmerz-)Delirium und dem fehlenden eigenen Willen angesichts der Behandlung oder dem fehlenden Möglichkeitsraum für eigenständiges, aktives Agieren den Verzicht auf Selbstbestimmung legitimiert. Auch schließt sich die These an, dass die Narration eines Deliriums es nach sich zieht, dass die Frauen sich selbst keine Handlungsmacht und Entscheidungsfähigkeit zuschreiben. Geburt als Unverfügbarkeit Die Deutung der Geburt als unwillkürlicher Prozess (siehe Kapitel 5.2.1), der sich nicht planen lässt und damit unverfügbar ist, bildet eine weitere Grenze der Selbstbestimmung. Mehrere Interviewpartnerinnen betonen, die Geburt nicht planen oder sich konkret vorstellen zu wollen. Dieser Aspekt wird auch in Kontrast zu anderen Geburten deutlich. Eine gute Geburt erscheint als glückliche Fügung des Schicksals, eine schlechte Geburt ebenso. Deutlich wird das in einer Sequenz mit Jelena:

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Ich denke aber, dass da auch= (.) ich hab nicht alles in der Hand gehabt, ne? Also dass das so gelaufen ist, wie’s gelaufen ist, dass die Wehen dann so gekommen sind, dass es nicht große Unterbrechungen gab. Ich hab eine Frau erlebt, die ist mit mir im Krankenhaus (.) angekommen und hat zwei Tage später immer noch nicht ihr Kind gehabt. //Ja// Aber ich hab gesehen, wie sie gelitten hat, ne? //Ja// Und dann ähm, das= das denk ich, das hat man nicht in der Hand, da kann man sich noch so gut vorbereiten. (Jelena II: 723ff.) Ihre eigene positive Erfahrung hat nichts mit Vorbereitung, Planung oder einer spezifischen Gebärkompetenz zu tun. Den Kontrasthorizont zu der Erzählung bildet eine Geburt, die parallel beginnt und länger verläuft. Wenn Jelena formuliert, »nicht alles in der Hand gehabt zu haben« (ebd.: 723), zeigt das, dass sie sich für das Ereignis der Geburt kaum Macht, Einfluss oder Handlungsmöglichkeiten zuspricht. Sie spielt damit auch darauf an, dass sie während der Geburt ein Problem damit hatte, Entscheidungen zu treffen oder Wünsche zu äußern. Auch in den Interviews mit Johanna und Lenka tritt diese Grenze deutlich hervor, wenn beide es vehement ablehnen, für die bevorstehende Geburt konkrete Vorstellungen oder Wünsche zu entwickeln. Johanna verweist hierbei auf die zurückliegende Fehlgeburt, Lenka auf die Kaiserschnittgeburt nach geplanter Hausgeburt ihrer Schwägerin. So finden sich im eigenen Leben und dem sozialen Umfeld immer wieder Ereignisse oder Komplikationen, die die Unverfügbarkeit der Geburt belegen. Eine bewusste Mitverantwortung der Frauen für die Geburt wird damit klar zurückgewiesen. Auch wenn die eigene Geburt gut und komplikationslos verlaufen ist, erscheint das nicht als eigene bewusste Leistung, sondern trägt immer Züge des Zufalls, für den es gilt, dankbar zu sein. Diese Deutung entlastet auch von der Adressierung der genauen Vorbereitung und der richtigen Entscheidungen. Gleichsam wird der Einfluss der professionellen Geburtshelfer*innen nicht thematisiert. Lediglich könne es passieren, dass die Hebamme und die Gebärende sich auf einer privaten Ebene nicht so gut verstehen würden. Routinierte Praktiken oder Fehlhandlungen im Krankenhaus werden nur von den widerständigen Gebärenden thematisiert, die im Krankenhaus eine größere Gefahr für Komplikationen verorten. Allerdings räumen auch diese Frauen ein, dass es Notfälle gebe, auf die medizinisch reagiert werden müsse. Wie begegnen Frauen nun der Unverfügbarkeit der Geburt? In der Beschreibung werden passive Verben benutzt. Die Frauen würden sich der Geburt, den Wehen, dem Schmerz ergeben, in ihn hineinbegeben, es geschehen, passieren oder auf sich zukommen lassen. Besonders interessant ist hier die aktive Begegnung des Ereignisses der Geburt mit Passivität: sich fallen lassen, sich dem Schmerz oder der Geburt ergeben. Es schließen sich Praktiken an, die eine körperliche Widerstands-

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losigkeit verstärken: Entspannungsübungen sowie Vermeidung und Bearbeitung von Ängsten. Aus theoretischer Perspektive lässt sich darauf aufmerksam machen, dass es sich bei Transzendenz um einen Prozess handelt, bei dem sich durch »den Verweis auf ›Unverfügbares‹ […] Ordnungszusammenhänge auf Dauer stabilisieren [lassen], indem sie sich einer Hinterfragbarkeit entziehen und durch Sinnstiftung ihre eigene Grundlage sichern« (Dreischer et al. 2013: 2). Auf den vorliegenden Kontext angewendet, ließe sich formulieren, dass sich die Geburt insgesamt dem menschlichen Einfluss entzieht und damit das institutionalisierte System, in dem sie eingebunden ist, nicht hinterfragbar erscheint. Durch die prägende Kraft des Risikomodells erscheint Geburt immer als potenziell lebensbedrohliches Ereignis, worauf alle Frauen in den Interviews hinweisen. Genau diese Grundannahme legitimiert die Existenz und das Fortbestehen der Geburtsmedizin. Die steigenden Interventionen zur Vermeidung und Behebung von Komplikationen, die in manchen Fällen erst durch Praktiken im Krankenhaus entstehen, bewirken, dass die Handlungsmacht der Geburtshelfer*innen verdeckt und das Risikomodell verstärkt wird. Geburtskomplikationen und Interventionen beweisen dann, wie existentiell riskant und lebensbedrohlich Geburten sein können und wie legitim die Praktiken des medizinischen Dispositivs sind. Wenn Geburt ein unverfügbarer, unberechenbarer und gefährlicher Prozess ist, erscheint es folgerichtig, dass über ihn nicht selbst bestimmt werden kann. Allerdings entzieht sich Unverfügbarkeit »einer reinen Instrumentalisierung, ihre überschießenden, mehrdeutigen und offenen Sinngehalte sperren sich gegen abschließende Domestizierungsversuche«, sie können darum auch als »Kippfiguren« (ebd.: 6) bezeichnet werden. Aus dieser Perspektive ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Unverfügbarkeit der Geburt die Frauen auch entlastet von der Adressierung und Anforderung, sich sehr gut vorbereiten und entscheiden zu müssen. Verletzungsoffenheit Aus dem Anspruch der Selbstbestimmung entwächst auch der Anspruch der Eigenverantwortung und Durchsetzung eigener Wünsche und Bedürfnisse. Verletzungsoffenheit ist eine weitere Einschränkung und Grenze von Selbstbestimmung, sie limitiert das eigene Vermögen zur Durchsetzung, selbst wenn sie von den Frauen gewünscht ist. Wie in der vorrangegangenen Argumentation deutlich geworden ist, ist die Geburt in einem besonderen Maß eine Situation, in der Frauen/Familien verletzungsoffen sind. Geburt mit ihren Momenten der Angewiesenheit, der Erschöpfung und des Schmerzes scheint nicht in das autonome und rationale Verständnis von Selbstbestimmung zu passen (vgl. auch Jung 2018). Das Konzept der Verlet-

5. Subjektivierungsanalyse von gebärenden Frauen

zungsoffenheit verbindet den Akt des Verletzens mit der Verletzungsmacht durch andere Personen oder Institutionen. Zugleich erinnert der direkte Akt des Verletzens an die permanente Verletzbarkeit des Menschen durch Handlungen anderer, seine Verletzungsoffenheit, die Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person. (Popitz 1992: 43f.) Das Konzept eignet sich zur Beschreibung für Frauen während der Geburt und kurz nach der Geburt besonders gut, sie befinden sich in einer vulnerablen Situation, da sie die Wehen verarbeiten, was Konzentration und Kraft erfordert, sie sind wenig bekleidet oder nackt, müssen vaginal regelmäßig untersucht und begutachtet werden und sind in stärkerem Maße auf andere Personen angewiesen. So erstaunt es auch nicht, dass die interviewten Frauen in der Situation der Geburt und kurz nach der Geburt weniger durchsetzungsstark sind als gewöhnlich und von Praktiken und Äußerungen nahezu überrumpelt werden. Im Nachhinein ärgern sie sich darüber oder fühlen sich gestört. Michaela beschreibt ausführlich, keinen Raum für eigenständiges Agieren oder Entscheiden gehabt zu haben. In ihrer Erinnerung wurden ihr weder Kommunikationsangebote noch ein offener Raum für eigene Entscheidungen oder Aktivitäten gegeben. Auch konnte sie selbst ihre Wünsche und Bedürfnisse unter starken Wehen und Schmerzen sowie der großen Angst um ihr Kind nicht äußern oder einfordern. Nach der Geburt kommen ihr Zweifel an ihren eigenen Vorstellungen und das Gefühl der Schuld, sich nicht genug mit der Geburt beschäftigt zu haben. Obwohl sie die Vorstellung einer stark angeleiteten Geburt hatte und auch eine solche erlebte, hat sie die Geburt nicht unversehrt überstanden. Die Ursache sucht sie auf vielfältige Weise bei sich oder dem leitenden Assistenzarzt. Das Selbstbestimmungsparadigma setzt Michaela unter Druck und in die Verantwortung und verdeckt dadurch, dass Geburt eine soziale Situation mit mehreren Beteiligten ist, in der mehrere Personen handlungsleitend sind. Während Stefanie bei der gesamten Geburt und in ihrer Schwangerschaft mit den Geburtshelfer*innen ihre Wünsche verhandelt und durchsetzt, erlebt auch sie einen Moment, der ihr negativ in Erinnerung bleibt. Nach der Geburt kam die Putzfrau, (.) was ja voll in Ordnung ist, (.) und tatscht erst mal mein neugeborenes Kind an. Was ich= da war ich so entsetzt. Ich hab aber auch nichts gesagt, weil ich grad ›n bissel geschockt war (.) Die kam (.) und fummelt dem überall rum (.) mit ihren Händen. (Stefanie II: 205ff.) Obwohl Stefanie sonst als durchsetzungsstark zu beschreiben ist, kann sie in diesem Moment nichts sagen und ihrem Entsetzten Handlungen folgen lassen. Auch die Alleingebärende Sabina beschreibt nach ihrer schnellen und unkomplizierten Geburt eine Situation, die sie im Nachgang »eigentlich immer noch (lacht) stresst oder (.) richtig stört« (II: 131). Von diesem Aspekt redet sie sehr

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ausführlich und intensiv, zwei Drittel des Interviews. Sabina beschreibt, dass die Vertretung der Nachsorgehebamme gegen ihren Wunsch gleich am Abend der Geburt kommt und eine Reihe von Untersuchungen macht, die sie nicht möchte. Sie kann sich nicht gegen das Vorgehen der Hebamme wehren, relativiert diese Aussage jedoch gleich wieder und beschreibt, dass sie ihre Wünsche nicht klar formulieren kann und damit in dem Moment nichts ablehnen kann, was die Hebamme an sie und das Kind heranträgt. Um mit dieser kognitiven Dissonanz umzugehen, ist die Relativierung des Verhaltens der Hebamme eine Bewältigungsstrategie, die Sabina sowohl davor schützt, die Situation als starke, negative Übergriffigkeit zu deuten als auch das System der professionellen Geburtshilfe sowie das anrufende, routinierte Vorgehen der Nachsorgehabamme ernsthaft und nachhaltig zu kritisieren. Durch die Geburt fühlt sie sich offen und ihre »Schutzschicht« (II: 214) ist nicht intakt, sie ist verletzlich und kann sich nicht wehren. Mit dem Besuch der Hebamme wird Sabina mit einer starken Anrufung einer professionellen Versorgung nach der Geburt konfrontiert. Auch die standardisierten Vorsorgeuntersuchungen vor der Geburt stellen eine solche Anrufung dar. Gegen diese kann sich Sabina durch strategisches Handeln abgrenzen. Unmittelbar nach der vierten Geburt gelingt es ihr unerwarteterweise nicht, wodurch ihre eigenen Grenzen überschritten werden. Das Konzept der Verletzungsoffenheit ist zeitgleich ein Konzept, das stark geschlechtlich konnotiert ist und die Verletzungsmacht bei der Männlichkeit verortet (vgl. auch Bereswill 2007: 108ff.). Diese Kopplung scheint angesichts der mittlerweile mehrheitlich weiblichen Geburtshelferinnen kaum anschlussfähig, auch wenn sich das medizinische System der Geburtshilfe als androzentrisch geprägt beschreiben lässt. Die Institution des Krankenhauses und die Profession der Medizin sind stark hierarchisch gegliedert und begründen nicht nur ein Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen medizinischen Berufen, sondern auch zwischen medizinischem Personal und Patientinnen. Anknüpfend an diese Gedanken kann die These aufgestellt werden, dass Verletzungsmacht und die Ausübung von Verletzungen die Institution des Krankenhauses mit ihren spezifischen hierarchischen Mustern stabilisiert. Die Interviewsequenzen machen deutlich, dass Möglichkeitsund Schutzräume für die Geburt von großer Bedeutung sind.

6. Abschlussdiskussion und Ausblick

Die zentrale Frage dieser Forschungsarbeit lautete, welche Positionen Frauen innerhalb der Macht-Wissens-Regime zugesprochen werden und an welchen sie sich konkret orientieren. Methodologisch schloss dies an die Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjekt und Diskurs innerhalb des Themenbereichs der Geburt an. Zuerst wurde erörtert, inwiefern die Diskurstheorie überhaupt eine geeignete Methode ist, um den Untersuchungsgegenstand bearbeiten zu können. Von zentraler Bedeutung für das Forschungsvorhaben waren von Anfang an Macht- und Wissensstrukturen, die die Wirklichkeit prägen. Weiterhin sollte eine Methode gefunden werden, die die Komplexität der Situation einer Geburt analytisch fassen kann, in der so viele Akteur*innen, Wissensbestände, Institutionen, Praktiken und Objektivationen zusammenwirken. Mit der Dispositivanalyse wurde eine Forschungsperspektive gefunden, die systematisch Diskurse, Praktiken, Subjekte und Objektivationen in ihrem Zusammenhang und in historischen Kontextbedingungen in den Blick nimmt und vor allem direkt eine Erforschung der konkreten Subjektivierungsweisen vorsieht. Das zentrale Datenmaterial sollte aus den Interviews mit Frauen vor und nach der Geburt bestehen, um ihre Perspektive und Orientierung nachzeichnen zu können. Folglich stellte sich die Frage, wie das Material mit der Diskurstheorie verknüpft werden könnte. Eine Vielzahl von erprobten Brückenkonzepten stand zur Verfügung. In der Analyse des Materials nach der Grounded Theory erwiesen sich die Verdichtung der Analysen zu den Deutungsprozessen rund um die unbekannte Geburt und die Orientierung an und die Aneignung von Subjektpositionen als zentrale Aspekte, um die Forschungsfrage beantworten zu können. Besonders die Entfaltung des dispositiven Wirklichkeitsanspruchs im konkreten (Zusammen-)Leben von Menschen erschien mir zentral, denn, so meine Frage, was nützt es, wenn Adressierungen der Subjekte und deren Stellung im Diskurs ausgearbeitet werden, wenn doch unklar ist, wie die Individuen sich in der Praxis zu diesen Adressierungen verhalten. Um sich dieser Thematik widmen zu können, wurde das dispositive Feld der Geburt beschrieben und gleichzeitig dezidiert der Frage nachgegangen, wie gebärende Subjekte innerhalb dieser Wissens-Macht-Regime konstituiert werden.

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Weiterhin wurde mit Hilfe von Interviews mit Gebärenden herausgearbeitet, wie Subjektkonstitutionen ihre Wirkmächtigkeit entfalten und von gebärenden Frauen angenommen oder modifiziert werden. Dieses Kapitel fasst nun die Ergebnisse zusammen und diskutiert sie anhand zentraler Thesen und Konzepte aus der aktuellen Forschung. Thematisch werden die Überlegungen zu zwei zentralen Dispositiven und den inhärenten Subjektkonstitutionen entfaltet, danach werden die Deutungsprozesse zusammengefasst, mit denen die Frauen der Deutungsoffenheit der Geburt begegnen. Es schließt sich die Diskussion zur ›Geburt als Projekt‹ an und zuletzt wird die Thematik der Gewalt aufgenommen. Im Anschluss wird ein Ausblick gegeben. Sicherheits-/Risiko- und Natürlichkeitsdispositiv Gemäß des aktuellen Forschungsstandes ist von zwei zentralen Geburtsdispositiven auszugehen: dem medizinischen Risiko-/Sicherheitsdispositiv und dem Natürlichkeitsdispositiv (vgl. Pellengahr 2001; Rose 2010; Rose/Schmied-Knittel 2011). Beide beinhalten komplementäre Modelle von Geburt, unterschiedliche Konstitutionen und Anrufungen beteiligter Subjekte. Die Dispositive sind paradox miteinander verwoben, was umfangreiche Spannungsfelder erzeugt. Fraglich ist nun, wie sich das Verhältnis beider Dispositive bestimmen lässt: Während vor allem medizinkritische Arbeiten das medizinische Dispositiv als hegemonial betrachten (vgl. Kolip 2000), definieren Rose und Schmied-Knittel (2011) das Natürlichkeitsdispositiv als zentral. In der vorliegenden Arbeit wurde deutlich, dass innerhalb des Natürlichkeitsdispositivs bisher kaum routinierte oder institutionalisierte Praktiken und Objektivationen rund um die Geburt etabliert werden konnten. Seine Bestandteile der Anwesenheit von Partner*innen, die zentrale Rolle einer unmittelbaren Bonding-Phase, Selbstbestimmung oder Re-Naturalisierung scheinen angesichts von Notfällen an Wirkmächtigkeit zu verlieren. Deutlich wird dies an den steigenden Zahlen von Interventionen und Kaiserschnitten, an der festen Etablierung der horizontalen Gebärhaltungen und der Thematisierung der Wahrung von Menschenrechten während der Geburt. Theorie und Praxis, Diskurs und Praktiken scheinen auseinander zu klaffen. Das medizinische Risiko-/Sicherheitsdispositiv zeigt sich als hegemonial, durch unterschiedliche Praktiken verfestigt, legitimiert und institutionalisiert. Es ist dadurch stark prägend für das Geburtsgeschehen. Das positivistische Paradigma mit der Betonung bio-medizinischer Zusammenhänge bleibt zentral und wird durch die Etablierung der evidenzbasierten Medizin noch verstärkt. So erscheinen Diskursformationen aus dem Natürlichkeitsdispositiv erst dann als legitim und umsetzenswert, wenn ihre Evidenz erwiesen ist. Das Wissen dieses Dispositivs erscheint als wahres Wissen, alles andere wird dem Bereich der Esoterik oder

6. Abschlussdiskussion und Ausblick

Spiritualität zugeordnet und ist nur für wenige Personenkreise relevant, dieses Wissen wird gemeinhin als unwahres Wissen etikettiert. Die Position der gebärenden Frauen ist je nach Dispositiv eher passiv oder aktiv, als Behandelte oder Handelnde, Objekt oder Subjekt konstituiert. Seehaus (2015) macht auf die hegemoniale Adressierung der Frauen im Sinne des unternehmerischen Selbst bei Informationsabenden oder Geburtsvorbereitungskursen aufmerksam: als Anrufung zur informierten, selbstbestimmten und selbstoptimierenden Gebärenden. Die Adressierung von Patient*innen als Entscheider-Subjekte nach dem medizinischen Paradigma des ›informed consent/choice‹ beschreibt Samerski (2015) als zentral. Aus den beiden ähnlichen Subjektkonstitutionen lässt sich im neoliberalen Duktus ein großer Druck zur optimalen Vorbereitung und zum Entscheidungszwang schlussfolgern. Hingegen scheint die Adressierung als vertrauendes und widerstandloses Behandlungssubjekt nur in Notfällen zu erfolgen (vgl. Seehaus 2015: 64) oder als Subjekt im Sinne eines ›doctor knows/decides best‹ veraltet. Interessanterweise zeigen meine Interviewanalysen jedoch die zentrale Bedeutung der Subjektposition der vertrauenden Gebärenden, die die Expertise für die Geburt und deren Leitung bei den professionellen Geburtshelfer*innen verortet. Das Vertrauen ist dabei durchaus brüchig, da es sich bei den Hebammen und Ärzt*innen um unbekannte Personen handelt, deren Haltung zur Geburt sowie die personelle Situation der Institution unklar sind. Trotz seiner Fragilität bleibt es angesichts der unbekannten Geburt besonders bei Erstgebärenden bestehen. Frauen, die sich an dieser Position orientieren, integrieren sich wie selbstverständlich in die Routinen und Praktiken der Geburtsinstitution. Innerhalb der Position der selbstbestimmten Schwangeren und Gebärenden wurde deutlich, dass die Frauen das legitime Wissen sowohl sich selbst als auch den professionellen Geburtshelfer*innen zuordnen. Interessanterweise geht es dabei nicht ausschließlich um das kognitiv angeeignete Fachwissen oder Entscheidungen, die von der Patientin nach rationalem Durchdenken ausgehen, sondern vor allem um den exklusiven Zugang zu den somatischen Empfindungen und dem eigenen Bauchgefühl, der Intuition oder dem ›Instinkt‹. Zwischen den Positionen der beteiligten Subjekte können dadurch unterschiedliche Handlungsintentionen oder entgegengesetzte Orientierungen entstehen, die dann, so scheint es, im gegenseitigen Respekt und Verständnis ausgehandelt werden. Die Positionen nähern sich an, suchen und finden einen Konsens. Kommunikation, Aushandlung, Abwägung und Abgleich der Einschätzungen treten in diesen Narrationen deutlich hervor. Mit der widerständigen Schwangeren und Gebärenden konnte eine dritte Subjektposition herausgearbeitet werden. Sie verweist auf die Grenzen des Konzepts der selbstbestimmten Gebärenden. Selbstbestimmung, so konnte gezeigt werden, ist vor allem innerhalb des medizinischen Apparats der Geburtshilfe zu denken. Ein Verstoß gegen die routinierten Anrufungen, kann in Kontakt mit dem sozialen Umfeld problematisch werden: Die in-

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terviewten Frauen berichten von dem Vorwurf, die Sicherheit und das Leben des ungeborenen Kindes aus egoistischen Beweggründen zu gefährden, oder dem atmosphärischen Unbehagen, wenn etablierte Krankenhausroutinen durch Sonderwünsche gestört oder die Expertise und das etablierte Vorgehen der Geburtshelfer*innen in Frage gestellt werden (vgl. auch Tegethoff 2008: 155f.). Wenn Samerski (2015) beschreibt, dass Patient*innen vermehrt als autonome Entscheider*innen konzeptualisiert und adressiert werden, setzt das auch voraus, dass sie informiert sind, um verantwortlich entscheiden zu können. Diese Annahme impliziert, dass die Subjekte durch umfangreiche pädagogische Maßnahmen aber auch Praktiken zu Entscheidungen befähigt werden müssen. Für Gebärende lassen sich Geburtsvorbereitungskurse, Ratgeber oder die Vorsorgeuntersuchungen nennen, die auf die Weitergabe von Wissen und Entscheidungsmöglichkeiten zielen und auf anstehende Entscheidungen vorbereiten. Durch diese Informationsund Beratungsangebote werden der Frau die medizinisch-wissenschaftliche Sprache und die dispositiven Adressierungen vermittelt. Selbstbestimmung und Entscheidung sind damit vorrausetzungsvoll und dahingehend gekennzeichnet, ob die Frauen in den wahren und gültigen Wissensformen sprechen (vgl.: Foucault 1993b: 14f.). Die »professionellen Wissensformen [sind] als autoritativ anzuerkennen« (Samerski 2015: 575). Somatische Selbstwahrnehmung oder eine alternative Entscheidungsfindung nach Intuition würden nach Samerski nicht adressiert. Wenn die Frauen als autonome und nutzenoptimierende Gesundheitsverwalterinnen für sich und ihre Kinder betrachtet werden, die sich im hegemonialen System des bio-medizinischen Geburtsmodells bewegen, dann stellt sich die Frage, inwiefern die so definierte Entscheidung »die Willensfreiheit und die persönliche Integrität der Patienten« (ebd.: 576) schützt. Als informiert lassen sich alle interviewten Gebärenden beschreiben. Das lässt sich entweder als Erfolg der emanzipierenden Empowerment-Bewegung oder als Befolgung der neoliberalen Anrufung zur Selbstoptimierung deuten. In den Interviewanalysen wurden die Informations- und Vorbereitungspraktiken vor allem als Versuche interpretiert, sich einem unbekannten Ereignis anzunähern, das in der Lebenswelt ein seltenes und zumeist nicht unmittelbar (mit-)erfahrbares Phänomen darstellt. Ersichtlich wurde weiterhin, dass konkrete Entscheidungen über ein rationales Kalkül hinausgehen, wenn die Frauen beispielsweise beschreiben, wie sie Entscheidungen treffen und Anweisungen geben, den umfangreichen Erwerb medizinischen Vorwissen ablehnen oder dezidiert den Geburtshelfer*innen vertrauen wollen. Einerseits konnte so die zentrale Bedeutung intuitiven Wissens und des körperlichen Erspürens für Entscheidungen oder Wünsche herausgearbeitet werden, die nicht an die Aneignung von bio-medizinischem Wissen oder rationales Vorgehen gekoppelt sind. Andererseits zeigte sich auch, dass die selbstbestimmte Entscheidung für manche Frauen keine zentrale Bedeutung hat, sie wollen auf die Expertise und Einschätzung der Geburtshelfer*innen vertrauen. Interessant sind

6. Abschlussdiskussion und Ausblick

weiterhin die umfangreichen Grenzen der Selbstbestimmung, die in der Analyse und den Beschreibungen der Frauen analytisch herausgearbeitet werden konnten: Notfallsituationen, das Messen an standardisierten Werten zur Gewährleistung der regelrechten Geburt, der eigene Bewusstseinszustand, die Deutung der Geburt als Unverfügbarkeit und die Verletzungsoffenheit. So lässt sich hier an die Forderung von Jung anknüpfen und betonen, dass Selbstbestimmung während der Geburt neu zu denken ist, nicht mehr vorrangig als rationalistische Verfügungshoheit über Informationen, Vorbereitungstechniken und ›richtige‹ Entscheidungsfindung […], sondern stärker in Verbindung mit Erfahrungswissen und dem Umgang mit eigensinniger Körperlichkeit, Schmerz, Angst, Kraft, Lust und Formen des Angewiesenseins in einer existenziellen Situation (Jung 2017: 43). Deutungsoffenheit der Geburt Die These der Deutungsoffenheit von Geburt beschreibt die Herauslösung dieses Ereignisses aus festen traditionellen Zusammenhängen und Orientierungsmodellen (vgl. Foltys 2008). Die Gestaltung von Schwangerschaft und Geburt wird »zu einer selbst verantworteten Angelegenheit [und; S. E.] geht einher mit dem Verlust traditioneller Sicherheit« (Rose/Schmied-Knittel 2011: 90). Indessen kann auch davon ausgegangen werden, dass zu anderen historischen Zeiten der Unsicherheit, die mit Geburt einhergeht, spezifische Verhaltensregeln für die Schwangere, religiös-medizinische Praktiken und Schutzrituale entgegengesetzt wurden. Mit der Säkularisierung der Medizin entstanden neue Rituale, die Schutz und Hilfe versprechen, beispielsweise die technische Überwachung von Schwangerschaft und Geburt. Auch diese Praktiken, genauso wie die Wahl des Geburtsortes, haben eine hohe Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit. Sie bieten Orientierung und Handlungssicherheit. Allerdings erzeugen sie nicht nur Sicherheit, sondern angesichts hoher Falsch-Positiv-Raten auch Unsicherheit, was wiederum weitere Untersuchungen oder Eingriffe legitimiert. Die Deutungsmuster zur Wissensvermittlung und Handlungsorientierung sind vielfältiger geworden, besonders alternative Geburtstheorien werden medial stark diskutiert und präsentiert. Nichtsdestotrotz haben die bio-medizinischen Erklärungsmodelle der Geburt mit den entsprechenden Orientierungswerten und Phaseneinteilungen der Betonung des Risikocharakters und einer überwiegend passiven Beschreibung der Frau, beispielsweise in den Lehrbüchern der Gesundheitsberufe (vgl. Hoffmann-Kuhnt 2013), einen enormen Wahrheitsanspruch und wirken stark verbindlich. Die kulturellen Deutungen haben damit keineswegs an Macht verloren, durch naturwissenschaftliche Belege und Naturalisierung erscheinen sie jedoch nicht als menschliche Konstrukte, sondern als unhinterfragbare Wahrheiten.

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Die oben beschriebenen Dispositive greifen ineinander und verknüpfen sich zu einem zentralen paradoxen Deutungsmuster. Die »ambivalente Struktur dieses Deutungsmusters zwischen Magie und Technik, Natur und Kultur« (Rose/Schmied-Knittel 2011: 76) verdeutlicht die modernitätstypischen Brechungen der Diskurse und formuliert den Anspruch an eine natürliche Geburt ohne Risiko (vgl. ebd.: 83). So machten auch viele Interviewpartnerinnen den Wunsch nach einer natürlichen Geburt deutlich, gefolgt von der Einschränkung, auf Anraten der professionellen Geburtshelfer*innen oder angesichts eines Notfalls in alle Interventionen einwilligen zu wollen. Aus den Analysen konnte weiterhin ein dynamischer Deutungsprozess herausgearbeitet werden, der seinen Ausgang in der Bearbeitung der unbekannten Größe der Geburt nimmt. Mit vielfältigen (Informations-)Strategien nähern sich die Schwangeren dem bevorstehenden Ereignis an. Die handlungsleitenden Deutungen befinden sich in den beschriebenen Spannungsfeldern zwischen Risiko und Sicherheit, alltäglichem und außeralltäglichem Erlebnis sowie Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit. In der Situation der Geburt können unterschiedliche Deutungen der beteiligten Personen aufeinandertreffen oder das konkrete körperliche Erleben entspricht nicht den vorherigen Deutungen und Handlungsoptionen. Im späteren Abgleich mit den persönlichen Geburtserfahrungen oder Geburtserfahrungen anderer Personen können sich Deutungen folglich validieren oder verändern. Geburt als Projekt und Event In der aktuellen Natalitätsforschung findet sich häufig die Beschreibung von Geburt als partnerschaftliches Projekt oder Event (vgl.: Villa et al. 2011b; Rose/Schmied-Knittel 2011; Seehaus 2015). Geburt, so die These, habe heute einen »projektförmigen Charakter« und folge den »ökonomisierten Logiken« (Villa et al. 2011b: 12) des ›unternehmerischen Selbst‹: Sie »wird (be)rechnet, abgewogen, Kosten und Nutzen werden evaluiert, ebenso Risiken und erwartete ›Outputs‹« (ebd.). Kalkuliert wird: Die Belastung aufgrund eines durch Geburtsprobleme ›behinderten‹ Kindes, die Effizienz der zuvor eingeübten Atmungs- und Entspannungstechniken oder die nach der Geburt notwendige Beckenbodengymnastik; der optimale Zeitpunkt der Geburt, die produktiv genutzte Zeit der Schwangerschaft, die Risikominimierung durch technologische Überwachung der Geburt selbst. (Ebd.) Zentral ist es für die Autor*innen zu betonen, dass die intensive medizinische Betreuung von Natalitätsphasen nicht als schulmedizinische Fremdbestimmung zu bewerten sei. Vielmehr würden die Frauen/Paare selbst nach einer maximalen Risikoreduktion und einer körperlichen Unversehrtheit verlangen. Als Zuspitzung formulieren Rose und Schmied-Knittel (2011: 88f.), dass die heutige Geburt »narzisstisch aufgeladen« sei. Während ihre aktuelle Bedeutung

6. Abschlussdiskussion und Ausblick

»weit über den profanen reproduktiven Akt der Natalität« (ebd.: 89) hinausweist, komme es zu einer Bedeutungsaufladung und gleichzeitigen Dramatisierung dieses selten gewordenen Ereignisses. Geburt, so die Autorinnen, würde nicht nur »biographisch dramatisiert, exklusiviert und eventisiert, sondern auch radikal entselbstverständlicht und entnormalisiert« (ebd.: 89). Auch sei zu betonen, dass die Geburt unter erheblichem Ressourcen- und Zeitaufwand zumeist nur für die Frau zu einem »aufwendig privaten Entwicklungsprojekt« (ebd.: 91) werde, das diverse Tätigkeiten voraussetzt: die umfangreiche Information, die systematische Entwicklung der persönlichen Gebärkompetenz sowie das Vorbereiten und Treffen von Entscheidungen. Im Kontrast zu diesen Thesen zeigt sich statistisch, dass ein Drittel der Schwangerschaften ungeplant zustande kommen. Auch im Untersuchungsmaterial kamen drei der Schwangerschaften für das Paar überraschend. Ähnliches ließ sich für die Vorbereitung auf die Geburt festhalten, da sich statt der detaillierten Geburtsplanung und -ausgestaltung Vertrauen auf die Geburtshelfer*innen, Offenheit gegenüber dem bevorstehenden Ereignis oder alltäglicher Pragmatismus zeigten. Nur Nadine verfasst eine Art Geburtsplan beim Anmeldegespräch im Krankenhaus, in dem explizit festgehalten wurde, welche medizinischen Praktiken sie nicht wünscht. Die Ausgestaltung der Atmosphäre mit Kerzen, Musik oder speziellen Düften findet sich nur im Interview mit Carmen, wobei die Geburt viel zu schnell verläuft, sodass die Atmosphäre in den Hintergrund rückt. Alle anderen Frauen warten mit einer offenen Haltung auf die Situation im Krankenhaus und die Möglichkeiten, die ihnen während der Geburt angeboten werden. Fast alle Frauen lehnen eine detaillierte Planung der Geburt oder die konkrete Ausgestaltung von Wünschen, beispielsweise eine Wassergeburt, konsequent ab. Vor allem der Pragmatismus der Gebärenden erstaunt angesichts der Thesen bisheriger theoretischer Überlegungen und lässt sich mit der Aussage von Johanna (II: 518) zusammenfassen: »Wie’s kommt das kommt. Da müssen wir eben durch«. Eine Idealisierung des Geburtsergebnisses findet sich nur bei Carmen. Rose (2010: 214) sieht in der Idealisierung und Aufwertung die Gefahr, dass sie Erfolgsdruck und Versagensängste erzeugen. Komplikationen oder negative Erfahrungen könnten zu Schuldgefühlen seitens der Gebärenden führen, wenn die Geburt nicht den Wünschen und Vorstellungen entsprechend stattfindet (vgl. Jung 2017: 38f.). Diese Aspekte ließen sich im Interviewmaterial besonders gut in Sequenzen finden, in denen die Erwartungen nicht zum Geschehen passten beziehungsweise Komplikationen oder Abweichungen zu verzeichnen waren. Jelenas Kind befand sich in der Beckenendlage, sie wurde von den professionellen Schwangerschaftsbergleiter*innen angehalten, verschiedene Praktiken anzuwenden, um das Kind zu drehen. Diesbezüglich äußert sie ihre ambivalenten Gefühle:

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[Ich] mach mir manchmal da auch selber so’n bissel instinktiv so’n bissel Vorwürfe, //Ja// dass ich ja vielleicht nie alles tue, um dieses Kind doch noch zu drehen oder nicht hundert Prozent //Mhm// davon überzeugt bin, dass sich das auf jeden Fall dreht. […] Da hab ich schon so’n bissel Sorgen, (.) auch Zweifel, (.) und hab aber auch nicht wirklich Bock, am Tage drei mal zwanzig Minuten Knie-Ellbogen-Lage zu machen. […] Ich hab Angst, dass ich nicht genug dafür kämpfe sozusagen, so, //Mhm// dass ich den inneren Schweinehund vielleicht noch’n bissel mehr besiegen müsste. (Nadine I: 973ff.) Vorwürfe, angesichts der nachlässigen Durchführung der empfohlenen Praktiken, Zweifel gegenüber der Möglichkeit, dass sich das Kind noch drehen wird und innere Unlust stehen nebeneinander und verdichten sich in der Sorge, nicht genug für eine richtige Kindslage zu ›kämpfen‹ und der vagen Vermutung, dass diese Kindslage bei ihr zweckmäßig sei. Im zweiten Interview wird ersichtlich, dass sie trotz ihrer Skepsis alle Möglichkeiten ausschöpft, um das Kind zu drehen und nach dem Scheitern dieser Versuche gewiss ist, sehr gut aus der Beckenendlage gebären zu können. Eine rigide Empfehlung bestimmter Praktiken zur Wendung des Ungeborenen lehnt sie ab. Im Interview mit Michaela findet sich eine ähnliche Sequenz, in der sie sich fragt, ob sie durch ihre eigene Unbefangenheit und die spärliche Vorbereitung die dramatische Geburt selbst zu verantworten hätte: Ich hatte dann schon auch (.) nachher irgendwann mal auch so Zweifel an mir oder hab mir gedacht: Na ja, vielleicht bin ich auch selber schuld, weil du’s dir zu wenig konkret ausgemalt hast, dass das dir so entglitten ist sozusagen, einfach weil du wenig=, wenig Vorstellung hattest, wie’s denn konkret laufen soll; so dass man eigentlich (.) das zu sehr hat treiben lassen, zu sehr geschehen hat lassen //Mhm// und das deswegen auch irgendwie (.) halt nicht so wie erwünscht oder erhofft (.) irgendwie funktioniert hat. Oder dass es halt deswegen kein schönes Erlebnis war. (Deutliches Einatmen) Was ich jetzt auch nicht unbedingt denke, dass es wirklich so ist, aber das kam mir in den Sinn. (Michaela II: 854ff.) Intensiv beschreibt sie die eigenen Gedanken über das Scheitern der Wunschvorstellung einer schönen Geburt und das Gefühl, selbst Schuld und Verantwortung zu tragen. Obwohl die Erzählung aufgrund der Wiederholung und der Selbstvorwürfe sehr intensiv wirkt, räumt sie an deren Ende ein, diesen Überlegungen nicht so viel Gewicht beizumessen und relativiert sie damit. Um zu ergründen, inwiefern die Adressierung der projektbezogenen Planung ihre Wirkmächtigkeit entfaltet, ist es an dieser Stelle angemessen, im Sinne des maximalen Fallkontrastes einen Fall zu betrachten, bei dem die Geburt zwar anders verläuft als gedacht, Zweifel und Schuldgefühle jedoch ausbleiben. So stellt sich Jelena zum Zeitpunkt des ersten Interviews Geburt als sehr aktiv mit wechselnden

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Körperhaltungen und einer aufrechten Gebärposition vor. Nach der Geburt reflektiert sie, dass sich die Geburt anders entwickelt habe als gewünscht. Für Jelena ist das jedoch kein Problem, denn sie vertraut der Hebamme und ist sehr zufrieden mit deren Begleitung, auch wenn manche Praktiken nicht angeboten, erfragt oder angeleitet werden. Die individuellen Probleme mit der Geburt und Schuldgefühle angesichts einer mangelnden Vorbereitung scheinen im Interviewmaterial nicht aufgrund des Scheiterns idealisierter Erwartungen zustande zu kommen, sondern, wie bei Michaela, angesichts invasiver, dramatischer Ereignisse. Gewalt während der Geburt Die Forschungs- und Wahrnehmungslage zu Gewalt in der Geburtshilfe war jahrelang ein Tabu und wird aktuell langsam in der deutschsprachigen medizinischen und pflegewissenschaftlichen Wissenschaft gebrochen. Was ist Gewalt während der Geburt? Und ab wann können bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen als gewalttätig beschrieben werden? Bowser und Hill (2010: 9ff.) arbeiten in einem internationalen Review sieben Kategorien heraus, die Missbrauch und Respektlosigkeit gegenüber gebärenden Frauen spezifizieren: physischer Missbrauch, die Abwesenheit des ›informed concent‹ und von Privatheit, würdelose und respektlose Behandlung inklusive verbaler Gewalt, Diskriminierung aufgrund des sozio-ökonomischen Status der Gebärenden, Abbruch oder Verweigerung von Geburtshilfe sowie die Verweigerung der Entlassung nach der Geburt. In den insgesamt 17 Geburtserzählungen der neun interviewten Frauen ließen sich nach dieser Kategorisierung von Respektlosigkeit und Missbrauch während der Geburt mindestens fünf gewaltvolle und respektlose Erfahrungen identifizieren: Bei Nadine wird während der ersten Geburt ungefragt und uninformiert ein Dammschnitt durchgeführt, was den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Freya beschreibt unter anderem umfangreiche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungefragte Verabreichung von Medikamenten und den zeitweiligen Entzug der Begleitperson während ihrer ersten Geburt. Um Johanna in die angemessene Geburtshaltung zu bringen, halten die Geburtshelfer*innen ihre Beine nach oben, wenden den Kristeller-Handgriff an und ihr Partner drückt ihren Kopf nach unten. Sabina berichtet von der Nachsorgehebamme, die sie mit ihren routinierten Praktiken bestürmt, darunter auch eine vaginale Untersuchung, obwohl sie diese nicht möchte. Zuletzt sei Michaela aufgeführt, die von verbaler Missachtung berichtet und der durch das Kristeller-Manöver vermutlich das Steißbein gebrochen wurde. Fünf von neun interviewten Frauen haben damit eine spezielle Ausprägung von Gewalt während oder nach der Geburt erfahren. Dennoch definiert nur eine der Frauen, Michaela, das Geschehene vage als Gewalt, nachdem ihre Nachsorgehebamme sie ungefragt mit dieser Deutungsvariante konfrontiert.

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Die Bewertung der eigenen Erfahrung als gewaltvoll, missbräuchlich und respektlos scheint nicht an den bloßen Umstand der Gegebenheit oder dem Vorkommen bestimmter Situationen gekoppelt zu sein. Wann also definieren Frauen das Erlebte als gewaltvoll und unter welchen Umständen unterbleibt diese Einordnung? Die Überlegungen hierzu werden am Fall von Michaela entfaltet. Die Folgen der Bewertung der Nachsorgehebamme, dass es sich bei der Geburtserfahrung um eine Gewalterfahrung handeln würde, bewertet Michaela zwiespältig. Für sie schließen sich viele Fragen an: Ist ihr wirklich Gewalt widerfahren? War diese Art der Behandlung notwendig, um ihr Kind und sie selbst zu retten? Versperren ihr die Erinnerung und die Betonung der negativen Gefühle eine positive Sicht auf die Geburt ihres Kindes und ihr Wochenbett? Bemerkenswert ist Michaelas Abwägen und die immer widerkehrende Beschäftigung mit der Frage, ob das Saugglocken-Manöver notwendig war und wenn ja, wie es überhaupt zu diesem Notfall kommen konnte. War es Resultat aus dem Einlauf oder eine unberechenbare Zwangslage, die schnelles Handeln notwendig machte? Von der Beantwortung dieser Fragen macht sie abhängig, ob sie das Erlebte als Gewalt definiert. Wenn die Behandlung zwingend erforderlich war, erscheint es ihr möglich, das Erlebte zu verarbeiten und zu integrieren. Wenn das Manöver allerdings nur aus einer Verkettung von Behandlungsfehlern resultiert, ist das Erlebte für Michaela Gewalt. Die erduldete Gewalt wäre dann sinnlos. Folglich bedeutet es auch, dass es Gewaltanwendungen während der Geburt geben kann, die der Gebärenden notwendig und sinnvoll erscheinen. Diese Interpretation deckt sich auch mit der Legitimität der Einschränkung von Selbstbestimmung angesichts eines Notfalls. Eine Erfahrung als gewaltvoll anzuerkennen, würde auch bedeuten, ein Opfer zu sein und sich selbst einzugestehen, etwas Traumatisches erlebt zu haben, dem die Frau selbst macht- und hilflos gegenübersteht. Das würde zum Verlust der Zuschreibung eigener Handlungsmacht führen. Um Gewalt erkennen und benennen zu können, bedarf es weiterhin einer bestimmten sozialen Position, die machtvoll sein muss. Handelt es sich um eine tabuisierte oder gesellschaftlich nicht anerkannte Form der Gewalt, die normalisiert ist, kann es kaum ein Benennen oder eine Gegenwehr geben. Außerdem bedarf es eines Zugangs zu anderen Wissensressourcen, die eine solche Form der Gewalt thematisieren. Die Ursachen für Gewalt in der Geburtsmedizin werden vor allem mit ökonomischem Druck und Personalmangel benannt. Dabei bleibt ein wesentlicher Aspekt der spezifischen Geburtskultur unbeachtet. Der historische Blick zeigt uns: Die Geschichte der Geburtsmedizin ist eine Geschichte der Gewalt gegen Frauen. Wenn die Frau als passive Erdulderin der Geburt beschrieben wird, die aufgrund der Schmerzen nicht recht bei Sinnen oder bei Vernunft ist, und Geburt als medizinisch zu steuernder und zu kontrollierender bio-mechanischer Vorgang gedeutet wird, kommen ihrer Position, ihrem Empfinden und ihrer Geburtsarbeit keine

6. Abschlussdiskussion und Ausblick

Bedeutung zu. Eigeninitiative kann als störend für den Prozess und den medizinischen Ablauf definiert werden. Der Gebärenden Informationen zu geben, Wahlmöglichkeiten zu offerieren, Entscheidungen zu treffen, nach denen ihre Wünsche und Bedürfnisse ernst zu nehmen sind, ist in diesem Zusammenhang irrelevant für das Gelingen der Geburt. Die Anwendung von Gewalt, so zeigt der Geburtsbericht von Michaela, kann auch als Notwendigkeit erscheinen, um die Geburt zu steuern und wirkt damit hinnehmbar. Gewalt während der Geburt wirke außerdem unglaubwürdig, weil sie dem vermeintlichen medizinisch-altruistischen Selbstverständnis von Geburtshelfer*innen widerspräche, zu heilen, zu begleiten und Gutes zu tun. Es ist ein gesellschaftliches Tabu, vulnerablen Personen Gewalt zuzufügen. Ausblick Im Resümee wurden die Ergebnisse anhand von vier Themenschwerpunkten gebündelt dargestellt. Zentral war dabei vor allem, wie die gebärenden Subjekte als aktiv oder passiv, Subjekt oder Objekt konstituiert sind. Wobei es zu betonen gilt, dass gerade diese Unterscheidung geschlechtertypische Zuschreibungen umfasst. Dennoch ließ sich diese Einordnung in Studien und Lehrbüchern sowie in Adressierungen deutlich herausarbeiten. In der Interviewanalyse hätte diese Einordnung jedoch auch dazu geführt, Frauen mit dem Wunsch, auf die professionellen Geburtshelfer*innen zu vertrauen, und ihre Gebärarbeit als passiv einzuordnen. Es war mir ein zentrales Anliegen, den interviewten Frauen Achtung und Respekt für ihre jeweiligen Entscheidungen und Orientierungen entgegenzubringen. Diese Grundhaltung öffnete die Analysen für Passiv-Aktiv-Konstruktionen und Spannungsfelder, die sich in fast allen Interviews finden ließen. Die Analysen zeigen eine differenzierte und eigensinnige Positionierung der Frauen gegenüber dispositiven Adressierungen. Die folgenden Überlegungen gruppieren sich um die hegemoniale medizinische Geburtskultur, die eng an die gesellschaftlichen und medizinischen Vorstellungen und Konstruktionen von Weiblichkeit gekoppelt ist. Eine spezifische Verzahnung zwischen Geburt, Weiblichkeit und Geburtskultur bildet die Basis für den folgenden Ausblick in vier bedeutsamen Bereichen. Erstens wäre es im Anschluss an Auffälligkeiten im Material von besonderem Interesse, das Gefüge von Weiblichkeit und Geburt insgesamt näher zu untersuchen. Im Interviewmaterial finden sich immer wieder kleine Sequenzen, in denen Frauen betonen, die Wehen leise oder geräuscharm verarbeitet zu haben, freundlich und kooperativ gewesen zu sein, weder die Hebamme noch den Partner verletzt oder sich mehr um Partner und Kind als um sich selbst gesorgt zu haben. Obwohl mit Geburt anekdotisch in den Medien oder Erfahrungsberichten eine entfesselte Weiblichkeit assoziiert wird, in denen Frauen nicht mehr Herrin ihrer Äußerungen sind, die schreien und schimpfen, ihre Partner*innen anschreien oder verletzten, finden sich in Kontrast dazu entgegengesetzte Erzählungen. Auch

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Martin (2003) macht in ihrem Artikel »Giving Birth like a Girl« darauf aufmerksam. In ihrem Interviewmaterial stößt sie immer wieder auf die oben beschriebenen Sequenzen, in denen Gebärende sich in ihren Geburtserzählungen vor allem nett, höflich, selbstlos und fürsorglich darstellen oder genau diese Aspekte betonen. Die Autorin hebt hervor, dass die Internalisierung von Geschlecht, neben der institutionalisierten Disziplinierung, zentral für die Disziplinierung von Frauen und ihren Körpern ist (vgl. ebd.: 54). Macht entfaltet sich damit maßgeblich über die Internalisierung von Geschlechterstereotypen, diesen Aspekt gilt es stringent in kommende Analysen einzubinden und konsequent herauszuarbeiten. Ein weiterer Aspekt der Kopplung von Weiblichkeit und Geburt besteht im besonderen Ausmaß der Medikalisierung weiblicher Umbruchsphasen. Frauen unterziehen sich regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen und Behandlungen aufgrund ihrer reproduktiven Fähigkeiten und sind damit umfangreiche Kontrollund Steuerungspraktiken gewöhnt. Hier ist weiter zu prüfen, wie diese Praktiken Frauen in Vertrauens- oder Abhängigkeitsverhältnisse bringen, die es ihnen erschweren, eigene Wünsche zur Geburt zu formulieren oder der eigenen Körperwahrnehmung Bedeutung beizumessen. Im Anschluss an diese Thematik findet sich ein dritter relevanter Themenbereich in der Herausarbeitung und Erforschung der Unterschiede der Geburtsmedizin und -hilfe zwischen den alten und neuen Bundesländern. Statistisch zeigt sich, dass in vielen Bereichen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ein signifikanter Unterschied der Geschlechterverhältnisse fortbesteht, so auch bei der Geburtshilfe. Trotz des kleinen Samples ist es auffällig, dass die Frauen, welche sich an der Subjektposition der selbstbestimmten Schwangeren und Gebärenden orientieren, in den neuen Bundesländern sozialisiert wurden. Darum ist es weiterhin von Interesse zu untersuchen, inwiefern es unterschiedliche Geburtskulturen gibt. Auch hier könnte der Aspekt der Konstitution von Weiblichkeit ausschlaggebend sein. Viertens ist eine detaillierte und ausführliche qualitative und quantitative Erforschung des Themenbereichs Gewalt in der Geburtshilfe notwendig. In der vorliegenden Arbeit bildete dieser Aspekt nur einen Teilbereich, denn bloß eine Interviewpartnerin definierte das eigene Erleben als Gewalterfahrung. Aus dieser Feststellung heraus ist es von besonderem Interesse zu erörtern, welches theoretische Konzept von Gewalt eine analytische Heuristik inspirieren könnte, beispielsweise symbolische, institutionelle, strukturelle oder epistemische Gewalt. Die #MeTooDebatte macht darauf aufmerksam, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich verbreitet und normalisiert ist, und dass Frauen es gewohnt sind, Übergriffe hinzunehmen oder diese aus einer weiblichen Sozialisation heraus kaum abwehren können. Der englischsprachige Begriff ›birthrape‹ verbindet die Dimension des sexualisierten Missbrauchs mit Geburtserfahrungen, bislang gibt es im Deutschen hierzu keine sprachliche Entsprechung. Der Begriff lenkt den Fokus auf den zentralen Aspekt des sexualisierten Übergriffs. Medizinisch erscheint es beispiels-

6. Abschlussdiskussion und Ausblick

weise als angemessen, Frauen durch unterschiedliche Personen vaginal untersuchen zu lassen oder ihnen, teils ungefragt, vaginale Schnitte zu zufügen. Der Einordnung zwischen Notwendigkeit und Übergriffigkeit erscheint dabei fließend. Insgesamt konnte gezeigt werden, dass Weiblichkeit eine zentrale Kategorie ist, die es in ihren unterschiedlichen Teilaspekten zu betrachten gilt. Daraus ergibt sich des Weiteren die Notwendigkeit, gebärende Personen nach unterschiedlichen Schichten, Milieus, Altersstufen und Geschlechtsidentitäten sowie in der Variation der Lebens- und Familienmodelle verstärkt zu differenzieren. Aus einer feministischen Kritik heraus wird vor allem die Disziplinierung von Frauen(körpern) durch die Medizin, besonders unter der Geburt thematisiert. Betont werden vor allem Aspekte der Unterdrückung, Frauen würden kontrolliert und entmachtet. Foucault fordert allerdings dazu auf, auch Lust und die Produktivität der Macht herauszuarbeiten. So ergibt sich ein Spannungsfeld für Frauen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Schließen möchte ich meine Arbeit mit den Gedanken zu einem Zitat des berühmten Geburtshelfers Leboyer, das er an die Protestbewegung in Deutschland 2014 übermitteln ließ: Frauen, erkennt die Beleidigung und findet Eure Selbstachtung wieder. Gebärt Eure Kinder selbst. Keiner kann es Euch abnehmen. Niemand würde versuchen, für Euch zu essen oder zu schlafen. Das wäre absurd! Und genauso absurd ist es, wenn andere Eure Kinder zur Welt bringen. (Leboyer 2014) Ist nicht diese Aufforderung eine Festschreibung des Bildes von passiven Frauen, die sich von der Geburtsmedizin befreien müssen? Frauen, so möchte ich betonen, gebären ihre Kinder immer selbst. Auch wenn sie sich während der Geburt entmächtigt oder ausgeliefert fühlen. Ob vertrauende, selbstbestimmte oder widerständige Gebärende, sie alle sind als aktive Gebärende zu betrachten. Anzuprangern sind hingegen die Konstruktionen von passiven gebärenden Subjekten, an denen Geburt vollzogen wird und die Aneignung der Geburt durch professionelle Geburtshelfer*innen. Soziologisch regt diese Feststellung zur Frage an, wie das Konzept Handlungsmacht und aktives Handeln erweitert werden kann um Aspekte der Gewalterfahrung, die zwar widerfährt, jedoch aktiv bewältigt werden kann, um die Bereitschaft, sich einem körperlichen Prozess oder einer Situation hinzugeben oder Anspannung, Kontrolle und Planung bewusst loszulassen.

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Transkriptionsregeln

Um die Anonymität der Interviewpartnerinnen zu gewährlisten, wurden alle Namen geändert. Geburtsorte, Kliniken, Städte, Partner*innen und Kinder wurden unspezifisch als solche bezeichnet. Die zitierten Interviewpassagen zeigen mit Hilfe der römischen Ziffern I und II, ob es sich um das erste oder das zweite Interview handelt, die Zeilennummern verweisen auf die genaue Stelle im Transkript. Grammatik, Rechtschreibung, Zeichensetzung sowie Groß- und Kleinschreibung wurden einer besseren Lesbarkeit angepasst. Tabelle Transkriptionsregeln (.)

Pause bis zu einer Sekunde

(…)

drei Sekunden Pause

(8)

längere Pause mit der konkreten Anzahl der Sekunden

=

Wortverschleifungen, Dopplungen, Abbruch eines Wortes oder Satzes

ja

betont gesprochen



Imitation der wörtlichen Rede mit verstellter Stimme

[(lachend) ja]

lachend gesprochen

(hustet)

para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse sowie Anmerkungen zum Geschehen

//Ja//

Einschub der Interviewerin

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 1/2020) April 2020, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4936-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4936-3

Birgit Althans, Kathrin Audehm (Hg.)

Kultur und Bildung – kulturelle Bildung? Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2019 2019, 144 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4463-0 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4463-4

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